Die Wiederkehr des Künstlers: Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung 9783412214036, 9783412207274

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Die Wiederkehr des Künstlers: Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung
 9783412214036, 9783412207274

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die wiederkehr des künstlers

kunst · geschichte · gegenwart band 2

die wiederkehr des künstlers themen und positionen der aktuellen Künstler/innenforschung

herausgegeben von sabine fastert alexis joachimides und verena krieger unter redaktioneller mitarbeit von sophie geretsegger

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität für angewandte Kunst Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Fotomontage Visuals, Wien. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20727-4

einführung Sabine Fastert/Alexis Joachimides/Verena Krieger Die Wiederkehr des Künstlers. Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung

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selbstverständnis und selbstinszenierung von künstler/innen Peter Schneemann Einführung

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Ada Raev Von der Last des Ruhms oder Ein Künstler zwischen vielen Stühlen Karl Brjullov (1799–1852)

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Andrea Gottdang „Durchschnitt ist überall gleich spießig“ George Grosz’ Selbstinszenierung in der Weimarer Republik

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Thomas Röske Zeichnungen von Millionenwert Vorstellungen über Kunst und Künstlertum in der historischen Sammlung Prinzhorn

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Doris Berger Julian Schnabels self-fashioning Intermediale Selbstinszenierungen als Maler

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künstlerhabitus und gesellschaftliche rollenmodelle Alexis Joachimides Einführung

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Nathalie Heinich Artists as an Elite – a Solution or a Problem for Democracy? The Aristocratism of Artists

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Carola Muysers Die Legitimation des Künstlerinnensubjekts Zur weiblichen Aktausbildung im Zeitalter der Akademien

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inhalt

Gregor Wedekind Der Künstler als Gesetzgeber Charles Meryon zwischen Wahnsinn und Gesellschaft

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Sigrid Schade Zur Metapher vom ,Künstler als Seismograph‘

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Beatrice von Bismarck Effizienz und Verschwendung Paradoxien des Künstlerbildes im 21. Jahrhundert

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überschreitungen des ,autonomen‘ künstlerbildes Verena Krieger Einführung

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Kathrin Hoffmann-Curtius Dada- und andere Monteure

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Wolfgang Ruppert ‚KünstlerGestalter‘ Widersprüche im Künstlerhabitus am Bauhaus

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Barbara Lange Netzwerker im Internet Der gesellschaftskritische Künstler als Administrator

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Rachel Mader Der Künstler als Unternehmer und die Folgen

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konstruktionen künstlerischer kreativität Sabine Fastert Einführung

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Cordula Grewe Epigonalität als Erfindung

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Antje von Graevenitz Duchamp als Wissenschaftler Seine Notizen über das ‚infra-mince‘ (1934/35–1945)

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inhalt 7

Barbara Schrödl Der Künstlerwahnsinn. Wie sich die Metapher der ‚Verführung‘ zum Nationalsozialismus und der Geschlechterkampf in einem Spielfilm der 1950er Jahre überlagern

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Michael Wetzel Der Künstler als inframediales Gesamtkunstwerk Inszenierungen und Autorisierungen von Schöpfertum als kleiner Unterschied bei Richard Wagner und Marcel Duchamp 271

autorfunktion und kunstgeschichte Julia Gelshorn Einführung

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Renate Berger „Aufstand gegen die sekundäre Welt“ – Die Biografik zwischen fact und fiction

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Insa Härtel Durch das Verschwinden des Autors hindurch: Kopflose ‚Triebsubjekte‘

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Marion Hövelmeyer ‚Selbstbildnisse‘ eines Subjekts, das ,verloren‘ ging Aporien und Strategien von Künstlerinnen im 20. Jahrhundert

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Sabine Kampmann Andrea Frasers künstlerischer Geschlechtsverkehr oder wie man Autorschaft als Prozess beschreiben kann

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autorinnen und autoren

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abbildungsnachweis

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einführung

die wiederkehr des künstlers themen und positionen der aktuellen künstler/innenforschung

sabine fastert/alexis joachimidis/verena krieger Der Künstler hat Konjunktur. Es scheint eine Dauerkonjunktur zu sein, charakterisiert durch einen ungebrochen anhaltenden, in weiter Kurve nach oben begriffenen Aufschwung. Wie bemerkenswert das ist, lässt gerade die ökonomische Metaphorik deutlich werden, denn solch eine in die Jahrhunderte gehende, praktisch ungebremste und sich ständig noch steigernde Aufwärtsentwicklung gab es in der Wirtschaft noch nie. Der Grund für diesen stetigen Aufschwung liegt zweifellos darin, dass der Künstler eine ideale Projektionsfläche abgibt – er verkörpert eben jenes Gegenbild zur bürgerlichen Existenz, mit dem offene und uneingestandene Wünsche und Fantasien von sozialer Ungebundenheit, selbstbestimmter Arbeit und sexueller Libertinage verbunden werden. Und wie stets, wenn unterdrückte und unverwirklichte Wünsche durch andere personifiziert vor Augen treten, reagiert das bürgerliche Publikum ambivalent, mit einer Mischung aus latenter Verachtung und Ausgrenzung einerseits, Faszination und Verehrung andererseits. Gerade aus dieser ambivalenten Funktion des Künstlers als Projektionsfläche konstituiert sich sein hoher gesellschaftlicher Stellenwert. Wie vital die alte Vorstellung vom Künstler als Genie, das sich – notwendigerweise – am Rande oder jenseits bürgerlicher Existenz bewegt, heute noch ist, illustriert der „Fall“ Roman Polanski, auf dessen Festnahme in der Schweiz nicht nur Kunstschaffende, sondern auch hochrangige Politiker bis hin zum französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy empört reagierten. Dass führende Politiker bei einer schwerwiegenden Anklage und eindeutigen juristischen Situation die sofortige Freilassung des Angeklagten fordern, ist höchst ungewöhnlich. Passend hingegen ist die Begründung dieser ungewöhnlichen Forderung: es handele sich schließlich um einen „großen Künstler“ – offensichtlich gilt als ausgemacht, dass für solche das Strafrecht nicht zuständig ist. Die Affäre offenbart den unvermindert prekären Status des Künstlers, dem einerseits eine gewisse Narrenfreiheit jenseits bürgerlicher Konventionen zugebilligt wird, der aber zugleich – das ist die Kehrseite – mit der pauschalen Unterstellung abseitigen Sozialverhaltens belegt ist. Verklärung und Verdächtigung gehen im Künstlerkult eine untrennbare Verbindung ein. So scheint sich auf den ersten Blick gegenüber dem 19. Jahrhundert oder gar noch früheren Jahrhunderten nichts verändert zu haben, denn die „Legende vom Künstler“ als Bohemien und Außenseiter, Prophet und Genie blickt inzwischen schon auf ein stattliches Alter zurück. Entscheidend dazu beigetragen hat der Umstand, dass dieses Künstlerbild hochgradig flexibel und variabel ist und durchaus unterschiedliche, gar gegensätzliche Tendenzen einzuschließen vermag – es spannt sich auf zwischen der romantischen Wendung ins Innere und bewusster Inszenierung von Publikumsskandalen, der erfolgreichen Rekrutierung einer unbedingten, quasi-religiösen Verehrer-

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schaft und sachlich-professioneller Betreibung des Kreativgeschäfts – höchst unterschiedlichen, doch gleichermaßen erfolgreichen Modellen modernen Künstlertums. Diese Variabilität ist so alt wie der Künstlermythos selbst und doch hat dieser im Verlauf der Moderne zahlreiche weitere Wandlungen und Erweiterungen erfahren. Geleistet wurde dies durch die Künstler selbst, die das „Märchen vom Schöpfertum des Künstlers“ (Max Ernst) nicht nur ironisiert, sondern auch gründlich revidiert haben – in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. durch die Inthronisation des Zufalls, die Orientierung an der Malerei von Kindern oder Psychotikern und durch Verfahren, unbewusstes Gedankenmaterial zum Ausdruck zu bringen; in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts u. a. durch die Bildung kollektiver Künstlersubjekte, die Delegation des schöpferischen Aktes auf Naturprozesse oder Maschinen, durch die Integration von Tätigkeitsprofilen bürgerlicher Berufe wie Journalist, Politiker, Wissenschaftler und Geschäftsmann – und nicht zuletzt dadurch, dass die Künstlerin unaufhaltsam auf den Plan trat, die im klassischen Konzept des Künstlergenies nicht vorgesehen war.

künstlerische kreativität zwischen alten mythen und neuer ökonomie Die Diversifizierung des Künstlerbildes und die Integration nichtkünstlerischer Tätigkeiten in das Rollenprofil des Künstlers bzw. der Künstlerin bilden in der aktuellen Entwicklung aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite besteht darin, dass die Kreativität über das Künstlerische im engeren Sinne hinaus eine Aufwertung erfährt und der Künstler zum neuen gesellschaftlichen Rollenideal erhoben wird. Kreativität ist in den letzten Jahrzehnten zum neuen Zauberwort geworden, längst hat sich, aus Amerika kommend, eine ausufernde Forschung über die Bedingungen und Funktionsweisen von Kreativität etabliert. Auffallend ist dabei, dass das psychoanalytische Paradigma durch diejenigen des Behaviorismus, der Systemtheorie und der Neurowissenschaften abgelöst worden ist. Dies hängt wohl damit zusammen, dass letztere eher versprechen, funktional verwertbare Ergebnisse zu liefern, denn im aktuellen Kreativitätsdiskurs wird Kreativität nicht primär auf Kunst, sondern vor allem auf Wissenschaft und Ökonomie bezogen, sie wird definiert als das Vermögen zur innovativen Problemlösung, als eine Kompetenz. So ist denn der alte Mythos vom Genie, das auf rätselhafte Weise über gottähnliche Schöpferkraft verfügt, abgelöst worden durch einen neuen Mythos – den von der erlernbaren, systematisch steigerbaren und universell einsetzbaren Kreativität. Der Künstler bildet dabei freilich weiterhin das Paradigma, denn wesentliche Charakterzüge des kreativen Menschen sind von ihm entlehnt und entsprechen den Jahrhunderte alten Topoi des Schöpferischen: an vorderster Stelle der Antikonformismus, denn die experimentelle Psychologie bestätigt die alte Einsicht, dass der entscheidende Kniff, um zu neuen Lösungen zu gelangen, die Überschreitung von Konventionen ist. In dieser Entwicklung liegt ein Moment der Egalisierung, aber auch eines der Funktionalisierung. Anders als in den Theorien etwa von Schiller über Nietzsche bis

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Martin Buber oder Herbert Read erscheint Kreativität im heutigen Diskurs nicht mehr als eine Potenz, die freizusetzen essentieller Bestandteil der menschlichen Individuation ist, sondern sie wird neoliberal interpretiert als eine Ressource des Humankapitals, die es zu optimieren gilt. Gleichzeitig sind der Künstler und die Künstlerin zum Prototyp eines neuen Typs sozialer Existenz geworden, des „unternehmerischen Selbst“ (Ulrich Bröckling) – leben sie doch mehr oder minder erfolgreich vor, wie man an der Armutsgrenze existiert, flexibel und mobil auf wechselnde Anforderungen reagiert, von einem prekären Arbeitsverhältnis zum anderen wechselt und dies alles subjektiv als selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben empfindet. Kreativität ebenso wie die Bereitschaft zur als Selbstbestimmung getarnten Selbstausbeutung sind so zum zeitgemäßen ,Anforderungsprofil‘ für jede und jeden geworden. Diese Entwicklung wird unterschiedlich bewertet. Der US-amerikanische Ökonom Richard Florida hat in seinem zum Bestseller gewordenen Buch The Rise of the Creative Class (2004) die These entwickelt, dass Kreativität die Voraussetzung von Innovation und folglich der wichtigste Faktor für Wirtschaftswachstum sei. Den neuen sozialen Typus des flexiblen, mobilen und weltoffenen Kreativen – die von ihm so bezeichnete „kreative Klasse“, die er in allen Bereichen der Wirtschafts- und Arbeitswelt verortet – verklärt er zum Träger allen gesellschaftlichen Fortschritts, und dies in doppeltem Sinne: als ökonomischen Aufschwung und als Zuwachs an Toleranz und Weltoffenheit. Nicht unbedingt in ersterer, aber sicher in letzterer Hinsicht spielen wiederum Künstler/innen das Vorbild, erhebt Florida doch die soziale und sexuelle Toleranz der Boheme zum gesellschaftlichen Modell. So macht er u. a. die Präsenz von Schwulen zum Parameter bei seiner Messung des Kreativ-Potenzials von Großstädten. Den Anteil von „Kreativen“ an der Gesamtbevölkerung der USA sieht er heute mit steigender Tendenz bei bereits rund einem Drittel angelangt. Insbesondere der traditionelle Topos vom Künstlerwahnsinn, der im 20. Jahrhundert vielfache Aktualisierung und Transformierung vor allem durch die Künstler/ innen selbst erfahren hat, wird im neuen ökonomisch geprägten Kreativitätsdiskurs erneut aktiviert. So erlangte der amerikanische Psychologe John D. Gartner einen Publikumserfolg mit seinem Buch The hypomanic Edge. The Link between (a little) Craziness and (a Lot of ) Success (2005), in dem er anhand der Beispiele mächtiger US-Wirtschaftsmagnaten die These nachzuweisen sucht, dass eine Veranlagung zur Hypomanie der politischen und ökonomischen Machtgewinnung zuträglich seien. Er rekurriert damit auf die seit den 1970er Jahren auf experimentellem und empirischem Wege ermittelten Ergebnisse der amerikanischen Kreativitätsforschung, wonach ‚bipolare‘ Störungen – gemäßigte Formen manisch-depressiver Wechselzustände – nicht nur bei kreativen Menschen wie Künstlern oder Schriftstellern signifikant häufiger auftreten, sondern auch tatsächlich kreativitätsfördernd wirken würden. Gartners Argumentation leidet freilich unter demselben Manko willkürlicher Auswahl wie der rund 80 Jahre ältere Bestseller Genie – Irrsinn und Ruhm (1928) von Wilhelm Lange-Eichbaum, der die Biografien berühmter Geistesgrößen systematisch auf kleinste psychische Abweichungen hin durchkämmte und zu abenteuerlichen Diagnosen gelangte. Ungeachtet dessen hat die simplifizierende Transferierung der Bipolaritätsthese auf den ökonomischen Erfolg ihrerseits Erfolg, was nicht verwun-

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dert, fügt sie sich doch bestens in die Ideologie ein, wonach es allein von subjektiven Faktoren abhängt, ob man sich in der Marktwirtschaft durchzusetzen vermag. Die New York Times berichtete im September 2010, dass in den USA Risikokapitalanleger systematisch nach Leuten mit Geschäftsideen suchen, die sich an der Grenze zwischen Verrücktheit und Normalität bewegen, diese psychologisch auf die richtige Kombination mentaler Eigenschaften hin untersuchen lassen und bei positivem Ergebnis finanziell fördern. Mit der Feststellung, dass die bipolare Störung in der Krise erfolgreiche Entrepreneurs hervorzubringen vermag, ist nicht nur der Bogen vom Mythos des innovativen und risikobereiten Unternehmensgründers zum Mythos vom verrückten Genie geschlagen, sondern auch zu demjenigen vom Avantgardekünstler als innovativer Vorhut der Gesellschaft. Die gesteigerte Wertschätzung der Kreativität unter dem Vorzeichen des ökonomischen Paradigmas wird freilich auch kritisch beurteilt. Der neue Geist des Kapitalismus (2006), den der Soziologe Luc Boltanski und die Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello darin verkörpert sehen, liefere den ideologischen Überbau zur postfordistischen Arbeitsorganisation. Das kapitalistische Management habe sich die emanzipatorischen Ideale der 68er-Bewegung und der künstlerischen Avantgarde erfolgreich angeeignet und für die eigenen Zwecke nutzbar gemacht. Interessant ist, dass Boltanski und Chiapello im künstlerisch-avantgardistischen Lebensstil eine spezifische Form der Kapitalismuskritik ausmachen, die „Künstlerkritik“. Damit wird dem auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Mythos vom Künstlerbohemien als Außenseiter, Kritiker und Revolutionär erstmals handfeste gesellschaftspolitische Relevanz zugeschrieben. Doch betonen die Autoren, dass die künstlerische Freiheit und Selbstbestimmung – das Gegenbild zur entfremdeten Arbeit in der Fabrik – letztlich im Dienste kapitalistischer Profitmaximierung instrumentalisiert werde. Der Zuwachs an Selbstorganisation und Eigeninitiative im Arbeitsleben werde erkauft mit einer drastischen Abnahme an sozialer Sicherheit. Auch hier steht die Künstlerexistenz Pate. Wenn also gegenwärtig ideologisch wie praktisch eine ,Verkünstlerung‘ außerkünstlerischer Lebenswelten stattfindet, so ist dies eine durchaus janusköpfige Entwicklung: einerseits drückt sich darin ein wachsendes Unbehagen an den entfremdeten Arbeitsbedingungen moderner Industriegesellschaften aus und ein wachsendes Bewusstsein für die Notwendigkeit Freiräume zu schaffen, in denen sich Eigeninitiative, Selbstbestimmung und Kreativität entfalten können – andererseits werden eben jene Eigeninitiative und Kreativität dem ökonomischen Paradigma unterworfen und ihre tatsächlichen Freiräume exakt auf dessen Erfordernisse zugeschnitten.

künstlertum als residuum selbstbestimmter praxis Die Künstlerinnen und Künstler selbst reagieren auf diesen Prozess höchst ambivalent. Dessen Janusköpfigkeit spiegelt sich in den gegenläufigen Tendenzen des aktuellen künstlerischen Diskurses wider. Auf der einen Seite hat in den 1990er Jahren das ökonomische Paradigma in die Kunstwelt Einzug gehalten; die zuvor gepflegte säuberliche Vertuschung des monetären Aspekts von Kunst wurde abgelöst durch

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dessen offene Affirmierung. Das Rollenbild des Boheme-Künstlers hat im aktuellen Kunstbetrieb an Bedeutung verloren, während das des Managers und Marketingexperten in eigener Sache hinzugetreten ist. Gut ausgeschlafen, pünktlich, sachlich und bestens ausgestattet mit Handy, Laptop und Terminplaner tritt so mancher Künstler heute eher als Geschäftsmann denn als chaotischer Kreativer auf. Hier scheint die Vorstellung vom Künstler als kritischem Außenseiter endgültig ausgedient zu haben. Auf der anderen Seite diskutieren Künstler/innen und Theoretiker/innen, wie vor diesem veränderten Hintergrund der subversive Charakter von Kunst und Künstlerexistenz bewahrt werden könnte. Ins Bewusstsein getreten ist, dass künstlerische Kritik und Subversion heute selbst zu Markenzeichen geworden sind, die mitunter karriereförderlich wirken und als innovative Anreize von ebenjenem (Kunst-) System aufgesogen werden, gegen das sie sich ursprünglich gerichtet haben. Die Künstlerexistenz hat damit nicht nur ihren Status als privilegierte Daseinsform verloren, sondern auch ihre Qualität als kritischer Außenposten der Gesellschaft. Trotz allem möchte man versuchen, diese Qualität in Theorie wie Praxis aufrecht zu halten, dem totalen Zugriff des Marktes zu trotzen und wenigstens ein Quentchen jener Autonomie zu bewahren, die schon Kant und Schiller dem Künstler als Freiraum gegenüber der Wirtschaftssphäre erheischten. Ein Beispiel hierfür ist das in den letzten Jahren diskutierte Konzept der „KünstlerKünstler“: Singuläre, vorzugsweise jüngst verstorbene Künstler, die am Kunstmarkt kaum Anerkennung gefunden haben, jedoch im Nachhinein von jüngeren Künstler/ innen als wesentliche Inspirationsfiguren bekannt gemacht und aufgewertet werden. Ein „Künstler-Künstler“ scheint den Mechanismen des Marktes und des Museums entzogen zu sein und eine primär innerkünstlerische Relevanz zu besitzen. Man kann darin eine Neuauflage des Mythos vom „verkannten Künstler“ sehen, der ja auch erst postum erfolgreich vermarktet wurde. Freilich ist der Vermarktungsmechanismus dem „Künstler-Künstler“ von Beginn an inhärent – man denke an Paul Thek, dem im Winter 2007/08 unter diesem Markenzeichen eine große Einzelausstellung im Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe gewidmet wurde. Nicht nur dient der „Künstler-Künstler“ jüngeren Künstler/innen als Vorbild für ihr eigenes Marketing, er ist auch genau in dem Moment, wo er zu solchem erhoben wird, seines subversiven Status als außerinstitutioneller Geheimtipp verlustig gegangen. Ein Beispiel für künstlerischen Widerstand gegen die Vereinnahmung durch ökonomisches Kalkül ist der Konflikt um den Valentinskamp, ein sogenanntes Gängeviertel in Hamburg. Das alte, dicht bebaute Wohngebiet mit Fachwerkbauten aus dem 18. Jahrhundert war an einen Privatinvestor verkauft worden, der es abreißen und neu bebauen lassen wollte. Geplant war die Schaffung eines gehobenen Viertels mit teuren Wohnungen und schicken Cafés. Dagegen richtete sich im Sommer 2009 eine Initiative von etwa 200 Künstler/innen, die die alten Häuser besetzten und forderten, sie als Raum für kreative Aktivitäten zu erhalten. Inzwischen hat der Hamburger Senat das Geschäft rückabgewickelt und plant nun, das Gängeviertel zu einem Kreativzentrum zu machen. Einerseits ist dies ein Sieg für die Künstler/innen, andererseits ist ihnen bewusst, dass sie hier im Sinne von Richard Floridas Theorie zur Steigerung des Kreativpotenzials der Stadt instrumentalisiert werden sollen. In

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einem von zahlreichen Kulturschaffenden unterzeichneten Manifest sprechen sie ihre Funktion als „Lockvögel“ in einem globalen Standortwettbewerb an. Gegen diesen bekannten Prozess der Gentrifizierung versuchten sich die Hamburger Künstler/innen schon im Vorfeld zur Wehr zu setzen – ein Fall von praktischer Reaktion auf die skizzierte Ökonomisierung der Kreativität. Der Mythos vom Künstler als Rebell, der sich ökonomischen und politischen Kalkülen entzieht, ist also ebenso vital geblieben wie der Mythos vom Künstler als Genie.

konjunkturen des künstlers in der kunstgeschichte Der Künstler/die Künstlerin, ihre Rolle und ihr Selbstverständnis, ist also ein höchst aktuelles Thema von unmittelbarer gesellschaftspolitischer Relevanz. Es mag deshalb kein Zufall sein, dass sich Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker etwa seit der Jahrtausendwende diesem Thema wieder verstärkt zuwenden. Auch in der Kunstgeschichte hat der Künstler/die Künstlerin Konjunktur. Das war freilich nicht immer so. Vielmehr gab es in der Geschichte des Fachs lange Zeit eine Art Pendelbewegung zwischen zwei Polen – einer Fixierung auf den Künstler einerseits und einer dezidierten Abwendung von ihm andererseits. In ihren Ursprüngen war die Kunstgeschichte bekanntlich eine reine Künstlergeschichte. Der Künstler – in der maskulinen Form – stand im Zentrum der vorwissenschaftlichen Kunstgeschichtsschreibung seit Vasaris Viten (1550), die auch nördlich der Alpen prägend für die Kunsthistoriographie wurden. Doch mit der Aufklärung verschob sich der Blickwinkel weg vom Künstler hin zum Kunstwerk. Winckelmann, Hegel und Burckhardt machten die Kunstgeschichte zu einer historischen Wissenschaft, in deren Zentrum die Kunst selbst stand und die das individuelle Kunstwerk als Ausdruck einer Epoche und eines Kulturkreises interpretierte. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts kehrte der Künstler – weiterhin im Maskulinum – in das Blickfeld zurück, nun unter neuen Vorzeichen. Wenngleich sich die mittlerweile universitär etablierte Kunstgeschichte primär als Stilgeschichte verstand, befasste sie sich auch intensiv mit der individuellen „Manier“ des Einzelkünstlers. Zu- und Abschreibungen wurden zu einem wesentlichen Betätigungsfeld; das Bedürfnis nach Individualität war so ausgeprägt, dass die Arbeit ganzer Werkstätten hinter den Namen weniger herausragender Individuen verschwand. Beim kunstinteressierten Publikum steigerte sich das Interesse für die Künstlerpersönlichkeit ins Unermessliche. Das Kunstwerk interessierte primär als Dokument des Seelen- und Liebeslebens des einsam-heroischen Künstlers. Auf die Antike zurückgehende und seit der Renaissance vielfach transformierte mythisierende Vorstellungen vom Künstler und seiner rätselhaften Schöpferkraft erfuhren in den Jahrzehnten um 1900 nicht nur einen neuen Aufschwung, sondern wurden von Kunstschriftstellern und Künstlern mit großem Erfolg in die verschiedensten Richtungen hin gesteigert und übersteigert – man denke nur an Hans Makarts pompöse Selbstinszenierung als „Künstlerfürst“ in den 1870er Jahren, Julius Langbehns völkisch-romantischen Bestseller über Rembrandt als Erzieher (1890) und die Stilisierung Vincent van Goghs zum Prototyp des „wahnsinnigen“ und „verkannten Genies“ seit den 1920er Jahren. Die akademische

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Kunstgeschichte spielte bei dieser Amalgamierung von traditionellen Künstlertopoi und romantischem Geniekult zwar nicht die treibende Rolle, doch partizipierte sie unkritisch an der Vorstellung, wonach die Geschichte der Kunst konstituiert sei aus einer Abfolge „großer Künstler“ – selbstverständlich weiterhin rein maskulin. Die Gegenbewegung hierzu bildete sich annähernd zeitgleich, als eine Reihe bedeutender Kunsthistoriker, darunter Riegl und Warburg, es ablehnten, künstlerische Artefakte primär aus der Subjektivität ihrer individuellen Urheber heraus zu erklären, und stattdessen komplexe historische Modelle zur Deutung der Kunstentwicklung erdachten. In der Folge wurden so unterschiedliche methodische Ansätze wie Ikonologie und Strukturanalyse entwickelt, und man griff auch die Methoden anderer wissenschaftlicher Disziplinen wie z. B. Psychoanalyse, Semiotik, Sozialgeschichte und Genderforschung auf und ließ sie für die kunstgeschichtliche Forschung fruchtbar werden. Kunst und Kunstwerke wurden in ein Netz von Fragestellungen und Perspektiven eingespannt, bei denen ihre individuellen Urheber nur mehr eine Nebenrolle spielen – nun ging es um soziale und politische Funktionen, Interessen von Auftraggebern, komplexe literarische und theoretische Programme, Bildtraditionen und Motivanleihen, die Analyse von Bildmitteln, Stil und Gestalt, Genderaspekte, ökonomische und technische Aspekte, Rezeptionsgeschichte und vieles weitere. So ist es wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die Kunstgeschichte das gesamte 20. Jahrhundert hindurch bemüht war, den Biografismus des 19. Jahrhunderts zu überwinden, und dass sie erfolgreich mit Leben gefüllt hat, was Wölfflin einst gefordert hatte: eine „Kunstgeschichte ohne Namen“. Diese Gegenbewegung war zweifellos sinnvoll und notwendig – umso bemerkenswerter ist es, dass in der letzten Dekade das Pendel erneut zurück schlug und die Figur des Künstlers wieder verstärkt in den Fokus von Forschung und Ausstellungstätigkeit geriet. Angesichts der zehn großen Ausstellungen zum Kult des Künstlers 2009 in Berlin und in Anbetracht der Fülle jüngerer Forschungsarbeiten zum Themenkomplex Künstler, Künstlertum und Kreativität kann man heute geradezu von einem Boom der Künstlerforschung sprechen. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um einen Rückfall in die zu Recht als fragwürdig verworfene Heroisierung des Künstler-Schöpfers. Vielmehr wurden aufbauend auf neuere kultur- sozial-, ideen-und institutionsgeschichtliche Methoden neue Perspektiven auf den Künstler entwickelt, der nun endlich auch nicht mehr ausschließlich im Maskulinum gedacht werden muss. Der neuen Künstler/innenforschung geht es nicht mehr naiv um ,das Leben‘ oder ,die Seele‘ des Künstlers, sondern sie begreift die Verbindung von Biografie, Sozialstatus, psychischer Konstitution, Habitus und Werk als komplexe Konstruktionen, die es in ihrer je spezifischen historischen Situation zu analysieren gilt.

zu diesem buch Inzwischen ist die Künstler/innenforschung ein großer internationaler Forschungszweig, der eine geradezu unüberschaubare Vielzahl heterogener Fragestellungen, Methoden und Standpunkte hervorgebracht hat. Aus der daraus resultierenden Notwendigkeit

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diese Aktivitäten zu bündeln, entstand die Initiative zu einem internationalen Symposium, das im März 2010 in der Universität für angewandte Kunst in Wien stattgefunden hat. Ziel des Symposiums war es, die verschiedenen Themenfelder, Ansätze und Positionen in der aktuellen Künstler/innenforschung zusammenzuführen, Schnittstellen erkennbar zu machen, Differenzen auszutragen und zu einer produktiven Auseinandersetzung anzuregen. Der zeitliche Fokus war auf die erweiterte Epoche der Moderne gerichtet, vom 18. Jahrhundert als Umbruchs- und „Sattelzeit“ bis zur jüngsten Gegenwart, denn gerade in diesem Zeitraum haben sich der Stellenwert des Künstlers und die Vielzahl der Künstlerrollen und Aspekte explosionsartig gesteigert. Fragestellungen der Genderforschung, sowohl Forschungen über die Leistungen und Bedingungen von Künstlerinnen als auch Analysen der ideologischen Konstruktionen geschlechtsspezifischer Stereotypen des Künstlertums, sollten dabei nicht als Gegenstand einer eigenen Sektion, sondern als integraler Bestandteil des gesamten Themas behandelt werden. Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge des Wiener Symposiums. Dabei ist das breite Feld der unterschiedlichen Perspektiven und methodischen Zugänge zum Thema Künstlertum und Künstlerimage entsprechend den Akzentsetzungen der jüngeren Forschungsdiskussion nach folgenden fünf Schwerpunkten aufgegliedert.

selbstverständnis und selbstinszenierung von künstler/innen Einen traditionellen Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit der Figur des Künstlers, der auch in der gegenwärtigen Diskussion fortgeführt wird, bilden die Funktionen künstlerischer Selbstinszenierung in Selbstbildnissen, schriftlichen Selbstzeugnissen oder performativen Akten. Der öffentliche Auftritt eines Künstlers oder einer Künstlerin gewinnt heute jedoch eine neue Dimension vor dem Hintergrund der kulturwissenschaftlichen Diskussionen über Ego-Dokumente. Autobiografische Verfahren und selbstgenerierte biografische Mythen treten dabei in den Mittelpunkt der Analyse, ebenso die Selbstreferentialität des Kunstbetriebes, in dem Künstler ihrerseits zu Vorbildern für Künstler werden. Spätestens seitdem sich der neue emphatische Kunstbegriff im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert zunächst in Westeuropa durchgesetzt hat, nutzen Künstler die Erwartungshaltung ihres Publikums, um ihre Position im Kunstbetrieb günstig zu beeinflussen oder zu behaupten. Ada Raev veranschaulicht am Beispiel der Karriere des russischen Malers Karl Brjullov die ambivalente, von retardierenden Momenten durchsetzte Aneignung des modernen Künstlerbegriffes im frühen 19. Jahrhundert im Zarenreich. Soziale Aufstiegsmöglichkeiten wie die Grenzen künstlerischer Autonomie waren hier anders ausgeprägt als in Westeuropa, obwohl Elemente des neuen Kunstbegriffes von dort importiert worden sind, die jedoch in einer ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ noch lange Zeit mit traditionellen Auffassungen koexistieren mussten. Am Beispiel von George Grosz untersucht Andrea Gottdang eine Strategie künstlerischer Selbstinszenierung in der Weimarer Republik, wobei besonderes Augenmerk auf die Vielzahl fotografischer Porträts öffentlicher wie privater Natur gelenkt wird. Dabei hinterfragt sie nicht nur die Annahme eines die gesamte Lebensspanne über-

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blickenden, vermeintlich einheitlichen Charakterbildes, sondern stellt auch die These zur Diskussion, dass Grosz die Möglichkeiten verschiedener Medien gezielt zur Erzeugung voneinander abweichender Vorstellungsbilder seiner Künstleridentität genutzt habe. Am Beispiel einer Reihe besonders gut überlieferter Fälle aus der Sammlung Prinzhorn, der in den 1920er Jahren angelegten frühesten Dokumentation zur Kunsttätigkeit von Psychiatriepatienten, zeigt Thomas Röske, auf welche Weise sich damals weithin geläufige Vorstellungen von der Rolle des Künstlers auch im Selbstverständnis der künstlerisch tätigen Patienten widerspiegelten. Die Inanspruchnahme dieses Mittels zur Wiedergewinnung von sozialer Anerkennung gerade durch diese marginalisierten Außenseiter bestätigt die Potenz des Künstlerbegriffes als einer Kategorie der Statuszuweisung. Doris Berger verfolgt die Strategie der Selbstinszenierung von Julian Schnabel, durch die der neoexpressionistische Maler und Filmemacher in den letzten Jahren seine beträchtlichen Schwankungen unterworfene Konjunktur auf dem internationalen Kunstmarkt zu stabilisieren versucht. In Verlängerung traditioneller Praktiken der Selbststilisierung durch Selbstporträts oder der Kultivierung von performativen Auffälligkeiten in der Öffentlichkeit greift der Künstler offenbar erfolgreich auf ein Repertoire von maskulinen Rollenstereotypen für Künstler aus dem 19. Jahrhundert zurück, das er durch die Aneignung von Versatzstücken aus aktuellen Verhaltensmodellen aktualisiert hat.

künstlerhabitus und gesellschaftliche rollenmodelle Zahlreiche Studien der letzten Jahre widmen sich der Zuschreibung sozialer Rollenmodelle an künstlerisch tätige Individuen durch die Gesellschaft. Im Unterschied zu einer von Künstlern oder Künstlerinnen strategisch eingesetzten Selbstinszenierung geht es dabei vor allem um die Perspektive der Rezipienten, die ihre Vorstellungen von der Rolle des Künstlers auf konkrete Protagonisten projizieren und damit immer aufs Neue die Grenzen und Handlungsspielräume künstlerischer Interventionen festlegen. Im Mittelpunkt der hier versammelten Beiträge steht also der Hintergrund eines im historischen Rückblick ständiger Veränderung unterworfenen kollektiven Erwartungshorizontes von der Rolle des Künstlers. Dabei zeigt sich bereits im Entstehungsmoment des modernen Kunstbetriebes am Beginn des 19. Jahrhunderts ein bis in die Gegenwart fortbestehendes Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen, einander widersprechenden Wertekodices, die auf unlösbare soziale Konflikte hinweisen, die von Anfang an in die Figur des Künstlers in der modernen Gesellschaft eingeschrieben sind. Nathalie Heinich identifiziert am Beispiel der Verschiebungen, die der Begriff in Frankreich seit Beginn des 19. Jahrhunderts erfahren hat, zwei im Widerspruch zueinander stehende Anmutungen in der modernen Vorstellung vom Künstler. Einerseits wird Schriftstellern, Musikern oder Malern die Zugehörigkeit zu einer qua Talent prädestinierten intellektuellen Elite attestiert, die Merkmale der alten Aristo-

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kratie geerbt hat, andererseits legitimiert sich die Sonderstellung dieser Elite durch das demokratische Prinzip der Belohnung von Arbeit und Leistung, so dass sich in dieser merkwürdigen sozialen Dichotomie ein andauernder, nicht aufhebbarer sozialer Wertekonflikt spiegelt. Auch die geschlechtsspezifische Rollenzuweisung, die Künstlerinnen die Zugehörigkeit zum männlich geprägten Künstlerbegriff verweigert, und der gegenläufige Anspruch auf eine gleichberechtigte Anerkennung gehören zum kollektiven Erwartungshorizont des modernen Künstlertums. Der Zugang von Kunststudentinnen zur Ausbildungspraxis des Kopierens von historischen Vorbildern an den Kunstakademien des späten 18. und 19. Jahrhunderts, den Carola Muysers untersucht hat, ermöglichte den angehenden Künstlerinnen das ihnen am lebenden Modell verweigerte Aktstudium in Gipsabgusssammlungen oder an Gemälde- und Grafikbeständen zu kompensieren. Charles Meryon galt seinen Zeitgenossen wahlweise als Märtyrer der Kunst, den die Unbedingtheit seiner künstlerischen Vision in den Wahnsinn getrieben habe, oder als Märtyrer der Gesellschaft, der mit der Freisetzung des modernen Künstlers in die soziale Isolation und Erfolglosigkeit gedrängt werde. Sein Habitus als eigenbrötlerischer Sonderling ließ, wie Gregor Wedekind aufzeigt, ihn schon zu Lebzeiten zum artiste maudit werden, der seinerseits für den Künstler den Habitus des Gesetzgebers reklamierte, sich zugleich aber in Anerkennung des Realitätsprinzips aus dieser Position wieder in eine konjunktivische Spekulation zurückzog. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Rede vom ‚Künstler als Seismograph‘ eine populäre Metapher für eine prophetische wie für eine zeitdiagnostische Rollenzuschreibung an Künstler. Sigrid Schade verfolgt die Wanderung des Begriffs aus der Naturwissenschaft in die Sphäre der Kunst und erkundet dabei deren Auswirkungen auf das Intuitionskonzept. Gerade im dominanteren Gebrauch für vermeintlich visionäre Künstler wird die im ursprünglichen Feld entfaltete Bedeutung umgekehrt und eine nachträgliche Registrierung von Phänomenen mit weitreichenden Folgen in eine antizipierte Wahrnehmung von Zukunft umgedeutet. Beatrice von Bismarck analysiert die Vorbildfunktion von Merkmalen des Künstlerbegriffes in der zeitgenössischen Debatte über die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, die auf eine neue Überschneidung der Felder Kunst und Wirtschaft zurückgeht. Auf der einen Seite hebt sie das Paradox zwischen traditionell den Künstlern zugeschriebenen Eigenschaften wie Autonomie, Kreativität und Selbstbestimmtheit und den ökonomischen Effizienzkriterien hervor. Auf der anderen Seite beschäftigt sie sich mit dem durch den Diskurs hervorgebrachten Ausmaß an Destabilisierung des Künstlerbildes, dessen mythologische Qualität aber auch Spielräume für Verweigerungsstrategien gegenüber der Verwertungslogik ökonomischer Effizienz bereithält.

überschreitungen des ,autonomen‘ künstlerbildes Das moderne Künstlerkonzept ist eng an die Kunstautonomie geknüpft, doch zugleich mit der Herausbildung des ,autonomen‘ Künstlerbildes entstand dessen v.a. durch die Künstlerinnen und Künstler selbst artikulierte Kritik. Das gesamte 20. Jahrhundert

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hindurch bis in die Gegenwart werden immer neue Varianten der Überschreitung des Autonomiekonzeptes erprobt, wobei paradoxerweise zugleich an der Prämisse des autonomen Künstlersubjekts implizit oder explizit festgehalten wird. Die Beiträge dieser Sektion untersuchen verschiedene historische und zeitgenössische Exempel und befragen sie auf die ihnen inhärenten Brüche und Widersprüche. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand der neue Künstlerhabitus „KünstlerGestalter“, der auf eine Überwindung der Spaltung zwischen akademischer Hochkunst und angewandter Kunst bzw. den ihnen korrelierenden Typen des Künstlers und Handwerkers abzielt. Wolfgang Ruppert beschreibt die Motive, gesellschaftspolitischen Strömungen und sozialen Hintergründe für diese Neuformierung und zeichnet die widerspruchsvolle Entwicklung von dessen konkreter Ausformung im Künstlertypus „Bauhäusler“ im Verlauf der kurzen Geschichte des Bauhauses nach. Mit dem Prinzip der Montage, erstmals programmatisch in der Berliner DadaMesse von 1920 vorgestellt, versuchten die Dadaisten auf provokative Weise den traditionellen Begriff des autonomen Künstlertums zu sprengen. Kathrin Hoffmann-Curtius zeigt in ihrem Beitrag, dass dieser Angriff auf die Genieästhetik im Namen einer kollektiven Kunstpraxis keineswegs mit der Aufgabe der traditionellen Autorschaft des Künstlers verbunden war, sondern vielmehr durch die Inszenierung aggressiver Täterschaft eine neuartige Bestätigung von dessen vitaler Männlichkeit ermöglichte. Wie die historischen Avantgarden streben heutige gesellschaftskritische KünstlerInnen die Verwendung künstlerischer Verfahren an, die das Werk entauratisieren und die Autorrolle relativieren. Unter den Bedingungen des Postfordismus sind dabei solche Verfahren bedeutsam geworden, bei denen Kommunikationsformen und -medien im Zentrum stehen. Barbara Lange arbeitet anhand von auf Netzwerke gerichteten künstlerischen Projekten heraus, dass der Verzicht auf eine auf den Kultwert eines Werks abzielenden künstlerischen Sprache nicht zwingend zu neuen Künstlerrollen führt. Welche Konsequenzen die zunehmende Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Sphären in den letzten Jahrzehnten für das Selbstverständnis und die Produktionsbedingungen von Künstler/innen hat, ist die Ausgangsfrage von Rachel Mader, die sie am Beispiel eines in Großbritannien seit den 1970er Jahren existierenden neuen Typs von Institutionen zur Förderung experimenteller Kunstformen diskutiert. Projektbezogenheit und die Einbindung in gesellschaftliche Funktionen bewirken eine Angleichung künstlerischen Agierens an Unternehmertum, die höchst ambivalente Züge hat.

konstruktionen künstlerischer kreativität Ein zentraler Topos moderner Künstlerkonzeptionen ist die Verknüpfung von künstlerischer Kreativität mit psychischen Ausnahmezuständen, die vor allem unter dem Aspekt des ‚Künstlerwahns‘ immer wieder thematisiert wurden. Doch enthält auch der Begriff ‚Kreativität‘ ein dezidiert historisches Element, ebenso wie die Frage, ob es in einer Epoche überhaupt einen Fortschritt im Sinne von ‚Neuheit‘ geben muss.

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Cordula Grewe richtet deshalb ihren Blick auf den Anti-Begriff des modernen Kreativitätsdiskurses schlechthin, die Epigonalität. Ausgehend von dem Schriftsteller Karl Immermann, der diesen Begriff im 19. Jahrhundert in den Kunstdiskurs eingebracht hat, unterzieht sie die im October-Umkreis entfaltete Argumentation um die Appropriation Art einer kritischen Relektüre, die deren autorkritischen Impetus nicht minder mythisierend erscheinen lässt als das moderne Künstlergenie. Dem entscheidenden Einschnitt in der Entwicklung des Künstlerbildes im 19. Jahrhundert geht Michael Wetzel ausgehend von Richard Wagner und Marcel Duchamp nach. Dabei nimmt er das Unmögliche dieses Vergleichs als Herausforderung, um einen neuen Typus von Künstlersubjektivität nachzuweisen. Beide seien als kreative Künstler nicht mehr Ursache für die Uridee des Kunstwerks, sondern empfingen diese in einem Zustand der Passivität: Die bewusste Aussetzung von Autorschaft als Autorität über das Material ermögliche in neuer Weise eine potenzierte Form der Teilhabe am Eigenleben des Materials, der Künstler wird zum Arrangeur des vorgefundenen Materials. Als Modell für das kreative Bewusstsein prägte Duchamp den bislang der naturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgangenen Begriff des ‚infra-mince‘, der bei ihm das unsichtbare Hauchdünne als Differenzzone zwischen der Interaktion zweier Zustände meint. Dabei strebte Duchamp jedoch, wie Antje von Graevenitz ausführt, nicht nach surrealistischer Para-Wissenschaft, sondern auf den Spuren Leonardo da Vincis nach einer experimentellen Physik im protowissenschaftlichen Versuch. In Victor Vicas Film Das zweite Leben, der im Mittelpunkt der Analyse von Barbara Schrödl steht, verschränken sich verschiedene Kreativitätskonzepte auf ungewöhnliche Weise mit der nationalsozialistischen Kunstpolitik, der Rivalität zwischen Deutschland und seinen alliierten Besatzern und der Affirmation traditioneller Geschlechterrollen in der Nachkriegszeit. Im Prozess der ‚Heilung‘ des unter Amnesie leidenden Künstler-Protagonisten von einer nationalistischen Kunstauffassung wird sowohl der Fortbestand des Erklärungsparadigmas ‚Genie und Wahnsinn‘ erkennbar wie dessen sich abzeichnender Geltungsverlust.

autorfunktion und kunstgeschichte Ausgehend von der poststrukturalistischen Dekonstruktion ist unter den Stichworten ‚Tod des Autors‘ und ‚intentionaler Fehlschluss‘ das künstlerische Subjekt als Ausgangspunkt der Bedeutungsermittlung für obsolet erklärt worden. Hierzu hat sich vor allem in der Literaturwissenschaft der letzten Dekade eine Gegenbewegung entwickelt, die unter dem Stichwort der ‚Rückkehr des Autors‘ eine tiefer gehende Präzisierung des Umgangs mit dem Begriff des Künstlersubjekts, dessen Funktionen und Konzeptualisierungen einfordert. An dieses nach wie vor virulente Problemfeld schließen auch jüngere Forschungen zum Subjektbegriff in der Kunstgeschichte an. So weist Renate Berger auf die Vitalität der modernen Biographik vor allem im anglo-amerikanischen Raum hin, die längst avancierter sei als ihre Kritiker. Sie begrüßt diese Tendenz aus der Genderperspektive, denn die Auflösung klassischer

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Subjektvorstellungen habe einen ‚Autor‘ als Maskulinum ohne weibliche Reich- und Tragweite gebracht, der Umgang mit Autorinnen mache jedoch das historisch begründbare Wissen von einer völlig anderen Situation des weiblichen Subjekts dringend erforderlich. Für Insa Härtel haftet bereits dem ‚Tod‘ des Autors seine Wiederkehr an, wie sie ausgehend von Joan Copjec argumentiert, denn gerade das Entschwinden des Autors könne eine Form erregend-zersetzenden Erscheinens bewirken. Entlang der psychoanalytischen Figur des Triebs und dessen Schicksal in der Sublimierung unternimmt sie eine eingehende Untersuchung dieser nicht-identischen ‚Wiederaufnahme‘ des kulturell tätigen ‚Subjekts‘, womit sie die riskante Verbindung von Trieb und Kunst bzw. Kultur neu ausprobiert. Gerade für viele Künstlerinnen des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ist die poststrukturalistische Reflexion von Autor- und Künstlerschaft in der Tat zu einem faszinierenden Thema ihrer Arbeit geworden, wie Marion Hövelmeyer herausarbeitet. Die Verabschiedung des künstlerischen Urhebers als Interpretationsrahmen, an dessen Stelle ein operationalisierbarer, vom Kunstbetrieb integrierbarer ‚Modus Künstlerschaft‘ getreten sei, setze die wertbestimmende Fiktionalität der Kategorien Selbstbildnis und Künstlerschaft jedoch keineswegs außer Kraft. Auch Sabine Kampmann sieht den Künstler als eine unverzichtbare Konstante im Diskurs, versteht aber Autorschaft als einen Prozess und überträgt deshalb den in der Literaturwissenschaft etablierten systemtheoretischen Ansatz auf ein aktuelles Werk von Andrea Fraser. In ihrem Beitrag analysiert sie die kommunikative Struktur und hinterfragt die spezifischen Anschlussmöglichkeiten an Programme des Kunstsystems, wodurch Variantenreichtum und Variabilität der Künstlerperson Andrea Fraser aufgedeckt werden. Das in diesem Buch dokumentierte Symposium hat zwar in vielen Punkten die Summe einer mehrjährigen differenzierten Forschungsdiskussion ziehen können, doch die Fragen, Probleme und Kontroversen der Künstler/innenforschung sind damit längst nicht erschöpft. Vielmehr waren sich alle Beteiligten einig, dass hier der Auftakt für eine intensivierte Zusammenarbeit gesetzt worden ist. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber hoffen, durch die Publikation der Tagungsbeiträge im vorliegenden Band dazu beizutragen, dass Gespräch und Kooperation fortgesetzt und vertieft werden. Zum Zustandekommen dieses Buches haben wie stets viele Personen beigetragen. Wir bedanken uns herzlich bei allen Autorinnen und Autoren für ihre intensive Mitwirkung an dem Symposium, ebenso dafür, dass sie durch rasche Fertigstellung ihrer Beiträge eine zügige Publikation des Tagungsbandes ermöglicht haben. Ein großer Dank gilt dem Rektor der Universität für angewandte Kunst in Wien, Dr. Gerald Bast, für die großzügige Finanzierung des Symposiums und des Tagungsbandes. Elena Mohr und Julia Beenken vom Böhlau Verlag danken wir für die gewohnt gute Unterstützung in allen verlegerischen Angelegenheiten. Last not least sei Mag.a phil. Sophie Geretsegger für ihre verantwortungsvolle Redaktion und verlässliche Organisation herzlich gedankt.

einführung peter schneemann „Die Künstlerinnen und die Künstler sind anwesend.“ Dieser schlichte Satz gilt gleichermaßen als Standard-Ankündigung für die Veranstaltungen des Kunstbetriebs wie für die kunsthistorische Forschung. Und tatsächlich konnte die autoritäre Figur der Künstlerin und des Künstlers als Referenz für Vermittlung und Interpretation nie wirklich verdrängt werden. Die „Ausladung“, die eine kritische Kunstgeschichte im Dialog mit den Literaturwissenschaften den Künstlern zusandte, war für eine Reflexion über das methodologische Selbstbewusstsein von größter Bedeutung. Im Moment der verstärkten Auseinandersetzung der Kunstgeschichte mit der Kunst der Gegenwart wurde manche Errungenschaft der erkämpften Emanzipation des kritischen Betrachters von intentionalen Aussagen vergessen. Doch an die Stelle des nicht selten ideologisch geführten Streits über “Intentional Fallacy“ (Beardsley/Wimsatt), das Recht des Publikums sich vom Genie zu befreien, tritt ein neues Interesse. Die Kunstgeschichte muss die Figur des kreativen Individuums nicht für tot erklären, um in eine kritische Distanz zu ihr zu treten. Die Erscheinungsweisen und „Rhetoriken des Selbst“ werden als eigenständiges Phänomen und sehr ergiebiger Untersuchungsgegenstand beschrieben. Auf der Grundlage der entstandenen breiten Basis von Case-Studies fragt die Forschung nach den Funktionen, die in der kontinuierlichen Weiterführung und Lebendigkeit von tradierten Rollenbildern zwischen Outsider und Star bedient werden. In einem komplexen Geflecht wechselseitiger Projektionen, Erwartungen und Angeboten ist die künstlerische Inszenierung nicht ohne ihr Gegenüber, das Publikum und auch die Kunstgeschichte zu denken. Anders ausgedrückt, liegt in diesen Interessen, die in jeder Stilisierung, Überhöhung und Kontrolle aufscheinen, in der Präsenz wie auch der bewussten Absenz, der Spur und der Irreführung, die Versuchung, das Phänomen für ein kunstkritisches Urteil nutzen zu wollen. Wie dieses dann lautet, hängt jedoch von der ideologischen Haltung ab, der Frage, welche Autonomie durch welche Positionierung für die Kunst notwendig und möglich sei. Wenn die Kunstgeschichte den beliebt gewordenen Begriff der Stilisierung einsetzt, so weiß sie aber ohne Zweifel, dass sie über ihre eigene, auch historisch gewachsene Beteiligung am Entwurf von Künstlerbildern nachdenken muss. In der beschreibenden Annäherung an die Rückkehr und die Gegenwart des Künstlers manifestiert sich ein Umdenken, das an die Stelle der Dekonstruktion eine genaue Beschreibung der Medien, Gattungen und Formate der Vergegenwärtigung setzt. Performance-Auftritten, Fiktionalisierungen, Selbstdokumentationen und Interviews gilt gleichermaßen das Interesse. Die Vorstellung, dass die Kunstgeschichte über Tagebuchfragmente und eine fast unüberschaubaren Diversität medialer Dokumente der Selbstdarstellungen Zugriff auf eine authentische Künstlerpersönlichkeit erhalten würde, ist der Einsicht gewichen, dass wir statt dessen in der Lage sind, so

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etwas wie ein Vokabular künstlerischer Identitäts- und Profilbildung zu beschreiben, das in unterschiedlichen Stadien der Brechung und Reflexion zum Gegenstand künstlerischen Arbeitens geworden ist. Gerade in der kritischen Reflexion kann dann in einem zweiten Schritt danach gefragt werden, wie sehr dieses Vokabular genutzt wird, um die Kommunikation zwischen künstlerischer Individualität und Gesellschaft zu gestalten. In der beschriebenen Verschränkung von Erwartung und Angebot muss nicht zuletzt Machtstrukturen nachgegangen, Prozesse der Ausgrenzung vorgestellt oder Vereinnahmungen des Publikums untersucht werden. Die Typologie der Künstlerrollen spiegelt seit jeher Wertesysteme und kompensatorische Wünsche einer Gesellschaft wider. Die Analyse der Auseinandersetzungen innerhalb dieser multiplen Autorschaft der Künstlerbilder als einer dynamischen Qualität zeigt, in welchem Maße das Vokabular der Kunstgeschichte sich in das Referenzsystem „Künstler“ einschreibt. Die Diskurse um Kategorien wie „Progressivität“, „Innovation“, „Kreativität“ demonstrieren auch das Potential, das mit der wissenschaftlichen Begegnung des wiederkehrenden Künstlers frei wird.

von der last des ruhms oder ein künstler zwischen vielen stühlen karl brjullov (1799–1852)

ada raev Der Maler und Zeichner Karl Pavlovič Brjullov genoss zu Lebzeiten den Ruf eines Genies.1 Für sein Monumentalgemälde Der letzte Tag von Pompeji (Abb. 1), das in den 1830er Jahren europaweit Furore machte und von Nikolaj Gogol’ als „lichte Auferstehung

1 Karl Brjullov, Der letzte Tag von Pompeji, Öl auf Leinwand, 1830–1833

der Malerei“2 gefeiert wurde, erhielt er den Beinamen „Velikij Karl“ (Der große Karl). Zusammen mit Aleksandr Puškin, Nikolaj Gogol’ und Michail Glinka wird er als Begründer der russischen Nationalkultur genannt, wenngleich ihm aus slavophiler Sicht Aleksandr Ivanov diesen Ruf streitig machte. Im heutigen um Sachlichkeit bemühten kunsthistorischen Diskurs gilt er als derjenige Maler, der den „Kompromiss

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Zur Genesis des Geniebegriffs und seine Ausprägung um und nach 1800 vgl. Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, S. 35–55. Nikolaj Gogol’, Poslednij den’ Pompei (Der letzte Tag von Pompeji), zitiert und übersetzt nach: N. V. Gogol’, Sobranie sočinenij v semi tomach (Gesammelte Werke in sieben Bänden), Moskau 1978, Bd. 6, S. 119.

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zwischen Klassizismus und Romantik“ in der russischen Kunst repräsentiert.3 Nicht nur im Hinblick auf die Stilgeschichte offenbart gerade seine Karriere, die in umfangreichem Quellenmaterial dokumentiert ist,4 Brüche und Widersprüche, die neben seiner persönlichen Disposition vor allem den Gegebenheiten der russischen Kultur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geschuldet sind. Durch den verspäteten Eintritt Russlands in die Neuzeit ergaben sich Besonderheiten in der Evolution des sozialen und kulturellen Status des Künstlers im Zarenreich: „Der zielstrebige Weg, den die kulturelle Biographie des Künstlers in Russland durchlaufen hat, erwies sich als äußerst komprimiert: im Verlauf von anderthalb Jahrhunderten (von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) durchlief die Evolution der gesellschaftlichen Stellung des Künstlers all jene bedeutsamen Etappen, die in Europa etwa 300 Jahre in Anspruch genommen hatten.“5 Dazu kommt ein Umstand, der von der frühen Neuzeit bis in die Moderne hinein zwar auch in anderen europäischen Ländern wirksam, in Russland aber der Regelfall gewesen ist und auf Brjullov zutrifft: „Noch ein Paradox, das zur Normalität russischen Kunstschaffens gehört: die meisten Nationalkünstler haben im westlichen Ausland studiert, manche von ihnen sind dort zumindest vorübergehend ansässig geworden, haben ihre Ateliers eingerichtet, Karriere gemacht und ihre Werke aus dem freiwilligen Exil in die russische Heimat verbringen lassen; andererseits sind zahlreiche ausländische Künstler in Russland tätig gewesen und haben vor Ort Werke geschaffen, die anstandslos in den Bestand des russisch nationalen Erbes eingegangen sind.“6 Die kunsthistorische Charakterisierung Brjullovs als Figur des Übergangs legt die Frage nach seiner gesellschaftlichen Stellung und seinen persönlichen Verhaltensweisen nahe. Ohne auf mögliche Legendenbildungen einzugehen,7 wird zu zeigen sein, inwiefern die öffentlichen Erfolge wie die unterschwelligen Niederlagen Karl Brjullovs 3

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Zuletzt Michail Allenov, Russkoe iskusstvo XVIII–načala XX veka (Die russische Kunst vom 18. bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts), Moskau 2000, S. 187; vgl. auch Ė. Acarkina, Karl Pavlovič Brjullov. Žizn’ i tvorčestvo (Karl Pavlovič Brjullov. Leben und Schaffen), Moskau 1963; Galina Leontjewa, Karl Brüllow. Maler der russischen Romantik, Bornemouth 1996; Galina Leont’eva, Karl Brjullov, Moskau 1997; Karl Brullov. 1799–1852. Paintings, Drawings and Watercolors from the Collection of the Russian Museum, Ausst.-Kat. Staatliches Russisches Museum St. Petersburg 1999; Ol’ga Allenova, Karl Brjullov, Moskau 2000. N. G. Maškovcev (Hg.), K. P. Brjullov v pis’mach, dokumentach i vospominanijach sovremennikov (K. P. Brjullov in Briefen, Dokumenten und Erinnerungen der Zeitgenossen), Moskau 2 1961; vgl. auch Grigorij J. Sternin, Chudožestvennaja žizn’ Rossii 30–40-ch godov XIX veka (Das Kunstleben Russlands der 30er–40er Jahre des 19. Jahrhunderts), Moskau 2005. Im Weiteren werden die einzelnen Quellen nicht angegeben, die bei Maškovcev 1961, S. 314– 315 aufgelistet sind. Oleg Krivunc, Chudožnik v istorii russkoj kul’tury: ėvoljucija statusa (Der Künstler in der Geschichte der russischen Kultur. Statusentwicklung), in: Iskusstvoznanie (Kunstwissenschaft), 1/2000, S. 467–499, hier S. 467. Felix Philipp Ingold, Die Faszination des Fremden. Eine andere Kulturgeschichte Russlands, München 2009, S. 168. „The biographies of masters such as Brullov often become cluttered with legends, anecdotes and conjectures. A comparision of the various biographical descriptions, the epistolary references to the artist and his written correspondence with others confirms, however, that there are few apocryphal stories to be found in the life and work of the great Russian painter.

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mit den Veränderungen der russischen Gesellschaft, ihrer kulturellen Institutionen und Wertvorstellungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verknüpft sind. Als Ausgangspunkt gilt, dass die bildenden Künstler in Russland zu dieser Zeit zwar hohes Ansehen genossen, finanziell jedoch im Vergleich mit ihren sozial weniger angesehenen Kolleginnen und Kollegen aus den darstellenden Künsten und der Musik nicht mithalten konnten.8 Der Grund dafür liegt in der Mentalität des russischen Adels, der die Kunst und ihre Schöpfer in ideeller Hinsicht zwar schätzen gelernt hatte, Finanzielles aus Standesgründen aber ausblendete. Familiärer Zusammenhalt, wie er im Falle Brjullovs zum Tragen kam, war eine Möglichkeit der Reaktion darauf, eine andere die Tätigkeit in unterschiedlichen künstlerischen Bereichen. Vorausgreifend lässt sich konstatieren, dass sein Aufstieg und Ruhm mit einer anhaltenden, von Verweigerungsgesten begleiteten Anpassungsleistung an die sich verändernden Kunstverhältnisse, ästhetischen Normen und sozialen Gegebenheiten seiner Zeit gebunden war. Dabei ermöglichte ihm sein an den Tag gelegter, durch den Einfluss romantischen Gedankengutes bestärkter Individualismus, auch aus Zurücksetzungen und Niederlagen produktive Energie zu schöpfen und neue Wege einzuschlagen. Karl Brjullov (Abb. 2) gehörte als Spross einer französischen Hugenottenfamilie, der Bruleau, zu den vielen Künstlern mit ausländischen Wurzeln, die in Russland seit Peter I. eine neuzeitliche, an gesamteuropäische Normen gebundene Kunst hervorbrachten. Wohl dank seines Geburtsortes St. Petersburg wurde er von Anfang an als ‚russischer Künstler‘ wahrgenommen. Seine Vorfahren waren nach der Aufhebung des Edikts von Nantes zunächst nach Lüneburg geflüchtet, wo sie in der dortigen Gipsproduktion ein Auskommen fanden. Seit 1773 ist Karl Brjullovs Urgroßvater Georg an der Kaiserlichen Porzellanmanufaktur in St. Petersburg als Stuckkünstler nachweisbar. Der Großvater Ivan arbeitete schon als Bildhauer und Karl Brjullovs Vater Pavel konnte sich 1793 sogar als Leiter der Klasse für Ornamentschnitzerei, Gold- und Lackmalerei an der Akademie der Künste etablieren. Allerdings nahm die Bedeutung der angewandten Bereiche an der Akademie, die ihr idealistisches Profil zu schärfen suchte, stetig ab und Pavel Bryllo (so die damalige Schreibweise seines Namens), dem bereits 1799 wegen „mangelnden Nutzens“ die Entlassung angekündigt worden war, quittierte 1805 den Dienst.9 Bis zu seinem Tod 1833 setzte er dann alles daran, seine vier Söhne – Karl war der dritte – in ihren Künstlerkarrieren zu unterstützen. Er folgte damit einem auch in Russland inzwischen üblichen Modell von Künstlertum, das im familiär betriebenen Handwerk wurzelte, aber auf sozialen Aufstieg zielte. Die väterlichen Bemühungen um die Vermittlung künstlerischer Grundlagen waren aus heutiger Sicht ambivalent. Wie seine Brüder erhielt der wiederholt an Gelbsucht leidende Karl zu Hause eine intensive künstlerische Schulung. Körperliche

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Karl Brullov was in fact the personality that he passed for“, zit. nach Grigoryij, Goldovskij in: Ausst.-Kat. St. Petersburg 1999 (wie Anm. 3), S. 8. Krivunc 2000 (wie Anm. 5), S. 474. Vgl. Nina Moleva/Ėlija Beljutin, Russkaja chudožestvennaja škola pervoj poloviny XIX veka (Die russische künstlerische Schule der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts), Moskau 1963, S. 165 und S. 367.

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2 Karl Brjullov, Selbstbildnis, Sepia, Deckweiß auf Papier, 1833–1835

Züchtigung als Erziehungsmethode war kein Tabu – Frühstück gab es erst nach getaner Arbeit, d. h. nach dem Kopieren und Zeichnen von zahllosen Figürchen und Pferdchen. Früh und nachhaltig sollten auf diese Weise handwerkliche Fähigkeiten, Disziplin und ein unhinterfragtes Arbeitsethos als Grundlage für den beruflichen Erfolg ausgebildet werden.10 Karl Brjullov, einer der virtuosesten Zeichner in der Geschichte der russischen Kunst, konnte davon ein Leben lang profitieren. Doch die so erworbene Routine hatte ihren Preis. Von einer Ohrfeige des Vaters soll er eine lebenslange Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr davongetragen haben. Für russische Verhältnisse spät, mit 10 Jahren, wurde er 1809 in die Erziehungsanstalt der Akademie der Künste aufgenommen. In der Regel erfolgte die Rekrutierung der Knaben bereits im Alter von 6 Jahren, da es im damaligen Russland an einem tragfähigen Bildungssystem in der Grundstufe fehlte.11

10 Inwiefern hier auch die Moralvorstellungen der Hugenotten wirksam geworden sind, geht aus den Quellen nicht hervor. Bekannt ist, dass Pavel Brjullov als Konfession „evangelischlutheranisch“ angab und den Freimaurern angehörte. 11 Die der Akademie angegliederte Erziehungsanstalt wurde 1840 geschlossen, da die Schulbildung in Russland einen Standard erreicht hatte, der sie überflüssig machte, vgl. Moleva/ Beljutin 1963 (wie Anm. 9), S. 257; Jan Kusber, Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung, Stuttgart 2001.

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Karl Brjullov erlangte an der Akademie schnell eine Ausnahmestellung, die neben Bewunderung auch Neid und Verleumdungen mit sich brachte. Schon bald dienten seine Zeichnungen für die anderen Schüler als Vorbild. Wohl auch dank der Fürsorge seines älteren Halbbruders Fedor, der auch dort studierte, durchlief er die einzelnen Klassen schneller als üblich, korrigierte für Leckerbissen als Gegengabe Zeichnungen seiner Mitschüler und erarbeitete sich zügig die für den Abschluss notwendigen Goldmedaillen. 1820 wurde im Zusammenhang mit dem 1819 entstandenen Gemälde Narziss, ins Wasser schauend, das Brjullov eine Goldmedaille zweiter Klasse einbrachte, das erste Mal in der Presse lobend über ihn berichtet.12 In der Akademie war man darüber eher beunruhigt. Zwar bewunderte man seinen Narziss, der an den Sterbenden Gallier, eine der damals populärsten antiken Plastiken, erinnert, doch riefen die Gestaltung der Landschaft und der entschwindende Amor auf dem Bild, der nichts mit dem Kanon der Antike zu tun hat, Befremden hervor. So wurde das Gemälde nicht, wie erwartet, in die Sammlung der Akademie aufgenommen, sondern bei einer Verkaufsaktion veräußert.13 Durch diesen Vorfall bekam Brjullovs Verhältnis zur Akademie einen ersten Riss, der zwei Jahre später tiefer wurde. Für den 1821 mit einer in diesem Jahrgang seltenen Großen Goldmedaille erworbenen Akademieabschluss für das Gemälde Abrahams Vision Gottes in Gestalt der drei Engel im Hain Mamre hätte Karl Brjullov eigentlich das Recht eines bezahlten Auslandsaufenthaltes als wichtiger Stufe für die weitere Karriere zugestanden. Aufgrund von finanziellen Engpässen wurde jedoch auch ihm nahegelegt, bei voller Verpflegung noch drei Jahre an der Akademie zu bleiben. Als es ihm gegenüber dem Präsidenten der Akademie, Aleksej Olenin, nicht gelang, als Betreuer den von ihm gewünschten Professor und Rektor, Grigorij Ugrjumov, durchzusetzen, lehnte Brjullov das Angebot ab. Dieser Schritt war umso risikovoller, als er auch nicht in sein Elternhaus zurückkehrte. Mit dieser Entscheidung bekannte er sich zu dem bis dahin in Russland unüblichen Konzept künstlerischer Freiheit und Selbstbestimmung: „Denn das moderne Genie ist sich selbst Gesetz, es schöpft aus sich selbst und handelt allein aus innerer Notwendigkeit.“14 Die Karriere seines Bruders Aleksandr, der als Architekt am Neubau der St. Isaaks-Kathedrale, des größten Bauprojektes in St. Petersburg im Zeichen des Sieges über Napoleon, beteiligt war, half ihm, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Karl Brjullov zog mit in die kleine hölzerne Werkstatt des Bruders am Rande der Baustelle ein. 12 „Syn otečestva“ (Sohn des Vaterlandes), 1820, T. 64, S. 307, vgl. Acarkina 1993 (wie Anm. 3), S. 32–33. 13 Andrej Ivanov, Brjullovs Lehrer, erwarb das Gemälde vom Erstkäufer. Bis 1842 blieb es in seiner Sammlung, ehe es der Sammlung der Akademie der Künste eingegliedert wurde. 1923 wurde es dem Staatlichen Russischen Museum übergeben, in dessen Besitz es sich heute befindet. Zur Geschichte des Bildes vgl. Ausst.-Kat. St. Petersburg 1999 (wie Anm. 3), S. 158, Kat.-Nr. 3. 14 Krieger 2007 (wie Anm. 1), S. 45. Ähnlich eigenmächtig handelte ein anderer bekannter Künstler, Aleksej Venecianov, der sich 1819 aus dem Staatsdienst in St. Petersburg zurückgezogen hatte. Auf seinem Landgut Safonkovo bei Tver’ widmete er sich ganz der Kunst und gründete eine eigene Kunstschule; vgl. Galina K. Leont’eva, Aleksej Gavrilovič Venecianov, Leningrad 1988.

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Karl Brjullov sah seine Berufung als Historienmaler, doch seinen Lebensunterhalt verdiente er dank seiner Anpassungsfähigkeit anders. Aufgrund der stetig wachsenden Nachfrage nach Bildnissen in Russland, wo nun außer dem Hof und dem Hochadel auch breitere Kreise der Gesellschaft als Auftraggeber in Erscheinung traten, verlegte sich Brjullov auf das Porträtgenre. Er hinterließ über 400 gemalte und gezeichnete Bildnisse. In der frühen Phase lehnte er sich an die als modern geltenden Porträts des etwas älteren Orest Kiprenskij an, auf denen die Dargestellten als sensible, emotional ausgeglichene Persönlichkeiten erscheinen. An diesem Punkt seiner Laufbahn kam ihm eine neu geschaffene Kunstinstitution entgegen. 1821 wurde in St. Petersburg unter Mitwirkung von Staatssekretär Pjotr Kikin, den Brjullov ebenso wie dessen Frau porträtiert hat, die Gesellschaft zur Förderung der Künstler gegründet. Ihre Existenz ist Ausdruck der gewachsenen Bereitschaft des Adels und der hohen Staatsbeamten, Kunstwerke zur Repräsentation und zum Beweis von Bildung als neue soziale Auszeichnung zu nutzen. Ihr Ziel bestand laut Statut darin, „a) die Erfolge der schönen Künste in Russland zu befördern; b) die Begabung russischer Künstler zu stimulieren und zu fördern“.15 Sie bildete zunächst ungewollt ein Gegengewicht zur Akademie und somit zum Hof, ehe sie in den 1860er Jahren offen eine oppositionelle Position einnahm. Neben der Unterstützung von Künstlern und der Herausgabe von Lehrmitteln trug sie zur Herausbildung eines Kunstmarktes in Russland bei, z. B. in Form von Verkaufsausstellungen von Werken der von ihr Geförderten und von Lotterien. Außerdem gab sie seit 1823 die Zeitschrift Žurnal izjaščnych iskusstv (Journal der schönen Künste) und lithographierte Mappen zu unterschiedlichen Themen heraus, an denen auch Karl Brjullov mitarbeitete. Insgesamt trug sie wesentlich zu einer Diversifizierung und Modernisierung des russischen Kunstlebens bei. Karl und Aleksandr Brjullov wurden 1822 als erste Stipendiaten der Gesellschaft zur Förderung der Künstler für drei Jahre nach Rom geschickt.16 Rom hatte nach der Französischen Revolution Paris als bevorzugter Studienort abgelöst. Für viele ausländische Künstler erschien Italien zu dieser Zeit als künstlerisch anregendes und klimatisch wohltuendes Refugium.17 Darüber hinaus galt das Land als Hort der Freiheit jenseits von politischem und bürokratischem Druck, der gerade in Russland nach der vom Dekabristenaufstand überschatteten Thronbesteigung Nikolaus I. zunahm. Da die Gesellschaft zur Förderung der Künstler eine patriotisch ausgerichtete Einrichtung war, russifizierten die Brüder mit „allerhöchster Genehmigung“ ihren Namen von Bryllo auf Brjullov. Mit diesem Schritt wurden sie Teil des Prozesses der Konstruktion 15 Vgl. D. J. Severjuchin/O. L. Lejkind, Zolotoj vek chudožestvennych ob’edinenij v Rossii i SSSR (1820–1932) (Das goldene Zeitalter der künstlerischen Vereinigungen in Russland und der UdSSR (1820–1932)), St. Petersburg 1992, S. 177. 16 Karl Brjullov hatte durchgesetzt, dass auch sein Bruder mit nach Italien reisen durfte. 17 Vgl. Olga Sugrobova, Die russischen Maler in Rom, in: Russische Malerei der Biedermeierzeit. Meisterwerke aus der Tretjakow-Galerie Moskau im Dialog mit Gemälden der Neuen Galerie Kassel, Ausst.-Kat. Staatliche Kunstsammlungen Kassel 1999, Eurasburg 1999, S. 21–28; Grigorij Sternin, Meždu Rossiej i Italiej. Iz žizni russkoj chudožestvennoj kolonii v Rime (Zwischen Russland und Italien. Aus dem Leben der russischen Künstlerkolonie in Rom), in: Sternin 2005 (wie Anm. 4), S. 57–77.

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einer genuin ‚russischen Kunst‘, der nach dem Sieg über Napoleon im ‚Vaterländischen Krieg‘ eingesetzt hatte und bis ins 20. Jahrhundert hinein fortgeführt wurde.18 Das Privatleben von Karl Brjullov gestaltete sich schwierig. Eine angestrebte Eheschließung mit der Tochter seines Lehrers Andrej Ivanov kam aufgrund des Verzichts der Braut, die seiner Karriere nicht im Wege stehen wollte, nicht zustande.19 Später nahm sich in Rom eine junge Frau wegen ihm das Leben. Seine große Liebe, die in Italien lebende, sich unabhängig gebende Gräfin Julija Samojlova war in ihrem langen Leben dreimal verheiratet, nur nicht mit ihm. Dessen ungeachtet zeigte sie sich mit Brjullov, der sie mehrfach porträtiert hat, öffentlich als Paar und ließ ihm wiederholt finanzielle Förderung zuteil werden. Zu einer Heirat, die Brjullovs gesellschaftliches Prestige wesentlich gesteigert und auf eine stabile Grundlage gestellt hätte, kam es indes nicht. Die 1839 geschlossene Ehe mit der Pianistin Ėmilija Timm wurde nach zwei Monaten wieder geschieden, was seinem Ruf im nach außen hin sittenstrengen Russland unter Nikolaus I. schadete. Aus den geplanten drei Jahren in Italien wurden für Karl und Aleksandr Brjullov zwölf bzw. acht Jahre. Als Stipendiat der Gesellschaft zur Förderung der Künstler war Karl Brjullov verpflichtet, regelmäßig Rechenschaft über Geleistetes und noch zu Erledigendes abzulegen. Er wusste seinen jeweiligen Standpunkt in den nach St. Petersburg geschickten Briefen so nachdrücklich wie eloquent zu verteidigen. Auf der Suche nach dem Idealen, das er in Übereinstimmung mit Natureindrücken verstanden wissen wollte, lehnte Brjullov die deutschen Nazarener ebenso ab wie die französischen Klassizisten auf der einen und Michelangelo auf der anderen Seite, den ihm der Vater immer wieder ans Herz legte. Bereits zu diesem Zeitpunkt stellte er den an der Petersburger Akademie gepflegten, mit der Tendenz zum Schematismus verbundenen Klassizismus in Frage. Mit Verweis auf Leonardo, Raffael und andere Meister der Renaissance bekannte er sich zu einer detaillierten und mit breitem, weichem Pinsel ausgeführten Malerei. Schnell lernte er auch Tizian, Rembrandt, Rubens und van Dyck schätzen. Die in ihren Werken vorgefundenen ikonographischen Muster und malerischen Konzepte integrierte er in seine Bildnisse, was von den Auftraggebern und Porträtierten als Zeichen der Nobilitierung wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde und ihm als Künstler Anerkennung bescherte. Zum uneingeschränkten Gegenstand der Bewunderung und zum Prüfstein des eigenen Könnens wurde für Karl Brjullov, dem Zeitgeist entsprechend, die Malerei Raffaels. Da kam ihm ein Großauftrag der russischen Botschaft in Rom mehr als gelegen. Toleriert von der Gesellschaft zur Förderung der Künstler, kopierte er unter öffentlicher Anteilnahme bis 1828 die Schule von Athen in den Vatikanischen Stanzen in Originalgröße auf Leinwänden.20 Sie befinden sich heute im Museum der Akademie der Künste in St. Petersburg. Schon Ende der 1770er Jahre hatte Katharina II. 18 Vgl. Orlando Figes, Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands, Berlin 2003. 19 Andrej Ivanov war seinerzeit den umgekehrten Weg gegangen. Er hatte früh geheiratet und damit den Anspruch auf eine Auslandsreise verloren, vgl. Sugrobova 1999 (wie Anm. 17), S. 22. 20 Zur selben Zeit kopierten Fedor Bruni Die Vertreibung des Heliodor und Petr Basin Die Messe von Bolsena.

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für das Winterpalais die Loggien Raffaels kopieren lassen, um die Teilhabe des neuen Russlands an der klassischen europäischen Kunsttradition zu untermauern.21 Für Karl Brjullov war dieses Gefühl eine Selbstverständlichkeit. Später bekannte er, dass er erst dank der Auseinandersetzung mit Raffael in die Lage versetzt worden sei, sein Bild Der letzte Tag von Pompeji zu konzipieren und zu malen.22 Parallel zu antiken Themen und Porträts beschäftigte sich Karl Brjullov wie seine ausländischen und russischen Kollegen mit Sujets aus dem italienischen Alltags- und Festtagsleben.23 Die Zeichnungen wirken lebendiger und enthalten aus damaliger Sicht pikante Momente; in den Bildern hingegen ist der Hang zur Idealisierung unübersehbar. Und doch ging Brjullov auch hier über Gewohntes hinaus. 1825 wurde in der Petersburger Akademie der Künste das Gemälde Italienischer Morgen ausgestellt und in der Zeitschrift Žurnal izjaščnych iskusstv positiv besprochen. Es bewog den neuen Zaren Nikolaus I., der es ankaufte, weiteres „die Augen Erfreuendes“ zu bestellen. Brjullov malte daraufhin unter Freilichtbedingungen das Bild Italienischer Mittag (Abb. 3). Obwohl beide Bilder im Boudoir der Zarin Aleksandra Fedorovna hingen, wo sie für das Publikum zugänglich blieben, musste Brjullov erfahren, dass für ihn selbstverständliche Überschreitungen von Konventionen im Interesse künstlerischer Originalität das wenig flexible russische Publikum überforderten: „Eine Bemerkung, die übrigens über dieses vorzügliche Bild gemacht wurde, bestand darin, dass ihr Modell eher anziehende als feine Proportionen besitze und dass, obwohl vom Gegenstand des Bildes her keine allzu strenge Auswahl notwendig, sie dennoch nicht überflüssig gewesen wäre, denn Ziel der Kunst sei schließlich die Darstellung der Natur in ihrer feinsten Erscheinungsform, doch sind feine Proportionen Menschen einer bestimmten Klasse, die häufig im Einfachsten wunderbare Exemplare hervorbringt, nicht eben eigen.“24 In seinem Antwortbrief an die Gesellschaft zur Förderung der Künstler wies Brjullov die auf dem Bewusstsein sozialer Überlegenheit gegenüber dem Modell basierende Kritik zurück, und zwar aus künstlerischer Perspektive. Die Wahl des Modells begründete er selbstbewusst mit seiner Absicht, dem zweiten Bild zum selben Sujet eine andere Form zu verleihen, wobei er sein malerisches Vorgehen ausdrücklich von den Erwartungen an eine an der klassizistischen Plastik orientierten Formgebung abgrenzte: „(…) im Gemälde nähert sich der Maler mit Hilfe von Farben, Beleuchtung und Perspektive dem darzustellenden Gegenstand stärker und hat ein gewisses Recht darauf, manchmal von der konventionellen Schönheit der Formen abzusehen (…).“25

21 Vgl. N. N. Nikulin, Lodžii Rafaėlja v Ėrmitaže (Die Raffael-Loggien in der Eremitage), St. Petersburg 2005. 22 Leontjewa 1996 (wie Anm. 3), S. 20. 23 Vgl. Evgenij Jajlenko, Ital’janskij žanr v russkom iskusstve pervoj poloviny XIX veka (Das italienische Genre in der russischen Kunst der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts), in: Pinakoteka 16–17/2003, H. 1–2, S. 77–84. 24 Brief der Gesellschaft zur Förderung der Künstler an Karl Brjullov vom 19. Juni 1828, zitiert und übersetzt nach Maškovcev 1961 (wie Anm. 4), S. 64. 25 Zitiert und übersetzt nach Maškovcev 1961 (wie Anm. 4), S. 65.

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3 Karl Brjullov, Italienischer Mittag (Italienisches Mädchen, Trauben pflückend), Öl auf Leinwand, 1827

Karl Brjullov legte Wert darauf, mit Respekt behandelt zu werden. War das nicht der Fall, schreckte er vor folgenreichen Konsequenzen nicht zurück. Diese Haltung führte im Frühjahr 1829 zum Bruch mit der Gesellschaft zur Förderung der Künstler, nachdem Brjullov wiederholt auf die Überweisung seines Stipendiums hatte warten müssen. Der Umstand, dass die Förderung am Ende des Jahres ohnehin ausgelaufen wäre, mag ihm diesen Schritt erleichtert haben. Dank neu gewonnener Mäzene in Rom, wo er wie andere Künstler ein offenes Atelier führte, konnte Brjullov die Rückkehr nach Russland hinauszögern. Der Kreis seiner Förderer umfasste einerseits Angehörige des russischen Hofes und russische Adlige, die in Italien lebten oder dorthin reisten, andererseits Vertreter der gehobenen italienischen Gesellschaft. Brjullov variierte die Ikonographie und den Stil seiner Bildnisse in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Status seiner Modelle und von seinem persönlichen Verhältnis zu ihnen.26 Für die Darstellung von Großfürstin Elena Pavlovna und ihrer Tochter Marija (1830) war ein großformatiges, ganzfiguriges Paradebildnis mit entsprechendem Dekorum angemessen. Die persönliche Freundschaft mit Erzbischof 26 Antonia Napp unterscheidet die Charakterstudie, das Repräsentationsbild und das Touristenaquarell, vgl. Antonia Napp, Zwischen Ost und West. Russische Porträtmalerei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Elisabeth Cheaurée/Carolin Heyder (Hg.), Russische Kultur und Gender Studies, Berlin 2002, S. 99–122, hier S. 111.

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Giuseppe Capecelatro (1. Hälfte 1830er Jahre), der die Unabhängigkeitsbewegung in Italien unterstützt hatte und inhaftiert gewesen war, legte dagegen die Möglichkeit eines intimen, psychologisch einfühlsamen Bildnisses nahe. In den Touristenaquarellen dominiert durch die Einbeziehung der Landschaft eine idyllische Atmosphäre, die besonders den weiblichen Porträtierten als Schönheitsideal im Sinne von Eleganz und Anmut der Bewegungen inkorporiert und durch das kapriziöse Spiel von Accessoires verstärkt erscheint, wie z. B. im 1827 entstandenen Porträt Kirill Naryškin und Marija Naryškina. Brjullov etablierte das bis dahin in Russland unübliche Reiterbildnis und zeigte sich auch als Meister des Gruppenbildnisses. Eine besondere Qualität seiner gemalten Porträts besteht in der aquarellartigen Leuchtkraft der Farben, während die Aquarelle eine bildhafte Dichte der Ausführung aufweisen.27 Mit dem 1833 fertiggestellten Monumentalgemälde Der letzte Tag von Pompeji, dessen Vorbereitungen bereits 1827 begonnen hatten, konnte sich Karl Brjullov schließlich in der Historienmalerei beweisen. Den Auftrag erteilte ihm nicht vor 1829 Anatolij Demidov, der spätere Prinz von San Donato, ein in Italien lebender Spross der reichen russischen Industriellenfamilie Demidov. Dieser wirkte als Diplomat und betätigte sich vom Ausland aus zeit seines Lebens als Förderer von Kunst und Wissenschaft in Russland. Er schenkte das Bild Nikolaus I. Für Karl Brjullov erwies sich der mit diesem Gemälde erlangte Ruhm bald als zweischneidig. In Italien wurde er für das Bild gefeiert und als Ehrenmitglied in die Akademien von Mailand, Bologna, Florenz und Parma aufgenommen; die Uffizien bestellten ein Selbstbildnis. In Frankreich bekam Brjullov zwar im Salon die erste Goldmedaille zuerkannt, doch hielt ein Pariser Kritiker das Gemälde von der Konzeption her für 20 Jahre verspätet. 1834 traf Der letzte Tag von Pompeji in St. Petersburg ein, während sich sein Schöpfer noch auf einer Forschungsreise zu den Ionischen Inseln befand. Dabei oblag ihm die Anfertigung von Aquarellporträts und -landschaften sowie von Genrestudien, die später als Illustrationen im Atlas der Reisebilder von Vladimir Davydov veröffentlicht wurden. Diese Reise ist ein weiteres Indiz für das stetige Streben Brjullovs, sich in den unterschiedlichsten Bereichen zu profilieren. Später engagierte er sich auch in neuen Betätigungsfeldern wie der Karikatur und der Bühnengestaltung.28 In der russischen Hauptstadt konnte das Publikum das Gemälde Der letzte Tag von Pompeji sowohl in der Akademie als auch in der Eremitage, den prestigeträchtigsten Orten, bewundern. Es wurde zu einem Meilenstein und Katalysator der erst im Entstehen begriffenen öffentlichen Kunstdiskussion in Russland. Nikolaj Gogol’ widmete ihm eine ausführliche Rezension und pries es als Werk, das sowohl ein Maler mit hoch entwickeltem Geschmack als auch ein Mensch, der keine Ahnung von Kunst hat, verstehen könne. Aleksandr Gerzen verortete es später in der Zeitschrift Kolokol (Die Glocke) ungeachtet seines antiken Sujets in der russischen

27 Vgl. Valerij Kulakov, Karl Velikij (Karl der Große), in: Naše nasledie (Unser Erbe) 52/2000, S. 105–112, hier S. 111. 28 Brjullov hegte zeit seines Lebens Begeisterung für das Theater. 1842 entwarf er die Kostüme für die Premiere von Michail Glinkas Oper Ruslan und Ljudmila, vgl. M. I. Glinka, Zapiski (Aufzeichnungen), Leningrad 1953, S. 163.

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4 Karl Brjullov, Porträt Ivan Vitali, Öl auf Leinwand, 1836–1837

Geschichte und politisierte es somit: „Ein Künstler, der sich in Petersburg entfaltet hatte, wählte mit ‚Pompeji‘ für seinen Pinsel das schreckliche Bild einer wilden, nicht beherrschbaren Macht, die die Menschen von Pompeji zugrunde richtete – das ist die Inspiration Petersburgs.“29 Bevor Karl Brjullov selbst nach St. Petersburg zurückkehrte, machte er in Moskau Station, wo er vielfältige Kontakte mit Künstlerkollegen und Literaten knüpfte. Die gegenseitige Wertschätzung und der nun auch in Russland angekommene romantische Kult des Künstlers und der Kunst über Gattungsgrenzen hinweg fanden in zahlreichen Porträts einen Niederschlag, z. B. im Porträt des Bildhauers Ivan Vitalij von 1836/37 (Abb. 4). Brjullov hat ihn bei der Arbeit an eben seiner Porträtbüste dargestellt, so dass die Bildaussage auf eine gegenseitige Huldigung hinausläuft, wie sie in europäischen Künstlerkreisen üblich war. Indem der Bildhauer im Porträt zu der Büste aufschaut, überwiegt in der Bildaussage die Lobpreisung und Überhöhung des dargestellten Ma-

29 Aleksandr Gercen, Moskva i Peterburg (Moskau und Petersburg), 1842, in: Kolokol, 1. August 1857, hier zitiert und übersetzt nach A. I. Gercen, Sobranie sočinenij v tridcati tomach (Gesammelte Werke in dreißig Bänden), Bd. 2, Moskau 1954, S. 40.

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lers.30 Auf andere Weise bemerkenswert ist das Bildnis Vasilij Žukovskij (1837–1838). Es wurde auf einer der Lotterien der Gesellschaft zur Förderung der Künstler verkauft. Den Erlös stellte Brjullov für den Freikauf des bis dahin leibeigenen Schriftstellers und Malers Taras Ševčenko zur Verfügung, was vom Aufkommen von Solidarität in russischen Künstlerkreisen zeugt. Trotz des in Moskau erfahrenen Rückhaltes in künstlerischen und intellektuellen Kreisen fürchtete sich Brjullov „vor russischer Kälte und dergleichen“ und vor der „Sklaverei“, wie es in einem Brief von Aleksandr Puškin an seine Frau über den Künstler heißt.31 Nach einem pompösen Empfang im Juni 1836 in der Akademie der Künste in St. Petersburg und trotz eines Diamantrings von Nikolaus I. als Zeichen der Wertschätzung erhielt Brjullov in der Tat mehrere Lektionen über die ambivalente Stellung des Künstlers im Russland dieser Zeit. Die erste bestand darin, dass der Zar den Gefeierten, der selbstbewusst im Winterpalais eine Wohnung genommen hatte, zu sich beorderte und anstelle einer Begrüßung sagte: „Ich will ein Bild bei Dir bestellen. (…) Du sollst mir Ivan den Schrecklichen und seine Frau, auf den Knien vor einer Ikone liegend, in einem Bauernhaus darstellen, und im Fenster soll die Einnahme Kazans zu sehen sein.“32 Das Duzen seitens des Zaren mag aus heutiger Sicht als Unverschämtheit erscheinen, war in Russland gegenüber Untergebenen aber noch üblich, um die soziale Distanz zu unterstreichen.33 Brjullov wagte dennoch einen Gegenvorschlag. Er bot an, die Belagerung von Pskov zu malen. In der von Willkür bestimmten Manier eines unumschränkten Selbstherrschers, in der Unerbittlichkeit und Gnade nah beieinander liegen, stimmte der Monarch zu. Glücklich wurde Brjullov mit diesem Auftrag nicht, den er später sarkastisch als Die Verärgerung von Pskov titulierte – die Leinwand mit den Maßen 482 x 675 cm blieb unvollendet. Dem Maler gelang es nicht, sich in der weltlichen Historienmalerei weiter zu profilieren. Persönliche Schaffensprobleme und Veränderungen des gesellschaftlichen Klimas in Russland hatten daran gleichermaßen Anteil. Die zweite Lektion war schmerzhafter und von langfristigerer Wirkung auf die Karriere des erfolgsverwöhnten Künstlers. Der Zar, bekannt für seine autoritäre Einmischung in Kunstangelegenheiten, verweigerte ihm ohne Begründung die in Aussicht gestellte Ernennung zum Akademieprofessor 1. Ranges, den höchsten Titel und den am besten bezahlten Posten, den die Akademie zu vergeben hatte. Brjullov musste sich mit dem Titel eines Professors 2. Ranges zufriedengeben, was dem Zustrom an Schülern in sein Atelier keinen Abbruch tat. Sie fanden in Brjullov einen anregenden, toleranten Lehrer und dankten es ihm mit wohlmeinenden Memoiren. Erst 10 Jahre später wurde ihm auf Beschluss des Rates der Akademie der Künste die Erhöhung in 30 Vgl. Siegfried Gohr, Der Kult des Künstlers und der Kunst im 19. und 20. Jahrhundert. Zum Bildtyp des Hommage, Köln/Wien 1975; Annette Kanzenbach, Der Bildhauer im Porträt. Darstellungstraditionen vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München/Berlin 2007. 31 Vgl. Leontjewa 1996 (wie Anm. 3), S. 50. 32 Zitiert und übersetzt nach Maškovcev 1961 (wie Anm. 4), S. 133. 33 Vgl. Krivunc 2000 (wie Anm. 5), S. 476. Daran änderte auch ein Erlass von Nikolaus I. von 1832 über die persönliche und erbliche Ehrenbürgerschaft nichts, in deren Genuss auch Künstler mit Akademieabschluss kamen, vgl. ebd., S. 479.

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den 1. Rang zuteil. Im Sommer 1837 erhielt Brjullov den Auftrag, ein Porträt von Nikolaus I. sowie ein Bildnis der Zarenfamilie zu malen. Das bedeutete an und für sich eine Auszeichnung, denn ansonsten bevorzugte der Zar wie seine Vorgänger und Vorgängerinnen auf dem russischen Thron für die Porträts seiner Familie ausländische Meister: George Dawe, Franz Krüger und später Wilhelm August Golicke und Christina Robertson. Im Falle des Monarchen ist es bei einer durchgestrichenen Kopfskizze geblieben. Von der Zarin und ihren Töchtern existieren Porträtzeichnungen sowie ein unvollendetes Reiterbildnis. Überliefert ist die Geschichte, dass die Zarin eines Tages bei strömendem Regen auf ihrem Pferd im Park von Peterhof ausharrte, um dem Maler, der drinnen an der Staffelei saß, die Weiterarbeit zu ermöglichen. So viel Respekt vor der Arbeit des Künstlers war aber nicht die Regel. Brjullov weigerte sich schließlich, die ständigen Verschiebungen und Unterbrechungen der Modellsitzungen hinzunehmen. Nachdem er wieder einmal vergeblich gewartet hatte, packte er alle angefangenen Leinwände zusammen und fuhr zurück nach St. Petersburg, ohne den Auftrag je zu Ende zu bringen. Die Nichterfüllung der kaiserlichen Aufträge hatte Konsequenzen. Trotz der Vermittlungsbemühungen von Vasilij Žukovskij wurde Brjullov, der nach wie vor viele private Porträtaufträge ausführte, weder mit der Ausmalung der Sternwarte in Pulkovo betraut noch zur Wiederherstellung des Winterpalais nach dem Brand von 1837 herangezogen. Dagegen profitierte er wie andere Akademie-Kollegen von dem gewachsenen Bedarf an religiösen Darstellungen. Seit 1836 arbeitete Karl Brjullov mit Enthusiasmus an einer Kreuzigung für die lutherische Peter- und Pauls-Kirche in St. Petersburg, die von seinem Bruder Aleksandr errichtet worden war. Er nutzte wie schon in Rom die Praxis eines offenen Ateliers, um eine interessierte Öffentlichkeit am Fortschritt der Arbeit an dem riesigen Gemälde mit den Maßen 510 x 315 cm teilhaben zu lassen, was seine Popularität steigerte. In Folge der von Nikolaus I. vertretenen politischen Doktrin der Verbindung von Selbstherrschaft, Orthodoxie und Volkstümlichkeit entstand eine große Zahl an Kirchenneubauten. Längst hatte sich die gebildete Schicht der russischen Gesellschaft auch im sakralen Raum an die akademische Malerei einschließlich der westlichen Ikonographie gewöhnt, die gerade Brjullov mit Anspielungen auf die alten Meister südlich und nördlich der Alpen virtuos beherrschte. Besonders prestigeträchtig war die Komposition Mariae Himmelfahrt, die als Mitteltafel den Seitenaltar der Kazaner Kathedrale schmückte. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass Brjullov auch in die Ausmalung der beiden ambitioniertesten Kirchenbauten des Russischen Reiches in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts einbezogen wurde, der St. Isaaks-Kathedrale in St. Petersburg und der Christi-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Die Vollendung dieser Großprojekte erlebte er nicht mehr. Die eigenhändige Ausführung einiger Fresken in der St. Isaaks-Kathedrale seit 1845 hatte Brjullovs ohnehin instabile Gesundheit untergraben.34 Sein berühmtes Selbstbildnis von 1848 (Abb. 5) ist ein Zeugnis dieser Krankheit, aber es ist auch und vor allem Ausdruck eines neuen, modernen Bewusstseins vom Künstlerdasein, zu dem das Leiden dazugehört. Als erster 34 Die Fresken wurden nach Brjullovs Entwürfen von Petr Basin ausgeführt.

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5 Karl Brjullov, Selbstbildnis, Öl auf Karton, 1848

in der russischen Malerei thematisierte gerade Brjullov, der lange Zeit als Günstling Fortunas wahrgenommen wurde, die selbst erfahrene Last und Widersprüchlichkeit des modernen Künstlerdaseins. Hatte er sich im für die Uffizien bestimmten Selbstbildnis, das sich heute im Russischen Museum in St. Petersburg befindet, noch als sinnlich präsenten, willensstarken und inspirierten jungen Mann in samtener Künstlerjacke gezeigt, malte er sich 15 Jahre später als geistig wache, aber körperlich geschwächte und sich zurücknehmende Persönlichkeit. Dieser Eindruck entsteht durch die etwas schräge Haltung der schmächtigen Gestalt, die im Sessel mehr zu liegen als zu sitzen scheint. Dann aber fokussiert die Beleuchtung die Aufmerksamkeit auf das Spannungsverhältnis zwischen der feingliedrigen, stark geäderten und herabhängenden Hand und dem festen Blick des schmalgesichtigen Mannes. Es ist bekannt, dass Brjullov vor allem angesichts der sozialen Scharfsichtigkeit der Werke seines Schülers Pavel Fedotov erkannte, dass seine eigene Kunst, so breit gefächert sie auch war, mit ihrer Idealisierung der Vergangenheit angehörte. Mit aller Noblesse und der der Romantik eigenen Melancholie hat er diese Erkenntnis, die über die konkrete Entstehungssituation des Bildnisses und seine Person hinausgeht, festgehalten. 1852 erlag Karl Brjullov bei Rom einem rheumatisch bedingten Herzleiden.

„durchschnitt ist überall gleich spießig“ george grosz’ selbstinszenierung in der weimarer republik

andrea gottdang Es sind zahlreiche Facetten, aus denen sich das Bild einer Künstlerpersönlichkeit zusammensetzt: neben dem Œuvre selbst spielen programmatische Schriften, autobiografische Notizen, die Inszenierung des Ateliers, die Selbstdarstellung bei öffentlichen Auftritten und Fotografien eine Rolle. Hinzu kommen Selbstporträts, die, in den 1920er Jahren meist schon für Ausstellung und Verkauf bestimmt, nicht nur Selbstbefragungen und -offenbarungen, sondern immer auch Selbstinszenierungen sind. In kunsthistorische Entwürfe eines Persönlichkeitsbildes gehen darüber hinaus unterschiedlichste Quellen privater Provenienz ein – Briefe, Erinnerungen von Weggefährten und wiederum Fotografien. Dadurch entsteht ein Bild, das mit dem der Zeitgenossen, denen diese Quellen nicht zur Verfügung standen, nicht deckungsgleich ist. Dies ist besonders bei der Auswertung von Fotos zu beachten, die in Monografien in verlockender Eintracht nebeneinander stehen, jedoch nach ihrem Verwendungszweck geschieden werden müssen: auf der einen Seite Privatfotos, deren Betrachtung allein der Familie und den Freunden vorbehalten war,1 auf der anderen Seite Pressefotos, die der Öffentlichkeit ein vom Künstler autorisiertes Bild seiner selbst vermittelten. Als Fallbeispiel, das für die Unterschiede zwischen privaten und öffentlichen Fotos sowie Aussagen ebenso sensibilisiert wie für die Problematik des Entwurfs eines die gesamte Lebensspanne überblickenden, ‚entzeitlichenden‘ Charakterbildes ‚der‘ Künstlerpersönlichkeit, eignet sich George Grosz in besonderem Maße, weil die Strategien seiner Selbstinszenierung in der Weimarer Republik sich durch die Abgrenzung von der Dada-Phase und die Jahre in Amerika besonders präzise fassen lassen. Darüber hinaus sei die These zur Diskussion gestellt, dass Grosz die Möglichkeiten verschiedener Medien erkannte und nutzte – was scheinbare Widersprüche zum Beispiel zwischen seinem modischen Auftreten und dem Auftrag eines Tendenzkünstlers erklärt. Von Grosz hat sich das Bild eines „metaphysischen Hanswursts“,2 eines Bürgerschrecks und Provokateurs durchgesetzt. Er wird als Schauspieler charakterisiert, der in verschiedene Rollen schlüpfte. Wieland Herzfelde erlebte Grosz 1915 im Atelier 1

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Wendy Wallis, George Grosz und die Kunst der Photographie, in: Peter-Klaus Schuster (Hg.), George Grosz. Berlin – New York, Ausst.-Kat. Berlin 1994, Berlin 1994, S. 224–237, S. 225 machte darauf aufmerksam, dass die meisten Fotos für den privaten Gebrauch bestimmt waren. Ihr Beitrag widmet sich den von Grosz selbst aufgenommenen oder inszenierten Fotografien aus dem persönlichen Umkreis, nicht den Pressefotos der 1920er Jahre. Hans Sahl, zit. nach Karl Riha (Hg.), George Grosz und Hans Sahl. So long mit Händedruck. Briefe und Dokumente, Hamburg 1993, S. 8.

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Ludwig Meidners als vermeintlichen holländischen Kaufmann, der sich als Nutznießer des Weltkrieges präsentierte. Der noch unbekannte Grosz brachte die anwesenden Künstler zur Weißglut, indem er über den Vertrieb künstlerisch-handbemalter Granatsplitter nachdachte.3 Geraume Zeit später begegnete Herzfelde Grosz in Berlin im Café des Westens, im Volksmund Café Größenwahn genannt, diesmal mit weiß gepudertem Gesicht, rot geschminkten Lippen und einem Spazierstock mit Totenkopfknauf.4 Grosz selbst bekannte in einem viel zitierten Brief im September 1915: „Ich bin grenzenlos einsam, d. h. bin allein mit meinen Doppelgängern, fantomatische Figuren, in denen ich ganz bestimmte Träume, Ideen, Neigungen usw. real werden lasse. Ich fetze gleichsam 3 andere Personen aus meinem inneren Vorstellungsleben heraus. Allmählich sind drei fest umrissene Typen entstanden. 1. Grosz. 2. Graf Ehrenfried, der nonchalante Aristokrat mit gepflegten Fingernägeln, darauf bedacht, nur sich zu kultivieren. (…) 3. Der Arzt Dr. William King Thomas, der mehr amerikanisch-praktisch materialistische Ausgleich in der Mutterfigur des Grosz.“5 – Besagter Arzt war übrigens ein Massenmörder. In Briefen nahm Grosz spielerisch weitere Identitäten an, imitierte Dialekt und Attitüde des Berliner Wichtigtuers, des mecklenburgischen Fischers, des schlesischen Hausmädchens. 1922 posierte Grosz für ein Foto als amerikanischer Ganove.6 Um 1920 inszenierte er sich für eine Aufnahme als Frauenmörder, der mit gezücktem Dolch hinter dem Spiegel seinem Opfer auflauert (Abb. 1). Ein Foto aus dem Jahr 1939 zeigt Grosz in der Rolle eines Henkers mit seinen beiden Söhnen. 1950 ließ sich der Künstler mit Totenmaske und Skelett vor seinem Haus in Huntington fotografieren.7 1923 gab sich Grosz auf einem Foto auch einmal als kesses Sportgirl mit Ruder in freier Natur. Solche ‚Rollenporträts‘ scheinen den Befund vom Schauspieler und Provokateur Grosz zu bestätigen, doch waren all diese Fotos ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Die Aufnahme von sich selbst als Sportmädel schickte Grosz Mark Neven Dumont als Postkarte.8 Der Austausch von geradezu obsessiv bei jeder Gelegenheit geschossenen Fotos spielte in Grosz‘ Freundeskreis eine wichtige Rolle. Die Briefe enthalten immer wieder Bitten um oder Danksagungen für erhaltene Fotos sowie Ankündigungen baldiger eigener Fotosendungen.9 Wie viel Grosz diese Fotos bedeuteten, geht aus einer halb im Spaß gemachten Bemerkung in einem Brief an Dumont nach einer ernsten Erkrankung hervor: „hatte schon ein gewaltiges Testament entworfen, worin ich 3 4 5 6

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Wieland Herzfelde, Immergrün. Merkwürdige Erlebnisse und Erfahrungen eines fröhlichen Waisenknaben, Berlin/Weimar 1996, S. 166f. Ebd., S. 175. Zit. nach Herbert Knust (Hg.), George Grosz. Briefe 1913–1959, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 30f. Matthias Eberle, Der Weltkrieg und die Künstler der Weimarer Republik. Dix, Grosz, Beckmann, Schlemmer, Stuttgart/Zürich 1989, S. 74, Abb. 58. Zu Grosz’ Rollenspielen siehe auch: Beth Irwin Lewis, George Grosz. Art and Politics in the Weimar Republic, Madison 1971, S. 5. Wallis 1994 (wie Anm. 1), Abb. 4 und 6. Karl Riha (Hg.) in Zusammenarbeit mit Angela Merte, George Grosz. „Teurer Makkaroni!“ Briefe an Mark Neven Dumont 1922–1959, Berlin 1992, S. 13. Z. B. ebd., S. 15, 25, 55, 90.

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1 George Grosz mit Modell Eva Peter im Atelier, Nassauische Straße 4, Berlin, um 1920

Dich besonders bedachte – unter anderem mit meinem gesamten Fotonachlass.“10 Die Fotos erfüllten eine soziale Funktion, wie jede andere private Sammlung von Familienfotos auch, aber, dies sei noch einmal betont: die Öffentlichkeit besaß hiervon keine Kenntnis. Nach Ende der Dadaphase erlebte das Publikum keine spektakulären Auftritte des Künstlers in verstörenden Rollen mehr. Schauspielerische Einlagen blieben in den 20er Jahren auf private Treffen beschränkt. Sie gehören in den Rahmen ausgelassener Zusammenkünfte und Feiern, bei denen auch andere Künstler in rasantem Wechsel in unterschiedliche Rollen schlüpften.11 Mit provozierenden Auftritten suchte Grosz erst wieder in Amerika, nach dem 2. Weltkrieg, die Öffentlichkeit. Grosz scheint sich ab 1921 deutlich zurückgenommen zu haben. So beklagte Kurt Tucholsky 1921 als Berichterstatter des Prozesses gegen Grosz wegen Beleidigung der Reichswehr die „Schlappheit seiner Verteidigung“, während er zugleich den fulminanten und legendären Auftritt des englischen Malers James Abott McNeal

10 Ebd., S. 92. 11 Die Schilderung eines solchen Festes in einem Brief vom 23.11.1926, Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 93.

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Whistler in Erinnerung rief.12 In der Urteilsverkündung im Gotteslästerungsprozess um die Mappe Hintergrund wird am 4.12.1930 die Sprechweise des Künstlers als „nicht nur mühselig, sondern oft auch ungelenk und dunkel“13 charakterisiert. Ein Pressefoto, das während der Verhandlung vom 3./4. Dezember 1930 entstand, bestätigt, dass Grosz die Anklagebank nicht zur Bühne umfunktionierte.14 Wenn sich dennoch das Bild von Grosz als Provokateur und Bürgerschreck halten konnte, dann nicht zuletzt aufgrund des bloßen Umstands, dass Grosz sich wiederholt vor Gericht zu verantworten hatte. Inwiefern neben den programmatischen Schriften und seinem Werk selbst als Inbegriff der Tendenzkunst in der Weimarer Republik das kollektive Gedächtnis eine Rolle spielte, das sich an die Dada-Auftritte erinnerte, muss wohl offen bleiben. Während Fotos von Raoul Hausmann und John Heartfield als Rufer mit allgemeinen Parolen und Aufforderungen kombiniert wurden, rahmte die DadaDefinition „Dada ist die willentliche Zersetzung der bürgerlichen Begriffswelt“ ein Porträtfoto von Grosz im Profil.15 Etwas überpointiert lässt sich festhalten, dass Grosz dem Dadaismus auf der Ersten Internationalen Dada-Messe in Berlin 1920 sein Gesicht geliehen hatte. Spätestens seit Mitte der 1920er Jahre trat Grosz an, sein Image zu verändern, um den Kunstmarkt zu erobern. Dass Grosz strategisch vorging, belegt ein Brief vom Mai 1927 an Otto Schmalhausen: „Mein Plan (mit Flechtheims16 Spekulation natürlich) ist der: hier eine Serie ‚verkäuflicher‘ Landschaften zu malen – d. h. so, daß das anstößige Sujet ausschaltet. Verkaufe ich, werde ich im Winter dann an große Lieblingsbilder herangehen à la Sonnenfinsternis oder Stützen der Gesellschaft und derlei. Courbet tat dies auch einmal, er malte den Genfer See für Zahlungsfähige diverse Male. Abgesehen davon bleibt ein ‚positives‘ Lernen dabei. Ich will ja auch nicht ‚nachahmend‘ malen, sondern komponiere mit Anlehnung an das Vorbild der Natur.“17 Dem Brief ist anzumerken, dass Grosz sich noch selbst von der moralischen Legitimität der geplanten, vorläufigen Kursänderung überzeugen musste und sich mit dem Verweis auf Courbet als einen berühmten Präzedenzfall, dem Nutzen für seine künstlerische Entwicklung und dem Einsatz des erzielten Gewinns für wichtige Projekte rechtfertigte. Zuvor hatte Grosz bereits begonnen, mit Hilfe von Pressefotos ein, fast möchte man sagen: harmloses Bild von sich zu erzeugen. 1926 erschienen im Querschnitt gleich zwei Fotos von Grosz. Das eine zeigt ihn als frisch gebackenen Vater mit dem Söhnchen auf dem Arm, das andere während eines Urlaubs in Boulogne

12 Kurt Tucholsky, Die Weltbühne 1921, S. 454, zit. nach Karl Riha (Hg.), Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen, Stuttgart 1977, S. 127–129, hier S. 128. 13 Weiter heißt es: „Er versteht, seine Gedanken zu zeichnen, aber nicht, sie in Worte zu fassen.“ Zit. nach 1933. Wege zur Diktatur. Ausst.-Kat. Berlin 1983, 2 Bde., Supplementband zum Katalog, Berlin 1983, S. 106. 14 Abb. siehe Schuster 1994 (wie Anm. 1), S. 171. 15 Schuster 1994 (wie Anm. 1), S. 137. 16 Gemeint ist der Kunsthändler Alfred Flechtheim. 17 Zit. nach Knust 1979 (wie Anm. 5), S. 101.

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sur Mer als Flaneur, der in einem Straßencafe seine Pfeife genießt.18 Grosz war sich der Wirkung des Mediums Fotografie im Allgemeinen und von Pressefotos im Besonderen sehr wohl bewusst, nutzte er doch selbst Fotos, um sich eine Vorstellung von einer Person zu machen.19 Angesichts des übergroßen Einflusses der Physiognomik in den 20er Jahren erstaunt dieses Interesse nicht. Grosz, der den eigenen Bildhunger ganz richtig als Signum der ganzen Epoche erkannte, war außerdem klar, dass ein Künstler nicht mehr nur durch seine Werke und Kritiken in Kunstzeitschriften bekannt wurde, sondern dass Berühmtheit auch eine Frage der Medienpräsenz in illustrierten Zeitschriften war, die er selbst verschlang.20 „Waren alle da, die immer in der Zeitung stehen“,21 notierte er 1925 lakonisch nach einem Besuch in der russischen Botschaft. In dem gemeinsam mit Wieland Herzfelde verfassten Text Die Kunst ist in Gefahr. Ein Orientierungsversuch erklärte Grosz, dass traditionelle Aufgaben der Kunst auf die neuen Medien übergegangen seien: „Der Bilderhunger besteht heut in den Massen vielleicht mehr als je, und er wird in noch nie dagewesener Weise befriedigt; aber nicht durch das, was wir landläufig mit unseren überkommenen Schaufensterbegriffen als Kunst bezeichnen – die Illustrationsfotografie und der Kinematograph werden diesem Bedürfnis gerecht. Mit der Erfindung der Photographie begann die Dämmerung der Kunst. Sie ging ihrer Rolle als Berichterstatterin verlustig. (…) Hindenburgs leiddurchfurchtes Antlitz ist der Menschheit durch keinen Rembrandt, durch keinen Dürer erhalten. (…) Auch Sie gehen, wenn Sie wissen wollen, wie die Welt aussieht, ins Kino, nicht in eine Kunstausstellung.“22 Trotz seiner eigenen Begeisterung für Illustrierte verfolgte Grosz die Entwicklung der Massenmedien kritisch. Er beklagte, dass die Zeitung keine sachliche, objektive Informationsquelle mehr sei und dass es der Masse an Medienkompetenz fehle: „Die verdammten Zeitungen werden ja auch immer ‚amerikanischer‘ bei uns. Nur noch Sensation und headlines. Da erfährt man schon garnichts über den anderen. Alles wird frisiert und übertunkt. Unten glaubt dann der kleine Mann felsenfest an sein Käseblatt! Tolle Welt.“23 Die bei der Popularität vom künstlerischen Schaffen unabhängige Rolle der Persönlichkeit des Künstlers durchschaute Grosz genau; die, wie er sie selbst nannte „ewigen Gesetze des Erfolges“.24 In einem Brief vom 17.9.1931 fasste er seine Beobachtungen zusammen, machte aufmerksam auf „die irrationale Rolle, die eben doch die einzelne Persönlichkeit“ beim Berühmtwerden spielt: 18 Der Querschnitt. Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte 1924–1933, zusammengestellt und hg. von Christian Ferber, Berlin 1981, S. 109. 19 Grosz bat Dumont regelmäßig, illustrierte Bücher für ihn zu besorgen. Siehe z. B. den Wunsch nach einer Biographie Jack Londons „mit Fotos“, Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 41, 57. 20 Thomas Friedrich, George Grosz. Journalist, Publizist, Illustrator, in: Schuster 1994 (wie Anm. 1), S. 242–252. 21 Zit. nach Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 64. 22 George Grosz/ Wieland Herzfelde, Die Kunst ist in Gefahr. Ein Orientierungsversuch (1925), zit. nach Uwe M. Schneede (Hg.), Die zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, Köln 1979, S. 126–136, hier S. 127. 23 Zit. nach Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 165. 24 Brief vom 2. 10. 1930, Knust 1979 (wie Anm. 5), S. 129.

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George Grosz in seinem Atelier in Berlin, 1928

„Karl schreibt ein Revolutionsstück (weil’s nu mal aktuell) – und alles läuft hin und ist begeistert, volle Häuser, ausverkauft, das Stück bringt riesige Tantiemen (…) Max schreibt ebenso ein gleiches Stück, kein Deibel geht ins Theater, Max bleibt unbekannt und unfotografiert und hat gerade so zu leben, daß er nicht verhungert.“25 Unbekannt und unfotografiert – dieses Schicksal teilte Grosz nicht. Im Gegenteil. Grosz dachte geschäftstüchtig und pragmatisch und achtete darauf, Fotos auch seiner Werke in angesehenen Zeitschriften zu platzieren und mokierte sich über renommierte Zeitschriften, die Reproduktionen seiner Werke abbilden wollten, ohne ihm Honorare zu zahlen. Er klagte: „(...) fast immer kommt dem beschriebenen Künstler der ‚Ruhm‘ zu, und dem Beschreiber der Kies“.26 Grosz war sich über die Bedeutung der Medienpräsenz im Klaren und ging alles andere als naiv mit den Massenmedien um. Schon allein deshalb ist es wahrscheinlich, dass Grosz bewusst auf der Klaviatur der Medien spielte und Pressefotos gezielt einsetzte, um ein bestimmtes Image von sich in der Öffentlichkeit zu erzeugen. Bei 25 Ebd., S. 129. 26 Undatierter Brief, zit. nach Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 12.

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3 George Grosz in seinem Atelier in Berlin, Nassauische Straße 4, um 1927

diesen Pressefotos handelt es sich nicht um schnelle Schnappschüsse, sondern um inszenierte Aufnahmen, die in Sitzungen entstanden.27 Für Porträtfotos von Malern gab es bereits längere Traditionen, in die sich Grosz stellte.28 Seit etwa 1870 gehörten Aufnahmen des Meisters in seinem Atelier zu den klassischen Topoi des Künstlerporträts in der Fotografie. Wie groß die Kluft zwischen privaten und zur Veröffentlichung bestimmten Aufnahmen sein kann, dokumentieren zwei in geringem zeitlichem Abstand angefertigte Fotos. Das eine (Abb. 2) zeigt Grosz in seinem Atelier in Berlin, 1928. Zum Vergleich Grosz im selben Atelier, um 1927 aufgenommen, aus der privaten Foto27 In einem Brief vom 20. 3. 1927 entschuldigte Grosz eine längere Schreibpause mit Arbeitsüberlastung und erwähnte in diesem Zusammenhang „fotografische Sitzungen für Presse.“ Zit. nach Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 96f. Nur in wenigen Fällen sind die Fotografen namentlich bekannt. Wie groß ihr Anteil an den Porträtlösungen ist, inwiefern sie Grosz berieten oder lediglich seine Vorstellungen umsetzten, muss offen bleiben. Aufgrund seines Bewusstseins für Imagefragen darf es jedoch als sicher gelten, dass Grosz sich mit den Inszenierungen einverstanden erklärte, sie also autorisierte. Zahlreiche, auch in diesem Beitrag erwähnte Fotos, entstanden für den Ullstein Bilderdienst: http://www.ullsteinbild.de/search. php?search=George+Grosz&date= 28 Vgl. Michael Klant, Künstler bei der Arbeit. Von Fotografen gesehen, Ostfildern-Ruit 1995.

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George Grosz vor seinem Gemälde „Der Agitator“, 1928

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kiste (Abb. 3): neben einem farbverschmierten Tisch hockend, auf dem, ebenso wie auf dem Boden, rumpelig Malutensilien nebeneinander liegen, Grosz wenig repräsentativ, beim Anrühren von Farbe. Derselbe Raum präsentiert sich im Pressefoto großzügig, mit reinlichem Fußboden und Teppich, das Malgerät ist auf zwei Staffeleien reduziert, an den Wänden lehnt eine große Zahl fertiggestellter Werke, die den Künstler als produktiven Arbeiter ausweisen. Der Meister sitzt in der Ecke und betrachtet wohl eine Skizze. Ein etablierter Topos ist außerdem das Bild des Malers vor einem Hauptwerk, gerne auch im Gestus der Vollendung, beim letzte-Hand Anlegen. 1928 ließ Grosz sich vor dem Gemälde Der Agitator ablichten (Abb. 4). Den Blick richtet er wach, aber nicht unfreundlich auf den Betrachter, er gibt sich als Beobachter, der nicht nur einen einzigen Pinsel, sondern gleich eine ganze Kollektion in der linken Hand hält, die auch noch ein Lineal umschließt, so dass die handwerkliche Komponente seines Schaffens betont wird. Er zeigt sich also nicht in der Attitüde des angry young man, der wütend die Leinwand malträtiert, eine Attitüde, die zum Tendenzkünstler durchaus passen würde. Eine Kombination der beiden Bereiche ‚der Künstler bei der Arbeit‘ und ‚der Künstler vor einem Hauptwerk‘ bietet das Foto von Grosz vor dem Gemälde

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5 George Grosz in seinem Berliner Atelier vor seinem Gemälde „Stützen der Gesellschaft“, 1928

Stützen der Gesellschaft (1926), 1928 (Abb. 5). Der gleiche Blick, wieder die Pfeife als Attribut des Intellektuellen, Pinsel und Palette. Auch dieses Foto verewigt eine Inszenierung: Grosz hat die Beine weit von sich gestreckt und stützt mit den Oberschenkeln die Holzplatte, die als Maluntergrund dient. Diese Position ist eine viel zu wackelige, als dass an wirkliche längere Arbeit am Bild zu denken wäre. Ein Anwinkeln der Beine hätte jedoch die Spannung zwischen Künstler und Kunstwerk aufgehoben und zugleich den Journalisten zu stark betont. Dessen Gesicht erscheint so nah neben dem von Grosz, dass der Betrachter unwillkürlich zu vergleichen anfängt. Verkniffene, schielende Augen und Nachttopfhut als Zeichen geistiger Beschränktheit charakterisieren den einen – offener, wacher Blick, intellektuelle, klare Züge den anderen. Dass die Pressefotos von Grosz sich einerseits in die Tradition der Imagefotos stellen, andererseits aber in bezeichnender Weise eine von ihr abweichende Botschaft transportieren, mögen einige Vergleichsbeispiele veranschaulichen. Als Folie eignen sich Fotos von Max Liebermann, der über eine unglaubliche Medienpräsenz verfügte.29 Während 29 Zahlreiche Fotos in: Max Liebermann in seiner Zeit, Ausst.-Kat. Berlin 1979, Berlin 1979, bes. S. 95.

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er in Selbstporträts im Medium der Malerei durchaus im Malerkittel posierte, lichteten Fotografen ihn auch vor Gemälden immer im Anzug ab, als Grandseigneur. Anders Grosz, von dem man gerade aufgrund seiner Vorliebe für exquisite Anzüge aus edlem Zwirn ähnliches erwarten würde. Er inszenierte sich in Pressefotos anders: in ausrangierten Anzügen und Schürze, beide farbverschmiert, manchmal auch hemdsärmelig, um auf diese Weise zu zeigen, dass Malerei Arbeit, Handwerk ist. Erhellend ist auch der Vergleich mit dem Foto, das Liebermann ruhig und repräsentativ in der Ecke eines Raumes wiedergibt, der den Glanz der Residenz eines Malerfürsten atmet. Vom Erfolg dieses Konzepts der Inszenierung zeugt ein Foto von Christian Schad, der im Anzug auf einem Armlehnstuhl Audienz gewährt.30 Grosz wollte von sich dagegen offenbar das Bild des intellektuellen Künstlers und wachen Beobachters generieren, zugleich aber den Handwerker und beständig und ruhig Werktätigen herauskehren. Gleichwohl besaß Grosz Humor genug, um selbstironisch mit dem Image vom Handwerker-Künstler zu spielen. Ein ungewöhnliches Pressefoto zeigt ihn 1928 im Querschnitt beim Streichen seines Ateliers. Ob Grosz allerdings vorher wusste, dass die Bildredaktion den Spaß noch steigern würde, sei dahingestellt. Jedenfalls erschien das Foto in Kombination mit einem Porträt von Henri Matisse unter der Headline „Maler bei der Arbeit.“31 Anders als die Pressefotos haben Grosz’ exklusive Kleidungsgewohnheiten bereits Aufmerksamkeit auf sich gezogen.32 Grosz’ Stilisierung zum Einzelfall ist dabei nicht ganz richtig. Christian Schad kleidete sich tadellos. Anton Räderscheidt: wie aus dem Ei gepellt. Heinrich Maria Davringhausen in einem Gemälde Carlos Menses33: wie aus dem Katalog, elegant. Allerdings legte Wieland Herzfelde eine Fährte, als er anmerkte, Davringhausen wähle zu schwere Stoffe, auffällig weite Hosen, Gamaschen, einen ägyptischen Haarschnitt und sei am etwas Zuviel des Guten als Künstler identifizierbar.34 In der Tat lässt ein Vergleich mit beliebigen Fotos35 von Zeitgenossen noch keine auffälligen Besonderheiten in Grosz’ Aufzug erkennen. Mit dem Siegeszug des Anzugs und der Konfektionsware war eine gewisse Uniformierung der Herrenmode eingetreten. Der Unterschied steckte im Detail, im exquisiten Stoff, einem eleganten Schnitt, in der besseren Verarbeitung. Auffälligkeit durch Exzentrik war nicht das Ziel. Über eine Pfeife schrieb Grosz 1925: „Wie alles Scheißfeine in dieser lausigen Welt – ist sie sehr unauffällig – fällt nicht auf – (…) wie ne’ gute Krawatte paßt sie zum Gesicht.“36 Und wenig früher, ebenfalls an Dumont, der quasi zu Grosz’ Mode- und Pfeifenagenten in London wurde und regelmäßig Aufträge in diesen Angelegenheiten erhielt: „Du 30 Marie-Luise Richter/ Theodor Helmert-Corvey (Hg.), Christian Schad. 1894–1982. Dokumentation. Druckgraphiken und Schadographien in Einzelblättern und Mappenwerken 1913– 1981, Biographie, Ausstellungsverzeichnis und Bibliographie, Rottach-Egern 1997, o.S. 31 Querschnitt 1981 (wie Anm. 18), S. 264. 32 Wolfgang Cilleßen, „Sich pflegen, bringt Segen“. Der Dandy und die Mode, in: Schuster 1994 (wie Anm. 1), S. 263–275. 33 1922, Köln, Wallraf-Richartz-Museum. 34 Herzfelde 1996 (wie Anm. 3), S. 167. 35 Vgl. z. B. ein Foto Bert Brechts im Kreis seiner Freund: Cilleßen 1994 (wie Anm. 32), S. 268. 36 Zit. nach Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 56.

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solltest doch für 10 Emm eine gute (Krawatte) kaufen. Statt dessen sandtest Du 2 minderbemittelte, davon eine aus Blech, und wegen der anderen braucht man doch nicht erst London. (…) Sei doch so lieb, gell, und tausche die beiden mißratenen Krawatten um.“37 In seinen hohen modischen Ansprüchen blieb Grosz zeitlebens Individualist, gab für Kleidung viel Geld aus und nutzte Mode als Zeichensystem.38 Wolfgang Cilleßen hat herausgearbeitet, dass Grosz seinen Modestil einsetzte, um sich von denen abzugrenzen, die er zu seinem Feindbild erklärte, und über deren Modesünden er in seinen Briefen so gerne lästerte: die häßlichen Deutschen. Die Schlüsselstelle findet sich schon in einem Brief von 1916/17: „Deutsch sein heißt immer: geschmacklos sein, dumm, häßlich, dick, unelastisch – heißt: mit 40 Jahren keine Leiter besteigen können, schlecht angezogen sein.“39 Grosz’ Dandytum war kein Bekenntnis zur Bohème, wie gelegentlich angenommen wird. Er äußerte sich wiederholt abschätzig über die Bohème. Sein modischer Individualismus richtete sich gegen den hässlichen Teil Deutschlands. Dem Proletariat erklärte Grosz sich solidarisch, die Masse lehnte er ab, und zwar die Masse, verstanden als soziales Phänomen. Schon vor dem Erscheinen von Siegfried Kracauers Studie Das Ornament der Masse (1927) war der Begriff primär auf das Heer der Angestellten bezogen und mit kultureller Verflachung und allgemeiner Mittelmäßigkeit assoziiert worden. „‚Durchschnitt‘ ist überall gleich spießig, gleich langweilig, gleich ungeistig“,40 lautete Grosz’ Urteil. Dagegen richtete sich Grosz mit seinem Kleidungsstil außerhalb des Ateliers, während er bei der Arbeit im Atelier eben Arbeitskleidung trug, die ebenso bewusst gewählt war. Die dandyhaften Attitüden und Kleidungsgewohnheiten des Künstlers waren eine Initiative gegen das Spießertum, nicht Mittel der Selbstzelebrierung – das ist ein Unterschied. Grosz veranstaltete nie einen Geniekult um sich. 1925 kündigte er eine Zeit an, „in der der Künstler nicht mehr jener bohèmehafte, schwammige Anarchist ist – sondern ein heller, gesunder Arbeiter in der kollektivistischen Gesellschaft.“41 In radikaler Wendung gegen das Bild vom Künstler als Genie, ja als Messias, gegen Expressionismus und ungegenständliche Kunst-ismen42 heißt es, ebenfalls 1925: „Der Individualitäts- und Persönlichkeitskult, der mit den Malern und Dichtern getrieben wird und den sie

37 Ebd., S. 42. 38 Andres Lepik, Verlust der Mitte? George Grosz und die Moderne, in: Schuster 1994 (wie Anm. 1), S. 203–210, hier S. 203 warf angesichts des Widerspruchs zwischen Kleidungsstil und Aufruf zum Kampf für das Proletariat die Frage auf, „wieweit er die kunsttheoretischen Inhalte des Konstruktivismus tatsächlich ernst zu nehmen gewillt war.“ Eberle 1989 (wie Anm. 6), S. 67–71 über Widersprüche zwischen Grosz‘ Lebensstandard und der Intoleranz gegenüber feiner Lebensart bei anderen. Grosz‘ ambivalente Haltungen auf verschiedenen Gebieten sind in letzter Zeit wiederholt Gegenstand von Untersuchungen geworden. Vgl. z. B. Beatriz Aisenberg, Grosz’s political position. False commitment, false testimony, in: Assaph/5, 2000, S. 63–80; Michael White, The Grosz case. Paranoia, self-hatred and antisemitism, in: The Oxford Art Journal, 30/2007, 3, S. 433–453. 39 Zit. nach Knust 1979 (wie Anm. 5), S. 44. 40 Brief vom 7. 9. 1927, zit. nach Riha 1992 (wie Anm. 8), S. 110. 41 George Grosz, Statt einer Biographie (1925), zit. nach Schneede 1979 (wie Anm. 22), S. 61–64, hier S. 64. 42 Zu Grosz‘ Verhältnis zur modernen Malerei siehe Lepik 1994 (wie Anm. 38).

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selbst, je nach Veranlagung, noch scharlatanhaft steigern, ist eine Kunstmarktangelegenheit. Je ‚genie’hafter die Persönlichkeit, um so größer der Profit.“43 Grosz entwarf das Konzept des malenden Handwerkers und Arbeiters im Dienst des Proletariats nicht nur für die Öffentlichkeit, auch aus der Korrespondenz ist ersichtlich, dass er keinen Sonderstatus auf der Basis seiner künstlerischen Tätigkeit beanspruchte. Die in Briefen an Freunde gewählte Selbstbezeichnung als Produkteur von Bildern unterstreicht diese Haltung.44 Er machte kein Aufhebens um sein ‚Künstlertum‘, dessen Besonderheit für ihn z. B. darin bestand, dass das Scheitern bei der Lösung bestimmter Probleme, anders als in anderen Berufen, in die Eigenverantwortlichkeit des Künstlers fällt und nicht auf andere abgewälzt werden kann: „Verunglückt ein Geschäft, oder sonst im Leben bei Zusammenarbeit mit anderen Menschen irgend etwas, hat man immer eine Ausrede, der oder der hat versagt. Hier im Atelier bleibst nur Du mit den Zweifeln und Deinem Können allein. Also frisch auf, Palette her und frisch ans Problem...“.45 Bezeichnend ist in seinen Texten, publizierten wie privaten, auch die Wortwahl: Von Können ist die Rede, von Arbeit, von Problemen, die zu lösen sind, aber nicht vom fast religiösen Ringen mit der und um die Kunst. Dieses Verhalten gehörte für Grosz in jenen anderen Bereich, gegen den er auch öffentlich polemisierte: „Der bekannte Star-Kult (...) Die Künstler selbst, aufgeblasen oder zerwühlt, ihre begnadete Stellung herleitend vom Nichtfertigwerden mit der Welt, mit dem Leben, sind meistens verdummt und im Schlepptau des großen reaktionären Schwindels der gesamten Kunstkritik“.46 Künstler – das ist in der Auffassung Grosz’ kein gottbegnadeter Zustand, sondern ein Beruf, den man ergreift, und zwar ohne vorangegangenes Erweckungserlebnis. Als neuer Topos der Künstlervitenschreibung und des Künstlerromans etablierte sich die fast zufällig-beiläufige Hinwendung zur Kunst nach vorausgegangener handwerklicher Lehre. Tatsächlich war z. B. Georg Schrimpf Bäcker, Franz Radziwill Maurer gewesen, Walter Schulz-Matan hatte, unter anderem, eine Bäcker- und eine Maurerlehre begonnen. Hier wies Grosz beruflicher Werdegang gewissermaßen ein Defizit auf, da er sich früh für die künstlerische Laufbahn entschieden hatte. Um dieses Manko auszugleichen, interpretierte er seine Abwendung von der freien und Hinwendung zur angewandten Kunst in den programmatischen Schriften als Fortschritt: „Ich begann einzusehen, daß es einen besseren Zweck gab, als nur für sich und den Kunsthändler zu arbeiten. Ich wollte Illustrator, Journalist werden. Die hohe Kunst, soweit sie die Schönheit der Welt darzustellen bestrebt war, interessierte mich noch weniger als zuvor, mich interessierten die Tendenzmaler und Moralisten.“47 43 George Grosz, Statt einer Biographie (1925), zit. nach Schneede 1979 (wie Anm. 22), S. 61. 44 Diese Wortwahl war auch bei Schriftstellern zu beobachten. Vgl. z. B. Alfred Döblin, Kunst ist nicht frei, sondern wirksam (1929), zit. nach Sabina Becker, Neue Sachlichkeit, 2 Bde., Bd. 2 (Quellen und Dokumente), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 217–219, hier S. 218: Döblin schlug vor, das „fatale (…) Samtjackenwort ‚Künstler‘“ durch „Kunstproduzent“ zu ersetzen. 45 Zit. nach Knust 1979 (wie Anm. 5), S. 102. 46 Grosz (1925), zit. nach Schneede 1979 (wie Anm. 22), S. 61. 47 Grosz/ Herzfelde (1925), zit. nach Schneede 1979 (wie Anm. 22), S. 133.

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Wenngleich hier Tendenzmaler und Kunsthändler in gewisser Weise in Opposition zueinander gesetzt werden, verbietet es sich, Grosz gegen sich selbst auszuspielen. Der Zwang zum Verkauf der Werke an Kunsthändler bereitete dem Publikum und Kunstkritikern größere Probleme als dem Künstler selbst. Ihm kam seine doch handfestere Auffassung vom Künstler als Handwerker und Werktätigen, die im Medium Fotografie verbreitet wurde, zugute. Ein Handwerk, ein Beruf dient dem Gelderwerb. Dennoch litt Grosz, wie er seinem Freund und Schwager anvertraute, unter Vorwürfen aus dem Kollegenkreis: Er ließe sich „von jenen feiern“,48 die er bekämpfe. Grosz kommentierte dies nicht. Es blieb ein unlösbarer Konflikt, den Grosz aber offenbar aushielt, und in Selbstdarstellungen nach außen blendete Grosz die Diskrepanz aus. Er kannte die in der Öffentlichkeit vorherrschende Vorstellung vom Künstler als einem im luftleeren Raum ohne Kunstmarktrücksichten nur der wahren Kunst lebenden Wesen sehr genau. Und exakt dieses Klischee setzte er ein, um gegen andere Richtungen zu polemisieren: „Die heutige Kunst ist abhängig von der bürgerlichen Klasse und wird mit ihr sterben; – der Maler vielleicht ohne daß er will, ist eine Banknotenfabrik und Aktienmaschine, deren sich der reiche Ausbeuter und ästhetische Fatzke bedient, um sein Geld mehr oder weniger lukrativ anzulegen, um vor sich und der Gesellschaft als Förderer der Kultur, die auch danach ist, dazustehen.“49 In dem Text Die Kunst ist in Gefahr charakterisiert Grosz die Abhängigkeit des Künstlers vom Kunsthändler dann scheinbar als allgemeines Problem, wenn er schreibt: „Die Vorstellung, Grünewald hätte seinen Isenheimer Altar bei Cassirer ausgestellt, beleuchtet kraß die problematische Stellung des Künstlers in der heutigen Gesellschaft.“50 Es ist allerdings wichtig, nicht nur einzelne Passagen zu beleuchten, sondern die Argumentationsstruktur im Auge zu behalten. Die Vorstellung von Grünewald bei Cassirer gehört zum Vorlauf, zur Skizze der absurden Verwirrungen der modernen Zeit, ihren Widersprüchen, der Sackgase der Kunst, der Schilderung der Irrwege. Diesen Gedankengang schließt Grosz ab, bevor er die Apotheose der Tendenzkunst einleitet. Kunstmarktprobleme müssten hier, bei einer Kunst, die sich an das Proletariat wendet, aber von Kapitalisten gekauft wird, ja eigentlich noch virulenter in Erscheinung treten als bei ungegenständlicher Malerei – von und für Ästhetizisten. Aber in allen Äußerungen Grosz’ zur Tendenzkunst wird dieses Problem ausgeklammert. Es wird einfach nicht thematisiert und ist damit irrelevant. Dem scharfen Beobachter Grosz entging nicht, dass die Kunst vielleicht vom Kunsthändler und vom Käufer als Ware betrachtet werden kann, dass das Publikum aber weiter naive und idealisierte Vorstellungen vom authentischen Künstlertum pflegte, das wahre Kunst schafft, frei von anderen als künstlerischen Erwägungen. In der Öffentlichkeit erhielt Grosz daher die Fiktion aufrecht und bediente das Klischee, wohl wissend, dass er andernfalls seine Glaubwürdigkeit komplett einbüßen würde. So hielt er den Tendenzkünstler in programmatischen Schriften säuberlich von Kunstmarktangelegenheiten fern, die allein eine Sache der Ismen-Kunst zu sein scheinen. 48 Zit. nach Knust 1972 (wie Anm. 5), S. 111. 49 Grosz (1925), zit. nach Schneede 1979 (wie Anm. 22), S. 61. 50 Grosz/ Herzfelde (1925), zit. nach Schneede (wie Anm. 22), S. 126–136, hier S. 130.

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Dem Bild, das eher mit dem Tendenzkünstler assoziiert wird, kommen die gemalten Selbstporträts näher als die Fotos. 1928 malte Grosz sich im Selbstbildnis mit Hut (Berlin, Berlinische Galerie) in elegantem Outfit, wiederum mit der Pfeife als Attribut des Intellektuellen und mit skeptischem Blick. Ein Jahr zuvor war das Selbstbildnis als Warner (Berlin, Galerie Nierendorf) entstanden, in dem Grosz mit erhobenem Zeigefinger den Betrachter fixiert. Hier betont eine kreisrunde Brille den skeptischen Bick. Die Brille, seit jeher und als Kneifer oder Monokel auch im Werk Grosz‘, Ausweis einer auch geistigen Kurzsichtigkeit, wird hier genau gegenteilig eingesetzt. Sie vergrößert die Augen und lässt somit auf – wiederum im übertragenen Sinn gemeinte – Weitsichtigkeit schließen, auch wenn unklar bleibt, wovor der Künstler eigentlich warnt. Ein verschollenes Selbstporträt zeigt Grosz dagegen im Unterhemd in dynamischer Aktion mit weit ausholendem rechtem Arm – wohingegen ein Pressefoto von Lotte Jacobi Grosz im Querschnitt 1930 wiederum dieses Selbstbildnis sorgfältig und bedachtsam malend präsentierte.51 Dieser knappe Einblick, der um Filme und Tätigkeiten als Reiseschriftsteller noch zu ergänzen wäre, scheint zunächst das Bild von Grosz als eines höchst widersprüchlichen Künstlers und Menschen zu bestätigen. Die Fotografie vermittelte primär das Bild des Handwerkers und Arbeiters. Die programmatischen Texte feiern den Tendenzkünstler, der sich für die Belange des Proletariats einsetzt und der herrschenden Klasse die Stirn bietet. Der Modestil richtete sich gegen das Mittelmäßige und Spießige schlechthin. Allerdings lassen sich die Aussagen so deutlich voneinander trennen, scheint Grosz so konsequent zu verfahren, dass der Befund durchaus auch eine andere Interpretation zulässt: Grosz versuchte nicht, in allen Medien identische Vorstellungsbilder zu vermitteln. Er jonglierte vielmehr mit den verschiedenen Medien der Selbstdarstellung und setzte sie gezielt ein, wobei sich die Aussagen ergänzen.

51 http://www.ullsteinbild.de/preview.php?page_num=1&caller=&page=4 (17.5.2010)

zeichnungen von millionenwert vorstellungen von kunst und künstlertum in der historischen sammlung prinzhorn

thomas röske Die Klinik für allgemeine Psychiatrie am Heidelberger Universitätsklinikum besitzt mit der Sammlung Prinzhorn einen einzigartigen Kunstschatz. Seit 2001 ist diese Sammlung künstlerischer Werke von – wie es heute politisch korrekt heißt – ‚Psychose-Erfahrenen‘ in einem eigenen Museumsbau untergebracht. Sein wertvollster Besitz sind mehr als 5.000 Zeichnungen, Gemälde, Skulpturen und Textilarbeiten, die vor allem nach dem Ersten Weltkrieg von einer Vielzahl psychiatrischer Heilanstalten, Kliniken und Sanatorien zumeist deutschsprachiger Länder nach Heidelberg geschickt wurden – auf einen Aufruf des Kunsthistorikers und Mediziners Hans Prinzhorn (1886–1933) hin. Er war 1919 als Assistenzarzt an die Psychiatrische Universitätsklinik berufen worden, um eine von Emil Kraepelin 1895 begonnene kleine „Lehrsammlung“ zu erweitern und in einer wissenschaftlichen Studie auszuwerten. Prinzhorns Buch Bildnerei der Geisteskranken erschien 1922, ein Jahr, nachdem er die Klinik verlassen hatte.1 Als ‚Klassiker‘ ist diese Pionierarbeit bis heute mehrfach wiederaufgelegt worden. Bis 1930 kamen zur Heidelberger Sammlung noch einige Werke hinzu. Zur Ideologie der Nationalsozialisten passte ein Fortsetzen des Projekts nicht und nach 1945 war der Fundus lange Zeit vergessen.2 Erst mit dem neuerlichen Bekanntwerden der „Prinzhorn-Sammlung“ durch eine gleichnamige Wanderausstellung 1980/813 wurden wieder Werke nach Heidelberg geschenkt oder als Dauerleihgabe überlassen, zum Teil große Konvolute von einzelnen Künstlern oder Künstler-Gruppen. Heute umfasst diese neue Sammlung rund 12.000 Gemälde, Zeichnungen, Plastiken und Textilarbeiten. Im Folgenden soll betrachtet werden, welche Vorstellungen Männer und Frauen, die in der historischen Sammlung Prinzhorn vertreten sind, von Kunst und Künstlertum hatten. Nach Erläuterungen zu den Lebensbedingungen dieser Internierten und zu Prinzhorns Perspektive auf deren Werke in seinem Buch Bildnerei der Geisteskranken werde ich auf verschiedene Beispiele eingehen, die schlaglichtartige Einblicke

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Hans Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin 1922. Zur Sammlungsgeschichte bis 1945 s. Bettina Brand-Claussen, Das ‚Museum für pathologische Kunst’ in Heidelberg. Von den Anfängen bis 1945, in: Wahnsinnige Schönheit. Prinzhorn-Sammlung, Ausst.-Kat. Schloss Heidelberg u. a., Heidelberg 1996, S. 7–23. Die Prinzhorn-Sammlung. Bilder, Skulpturen, Texte aus Psychiatrischen Anstalten (ca. 1890– 1920), Ausst.-Kat. Heidelberger Kunstverein u. a., Königstein im Taunus 1980.

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geben – mehr ist aufgrund der vielfach erst begonnenen Aufarbeitung von erhaltenen Werken und Biographien zur Zeit noch nicht möglich.

leben in der anstalt In der Zeit, aus der die historischen Werke der Sammlung Prinzhorn stammen, den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1930, hatten psychische Krisen andere Folgen als heute. Die Toleranz gegenüber Abweichungen von ‚normalem‘ Verhalten war geringer, die Stigmatisierung von ‚Verrücktheit‘ stärker. Tatsächlich waren die Psychiater damals hilfloser als heute. Die meisten Menschen mit der Diagnose ‚Dementia praecox‘ (vorzeitige Verblödung) – ab 1911 allmählich ‚Schizophrenie‘ – blieben auf Dauer interniert. Sie wurden oft jahrzehntelang bis zu ihrem Tod weggeschlossen in Institutionen, die außer Bettbehandlung, Beruhigungsmitteln, Zwangsmaßnahmen (Tobzelle, Fixierungen, Dauerbad) und Arbeitstherapie keine Behandlungsmöglichkeiten kannten. Die Folge sozialer und intellektueller Unterstimulierung war fast immer eine Art Autismus, den man fälschlich als zwangsläufigen ‚Endzustand‘ der Krankheit deutete. Auch die historischen Werke der Sammlung Prinzhorn stammen vielfach von LangzeitpatientInnen, die sich kaum noch sprachlich äußerten. Angehalten zu künstlerischem Schaffen wurden sie für gewöhnlich nicht, man duldete aber vielfach die Beschäftigung mit Handarbeiten, Zeichnen, Malen oder sogar Schnitzen, weil sie Ruhe garantierte. Aufbewahrt wurden die Produkte von Ärzten und Pflegern nur dann, wenn sie besonders kurios oder signifikant für die Krankheit erschienen. So ist die Heidelberger Sammlung eine Insel im Meer verlorener Patienten-Werke.

prinzhorns sicht und die spätere entwicklung Prinzhorns umfangreiches Buch Bildnerei der Geisteskranken war für die Zeit ungewöhnlich reich illustriert und aufwendig produziert.4 Vorbild waren die Kunstbände des Cassirer-Verlags aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. So weckte die Studie denn auch vor allem die Neugier Kunstinteressierter für die bisher kaum beachteten Bildwerke von Menschen, die als ‚Verrückte‘ marginalisiert wurden. Fachkollegen beachteten sie weniger. Denn obgleich Bildnerei der Geisteskranken im medizinwissenschaftlichen Springer-Verlag erschien, ist der Text deutlich kunsttheoretisch, weniger medizinisch orientiert. Wer eine Analyse des Fundus auf „Merkmale schizophrener Bildnerei“ hin erwartete, wurde enttäuscht.5 Prinzhorn bestritt, dass man die diag4 5

Zu Prinzhorns Buch s. Thomas Röske, Der Arzt als Künstler. Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn (1886–1933), Bielefeld 1995, S. 17–61. Siehe beispielsweise Ernst Kris’ Aufsatz „Bemerkungen zur spontanen Bildnerei der Geisteskranken“ (1936), in: ders., Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1977, S. 75–116, den er Prinzhorns Blickwinkel dezidiert entgegensetzt (S. 76).

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nostizierte Krankheit der Urheber an Inhalt oder Form der Werke ablesen könne. Stattdessen glaubte er, in der Betrachtung der Anstaltskunst einen Königsweg zum „Urgrund“ künstlerischer Gestaltung gefunden zu haben, ähnlich wie Freud in der Traumdeutung die „via regia“ zum Unbewussten gesehen hatte.6 Die besondere ästhetische Wirkung der Werke begründete er mit dem Verlust von Vernunftkontrolle. Über die Patienten-Künstler schrieb Prinzhorn, sie schüfen „triebhaft, zweckfrei – sie wissen nicht, was sie tun“.7 Ihre Werke waren ihm deshalb reiner Ausdruck, der vom Rezipienten nur durch Einfühlung zu erschließen sei. Gerade damit, dass in seinem Buch „durchaus nicht wertend gemessen, sondern psychologisch geschaut“ würde, begründete Prinzhorn auch, dass er von „Bildnerei“ und nicht von Kunst sprach.8 Seit dem Zweiten Weltkrieg hat eine Neubewertung künstlerischer Werke von Psychiatrie-Erfahrenen eingesetzt. Der französische Künstler Jean Dubuffet (1890– 1984) hat sie und die Werke anderer künstlerischer Laien, die Kunst als existenzielles Medium für sich entdecken und ihre ganz eigene Sprache darin entwickeln, ‚Art brut‘ genannt und seit 1944 zu sammeln begonnen. Andere sind ihm gefolgt, auch Psychiater, wie Leo Navratil, der seit den 1960er Jahren in der Anstalt Maria Gugging bei Klosterneuburg mit begabten Patienten eine Künstlerwerkstatt aufbaute. 1972 wurde mit dem Titel eines Buches von Roger Cardinal der Begriff ‚Outsider Art‘ eingeführt. Was zunächst nur eine Übersetzung von ‚Art brut‘ sein sollte, entwickelte sich bald schon zu einem umfassenderen umbrella term, unter dem im angloamerikanischen Raum inzwischen auch Werke zeitgenössischer Volkskunst subsumiert werden. Heute gibt es einen differenzierten Markt für ‚Outsider Art‘ mit eigenen Galerien, Auktionen und einer eigenen Messe, die jährlich in New York stattfindet. Kommen hier gelegentlich einmal Werke von Männern und Frauen zum Verkauf, die in der Sammlung Prinzhorn vertreten sind, erzielen sie schon wegen dieser Referenz Höchstpreise. Aus Bildnerei der Geisteskranken ist also längst Kunst geworden und ihre zeitgenössischen Schöpfer verstehen sich selbstverständlich als Künstler.

selbstverständnis der „bildner“ Wie aber sahen die historischen Anstaltsinsassen sich und ihre Werke? Welches Verständnis hatten sie selbst von Kunst und Künstlertum? Tatsächlich gibt es eine Reihe von Motiven hinter der historischen ‚Bildnerei‘ der Heidelberger Sammlung, die ihre Zeit nicht als künstlerisch ansah. Zum Beispiel wurde gezeichnet und gemalt, um damit oder mit den Ergebnissen magisch auf die Realität zu wirken – so warnt der promovierte Jurist Hyazinth Freiherr von Wieser (1878–?) auf seiner Systematisierung von Willenskurven von 1912: „Vorsicht – für andere gefährlich zu betrachten“ (Abb. 1), denn er ging davon aus, dass bei intensivem Ansehen der Liniengebilde die 6 7 8

Sigmund Freud, Die Traumdeutung (1900), in: ders., Gesammelte Werke Bd. II/III, Frankfurt am Main 1999, S. 1–642, hier S. 613. Prinzhorn 1922 (wie Anm. 1), S. 343. Ebd., S. 3.

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Hyazinth Freiherr von Wieser, Willenskurven, Bleistift auf Papier, 1912

darin eingeschlossenen Willensarten auf den Betrachter übersprängen.9 Oder die erschaffenen Bilder sollten die eigene Sicht auf diejenigen Ereignisse untermauern, die zur Einweisung des Betreffenden geführt hatten – wie bei Jacob Mohr (1884–1935?), der sich 1910 als Opfer von Beeinflussungsmaschinen darstellte, die sein Denken mit Hilfe von Wellen kontrollierten (Abb. 2).10 Oder es wurden vermeintlich von Gott hervorgerufene Visionen aufgezeichnet, um sie der Nachwelt zu überliefern – wie von dem Elektromechaniker August Natterer (1868–1933), der zwischen 1911 und 1913 Bilder rekonstruierte, die ihm am 1. April 1907 oberhalb der Stuttgarter Kaserne am Himmel erschienen waren (Abb. 3).11 9 Zu von Wieser siehe Thomas Röske, Hyacinth Freiherr von Wieser, Willenskurven, 1912, in: Wunderhülsen & Willenskurven. Bücher Hefte und Kalendarien aus der Sammlung Prinzhorn, Ausst.-Kat. Sammlung Prinzhorn Heidelberg und Städtische Museen Jena, Heidelberg 2002, S. 141; s. auch ders., „Geht mir noch sehr im Kopf herum“. Oskar Schlemmer und die „Bildnerei der Geisteskranken“, in: Jahrbuch der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloß Gottorf, N.F. VIII/2001–02, Neumünster 2003, S. 84–98. 10 Zu Mohr siehe John M. MacGregor, Die Beeinflussungsmaschine des Jakob Mohr, in: Bettina Brand-Claussen/ Thomas Röske (Hg.), Air Loom. Der Luft-Webstuhl und andere gefährliche Beeinflussungsapparate, Ausst.-Kat. Sammlung Prinzhorn Heidelberg 2006, S. 138–148. 11 Zu Natterer siehe Bettina Brand-Claussen/ Inge Jádi (Hg.), August Natterer – Die Beweiskraft der Bilder. Leben und Werk. Deutungen, Heidelberg 2001.

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2 Jakob Mohr, Mordversuch, Feder in Schwarz über Bleistift; Buntstifte auf weißem Zeichenkarton, um 1911

selbstdarstellungen Daneben gab es aber zumindest bei einigen Männern und Frauen, die damals in Psychiatrien lebten, ein Bewusstsein von Kunst und Künstlertum, auch wenn es sich um künstlerische Laien handelte. Manche stellten sogar in ihren Werken Künstler dar – und damit wahrscheinlich sich selbst. Dem niedersächsischen Landarbeiter und Landstreicher Hermann Beehle (1867–?), der seit 1904 mit der Diagnose „manischdepressives Irresein“ immer wieder für kürzere oder längere Zeit in die Städtische Heilanstalt Lindenhaus bei Lemgo aufgenommen wurde, gab Prinzhorn ein eigenes Kapitel in seinem Buch (unter dem Pseudonym „Hermann Beil“).12 Er zählte ihn also zu den „schizophrenen Meistern“ der Heidelberger Sammlung, sah allerdings seine Werke, die laut Krankenakte stets in Phasen der Erregung entstanden waren, mehr als Ergebnis eines „Betätigungsdrang[es]“ denn als eines „Bedürfnis[ses] nach Gestaltung“.13

12 Prinzhorn 1922 (wie Anm. 1), S. 240–248. 13 Ebd., S. 241.

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August Natterer, Wunder-Hirte, Bleistift, Aquarell auf Aquarell-papier, lackiert, auf grauem Zeichenkarton aufgezogen, undatiert 3

Gerade von Beehle stammt aber auch eine Farbstiftzeichnung, die, signiert und datiert auf 1908, einen Maler an der Staffelei zeigt (Abb. 4) – tatsächlich die einzige Darstellung dieser Art in der Heidelberger Sammlung. Dabei ist die für Beehle typische, dem Betrachter zugewandte Gestalt mit dem großen Kopf offenbar nach der Staffelei auf das Blatt gesetzt worden. Das erklärt aber nicht hinreichend, warum sie unter dem Bild (mit Ross und Reiter) erscheint, so dass die malende Hand nach oben zeigt. Wollte Beehle hiermit das Malen als höhere oder erhöhende Tätigkeit darstellen? Nimmt man die Beobachtung hinzu, dass links von der Hüfte des Malers sein erigiertes Geschlecht erscheint, könnte er mit dieser Zeichnung beabsichtigt haben, die besondere Potenz des Künstlers herauszustellen. Weniger unerwartet findet sich eine Künstler-Allegorie im Werk von Franz Karl Bühler (1864–1940), der von 1898 bis zu seinem gewaltsamen Tod durch nationalsozialistische Psychiater in Anstalten lebte.14 Denn der Offenburger Kunstschmied ließ schon vor seiner Internierung den Wunsch erkennen, freier Künstler zu sein. In diesem Sinne änderte er eigenmächtig das Curriculum an der Straßburger Kunstgewer-

14 Zu Bühler s. Franz Karl Bühler. Offenburg 1864 – Grafeneck 1940. Bilder aus der PrinzhornSammlung, Ausst.-Kat. Museum im Ritterhaus Offenburg 1993.

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4 Hermann Beehle, o.T., undatiert, Bleistift und Buntstifte auf Holzpappe

beschule, wo er seit 1893 lehrte – und wurde deshalb entlassen. In der Anstalt sind nur noch wenige seiner vielen Zeichnungen als Entwürfe für plastische Arbeiten aufzufassen. Man ist versucht zu urteilen, dass er in der Anstalt zu dem Künstler wurde, der er schon lange hatte sein wollen. Prinzhorn gab ihm unter dem Pseudonym „Franz Pohl“ nicht nur ebenfalls ein Kapitel in seinem Buch. Bühler war zweifellos der von ihm am höchsten geschätzte „Bildner“, den er sogar mit van Gogh verglich.15 15 Siehe Monika Jagfeld, Geistertänzer. Franz Karl Bühler – Ein „Geisteskranker“ als Expressionist?, in: Expressionismus und Wahnsinn, Ausst.-Kat. Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf, München 2003, S. 88–94.

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Franz Karl Bühler, o.T., Kreide, laviert, auf Zeichenpapier, ca. 1909–1916

Auf Bühlers originellem Bild aus den 1910er Jahren (Abb. 5) umsorgt eine geflügelte Frau mit Blumen einen kleinen Mann, der über die Schulter auf den Betrachter blickt. Nackt trägt er einen Helm sowie, gleich Schild und Speer, Palette und Malstock. Bühler scheint mit dieser Darstellung (die wie eine komplexe Inversion der klassischen Athena-Nike-Gruppe wirkt) zum Ausdruck zu bringen, welche Bedeutung er beim Künstler dem Genius, der göttlichen Eingebung, zuschreibt. Hier schickt eine höhere Macht den Maler in die künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt. Auch bei dem Künstler, den der Landstreicher Wilhelm R. (Lebensdaten unbekannt) 1908 in der Anstalt Lindenhaus bei Lemgo gezeichnet hat, (Abb. 6) liegt eine Selbstdarstellung nahe. Durch Format und stilisierte Aufschrift, die den Gegenstand ironisiert, erinnert das Blatt an eine humoristische Postkarte. „Das verkannte Genie“ ist ein Maler, darauf verweisen die Pinsel in der Jackentasche und die Palette am Boden – die farblich kontrastreiche Kleidung mit gepunkteter Schleife und schräg aufgesetztem Hut soll wohl an den Lebensstil der Bohème erinnern. Die Hand in der Tasche lässt jedoch an Mittellosigkeit denken; der Flachmann und die rote Nase ver-

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6 Wilhelm R., Das verkannte Genie, Bleistift auf Zeichenpapier, 1908

raten den Trinker; das geschnürte Bündel zeigt an, dass der Mann keine Bleibe mehr hat. Falten im Gesicht lassen ihn alt, Stoppeln um den Mund ungepflegt erscheinen. Hier ist der Künstler ein Sinnbild für die hochfliegenden, extravaganten Träume der Jugend, die im Alter von der Wirklichkeit einer das Abweichende ausgrenzenden Leistungsgesellschaft eingeholt worden sind.

künstlertum als freiraum In einigen Fällen gelang es Anstaltsinsassen, mit ihrem Anspruch, Kunst zu schaffen, innerhalb der Institution eine Sonderstellung zu erreichen und einen eigenen Atelierraum zu erhalten. Das setzte nicht nur ein gewisses Kunstverständnis entscheidungsbefugter Ärzte voraus, sondern in der Regel eine Malerei oder Bildnerei, die sich an

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7 Adolf Wölfli, Skt. Adolf= Groß=Groß=Groß=Vater= Edel=Schlange, Bleistift und Farbstifte auf Zeichenpapier, 1915

Konventionen der Zeit orientierte. So wurde dem Zeugdrucker Josef Belgrad (1868– 1914), Maler naiver Träume einer paradiesischen Welt, in der Irrenanstalt Düren wenige Wochen nach seiner zweiten Aufnahme 1897 der Wunsch nach einem Einzelzimmer zum Malen erfüllt.16 Und Maria Kraetzinger (1870–1951), die in den 1890er Jahren an der Münchner Damenakademie studiert hatte und in ihren Zeichnungen stark vom Jugendstil beeinflusst war, konnte im Philippshospital bei Darmstadt, in dem sie von 1907 bis zu ihrem Tode lebte, für ihre Malerei stets ein Dachzimmer benutzen.17 Eine Ausnahme war der Zeichner Adolf Wölfli (1864–1930), dem sein Arzt Walther Morgenthaler gerade wegen seiner ungewöhnlichen Zeichnungen, die heute als Urbild von ‚Outsider Art‘ gelten (Abb. 7), einen eigenen Raum zum Arbeiten gab. Sonst konnten Männer und Frauen, die unkonventionelle Werke schufen, bestenfalls mit einer größeren Duldung ihrer Tätigkeit rechnen, wie z. B. Bühler oder von Wieser.

16 Krankenakte der Irrenanstalt zu Düren Nr. 2190/429: Josef Belgrad (Kopie in der Sammlung Prinzhorn), Krankenjournal, 4.12. 1897. 17 Doris Noell-Rumpeltes, Die maßlose Sehnsucht der Maria Kraetzinger nach Nähe, in: Bettina Brand-Claussen/ Thomas Röske (Hg.), Künstler in der Irre, Ausst.-Kat. Sammlung Prinzhorn Heidelberg 2008, S. 133–146, hier S. 143.

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selbstbild als künstler Anstaltsinsassen ohne akademische Ausbildung haben selten Notizen zu ihrem Selbstbild als Künstler gemacht, und ihre Ärzte haben entsprechende Äußerungen vorwiegend dann festgehalten, wenn die künstlerische Leistung im Widerspruch dazu zu stehen schien. So wurde in einer Reihe von Krankenakten notiert, dass Internierte für ihre Werke irreal hohe Werte angaben. Der Bauzeichner Josef Schneller (1878–1943) etwa, der seit 1907 in der Anstalt Eglfing lebte, taxierte 1920 seine Zeichnungen auf über 100.000 Mark,18 der Weinhändler Ludwig Wilde (1865–?), seit 1908 in der Anstalt Klingenmünster, die seinen 1924 auf 26  Millionen.19 Auch andere Belege für die Wirklichkeitsferne im Denken der Pfleglinge wurden aufgeschrieben, wie die Überzeugung des Mannheimer Schuhmachers Johann Faulhaber von seiner höheren Berufung: „Zur Zeit der Erleuchtung wurde ihm auch die ‚Gabe der Kunst verliehen‘, die er nunmehr ausübt.“20 Doch die medizinische Diagnose ‚Größenwahn‘ ist ähnlich undifferenziert wie die psychologische Interpretation, dass hier nur die Erfahrung kompensiert würde, als Anstaltsinsasse entrechtet und entwertet zu sein. Für Wilhelm Müller (Lebensdaten unbekannt) etwa, der immer auf ’s Neue den Ausblick aus seinem Fenster der Landesirrenanstalt Domjüch malte, in der er seit 1907 lebte (Abb. 8),21 lässt sich zeigen, dass es bei der Selbstzuschreibung des Künstlertums auch um ein Verhandeln über gesund und krank gehen konnte. Im Entwurf eines Briefes an den erfolgreichen zeitgenössischen Maler Ludwig von Hofmann in Weimar heißt es: „Wenn Sie mich auf diese Kunstprobe nicht für einen Genius der Malerei halten[,] sind Sie ein Besessener. Sie sind übrigens sehr schlecht kritisiert im Westermann.“22 Dem kriegstraumatisierten Metzger Edmund Träger (1876–1957), der seit 1918 in der Regensburger Anstalt Karthaus Prüll lebte und mit seinen prototypischen Bildern von Städten, Landschaften und Berufsgruppen die Welt für sich neu ordnete, ging es darum, Erinnerungswürdiges hervorzubringen. Im Dezember 1920 notierte der Arzt in der Krankenakte: „Hat den ganzen Tagraum mit selbstgemalten Bildern und kalligraphisch verzierten Bibelsprüchen ‚geschmückt’, meint, der Saal würde einmal eine Wallfahrtsstätte werden, alle Leute würden kommen, um die Stelle zu sehen, wo der Edmund Träger geweilt habe.“

18 Zu Schneller s. Thomas Röske, Joseph Schneller – Architekt des ‚Lustspurdepots‘, in: Todesursache: Euthanasie. Verdeckte Morde in der Nazi-Zeit, Ausst.-Kat. Sammlung Prinzhorn, Heidelberg 2002, S. 137–139. 19 Krankenakte Ludwig Wilde, Kreis-Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster, Kopie in der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg. 20 Krankenakte Johann Faulhaber, Universitätsarchiv Heidelberg, Signatur 93/51; zu Faulhaber s. Thomas Röske, Johann Faulhaber. Ein „Gefühl von außerordentlicher Leistungsfähigkeit auf allen Gebieten“, in: Ausst.-Kat. Heidelberg 2002 (wie Anm. 18), S. 67–69. 21 Zu Müller s. Monika Jagfeld, „Ich spähte nach Leben und Treiben aus“. Zu den Naturstudien Wilhelm Müllers, in: Ausst.-Kat. Heidelberg 2008 (wie Anm. 17), S. 153–157. 22 Text auf der Rückseite eines undatierten Aquarells von Müller, Sammlung Prinzhorn, Inv.-Nr. 1122 verso.

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8 Wilhelm Müller, o.T., Aquarell auf Toilettenpapier, 1916

Der Weinhändler Ludwig Wilde (1865–?), der in der Anstalt Klingenmünster Hefte mit unverständlichen Texten und persisch anmutenden Mustern füllte, sah in seiner Kunst den Ausweis umfassenden Wissens und war davon überzeugt, dass in seinen „Curven und Linien […] die Wissenschaften und Künste enthalten seien“.23 Auch für Hajo Uden Thoden van Velzen (1875–1918), seit 1913 in der Anstalt Eberswalde, waren Kunstwerke vor allem Beleg für eine umfassende Bildung. Im Aufnahmejahr schrieb er in einem Brief: „Ohne Überhebung steckt in mir vielleicht ein größerer Künstler, als man denkt, und verborgen. […] Ein guter Künstler muss tief empfinden oder empfunden haben, muss also viele und grosse Erfahrungen gemacht haben, muss über ein grosses, vollständiges Instrument des Gemütes verfügen, wenn es in manchen Fällen auch verdeckt gehalten wird; muss die höchste Sinnenliebe empfunden haben, die zum Glauben an die Gottheit, den sämtliche Kirchen predigten, führte, und ebenfalls den tiefsten Hass, der auf die Anwesenheit von Dämonen schließen lässt. Und ausserdem eine genügende Technik.“24 Dieses Aufreihen von Beispielen erschöpft schwerlich die möglichen Implikationen des Selbstbildes als Künstler bei Anstaltsinsassen zwischen 1850 und 1930. Es soll vor allem belegen, dass es ebenso unmöglich ist, diese Vorstellungen auf Charakteristika festzulegen, die mit der diagnostizierten psychischen Krankheit in Verbindung stehen, wie die inhaltliche und formale Vielfalt ihrer Werke.

23 Krankenakte Wilde (wie Anm. 19); zu Wilde s. Thomas Röske, Ein einseitiger Dialog? Jörg Ahrnt und Ludwig Wilde, in: In Persern Büchern steht’s geschrieben. Jörg Ahrnt im zeichnerischen Dialog mit Ludwig Wilde, Ausst.-Kat. Sammlung Prinzhorn Heidelberg u. a., Heidelberg 2004, S. 11–22. 24 Krankenakte Hajo Uden Thoden van Velzen, Anstalt Eberswalde, Kopie in der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg.

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„… durch die luft gehen“: josef forster Abschließend wird Josef Forster (1878–1949) vorgestellt, ein besonders gut dokumentierter Künstler der Sammlung Prinzhorn, bei dem viele der erwähnten Momente zu finden sind. An ihm lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie ein Anstaltsinsasse sich als Künstler inszenierte und dabei seine abweichende Wirklichkeitsauffassung integrierte.25 Josef Forster, ein Tapezierer und Dekorateur, kam 1916 wegen Halluzinationen, die er als bedrohlich erlebte, in die Regensburger Anstalt Karthaus Prüll und wurde erst 1941 auf Drängen der Schwester daraus entlassen. In der Anstalt entwickelte er über Jahre eine komplexe Philosophie, die er in Texten und Bildern niederlegte und zusätzlich den Ärzten in Gesprächen erläuterte. Den Kern bildet die Idee einer radikalen Autonomie. Forster wollte sich nur noch von den eigenen Körperausscheidungen ernähren, aß seinen Kot und sein Sperma, trank seinen Urin und erfand Apparaturen für den Kopf, um auch seinen Nasenschleim bei sich zu behalten. Er glaubte, auf diese Weise ein „Edelmensch“ zu werden, der eine glockenhelle Singstimme hat, Meisterliches in allen Künsten leistet und so leicht ist, dass er schwebt. Trotz zahlreicher Versuche, diese Diät, die seine Gesundheit gefährdete und seine Umwelt belastete, zu unterbinden, konnten Ärzte und Pfleger Forster doch nie dauerhaft davon abbringen. Forster machte sich in der Anstalt als Maler und Dekorateur nützlich, widmete aber einen Großteil seiner Zeit freiem Malen und Zeichnen sowie Entwurf und Ausführung von Maschinen aus Reisig. Hierin wurde er durch den Oberarzt Karl Vierzigmann gefördert, der sich um eine Reihe von künstlerisch begabten Insassen kümmerte. Forster konnte sich sogar einen separaten Raum als Atelier einrichten. Ein Foto zeigt ihn dort in der Pose eines Sängers (Abb. 9); er soll häufig Arien Wagnerscher Opern intoniert haben. Leider sind nur zwanzig seiner Bilder erhalten.26 Sie belegen eine beeindruckende Begabung, insbesondere zu lebendiger Porträtmalerei (Abb. 9). So ist anzunehmen, dass Beifall der Umgebung zur erhöhten Selbsteinschätzung als Künstler beigetragen hat. Forster verglich sich mit Rubens, Raffael und Rembrandt und verkündete einen steigenden Wert seiner Werke. Er forderte besondere Freiräume ein, indem er betonte, nur nachts malen zu können, da er einzig dann inspiriert sei. Und er nobilitierte seinen um 1900 gefassten Entschluss, freier Künstler zu werden, mit einer Anekdote, die sich an jene aus dem Leben des Correggio anlehnt, wonach der vor Raffaels Hl. Cäcilie ausgerufen haben soll: „Anch’ io son’ pittore!“.27 Analog war Forster nach

25 Thomas Röske/ Doris Noell (Hg.), Durch die Luft gehen. Josef Forster, die Anstalt und die Kunst, Ausst.-Kat. Sammlung Prinzhorn Heidelberg 2010. 26 Einige befinden sich in der Sammlung Prinzhorn, Heidelberg, andere im Bezirksklinikum Regensburg. 27 Roger de Piles, L‘Abrégé de la vie des peintres, Paris 1699 (Reprint 1767), S. 234.

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E. Mager, Josef Forster in seinem Atelier, Fotografie, um 1920

München gekommen, „sah eine Raf[f ]ael Madonna. Ihre Augen schienen was sagen zu wollen[;] in meiner Begeisterung wollte ich Maler werden“.28 Zugleich aber band Forster seine Kunst in seine spezielle Vorstellungswelt ein, sowohl ideell als auch materiell. So bezeichnete er sich einmal als „Tapezierer Kunstmaler Dichter Erfinder der Pflege zur Menschwandlung“, ein andermal als „Heldentenor, Maler, Rezidator, Dichter Forscher [. Ich] befasse mich mit unerhörten Erfindungen und besitze vollkommene Edelgestalt.“ Und die Krankenakte hält fest, dass er zeitweilig „reichlich Kot“ und Speichel „bei seiner Malerei“ verwendete. Eine erstaunliche Künstler-Allegorie schuf Forster mit einem weiteren Öl-Bild, das sich heute in der Sammlung Prinzhorn befindet. Auf ihm schwebt ein Mann vor gekrümmtem Horizont über dem Erdboden, mit dem er nur noch durch unten verdickte Stecken in seinen Händen verbunden ist. Er trägt einen Anzug mit offenem Jackett; ein blaues Tuch verdeckt ihm Mund und Nase. Rechts oben hat Forster no28 Autobiographischer Text Josef Forsters, entstanden um 1931, in: Krankenakte Josef Forster, Bezirksklinikum Regensburg, abgedruckt in: Ausst.-Kat. Heidelberg 2010 (wie Anm. 25), S. 46–64, hier S. 57.

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10 Josef Forster, Ohne Titel, Mischtechnik auf Pappe, nach 1916

tiert: „Dieses soll darstellen, / das, wenn man kein / Körper Gewicht mehr hat, / das man sich dan[n] / an Gewicht be- / schweren muß, / und man kann / mit großer ge- / schwindigkeit / durch die Luft / gehen“ (Abb. 10). Spätestens diese Aufschrift macht klar, dass die Darstellung ein Moment der eigenwilligen Philosophie Forsters meint. Hier erscheint der Künstler im Zustand des Edelmenschentums. Die Binde, mit der das Austreten des Nasenschleims aus dem Körper verhindert werden soll, steht für die angestrebte Autarkie des Körperhaushalts. Aus ihr resultiert das Aufheben der Gravitation. Zugleich bietet das Bild eine Lösung für ein Problem, das Forster in keinem anderen erhaltenen Dokument anspricht. Der schwerelose Mensch droht die Verbindung zur Welt zu verlieren. Zur Abwehr dieser Gefahr wählt Forster ein Instrument: Gewichte an langen Stäben, die er schwebend greifen kann. Sie ermöglichen ihm, sich willkürlich weiter vom Erdboden zu entfernen und schneller darüber hinweg zu bewegen als andere Menschen – also einen räumlichen wie zeitlichen Abstand zur Welt zu halten, den er selbst kontrolliert. Das kann man als Ausdruck des Wunsches

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verstehen, die durch die psychische Krankheit veränderte Realitätswahrnehmung zu beherrschen, dem drohenden Weltverlust aktiv zu begegnen.29 Doch lässt die Darstellung daneben eine allgemeinere Interpretation zu. So könnte der schwebende Mensch auch den Künstler schlechthin meinen, der im Moment der Inspiration rauschhaft der Realität enthoben ist. Um diesen Zustand produktiv zu machen, benötigt er ein materielles Medium, wie etwa Malgrund, Farbe und Pinsel. Dann vermag er etwas Besonderes (für die Gesellschaft) zu leisten. Hier zeigt sich, dass Kunst gerade wegen der Offenheit bildlicher Symbole ein ideales Kommunikationsmittel zwischen Menschen mit unterschiedlicher Wirklichkeitsauffassung ist. Sie erlaubt eine Annäherung an Menschen in psychischen Krisen, die sonst schwer möglich scheint. Doch erweist sich nicht nur die Bildnerei der Geisteskranken bei eingehender Betrachtung näher an der übrigen Kunst der Gesellschaft als oft gedacht. Auch die Vorstellungen von Anstaltsinsassen über Kunst und Künstler sind nur scheinbar aus einer anderen Welt. In ihnen tritt durchaus Vertrautes auf, wenn auch gelegentlich so verzerrt und übersteigert (sicherlich ebenso oft aus Rebellion gegen Ausgrenzung und Entrechtung wie aus abweichender Realitätsauffassung), dass es ungewöhnlich erscheint und uns neu berührt.

29 Zur phänomenologischen Interpretation von Bildern der Sammlung siehe Thomas Fuchs, Homo pictor. Anthropologische und psychopathologische Aspekte bildnerischen Ausdrucks, in: ders. u. a. (Hg.), WahnWeltBild. Die Sammlung Prinzhorn. Beiträge zur Museumseröffnung (Heidelberger Jahrbücher Bd. XLVI), Berlin/Heidelberg 2002, S. 91–106.

julian schnabels self-fashioning intermediale selbstinszenierungen als maler

doris berger Julian Schnabel wurde als Maler Anfang der 1980er-Jahre in den USA und in Europa durch zahlreiche Ausstellungen und eine umfangreiche Berichterstattung in den Printmedien berühmt. Werk und Künstlerpersona lassen sich im Falle Schnabels damals wie heute schwer trennen, zumal er bewusst an der Verschmelzung arbeitet bzw. die Celebrity-Industrie daran arbeiten lässt. In diesem Zusammenhang werden Schnabels Strategien des ‚self-fashioning‘ und ‚self-imaging‘ untersucht, durch die Selbstdarstellung und Imagebildung in Repräsentationstechnologien stattfinden.1 Schnabel schneidert sich seine Rollen als Künstler, der in unterschiedlichen Medien und Feldern arbeitet, auf seine individuellen Bedürfnisse zu. Er greift dafür auf durchaus bewährte Schnittmuster aus dem Mythenkanon zurück, welche er zu eigenen Kreationen des Künstlertums umformt, die sich wiederum unterschiedlicher Mechanismen von Haute Couture bis Prêt-à-Porter, von elitärer Kunst bis Populärkultur bedienen. Wenn man das Selbstbildnis nicht nur als ein Selbstporträt in Malerei oder Fotografie versteht, sondern als Formulierung eines Selbstentwurfes, der in unterschiedlichen Medien stattfinden kann und „der Inszenierung und Mediatisierung mit und im Bild dient,“2 dann finden wir Julian Schnabels Selbstinszenierungen in so verschiedenen Medien wie Malerei, Fotografie, Film und Text vor. Sie visualisieren und narrativieren Schnabels Vorstellungen vom Künstlertum und bilden gemeinsam mit jenen Bildern, die über den Künstler Schnabel produziert werden, ein sich gegenseitig bedingendes Referenzsystem. Es wird sich zeigen, wie hartnäckig dabei moderne Künstler- und Geschlechtermythen sind, die trotz postmoderner Dekonstruktionen überleben bzw. in unserer Celebrity-Kultur unter anderen Vorzeichen wiederkehren. Julian Schnabel, der 1951 in Brooklyn geborene und in Brownsville (Texas) aufgewachsene Künstler jüdischer Herkunft, gilt als einer der prominentesten Vertreter der so genannten Neoexpressionisten. Mit seinen großformatigen Malereien, in die er zerbrochene Porzellanteller integrierte, macht er Ende der 1970er-Jahre Furore. Die Preisentwicklung seiner Werke leitet den New Yorker Kunstmarktboom ein, gefolgt von Künstlerkollegen wie Jean-Michel Basquiat, Francesco Clemente oder David Salle. Ganz in der amerikanischen Tradition des Abstrakten Expressionismus, dessen Erfolg eine „Aura von Männlichkeit“ umgibt,3 ist auch die Wiederkehr der 1 2 3

Amelia Jones, Self/Image. Technology, Representation, and the Contemporary Subject, London/New York 2006. Ulrich Pfisterer/Valeska v. Rosen (Hg.), Der Künstler als Kunstwerk, Stuttgart 2005, S. 15. Michael Leja, Reframing Abstract Expressionism. Subjectivity and Painting in the 1940s, New Haven/London 1993, S. 256.

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großformatigen Malerei Anfang der 1980er-Jahre von männlichen Stars geprägt. Ein Diskurs, in den sich Julian Schnabels Image als überschwänglich agierender, viril auftretender Maler mit starkem Selbstbewusstsein besonders gut einfügt. In den 1980erJahren lässt sich Schnabel vermehrt in dokumentarischen Fotografien mit nacktem Oberkörper beim Malen im Freien abbilden, z. B. 1981 vor einer riesigen Leinwand in Amaganset (New York).4 Kulturelle Ikone für diese Geste ist Jackson Pollock, der 1951 im Film von Hans Namuth beim Dripping in der freien Natur ebenso auf Long Island (jedoch mit T-Shirt) verewigt wurde.5 Auch ein Pressebild zehn Jahre später passt in dieses Schema, wenn sich Schnabel in Denkerpose, aber breitbeinig sitzend, vor einem seiner Bilder mit der Aufschrift „Zeus“ ablichten lässt.6 Kurzum, die Diskurse über Schnabels Kunstwerke sind untrennbar mit seiner Künstlerpersona verbunden. Die Rhetorik über Schnabel ist ebenso ‚groß‘ wie seine Malerei, was sich in der kunstkritischen Rezeption bis heute in Titel-Formulierungen wie „Larger than Life“, „Larging It“, „Big“ oder an David Bowies Beschreibung von Schnabel als einem „Hemingway-Pablo-Hybrid“ widerspiegelt.7 Doch bleiben wir zunächst in den 1980er-Jahren, als Schnabels Malerei und Künstlerpersona zur Projektionsfigur des New Yorker Kunstmarktbooms wurde. Es ist vom „Fall Julian Schnabel“, vom „Phänomen Schnabel“ oder vom „Schnabel-Hype“ die Rede, wenn über den Künstler als Paradigma für diese Zeit gesprochen wird.8 „It’s a mere half-dozen years since the controversial phenomenon known as Julian Schnabel arrived on the New York art scene, one of the most promoted – and promotable – artists who ever came down the pike. And so much has the art world changed in size and structure that at 33 he enjoys a stardom undreamed of in the far-off days of Jackson Pollock, when – if it can be believed – ‚new‘ art was virtually unsaleable. […] There are those who hold that Mr. Schnabel’s rise has not only to do with being a talented painter, but with the show biz-stock market mentality of today’s art market.“9 Grace Glueck erkennt die mythischen Qualitäten Schnabels und setzt seinen Erfolg mit der Funktionsweise des Kunstmarktes in Verbindung. Das Teller-Bild Notre Dame (1979) wurde 1980 für 3500 $ verkauft und erzielte bereits 1983 mit 93.000 $ das 26-fache des ursprünglichen Preises bei einer New Yorker Auktion.10 Dieser rasante 4 Vgl. Julian Schnabel. Retrospectiva, Ausst.-Kat. Museo de Arte Contemporáneo Monterrey 1994, S. 38. Ein anderes Beispiel ist eine Helmut Newton-Fotografie, publiziert in Wolkenkratzer Art Journal 3/1985, H. 10, S.45, auf der Schnabel in weißem Ruder-T-Shirt mit verschränkten Armen hinter einem Zaun stehend abgebildet ist. Dieses Outfit suggeriert eine Mischung aus Jackson Pollock und einem Boxer. 5 Vgl. Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideenund Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007, S. 137f. 6 Fotografiert von Brian Smith; publiziert in Michael Stone, Off the Canvas. The Art of Julian Schnabel survives the Wreckage of the Eighties, in: New York Magazine, 18. Mai 1992, S. 28–36. 7 David Bowie, Painting the Veils of Time, in: Modern Painter 11/1998, H. 4, S. 26. 8 Vgl. Julian Schnabel. Bilder 1975–1986, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1987. 9 Grace Glueck, What One Artist’s Career tells us of Today’s Art World, in: The New York Times, 2. Dezember 1984. 10 Vgl. Bowie 1998 (wie Anm. 7), S. 26.

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Aufstieg wandelt sich jedoch zu einem Abstieg. So fielen 1987 nach dem New Yorker Börsencrash die Preise seiner Werke sowie jene seiner Kollegen in ungeahnte Tiefen. Im Falle Schnabels ist zudem zu beobachten, dass nicht nur seine Kunstwerke, sondern auch sein Künstlerimage enorm an Ansehen verloren haben. Nicht gerade hilfreich war die 1987 veröffentlichte Autobiografie, die der Künstler im jungen Alter von 35 Jahren unter dem Titel CVJ Nicknames of Maitre D’s & Other Excerpts from Life publizierte.11 Er erzählt darin anekdotisch und im altmeisterlichen Ton, jedoch ohne große literarische Verve von seinem Weg zum Erfolg und von den Machenschaften des New Yorker Kunstmarktes. Das Buch wurde von einem Kritiker polemisch als „The Rise and Rise of Julian Schnabel by Julian Schnabel“ verrissen.12 Der Börsencrash kam wie gelegen, um Schnabel nun zur Projektionsfigur der negativen Marktentwicklung zu deklarieren. Ähnlich wie bei seinem Erfolg ist dafür nicht nur die Preisentwicklung seiner Werke, sondern auch sein Habitus als Künstler verantwortlich. Sein stark ausgeprägtes Selbstbewusstsein, das ihm zuvor zum Erfolg verhalf, wird ihm nun zum Verhängnis: „Unfaltering confidence in himself has always been one of Schnabel’s strongest points – or most irritating flaws“, wie es Calvin Tomkins ausdrückt.13 Als es in den 1990er-Jahren um Julian Schnabel still geworden ist und die New Yorker Kunstwelt andere Prioritäten setzt, beginnt er eine Karriere als Filmemacher. Im Unterschied zu seinen KünstlerkollegInnen David Salle, Robert Longo und Cindy Sherman, die ebenfalls in den 1990er-Jahren als Regisseure von Spielfilmen Ausflüge auf die großen Leinwände machten,14 generierte sich Schnabels Praxis nicht nur als einmaliger Exkurs in die Filmwelt. Vielmehr etablierte er sich als ernstzunehmender Regisseur von mittlerweile fünf Filmen, für die er eine Vielzahl prestigereicher Preise gewonnen hat.15 Auch wenn Schnabel geradezu begeisterte Kritiken als Filmemacher bekommt, beginnen Artikel mit Formulierungen wie: „Don’t Call Him a Filmmaker, at Least Not First“.16 Zudem betont er in Interviews immer wieder, dass er Maler sei, wenn er sagt: “I’ve made a thousand paintings and I’ve made two films. I’m a painter.”17 Calvin Tomkins erkennt in Schnabels Bestreben, als Maler Anerkennung zu finden, auch ein strategisches Interesse, denn wenn die New Yorker Kunstmafia befinde, dass Schnabel 11 Julian Schnabel, CVJ Nicknames of Maitre D’s & Other Excerpts from Life, New York 1987. 12 Paul Taylor, Instantly Notorious, in: The New York Times, 10. Januar 1988. 13 Clavin Tomkins, Schnabel in lights. How the iconic Painter of the Eighties found himself hoping for an Oscar, in: The New Yorker, 19. März 2001, S. 121. 14 Search and Destroy (David Salle, 1995), Johnny Mnemonic (Robert Longo, 1995), Office Killer (Cindy Sherman, 1997); vgl. Chris Chang, Mind over Matter. The Artist as Filmmaker, in: Film Comment 32/1996, S. 54–62. 15 Schnabel wurde für Basquiat (USA 1996) für den Goldenen Löwen in Venedig nominiert. Für Before Night Falls (2000) gewann er den Spezialpreis der Jury des Filmfestivals in Venedig. Für Le Scaphandre et le Papillon (F/USA 2007) wurde er als bester Regisseur in Cannes sowie mit einem Golden Globe in Hollywood ausgezeichnet und für vier Oscars nominiert. Insgesamt hat dieser Film 41 Preise gewonnen und war 33 mal nominiert. Das vierte Projekt war der Konzertfilm Lou Reed’s Berlin (2007) und über seinen neuen Film Miral (2010), gab es ebenfalls Oscargeflüster in Hollywood, vgl. www.imdb.com, 28. Juli 2010. 16 Randy Kennedy, Don’t call him a Filmmaker, at least not first, in: The New York Times, 18. November 2007. 17 Schnabel zitiert in Tomkins 2001, (wie Anm. 13), S. 123.

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nun sein wahres Metier als Filmemacher gefunden habe, würde dies auch implizieren, dass wir ihn als Maler vergessen können. Und dagegen scheint sich Schnabel vehement zu wehren. Wenn man jedoch beide – Kunst- und Filmwelt – als Plattformen betrachtet, in denen Künstlerbilder produziert werden, dann lassen sich in Schnabels Fall mehrere Umwertungen vom Künstlerstar, zum gefallenen Künstlerstar, zum ausgezeichneten Filmregisseur beobachten. Schnabel, der das Spiel mit der medialen Öffentlichkeit mittlerweile für sich zu nutzen versteht, gelingt letztendlich eine Aufwertung seines außergewöhnlichen Status‘ als Künstler. So wurde der Begriff ‚arteur’ eingeführt,18 eine Mischung aus ‚artist’ und ‚auteur’ (Autorenfilmer), der Schnabel auf beiden Feldern als Künstler auszeichnet. Julian Schnabel formt und funktionalisiert seine Darstellungen des Künstlertums in Malerei, dokumentarischer Fotografie, Text, Film, Starfotografie und Rauminszenierung. Die im anglo-amerikanischen Raum stark ausgeprägte Celebrity-Kultur spielt hierfür eine wichtige Rolle.19 Der ökonomisch verwertbare Personenkult gilt als Kern der Celebrity-Kultur, der nicht nur das künstlerische Werk, sondern auch das Leben des Künstlers in die Marktmaschinerie der Massenmedien einfließen lässt. Alte Künstlermythen lassen sich besonders gut in der massenmedialen Kultur verwerten bzw. mutieren darin auch zu neuen Mythen. Vor allem der Zusammenhang zwischen Leben und Werk, den Vasari in seinen Viten hergestellt hatte, erlebt in der massenmedialen Kultur des Celebrity Business eine Renaissance.20 Die Persönlichkeit des Künstlers oder der Künstlerin gliedert sich einerseits in tradierte Erzählungen und Bilder ein und ist andererseits mit jener Gesellschaft im Dialog, in der er oder sie lebt. Das gilt heute genauso wie damals zu Ernst Kris’ und Otto Kurz’ Zeiten, mit dem Unterschied, dass die mediale Distribution vielfältiger und ausdifferenzierter geworden ist.21

leben und kunst in der kulturindustrie Julian Schnabel lässt Leben und Kunst geradezu gesamtkunstwerksartig miteinander verschmelzen. Beide Ebenen gehen ineinander auf bzw. stärken sich gegenseitig. Zu dieser für ihn untrennbaren Verbindung schreibt er bereits 1978 in sein Notizbuch: „I want my life to be embedded in my work, crushed into my painting, like a pressed 18 Vgl. Philip Weiss, Big Arteurs, in: The New York Times, 25. März 2001; Diedrich Diederichsen, Künstler, Auteurs und Stars. Über menschliche Faktoren in kulturindustriellen Verhältnissen, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Kunst/Kino, Köln 2001, S. 43–56. 19 Celebrities sind Personen des öffentlichen Lebens, die für eine Handlung oder Aussage berühmt geworden sind. ‚Celebrity‘ gilt als Oberbegriff, wobei ‚Star‘ für eine spezifische Funktion der Kulturindustrie steht. Aufbauend auf dem filmwissenschaftlichen Star-Diskurs, umfasst der Celebrity-Diskurs ein weiter reichendes, kulturwissenschaftliches Feld; vgl. James Monaco (Hg.), Celebrity. The Media as Image Makers, New York 1978; Graeme Turner, Understanding Celebrity, London 2004. 20 Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori scultori e architettori, Florenz 1550/1568. 21 Vgl. Ernst Kris/ Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1995, S. 21.

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car.“22 Eine weniger metaphorische Ebene der Verschmelzung von Kunst und Leben zeigt sich in der Involvierung seiner Familie in die Kunstproduktionen. So spielen z. B. seine Eltern, Kinder und Frau in seinen Filmen mit. Er malt Porträtserien seiner Frau und Kinder, gibt seinen jüngsten Söhnen die Namen seiner Vorbilder, wie Cy nach Cy Twombly und Olmo nach Depardieus Filmfigur in Bertoluccis 1900. Außerdem lässt er sich gerne als väterliches Familienoberhaupt abbilden.23 Diese Rolle wird von Society-Klatschspalten bis in die Modemagazine ausgiebig besprochen und bebildert. Drei seiner fünf Kinder haben bereits eine kreative Laufbahn eingeschlagen, wobei sie vom Vater unterstützt werden. Lola ist Malerin und Filmemacherin, Stella Dichterin und Schauspielerin und Vito macht sich gerade mit väterlicher Unterstützung als Kurator und Kunsthändler einen Namen.24 So wie Schnabel versucht, eine eigene künstlerische Genealogie innerhalb seiner Familie zu gründen, so schreibt er sich in eine Filiation männlicher Referenzfiguren wie Picasso, Beuys oder Twombly ein, die er für seine malerische Karriere als Vorbilder nennt. Zudem sieht er sich auch selber als Stammvater einer zeitgenössischen Künstlergenealogie, wenn er behauptet, dass Damien Hirst viel von ihm gelernt habe.25 Diese Informationen und Bildproduktionen treten in die Maschinerie der Kulturindustrie ein und formen sein Künstlerimage. Tatsächlich verbindet sich Schnabels Vorliebe zur Selbstinszenierung blendend mit den Starmechanismen der Hollywood-Filmindustrie. Man könnte sogar behaupten, dass die Starmechanismen, die im Kunstfeld meist kritisiert werden, im Falle Julian Schnabels erst durch die Filmindustrie zur wirklichen Entfaltung kommen konnten und auf diesem Umweg wieder zurück in das Kunstfeld wirken.26 Zudem bringt Julian Schnabels ‚arteur‘-Praxis die oft sehr unterschiedlichen Öffentlichkeiten aus der bildenden Kunst und der Filmindustrie miteinander in Kontakt: Zu seinen Eröffnungen kommen nicht nur Kunstinteressierte und SammlerInnen, sondern auch HollywoodschauspielerInnen und Popstars. Eine Schnabel-Eröffnung in den USA ist ein Society-Event, auf dem Paparazzi um die besten Bilder ringen. Bezeichnenderweise stellt Schnabel aber nicht bei Gagosian in New York oder London aus, sondern in Beverly Hills. Seine letzte Ausstellung in Los Angeles wurde genau zu

22 Schnabel 1987 (wie Anm. 11), S. 146. 23 Vgl. Tomkins 2001 (wie Anm. 13), S. 120 f. und das Cover von L’Uomo Vogue, Juli/August 2007, auf dem alle Familienmitglieder in Fracks gezeigt werden, bis auf Julian Schnabel, der seinen Edelpyjamas trägt. Er wirkt darin wie der Pate in Francis Ford Coppolas gleichnamigen Filmen, die er übrigens zu seinen Lieblingsfilmen zählt. 24 Vito sagt selbstbewusst über seinen Vater: „We’re best friends; we travel the world looking at art and buying art. I help him and he helps me“, zit nach Spencer Morgan, The Schnabel Family, in: The New York Observer, 17. Dezember 2006, auch auf http://www.observer.com/ node/36444#, 16.2.2010. 25 Vgl. Bowie 1998, (wie Anm. 7). 26 So wurde Schnabel für eine Episode der 9-teiligen Kunsterziehungsfernsehserie Masterclass als ‚Professor‘ auserkoren, der den vielversprechenden jungen Künstlern im Fernsehen Einblicke in sein Atelier sowie gute Tipps für deren künstlerische Arbeit gibt; vgl. Masterclass, HBO, Ausstrahlung 27. Juni 2010, auch auf http://www.simongoodmanpictures.com/ Masterclass.html, 19.8.2010.

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jener Oscar-Saison im Februar 2008 eröffnet, als Schnabels Film Le Scaphandre et le Papillon nominiert war.27

allegorisches selbstporträt Blicken wir auf Schnabels malerische Produktion, so finden wir bis in die 2000erJahre kaum Selbstporträts, obwohl das Porträtieren durchaus zu seiner künstlerischen Praxis zählt. Neben zwei sogenannten Tellerbildern28 gibt es davor nur ein Bild, das Schnabel als „a very emblematic painting for me about who I am“ beschreibt.29 Es handelt sich um eine Darstellung des Heiligen Sebastian als Torso, die im Titel den Namen des Heiligen und Schnabels Geburtsjahr trägt (Abb. 1). Die Märtyrerlegende des Heiligen kennt eine lange Bildtradition. Seit der Renaissance wird die SebastianFigur als kaum bekleideter Mann visualisiert, der sich von Pfeilen durchbohrt an einem Baumstamm oder einer Säule räkelt.30 In der zeitgenössischen Kunst hat sich die Heiligenlegende mit zusätzlichen Bedeutungen angereichert. Mittlerweile gilt die Sebastian-Figur als „Schutzheiliger der Soldaten, der Homosexuellen, der Pest- und AIDSkranken“ und steht personifiziert als „sadomasochistische Ikone, todesverliebter androgyner Dandy, Verkörperung des exemplarisch leidenden Künstlers“.31 Julian Schnabels Sebastian-Darstellung fehlen diese homoerotisch begehrlichen Konnotationen, denn sein überaus lang gestreckter Torso sieht wie ein Fleischbrocken aus und hat kaum etwas Lebendiges oder Begehrliches an sich. Die Pfeile wirken wie Schnitte und markieren einen verletzten Torso. Die rechte Hüfte wirkt wie abgebissen und der linke Arm und Hals sehen wie abgeschnittene Baumstämme aus. Das Bild hat eine rosa, rote und braune Farbgebung, was die Darstellung als eine geradezu blutige Angelegenheit erscheinen lässt, wohingegen die herkömmlichen SebastianFiguren eher blutleer und bleich wirken. Im Gegensatz zu den meisten SebastianDarstellungen, in denen der männliche Körper zwar ein verletzter, aber vollständiger Körper mit leidendem Gesichtsausdruck ist, wirkt Schnabels Fragmentierung auch wie eine malerische Erkundung, die sich auf die Geschichte der Skulptur bezieht.32 Durch den gemalten Torso stellt der Künstler eine intermediale Verbindung zwischen Malerei und Skulptur her. Darüber hinaus suggeriert der Titel ein Bild des Leidens, 27 Chris Lee, Schnabel’s ‚Day Job’, in: Los Angeles Times, 23. Februar 2008. Bildende Kunst und Hollywood-Industrie verbinden sich auch in Schnabels neuester Aktivität als Kurator der Dennis Hopper-Retrospektive im Museum of Contemporary Art in Los Angeles. 28 Self-Portrait by a Red Window (1982) sowie Self-Portrait in Andy’s Shadow (1987). Eine Referenz, die nicht nur auf den Künstler, sondern auch auf den Superstar Andy Warhol verweist. 29 Schnabel zitiert in Bowie 1998 (wie Anm. 7), S. 31. 30 Zur Hl. Sebastian-Ikonographie vgl. Joachim Heusinger von Waldegg, Der Künstler als Märtyrer. Sankt Sebastian in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Worms 1989, S. 14–20. 31 Pressemitteilung zur Ausstellung Heiliger Sebastian. A splendid Readiness for Death, Ausst.Kat. Kunsthalle Wien 2003/04, Bielefeld 2003. 32 Vgl. Werner Schnell, Der Torso als Problem der modernen Kunst, Berlin 1980. Neben der Malerei produziert Schnabel ähnlich wie Baselitz oder Lüpertz auch Skulpturen.

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1 Julian Schnabel, St. Sebastian – born in 1951, Öl und Wachs auf Leinwand, 1979

das jedoch nicht durch Mimik oder Gestik einer Figur dargestellt, sondern durch den Titel allegorisch deutbar wird. Die Kombination des Heiligen mit Schnabels Geburtsjahr suggeriert eine Identifikation des Künstlers mit dem Märtyrer und erzeugt somit die Vorstellung vom leidenden Künstler. In diesem Sinne kann es als ein allegorisches Selbstporträt gedeutet werden, welches mit mythologischen Versatzstücken arbeitet. Heusinger von Waldegg erkennt darin auch den Zeitgeist, wenn er schreibt: „Schnabels ‚Sebastian‘ steht als Prototyp einer Mythenerneuerung und Wiederbelebung von Legendenstoffen, welche das Sujet in der New Yorker Kunstszene (…) seit Mitte der 70er (…) zum Modethema der Malerei avancieren lässt.“33 Die ästhetischen Stilisierungen von Märtyrerfiguren gehören ähnlich wie Christusdarstellungen zur „Leidensideologie des Künstlers,“ die laut Neumann „mythische Züge“ aufweist. „Diese bleiben auch dort noch sichtbar, wo neue ‚Messias‘- und Märtyrerpersönlichkeiten in den Künsten auftauchen, die frei von konfessionellen

33 Heusinger von Waldegg 1989 (wie Anm. 30), S. 11.

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Bindungen (…) sind.“34 Zudem wird der Interpretationsspielraum des leidenden Künstlers erweitert. Denn das Leiden steht bei Schnabel nicht mehr mit Geldnöten in Verbindung. Der Mythos vom Künstler als Bohemien, der noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts in New York Gültigkeit besaß, ist ausgelebt. Wir befinden uns im Zeitalter der Celebrities und Schnabel ist ein erfolgreicher Leidender.35 Sein Leiden steht eher mit der Exponiertheit eines erfolgreichen und massenmedial agierenden Künstlers in Verbindung. Diese Interpretation lässt sich auch einige Jahre später in der inhaltlichen Ausrichtung seines ersten Filmes Basquiat (1996) erkennen.

alter ego im film Julian Schnabel behält als Regisseur und Drehbuch-Co-Autor die Oberhand über die Erzählung und die Perspektivierung der Lebensgeschichte seines Künstlerkollegen Jean-Michel Basquiat. Er konzentriert sich darin nicht nur auf Basquiats Leben, sondern vor allem auf dessen Werdegang und die Machenschaften des New Yorker Kunstmarktes, der im Handumdrehen aus Künstlern Stars macht, um diese dann auch wieder fallen zu lassen. Kurzum, es geht um ‚the rise and fall of an art star‘. Diese Kunstmarktparabel steht für Schnabels eigene Karriere natürlich genauso wie für Jean-Michel Basquiats. Der Kunstgriff des Künstler-Biopics erlaubt Schnabel, auch seine Geschichte zu erzählen und so auf Umwegen mit dem Kunstmarkt abzurechnen. Dies wurde teils stark kritisiert und hatte zudem politische Sprengkraft, weil Schnabel als weißer Künstler die Geschichte eines schwarzen Künstlers nicht nur erzählt, sondern diese auch als Plattform zur Selbstdarstellung nutzt. Schnabel prägt indes nicht nur die narrative Perspektivierung des Films, sondern malt auch die Bilder seines Kollegen (als Filmausstattung) und schreibt sich überdies selber eine Rolle als Filmfigur, der er jedoch das Pseudonym Albert Milo gibt. Albert Milo wird gespielt von Gary Oldman. Er ist zwar physisch ein etwas schmächtiger Julian Schnabel, aber er arbeitet wie dieser und stellt bei Mary Boone aus, er ist erfolgreich, extravagant, von sich überzeugt wie Schnabel, und er malt in Schnabels realem Atelier, das hier zur Filmkulisse wird. Zudem wird er als Basquiats väterlicher Künstlerfreund inszeniert – eine Sicht, die eher Schnabels Perspektive widerspiegelt und in der Literatur zu Basquiat nicht zu finden ist.36

34 Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt am Main/New York 1986, S. 82. 35 Laut Schnabel wurde das Bild St. Sebastian–born in 1951 sofort für 1200 $ verkauft. Einige Jahre später hat er es für 90.000 $ wieder zurück gekauft. Es ist bis heute in seinem Besitz und hängt über seinem Bett im Schlafzimmer in Nachbarschaft eines Picasso-Bildes. Vgl. Ingrid Sischy, Artist in Residence, in: Vanity Fair, März 2008, auch auf http://www.vanityfair. com/culture/features/2008/03/schnabel200803, 12.8.2010. 36 Weiterführend vgl. Doris Berger, Projizierte Kunstgeschichte. Mythen und Images in den Filmbiografien über Jackson Pollock und Jean-Michel Basquiat, Bielefeld 2009, S. 153–280.

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kleider machen künstler Neben der narrativen Selbstdarstellung dient auch die Bekleidung zur Selbststilisierung. Kleidung ist ein wichtiger Teil des Ausdruckes von Individualität und Kreativität und gehört somit zu jenen Elementen, die bei der Evaluierung der Selbstinszenierung eines Künstlers oder einer Künstlerin in Betracht gezogen werden müssen. Amelia Jones benennt mit dem Künstler als Arbeiter oder als Dandy zwei vorherrschende Bekleidungstypen von (männlichen) Künstlern in der Moderne, die sich beide von der Bourgeoisie abzuheben versuchen: „The adoption of particular types of clothing, (...) is a primary mode of marking the artist‘s alignment with one or another of these ‚anti-bourgeois’ identities.“37

2 Julian Schnabel und Gary Oldman im Sarong, Filmproduktionsstill aus Basquiat, 1996

Die antibürgerliche Ausrichtung der Kleidung zur Markierung des Künstler-Seins findet sich unter anderen Vorzeichen auch in Schnabels sprichwörtlichem ‚selffashioning‘ wieder. In einem Still der Filmproduktion Basquiat (Abb. 2) sind Schna37 Amelia Jones, ‚Clothes Make the Man’. The Male Artist as a Performative Function, in: Oxford Art Journal 18/1995, H. 2, S. 18–32, hier S. 19.

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bel und Oldman in übereinstimmender Garderobe am Filmset zu sehen. Oldman wie Schnabel tragen ihre Schuhe ohne Socken sowie einen Sarong, ein Wickeltuch, das in Asien zwar von Männern und Frauen getragen wird, aber in den USA ein eher ungewöhnliches Kleidungsstück für einen Mann ist. Schnabel setzt sich selbst und sein alter ego mit diesem Outfit von bürgerlichen Kleiderkonventionen ab. Durch das aufgeknöpfte Hemd betont er dabei seine Männlichkeit. Er scheint weniger um eine Inszenierung sexueller Uneindeutigkeit zu gehen, als vielmehr darum, dem Künstler einen Hauch von Exotik zu verleihen. Dazu passt auch das ebenso verbreitete Surfer-Outfit (Abb. 3). Schnabel tritt mit zerwühlten Haaren, in Bermudas bzw. Badehose, lockerem Hemd, umgehängter Sonnenbrille, Vans-Schuhen oder sogar barfuß für Fototermine auf. Der Künstler trägt nicht mehr die Arbeitskleidung eines Jackson Pollock – T-Shirt und Jeans – sondern ein Outfit, das man mit Urlaub assoziiert. Er inszeniert sich selbst als einen Kontrapunkt in der luxuriösen Welt, die er gestaltet.38 Im Gegensatz zu den queeren Selbstinszenierungen Andy Warhols oder den dandyesken Ansätzen eines Jean-Michel Basquiat oder eines Francesco Clemente bleibt bei Schnabel die heterosexuelle Matrix erhalten. Dabei unterscheidet er sich deutlich von den heterosexuellen Geschäftsmann-Attitüden eines Jeff Koons. Vielmehr betont Schnabels Kleidung eine sinnliche und emotionale Ebene, die besonders im Vergleich mit den Künstler- und Celebrity-Dresscodes von New York bis Los Angeles hervorsticht.39 Schnabels Kleidung ist ein Statement, das seine Unabhängigkeit von gesellschaftlichen (Kleider)konventionen markiert. Wie strategisch das ‚Self-fashioning‘ eingesetzt wird, fällt insbesondere durch eine Starfotografie auf, auf der er plötzlich – abweichend von seinen üblichen Stilen – in Schwarz gekleidet ist und eine große Ähnlichkeit mit dem berühmten Regisseur Orson Welles aufweist. Diese Inszenierung referiert auf einen Filmemacher, der sich nicht in Schranken weisen lässt, aber für qualitativ hochwertige Filme steht. Es ist ein referenzielles Starporträt, das Schnabels Image als künstlerischer Filmemacher ebenso bestätigt wie sein Surfer-Outfit die Freiheitsliebe des Künstlers suggeriert. Nichtsdestotrotz besteht Schnabel immer wieder darauf, als Maler gesehen zu werden und begründet seine filmische Praxis mit seiner malerischen Praxis, wenn er erläutert: „Most directors use a literary and linear map, I use a painter’s map. What I choose to look at, what I illustrate by music, where I put the camera, it’s all painterly. If rain isn’t in the script, and it starts raining, I don’t stop. I go with the rain.“40 Er betont hier seine Spontaneität, die in der Produktionslogik 38 Die Figur des Surfers ist zudem eine Metapher für Freiheit, die auch im Basquiat-Film als Found Footage eines Wellenreiters mehrmals zum Einsatz kommt. Der Wellenreiter suggeriert Freiheit, die er aus der Kraft der Natur schöpft. Mythische Künstlervorstellungen des Außenseiters der Gesellschaft werden hier um zeitgenössischen Jugendkult ergänzt. 39 Ein anderes frappantes Kleidungs-Signé ist der Pyjama, den er mitunter unter einem Sakko auf Eröffnungen und Filmpreisverleihungen trägt. Darüber polemisiert fast jeder Artikel und als Anekdote ist zu erwähnen, dass seine Frau Olatz ein Geschäft in New York besitzt, in dem sie diese Edelpyjamas verkauft. Er macht somit auch Werbung für diesen Laden, vgl. http:// olatz.com/?load=flash, 19.10.2010. 40 Julian Schnabel zitiert in Sean O’Hagan, Canvassing Support, in: The Observer, 26. Oktober 2003.

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3 Julian Schnabel barfuß im Gramercy Hotel, New York, 2006

der Filmindustrie schwer möglich ist. Auf diese Weise bringt Schnabel seine filmische Praxis mit einem expressiven Malgestus in Verbindung und zeichnet sich – im Mythenjargon gesprochen – als Virtuose aus.

schnabelesque räume Ein weiteres kreatives Betätigungsfeld, das Schnabel zur Selbstdarstellung nutzt, sind Inneneinrichtungen. Neben seinen Häusern und Ateliers gestaltete er das Modegeschäft von Azzedine Alaia, das Gramercy Parkhotel (Abb. 3) und kürzlich setzte er sich ein Denkmal mit seinem eigenen Künstlerhaus in New York, das er Palazzo Chupi nennt.41 Das Gebäude sticht bereits von außen in der New Yorker Skyline durch seine venezianischen Anklänge und die Farbe Pink hervor. Und auch die Inneneinrichtung ist eindeutig ‚schnabelesque’. Er designt Möbel und entwickelt einen Einrichtungsstil, der schlichtweg durch Grandezza besticht. Zudem integriert er in seine Interieurs immer auch seine Malerei sowie Kunstwerke seiner Vorbilder. Mitch Brown räsoniert über den Palazzo Chupi: Es sei “more than a building, it is a declaration. JULIAN SCHNABEL CREATES HERE.”42 David Bowie interpretiert bereits 41 Chupi ist angeblich Schnabels Kosename für seine Frau Olatz López Garmendia, vgl. Penelope Green, The Painter and the Pink Palazzo, in: The New York Times, 13. November 2008. 42 Mick Brown, Julian Schnabel. Larging it, in: Telegraph, 19. Januar 2008. Neben Schnabels eigener Behausung bietet der Palazzo Chupi auch luxuriöse Eigentumswohnungen, wie eine dramatisierende Inszenierung auf der Werbehomepage zeigt, vgl. http://palazzochupi.com/, 27.8.2010.

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Schnabels vorheriges Zuhause als ein Künstlerporträt, eine Beobachtung, die ebenso gut auf sein neues Haus übertragen werden kann: „By using Gulliver-scale cupboard and door constructions, fantastical bric-à-brac combinations, exquisite market-found fabric juxtapositions and immensely comfortable Schnabel-made beds and furniture, all on a heroic scale, he has manufactured a portrait of his very being that defies comparison. By simply walking through the door you are reading the man in ways that could not be accessed by any verbal or written description.“43 Schnabel sichert sich damit auch einen Platz in der Geschichte der Künstlerbehausungen, die von Giorgio Vasari in Arezzo, Hans Makart in Wien, Franz Stuck und Franz von Lenbach in München, Frida Kahlo und Diego Rivera in Mexiko City zu Donald Judd in New York und Texas reicht.44

modebewusste selbstporträts Kommen wir zum Abschluss zurück zur Malerei. In seiner malerischen Praxis tauchen in den 2000er-Jahren mehrere Selbstporträts auf, auf denen sich Schnabel nun nicht mehr im allegorischen Sinne, sondern eindeutig als Maler in unterschiedlichen Outfits darstellt. Obwohl sein ‚Künstler-Ego‘ nie im Hintergrund stand, war es zuvor selten Bildthema seiner Malerei (Abb. 4). In diesem Selbstporträt steht der Künstler mitten im Bild mit einem Pinsel in der Hand. Seine Handbewegungen wirken manchmal etwas ungelenk. Auffallend ist, dass er in der Serie der Selbstporträts jedes Mal eine andere Kleidung trägt, vom Pyjama, Surfer-Outfit bis zum Malerkittel, wie wir ihn etwa von Gustav Klimt kennen. Innerhalb von Schnabels Bildrepertoire sind diese Bilder ungewöhnlich statisch und wenig expressiv. Die farbigen Hintergründe wirken zwar stimmungsgebend und betonen die Figur, aber fügen keine weitere Bedeutungsebene hinzu. Zudem gibt es keine – wie sonst im Schnabel-Bildvokabular – durchgestrichenen Augen, gemalten Wörter, übermalten Fotos, malereifremden Materialien wie Holz, Samt oder zerbrochene Teller, sondern ausschließlich Öl und Harz auf Leinwand.45 Schnabel scheint die zuvor in den Medien zurecht geschneiderten und aufgeführten Bilder seiner selbst nun in die Malerei zu transferieren. Seine multimediale Praxis hat in der Motivwahl jedoch keinen Platz, denn er malt sich nie als Filmemacher oder Innendekorateur, sondern immer als Maler mit Pinsel als unmissverständlichem Attribut, als ob er folgender Beobachtung eines Kritikers malerisch antworten würde: “While his life as a

43 Bowie 1998 (wie Anm. 7), S. 26. 44 Vgl. Eduard Hüttinger (Hg.), Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur Gegenwart, Zürich 1985; Hans-Peter Schwarz, Das Künstlerhaus. Anmerkungen zur Sozialgeschichte des Genies, Braunschweig 1990. 45 Zum Bilderüberblick vgl. Julian Schnabel. Summer. Pinturas 1982–2007, Ausst.-Kat. Tabacalera Centro Internacional de Cultura Contemporánea Donostia-San Sebastián 2007.

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4 Julian Schnabel, Untitled (Self portrait), Öl und Harz auf Leinwand, 2004

filmmaker may be threatening to eclipse his life as a painter, he still has his palette firmly in hand.”46 Die Bilder scheinen schlichtweg dazu zu dienen, sein Image als Maler innerhalb der Malerei zu affirmieren. Hierfür ist weniger seine künstlerische Handschrift als Referenz zu erkennen als sein Bildstatus als individueller Künstler, der sich von gesellschaftlichen Konventionen abhebt. Schnabels Image wird in diesen Bildern von den Hochglanzseiten der Magazine auf die malerische Leinwand transferiert. Im positiven Sinne könnte man diese Bilder mit Helmut Draxlers Thesen über das Dispositiv Malerei diskutieren. Er begreift darin die Malerei als Chance, die „kategorische Spaltung zwischen Kunst und Bildkultur zu unterlaufen, nicht indem Malerei mit versöhnendem Anspruch aufträte, sondern als historische Dimension eines Dispositivs, das sich auf Vermittlungs-, Vernetzungs- und Verhältnisformen gegründet hatte.“47 Schnabels malerische Selbstporträts stehen in direktem Verhältnis zu seinen Selbstinszenierungen als Künstler in Print- und audiovisuellen Medien. Sie referieren jedoch eher das performative ‚self-fashioning‘, als dass sie ihn als einen herausragenden Maler auszeichnen. Es stellt sich dadurch die Frage, welchen Mehrwert diese Malereien gegenüber den Selbstinszenierungen in Presse und Film mit sich bringen, zumal die Selbstporträts diese in keiner Weise im Medium Malerei reflektieren, ironisieren oder dekonstruieren, wie dies etwa bei Martin Kippenberger zu beobachten ist. Im Para46 Kennedy 2007 (wie Anm. 16). 47 Helmut Draxler, Malerei als Dispositiv. Zwölf Thesen, in: Texte zur Kunst Jg. 20, März 2010, H. 77, S. 38–45, hier S. 44 f.

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gone zwischen performativer Selbstinszenierung und malerischem Selbstporträt hat eindeutig die Malerei verloren. Es wird zu beobachten sein, ob Schnabels herausragende intermediale Kunstpraxis, die ihn zum ‚arteur‘ gemacht hat, sich nicht doch in traditionelle Auffassungen künstlerischer Produktion auflösen wird, in denen Julian Schnabel dann entweder ein romantisches Malergenie oder aber ein eigenwilliger Regisseur ist.

einführung alexis joachimides Die Auflösung traditioneller Bindungen und die Freisetzung des Individuums von konventionalisierten Zwängen, die sein Bemühen um soziale Anerkennung auf riskante Weise aushandelbar machen, gelten in der Soziologie allgemein als zentrale Merkmale, die die moderne Gesellschaft von traditionalen Gemeinschaften abheben. In diesem Prozess hat sich auch die gesellschaftliche Position des Künstlers gegenüber traditionellen Rollenzuweisungen grundlegend verändert. An die Stelle der weitgehend reglementierten Verkehrsformen, die dem Künstler in der Frühen Neuzeit einen festen Platz innerhalb städtischer Korporationen oder höfischer Patronagesysteme zuwiesen, trat mit der Ausbildung der modernen Marktgesellschaft eine prekäre Freiheit. Die von ihr eröffneten erweiterten Handlungsspielräume hinsichtlich sozialer Mobilität und Nonkonformität gingen einher mit einem erhöhten Risiko, an der nun zunehmend eigenverantwortlichen sozialen Verortung auch zu scheitern. Im Zuge dieser Entwicklung sahen sich Künstler bei ihrem Bemühen, gesellschaftliche Anerkennung und Auftraggeber zu finden, erstmals einer neuartigen Situation gegenüber, die von ihnen bisher nicht verlangte Fähigkeiten einforderte. Zuerst in den Metropolen Westeuropas, später immer weiter ausgreifend und schließlich die Zentren des Kunstbetriebs in Osteuropa erreichend, drängte ein in seiner sozialen Zusammensetzung erheblich verbreitertes Publikum auf den bislang eng beschränkten Kunstmarkt, während sich die traditionellen Formen der im persönlichen Kontakt hergestellten Patronage offensichtlich auf dem Rückzug befanden. Die wachsende Nachfrage nach Kunst realisierte sich zunehmend in Formen und Institutionen anonymen Charakters. Der Erfolg oder Misserfolg eines Künstlers hing damit nicht mehr allein an der Ausbildung konkreter handwerklicher und sozialer Fähigkeiten, die für eine durch Übereinkunft definierte Aufgabe als adäquat galten, sondern an seinem Vermögen, sich innerhalb eines fortschreitend differenzierten und anonymisierten Marktes selbst aktiv ein Publikum zu schaffen. In diesem Bemühen erweisen sich bis heute wiedererkennbare Muster einer performativen Ausgestaltung der eigenen Lebensführung als hilfreich bei der Kommunikation zwischen dem einzelnen Künstler und der Öffentlichkeit. Für die Konzeptualisierung solcher künstlerischer Praktiken hat sich der Begriff des sozialen Habitus im Anschluss an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu als eine besonders fruchtbare theoretische Reflexionsebene erwiesen. Zwar haben die Habitusformen, mit deren Hilfe Bourdieu bestimmte soziale Milieus identifizierte, ihren Ursprung in einem unwillkürlichen Sozialisationsresultat und stehen damit gerade nicht in der Verfügung seiner Protagonisten, aber eine solche handlungsorientierte Perspektive ermöglicht es, die soziale Logik auch in der willkürlichen Verwendung bestimmter Verhaltensmuster zu erkennen und sie auf ein zugrunde liegendes Modell zu beziehen. Angeregt durch Bourdieu haben sich in den letzten Jahren eine ganze Reihe

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kunsthistorischer Forschungsprojekte mit der Rekonstruktion solcher über die Aneignung spezifischer Habitusformen kommunizierender Künstlerstrategien im modernen Kunstbetrieb beschäftigt. Schon im Laufe des 18. Jahrhunderts ist es zur Ausbildung eines breiten Spektrums unterschiedlicher Beispiele für die Imitation fremden Sozialverhaltens in der Lebensführung von Künstlern gekommen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden diese zunächst individuell und ad hoc aufgegriffenen Vorbilder allmählich durch feste Stereotype ersetzt, die wie der Bohemien oder der Dandy auf eine literarisch präformierte Kodifizierung von Kultfiguren zurückgingen, statt sich unmittelbar auf die gesellschaftliche Wirklichkeit und dort vermutete Rezipientengruppen zu beziehen. Schon im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts immer häufiger nur noch als äußerliche Gesten kritisiert und durch eine Vielzahl von semantischen Modifikationen aktualisiert, haben diese Stereotypen des Kulturbetriebes sich trotzdem als äußerst zäh erwiesen und sind – zumindest in der populären Wahrnehmung von Künstlern – bis heute lebendig geblieben. Als Ausweg aus der Einengung durch diese geläufigen Wahrnehmungsmuster eines vermeintlich ,künstlerischen‘ Habitus blieb den Künstlern daher immer wieder nur der Rückgriff auf bisher noch nicht für eine künstlerische Rollenzuweisung genutzte Habitusformen, die im 20. Jahrhundert zunehmend auch aus dem sozialen Milieu gesellschaftlicher Randgruppen stammen konnten. Inzwischen erscheint das Gesamtbild der Rollenaneignungen und -zuschreibungen für Künstler über ihre Lebensführung kaum noch überschaubar. Eine nicht nur im Kunstbetrieb erkennbare Tendenz zur flexiblen Persönlichkeit, die sich den wechselnden Anforderungen des Marktes durch permanente Neuerfindung immer wieder zu adaptieren habe, lässt die Adoption stabiler Habitusformen durch Künstler zunehmend fragwürdig erscheinen. An ihre Stelle sind nur noch ausschnitthaft und vorübergehend angeeignete Versatzstücke der Verhaltensmuster unterschiedlicher gesellschaftlicher Referenzgruppen getreten, die die Künstler in ihrer öffentlichen Wahrnehmung als multiple Persönlichkeiten erscheinen lassen, die sich auch in der professionellen Kunstkritik kaum noch auf einen Begriff bringen lassen. Der deshalb häufig geübte Rückgriff auf traditionelle Künstlerstereotype unter dem Hinweis auf ihre gegenwärtige Hybridisierung ist ein Zeichen der Hilflosigkeit angesichts einer neuen, noch ungewohnten Unübersichtlichkeit.

artists as an elite – a solution or a problem for democracy?1 the aristocratism of artists

nathalie heinich “You will be our aristocracy!”, says David Séchard, a young printer, to his friend and future step-brother Lucien, a poet, in Honoré de Balzac’s Illusions perdues (1835).2 We can see here how an aristocratic model shifts onto the figure of the poet, a model which is both out-dated, since its reign belongs to the past, and still idealized, since this aristocratism is rather dreamed, turned into a metaphor – that of the poet. Besides the poet, the musician and the painter also find their place in this new imaginary hierarchy. In Balzac’s Gambara (1839), the genial but crazy composer “showed some nobility” in his manners, and in Jules Barbey d’Aurevilly’s A un dîner d’athées (1874), the ancient soldier who became a painter substitutes the pride of talent to his now useless nobility and military titles.3 The fact is that, from the second third of the 19th century, the Romantic movement gave birth to a new social category, that of ‘artist’, which, for the first time in western culture, brought together the various domains of creation, and sometimes, too, the interpreters or performers of music, theatre, dance. This trend towards aristocracy – even if merely fantasized – is of course limited by the closed nature of nobility, a well-protected category. Not everybody has the right to call himself a noble. Moreover, the aristocratic identity is fundamentally collective and grounded in the past, whereas the artistic identity, according to the new vocational regime of activity, is individual and turned to the proof of posterity. This is true even if the great artists of the past may be seen as the creators’ ancestors, inscribing them within a long-term history, where one feels to be but a link in the chain. Nonetheless, some aristocratic characteristics are present in modern artists. Among these number not only the prestige that surrounds them, but also the difficulty to draw the limits of their category, which makes them so difficult to count. Another common characteristic is the valorisation of disinterestedness, which, for noblemen as well as for artists, is the very opposite of bourgeois values. This is a crucial issue. The aristocratisation of creators is constructed not so much by imitating a now dethroned (even if still desirable) nobility, than by differentiating from a stigmatised bourgeoisie. The latter actually possesses power and money, but 1 2 3

For an extended account of the arguments presented in this essay cf. Nathalie Heinich, L’Élite artiste. Excellence et singularité en régime démocratique, Paris 2005. Translations from French literary texts into English are provided by the author. They might differ slightly from various available English editions of these texts. Cf. Theodor R. Bowie, The Painter in French Fiction. A Critical Essay, Chapel Hill 1950.

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not prestige. A bourgeois career is something that one can try to achieve, but hardly something that everyone dreams of. There is indeed a tension between artistic heroism and mercantilism, between “the heroic creators’ self-image and the impersonal commercialization of the market”, as the American historian Cesar Graña stated in his analysis of the opposition between bohemian and bourgeois in the republic of letters, underlining that it became a “social phenomenon”.4 Why does this shift to aristocracy rest so massively on the opposition with the bourgeoisie? It is because the latter may represent a foil to at least three categories. First, the fallen or disappointed aristocrats who, like Alfred de Vigny’s Stello (1832), consider art as a possible reconversion of their excellence: second, the young bourgeois who do not find in their familial destiny a proper ground for their ambitions, such as the hero of Gustave Flaubert’s L’Education sentimentale (1869) according to Pierre Bourdieu’s analysis.5 And third, those who hope to escape their popular origins through an artistic career, such as Garnotelle in the Goncourts’ Manette Salomon (1867). They all find their advantage in marginality, which blurs positions and creates improbable solidarities, in a shared disdain towards what appears as common, average, mediocre. Transposed onto the level of taste, this disdain turns into the avantgardist refusal of the cliché, appreciated both by illiterate ordinary people and by the Parisian bourgeoisie. Thus stereotypes, according to the italian historian Renato Poggioli, become “the modern form of ugliness”, in conformity with the very elitist dimension of the avant-garde.6 But beyond the refusal of the bourgeoisie, the swing of the Romantic generation towards vocation – no longer craft or profession – takes the form of a retreat out of ‘society’.7 By transforming the ancient elite or by denying the new middle class, the aristocratisation of art goes together with the renunciation of common values and established positions, that is, with an accepted – if not pursued – marginalisation. This is practically achieved in the vie de bohème and morally supported by the “realm of singularity”8. It means hate for that “so harmful society”, in the words of Alfred de Musset’s La Confession d’un enfant du siècle (1836), or refuge inside the famous ‘ivory tower’ of the poet, the artist, the scientist, evoked by Gérard de Nerval in Sylvie (1853). This is why the voluntary marginalisation of young heirs goes together with the idealisation of artistic values in place of aristocratic values. Thus privilege turns into 4 5 6 7 8

Cf. Cesar Graña, Bohemian versus Bourgeois. French Society and the French Men of Letters in the Nineteenth Century, New York 1964, p. 57. Cf. Pierre Bourdieu, Flaubert ou l’invention de la vie d’artiste, in: Actes de la recherche en sciences sociales 1/1975, No. 2, p. 67–94. Renato Poggioli, The Theory of the Avant-Garde. Translated from the Italian by Gerald Fitzgerald, Cambridge, Mass./London 1968, p. 39 and p. 124. These three poles of occupations in the field of arts have been defined in Nathalie Heinich, Du Peintre à l’artiste. Artisans et académiciens à l’âge classique, Paris 1993 and ibid., Etre écrivain. Création et identité, Paris 2000. With regard to the two major systems of qualification called “realm of singularity” and “realm of community” cf. Nathalie Heinich, The Glory of Van Gogh. An Anthropology of Admiration, Princeton 1996.

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innate gift, name turns into signature and renown, the elite of power turns into an elite of creation and a bohemian initiated circle, and the forbidding common work turns into the dismissal of financial income and the fostering of that immaterial remuneration called glory: “Today a great artist is a prince without titles, it means glory and fortune, the two main social advantages after virtue”, says baron Hulot in Balzac’s La Cousine Bette (1843). In such a perspective, interpreting the artists’ opposition to the bourgeoisie as a way to react against an actual exclusion – a way to “turn necessity into virtue”,9 as Pierre Bourdieu says – is not enough to explain such a massive and long lasting phenomenon. Such an interpretation reduces this opposition to its reactive and agonistic dimension, and the artist to a “resentment man” in Max Scheler’s words.10 It means neglecting the deep dynamics and the positive functions of this opposition, which allows the construction of a genuine identity for the artist, paradoxically defined both as marginal and elitist, that is singular and excellent at the same time.

for the sake of art “It’s a beautiful word: artist. As if someone said, intelligent”, Jules Janin wrote in “Being artist”, an article significantly published in the first issue of the journal L’Artiste in 1832.11 A year later, the same journal published the following satire, epitomizing the intertwining of art’s sake and the admiration for artists, and between the various fields of creation: “From ground level to attic, from stable to lodge, art reigns in any conversation (…); even grisettes, when having the honour to know some bearded figure, are wild about a word of art as of a new handkerchief (…); coachmen, cooks, waiters, grooms, usherettes, chair ladies, all kinds of people, be them males or females, all pretend to particular and independent opinions on popular dramas, pictures in the Salon, illustrated novels.”12 Not only do lower classes consider art as a value during the 1830’s, but also upper classes, from the time of the post-Napoleon era, according to some memorialists. This is coherent with the diffusionist model of moral evolution as described by Norbert Elias. ‘Civilized’ manners (here, more precisely, literate values) of the upper classes are progressively adopted by the classes immediately beneath them, then intensified by the former in order to distinguish themselves from the latter.13 9 Cf. Pierre Bourdieu, The Rules of Art. Genesis and Structure of the literary Field. Translated by Susan Emanuel, Stanford 1995. 10 Cf. Max Scheler, Ressentiment. Edited by Louis A. Closer. Translated by William W. Holdheim, Milwaukee 1994. 11 Jules Janin, Etre artiste, in: L’Artiste 1/1832, p. 1. 12 Quoted in Leon Curmer (ed.), Les Français peints par eux-mêmes. Encyclopédie morale du XIXe siècle, Paris 1839–1842, vol. 1, p. 382. 13 Cf. Norbert Elias, The Civilising Process. Translated by Edmund Jephcott with some Notes and Revisions by the Author, Oxford 1982.

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However, this remarkable promotion of ‘arts’ and ‘artists’ as a one and same category cannot be reduced to a mere ascension in the hierarchy of positions, allowing artists to be “often invited to dinners”, as Flaubert ironically wrote in his Dictionnaire des idées reçues (ca. 1850 ff.). More generally, what is at stake is an idealization of art, now extended beyond creativity to become a moral value. Thus the term ‘artist’ does not designate anymore a mere activity, but a way of being, a moral quality.14 Of course, this introduction of artists into the elite does not occur at the same rhythm in various circles. Theatre is a perfect melting-pot. The intellectual bourgeoisie also fosters inter-mixing. In the 1870’s, the salon of the publisher Charpentier and his wife brought together aristocrats, politicians, journalists, writers, painters, composers, actors, and singers. On the other hand, the traditional aristocracy enforced the limits of ‘good society’ by keeping distances. Artists might be invited, but would never be granted a visit.15 This ambivalence of the status of creators – and especially of painters because of their formerly humble origins, their work having pertained to the medieval category of the ‘mechanical arts’ – induces a number of misunderstandings about the position of art in the 19th century. The first confusion consists in believing that the status of a painter was unjustly despised, since bourgeois parents refused it for their children. But the accurate interpretation is the opposite: Artistic vocation had just been elevated to a higher status than it had been granted for centuries, so that, for the first time, the heirs of good society could wish to attain it, contrary to more ambitious or less uncertain familial aspirations. The resistance of their parents should thus be analyzed as a reaction to the attractiveness of these occupations, that is, their new prestige. This discrepancy between a previously inferior status and a recent prestige explains the lure of young gentlemen for an artistic career considered as opposite to bourgeois life and, at the same time, the refusal of such a career by their families. The ever higher social origin of artists also generates a paradoxical phenomenon, which usually induces another misunderstanding, due to the spontaneous but erroneous assimilation of artistic innovation with political liberalism. It is indeed difficult to admit the actual affinity between living a life of ease and affording aesthetic avantgardism, or else, symmetrically, between a conservative artistic position and a lowclass origin. But this phenomenon is easy to explain. In a vocational regime, the most traditionalist artists are those who owe their social position to the established system. That is the case for most academic artistes pompiers, usually coming from a rather low class. Instead, innovators, whose heritage permits them to distance themselves from the rules of the game, are able to experience new possibilities, matching better with their personal abilities than with usual expectations. This is particularly obvious in the case of the Impressionists. They took advantage of the general improvement in status in the hierarchy of activities, which attracted painters coming from the bourgeoisie, who could thus practice their act almost as 14 Cf. Alain Rey, Le Nom d’artiste, in: Romantisme. Revue du dix-neuvième siècle 17/1987, No. 55, p. 5–22. 15 Cf. Anne Martin-Fugier, La Vie élégante ou la formation du Tout-Paris 1815–1848, Paris 1990.

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amateurs, without being obliged to make all their living out of it. It helped them to transgress canons and to free themselves from traditions. Manet and Degas came from the upper middle class; Bazille, Sisley, Cézanne from the middle class; Pissarro and Monet from the lower middle class; Renoir was the only one who came from the lower class. Besides their subversion of the academic rules of figuration, they shared the same indifference towards the hierarchy of genres, as demonstrated by the near absence of any historical painting in their work, except a few attempts to be admitted to the Salon. History painting was replaced by minor genres more suited to their artistic research – landscape, portrait, still life, and genre painting. Such a liberty showed an emancipation of the traditional modes of recognition, which has a lot to do with the fact that most of them could expect other sources of income than their artistic activity, even if these sources were not always sufficient to live as comfortably as they had been used to.16 This is a partial but plausible explanation for the emergence of a new trend in art. And the ignorance or denial of this phenomenon comes from the modern valorisation of avant-gardes, based on the confusion between aesthetics and politics, artistic innovation and social progress.

elitist creators “I hate to associate with rabble, but I passionately desire its happiness as long as it means the humble”, Stendhal wrote in his Vie de Henry Brulard (1835). So did he beautifully explicate the ambivalence proper to the modern art world, split between distant idealization of the lower classes rooted in a hate of the bourgeoisie, and elitism anchored in art for art’s sake. Since Romanticism, the world of art swings between populism and aristocratism, both grounded in a solid disdain for the bourgeoisie. The latter is always negative, whereas art is always positive. In between, the extreme poles of the social scale swing between stigmatisation and valorisation, decaying or sublimated aristocracy, idealized or hated lower classes. While populism was markedly expressed by Claude-Henri de Saint-Simon and his disciples, aesthetic aristocratism found its most typical manifestation with Edmond and Jules de Goncourt, before being strongly transmuted in Friedrich Nietzsche’s philosophy. “One has to be an aristocrat to write Germinie Lacerteux”, declare the Goncourt brothers in their diary on September 10, 1866, thus expressing both their attachment to aristocratic Ancien Régime values and their shift towards the new values of creation. This double twist is proper to the romantic status of art, to which the famous brothers give an ideal-typical expression. Their love for the 18th century, as well as their fight to defend their noble title, show their fidelity to the Ancien Régime, their class contempt toward those painters as well as toward those writers who have to earn their living by depending on a publisher. Thus their aesthetical scorn for readers

16 Cf. Harrison and Cynthia White, Canvases and Careers. Institutional Change in the French Painting World, Chicago 1965.

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appears as a claimed hatred for lower classes, while admiration for artists appears as a claimed love for aristocracy. After having received some cousins of common birth, the Goncourt sigh: “A man of letters should use a pseudonym in order to disinherit the family of his own name” (June 23, 1856). To disinherit the family of one’s name is a remarkable combination of aristocratic ethics, based on an obligatory transmission of one’s name, and bourgeois customs, based on the voluntary transmission of material goods, that may sometimes be transmitted to others than one’s legitimate heirs. And this mixing is literally embodied in the creator, whose heritage consists not anymore in an inherited name, as for the nobility, nor in material goods, as for the bourgeoisie. It consists in the ‘name’ he makes by himself, in a double way, through his pseudonym if he takes one and, eventually, through his notoriety, that is his ‘renown’. Thus can he detach himself from the familial bounds as well as from his civil name, and almost choose his descendants, who will come not anymore out of heredity but out of election, through tastes and talents shared between aesthetes. One cannot express more clearly the way in which the artist – here represented by the man of letters – can now embody a kind of compromise between aristocratic and bourgeois identities, thus forming a hybrid, mainly defined by the ambition to be neither aristocrat nor bourgeois.

the ‘eliticisation’ of creators Such an ‘eliticisation’ of creators did not occur before the post-revolutionary period. Ancien Régime aristocrats happened to see artists only in the frame of courts. The few writers, musicians, or even painters who were appointed there might occasionally be granted a visit, but would rarely be accepted in court society. One century later, high rank creators were often admitted within high society, as testified by dictionaries and annuals. The 1908 edition of Qui êtes-vous? (Who are you?) mentions in the preface “artists, scientists, men of letters, teachers, civil servants, high clerics, firm directors, and important tradesmen, great socialites, deputies, senators, foreigners living in France, etc.” – note that creators come before aristocrats.17 The introduction of artists into mundane salons is proper to the 19th century. Belonging to this category was enough to grant some prestige, allowing entry into the new elite. The criteria for inclusion in high society changed in a few generations, so that it eventually accepted not only new categories, but also the very one which, since Romanticism, was supposed to ignore, or even to subvert, the established order. This ‘eliticisation’ of artists goes together with a shift toward new values, concerning the whole society. “Time is the only capital of those who have no other fortune than their own intelligence”, says David Sénard in Balzac’s Illusions perdues. This very sentence summarizes the swing to a new axiological world. To understand it, we have to take into account the polysemy of the word ‘fortune’, which means both luck and money. Before the Revolution, these two meanings were tied together by the nobil17 Cf. Christophe Charle, Les Élites de la République 1880–1900, Paris 1987.

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iary privilege. As soon as one was lucky enough to be born noble, one was sure to be granted some patrimony, and thus an income. In the democratic world inaugurated on the night of August 4, 1789, this privilege was not entirely suppressed, but it becomes possible and, moreover, legitimate to acquire a fortune and not anymore to inherit it – which dramatically increases social mobility. Then ‘fortune’ (that is income) depends much less on native ‘fortune’ (that is luck) than on work – be it the work of the previous generation for the bourgeois heirs. And work depends both on ‘intelligence’ (that is competence, talent, ability etc.), and on ‘time’, both the time spent at work (that is, intensity of labour) and the time one has to wait until being rewarded for one’s efforts (that is, patience). The democratic temporality is conjugated with the present and with the future of effort and investment, whereas the aristocratic one was conjugated with the past of ancientness. In that aspect, artists share the condition of any individual in a democratic regime, depending only on oneself, on one’s ability and capacity to last. But they also possess, as any aristocrat, the ‘luck’ of having been granted a native gift, independently from their merits. As long as they are able to cultivate it through their work, and patiently wait for recognition, their greatness will join the profits of one and the other regimes. But it is not so much their person which embodies such a greatness, as for the noble man or the dandy. It is their work, of which it must be noted that it became on the juridical level an “emanation of the person” during the 19th century.18 And this greatness does not provide profit anymore only to themselves, as at the time of privileges, but to all the people. This axiological revolution was certainly not completed, as political revolutions are, in a few months or a few years, but in a few generations. At each step it was confronted with reluctance, even from those who most benefited from it. Nonetheless, after the egalitarianism of the first revolutionary years, meritocracy eventually succeeded in substituting aristocracy on the value level – which is probably, beyond political changes, the most important outcome of the Revolution. And the best summary of such an upheaval is the substitution of the artist’s ‘name’ created by talent with the aristocratic ‘name’ received by birth, a very peculiar capital, which owes nothing to ‘fortune’ and all to ‘intelligence’ and ‘time’. Thus a new moral system sets up, fed not anymore with aristocratic arrogance, but with the quiet pride of he who achieves greatness on his own, without harming anyone.

life in the margins However, the main difference between the ancient aristocracy of nobles and the new aristocracy of creators is that the later lives in marginality, as popularized by ‘bohemian life’.19 Henry Murger’s Scènes de la vie de bohème (1848) offered its first novel18 Cf. Bernard Edelman, La Propriété littéraire et artistique, Paris 31999. 19 There have been plenty of studies on bohemia in the last generation, especially by angloamerican scholars; cf. Graña 1964 (see note 4); Malcolm Easton, Artists and Writers in Paris. The Bohemian Idea 1803–1867, London 1964; Timothy J. Clark, The Absolute Bourgeois.

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like form, mixing up painters and sculptors, writers and musicians. When trying to define La bohème by its positive characteristics, one may notice that bohemians were united first of all by the sake of art and, more precisely, by the belief in ‘l’art pour l’art’, the idea that artistic expression should not be submitted to any other end than itself. But let us rather define bohemia by that which it stands against, be it opposed to any career or to any power or deprived of money and of a place in social hierarchy. Here lies a major symptom of the swing to the “realm of singularity”, which fosters abnormality, innovation, originality, individuality, in a new avant-gardist ethic which becomes the very norm of artistic excellence. Then isolated genius appears superior to crowds and communities of peers, eccentricity to observance of canons, innovation to reproduction of models, marginality to conformity, prophetic artists to mundane artists, and the truth of posterity to blindness of the present. From now on artists are not anymore those who may, but those who must be singular, in whatever way possible, because it has become part of the normal definition of the category. This is one of the many paradoxes of the status of artists in the “realm of singularity”. They have to be – if one may say so – normally exceptional. Van Gogh paradigmatically embodies such a phenomenon. But the novelty in Van Gogh’s history is not primarily that he embodied the vocational artist. This model indeed had already occurred in history. The novelty is that, first, he embodied it as a norm and not anymore as an exception; second, that such a norm progressively extended to a wider public, instead of remaining confined to an initiated circle; and third, that it also supported the figure of misunderstood excellence, that is of injustice. Recognition had already been postponed to posterity in the case of writers, because of the affinity between literature and the vocational model of activity. It grounded in the notion of the ‘cursed poet’, prior to that of the ‘cursed artist’. The ancient and the new model of success – prosperity or posterity – are both present during the 19th century, but the modern conception tends to dominate, first for writers, later, with the passing of time, for painters and sculptors and for musicians. Remember Stendhal and his famous call to posterity opening the Souvenirs d’égotisme in 1821: “But the eyes who will read this are today hardly opened, I guess my future readers are twelve or thirteen years old (...) my one and only concern is to be reprinted in 1900.” Thus the notion of success changes in the very eyes of creators, from short term to long term, on the temporal level, and from the crowd to a small circle of experts, on the spatial level. In the last third of the 19th century, originality and eccentricity became qualities distinguishing, and distinguished by, those who were fond of modernity – connoisseurs as well as creators. Art entered, at least for specialists, this new axiological realm were exception is normal and contestation a rule. From this point onwards, the ‘curse’ of the poet or of the artist – all the more unrecognized by his contemporaries since he transgresses everyone’s law in order to open new ways – has become part of his normal definition. Artists and Politics in France 1848–1851, London 1973; Jerrold E. Seigel, Bohemian Paris. Culture, Politics, and the Boundaries of Bourgeois Life 1830–1930, New York 1986.

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excellence and democracy Split between fidelity to noble greatness and the democratic principles of equality of rights for all citizens, the 19th century hesitated between several criteria of greatness: birth, estate property, money, knowledge, talent, ability to social life. What might be a democratic theory of excellence? This is the very problem of 19th century society, not only through its political institutions but also through its deeper axiological principles. It is such a democratic theory of excellence that the Saint-Simonians tried to build up, as typically illustrated by Claude-Henri de Saint-Simon’s parable of bees and hornets. In L’organisateur (1819), he advocates the shift of traditional elites, grounded on birth and prestige, to new elites, grounded on social utility, and among them, “the most capable in sciences, arts, crafts, that is the three thousand foremost scientists, artists and craftsmen in France.” Thus was he – and not by chance – the first who glorified artists in that they embodied both the democratic ideal, because they fought for general interest, and aristocratic excellence, because they were legitimately superior. Such an unlikely conjunction will be reactivated by avant-garde partisans, from the middle of the 19th century to our present day. Only artists could make possible the dream of conciliating these antagonist values, much like Victor Hugo, for example, “whose person united the aristocratic singularity of the genius with the democratic capacity to echo a whole nation”, according to Mona Ozouf ’s beautiful summary.20 In other words, an artist is he who, in the collective imagination, unites the democratic longing for community with the elitist longing for singularity. This is because any vocation designates both excellence and singularity, as philosopher Judith Schlanger accurately noticed.21 This is the very ambivalence of vocational values, split between a universal right and a singular privilege. Vocational elitism unites with its opposite, the valorisation of individual merit and the possibility for everyone, even if by chance, to complete a fully achieved existence. This combination of aristocratism (excellence is innate), of democracy (everyone has a right to excellence) and of meritocracy (excellence depends on nothing but individual merit) defines the modern status of artists. It is of course logically contradictory, but logicism alone might persuade us that logics govern experience, and that a contradiction is a paradox to be reduced or dismissed by researchers. In the real world, a logical contradiction is an ambivalence, that is, the co-presence of heterogeneous values, which are to be explicated by researchers, and combined by actors. Here, this combination is performed by the very status of the artist, because it unites those various criteria of greatness – which explains its success and power in democratic societies. What brings art closer to aristocracy is, first, that talent is innate (vocational birth), and, second, that privilege is allowed not only to one individual but to a whole category (artists, creators in general). What brings it, at the opposite side, closer to 20 Mona Ozouf, Les Aveux du roman. Le dix-neuvième siècle entre Ancien Régime et Révolution, Paris 2001, p. 325. 21 Judith Schlanger, La Vocation, Paris 1997.

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democracy is, first, that greatness depends on personal merit (meritocracy) and, second, that everyone can reach it according to his efforts or luck. And what brings art furthermore to both aristocratic and democratic values is that excellence leans on singularity, meaning both exceptionality (excellence) and marginality (exclusion). Once ideally defined as singular, that is ‘out of the ordinary’, art trades its renouncement of power and social inclusion with its capacity to exemplify a privilege that democracy may accept, because it is neither aristocratic (without power), nor bourgeois (without inclusion). Hence these axiological dimensions lead to three ‘ideal types’ (in Max Weber’s vocabulary) of an artist, united in a strong though improbable chimera: the mundane artist, embodying an aristocracy now belonging to the past; the engaged artist, embodying a present time democracy; and the bohemian artist, embodying singularity projected into the future. Thus may be united – at least imaginarily – the three fundamental categories of greatness: privilege (aristocracy), merit (democracy), and grace (vocation). The result is a rather odd configuration, quite new in the history of western civilization, but so familiar today that we hardly realize how strange it is. Since the first post-revolutionary generation, we live in a world where part of the elite remains marginal, claiming the refusal of the very society which recognizes it, an elite which can be both excellent and democratic, with the condition that it remains singular. This is, indeed, a revolution – and no doubt it is still effective.

the generalisation of the artistic model “Do artists have the right to do anything?” This was the theme of a debate organized in April 2002 at the Palais de Tokyo in Paris, in front of an audience for which, obviously, the answer could only be positive. Artists thus appear as mandated to realize an all-powerful phantasm. But the most interesting fact is that this very question might be raised. Could it occur about any other social category without provoking stupefaction? The impunity of art allows authors, once recognized as artists, to benefit from a moral and juridical privilege not so much for what they make than for what they are, so that their very status is enough to protect them from suffering any legal proceedings in the frame of their activity. Such a privilege however can only be problematic in a society where the constitution has established that ‘no one is above laws’. How can inequality be justified? This is the fundamental question in democracy. During the Ancien Régime, when inequality was at the basis of social organisation, aristocratism offered part of the answer, since inequality was indexed to an innate greatness. Religion provided the remaining, owing to supra-human instances like divine will, temporality turned toward the beyond, or belief in eternal life as a transcendental way to reset justice (‘the last ones will come first’). This millenary configuration was violently subverted with the French Revolution, adding axiological reasons – tensions between fundamental values – to a historical and factual cause. Abolition of privileges, disenchantment of the world – with these two basic grounds of the democratic regime, inequality is no longer self-evident. It needs to

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be either suppressed or justified by merit, that is according to an individual greatness obtained through certain acts, and not anymore according to an inherited collective greatness or a status privilege. Aristocratic elitism, in which excellence requires not the singularity but the particularity of a privileged birth, symbolized indeed by an aristocratic ‘title’, was dismissed by the Revolution, substituted for a while by an egalitarian regime in which neither singularity nor excellence could find a place. This revolutionary egalitarianism resulted in the Terror, then substituted by the bourgeois compromise which eventually won, that is, democratic elitism, as a combination of individual excellence (merit) and equalization through conformity (money and all kinds of standards), typical of the “realm of community”. But this democratic form of elitism was probably not enough to satisfy any aspirations, since it was immediately complemented by artistic elitism. The latter also indexes greatness to merit, as democratic elitism, but replaces the egalitarian conformism with its contrary, that is, the requirement of singularity, the individualization of excellence as talent. So excellence through singularity compensates greatness by marginality and the loss of short term gratifications like money or power. In other words, the sacrifice of an establishment is compensated by the privilege of exceptionality. It thus doubly satisfies the need for justice, but in a very paradoxical way, though familiar since it has been ours for one century and a half, the way of a marginal elite. Since the generation of Romanticism, artists have been the very best incarnation of both the valorisation of singularity and the right to benefit from privilege. Allowing them a moral and juridical impunity,22 fostered by the “permissive paradox” of cultural institutions,23 but within the democratic sense of equity, since their marginality holds them apart from the advantages that ordinarily accompany one’s belonging to an elite. It seems as if, today, artists are supposed to realize, for the whole community, an all-powerful phantasm, the claim for a space of absolute freedom authorized to some of us because they belong to a category endowed by both birth and merit. Thus art happens to represent the improbable conjunction of two incompatible values, the democratic value, according to which anyone has the right to be an artist, and the aristocratic value, according to which any artist is – at least ideally – above norms and laws. This eventually raises two questions. The first is prospective: What may be the future of a society whose elite is identified with marginality? How can individuality become a common principle, singularity a norm, and transgression a model, without ruining the conditions of community, the definition of excellence, the limits of margin, the very notion of norm, and the efficiency of transgression? The second question is normative: How should we judge this strange phenomenon of an ‘artists’ elite’? Should we approve or disapprove this shift of privileges to artists with their assignation to singularity? Faced with such a delegation of a collective all-powerful phantasm and native greatness to a certain category, should we con22 About the juridical impunity in contemporary art cf. John Henry Merryman/Albert E. Elsen, Law, Ethics and the Visual Arts. Cases and Materials, New York 1979. 23 The notion of the “permissive paradox” has been developed in Nathalie Heinich, Le Triple jeu de l’art contemporain. Sociologie des arts plastiques, Paris 1998.

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sider it as the infantile remnant of an Ancien Régime nostalgia, as a minor harm with which democracy had better put up, or else, as a victory of the Nietzschean superman model, to which any society should aim? But answering such a question requires an axiological choice, a position about values. That is beyond the limit of the sociologist’s competence.

die legitimation des künstlerinnensubjekts zur weiblichen aktausbildung im zeitalter der akademien

carola muysers Ende des 18. Jahrhunderts vermittelten die neu gegründeten und reformierten Akademien ihren Kunstschülern ein neues Künstlerbild. Schrittweise wurden sie an das Ideal der professionellen, frei schöpferischen Künstlerexistenz herangeführt. Neben den Spezialfächern in den Akademieateliers und -werkstätten stand das Studium des Akts, der Antike und der Alten Meister im Mittelpunkt des Ausbildungsprogramms. Es galt einer ausschließlich männlichen Studentenklientel. Frauen blieben komplett ausgeschlossen. So heißt es jedenfalls in der Literatur über die Künstlerinnen und die Akademien. Bei meiner Forschung über die Künstlerinnen an den deutschen Akademien bin ich zu einem anderen Ergebnis gekommen. Für den Zeitraum des späten 18. bis frühen 19. Jahrhunderts hatten rund 100 Frauen Zutritt zu den Akademien in Berlin, Dresden, Kassel, München und ferner Stuttgart. Zwar war keine der Künstlerinnen im offiziellen Aktunterricht zugegen, doch alle Schülerinnen absolvierten ein Kopierstudium. Diese weibliche Präsenz im Kopierunterricht steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der weiblichen Absenz im Aktstudium. Von daher stelle ich hier noch einmal die Frage, welche Rolle das Aktverbot für Frauen an den Akademien spielte. Dazu werde ich zuerst das weibliche Aktstudium beleuchten, mich dann auf das weibliche Kopierstudium konzentrieren, um abschließend auf einen singulären Fall in der weiblichen Aktausbildung zurückzukommen. Meine Betrachtung bezieht das akademische Ideal für die Künstlerinnen mit ein. Das akademische Aktverbot für Frauen, das bis ins frühe 20. Jahrhundert herrschte, hat keine rechtliche Grundlage. Nirgendwo in den Akademieregelungen ist davon die Rede. Somit muss auf die Entstehungsgeschichte des Aktstudiums geschaut werden, um die Zusammenhänge zwischen dem akademischen Aktunterricht und dem weiblichen Aktverbot richtig zu verstehen: Die allerersten neuzeitlichen Akademien in Florenz, Bologna und Rom hatten männliche und weibliche Aktmodelle.1 Mit Leonardo da Vinci wurde dann das männliche Primat und die hohe Wertigkeit der Aktausbildung festgelegt.2 Er erklärte den nackten männlichen Körper zum Ideal, nach dem die Künstler studieren sollten. Diese geschlechtliche Ausschließlich1 2

Eva Maria Froitzheim (Hg.), Körper und Kontur. Aktstudien des 18. bis 20. Jahrhunderts aus dem Kupferstichkabinett, Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe 1994, S. 10. Barbara Eschenburg, Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier, in: Pygmalions Werkstatt. Die Erschaffung des Menschen im Atelier von der Renaissance bis zum Surrealismus, Ausst.-Kat. Lenbachhaus München 2001, Köln 2001, S. 13–54, hier s. S. 20; Der nackte Mensch. Aspekte der Aktdarstellung in der Kunst. Eine didaktische Ausstellung, Ausst.-Kat. Kunsthalle Bremen 1979, o. Pag.; S. 22.

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keit hatte Folgen. Die 1648 gegründete Pariser Académie Royale de peinture et de sculpture untersagte den Einsatz weiblicher Modelle und rief ihr Monopol auf das Aktstudium aus.3 Nur Akademiemitglieder durften Akte stellen und Unterricht abhalten, andere Künstler wurden bei Missachtung der Vorschrift strafrechtlich verfolgt. Den weiblichen Mitgliedern blieb das Aktprivileg vorenthalten. Aber nur ein einziges Mal wurde die Einschränkung protokollarisch dokumentiert: „Frauen können jedoch niemals dem Fortschritt der Kunst dienlich sein, da ihnen die Keuschheit ihres Geschlechts verbietet, in der von euerer Majestät eingerichteten Schule nackte Modelle zu studieren“, hieß es 1770 in einer Stellungnahme zu weiblichen Mitgliedern.4 Es waren also die Gesellschaft und ihre Moral, die das weibliche Aktverbot aufstellten und in die Akademien hineintrugen. Bis weit ins 19. Jahrhundert bestimmte eine einzige Konstellation das akademische Aktstudium: der männliche Künstler im künstlerischen Zwiegespräch vor dem männlichen Modell. Deutlich sehen wir das am Beispiel der berühmten Darstellung von Johann Zoffany, der die Gründer der Londoner Akademie beim gemeinschaftlichen Aktstudium festgehalten hat. Umringt von seinen Akademiekollegen doziert hier Sir Joshua Reynolds vor einem männlichen Akt. Es ist ein Diskurs, der den eigenen schöpferischen Fähigkeiten gewidmet ist. Ort des Diskurses ist der Aktsaal, wo die Initiation und Legitimation des Künstlers stattfand. Zurecht haben Linda Nochlin, Griselda Pollock und ihre Nachfolgerinnen darauf hingewiesen, dass hier kein Raum für Künstlerinnen war. So sind auch die beiden weiblichen Akademiegründer, Mary Moser und Angelica Kauffmann, auf Zoffanys Bild nur in Form ihrer Portraits an der Wand vertreten. Dass damit die komplette akademische Ausgrenzung der Künstlerinnen einherging, ist eine These, die seit Jahrzehnten die Künstler- und Künstlerinnenforschung beherrscht. Sie muss überdacht werden, denn die Künstlerinnen nahmen den Ausschluss vom akademischen Aktstudium nicht einfach hin.5 Im Gegenteil strebten sie um so mehr eine ernsthafte Aktausbildung an. Neuere und aktuelle Forschungen haben den Nachweis erbracht, dass Angelica Kauffmann, Elisabeth Vigée-Lebrun, Angélique Mongez, Marie Guilhelmine-Benoist, Nanine Vallain, Gabrielle Capet, Mary Moser, Pauline Azou, Louise Seidler und Marie Ellenrieder private Aktstudien nach Modellen beiderlei Geschlechts betrieben haben.6 Die Künstlerinnen organisierten 3

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Siehe Nikolaus Pevsner, Die Geschichte der Kunstakademien, (Academies of Art, Past and Present, 1940), München 1986, S. 104 und S. 109; Monika Knofler, Das Zeichnen nach dem Modell. Kontinuum und Bedeutungswandel, in: Das Bild des Körpers in der Kunst des 17. bis 20. Jahrhunderts. Zeichnungen aus dem Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien, Ausst.-Kat. Rupertinum Salzburg u. a. 2000, Zürich 2000, S. 10–21, hier S. 12; James Henry Rubin, Introduction, in: Academic Life-Drawing in 18th Century France, Ausst.-Kat. University Art Museum Princeton/N. J. 1977, S. 17–32, hier S. 18. Zitiert nach Susan Waller, Women Artists in the Modern Era. A Documentary History, Metuchen/N. J. u. a. 1991, S. 34. Peter Gorsen, Die zweifelhafte Freiheit des Aktmalens, Funktionen des weiblichen Porträts, sein subversiver Gebrauch, in: Gislind Nabakowski (Hg.), Frauen in der Kunst, Bd. 1, Frankfurt am Main 1980, S.110–118. Margret A. Oppenheimer, Women Artists in Paris 1791–1814, Dissertation Ann Arbor/ Mich. 1996; Astrid Reuter, Marie-Guilhelmine Benoist. Gestaltungsräume einer Künstlerin

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1 Giulia Lama, stehender männlicher Akt, 1720

sich selbst Aktmodelle, besuchten Übungen in Privatateliers, in den Werkstätten der Künstlerväter und männlicher Verwandter oder in Zeichenschulen.7 Dort studierten sie auch nach dem männlichen Akt, wie die Zeichnungen der Historienmalerin Giulia Lama aus der Scuola di Antonio Molinari in Venedig belegen (Abb. 1).8 um 1800, Berlin 2002; Anette Strittmatter, Paris wird eine einzige große Wunderlampe sein. Das Leben der Künstlerin Therese aus dem Winckel 1779–1867, Berlin 2004 und Bärbel Kovalevski, Louise Seidler 1786–1866. Goethes geschätzte Malerin, Berlin 2006. 7 Friedrich Noack, Modell und Akt in Rom, geschichtliche Studie, in: Der Cicerone, Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers und Sammlers 14/1922, H. 1, S. 141–150 und S. 195–202. 8 Vgl. Frances Barzello, Ihr eigene Welt. Frauen in der Kunstgeschichte, Hildesheim 2000, S. 56f.

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Auch das private Aktstudium verlangte nach Erklärungen, d.h. nach einem klärenden Diskurs. Angelica Kauffmann, die mit ihrem Studium nach männlichen Akten ins Gerede gekommen war, korrigierte beispielsweise den Vorwurf dahingehend, dass sie nur nach den Armen und Beinen eines älteren Modells und unter der Leitung ihres Vaters Studien betrieben hätte.9 Anna Dorothea Therbusch fand hingegen in Denis Diderot einen Verbündeten. Sie portraitierte ihn, während er in die Rolle des Aktmodells schlüpfte: „Als der Kopf fertig war, ging es um den Hals, den der Kragen meines Anzugs verbarg – und das verdroß die Künstlerin. Um diesen Verdruß zu beheben, ging ich hinter einen Vorhang, entkleidete mich und erschien vor ihr als Akademiemodell. Sie sagte zu mir: ‚Ich hätte es nicht gewagt, Ihnen das vorzuschlagen, aber Sie haben recht daran getan, und ich danke ihnen.‘ Ich war nackt – völlig nackt. Sie malte mich, und wir plauderten mit einer Unbefangenheit und Unschuld, die der ersten Jahrhunderte würdig gewesen wäre“, kommentierte das berühmte Modell.10 Ergebnis war ein Brustbild, das Diderots Nacktheit nur erahnen ließ. Ein geschickter Schachzug, der Malerin und Modell vor einer Rufschädigung schützte und Therbuschs Professionalität als aktmalende Vollblutkünstlerin betonte. Kauffmann, Therbusch und ihre Kolleginnen hatten ihre eigene Strategie für ihr Aktstudium entwickelt. Es war das Gegenstück zur offiziellen männlichen Aktausbildung. Das akademische Aktverbot rückte ein anderes Akademiefach in den Vordergrund: den Kopierunterricht. In den Akademiesammlungen und Museen waren seit Ende des 18. Jahrhunderts Kopierschülerinnen zugegen. So öffnete Johann Heinrich Tischbein um 1770 seine Malereiklasse an der Kasseler Akademie für seine Tochter Amalie Tischbein-Apell, die Historienmalerin Elisabeth von Boor und die Landschaftsmalerin Johanna Elisabeth Schmerfeld. Zum Unterricht gehörte das Studium der Alten Meister und der Antiken. Das Berliner Akademiemitglied Daniel Chodowiecki unterwies um 1784 unter anderem seine Tochter, die Portraitmalerin Suzette Henry, und die späteren Akademiemitglieder, die Hofmalerin Jeanette von Sydow (Nohren) und die Porträtistin Félicité Tassaert, im Kopieren. Der Dresdner Akademieprofessor Anton Graff betreute 1787–1800 das Kopierstudium von Tassaert, der Landschaftsmalerin Johanna Maria Freystein und der Malerin Johanna Rabenstein; die letzten beiden waren offiziell eingeschriebene Akademieschülerinnen. In München waren von 1808 bis 1838 mehr als 50 Schülerinnen an der Akademie immatrikuliert und nahmen am offiziellen Studienprogramm teil. Dazu zählten Übungen nach den Alten Meistern und der Antike.

9 Bettina Baumgärtel, Die Anatomie des Nackenden. Aktzeichnungen von Angelika Kauffmann (1741–1807), in: Der weibliche Blick. Künstlerinnen und die Darstellung des nackten Körpers, Ausst.-Kat. Stadtspielwerk Lindenbrauerei Unna 1990, Bochum 1990, S. 42–44; dies., Angelika Kauffmann (1741–1807). Bedingungen weiblicher Kreativität in der Malerei des 18. Jahrhunderts, Weinheim u. a. 1990, S. 80–90; Angelika Kauffmann, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf u. a. 1998/99, Ostfildern-Ruit 1998, S. 196. 10 Denis Diderot, Ästhetische Schriften, hg. von Friedrich Bassenge, 2 Bände, Berlin/Weimar 1967, Bd. 2, S.166f.

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Um die Bedeutung des Kopierunterrichts für die weibliche Klientel richtig zu ermessen, sind Details wichtig, die uns die Protokolle des Kopierunterrichts von Johann Christoph Frisch an der Berliner Akademie eröffnen. Durch die Akademiereform war das Kopieren zu einem der curricularen Hauptfächer aufgerückt.11 Es fasste Schüler und externe Künstler zusammen, die alle unter der Leitung von Frisch standen. Der Dozent sollte nach den Statuten „in der Mahlerey unterrichten, in den Sommermonaten beym Kopiren nach Gemählden auf Unserer Bilder=Gallerie bey Sanssouci Aufsicht führen, von den Fortschritten der jungen Künstler dem akademischen Senate monatlichen schriftlichen Bericht abstatten, in den Wintermonaten aber im Lebenszeichnen unterrichten, und so oft ihn die Reihe trifft, den Akt stellen“.12 Frisch, der auch für das Aktstudium verantwortlich war, war mit dem Aktverbot für die Künstlerinnen direkt konfrontiert. Dass er 1789 weibliche Schüler zum Kopierunterricht zuließ, versteht sich als seine Antwort darauf. Er und sein Nachfolger Gottlieb Puhlmann unterwiesen 30 Schülerinnen, darunter die Porträtistinnen Suzette Henry, Caroline Frank, Félicité Tassaert, die Miniaturmalerin Johanna Wahlstab-Knorre und die Malerin Auguste Klaproth. Akribisch dokumentierte Frisch die Fortschritte der Schülerinnen. So ist nachzulesen, dass Frank im Juni 1789 „unter Anstrengungen“ den Kopf einer Nymphe von Rubens malte, ihn im Juli „mit großem Fleiß“ zu Ende brachte, im August ein Frauenporträt begann, im September und Oktober sehr viel übte, um im September 1790 ihre Leistungen sehr gesteigert zu haben. Oder dass im selben Zeitraum Wahlstab an einem Frauenkopf nach Rubens in Miniatur „genügend arbeitete“, ihr dann eine Madonna nach Reni „sehr gut gelang“ und dass sie bei einem Lockenkopf van Dycks „Fortschritte machte“.13 Frisch vertrat eine innovative Kopiermethode. Die Künstlerinnen studierten nach Vorbildern aus der „Schule der schönen Malerei“, des holländischen und französischen Barock, und setzten Historienmotive verkleinert, im Fragment und in verschiedenen Techniken um. Die eigenständige Kopierarbeit stand im Zeichen der Nachahmungstheorie von Johann Joachim Winckelmann und der Kopieranleitung von Anton Raffael Mengs.14 Das Imitieren und das akribische Abzeichnen interessierten weniger, vielmehr sollten ein eigener Ansatz und Stil entwickelt werden. Bei der Professionalisierung der Künstlerinnen spielte auch der Ort der Kopierausbildung, das Museum, eine ganz wesentliche Rolle. Die Berliner Studentinnen arbeiteten in der Potsdamer Gemäldegalerie, einem Museumsbau von Johann Gottfried Büring aus dem Jahr1763. Mit der Wiener Stallburg, dem Kasseler Friedericianum, der Dresdner Gemäldegalerie und dem Louvre gehörte die Galerie zu den ersten Mu11 Strittmatter 2004 (wie Anm. 6), S. 53. 12 Johann Christoph Frisch, Akte „Malen und Zeichnen in den Schlössern und in Sans-Souci“, in: Archiv der Akademie der Künste Berlin, Nr.187 (Kopieren von Gemälden in Schlössern und Gärten 1786–1826), Fiche 1. 13 Einträge vom Juni und August 1789, in: Frisch 1786–1826 (wie Anm. 12). 14 Vgl. zuletzt Christoph Helm, Bildung und Ausbildung im 18. Jahrhundert, in: Zeichnen, Malen, Bilden, Denken. Kunstakademie und Aufklärung im 18. Jahrhundert, Ausst.-Kat. Winckelmann-Museum Stendal 2005, Ruhpolding/Mainz 2005, S. 13–22; zu Mengs‘ Kopieranleitung bes. Strittmatter 2004 (wie Anm. 6), S. 27–30.

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seen Europas. Hier stellte der preußische König seine Sammlung für Bildungszwecke und das Kunststudium zur Verfügung.15 Interessierte Besucher mussten den Zutritt beantragen, Kopierende meldeten sich über die Akademie an.16 Der Bestand umfasste Gemälde von der Renaissance-Epoche bis zum Rokoko. Die Kollektion der Historienbilder, Allegorien und Porträts ermöglichte nicht nur das Studium der Perspektive, der Komposition und des Stils der Alten Meister. Ebenso eröffneten die Werbe-, Liebes-, Kampf-, Flucht- und arkadischen Szenen den Blick in eine Motivwelt, die nicht unbedingt zur damaligen weiblichen Allgemeinbildung, wohl aber zum Repertoire einer professionellen Kunstausbildung gehörte. Mit dem breit angelegten Kopierunterricht leistete Frisch Pionierarbeit. Er deckte einen wichtigen Teil des akademischen Fächerrepertoires ab und wurde für die Studentinnen zur Ersatzleistung, was insbesondere das Aktstudium betraf. Wie weit das Kopierstudium mit dem Aktstudium ineinander greifen konnte, veranschaulicht das Beispiel der Malerin Margarete Geiger. 1806 und 1807 besuchte die Porträtistin die Münchner Hofgartengalerie und übte sich unter der Anleitung des Galerieinspektors und zukünftigen Akademiegründers Johann Christian Mannlich im Kopieren. Parallel dazu arbeitete sie in der Antikensammlung und wurde dort von Mannlich, dem Sammlungsleiter Andreas Seidl und dem zukünftigen Akademiedirektor Johann Peter Langer betreut.17 Zwar überlebte die 26-jährige die Gründung der Münchner Akademie 1808 nur um ein Jahr und wurde nicht wie andere Kolleginnen offiziell immatrikuliert. Doch war sie an den Gründungsgesprächen, die man teilweise in der Galerie abhielt, beteiligt. Das Kopieren stand im Mittelpunkt ihres Selbststudiums: „Ich bin fröhlicher als in Bamberg und kommt mir manchmal ein wehmütger Gedanke in den Kopf, so gehe ich in die Galerie und da verschwinden alle Grillen. Doch treten wieder andere an ihre Stelle, nämlich wenn man den ungeheuren Rubens aus allen seinen Bildern heraussprechen sieht (...) und man sich ärgert, daß man nur ein Gedanke von Mensch gegen ihn ist. Die Galerie besitzt 27 Stücke von ihm. Heute sah ich viele von der Düsseldorfer Galerie. Ich würde zu weit kommen, wenn ich Dir das alles beschreiben wollte, was mich schon so oft entzückte. Ich habe auch wirklich keine Zeit dazu, denn eine schlafende Bacchantin von Poussin, welche zum Küssen schön ist, habe ich heute morgen zu zeichnen angefangen und die wartet auf mich. Die Galerie ist von morgens 8–12 Uhr und dann von 2–6 Uhr geöffnet, und da wird gezeichnet, in Öl und Pastell gemalt von Alten und Jungen, von Bayern, Schwaben, Franzosen, Düsseldorfer Juden und einem Berliner Dachs (...) gestern besuchte ich wieder Herrn Mannlich, welcher mir anatomische Zeichnungen zum Nachzeichnen geben will.“18 15 James J. Sheehan, Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer zur modernen Sammlung, München 2002. 16 Sheehan 2002 (wie Anm. 15), S. 60f. 17 Vgl. Brief an die Schwester vom 14. September 1806 und an den Vater vom 8. November 1806, publ. in: Friederike Kotouc (Hg.), Margarete Geiger. Briefe der Malerin aus Würzburg, Bamberg, München und Wien an ihre Familie in Schweinfurth 1804–1809, Nürnberg 1987, S. 58 bzw. S. 62. 18 Brief Margarete Geigers vom 7. Juli 1806, publ. in: Kotouc 1987 (wie Anm. 17), S. 50.

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2 Nicolas Poussin, Midas und Bacchus, Öl auf Leinwand, 1625

Damit besuchte Geiger eine der besten Gemäldesammlungen, die Münchner Sammlung, die damals gerade durch die Düsseldorfer Gemäldegalerie erweitert worden war. Die Künstlerin sah u. a. die Gemälde von Rubens, zu denen etwa Der Raub der Töchter des Leukippos, Der trunkene Silen und Das jüngste Gericht gehörten. Diese Kompositionen und ihre Bilddramaturgie sind von kaum verhüllten männlichen und weiblichen Akten bestimmt. Von ebensolcher Relevanz ist Geigers direkte Kopiervorlage: Nicolas Poussins Midas und Bacchus, (Abb. 2). Zentrum des Gemäldes ist der athletische, vollkommen nackte Dionysos, wie er König Midas einen Wunsch freigibt, nachdem dieser ihm den trunksüchtigen Silen wieder zurückgebracht hatte. Am Boden ruht eine Bacchantin, deren Pose, Anatomie und Inkarnat einen perfekten weiblichen Akt abgibt. Auch Dionysos ist als idealtypischer männlicher Akt dargestellt. Selbst wenn Geiger nur von Zeichnungen nach der Bacchantin spricht, bot ihr das Gesamtmotiv den unverhüllten weiblichen und männlichen Akt. Die Alten Meister waren für Geiger und ihre Mitstreiterinnen eine unerschöpfliche Quelle, hier konnte man ungestört und moralisch unangefochten Aktstudien betreiben. Und genauso funktionierte das Antikenstudium. Dazu ließ Geiger verlauten: „Jetzt gehe ich täglich in den Antiken-Saal zu Herrn Prof. Seidl, da kann man von 8–½ 12 und von 2–5 zeichnen, kostet aber den Monat 1 Bayr. Taler, wo ich Anatomie und Antiken zeichnen kann“ und „Dabei fällt mir Schiller ein, ‚... und der Mensch versuche die Götter nicht‘ (...), doch ich studiere sie fleißig, nämlich im Antiken-Saal, wo ich schon einige Büsten nachgezeichnet habe und mich jetzt auch an ganze Figuren wagen will“, berichtete sie.19 Den Künstlerkollegen blieb es nicht verborgen, dass das Antikenstudium von den Frauen vereinnahmt wurde. Das nahm z.  B. der in England als Henry Fuseli be19 Brief Margarete Geigers an ihren Vater, publ. in: Kotouc 1987 (wie Anm. 17), S. 62

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zeichnete Schweizer Heinrich Füßli aufs Korn. Seine karikaturhafte Zeichnung, die wahrscheinlich 1803 in Paris entstanden ist, zeigt eine Betrachterin – evtl. sogar die Malerin Mary Cosway – vor der Laocoon-Gruppe.20 Unerbittlich die Reaktion der Frau auf den nackten Laocoon. Ihre geballten Fäuste und die vorschreitende und zurückschreckende Körperhaltung sind Ausdruck ihrer Faszination und ihres Entsetzens. Fuseli stellte die ‚ungewohnte‘ Wirkung der männlichen Nacktheit auf die weiblichen Betrachter bloß. Er sah die männlichen Antiken im Angesicht der Frauen zu nackten Männern „degradiert“. Auch hier ist der Ursprung des akademischen Antikenunterrichts zu sondieren. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts waren Übungen nach antiken Statuen Teil der akademischen Kunstausbildung.21 Die Antiken vermittelten ideale Proportionen und ideale Schönheit, so wie es das Aktstudium mit unvollkommenen lebendigen Modellen nicht leisten konnte.22 Im Unterschied zur Aktausbildung kamen die Künstlerinnen immer wieder in den Genuss dieses Ausbildungsbereichs. Mehr als 50 offiziell eingeschriebene Studentinnen hatten Gelegenheit zum Antikenstudium in der Münchner Akademiesammlung: „Abgüsse von fast allen berühmten Antiken fanden sich vor, so die in Deutschland bisher noch nicht gesehenen Dioskuren vom Monte Cavallo in Rom. Der schönste der beiden Pferdebändiger stand wegen seiner Höhe in einem besonderen Saal“, berichtete z. B. die Malerin Louise Seidler, die sich 1818 zum Studium eingeschrieben hatte.23 Auch in Dresden, wo das Studium der Antike und der Alten Meister zur höchsten Ausbildungsstufe gehörte, waren Frauen zugegen.24 Aus der Zeit vor 1829 berichtete ein Schüler über die täglichen Übungen: „Es war auch ein als Mann verkleidetes Frauenzimmer unter ihnen, ohne, dass man ihr Geschlecht kannte, das sich äußerlich sehr anständig betrug, aus Liebe zur Kunst nach den Antiken zeichnete und mit dünner Falsett-Stimme häufig das Lied sang: ‚Als Maler führ ich ein vergnügtes Leben‘.“25 Im selben Zeitraum nahmen Künstlerinnen am Antikenunterricht der Stuttgarter Akademie teil: „Das Leben im Antikensaal war oft ein ganz heiteres, da der Professor nur je einmal vor- und nachmittags zur Korrektur erschien und man sich den strengen Blicken durch Verschanzung hinter den großen Rahmen leicht entziehen konnte. In der Regel befanden sich auch Glieder des weiblichen Geschlechts mitten unter uns Kunstjüngern, die aber nicht immer übermäßig galant behandelt wurden, denn wie oft hörte man 20 Zu Fuselis Zeichnung vgl. Egbert Haverkamp-Begemann, Creative Copies. Interpretative Drawings from Michelangelo to Picasso, Ausst.-Kat. Drawing Center New York 1988, S. 165. 21 Carl Goldstein, A New Role for the Antique in Academies, in: Herbert Beck/ Sabine Schulze (Hg.), Antikenrezeption im Hochbarock, Berlin 1989, S. 155–171. 22 Marsha Morton, Imitating the Ancients. The Revival of Art in Northern Europe, in: Visions of Antiquity, Ausst. Kat. Los Angeles County Museum of Art 1993, S. 47–74, hier S. 59; Jürgen Schönwälder, Ideal und Charakter, Untersuchung zur Kunsttheorie und Kunstwissenschaft um 1800, München 1995, S. 32, S. 58, S. 77 und S. 99. 23 Kovalevski 2006 (wie Anm. 6), S.125f. 24 Vgl. Statuten der Dresdener Kunstakademie von 1814, § 6 und § 12. 25 Bernt Grönvalt (Hg.), Friedrich Wasmann. Ein deutsches Künstlerleben von ihm selbst geschildert, Leipzig 1915, S. 22.

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3 Luise Seidler, Sitzender männlicher Akt, schwarze und weiße Kreide, um 1820

den sonoren Refrain des bekannten Mantelliedes erschallen: ‚Schier dreißig Jahre bist du alt‘.“26 Der akademische Kopierunterricht kann für die Künstlerinnen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn genau hier erhielten die Frauen ihre künstlerische Initiation. Vor den gemalten und gemeißelten männlichen Akten wurden sie als frei Schöpferische bestätigt. Sie erlebten die künstlerische Legitimation, die den männlichen Kommilitonen im Aktsaal zuteil wurde, in den Antikensammlungen und Museen. Dieser Sachverhalt widerspricht der These von der bedingungslosen institutionellen Unterminierung weiblicher Kunsttalente. Hier boten sich den Künstlerinnen Freiräume, in denen sie wie ihre männlichen Kollegen künstlerisch initiiert und legitimiert wurden. Diese Kompensationsleistung entschärfte das institutionelle Aktverbot für die Künstlerinnen. Wie weit das reichen konnte, möchte ich abschließend an einem hervorragenden Beispiel erläutern: der männlichen Aktstudie der Malerin Louise Seidler (Abb. 3). Das Blatt, das einen sitzenden vollends nackten Mann zeigt, ist sorgfältig durchgearbeitet, die Muskelpartien gründlich schraffiert und Licht und Schatten aufwendig gestaltet. Es ist eine professionell erarbeitete Aktstudie nach einem Berufsmodell. Bislang wurde die Zeichnung dem Kontext der Nazarener zugeordnet und auf 1820 datiert.27 Doch eine bemerkenswerte Tatsache widerspricht dieser Annahme. So finden sich im Oeuvre von Seidlers Kollegin Marie Ellenrieder zahlreiche Studien nach männlichen Modellen. Sie entstanden während ihres Studiums an der Bayerischen Kunstakademie, das Ellenrieder 1813 aufgenommen hatte.28 Ellenrieders Kopfmodell und Seidlers Aktmodell sind identisch. Demzufolge hat Seidler die Aktstudie 26 Max Bach, Stuttgarter Kunst 1794–1860. Nach gleichzeitigen Berichten, Briefen und Erinnerungen, Stuttgart 1900, S. 325. 27 Kovalevski 2006 (wie Anm. 6), S. 134. 28 Froitzheim 1994 (wie Anm. 1), S. 51.

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nach dem Berufsmodell der Münchner Akademie und während ihres Studienaufenthaltes in München vom Sommer 1817 bis zum Herbst 1818 gemacht. Aber wie, wenn auch die Münchner Akademie Frauen nicht offiziell zum Aktstudium zuließ? Das Manko des Modellunterrichts hatte Seidler bei ihrem Mentor Goethe eingeklagt: „Leider ist diße Marie Ellenrieder (...) die der Langer durch ihre großen Fleiß u. schönen Talent so viele Freude machte, nicht mehr hier, sondern schon seit einem Jahr zurück in Constanz. Wie erfreulich würde mir diße Mitschülerin seyn. Leider ist keine der 3 Damen, die mit mir arbeiten weit vorgerückt (...). Ja wären mehrere im Stande etwas selbst zu componieren, so würden vielleicht noch Anstalten getroffen an eigenen Modells u. dergl. die so nützlich und nothwendig wären, und was für eine einzige nicht möglich ist“.29 Seidler hat sich das Akademiemodell für ihre Aktübungen organisiert. Wie und wo das stattgefunden hat, ist auf zwei Möglichkeiten einzugrenzen. Entweder fand die Aktsitzung privat oder in einem separaten Akademieatelier statt. Aktübungen außerhalb des dafür vorgesehenens Saals waren durchaus üblich, wie es eine anonyme Zeichnung eines Münchner Akademieateliers aus der Zeit Seidlers dokumentiert. Sowohl die Möglichkeit der privaten Buchung des Berufsmodells als auch das Aktstudium in einem separaten Akademieatelier weisen auf Seidlers institutionellen Freiraum hin. Dieser entkräftete das akademische Aktverbot für Künstlerinnen. Seidlers Beispiel und das Beispiel ihrer Mitstreiterinnen lässt es keine Frage mehr sein, dass Künstlerinnen als Akteurinnen die Institutionen zu erobern wußten. Sie unterwarfen sich dem Aktverbot nicht, sondern nahmen es als Herausforderung für eigene Berufsstrategien an. Die Akademien und ihr Aktverbot wurden zum Inkubator für die Professionalität und Subjektbildung der Künstlerinnen und blieben es bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.

29 Brief Louise Seidlers an Johann Wolfgang von Goethe vom 18. Oktober 1817,in: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, zitiert nach Kovalevski 2006 (wie Anm. 6), S. 104.

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gregor wedekind Die heroische Erzählung über den Pariser Kupferstecher und Radierer Charles Meryon beginnt mit seinem Tod: Gestorben 1868 in der Irrenanstalt von Charenton, ist sein Schicksal das des wahnsinnig gewordenen Künstlers, den sein „Ringen mit dem Unendlichen“1 und die Unbedingtheit seiner künstlerischen Vision, die Übersteigerung der künstlerischen Imagination, in die geistige Umnachtung führt. Der Künstler als Märtyrer der Kunst. Der Künstler aber auch als Märtyrer der Gesellschaft, denn sein Schicksal lässt sich als Resultat jener Entwicklung beschreiben, die mit der Auflösung traditioneller Bindungen und der Freisetzung von konventionalisierten Zwängen bezeichnet wird, welche dem modernen autonomen Künstler eine ungeahnte soziale Mobilität und Chancen zu Nonkonformität eröffnen, wobei die so gewonnenen Handlungsspielräume dabei zu Lasten des einzelnen Individuums gehen, das sein Schicksal nunmehr auf eigene Rechnung gestalten muss. Meryons Wahnsinn wäre dieser Lesart zufolge Resultat jener durch soziale Isolation und Erfolglosigkeit hervorgerufenen Schwermut, die schließlich zur psychiatrischen Diagnose „melancholisches Delirium kompliziert durch Halluzinationen“ führte.2 Tatsächlich ist Meryon aus den wenigen Bindungen, die das Leben ihm mitgab, herausgefallen. Auf der privaten Ebene durch die Abwesenheit des Vaters, einem englischen Arzt, der den mit einer Tänzerin des Corps de Ballet der Pariser Oper gezeugten Sohn zwar nicht völlig verleugnete, der aber eine Familie in London gründete und den Sohn in Paris dem Makel der unehelichen Abkunft überließ. Der frühe Tod seiner Mutter ließ den späteren Künstler in jungen Jahren buchstäblich allein auf der Welt zurück. An die Stelle der Familie trat nach einer guten Schulausbildung und dem bestandenen Aufnahmeexamen an der École navale die französische Marine, von der Meryon zum Offizier ausgebildet wurde. Hier fand er einen durchaus vielver1

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Victor Hugos Äußerung über Charles Meryon findet sich in einem Brief an Philippe Burty: „Ces eaux-fortes sont de magnifiques choses. Il ne faut pas que cette belle imagination soit châtiée de la grande lutte qu’elle livre à l’Infini, tantôt en contemplant l’Océan, tantôt en contemplant Paris. Fortifiez-le par tous les encouragements possibles. Le souffle de l’immensité traverse l’œuvre de M. Méryon et fait de ses eaux-fortes plus que des tableaux – des visions...“ Zit. nach Philippe Burty, L’Œuvre de M. Charles Méryon, in: Gazette des Beaux Arts 14/1863, S. 519–533 und 15/1863, S. 75–88, S. 522. „Délire mélancolique compliqué d’hallucination“ lautet die Diagnose im Certificat de vingtquatre heures bei der ersten Einweisung Meryons in Charenton 1858. Vgl. Philippe Burty, Charles Méryon, in: La Nouvelle Revue 2/1880, S. 115–138, S. 132. Bei der zweiten Einweisung 1866 wird dann im Certificat de vingt-quatre heures eine „lypémanie chronique avec hallucination des principaux sens“ diagnostiziert und vierzehn Tage später, im Certificat de quinzaine, „signes de délire partiel“ angeführt. Ebd., S. 136.

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sprechenden gesellschaftlichen Platz, der im aktiven Dienst in Form der vierjährigen Weltumseglung auf der Corvette Le Rhin seinen Höhepunkt fand. Zurück in Paris, verlor er seinen Status als Mitglied der Marine und damit als Träger sozialer Ansprüche durch die Entscheidung, seinen Abschied zu nehmen und Künstler zu werden. Ein kühner Entschluss. Nicht nur war Meryon zu alt, um an der Ecole des BeauxArts die gesellschaftlich sanktionierte Lizenz für Künstlertum zu erwerben, zudem stellte sich heraus, dass er farbenblind war und die durch Stunden bei Privatlehrern angefangene und im wesentlichen autodidaktisch betriebene Ausbildung zum Maler abbrechen musste bzw. sich gezwungen sah, sie ganz in das Gebiet der kleinen Gattung schwarz-weißer Graphik zu verlegen.3 Jenseits dieser biographischen und berufssoziologischen Hintergründe sind es aber die allgemeinen politischen und sozialen Entwicklungen, die einer solchen Lesart vom Künstler als Märtyrer der Gesellschaft Vorschub verleihen. Meryon erlebte zwei Revolutionen, die von 1830 als Kind, die von 1848 als Sympathisant (wenn nicht als Aktivist). Damit erlebte er auch zweimal den Verrat der Revolution durch die bourgeoise Klasse. Insbesondere mit der selbstherrlichen Inthronisation Napoleon III. zum neuen Kaiser war die Aussicht auf eine dauerhafte Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse beerdigt, wurde alle Kunst, die sich nicht an der offiziellen Verherrlichung der neuen Zeit beteiligte, marginalisiert. Meryon schrieb sich mit seinen Ansichten von Paris, das – wie er schreibt – „zu demolieren und ohne Mitleid zu entstellen unserer Generation vorbehalten blieb“,4 in eine Traditionslinie ein, die in Victor Hugos berühmtem Aufruf Guerre aux démolisseurs in den zwanziger Jahren ihren Ausgangspunkt hatte und mit Publikationen wie der von Edouard Fournier Paris démoli von 1853 oder Paris qui s’en va von Léopold Flameng von 1860 mitten in die Hauptschaffenszeit von Meryon reichte und die eine antiquarische Nostalgie mit dem republikanisch inspirierten Protest gegen die Zerstörung der Zeugnisse der Vergangenheit verband.5 Ganz direkt stand Meryon dabei in Opposition zu der Stadterweiterungspolitik des Baron Haussmann, der Paris zu einer grandiosen Residenzstadt ausbaute und mit kühner Wucht dafür ganze Stadtviertel niederlegen ließ.6

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Meryons Werdegang ist dargestellt bei Aglaus Bouvenne, Notes et Souvenirs sur Charles Meryon, Paris 1883; Gustave Geffroy, Charles Meryon, Paris 1926 sowie bei Roger Collins, Charles Meryon. A Life, Devizes 1999. „Ce vieux Paris qu’il était réservé à notre génération de démolir et de défigurer sans pitié.“ Brief von Charles Meryon an Arsène Houssaye, 7. Juni 1863, zit. bei Philippe Junod, „Méryon en Icare? Hypothèses pour une lecture de ‚La Tourelle, rue de l’École-de-Médecine’“ [1981], in: ders., Chemin de traverse. Essais sur l’histoire des arts, Gollion 2007 (Études lausannoises d’histoire de l’art, 6), S. 53–82, S. 56. Vgl. Junod 1981/2007 (wie Anm. 4), S. 56. Zu Haussmann vgl. Jean des Cars/Pierre Pinon, Paris – Haussmann. Le Paris d’Haussmann, Ausst.-Kat. Pavillon de l’Arsenal, Paris 1991; David Jordan, Die Neuerschaffung von Paris. Baron Haussmann und seine Stadt, Frankfurt am Main 1996 sowie neuerdings Cord-Friedrich Berghahn, Georges-Eugène Haussmann. Die Transformation von Paris, in: Arne Zerbst/ Hannes Böhringer (Hg.), Gestalten des 19. Jahrhunderts. Von Lou Andreas-Salomé bis Leopold von Sacher-Masoch, München 2011 (Schriften der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts, 2), S. 65–96.

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Viele von Meryons Ansichten zeigen Gebäude, die kurz nach ihrer Verewigung in seinen Stichen der Abrissbirne weichen mussten. Meryon war damit zum Außenseiter im zweiten Kaiserreich prädestiniert, sein Habitus als eigenbrötlerischer Sonderling, als artiste maudit das Ergebnis. So haben es die ersten Biographen Meryons berichtet. Erfolglos, missachtet, ignoriert, vegetierte er unter ärmlichsten Umständen in einfachen Behausungen und wurde von seiner sozialen Lage zunächst in die Verzweiflung, dann in den Wahnsinn getrieben. Der Wahnsinn des Künstlers erscheint so als Resultat gesellschaftlicher Repression und sozialer Entfremdung und als die potenziell geradezu naturwüchsige Konsequenz aus jener „Auflösung traditioneller Bindungen“ und der „Freisetzung des Individuums von konventionalisierten Zwängen“, von denen oben bereits die Rede war. Mit Michel Foucault könnte man daher folgern, dass das Künstlerindividuum als Träger der Wahrheit des Wahnsinns in die ausgegrenzten Bezirke der psychiatrischen Anstalten sowie der nosologischen Terminologie abgeschoben und unter Verschluss gebracht wird.7 Ausschluss und Ausgrenzung also, oder wie man in Anlehnung an die von Antonin Artaud für Vincent van Gogh gebrauchte Formulierung sagen könnte, der Künstler als Geisteskranker durch die Gesellschaft.8 Dazu durchaus auch als Selbstmörder durch die Gesellschaft, hat sich doch Meryon bei seiner zweiten Internierung am Ende in seinem Delirium durch Essensverweigerung ganz real zu Tode gehungert. In diesem Sinne ist auch die von Meryon selbst vorgenommene Zerstörung der Kupferplatten der Eaux-Fortes sur Paris von seinem ersten Biographen, Philippe Burty, als ein veritabler künstlerischer Selbstmord beschrieben worden.9 Doch ist es offensichtlich, dass es sich dabei um eine Erzählung voller topischer Züge handelt. Literarisch beispielsweise vorformuliert – bleibt man nur im unmittelbaren Kontext Meryons – von Champfleury in seiner Novelle Chien-Caillou, in der der Künstler gleichen Namens in geistiger Umnachtung stirbt. Champfleury hatte die Hauptperson seiner Erzählung an den Stecher Rodolphe Bresdin angelehnt, der „Chien-Caillou“ als Synonym führte und seine Werke mit diesem Namen unterzeichnete. Bresdin war zwar als exzentrischer Schöpfer phantastischer Fabelwelten und klaustrophobischer Interieurs bekannt, doch keineswegs geisteskrank. Er spielte mit dem Bild des exzentrischen Einzelgängers und kokettierte seit Champfleurys Buch mit der Rolle des wahnsinnigen Künstlers – auch wenn er unter der Gleichsetzung litt, signierte er bis zum Schluss viele seiner Bilder mit dem nun literarisch veredelten Synonym.10 Bei Meryon kann man dagegen nicht von einer solchen Habituierung sprechen. Denn der Wahnsinn Meryons ist ein manifestes psychisches Geschehen, das ihm offen7 Michel Foucault, Histoire de la folie à l’âge classique, Paris 1972. 8 Antonin Artaud, Van Gogh, der Selbstmörder durch die Gesellschaft, hg. von Franz Loechler, München 1977. 9 Burty 1880 (wie Anm. 2), S. 134: „C’etait un vrai suicide.“ 10 Zu Bresdin siehe Hans Albert Peters (Hg.), Die schwarze Sonne des Traums. Radierungen, Lithographien und Zeichnungen von Rodolphe Bresdin (1822–1885), Ausst.-Kat. WallrafRichartz-Museum Köln 1972 sowie Robert de Montesquiou, Rodolphe Bresdin der Unentwirrbare, hg. von Peter Halbrock, Berlin 1977.

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bar von seiner Mutter vererbt worden war, die, wie später ihr Sohn, ihre Tage ebenfalls in einer Irrenanstalt beendet hat.11 Auch ist das Asyl von Charenton nicht einfach als repressiver Apparat anzusehen, der es auf die Ausschließung und Stillstellung der dort Internierten abgesehen hat, sondern als eine reformpsychologische Einrichtung, die die psychische Gesundung und Hilfestellung für die Patienten zum Ziel hatte und im Falle Meryons bei dessen erster Internierung im Mai 1858 mit seiner Resozialisierung durchaus erfolgreich war. Dort stellte man ihm ein Atelier zur Verfügung, in dem er seinen künstlerischen Interessen nachgehen konnte.12 Ferner war Meryon nicht von namenlosen Mächten in Charenton eingeliefert worden, sondern hatte selbst den Ausweg einer Internierung in Erwägung gezogen, die schließlich von seinen besten Freunden, darunter alte Seemannskameraden, für ihn arrangiert wurde. Ihren Besuch empfing er dort genauso wie beispielsweise den von Eugène Viollet-le-Duc, der gekommen war, um ihn um die Kopie einer Zeichnung zu bitten.13 Sowohl bei seiner knapp ein Jahr währenden ersten als auch bei seiner zweiten Internierung ab Oktober 1866 gab es immer wieder Phasen der Ruhe und Klarheit, die beispielsweise von dem ihn betreuenden Mediziner dazu genutzt wurden, mit Meryon einen Ausflug auf die Weltausstellung von 1867 zu unternehmen.14 Und auch die Zerstörung der Platten der Eaux-Fortes sur Paris, war weniger, wie Burty es später darstellte, ein wahrer Selbstmord: In seiner Antwort auf Burtys Artikel in der Gazette des Beaux-Arts von 1863 führt Meryon als Grund dafür keineswegs Verzweiflung oder Anfälle von Umnachtung an, vielmehr artikuliert er dort den höchst bewussten Willen des Künstlers, gegenüber Händlern und Sammlern die absolute Kontrolle über sein Werk zu behalten.15 Auch die zahlreichen Zustände seiner verschiedenen Radierungen, bei denen sich in den Himmeln seiner Veduten visionär-allegorische Erscheinungen und scheinbar bedeutungslos erscheinende Naturphänomene wie Wolken und Vogelschwärme abwechseln und die man in der älteren Forschung immer gerne als das Hin- und Herpendeln des von psychotischen Schüben gebeutelten Künstlers zu lesen geneigt war, muss man eher einer sehr bewussten Politik Meryons zurechnen, die der gezielten Verknappung der Produktion diente und damit der durch Seltenheit angeregten Steigerung des Sammelwertes. An dem traurigen Schicksal Meryons ist sicherlich trotzdem nichts zu deuten. Doch kann das Verhalten dieses Exzentrikers nicht einfach als Produkt einer gesellschaftlichen Rollenzuweisung für Künstler zur Mitte des 19. Jahrhunderts gelesen werden. Trotz seiner Opposition zur dominierenden Politik wurde Meryon, der resignierte Revolutionär von 1848, nicht zum politischen Kritiker, sondern bemühte sich im Gegenteil auch immer um die Anerkennung und Aufmerksamkeit der offiziellen Institutionen, sei dies die Ecole des Beaux-Arts, zu der er eben nicht, wie es das Klischee des modernen Künstlers will, in einer grundsätzlich ablehnenden Haltung stand, sei es zum Innen- oder zum Marineministerium. In seinen späten Schaffensjahren schwebte ihm ein Album von 11 12 13 14 15

Vgl. Burty 1880 (wie Anm. 2), S. 116. Ebd., S. 132. Ebd., S. 132. Ebd., S. 136. Vgl. Philippe Verdier, Charles Meryon. Mes Observations (1863), in: Gazette des Beaux Arts 125/1983, Nr. 102, S. 221–236, S. S. 224.

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Illustrationen vor, das das prägende Erlebnis seiner jungen Jahre, jene für Frankreich glorreiche Reise der Korvette Le Rhin nach Neuseeland und Neukaledonien zum Thema haben und die naturkundlichen, ethnologischen und nautischen Aspekte der Reise für das Ministerium zusammenstellen sollte. Mit einer bescheidenen Anstellung im Depôt des cartes et plans wäre er sehr zufrieden gewesen. Meryon definierte demnach seine Position nicht über sein Außenseitertum in der Boheme oder der künstlerischen Avantgarde. Zwar gewann er schnell die Anerkennung führender Künstler und Intellektueller seiner Zeit, die von Victor Hugo genauso wie die von Charles Baudelaire, der einer der ersten war, der sein Talent öffentlich rühmte, aber auch jene von Théophile Gautier und anderer Zentralgestirne der Pariser Szene. Doch Meryon verstand es, diese vor den Kopf zu stoßen. Baudelaire etwa sollte auf Vorschlag des Druckers Auguste Delâtre ein Paris-Album Meryons mit Texten versehen. Der Dichter nahm sich der Idee begeistert an, sah er doch – wie er in einem Brief schreibt – die willkommene Gelegenheit, kurze Träumereien über schöne Stiche zu schreiben, „philosophische Rêverien eines Pariser Flaneurs“.16 Meryon jedoch stellte sich quer. Und verlangte von Baudelaire, das, was auf den Bildern zu sehen sein würde, unter Einbeziehung stadthistorischer Literatur penibel zu beschreiben. Für weitere Absprachen war Meryon unzugänglich, womit das Projekt gestorben war. Baudelaire beschwerte sich darüber, wie unerträglich die Diskussion mit einem Verrücken sei – „un fou“, wie er Meryon geradeheraus bezeichnete.17 Um gegenüber einem Freund, seinem Verleger Auguste Poulet-Malassis, zu resümieren: „Dieser Meryon weiß sich nicht zu benehmen; er hat vom Leben nichts verstanden. Weder weiß er zu verkaufen noch versteht er es, einen Verleger zu finden. Dabei ist sein Werk sehr leicht verkäuflich.“18 Womit auch die Erzählung des geradezu notwendigen Unverstandensein des modernen Künstlers – wie es das Modell des Chien-Caillou etwa vorgibt – in sich zusammenfällt. Meryon hätte – wenn er nur gewollt hätte – verkaufen und von seiner Kunst gut leben können. Baudelaire zufolge hat Meryon seinen Misserfolg sich selbst zuzuschreiben. Baudelaire reagierte ungehalten auf den Wahnsinn Meryons und den grausamen Dämon, der von dessen Gehirn Besitz ergriffen habe, wie es in der Besprechung des Salons von 1859 heißt.19 Jenen Dämon macht er nicht für die besondere Qualität 16 Charles Baudelaire an Auguste Poulet-Malassis, 16. Februar 1860, zit. nach Charles Baudelaire, Correspondance générale, Bd. 3: 1860–Septembre 1861, hg. von Jacques Crépet, Paris 1948 (Œuvres complètes, 16), Nr. 500, S. 29: „Bon! voilà une occasion d’écrire des rêveries de dix lignes, de vingt ou trente lignes, sur de belles gravures, les rêveries philosophiques d’un flâneur parisien.“ 17 Baudelaire an Mme Aupick, 4. März 1860, Baudelaire 1948 (wie Anm. 16), Nr. 510, S. 57: „Je lui ai promis de rédiger un texte pour ses gravures. Or, si tu peux comprendre tout ce qu’il y a d’insupportable dans la conversation et la discussion avec un fou, tu penseras comme moi que je paye mes albums fort cher.“ 18 Baudelaire an Poulet-Malassis, 9. März 1860, Baudelaire 1948 (wie Anm. 16), Nr. 513, S. 64: „Ce Méryon ne sait pas se conduire; il ne sait rien de la vie. Il ne sait pas vendre, il ne sait pas trouver un éditeur. Son œuvre est très facilement vendable.“ Im folgenden Brief vom 11. März nennt er Meryon dann noch „un fou infortuné qui ne sait pas conduire ses affaires“. Ebd., Nr. 514, S. 65. 19 Charles Baudelaire, Salon de 1859. Texte de la Revue française, hg. von Wolfgang Drost, Paris 2006, S. 59: “Mais un démon cruel a touché le cerveau de M. Méryon; un délire mystérieux a brouillé ces facultés qui semblaient aussi solides que brillantes.”

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seiner Kunst, sondern für das vollständige Versiegen von Meryons Schaffenskraft und auch die Gefährdung des aufkeimenden Ruhmes dieses Künstlers verantwortlich. Andere, wie die Brüder Goncourt, taxierten dagegen aus zynischer Distanz, wie der Wahnsinn des Schriftstellers oder des Künstlers – und sie nennen die Namen von Baudelaire und Meryon – nach seinem Tod zu seiner Überschätzung beitrage. Er lasse den Wert ihrer Werke steigen wie die Guillotine das Schaffen der Guillotinierten in den Katalogen der Autographenhändler steigen lasse.20 Die Rezeptionsgeschichte Meryons weist zahlreiche Belege für diese Diagnose auf. Die Faszinationskraft seines Œuvres beruht ein- oder uneingestandenermaßen sicherlich auch auf der biographischen Erzählung vom Wahnsinn seines Schöpfers. Zunächst jedoch wurde der imaginäre Überschuss in Meryons Radierungen als Ausgeburt eines schizophrenen Geistes abgewertet. Während etwa Philippe Burty 1880 noch davon ausging, dass „die fantastischen Szenen“, wie er sie nennt, welche Meryon in die Himmel seiner Ansicht des Collège Henri IV, der Tourelle de la rue de l’École-de-Médecine und des Ministère de la Marine einfügte, „Zeichen einer Imagination seien, die sich nicht mehr zu regulieren wusste“,21 sind neuere Forschungen längst dazu übergegangen, diese Bildfindungen in ihrem allegorischen Gehalt ernst zu nehmen und sie auf ihre kulturellen und politischen Bedeutungen zu befragen.22 Drei Blätter bereiten dabei bis heute in besonderem Maße Schwierigkeiten. Blätter, die keine Ansichten von Paris zeigen und die von Loÿs Delteil in seinem Œuvrekatalog von 1907 in die hinterste Abteilung gesteckt worden sind, welche Frontispize, Adressen, Rätsel und diverse Stücke zusammenfasst.23 Das erste dieser Blätter – La Loi Solaire betitelt – entstand 1855 (Abb. 1). Hinter einem Schriftfeld treten die Strahlen einer aufgehenden Sonne hervor, die das Licht einer am unteren Blattrand stehenden erloschenen Öllampe ersetzt. In der charakteristischen, mit Schnörkeln verzierten Schreibschrift, die Meryon für seine Radierungen verwendete, ist zu lesen: „Wenn ich Kaiser oder König eines mächtigen Staates wäre (was ich weder wollen würde noch sein könnte) – sehend, dass die Großen Städte nichts als Faulheit, Geiz, Furcht, Wollust und andere schlechte Leidenschaften hervorbringen, würde ich ein Gesetz ausarbei20 Edmond et Jules de Goncourt, Journal. Mémoires de la Vie Littéraire 1851–1896, hg. von Robert Ricatte, 3 Bde., Paris 1989, Bd. 2, S. 194 (12. Januar 1869): „La folie de l’écrivain, de l’artiste – voyez Méryon, Baudelaire – le surfait, une fois mort; elle fait monter leurs œuvres, comme la guillotine fait monter l’écriture des guillotinés dans les catalogues d’autographes.“ 21 Burty 1880 (wie Anm. 2), S. 134: „Les scènes fantastiques qu’il introduisit dans les ciels de la Vue du Collège Henri IV, de la Tourelle de la rue de l’École-de-Médecine, du Ministère de la Marine, sont la marque d’une imagination qui ne sait plus se régler.“ 22 Die entsprechende Diskussion in der Meryon-Literatur analysiert Gabriele Hammel-Haider, Bemerkungen zu Meryons Stadtlandschaften, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 40/1977, S. 245–264 sowie Philippe Junod, Voir et savoir ou de l’ambiguité de la critique [1980], in: Junod 2007 (wie Anm. 4), S. 17–52. 23 Loÿs Delteil, Charles Meryon, Paris 1907 (Le Peintre-Graveur illustré, 2), Reprint New York 1969: „Frontispices, Adresses, Rébus, Pièces Diverses“, dort Nr. 91, 92 und 93. So beibehalten in der von Wright aktualisierten Ausgabe: Loÿs Delteil, Catalogue Raisonné of the Etchings of Charles Meryon, hg. von Harold J. L. Wright, New York 1924. Schneiderman schließlich hat diese Sektionen aufgelöst und eine chronologische Reihung vorgenommen: Richard S. Schneiderman, The Catalogue Raisonné of the Prints of Charles Meryon, London 1990, Nr. 58, 60 und 103.

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1 Charles Meryon, La Loi Solaire, Radierung, 1855

ten lassen, das so präzise wie möglich, die Größe des Grundes, kultiviert oder unkultiviert, für jede Behausung in wünschenswerter Größe für eine gegebene Anzahl von menschlichen Wesen bemisst; solcherart, dass die Luft und die Sonne, diese beiden prinzipiellen Essenzen des Lebens, jederzeit ausreichend verfügbar wären. / Dieses Gesetz, Quelle jedes materiellen und folglich auch jedes moralischen Wohlbefindens, würde ich das Sonnengesetz nennen.“24 24 „Si j’étais / Empereur ou Roi / de quelque puissant état / (ce que je ne voudrais ni ne pourrais être); – / Vu que les Grandes Cités ne sont enfantées / que pour la Paresse, l’Avarice, la Crainte, / La Luxure et autres mauvaises passions; je fe- / rais élaborer une loi délorminant [sic], d’une manière aus- / si précise que possible, l’èspace de terrain, avec ou / sans culture, forcément adjoint à toute habitation / de capacité voulue, pour un nombre donné de créatures / humaines; de telle sorte que l’Air et le Soleil / ces deux principes essentiels de la Vie,

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2 Charles Meryon, La Loi Lunaire, Radierung, 1856

Was sich hier noch als ein irgendwie sozialreformerisch gedachter Plan verstehen lässt, bekommt spätestens mit dem im Jahr darauf entstandenen Pendant, dem Blatt La Loi Lunaire (Abb. 2), eine höchst eigenartige Note: „Wenn ich Diktator einer mächtigen Republik wäre (was nicht sein würde) / Angesichts 1., dass das Bett in unseren Städten Möbel der Trägheit und Wollust ist; ...dass die aufrechte Position unter allen die edelste ist, dass die liegende allein den Versehrten und Toten angemessen ist; würde ich verbieten: den Gebrauch des besagten Möbels im gesamten Gebiet meines Staates...so dass Männer und Frauen gezwungen wären...aufrecht und draußen zu schlafen...in vertikalen Nischen, die in den Boden gerammt wären und die sie eng umfassen würden und sie somit in strengem Respekt halten würden, das einzig offene Gesicht dem Sonnenaufgang zugewendet, damit sie das Licht des Tagesanbruchs treffen würde / Angesichts 2.: dass die Nacht Erholung und Stille verlangt; ...dass der Mond deren natürliche Fackel ist...dass jegliches nächtliches Arbeiten schädlich sowohl für den vollkommenen Zustand der Seele als auch für den des Körpers ist ... würde ich verbieten: jedes künstliche Mittel, den Tag zu verlängern; ...indem ich ausschließlich die Feuer zulassen würde, die zum Gebrauch des Lebens notwendig wären, sowohl, um nützliche Substanzen zu sparen, die unnötig vom Feuer verzehrt werden, wie um die Atem- und Sehorgane zu bewahren. /

pus / sent toujours y être largement repartis. / Cette loi, source de tout bien-être maté- / riel et conséquemment moral, s’appellerait / Loi Solaire.“ Vgl. die Transkription in Charles Meryon. Prints & Drawings, hg. von James D. Burke, Kat. Ausst. Museum of Art, Toledo/Ohio 1974, S. 110.

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Dieses Gesetz, mächtige Quelle der Kraft und der Reinheit, würde sich nennen Gesetz des Mondes.“25 In einer zweiten Fassung von 1866 hat Meryon für die Vorschrift des aufrechten Schlafs ein entsprechendes Möbel gezeichnet, das eine kuriose Mischung aus einem Sarg und einem Futteral für einen Kruzifix darstellt (Abb. 3). Die offensichtliche Idiosynkrasie dieser Blätter hat dazu geführt, dass sie in der Literatur von Anfang an als Ausgeburt des wahnsinnigen Meryon taxiert, oder aber, da Meryons erste Einweisung nach Charenton erst Jahre später, 1858, erfolgte, als klare Vorboten bzw. erste Schübe des Wahnsinns gewertet wurden. Intensiver hat sich allein James Yarnall mit diesen Blättern auseinandergesetzt und die darin aufscheinenden mystischen Ideen Meryons im Kontext rosenkreuzlerischen Ideenguts gedeutet – welches bei Meryon wie bei anderen mit geistiger Gesundheit durchaus vereinbar war.26 Mit Yarnall lässt sich festhalten, dass die okkulten und kabbalistischen Spekulationen im Paris des 19. Jahrhunderts in hohem Kurs standen und Meryon offenbar mit solchen Geheimgesellschaften in Kontakt stand.27 Der hochgradig verschlüsselte Charakter mancher seiner Bilder, auch die offensichtliche Adaption der Monas Hieroglyphica, der sogenannten hieroglyphische Monade für seine Initialen, erhärten die entsprechenden Bezüge. Für das Pendant von Loi solaire und Loi Lunaire stand wohl der Symbolismus von Sonne und Mond Pate, denen sophisch Schwefel oder Gold bzw. Quecksilber und Silber entsprechen, die fundamentalen männlichen und weiblichen Elemente des alchemistischen Universums. Die komplexen und esoterischen Ausführungen, wie sie in Loi Lunaire enthalten sind, können dabei auf Victor Hugos Roman Notre-Dame de Paris bezogen werden, der auch in vielerlei anderer Hinsicht für Meryon ein wichtiges Referenzwerk war. Hier sinniert der Erzdiakon von Notre Dame, der zum alchemi25 „Si j’étais / Dictateur / de / Quelque forte République / (Ce qui ne saurait être) / Vu 1°: que le lit de nos Cités est meuble de Paresse et de Luxure; . . . que la position droite est de toutes la plus noble, / que celle couchée ne convient qu’aux Infirmes et aux Morts ; . . . Interdirais : l’usage du dit meuble dans toute l’étendue de mes Etats / . . . forçant Hommes et Femmes à dormir . . . Debout et Dehors . . . dans des niches verticales, fichées en terre, tangen- / tes à ceux y renfermés, les tenant en strict respect, la seule face libre, tournée vers le Levant, pour que l’aube mati- / nale les frappât de sa lumière. / Vu 2° : que la Nuit veut Repos et Silence ; . . . que la Lune en est le flambeau naturel . . .que toute œuvre / nocturne est à la fois préjudiciable au parfait état de l’âme et du corps : . . . Interdirais : tout moyen factice de / prolonger le jour, . . . ne tolérant que les feux strictement nécessaires aux us de la vie, tant pour économie de substances / utiles, qui se consomment vainement en fumée, que dans un but conservateur des organes du Souffle et de la Vue / Cette loi, cause puissante de Force et de Pureté, s’appellerait, / Loi Lunaire.“ Vgl. die Transkription bei Burke 1974 (wie Anm. 24), S. 109 f. 26 James Leo Yarnall, Meryon’s mystical transformations, in: The Art Bulletin 61/1979, Nr. 2, S. 289–300. 27 Michel Camille möchte Meryons intellektuelle Sympathien mit den utopischen Begrifflichkeiten der Fourieristen, zu denen sein engster Freund Antoine-Edouard Foley sich bekannte, der zugleich einer der Mitstreiter und Testamentvollstrecker von Auguste Comte war, den Vorzug vor den rosenkreuzlerischen Bezügen geben, die Yarnall hervorhebt. Vgl. Michael Camille, The Gargoyles of Notre-Dame. Medievalism and the Monsters of Modernity, Chicago/London 2009, S. 388, Anm. 44. Zu Meryon und Foley ist eine Publikation von Wolf Lepenies in Aussicht gestellt. Vgl. Wolf Lepenies, Auguste Comte. Die Macht der Zeichen, München 2010, S. 7.

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3 Charles Meryon, La Loi Lunaire, No 2, Radierung, 1866

stischen Philosophen gewandelte Claude Frollo, über die Entstehung von Sonne und Mond aus dem Feuer, das die Seele des Alls darstellt. Hugos Philosoph ist auf der Suche nach dem generellen Gesetz der Natur, durch das alle Unreinheit rein werden kann und das bei der Verwandlung von Licht in Gold erkennbar werden soll. Auch Meryon ist wie Frollo nicht aus materialistischen, sondern aus philosophischen Gründen an den alchemistischen Verwandlungsprozessen interessiert. Die rosenkreuzlerische Idee der Verwandlung/Auferstehung aus dem Feuer ist durch Flammensymbolik, das Bild des Aufrechtschlafens und die Imitatio Christi in der kreuzförmigen Bettform des 2. Blattes explizit enthalten.28 28 Vgl. Yarnall 1979 (wie Anm. 26). Das Stehendschlafbett soll den schlafenden Menschen in einen Zustand der Einheit mit Gott als dem Äquivalent des Universums erheben. In der zweiten Fassung hat Meryon deswegen den Bettsarg mit Seitenarmen versehen, um dem Schlafenden die Möglichkeit zu geben, in der Pose des gekreuzigten Christus zu schlafen,

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Yarnall konnte den Nachweis führen, dass diese auf den ersten Blick so befremdlichen bis rätselhaften Blätter sich ohne weiteres in den Kontext der Pariser Kultur um 1850 einfügen lassen und von dort her und nicht von einer geistigen Erkrankung ihre Erklärung finden. Dabei scheint mir primär die Rolle des Gesetzgebers interessant zu sein, die Meryon in seinen drei Graphiken einnimmt. Der Anspruch dieser imaginär eingenommenen Rolle wird allein schon durch die Autorität des gedruckten und vervielfältigten graphischen Blattes zum Ausdruck gebracht, das dem Ganzen den Anstrich eines Aushanges bzw. einer öffentlichen Bekanntmachung gibt. Der rituell wiederholte Eingangssatz der beiden frühen Blätter „Si j’étais Empereur ou Roi“, „Si j’étais Dictateur“, dient der rituellen Selbstermächtigung, die Meryon, der wie die Zeitgenossen berichten von einer geradezu protestantisch fundamentalen Bescheidenheit war, sofort wieder zurücknimmt – „was ich weder wollen würde noch sein könnte“, „was nicht sein könnte“ – er sich also die Vorstellung nur erlauben kann, wenn er deren Zurücknahme in Klammern mit dazusetzt. Erst im dritten Blatt von 1866, der zweiten Version des Loi Lunaire ist diese Relativierung weggelassen: Nun gibt sich dort in einem in die Figur eingeschriebenen Schriftbogen der Autor des Textes als „Dictateur d’une forte République“ zu erkennen. Während im Loi solaire noch von einem „Empereur ou Roi“ eines mächtigen Staates die Rede war, ist die Staatsform in den beiden Blättern des Loi Lunaire nun eindeutig als republikanisch konkretisiert. Der Widerspruch, der in der Imagination eines diktatorischen Machthabers an der Spitze einer Republik steckt, lässt sich mit Blick auf ein anderes Blatt erklären. In verschiedenen frühen Zuständen der Tourelle, Rue de l’École-de-Médecine (Abb. 4) finden sich im Himmel über der Straßenkreuzung zwei von wehenden Gewändern umwickelte Gestalten, deren eine Justitia ist, der ihre beiden Attribute Schwert und Waage entfallen sind. Grund dafür ist das Heranfliegen einer zweiten, nackten Frau, der Veritas, die der Justitia ein aufgeschlagenes Buch entgegenhält, in dem „Fiat Lux“ geschrieben steht. Das Licht der Wahrheit weist Justitia in ihre Schranken. Für die dritte kleine Gestalt am Himmel, die Meryon selbst als die beleidigte oder vergewaltigte Unschuld bezeichnet hat, konnte Philippe Junod wahrscheinlich machen, dass es sich dabei um einen kryptischen Ikarus handelt, der durch seine Anordnung auf dem Blatt einer anderen Seinsebene als die beiden anderen allegorischen Wesen zugehörig ist und unterhalb des Monogramms Meryons als eine Art Wappen figuriert und damit in einen identifikatorischen Bezug zu

wie er im Bildtext ausführt. Die Imitatio Christi fungiert wie der Stein des Weisen bei der Überbrückung der Kluft zwischen Mikro- und Makrokosmos, zwischen Mensch und Gott. Die rosenkreuzlerische Interpretation der Inschrift INRI auf dem Kreuz Christi als Igni Natura Renovatur Integra – Durch Feuer erneuert sich vollständig die Natur – wird bei Meryon mit der brennenden Flamme im Kopfbereich des Schlafenden berücksichtigt und ist damit die visuelle Umsetzung der rosenkreuzlerischen Idee von der Auferstehung. Dazu entspricht die Dreiteilung des Bettsarges in Kopf, Herz und Phallus Paracelsus’ tria prima- System des menschlichen Mikrokosmos in Geist, Seele und Fleisch, welche wiederum die Dreiteilung des Makrokosmos in Quecksilber, Schwefel und Salz und auch die in Sonne, Mond und Sterne umgreift.

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Charles Meryon, Tourelle, Rue de l’École de Médecine, 22, Radierung 1866 4

Meryon selbst gerät.29 Zugleich bezieht sich dieser Ikarus auf das dargestellte Türmchen, in dem Marat, der Freund des Volkes, vermeintlich gewohnt hat und von der 29 Junod 1981/2007 (wie Anm. 3), S. 62. Zu dem Blatt siehe auch Margret Kampmeyer-Käding, Bresdin, Bracquemond und Meryon: ,Pour ceux, qui doivent en comprendre’ – Ein Beitrag

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Hand Charlotte Cordays seinen Tod fand. Junod konnte durch die Deutung weiterer Einzelheiten des Blattes aufzeigen, wie die Verbindung von Marat und Ikarus aussieht. Das Verbindungsstück stellt ein Buch des Autors Étienne Cabet dar, dessen Name in der Radierung alludiert wird, das den Titel Voyage en Icarie trägt und welches erstmal 1842 und dann in schneller Folge in mehreren Auflagen erschienen ist. Die politische Utopie dieser Schrift bezieht sich auf einen Idealstaat voller sozialer und wissenschaftlicher Errungenschaften, der auf den Prinzipien der Gleichheit aller Bürger und des gemeinschaftlichen Besitzes aller Güter beruht. Meryon teilte viele der Ideale Capets, seine Abneigung gegen Tabak, seine obsessiven Hygienevorstellungen, die Überblendung von Kommunismus und Christentum, Askese- und Abstinenzvorstellungen. Vor allem aber war Cabet einer der wenigen, der um 1850 im Hinblick auf die Geschichte der französischen Revolution ein uneingeschränkt positives Bild von Marat zeichnete, den er in seinem Buch immer wieder verteidigt und in langen Passagen zu Wort kommen lässt. Nicht zuletzt geht es dabei um die Einstellung Marats zur Justiz, seine Konzeption von der Relativität der Gesetze, die Idee, dass die Enterbten und Entrechteten sich selbst Recht geben, selbst Gesetze erlassen müssen. Damit verknüpft war die ebenfalls von Cabet verteidigte Idee Marats, dass das Volk keine andere Wahl habe und sich selbst zum Diktator aufschwingen solle bzw. einem weisen und starken Mann augenblicklich Autorität einräumen müsse, eine Autorität, die unter der Bezeichnung eines Tribuns des Volkes oder Diktators stehen könne. So weit Marat, bei Cabet, der seinerseits für seinen sozialistischen Idealstaat Ikarien einen Diktator, eben Ikarus, vorgesehen hatte. Vor diesem Hintergrund ist die paradoxe Vereinigung der Figur eines Diktators mit einer republikanischen Staatsform in Meryons Gesetzesbildern sinnfällig. Auch ihm geht es um die (Selbst-) Ermächtigung eines Entrechteten zum Volkstribun, der anstelle der traditionellen Gerichtsbarkeit diejenigen Gesetze verkündet, die in seinem Fall deswegen eine höhere Wahrheit für sich beanspruchen können, weil sie den äußeren und inneren Gesetzen der Natur Ausdruck verleihen. Anders als Cabet, der seine Vision zur Realität werden lassen wollte und tatsächlich eine ikarische Kolonie in der Neuen Welt gründen sollte – die nach kurzer Zeit an inneren Zwistigkeiten kläglich scheiterte –, ist bei Meryon die Unrealisierbarkeit seiner politischen und spirituellen Ideen immer mitgedacht. Der Figur des Ikarus, so wie sie Meryon im Blatt der Tourelle mit zwei abgefallenen Flügeln darstellt, ist jene Strafe bereits mitgegeben, wie sie der mythologischen Geschichte eingeschrieben ist: Die Überheblichkeit, zur Sonne fliegen zu wollen, wird mit dem Fall ins nasse Grab gesühnt werden. Und in seinen Gesetzesbildern wird Meryon zum Gesetzgeber allein im Modus des Konjunktivs, von dem eifrig versichert wird, dass er nie zum Imperativ werden wird. Als Philippe Burty 1863 in der Gazette des Beaux-Arts erstmals eine Übersicht über die Graphik Meryons publizierte, erwähnte er die Loi solaire und die Loi Lunaire mit der Bemerkung, dass es ihm untersagt sei, auf die Ordnung jener Ideen einzugehen, auf der diese beiden „philosophischen Fantasien“ beruhen würden. zur oppositionellen Bildsprache unter dem Second Empire, in: Gudrun Gersmann/ Hubertus Kohle (Hg.), Frankreich, 1848–1870. Die Französische Revolution in der Erinnerungskultur des Zweiten Kaiserreiches, Stuttgart 1990, S. 139–157, S. 153 ff.

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Die Wünsche einer absoluten Moral, die sie zum Ausdruck brächten, würden nur zu unpassenden Ausführungen verleiten.30 In seiner Antwort an Burty nahm Meryon diese Vorbehalte auf und erklärte sich mit Burtys Schweigen einverstanden: „Ich habe bereits die Gelegenheit gehabt, mehrmals zu sagen [...], dass es wenig gebührlich ist, diese kleinen Werke zu produzieren, die Loi Solaire vor allem, außer mit größter Zurückhaltung; noch sie zu diskutieren, es sei denn sehr diskret, behutsam, da sie Unordnung bewirken können, ja selbst großes Übel. Die Abzüge davon existieren nur in einer sehr kleinen Zahl und es ist unnötig, mehr davon anzufertigen.“31 Meryons revolutionäre Ideen sind esoterisch und ins Resignative, ins Apolitische gewendet. Zum einen reklamiert er für den Künstler den Habitus des Gesetzgebers, desjenigen, der die kodifizierten Gesetze im Namen einer höheren Wahrheit – des revolutionären Volkes oder der Natur – außer Kraft setzt, zum anderen zieht er sich zugleich aus dieser Position wieder zurück und lässt seine Kunst nicht zum Sprachrohr einer neuen Wahrheit werden, die den Künstler über das Gesetz stellt bzw. zum Medium neuer, besserer Gesetze macht. Wo Baudelaire als den modernen Helden den Außenseiter der Gesellschaft feiert, den Outlaw und Verbrecher, der sich in Gegnerschaft zur Gesellschaft sein Gesetz selber gibt, zieht sich Meryon in eine konjunktivische Spekulation zurück. Darin steckt eine starke Anerkennung des Realitätsprinzips. Seine Kunst verstand er nicht als Mittel zum Ausdruck absoluter Wahrheiten, sondern sie zeugt auch da, wo sie sich in ihrem allgemeingesellschaftlichen Anspruch exponiert, von Verstrickung in Ambivalenz. Die Ambivalenz dessen, der sich schon durch Geburt schuldig fühlte, die Ambivalenz des sozial und politisch Marginalisierten, der aus seiner Schwäche ein veritable Paranoia entwickelte, indem er von einem von Napoleon III. persönlich angeordneten Mordkomplott gegen die eigene Person überzeugt war. Meryon imaginierte sich nicht zum Helden, sondern zum Schuldigen, dem bestenfalls groteske und dämonische Züge zu eigen sind. Indem er mit seiner Kunst dieser Selbsterkenntnis Ausdruck gab, überblendete er seine eigene Paranoia mit der des Kaisers, der in seiner Imagination sein größter Gegner war und dem er ber unterwarf. Napoleon wiederum war von der Angst vor dem revolutionären Volk besessen, was sich im Rahmen des Stadtumbaus von Paris bekanntlich darin niederschlug, dass die engen mittelalterlichen Gassen, die dem Militär den Zugriff auf den barrikadenbauenden Pöbel so schwer machte, durch die Anlage von breiten Straßen sich bis hin zur Anverwandlung als diktatorischer Gesetzgeund Boulevards ersetzt wurden.32 Delteil erwähnt im Œuvrekatalog einen Zustand der Loi Lunaire 30 Burty 1863 (wie Anm. 1), S. 86. 31 Meryon 1863 (wie Anm. 14), S. 228: „J’ai déjà eu l’occasion de dire plusieurs fois (et cette opinion est bien réfléchie chez moi), qu’il ne convient de produire ces petites pièces, la Loi Solaire surtout, qu’avec beaucoup de réserve ; ni les discuter que fort discrètement, prudemment, parce qu’elles peuvent causer du désordre, même de grand maux. Les épreuves en sont en très petit nombre, et il n’est nullement nécessaire de les multiplier. Jusqu’ici en effet, l’expérience donne raison à d’autres faits qui, il faut le croire, sont la conséquence de notre nature la plus ordinaire.“ 32 Richard Maxwell hat im Hinblick auf Meryons Verfolgungswahn und gleichzeitige Imagination herrscherlicher Allmacht auf Elias Canetti verwiesen, der in seinem Buch „Masse und Macht“ den Zusammenhang bzw. die Ähnlichkeit von Herrschern und Paranoikern untersucht. Vgl.

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5 Charles Meryon, Frontispiz der Eaux-Fortes sur Paris, Radierung, 1854

von 1856, auf dem ein Porträt Napoleons III. und dessen Namenszug zu finden ist.33 Schon das Frontispiz seines Albums der Eaux-Fortes sur Paris zeigt das Bild des alten Portals des Justizpalastes von Paris, das über dem Giebel der zwischen massigen Rundtürmen eingezwängten dunklen Pforte einen Teufel zeigt, der ein Schriftband mit der Aufschrift „Paris“ in Händen hält (Abb. 5). Meryon löst das Portal aus dem Mauerverband des Justizpalastes heraus und verleiht ihm auch mittels der Aureole von Licht einen zeichenhaften Charakter.34 Durch die nun links und rechts von ihm im Hintergrund zu sehenden Häuser und Dächer der Stadt wird die Pforte damit zum Stadttor, ein höllisches Eingangstor, durch das derjenige hindurch muss, der die Stadt Paris betreten möchte. Eine Passage, die selbstredend auch jeder Betrachter von Meryons Eaux-Fortes sur Paris nimmt. Das Gedicht des beigefügten Blattes erläutert dies: „Paris das Paradies/ der Liebe und des Lachens,/ Die Stadt, in der die Wissenschaft/ Aus teuflischer Zucht/ Ihre Sprösslinge treibt/ Und durch Dämonen verbreitet!/ Das tückische Wesen,/ Ursprung des Bösen,/ Hat Wohnung genommen/ In unserer guten Richard Maxwell, The Mysteries of Paris and London, Charlottesville/London 1992, S. 366, Anm. 10. 33 Delteil 1907 (wie Anm. 23), Nr. 91. 34 Vgl. die entsprechende Beschreibung von Margret Stuffmann, in: Charles Meryon. Paris um 1850. Zeichnungen, Radierungen, Photographien, Ausst.-Kat. Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main, 1975, Nr. R 4, S. 83.

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Charles Meryon, Le Stryge, Radierung, 1861

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Stadt./ Es steht wahrhaftig schlimm,/ Und traurig ritz’ ich hier ein:/ Wollte man es ihr austreiben,/ Müßte man sie niederreißen...“35 Meryon, der bereits zu Lebzeiten als nostalgischer Verfechter des vieux Paris missverstanden werden konnte,36 wird mit dieser Vision einer tabula rasa hier zum Widergänger Napoleons, wie überhaupt seine Obsession für Licht und Luft, Hygiene und Sauberkeit zentrale Argumente der napoleonisch-haussmannschen Stadterneuerung und deren Abriss des vieux Paris darstellten. Meryons Gesetze lesen sich aber nicht 35 Die Übersetzung ebd. 36 So rückte Baudelaire eine entsprechende Einordnung der Graphiken Meryons durch seine Mutter zurecht: „Tu te trompes en appelant cela le vieux Paris. Ce sont des points de vue poëtiques de Paris, tel qu’il était avant les immenses démolitions et toutes les réparations ordonnées par l’Empereur.“ Baudelaire an Mme Aupick, 4. März 1860, Baudelaire 1948 (wie Anm. 16), Nr. 510, S. 57.

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7 Charles Meryon, Titelblatt der Eaux-Fortes sur Paris, Radierung, 1852

nur wie die groteske Parodie auf die Haussmannisierung von Paris, sondern auch wie eine groteske Vorwegnahme der Licht und Luft-Postulate des modernen Städtebaus des 20. Jahrhunderts im Geist der Charta von Athen, welcher bekanntlich auch ins Monströse umgeschlagen ist. Meryon hat solche imperial-totalitären Phantasien zur gesetzgeberischen Neuordnung der Gesellschaft gehabt, doch bewahrte ihn seine soziale Lage und seine psychische Struktur zugleich auch davor, ihnen nachzugehen. Er bleibt verstrickt in gesellschaftliche Machtverhältnisse, indem er sowohl mit der Opferseite paktiert und eine Überidentifizierung mit dem gesellschaftlich Marginalisierten, dem Gestaltlosen und Hässlichen vornimmt (Abb. 6) als auch dadurch, dass er sich im Akt paranoischer Gegenbesetzung mit dem Täter identifiziert, indem er dessen Habitus des Herrschers übernimmt. Bietet die Positionierung als Außenseiter der Gesellschaft dem Künstler immerhin die Möglichkeit der Stärke durch kritische Distanznahme, so bleibt Meryon durch

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seine Eingebundenheit nur der doppelte Pakt mit den Dämonen. Diese Haltung, das verzweifelte Starren und Anheimgefallensein an die Macht, die Faszination der fatalité (einer der Zentralbegriffe von Hugos Notre Dame de Paris) lässt sich als resignativ und apolitisch beschreiben, als Ausflucht in eine romantische Imagination. Doch aus heutiger Sicht erscheint sie weitreichender. Denn gerade das Eingeständnis der Unmöglichkeit einer Position des „Außen“ legt die Verstrickungen des Subjekts, sein unabänderliches den gesellschaftlichen und psychotischen Kräften Unterworfensein erst offen. Es ist die Anschauungsform Groteske, die zum einen die notwendige Distanznahme enthält, wie sie zum andern in der Angleichung an das bekämpfte Andere die eigene Verstrickung nicht leugnet.37 Erst beides zusammen macht aus Meryons Position doch noch eine eminent wichtige Künstlerposition. Die Verbindung mit dem Dämon in der Figur der Groteske, wie sie das berühmte erste Blatt der Eaux Fortes sur Paris – Le Stryge aufweist (Abb. 6), in dem man sowohl ein Selbstporträt als auch die Verkörperung Napoleons III. gesehen hat,38 birgt dabei all die moralische Ambivalenz, die das moderne Staatswesen durch Rationalisierung und das moderne Künstlertum durch seine Opposition gegen einen klar umrissenen Gegner – eben jene staatliche Macht in Gestalt der Kunstakademie – vermeintlich abgestreift hatte. Es sind jene Ungeheuer, die die Schattenseite, den Schlaf der gesetzgeberischen Vernunft bevölkern. Das Gesetz, auf das sich Meryons Künstlertum beruft, ist deshalb konsequenterweise nicht das des Staates oder das der Revolution. Es ist vielmehr das der Natur. Mit der Gestaltung des Titelblattes der Eaux-Fortes sur Paris in Form einer gravierten, halb zerbrochenen Kalksteinplatte, die versteinerte Einschlüsse von Schnecken, Muscheln und Moos aufweist, wird darüber hinaus die Reflexion der Zeit zum hervorstechenden Thema (Abb. 7). Um die Stadt in der Imagination des Futur II – Es wird gewesen sein – in ihren naturgeschichtlichen Zustand zu versetzen, geht der Künstler den Pakt mit den Naturmächten ein und wird dabei zum notwendig scheiternden – grotesken – Gesetzgeber über Sonne und Mond.

37 Zur Rolle des Grotesken bei Meryon ist eine Studie des Verfassers in Vorbereitung. 38 Die Deutung des Stryge als Symbol des persönlichen Dämons des Künstlers findet sich bei Adele M. Holcomb, Le Stryge de Notre-Dame: Some Aspects of Meryon’s Symbolism, in: Art Journal 31/1971/72, Nr. 2, S. 150–157, S. 156; Das Monster zugleich als eine Verkörperung Napoleons III. anzusehen, schlägt Klaus Herding vor: Meryons ‚Eaux-fortes sur Paris’ – Probleme der Verständigung im Second Empire, in: Kritische Berichte 4/1976, Nr. 2/3, S. 39–60, S. 49.

zur metapher vom ,künstler als seismograph‘ sigrid schade die krise der ,inspiration‘ Die Frage nach einem Ursprung von Kreativität, Intuition und Inspiration, nach den Prozessen des Erschaffens und Gestaltens neuer Formen und Erfindungen, des Findens von innovativen Lösungen in verschiedenen künstlerischen, sozialen und technischen Bereichen ist eine Frage, zu der sich u. a. Kunst- und Kulturwissenschaftler, Historiker, Verhaltens- und Entwicklungspsychologen, Pädagogen und neuerdings Hirnforscher und Genetiker einen Wettstreit von Erklärungsmodellen liefern.1 Dieser Befund verweist darauf, dass die traditionelle Zuschreibung von Intuition und Kreativität an die Figur des Künstlers und die entsprechenden mythischen Erzählungen derzeit infrage gestellt werden.2 Historisch gesehen ist diese Zuschreibung und die damit erzeugte Nobilitierung, Privilegierung und Mythisierung des Künstlers und der künstlerischen Produktion spätestens seit dem 16. Jahrhundert als Reformulierung der platonischen Idea-Konzeption geläufig3 und nach wie vor mit Formulierungen geschlechtsspezifisch kodierter Fähigkeiten und Gattungshierarchien verbunden, die bis heute ihre Wirkungen entfalten.4 1 2 3

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Vgl. dazu ausführlicher Petra Maria Meyer (Hg.), Intuition, Erinnerungs-, Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeiten der Künste, München 2011, im Druck. Sigrid Schade, Intuition als Privileg von Künstlern? in: Meyer 2011 (wie Anm. 1). Von den antiken Wurzeln solcher Künstlermythen zeugt die Kompilation von Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1980; vgl. Erwin Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunstheorie, Berlin 1960, S. 33ff.; ders., Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt am Main 1979, S. 48–54; Martin Warnke, Der Vater der Kunstgeschichte, Giorgio Vasari, in: ders., Künstler, Kunsthistoriker, Museen: Beiträge zu einer kritischen Kunstgeschichte, Luzern/Frankfurt am Main. 1979, S. 16–21; Ursula Link-Heer, Maniera. Überlegungen zur Konkurrenz von Manier und Stil (Vasari, Diderot, Goethe), in: Hans Ulrich Gumbrecht/ K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986, S. 93–114; Sigrid Schade/ Silke Wenk, Inszenierungen des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Hadumod Bussmann/Renate Hof (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995, S. 340–407, bes. S. 351ff. und Sigrid Schade/ Silke Wenk, Strategien des ›Zu-Sehen-Gebens‹: Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte, in: Hadumod Bussmann/ Renate Hof (Hg.): Genus. Geschlechterforschung und Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 144–184, (überarbeitete und erweiterte Ausgabe), und Wolfgang Ruppert, Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998. Immer noch grundlegend ist Rozsika Parker/ Griselda Pollock, Old Mistresses. Women, Art and Ideology, London 1981, bes. S. 50–81; vgl. dazu Schade/ Wenk 2005 (wie Anm. 3), bes. S. 357ff.; Maike Christadler, Kreativität und Geschlecht. Giorgio Vasaris „Vite“ und Sofo-

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Spätestens seit dem 19. Jahrhundert setzte eine Krise der modernen Künstlerschaft ein, die zugleich eine Krise der Kreativität und Inspiration ist, welche nicht mehr allein aufgrund der zugeschriebenen Begabung der Künstler erhältlich zu sein schien, wonach der Künstler ‚aus sich selbst heraus’ oder allenfalls inspiriert vom Göttlichen schaffe. Damit im Zusammenhang stehen auch die Erfahrung und die Inszenierung des Scheiterns. In der Folge sind verschiedene Strategien von Künstlern zu beobachten, ihre Produktion einerseits neu sozial zu legitimieren, andererseits nach neuen Quellen der Inspiration zu suchen.5 Der Kampf um eine Positionierung, von der aus zu sehen gegeben werden kann und darf, was die Schaulust und die Neugier des Publikums erregt und daraus resultierende Macht, findet zunehmend zwischen Künstlern und anderen Akteuren der Gesellschaft statt. Bildende Künstler stehen in Konkurrenz mit Ärzten, mit Ingenieuren und natürlich mit anderen Genres wie Theater, Weltausstellungen und Schaufenstern. Mediale Inszenierungen (Skandale) spielten dabei ebenso eine Rolle wie zufallsgenerierte Techniken oder auch neue Technologien der Indienstnahme von Elektrizität, Magnetismus und Röntgenfotografie, ebenso wie neue Medien – analoge Aufzeichnungs-Geräte wie die Fotografie und der Film, die von Beginn an zugleich dem Generalverdacht begegnen müssen, Kreativität zu ersetzen oder geradezu zu töten.6 Die Metapher und die Praktiken der écriture automatique der Surrealisten stellen einen historisch eher späten Höhepunkt der im 18. und 19. Jahrhundert bereits geführten Diskussionen dar, und geht auf die Debatten über Automaten zurück (Abb. 1).7 Im 20. Jahrhundert trägt Freuds Theorie des Unbewussten zu neuen Einsichten in das

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nisba Anguissolas Selbstbilder, Berlin 2000; Jennifer John/ Sigrid Schade (Hg.), Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktion, Bielefeld 2008. Vgl. auch: Sigrid Schade, Künstlerbiografik, Künstlermythen und Geschlechterbilder im Angebot. Fallbeispiel Marlene Dumas, in: Oskar Bätschmann/ Julia Gelshorn/ Norberto Gramaccini/ Bernd Nicolai/ Peter Schneemann (Hg.), Dienstleistung Kunstgeschichte. Wissen und Gewissen. Anspruch und Auftrag, Emsdetten/Berlin 2008, S. 109–118, und dies., Wie Fiktionen wirklich werden: zur Tradierung von KünstlerInnenmythen, in: Montag Stiftung Bildende Kunst, Bonn/Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg (Hg.), „Heraus aus dem Elfenbeinturm!“ Neue Wege der Kunsthochschulen in die Gesellschaft, Nürnberg 2007, S. 10–17. Mythenbildung ist seit dem 20. Jahrhundert zunehmend nicht mehr auf männliche Autorschaft beschränkt, dazu vgl. spezifisch: Katrin Hoffmann-Curtius/ Silke Wenk (Hg.), Mythen von Weiblichkeit und Autorschaft im 20. Jahrhundert, Marburg 1997. Grundlage aller Untersuchungen in diesem Feld bleibt Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997; vgl. dazu auch Schade/ Wenk 1995 (wie Anm. 3), S. 161f. Gerhard Plumpe, Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München 1990. Vgl.: Roland Carrera u. a., Androiden. Die Automaten von Jaquet-Droz („Les Androïdes“), Lausanne 1979; A. Chapuis, E. Droz, Les Automates des Jaquet-Droz, Katalog des Geschichtsmuseums der Stadt Neuenburg, Neuchâtel o.J., S. 9; Peter Gendolla, Anatomien der Puppe. Zur Geschichte des MaschinenMenschen bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Villiers de l’Isle-Adam und Hans Bellmer, Heidelberg 1992, S. 9–72; Pia Müller-Tamm, Katharina Sykora (Hg.), Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne, Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, Düsseldorf 1999; Sigrid Schade, Die Medien/Spiele der Puppe – Vom Mannequin zum Cyborg, in: Nanette Rissler-Pipka u. a. (Hg.), Der Surrealismus in der Mediengesellschaft – zwischen Kunst und Kommerz, Bielefeld 2010, S. 113–126 und Marcia Pointon, Toys and Automata: Jaquet-Droz and Leschot – Neuchâtel, Paris, London in the 1780s, in:

zur metapher vom ,künstler als seismograph‘

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1 Der Schreiber, Automat Jaquet-Droz, 1774

Verhältnis von Gemeinschaft/Gesellschaft und Individualität bei (Stichwort Intersubjektivität), löst aber traditionell pathologisierende Zuschreibungen der Kreativität von Künstlern keineswegs ab.8 Um der Intuition/Inspiration auf die Sprünge zu helfen, wurden Alkoholmissbrauch oder legaler und illegaler Drogenkonsum ebenso

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dies, Brilliant Effects. A Cultural History of Gem Stones and Jewellery, New Haven/London 2009, S. 223–243. Sigrid Schade, Unbewusste Ästhetik – Ästhetik des Unbewussten. Zur psychologischen und psychoanalytischen Deutung von Kunst und Kreativität. Ein Literaturbericht, in: fragmente, schriftenreihe zur psychoanalyse. Gegenbilder über kunst und kreativität, 20/21, Kassel 1986, S. 327–345.

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zu Experimenten der Ermöglichung wie Musik, Elektroschock, Hypnose, meditative Techniken9 oder aber durch Zufall generierte produktive Techniken, von denen die écriture automatique nur ein Beispiel darstellt. KünstlerInnen haben sich immer wieder selbst aktiv in den Deutungsprozess zur Inspiration eingeschaltet, indem sie sich in die jeweiligen künstlerbiografischen Muster selbst einschrieben und sich mit ‚Techniken der Inspiration’ auseinandersetzten, die mit den jeweiligen zeitgenössischen technologischen Entwicklungen und medialen Formen verschränkt waren. Dies trifft insbesondere auf die Avantgarden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu, die sich mit Manifesten und Traktaten, Almanachen, publizierten Selbstzeugnissen u. a. besonders intensiv in die Deutung ihrer jeweiligen künstlerischen Konzepte eingeschaltet haben.10

der prophet wird seismograph Es ist allerdings immer zu fragen, welche Konzepte mit welchen Begriffen in welchen rhetorischen Bewegungen und mit welchen expliziten und impliziten Motiven in die Künstlertexte eingehen. Es geht nicht darum, z. B. nachzuweisen, ob Kandinsky die Relativitätstheorie Einsteins begriffen hat oder nicht, sondern darum, wie er die in der damaligen öffentlichen Diskussion zirkulierenden Begriffe und Vorstellungen für ein eigenes Theorem ästhetischer Wahrheit und privilegierter Kreativität einsetzt und wie seine Selbstzeugnisse konstitutiv in die Konstruktion der Kunstgeschichte eingehen. Dass dieses Aufnehmen und Verschieben, teilweise auch Entstellen und Kompilieren nicht widerspruchfrei ist, ja sein kann, muss berücksichtigt werden, wenn man nicht in die Falle einer homogenisierenden und harmonisierenden Heroenverehrung geraten will, die das In-sich-Stimmige und Widerspruchfreie als Fetisch von Kreativität und Künstlerschaft aufs Schild der Kunstkritik hebt. Die Künstlerbiografik ist einerseits ein Ergebnis der Kunstgeschichtsschreibung selbst und zugleich aber auch ihr Material, wenn man Kunstgeschichte wissenschaftsgeschichtlich als selbstreflexive Praxis betreibt.

9 Zur Beeinflussung des Schöpferischen durch Musik, Rausch und Wahnsinn (Pathologisierung und Psychologisierung) lässt sich ebenfalls eine Traditionslinie bis in die Antike nachziehen. Vgl. Kris/ Kurz (wie Anm. 3), S. 147ff.; Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt am Main 1986. Zum Wettstreit zwischen Medizinern, Psychiatern und Künstlern in Bezug auf die Hypnose im 19. Jahrhundert vgl. die Ausführungen zur Psychologie Nouvelle von Deborah L. Silverman, Art Nouveau in Finde-siècle France. Politics, Psychology and Style, Berkeley/Los Angeles/London 1989, bes. S. 17ff., S. 75ff. und S. 229ff..Vgl. dazu auch Sigrid Schade, Charcot and the spectacle of the hysterical body. The “Pathos Formula” as aesthetic staging of psychiatric discourse, in: Art History 3/1995, S. 499–517 (überarbeitete Fassung der deutschen Version, in: Silvia Baumgart u. a. (Hg.), Denk-Räume. Zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1993, S. 461–484). 10 Als Paradebeispiel der Selbsteinschreibung eines Künstlers in traditionelle Künstlermythen vgl. Kathrin Heinz, Heldische Konstruktionen. Von Wassily Kandinskys Reitern, Rittern und heiligem Georg, unveröffentlichte Dissertation, Bremen 2010 (im Druck), bes. die Kapitel „Künstler kämpfen“, „Künstler leiden“, „Sehen und Prophezeien“, „Heiliges koalieren“.

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Figurationen der Kreativitäts-Krise und Strategien ihrer Bewältigung, die sich zwischen Märtyrer, Messias und Prophet bewegen, erhielten seit dem 19. Jahrhundert spezifische Ausprägungen.11 Die Metapher vom Künstler als Seismograph beginnt sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu häufen und scheint auf den ersten Blick direkt an die Figur des Künstlers als Prophet anschließbar zu sein.12 Im Folgenden möchte ich darauf eingehen, aus welchem Bereich die Metapher vom Seismograph stammt und welche Auswirkungen sie auf das Intuitionskonzept im 20. Jahrhundert hat.13 Der erste Befund zeigt bereits, dass die Wanderung des Begriffs aus dem Feld der Geophysik und der indexikalischen Darstellung von Messergebnissen in die Sphäre der Kunst oder der Kunstkritik eine verspätete ist und dabei die im ursprünglichen Feld entfaltete Bedeutung geradezu umgekehrt wird.14 Es handelt sich also um eine technische Metapher, die in die Diskurse um Künste und Künstler Eingang gefunden hat, dabei aber nicht gleich geblieben ist, sondern verschoben oder sogar entstellt wird.

der seismograph ist ein apparat zur messung und visualisierung von erdbewegungen und – bislang – kein frühwarnsystem Wer sich intensiver mit Seismographen, Seismogrammen und der Wissenschaft der Seismologie beschäftigt, stellt rasch fest, dass das, was sie nicht zuletzt in ihren Apparaten und Visualisierungen bis auf den heutigen Tag zu leisten oder besser nicht zu leisten vermag, geradezu diametral von dem abweicht, was in der Redefigur vom Künstler als Seismograph zu finden ist.15 Instrumente zum Nachweis von Erdbeben lassen sich bis ins Jahr 132 n. Chr. zurückverfolgen (China).16 Der elektromagnetische Seismograph zur Messung und Darstellung von Erdboden-Verschiebungen und Spannungen zwischen tektonischen Platten wurde seit 1856 entwickelt, aber erst ab 1880 bzw. 1889 wurden die ersten Beben eher zufällig registriert, das letztere in Potsdam als ein Beben, das in weiter

11 Bätschmann 1997 (wie Anm. 5), S. 71, 72, 148–153, 157–164. Allgemein dazu: Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007. 12 Es handelt sich in diesem Aufsatz um die Ergebnisse einer ersten Sichtung, die keine Vollständigkeit beansprucht. 13 Zur grundsätzlichen Metaphorizität medialer und technischer Begriffe vgl. Georg Christoph Tholen, Metaphorologie der Medien, in: ders., Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt am Main 2002, S. 19–60. 14 Vgl. dazu Mieke Bal, Kulturanalyse, Frankfurt am Main 2006, S. 7f. und Sigrid Schade/ Silke Wenk, Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, im Druck. 15 Im Folgenden verweise ich für einen ersten Überblick auf den Text von Erhard Wielandt, Seismographen, in: Wechselwirkungen (Jahrbuch aus Lehre und Forschung der Universität Stuttgart), Stuttgart 1996, vgl. auch http://www.geophys.uni-stuttgart.de/oldwww/seismo metry/seismo_htm/seismographen.htm (13.11.2010). 16 Ebd., S. 8.

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Das erste bekannte Seismogramm eines Fernbebens, 1889 in Potsdam aufgezeichnet 2

Ferne, in Japan, stattfand (Abb. 2).17 Der Seismograph gehört also zu den „Aufschreibesystemen“ (Friedrich Kittler)18, denjenigen Medienerfindungen des 19. Jahrhunderts, die Phänomene der Realität scheinbar ‚direkt‘ ohne ‚Übersetzung‘ aufzuzeichnen versprachen, was man auch im Sinne des Sprachtheoretikers Charles Sanders Peirce als eine indexikalische Repräsentation bezeichnen kann, oder medienhistorisch als analog zur Fotografie und der Tonbandaufnahme etc., deren Repräsentationen sich als Spur der Wirklichkeit, des ‚Realen‘ ausgaben und ausgeben, was diesen ihren historischen Erfolg als Evidenzbeweis bescherte,19 womit z. B. die Kittler-Schule auch heute noch medientheoretisch operiert.20 Bereits der Künstler/Psychiater Jean Martin Charcot hatte auf die Kritik an der Inszenierung seiner Fotografien der hysterischen Anfälle von Patientinnen behauptet: „In Wirklichkeit stehe ich nur da wie ein Fo17 Ebd., S. 9, 10. 18 Ich verwende hier den Begriff von Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme, 1800/1900, München 1985, bes. S. 211–270. 19 Vgl. dazu das Kapitel „Artikulationen von Evidenz“ in: Kerstin Brandes, Fotografie und ‚Identität‘. Visuelle Repräsentationspolitiken in künstlerischen Arbeiten der 1980er und 1990er Jahre, Bielefeld 2010, S. 49–99, vgl. dazu auch: Schade/ Wenk 2011 (wie Anm.14). 20 Dass die Zeichenkategorie des Index nach Peirce nicht absolut von den Kategorien Symbol oder Ikon zu trennen ist, darauf weist auch Mieke Bal hin, in: Bal 2006 (wie Anm. 14).

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tograf, was ich sehe schreibe ich auf.“21 Es gibt eine Reihe weiterer, ähnlicher technischer Metaphern, die mit dem Künstler verbunden wurden, so z. B. von Marshall McLuhan, der den Künstler als Radar, als Antenne etc. und infolgedessen als eine Art „Frühwarnsystem“ beschreibt.22 Ich verzichte darauf, an dieser Stelle näher auf diese einzugehen, möchte stattdessen auf das Buch von Dieter Daniels, Kunst als Sendung, hinweisen, der unter diesem mindestens zweideutigen Titel die entsprechenden Vergleiche zwischen den technischen und medialen Errungenschaften von der „Telegrafie zum Internet“ mit der Kunst und deren Effekten historisch nachzeichnet.23 Der Seismograph ist ein medialer Verbund, bestehend aus Seismometer und Registriereinheit. Teile des Apparates registrieren Bewegungen, diese werden in Kombination mit einem Zeitmesser aufgezeichnet.24 Dabei entsteht das sogenannte Seismogramm: zunächst auf gerußtem Papier, dann als Fotogramm oder Fotografie visualisiert.25 Erst mit dem Fotogramm oder der Fotografie kann man nicht nur von temporärer Visualisierung, sondern auch von Speicherung sprechen. Seit dem Einsatz elektrischer Signale können Reibungsunschärfen etc. vermieden werden. Mittlerweile werden die Daten digitalisiert und prozessiert, sie durchlaufen Filterprogramme und werden via Internet in Echtzeit allen Mess- und Forschungsstationen zur Verfügung gestellt und können beliebig visuell oder auditiv dargestellt werden.26 Man kann sie auch jederzeit nachträglich anfordern, um sie mit neuen zu vergleichen.27 Allerdings haben es der Seismograph oder die Seismologie generell bis heute verfehlt, ein ‚Frühwarnsystem‘ von Erdbeben zu sein. Gemessen und visualisiert werden induzierte Beben, z. B. von Talsperren erzeugte Beben, Mikrobeben, mikroseismische Unruhe, Sprengungen (etwa in Steinbrüchen), atomare Explosionen, Verkehrserschütterungen, Erdbeben etc., nachdem sie stattgefunden haben. Aufgezeichnet werden je nach Bauweise des Instruments die Beschleunigung, Geschwindigkeit, Auslenkung (Bodenbewegung), Magnitude des Erdbebens, Ort der Entstehung (Epizentrum und Hypozentrum), das Frequenzspektrum oder die zeitliche, räumliche und energetische 21 Jean Martin Charcot zit. in: Manfred Schneider, Nachwort in: Jean Martin Charcot, Die Besessenen in der Kunst, Göttingen 1988, S. 145. 22 Vgl. Kalina Kukielko/Barbara Rauch, Marshall McLuhan & Vilem Flusser: The New Model Artists, Flusser Studies 06, S. 4. (Ich danke Sigrid Adorf für den Hinweis). Neuerdings wird das Spektrum durch weitere Apparatevergleiche ergänzt: z. B. Peter Stohler, Tomograph. Künstlerinnen im Gespräch, Stuttgart 2009. 23 Dieter Daniels, Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet, München 2002, bes. S. 91f.: Prophezeiung und Poesie der drahtlosen Welt. 24 Wielandt 1996 (wie Anm. 15), S. 1–2. 25 Ebd., S. 8–10, 17. 26 Erdbebenwellen folgen denselben physikalischen Gesetzen wie Schallwellen. Die Frequenzen liegen unterhalb des menschlichen Wahrnehmungsbereichs. Selbstverständlich lassen sich seismische Frequenzen auch akustisch darstellen bzw. hörbar machen, z. B. in dem man die Abspielgeschwindigkeit erhöht oder digitale Nachbearbeitungen vornimmt. Audifikation und Sonifikation sind Darstellungsverfahren, mit denen sich auch Florian Dombois beschäftigt, wobei er allerdings dem Mythos der Indexikalität aufsitzt, z. B. indem er vom „sich hörbar machen“ der Erdbebenwellen schreibt, um daraus eine fragwürdige Poetologie abzuleiten. Vgl. Florian Dombois, Reflektierte Phantasie. Vom Erfinden und Erkennen, insbesondere in der Seismologie, in: Paragrana 2006, Beiheft 2, S. 101–111. 27 Wielandt 1996 (wie Anm. 15), S. 15f.

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Verteilung. Die Bodenbewegungen lassen sich aus den Seismogrammen berechnen. Ausgewertet – interpretiert, wenn man so will – werden die Daten nachträglich. Ob und wann Erdbeben auftreten können, darauf kann die Seismologie nicht antworten; sie kann bislang allenfalls statistische Wahrscheinlichkeiten angeben oder, wie im Falle von Tsunamis, die selbst von Seebeben ausgelöst werden, versuchen, diesen in der Geschwindigkeit der Reaktion vorauszueilen.

der künstler ist seismograph – von was? Die Redeweise vom Künstler oder der Künstlerin als Seismograph ist in Kunstgeschichte und Kunstkritik derart geläufig, dass die Metapher als solche nicht mehr wahrgenommen, geschweige denn ihre Bedeutung in der Geophysik erinnert wird. Ich habe inzwischen zwar zahlreiche Beispiele für die Verwendung des Begriffs gefunden, aber keinen einzigen Beitrag, in dem er kontextualisiert oder analysiert würde. Auch wenn es historische Vorformen gibt, so habe ich mich in meiner Suche auf den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhundert bis heute konzentriert, da der elektromagnetische Seismograph 1856 entwickelt wurde und Ende des 19. Jahrhunderts die ersten spektakulären Fälle der Registrierung von Erdbeben stattfanden. Ein erster Blick zeigt bereits, dass sich praktisch jede künstlerische Produktion, jede stilistische Richtung mit einer angeblich seismografischen Funktion des Künstlers oder seiner künstlerischen Produktion in Verbindung bringen lässt (figurative, abstrakte, konzeptuelle und performative Kunst, Fluxus etc.). Die Funde häufen sich seit Beginn der 1990er Jahre, also seit der medientechnischen Revolution des Computers und des Internets und im Zuge der Diskussionen über die sozialen Folgen einer neoliberalen Wirtschaft und der Globalisierung, was möglicherweise selbst ein Effekt des Internets ist. Da von der Materialsammlung her noch keine historisch eindeutigen Befunde vorliegen, wann die Metapher gehäuft auftritt, und wie sich dies mit welchen historischen Ereignissen – seien es Kriege, Katastrophen, technische und soziale Umwälzungen etc. – in Verbindung bringen lässt, habe ich mich entschieden, zunächst Redefiguren und deren Inhalte diskursanalytisch herauszuarbeiten, soweit sie ausgesprochen oder unausgesprochen spezifische Konzepte von Künstlerschaft, Intuition und Kreativität transportieren und mit der Seismographen-Funktion verbinden. Die in diesem Zusammenhang verwandten Zitate können als stellvertretend für ähnliche andere stehen.

der künstler als prophet-seismograph unheilvoller oder visionärer gesellschaftlicher umbrüche So sieht sich z. B. der 1878 geborene und 1955 gestorbene, seines Amtes als Hochschullehrer 1933 von den Nationalsozialisten enthobene, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Rektor der Hochschule der Künste in Berlin West eingesetzte Künstler Karl Hofer, der in den 1920er, und 30er Jahren einen expressiven realistischen Stil ent-

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wickelte, als einen auf die politische Situation bezogenen Rufer in der Wüste. 1947 – also nachträglich zu den historischen Ereignissen, die er meint – schrieb er an Hans-Carsten Hager, „dass in meinem Werk viel Vorahnung des kommenden sich findet. Der Künstler ist eben ein Seismograph der das Unheil vorausregistriert. Nicht nur bei mir findet sich diese Erscheinung.“28 Der Rufer, aus alter christologischer Perspektive der einsame Prophet, der nicht erhört wird, setzt sich hier in der Vorstellung vom Seismographen fort. Nicht Unheil, sondern Heil oder zumindest aussichtsreiche Zukunftsvisionen versprach dagegen ein Symposium in Bregenz Ende 2009 zum „Architekten als Seismograph“: „Gemeinsam ist diesen Gästen, die jeweils in Vorträgen ihre spezifischen Schwerpunkte darlegen, die Lust am Experimentieren, das Erkennen von neuen Strömungen und – als Lebensnerv von Entwicklungsprozessen – mitunter auch das instrumentalisierte Scheitern.“29 Der Titel des Symposiums ist allerdings nicht neu: Hans Hollein hatte bereits der 1996 von ihm geleiteten Architekturbiennale in Venedig das Motto gegeben: „Die Zukunft erahnen – der Architekt als Seismograph.“30 Nicht immer ist die Herkunft der Metapher so wörtlich aus einer spezifischen Auseinandersetzung mit Erdgeschichte und Geophysik abzuleiten wie hier. Zwischen 1994 und1997 projektierte Hans Hollein das Science Center VULCANIA in Saint-Ours-Les-Roches in der Auvergne in Frankreich, das 2002 fertig gestellt wurde, in dem sich Familien und vor allem Kinder und Jugendliche in einer unterirdischen Anlage inmitten erloschener Vulkane in der Nähe des Puy de Dome spielerisch Wissen zur Erdgeschichte und deren Erforschung aneignen können.31 Am weitesten in Richtung einer Zukunftsvision geht das Zitat des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, das sich auf die Warnungen vor einer ökologischen Krise bezieht. Er sah in der Kunst den „seit über hundert Jahren sensibelsten Seismograph der kommenden Menschheitskrise“,32 wobei hier festzuhalten ist, dass er von der Kunst und nicht vom Künstler als Seismograph spricht. In allen diesen Instrumentalisierungen der Seismograph-Metapher ist sie die moderne und mediale Variante des Propheten-Konzeptes, bei der die Perspektive der Geophysik umgekehrt wird. Nicht Vergangenes wird vom Künstler registriert, sondern Kommendes.

28 Kassandra. Visionen des Unheils. 1914–1945, hg. von Stefanie Heckmann und Hans Ottomeyer, Ausst.-Kat. Deutsches Historisches Museum, Berlin 2009; http://www.dhm.de/ausstellungen/kassandra/index.html. 29 Ankündigung zum Symposium im Kunsthaus Bregenz „Der Architekt als Seismograph“ 30./31. Oktober 2009. www.kunsthaus-bregenz.at (14.12.2010). 30 Giovanni Keller (Hg.), Sensing the future – the architect as seismograph: 6th International Architecture Exhibition; Venice, September 15–November 17, 1996/La Biennale di Venezia, Director of the exhib.: Hans Hollein, Mailand 1996, S. 1. 31 http://www.vulcania.com/ (13.11.2010). 32 Carl Friedrich von Weizsäcker zitiert nach Hildegard Kurt im Interview „Kunst als sensibler Seismograph der Menschheitskrise“ mit kulturkontakt. http://www.kulturkontakt.or.at/Print. aspx?target=258908 (13.11.2010). Hildegard Kurt ist Mitgründerin des „und. Institut für Kunst, Kultur und Zukunftsfähigkeit“, dessen Büro in Berlin sie leitet.

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künstler als registrare aktueller gesellschaftlicher strömungen Die Rede vom Künstler als Seismograph lässt sich nicht nur in Bezug auf bildende Künstler oder Architekten finden, sondern natürlich auch in Bezug auf Schriftsteller. Schon 1952 beschreibt Hermann Kasack den Schriftsteller Arno Schmidt als „Poetischen Seismograph“.33 Vom deutschen Autor Dieter Forte heißt es u. a., „zahlreiche Hörspiele und Fernsehfilme machten ihn auch einem breiteren Publikum bekannt als Seismograph der bundesdeutschen Wirklichkeit“.34 Hier scheint die Metapher eine Gleichzeitigkeit, Aktualität und Gegenwärtigkeit des Künstlers als Zeitgenosse zu bezeichnen, ebenso wie im nächsten Zitat. Der deutsche Künstler Thomas Schütte antwortete auf die Frage nach einem Sabbatical: „Ich arbeite schon noch. Ich zeichne immer alles mit, auch die Desaster. Das wäre eine schöne Definition: Man nimmt als zeitgenössischer Künstler keine Posen ein, sondern ist eher ein Seismograph, der die Ereignisse mit zittert. Kein Held, Impresario oder Selbstdarsteller, sondern ein angstfreier Seismograph“35. Die Nähe solcher Aussagen zu der oben bereits zitierten Selbstbeschreibung Jean Martin Charcots, „in Wirklichkeit stehe ich nur da wie ein Fotograf, was ich sehe schreibe ich auf“, ist offensichtlich. Hier versteht der Künstler den Seismograph und sich selbst als zeitgenössische Registriermaschine aktueller gesellschaftlicher Ereignisse und Befindlichkeiten.

der künstler als seismograph seiner selbst (und seiner ängste oder affekte) Ganz im Sinne der Vorstellung von Kunst, die der Künstler als intuitiver, spiritueller Schöpfer aus sich selbst erschaffe, wird z. B. über Jackson Pollock geschrieben: „Nach Pollocks Tod ist das von ihm verkörperte action painting als Ausdruck von Freiheit und Individualität gefeiert und auch ideologisch in Dienst genommen worden. In Wahrheit führte der Maler einen lebenslangen Kampf mit sich selbst, seinen Ängsten und Aggressionen. Am Ende richteten sie sich gegen ihn, als er keine Leinwand mehr fand, auf der er sie ausleben konnte.“36 Die Leinwand wird gedacht als ‚Seismogramm‘ der seelischen Bewegungen, die der Künstler in motorische übersetzt und mit Farbe aufzeichnet. Hier bezieht sich die indexikalische Beziehung der Spur auf den Künstler selbst (Abb. 3). Um die Metapher auf die Spitze zu treiben, könnte man im Falle Pollocks sagen, dass die Seismographentätig-

33 Hermann Kasack, Ein poetischer Seismograph, in: Neue Literarische Welt vom 10. Januar 1952, wieder abgedruckt in: Hans-Michael Bock, Über Arno Schmidt Rezensionen vom „Leviathan“ bis zur „Julia“, Zürich 1984, S. 21. 34 http://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Forte (13.11.2010). 35 http://www.sueddeutsche.de/muenchen/thomas-schuette-in-muenchen-matsch-undquatsch-1.448982 (16. 12. 2010). 36 http://www.tagesspiegel.de/kultur/der-dunkle-stern/739302.html (13.12.2010).

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3 Jackson Pollock, Stenographic Figure, Öl auf Leinwand, 1942

keit des Künstlers mit dem Autounfall als vermuteter Selbstmord durch einen Höchstausschlag zu ihrem dramatischen Ende kommt. Wer 2009 in Deutschland die Auseinandersetzung um den Rapper Kaas und dessen Lied Amok Zahltag verfolgte, das zusammen mit einem Musikvideo – ungeplant – kurze Zeit nach dem Amoklauf in Winnenden mit seinen fünfzehn Opfern veröffentlicht wurde, könnte in den Fernsehsendungen Hart aber Fair und Titel Thesen Temperamente gehört haben, dass Lieder wie Amok Zahltag „ein Seismograph für Frust und Aggression“ seien. In diesem Fall sind Frust und Aggression gesellschaftlicher Außenseiter, sowohl solche des Rappers selbst als auch – und das ist, was problematisiert wurde – die seiner Fangemeinde gemeint. Kaas selbst sagt: „Ich möchte mit diesem Lied Menschen dazu inspirieren, ihre Aggressionen in Kunst zu verwandeln, indem sie Bücher schreiben, Bilder malen oder auch Musikstücke über ihre Gefühle komponieren.“37 Mit diesen Hinweisen erreichte der Rapper, dass das Lied und das Video von der Tübinger Staatsanwaltschaft als „nicht eindeutig gewaltverherrlichend“ eingestuft wurde.38

kuratoren und ausstellungen als seismographen Kuratoren oder ihre Ausstellungen können selbst ebenfalls zu Seismographen, sozusagen zu Meta-Seismographen werden. Hier nur einige von sehr vielen Beispielen: Im Vorfeld der von Roger Buergel kuratierten documenta 12 in Kassel wird in einer 37 Einblendung des Zitats auf dem Video Amok Zahltag, vgl. http://de.wikipedia.org(wiki/Kaas_ (Rapper) (13.11.2010). 38 Ebd.

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Presseerklärung 2007 behauptet: „Die documenta ist zu einem weltweit verbindlichen Seismographen der zeitgenössischen Kunst avanciert.“39 Marius Babias äußert sich 2008 in art online im Gespräch über seine Pläne als neuer Direktor des Berliner Kunstvereins u. a.: „Bislang ist zu wenig von den positiven Potenzialen die Rede, die die Kunst besitzt, um am europäischen Neugestaltungsprozess teilhaben zu können. Die alte Ost-West-Dichotomie ist von Konstruktionsprinzipien wie Ethnie, Identität, Nationalstaatlichkeit geprägt, ein Ballast, der über Bord gehört. Die EU-Neumitglieder bringen ein neues Verständnis, einen neuen Blick auf die Welt. Ich sehe es als die Aufgabe eines Kunstvereins an, frühzeitig als Seismograf am europäischen Gestaltungsprozess mitzuwirken“.40 Die österreichische Performance-Künstlerin Birgit Ramsauer stellt 2009 ganz in dieser Tradition fest: „Die Kunst ist ein Seismograf, ein feiner Fühler für Veränderungen. Sie ist eine Stütze der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Orientierungsversuchen innerhalb einer Gesellschaft. Bei vielen Künstlern und Kuratoren werden Denkrichtungen schon erspürt, ehe sie offiziell sichtbar werden.“41 2010 verkündet auch das Haus der Kulturen der Welt in Berlin anlässlich seines 20jährigen Bestehens, es wolle sich „zu einem Seismographen für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen entwickeln.“ Dabei sind nicht zeitgenössische künstlerische Praktiken generell gemeint, sondern internationale politische Veränderungen, um „daraus deutsche Fragestellungen zu entwickeln“.42

die übertragung auf andere gesellschaftliche felder und akteure Der Vergleich mit Künstlern macht Akteure in anderen gesellschaftlichen Feldern ebenfalls potenziell zu ‚Seismographen‘. Im Falle des Gründers des World Economic Forums, Klaus Schwab, wird seine Selbstbeschreibung als Künstler anlässlich des WEF in Davos 2010 auf einer Seite mit Artikeln zum Erdbeben in Haiti montiert, so dass eine entsprechende Konnotation dieser Selbstbeschreibung mit Bezug auf die Seismologie erfolgt. Mit einem Hinweis auf die Risiko-Reports des WEF schreibt er: „Ich fühle mich wie ein Kreator oder wie ein Künstler. Ich liebe es, Probleme zu sehen und dafür zu sorgen, dass man etwas tut, um sie zu lösen.“43 (Abb. 4) Soweit einige Funde, die ich hier stellvertretend nenne.

39 http://www.documenta.de/geschichte010.html (13.12.2010). 40 Art im Gespräch mit Marius Babias, „Als Seismograph am Europäischen Gestaltungsprozess mitwirken“, vgl. http://www.art-magazin.de/szene/3085.html (13.11.2010). 41 http://www.seismograf.ch/seismograf.html (13. 12. 2010). 42 Bernd Scherer, vgl. http://www.artefacti.de/abstrakte-kunst/index.php/kunst-nachrichten2010/januar-2010/6224-scherer-haus-der-kulturen-als-seismograph.html (13.11.2010). 43 Interview mit dem Gründer des World Economic Forums, Klaus Schwab: Ich fühle mich wie ein Künstler. Daneben: Bericht über Auswirkungen des Erdbebens in Haiti und die Finanzkrise auf das WEF in Davos 2010. In: Süddeutsche Zeitung Nr. 18, 23./24. Januar 2010, S. 26.

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4 WEF Klaus Schwab, Interview mit dem Gründer des World Economic Forums, Klaus Schwab, 23./24. Januar 2010

zur nachträglichkeit der zuschreibung Das Konzept vom Künstler als Seismograph ist eine moderne Reformulierung der Tradition des Künstlers als Prophet und/oder Zeuge. Die Metapher, die sowohl von Künstlern selbst wie von Kunstkritikern seit dem späten 19. Jahrhundert verwendet wird, schreibt der Person des Künstlers eine spezifische Sensibilität zu, die (gesellschaftliche) Spannungen früher sichtbar mache als andere Personen oder diese geradezu voraussehe. In diesem Sinne versteht sich der Künstler gewissermaßen selbst als Medium. Innerhalb des Konzeptes scheint der Künstler seine privilegierte Position zu behalten, da ihm dadurch außergewöhnliche Sensibilität zugeschrieben wird. Auf der anderen Seite wird seine Autorschaft oder Kreativität als automatisierte vorgestellt, ein Konzept der écriture automatique. In der Anwendung der Metapher auf Künstler und ihr Werk scheint dies keine Rolle zu spielen. Obgleich man verschiedene Konnotationen des Gebrauchs der Metapher findet, ist eine Zuschreibung fast immer enthalten: Der Künstler sei der zeitgenössischen Gesellschaft voraus in der Wahrnehmung von kommenden Katastrophen, Ereignissen, von Effekten neuer Technologien und sozialem Wandel oder seiner eigenen Affekte. Die Konnotation, die der Seismograph in Kombination mit Künstlerschaft erhält, ist eine Inversion derjenigen im Kontext der Geophysik.

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der historiker als seismograph Die Verwendung der seismologischen Metapher hat in meiner eigenen wissenschaftlichen Biografie früh eine Reflexion über Geschichte und Geschichtlichkeit ausgelöst, die unauflöslich mit dem Namen Aby Warburgs verbunden ist. Warburgs Vorliebe für technische Metaphern ist bekannt. Das Konzept des Dynamogramms, wie er Bilder als Affektspeicher bezeichnete, ist dem des Seismogramms im geophysikalischen Sinne sehr nahe. Gleichwohl unterscheidet sich der Bezug des Historikers auf die Metapher grundlegend von den oben erwähnten Konzepten im Zusammenhang von Künstlerschaft oder künstlerischer Produktion. Und dies obgleich der Historiker ebenfalls als eine Art Künstler aufgefasst wird. Der Biograf Warburgs, Ernst W. Gombrich, schrieb: „ Es sind die Künstler und Historiker, die auf diese unsichtbaren Einflusskräfte der Vergangenheit am empfindlichsten reagieren. (…) Er ist der Seismograph, der die Erschütterung ferner Erdbeben registriert, oder die Antenne, die die Wellen entfernter Kulturen auffängt. Sein wissenschaftlicher Apparat, seine Bibliothek ist die Empfangsanlage, die diese Einflusskräfte aufzeichnen und sie damit im Griff behalten soll.“44 Warburgs eigene Formulierung lautet: „Wir müssen Burckhardt und Nietzsche als Auffänger der mnemischen Wellen erkennen und sehen, dass das, was sie als Weltbewusstsein haben, sie beide in ganz andrer Weise ergreift. (…) Beide sind empfindliche Seismographen, die in ihren Grundfesten erbeben, wenn sie die Wellen empfangen und weitergeben müssen.“ 45 Auch Warburgs Text ist historisch und biographisch zu situieren, seine Beschreibung des Historikers ist ebenfalls eine partielle Adaption des leidenden Künstlers. Er hatte diesen Vergleich nach der Rückkehr aus der Binswanger-Klinik in Kreuzlingen gemacht, nachdem er von seinem Zusammenbruch genesen war. Darauf verweist Georges Didi-Huberman zu Recht, indem er die Identifikationen Warburgs mit den beiden Seher-Typen Burckhardt und Nietzsche thematisiert.46 Burckhardt ist der Seismograph, der die Bewegungen aufzeichnet, ohne zu zerbrechen, Nietzsche der Seismograph, der – indem er sich zum Aufzeichnungsmedium macht – daran zerbricht. Die Erfahrung des Zusammenbruchs gerade hinter sich und darin dem leidenden Märtyrer-Künstler ähnlich, bemüht sich Warburg, die Burckhardtsche Version zu vermitteln. Das seismographische Gleichnis bezieht sich in beiden Fällen auf die Vergangenheit, die räumliche Distanz zum Bewegungsherd wird als zeitliche und als historische übersetzt. Die Aufgabe des Künstlers oder des Historikers ist Warburgs Auffassung nach, die vergangene Dynamik zu deuten und für die eigene Zeit fruchtbar zu machen und sich gewissermaßen auch gegen zu hohe Energiequanten zu schützen. So ist es die eigene Zeit, die die Deutung der vergangenen Erregung vornimmt und sie je nach Mitschwingen – d. h. projektiver Wiederkehr 44 Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main 1984, S. 343. 45 Aby Warburg, Burckhardt Übungen, Notizbuch 1927, zit. nach: Gombrich 1984 (wie Anm. 44), S. 344. 46 Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Frankfurt am Main, 2010, S. 131f. „Seismographie der bewegten Zeiten“.

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– umformuliert. Visionäres und Prophetisches wird erst von einer Zukunft her als solches definiert, d. h., der Seismograph zeichnet nicht einfach auf, sondern er übersetzt, verschiebt, deutet um. Der Historiker – und der Künstler – ist demnach jemand, der zwischen Zeiten und Deutungen vermittelt. Diese Bewegung der Nachträglichkeit, wie sie in der Seismographen-Metapher angelegt ist, gerät in den oben zitierten Beispielen aus dem Bereich der Kunstgeschichte oder -kritik völlig aus dem Blick. Die Nachträglichkeit ist es, die das Konzept der Registriermaschine und des Aufschreibesystems Lügen straft. Die scheinbare Evidenz der kulturellen Aufgabe der Künstler, wie sie in der Seismographie-Metapher als prophetische und visionäre hergestellt wird, erscheint als das, was sie ist, eine rhetorische Operation, die das kulturelle Gewebe aller Deutungen verkennt und unsichtbar werden und dabei die grandiose, narzisstische Selbstüberschätzung oder Fremdzuschreibung an die Künstler als evident oder gar natürlich erscheinen lässt. Es bleibt zu hoffen, dass der gedankenlosen Zirkulation des Begriffs im Kunstbereich das Korrektiv des Warburgschen Konzeptes häufiger entgegengestellt werden wird: „Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, dass sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem, dass sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen.“47

47 Walter Benjamin, Gesammelte Werke, Frankfurt am Main, 1991, Bd. V, S. 577.

effizienz und verschwendung paradoxien des künstlerbildes im 21. Jahrhundert

beatrice von bismarck Wenn sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein Fashion-Label, das in seinen Schaufenstern mit riesig vergrößerten Farbklecksen wirbt, The Artist nennt, wenn Künstlerinnen und Künstler nicht nur als Schamanen, Therapeuten, Eremiten, Spurensucher oder Kulturarbeiter, sondern auch als Forscher, öffentliche Intellektuelle oder Kreative betitelt werden, als Berater, Mediatoren, als Gestalter von sozialen und urbanen Räumen – dann deutet das zweifellos darauf hin, dass die Vielfalt der Rollenbezeichnungen nicht nur seit dem 19. Jahrhundert, sondern nochmals seit den 1960ern deutlich zugenommen hat. Hat sich aber, so wäre zu fragen, das gesellschaftliche Rollenmodell des Künstlers damit grundlegend geändert? Geht es hier nicht eher um diversifizierte Erscheinungsformen von dem künstlerischen Habitus eingeschriebenen ,Prototypen‘, die uns seit der Neuzeit, spätestens aber seit der Moderne vertraut geworden sind? Behauptet werden soll damit nicht, dass sich die Anforderungen an Künstler/ innen, an ihre Arbeit und Kompetenzen, oder dass sich ihre Handlungsspielräume nicht gewandelt hätten, vergleicht man das 19. mit dem 21. Jahrhundert. Aber der gesellschaftliche Status, der Künstler/innen zugesprochen wird, verlässt sich nicht auf die tatsächlichen beobachteten Fähigkeiten, sondern auf die Bilder, auf die Vorstellungen, die sich eine Gemeinschaft vom Künstler macht. ,Der Künstler als ….‘ dient dabei als Formel, die einerseits auf diese, in den letzten vierzig Jahren wesentlich gewachsene Vielfalt möglicher Rollen verweist.1 Andererseits hilft sie aber auch zu verschleiern, worin sich der Künstler-Auftritt ,als‘ von einem Auftritt unterscheidet, wie ihn andere Mitglieder einer Gesellschaft, etwa Apotheker/ innen, Handwerker/innen oder Schauspieler/innen vornehmen können. Angesichts der Diversität des zur Verfügung stehenden Rollenrepertoires soll der Blick auf diese unterschiedlichen Positionierungen gerichtet werden, darauf, dass hier Personen an-

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Zur Vielfalt der Rollenzuschreibungen vgl. etwa Eremit? Forscher? Sozialarbeiter? Das veränderte Selbstverständnis von Künstlern, Ausst. Kat. Hamburg, Kunstverein in Hamburg/ Kunsthaus Hamburg 1979, Hamburg 1979; Barbara Lange, Joseph Beuys. Richtkräfte einer neuen Gesellschaft. Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin 1999; Dieter Lesage/ Kathrin Busch, A Portrait of the Artist as Researcher, in: Andere Sinema/ AS Mediatijdschrift, Antwerpen 2007, S. 179; Stephan Schmidt-Wulffen (Hg.), The Artist as Public Intellectual, Wien 2008; Donald Kuspit, Der Kult vom Avantgarde-Künstler, Klagenfurt 1995; Oskar Bätschmann, Der Künstler als Erfahrungsgestalter, in: Jürgen Stöhr (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, Köln 1996, S. 248–281; Heinz Knobeloch, Porträt des Künstlers als Nomade und Bastler, in: Martin Hellmold/ Sabine Kampmann/ Ralph Lindner/ Katharina Sykora (Hg.), Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 213–228 sowie Matthias Michalka (Hg.), The Artist as …, Wien 2007.

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treten, ihre Rolle vorsätzlich künstlerisch auszulegen, und dass ihr Auftritt mithin bereits eine Rollenübernahme, eben diejenige als ,Künstler‘, voraussetzt. Grundlegende Annahme ist dabei, dass es sich bei dem Auftritt nicht um Muster künstlerischer Selbststilisierung handelt, die exklusiv Künstler/innen zur Verfügung stehen, sondern dass alle, die dem Schauspiel beiwohnen, an der Ausgestaltung der Rolle ebenso wie an der Formulierung des Skripts, dem diese jeweilige Rolle folgt, mitwirken. Die Definition des ,Künstlers‘, mithin historisch variabel, entwickelt sich in diesem Geflecht als fortwährend neu zu findende Übereinkunft zwischen den Beteiligten, Individuen und Institutionen gleichermaßen. Für das jeweils gültige Bild des Künstlers können entsprechend nicht vorrangig Künstlerinnen und Künstler verantwortlich gemacht werden, sondern sie tragen gleichberechtigt mit allen anderen im Feld Handelnden zu ihm bei, Kritiker/innen, Kurator/innen, Wissenschaftler/innen, Galerist/innen, künstlerisch Ausbildende und Auszubildende, Sammelnde und Betrachtende sowie die mit ihnen jeweils assoziierten Einrichtungen. Das Schauspiel ist ,Spiel‘ im Sinne der Definition Pierre Bourdieus, ein Feld, in dem die Individuen und Institutionen mit unterschiedlichen Machtgraden und damit Erfolgsaussichten gegen einander antreten, um sowohl über die ,Profite‘, die auf dem Spiel stehen, als letztlich auch über die Regeln des Spiels mitbestimmen zu können. In ihm können fachliche Anerkennung, gesellschaftlicher Ruhm oder wirtschaftlicher Erfolg eingebracht werden, wenn es darum geht, sich eine Position zu sichern. Sie – diese erstrittene und immer wieder neu zu erstreitende Position – erlaubt die Beteiligung an den Entscheidungen über den Ein- und Ausschluss im Feld, über die Kriterien zur Definition von Kunst, aber eben auch über diejenigen zur Bestimmung von Künstlerschaft.2 Für jede Konstitution von Künstlerschaft spielen maßgeblich bereits bestehende Vorstellungen davon, was ein Künstler in Verhältnis zu wem oder was ist oder macht, hinein – langjährig tradierte und bewährte, davon in der Folge abgeleitete, fragmentierte und neu zusammengestellte, veränderte oder verschobene. Der Auftritt als Künstler vollzieht sich als identitärer Prozess, der eigen- und fremdproduzierte Bilder gegeneinander abgleicht, sie in die jeweils prägenden historischen oder gegenwärtigen Kontexte verwebt und an deren Anforderungen anpasst.3 Kennzeichnend für diese Formationsverläufe ist, dass sich in ihrem Netzwerk, einem grundierenden Muster gleich, mit großer Konstanz Topoi eines überzeitlichen, mythisch naturalisierten (und darin nahezu ausnahmslos männlich bestimmten)4 Künstlerbildes bis 2 3

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Vgl. zur Definition des Kunstfelds von Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 2001 (franz. Originalausgabe 1992). Vgl. in diesem Sinne Richard Sennetts Definition identitärer Prozesse in der Postmoderne, Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. Die hier folgenden Überlegungen finden sich weitergehender ausgeführt in Beatrice von Bismarck, Auftritt als Künstler. Funktionen eines Mythos, Köln 2010. Linda Nochlin hat 1971 diese Tradition erstmals kritisch thematisiert: Why Have There Been No Great Women Artists?, in: Art News 69/1971, Jan., S. 22–39, 67–71. (Dt. Übersetzung: Warum hat es keine bedeutenden Künstlerinnen gegeben?, in: Beate Söntgen (Hg.), Rahmenwechsel: Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft in feministischer Perspektive, Berlin 1996.) Zu ersten umfassenderen genderspezifischen Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Kunstgeschichte vgl. u. a. Sigrid Schade/ Silke Wenk, Inszenierung des Sehens. Kunst, Geschichte und Geschlechterdifferenz, in: Hadomud Bußmann/ Renate Hof (Hg.),

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heute abzeichnen. Für diese Referenzen spezifisch ist, dass sie sich unabhängig davon ereignen, wie sehr und in welcher Weise sich die ästhetischen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Bedingungen der Existenz als Künstler jeweils verändert haben. Es handelt sich vielmehr um Mythologeme, um Anteile der insbesondere seit Beginn der Neuzeit tradierten Künstlerlegende,5 die zum Ausweis von Künstlerschaft generell werden können. Nie versiegende Schöpferkraft, künstlerische Berufung, außeralltägliche Gaben und physisches oder psychisches Leiden für die Kunst zählen an prominenter Stelle dazu. Bedeutung und Konstellation solcher Eigenschaften haben sich im historischen Zusammenhang des jeweils gültigen Künstlerbildes zwar immer wieder gewandelt. So trat etwa das neuzeitliche Leiden an körperlicher Versehrtheit und Entbehrung mit Beginn der Moderne hinter einem immer komplexer strukturierten Leiden an der Gesellschaft, an deren kritischer, geringschätziger oder gänzlich ausbleibender Reaktion zurück. Konstant blieb jedoch, dass solche Zuschreibungen unabhängig von Persönlichkeit, Werk und historischem Kontext über die Jahrhunderte hinweg vorgenommen wurden.6 Bis hinein in aktuelle Auseinandersetzungen mit Künstlerschaft und dem Kunstfeld klingen Betitelungen wie ,Schöpfer‘, ,Genie‘, ,Prophet‘ oder ,Märtyrer‘ nach. Angesprochen ist damit nicht nur das Fortleben offensichtlicher, oberflächlicher Typen-Klassifikationen wie Normbrecher, Außerweltlicher und Entrückter oder etwa Märtyrer für die Kunst – Klassifikationen, wie sie Volker Eichelmann, Jonathan Faiers und Roland Rust in der Videoarbeit Do You really want it that much? – More (1998–2004) nachzeichnen. Und auch die klaren parodistisch-kommentierenden Rückbezüge auf die Tradition der Künstler-Topoi, wie sie die Ausstellung Sexy Mythos. Selbst- und Fremdbilder von KünstlerInnen (2006) zum Thema nahm, oder wie sie auch in Christian Jankowskis Befragung einer Wahrsagerin zu seiner künstlerischen Bestimmung in Telemistica (1999) erneut zum Tragen kommen, seien hier nur gestreift. Und schließlich kann auch das Bildvokabular der Kunstgeschichte, das – nimmt man etwa das Motiv des Künstlerateliers in der Tradition niederländischen Malerei des 16. Jahrhunderts oder auch der Kunst des 19. Jahrhunderts, – deutliche Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen hat, die Frage nach der aktuellen Bedeutung des Künstlermythos nicht erschöpfen.

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Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 1995; Silke Wenk/ Kathrin Hoffmann-Curtius (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997. Um im Folgenden die männlich geprägten Vorstellungen und Traditionen von den Praxisformen in der Gegenwartskunst abzusetzen, habe ich das ,Künstlerbild‘, die ,Legende vom Künstler‘ und auch bis in ihre aktuellen Ausgestaltungen hinein die Rolle des ,Künstlers‘ im männlichen Genus belassen, verwende für die Handelnden im aktuellen Kunstfeld dagegen die Schreibweise ,Künstler/innen‘. Vgl. Ernst Kris/ Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Frankfurt am Main 1995 (1934). Vgl. in dem Zusammenhang etwa Margot & Rudolf Wittkower, Künstler – Außenseiter der Gesellschaft, Stuttgart 1965; Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psychohistorische Studie über Kreativität, Frankfurt am Main/New York 1986; Michael Groblewski/ Oskar Bätschmann (Hg.), Kultfigur und Mythenbildung. Das Bild vom Künstler und sein Werk in der zeitgenössischen Kunst, Berlin 1993.

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In den Blick gerückt werden soll stattdessen vor allem das Verhältnis des Künstlermythos zu der Vorbildrolle, die Künstler/innen in der heutigen Gesellschaft zugesprochen wird, und die ihr unterlegten Annahmen – eine Rolle, die auf Ähnlichkeiten und Überschneidungen zwischen den Feldern der Kunst und der Wirtschaft beruht. Dass sich Künstler/innen in den vergangenen 15 Jahren zu Leitbildern der zeitgenössischen Gesellschaft entwickelt haben, verdankt sich maßgeblich den ihnen zugeschriebenen Eigenschaften von Freiheit, Kreativität und Selbstbestimmtheit.7 Die Aneignung dieser Qualitäten in gesellschaftlichen Zusammenhängen vollzieht sich allerdings mit widersprüchlichen Vorzeichen: Während es dabei einerseits um die Nutzung selbstorganisatorischer Fähigkeiten in Arbeitszusammenhängen, um den synergetischen Austausch von Formen der Wissensproduktion oder um Innovationspotenziale in sowohl ökonomischen als auch ökologischen Entwicklungsprozessen geht, gerät dabei andererseits aus dem Blick, dass die verfolgten Eigenschaften sich gerade solchen Anwendungsanforderungen und Effizienzkriterien entziehen. Mit den jüngsten gesellschaftsrelevanten Debatten um den Bologna-Prozess, um postfordistische Arbeitsverhältnisse und um die Bedeutung der creative class beginnen sich paradoxe Erwartungen in besonderer Weise zu überkreuzen. So bietet einerseits Maurizio Lazzaratos Definition ,immaterieller Arbeit’ einen Kontext an, innerhalb dessen die Überschneidungen zwischen dem ökonomischen und dem künstlerischen Feld besonders ausgeprägt in Erscheinung treten, da sie die Konzeptualisierung und Diversifizierung künstlerischer Tätigkeiten aufgreift und in Entsprechung zu anderen Tätigkeiten im sogenannten Dienstleistungsbereich wie Management, Organisation, Beratung, Publikation und Lehre setzt.8 Die Diskussionen um artistic research und Kunst als Forschung, aber auch um die Vorstellung vom Kuratorischen sind hier angesiedelt. Sie machen die im Kunstfeld übernommenen Aufgaben verhandelbarer – wofür die jeweiligen Bilder derjenigen, die hier verhandeln, entscheidend sind. Außerdem offeriert Michel Foucaults Gouvernementalitätstheorie, die Ulrich Bröckling in der heutigen wirtschaftlichen Ausprägung als eine ,Norm der Individualität‘ beschreibt, ein zusätzliches, nun stärker auf Subjektivierung und Kreativität abhebendes Überschneidungsfeld.9 Andererseits sind hier bereits die Kehrseiten der postfordistischen Ökonomie eingelagert. Selbstverwirklichung zeigt sich als eine Form der Selbstökonomisierung, die sich entlang eines genormten Inventars von Persönlichkeitsmerkmalen entwickelt.

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Nach Luc Boltanski und Eve Chiapello zählen Authentizität, Autonomie und Befreiung zu Bestandteilen neuer Unternehmensstrategien, vgl. Luc Boltanski/ Eve Chiappello, Die Arbeit der Kritik und der normative Wandel, in: Marion von Osten (Hg.), Norm der Abweichung Zürich/ Wien/New York 2003, S. 67–68. Vgl. Maurizio Lazzarato, Immaterielle Arbeit. Gesellschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen des Postfordismus, in: Toni Negri/ Maurizio Lazzarato/ Paolo Virno, Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion, Berlin 1998, S. 39–52. Vgl. Michel Foucault, Die Gouvernementalität, in: Ulrich Bröckling/ Susanne Krasmann/ Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart: Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main 2000, S. 41–67; vgl. Ulrich Bröckling, Totale Mobilmachung: Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement, in: ebd., S. 157.

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„Anders anders zu sein“, wie Bröckling kürzlich vorschlug,10 fasst die Krux und Paradoxie dieser Anrufung zusammen, die sowohl für die Ausbildung von Künstler/innen und Kreativen bestimmend ist, als auch für die berufliche Realität. Entsprechend werden im zeitgenössischen Kunstfeld die gewandelten Arbeitsverhältnisse vor allem mit Blick auf die Risiken verhandelt, die mit der Vereinnahmung des sowohl an künstlerische Produkte als auch an künstlerische Handlungsweisen gebundenen symbolischen Kapitals einhergehen. Gemeint sind damit – um hier nur einige Stichpunkte zu nennen – die aus den Zuschreibungen an Kunst und Künstler/innen abgeleiteten Kreativitätsanrufungen, die an Selbstverwaltung gebundenen prekären Arbeitssituationen, der Verkauf von Subjektivität und die Femininisierung von Arbeit. Die mythischen Bestandteile des zeitgenössischen Künstlerbildes können in diesem Zusammenhang eine spezifische Bedeutung und Funktion übernehmen. Denn sie zeigen sich immer wieder als Kippbilder, die sowohl Positiva als auch Negativa transportieren, die mit der Künstlerrolle persönlich und sozial einhergehen können. Ein erster Schritt in die Richtung, Topoi des Künstlermythos strategisch einzusetzen, zeichnete sich in den 1960ern ab. Die vielseitig ausgerufene Krise des Autors, die die Theorien von Roland Barthes und Michel Foucault ausgelöst hatten, fand ihren Ausdruck unter anderem auch in Demonstrationsakten eben jener mythischen Grundierung.11 In Arbeiten von Joseph Beuys (La rivoluzione siamo noi, 1972), Bruce Nauman (The true artist helps the world by revealing mystic truth, 1967), John Baldessari (I’m Making Art, 1971), Ulrike Rosenbach (Art is a Criminal Action, 1972), Salvo (Die Segnung von Luzern, 1970), Carolee Schneeman (Interior Scroll, 1975) oder Hannah Wilke (Super-T-Art, 1974), um nur einige Beispiele zu nennen, wurden in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren die naturalisierten Künstlerbilder explizit aufgerufen und gerade auch in ihrer Diskrepanz zu den zeitgenössischen Lebens- und Arbeitsbedingungen vorgezeigt. In der Nachfolge solcher Praxisformen der Postmoderne bringen gerade auch aktuelle Positionen, die in Verbindung mit postfordistischen Arbeitsverhältnissen verhandelt werden, mythisch kodierte Vorstellungen von Künstlerschaft explizit ins Spiel – vom gesellschaftsverändernden Außenseiter über den genialen Schöpfer bis zum Märtyrer, Propheten oder Heiligen. Selbstverwirklichung erscheint in ihnen als unlösbares – bis an ein Selbstopfer heranreichendes – Ineinanderaufgehen von Künstler/ in und Werk; Kreativität als eine Bewältigung von Paradoxalität und Integration von Alteritäten und Dualitäten, wie sie Siegfried J. Schmidt beschreibt, ruft auf der einen Seite die Vorstellung von nie versiegender, unbegrenzter Schöpferkraft wach und diejenige von Ineffizienz und Verschwendung auf der anderen; die Mythifizierung künstlerischer Arbeit bleibt auch unter den Bedingungen der Konzeptualisierung der 10 Vgl. Ulrich Bröckling, Anders anders sein. Fluchtlinien der künstlerischen und unternehmerischen Anrufung, in: Montag Stiftung Bildende Kunst (Hg.), Kunst Sichtbarkeit Ökonomie, Konzept Beatrice von Bismarck, Nürnberg 2009, S. 50–52. 11 Vgl. Roland Barthes, Der Tod des Autors (franz. Originalausgabe 1968), in: Fotis Jannidis/ Gerhard Lauer/ Matias Martinez/ Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193 sowie Michel Foucault, Was ist ein Autor (franz. Originalausgabe 1969), in: ebenda, S. 198–229.

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Kunst erhalten, rufen die prekären Arbeitsverhältnisse, mit der sich eine neue kreative Bohème herausbildet, doch zugleich heroisierte Vorstellungen des gesellschaftlichen Außenseiters wach; und schließlich führt Kollektivität, die Verteilung der Arbeit auf viele Individuen und Gruppen, weniger zu einer unhierarchischen Gleichberechtigung und Auflösung des singulären Autorstatus, als vielmehr nicht selten zu neuerlicher Herausbildung eines primus inter pares, einer Führungsrolle im Kontext der Anhänger, Gleichgesinnten und Nachfolger, die in den Konventionen der Künstlerlegende allein schon Ausweis künstlerischer Größe ist.12 Das Mythische besitzt damit eine selbstverständliche Präsenz als Bestandteil auch aktueller Formationsprozesse von Künstlerbildern. Aspekte des Mythos haben in unterschiedlichen Praxisformen Anteil an den Aushandlungen von Künstlerschaft, lassen sich als Zeichen eines gesellschaftlichen Begehrens nach Außerordentlichem und Überzeitlichem ebenso werten, wie sie als aktiv in den Positionierungsprozessen einsetzbare Bausteine zu behandeln sind. Die jüngsten Tendenzen der Mythos-Forschung kommen einer solchen Lesart entgegen: Sie tragen dem nicht zu leugnenden Vorhandensein des Mythischen in der zeitgenössischen Gesellschaft Rechnung, suchen dabei den Begriff ,Mythos‘ aus seiner Tabuisierung, die dieser insbesondere mit seiner Funktionalisierung durch den Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert erfahren hat, zu lösen. In den aktuellen Forschungsansätzen erscheint der ‚Mythos‘ mithin nicht mehr als das ,Andere‘ im Gegensatz zu Rationalität, sondern gewinnt gerade in seinen Verflechtungen und Gleichzeitigkeiten mit Rationalität an Bedeutung. Er ist nicht länger geschichtlich gebunden, sondern als ,Mythos‘ des Alltags‘13 auf die Gegenwart bezogen und rückt dabei in die Nähe von Magie, Mysterium, Fetisch oder Kult. Auf dieser Basis gerät insbesondere das politische Potential des Mythos, gerade in seiner ästhetischen Erscheinungsform, in den Blick.14 Ein solchermaßen gewandelter Mythos-Begriff bietet sich für die Untersuchung des Künstlerbildes nach 1960 geradezu an und zwar in mehrfacher Hinsicht: Als ein schon immer diskursives Konstrukt entspricht der Künstlermythos der nach 1960 zunehmenden Orientierung im Kunstfeld an sozialen und diskursiven Prozessen der Bedeutungskonstitution; in seiner gegenwartsbezogenen Verflechtung mit Vernunft und Rationalität lässt er sich als stabilisierendes Element in den Dynamiken verstehen, mit denen in den vergangenen vierzig Jahren die Grenzen zwischen Kunst und Leben angegriffen wurden; und er besitzt das Potenzial, ästhetischen Neuerungen Glaubwürdigkeit, Legitimation und Nachdruck zu verleihen. Die Aufführung des Mythos entwickelt das Potenzial, nicht allein erneut die Privilegien von Autorschaft in Anspruch zu nehmen, die mit dem Poststrukturalismus 12 Vgl. zu künstlerischen Positionen in diesem Zusammenhang ausführlicher von Bismarck (wie Anm. 3). 13 Vgl. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964 (franz. Originalausgabe 1957). 14 Zur Begriffsgeschichte des Mythos, gerade auch in seiner aktuellen politischen Auslegung, vgl. Ernst Müller, Mythos/ mythisch/ Mythologie, in: Karlheinz Brack/ Martin Fontis/ Dieter Schlenstadt/ Burkhart Steinwachs/ Friedrich Wolfzettel (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, IV, Stuttgart/ Weimar 2002, S. 309–346, bes. 343–344.

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verloren schienen, sondern auch die Übertritte und Überschneidungen zwischen den Feldern der Kunst und der Ökonomie nicht zuletzt in politischem Sinne zu stärken. Im einen Falle gilt sie der Einschreibung in die und Ausweitung der Künstlerrolle, im anderen dazu, etwa die Effizienz-Anforderungen im Bildungsbereich, wie ihn die Bologna-Reformen implizieren, zu unterlaufen oder einer sozial und ökologisch ausgerichteten Urbanisierungspolitik Nachdruck zu verleihen. Das Künstlerbild erfährt in diesem Zusammenhang eine Destabilisierung, insofern es sich erst im Verhältnis zu den übernommenen Aufgaben, deren Eigenschaften und deren Anerkennung konstituiert. Gerade dadurch aber kann sich Künstlerschaft auch als eine eingenommene Rolle ausweisen – der Künstler ,als‘ – mit der gesellschaftliche Positionierungen vorgenommen werden können. Während die aktuellen Vorstellungen vom ,Künstler‘ sich auf ein breites kulturelles und gesellschaftliches Betätigungsspektrum ausdehnen, hat zwar die Idee des Genies noch nicht ausgedient, aber sie tritt gleichberechtigter und vor allem prozessualer neben die anderen Künstlerbilder. In diesem Aushandlungsprozess kann – und muss gelegentlich– sich Künstlerschaft stets neu entwerfen. Erst vor diesem Hintergrund kann ein operativer Einsatz von Künstlerbildern gelingen, wenn es etwa um den Umgang mit den aktuellen Anforderungen, Vorbildfunktionen und Aneignungsstrategien seitens der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Bereiche geht.

einführung verena krieger Das moderne Konzept des Künstlers als heroisches, aus der eigenen Subjektivität schöpfendes und keiner Instanz außer sich selbst verantwortliches Genie ist unmittelbar an die Idee der Kunstautonomie geknüpft. Seit Kant, Schiller und Carl Philipp Moritz ist die Unabhängigkeit des Künstlerindividuums gegenüber den Interessen von Auftraggebern sowie gegenüber gesellschaftlichen Anforderungen, Normen und Tabus konstitutiv für die Kunst selbst geworden. Wie nachhaltig wirksam diese Konzeption ist, drückt sich in den Verfassungen westlicher Staaten aus, in denen die Freiheit der Kunst festgeschrieben ist und mit ihr auch die Freiheit des künstlerischen Subjekts. Gleichwohl eignet der Idee von der Autonomie der Kunst und des Künstlers von Beginn an eine gewisse Ambivalenz, und dies in mehrfacher Hinsicht: Erstens war sie schon zur Zeit ihrer Formulierung eher Utopie denn gesellschaftliche Realität, sie begleitete den Wandel von der direkten Abhängigkeit von Auftraggebern hin zur indirekten Abhängigkeit vom Markt und dient dazu letztere zu verschleiern. Zweitens setzt sie Differenzierungen und Wertungen voraus, wie z. B. die Unterscheidung von „freien“ und „angewandten“ Künsten, von „primitiven“ und „Hochkulturen“, von „genialen“ und „epigonalen“ Künstlern, die als willkürliche Setzungen jeweils die massive Diskreditierung eines Anderen implizieren, um auf dieser Basis die Konstruktion „wahren“ Künstlertums bis ins Unermessliche aufzuwerten. Und drittens ist die Idee vom modernen autonomen Künstler seit ihrer Formulierung durch ebensolche moderne autonome Künstler/innen und Künstler vielfach infrage gestellt, bekämpft, lächerlich gemacht und mit Gegenmodellen konfrontiert worden. Äußerte sich die künstlerische Infragestellung des modernen Künstlerkonzeptes zunächst vorwiegend in Gestalt von Antiakademismus und der Apologie des mittelalterlichen Zunftwesens wie etwa bei den Nazarenern oder der Arts and Crafts-Bewegung, so haben die historischen Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts die Kritik des Geniekonzepts und der Kunstautonomie radikalisiert und diversifiziert. Es entstanden höchst unterschiedliche Ansätze von Überschreitungen des „autonomen“ Künstlerbildes, angefangen von der Orientierung an „primitiver“ Kunst, Kinderzeichnungen und der „Bildnerei der Geisteskranken“, über Formen kollektiver Kunstproduktion und politische engagierte Kunst bis hin zu den surrealistischen Experimenten mit Zufall und psychischem Automatismus. Die Neo-Avantgarden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben diese kritischen künstlerischen Praxen aufgegriffen und um weitere Spielarten einer entsubjektivierten Kunstproduktion erweitert, etwa den Einsatz von Maschinen oder die Integration von Naturvorgängen in den schöpferischen Prozess. Institutionskritische Ansätze erweiterten das Bild des Künstlers um klassische nichtkünstlerische Tätigkeitsprofile wie diejenigen des Forschers, des Journalisten und des Archivars. Kritisch-interventionistische Kunstpraxen

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erhoben politische Aktion, Sozialarbeit und die Bildung sozialer Netzwerke zu neueren Modellen der Künstlerrolle. Parallel dazu sind mit der wachsenden Dominanz ökonomischer Paradigmen auch Rollenbilder wie die des Unternehmers, Managers, Designers oder Marketingexperten in das Künstlerbild eingegangen. Das Autonomiekonzept wird nach verschiedenen seiner Gegenpole hin zugleich überschritten: in Richtung von Dezentrierung, Egalisierung, politischem Engagement und pragmatischer Erwerbsorientierung. Damit ist das Konzept des „autonomen“ Künstlers heute in seiner ganzen Paradoxie entfaltet: Einerseits ist es in seinem ideologischen Charakter, seiner genderspezifischen und neokolonialen Konstruktion und in seiner offenkundigen Realitätsferne fragwürdig und durch eine Vielzahl neuer und komplexerer, ja dezidiert gegensätzlicher Rollenbilder erweitert und abgelöst worden, andererseits scheint es unverzichtbar und unzerstörbar zu sein, basiert doch der gesamte Kunstbetrieb mit all seinen Institutionen weiterhin ungebrochen auf der Prämisse des „autonomen“ Künstlersubjekts und sind auch die Künstler/innen selbst interessiert davon zu profitieren. Auch die Kunstgeschichte hat diese paradoxale Struktur des „autonomen“ Künstlerbildes stets aktiv mit vollzogen, indem sie einerseits dieses seit jeher zur Prämisse ihrer Forschung erhebt, andererseits den vielfältigen Formen seiner Überschreitung durch avantgardistische Kunstpraxis besonderes Interesse entgegenbringt. Der paradoxale Charakter dieser avantgardistischen Überschreitungen, das darin angelegte Wechselspiel von Kritik und Bestätigung ist dabei durchaus erkannt und vielfach thematisiert worden. Vor diesem Hintergrund und angesichts der rasanten und immer differenzierter werdenden Weiterentwicklung des Künstlerkonzepts durch die Künstler/innen selbst gilt es für die aktuelle Forschung, historische und gegenwärtige Überschreitungen des „autonomen“ Künstlerbildes einerseits in ihrer Vielfalt vergleichend in den Blick zu nehmen, andererseits vertiefend zu befragen. Zu untersuchen sind die spezifischen Abhängigkeitsverhältnisse, in deren Rahmen künstlerische Produktion stattfindet, in ihrem historischen Wandel. Zu fragen ist nach den jeweiligen konkreten Motiven, Dynamiken und Verlaufsformen, aber auch den ökonomischen, politischen und kulturellen Kontexten künstlerischer Überschreitung des Konzepts vom „autonomen“ Künstler. Kritisch zu beleuchten ist insbesondere, inwieweit der Kritik des „autonomen“ Künstlerbildes verborgene Momente der Bestätigung inhärent sind. Traditionelle Auffassungen wie die polare Entgegenstellung von Parteilichkeit vs. Autonomie oder die Tabuisierung des finanziellen Aspektes von Kunst sind zu hinterfragen, gleichzeitig ist deren Hinterfragung durch künstlerische Praxis ihrerseits historisch-kritisch zu beleuchten. Welche Relevanz hat die Idee des „autonomen“ Künstlers heute?

dada-monteure kathrin hoffmann-curtius Gleichzeitig mit der Ausstellung George Grosz montiert war im Januar 2010 in der Presse eine heftige Debatte um den von aktueller Netzliteratur gespeisten Roman Axolotl Roadkill der siebzehnjährigen Helene Hegemann ausgebrochen, eine Vertreterin der mit dem Internet groß gewordenen Generation ‚copy and paste‘.1 Die unter dem Vorwurf ‚Plagiat‘ geführte Debatte decouvrierte der Dichter und Schriftsteller Durs Grünbein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. Februar 2010 mit einer „Drehung ins Dadaistische“. Seiner „Wortmeldung“ vom Vortage mit dem Titel „Plagiat“ hatte er zu 99% eine von Gottfried Benn verfasste Besprechung eines Romans von Rahel Sanzara zu demselben Problem unterlegt, die 1926 in der Vossischen Zeitung zu lesen gewesen war. Die Genesis feministisch überschreibend hatten Grünbein/Benn formuliert, „dass jeder Satz und jeder Dialog durchatmet und durchströmt wird von der Inspiration einer großen Schöpferin. Ob dabei die Handlungsorte aus der Netzliteratur oder dem Nibelungenlied stammen, das tritt wohl ganz vor dem zurück.“ In der Verortung der Vorwürfe im gegenwärtigen Diskurs habe er den „Irrsinn einer kriterienlosen Literaturdebatte“ offenlegen wollen, deren „hässlicher Biodiskurs (...) zwischen Jung und Alt“ zu dem „schönsten publizistischen Bürgerkrieg“ führen könne. „Im Moment“ so erklärte Grünbein, gehe „alles durcheinander“ und er fragte, “was ist Intertextualität, was ist Plagiat, was ist ein Ready-made, wie wir es aus visuellen Künsten kennen, was ist ein Insert, ein Zitat, ein Pastiche? Und dann die große moralische Frage, die man schon im zartesten Kindesalter gestellt bekommt: Was ist Mein und was ist Dein?“2 Damit sind erneut Fragen formuliert, die schon die Debatte der Dadaisten zu Kunst und Schöpfertum bestimmten. Versuchten sie doch, mit dem Prinzip der Montage die traditionelle Erzählung vom autonomen Meister zu unterlaufen und Kunst als aktuelle politische Handlung zu praktizieren. Es wird sich zeigen, dass im Angriff der Dadaisten auf die herausgehobene Stellung des Künstlers und der Kunst durch kollektive Produktion und kenntliche Übernahmen weniger die individuelle Autorschaft geschwächt als vielmehr die sie bestimmende Position vitaler Männlichkeit gestärkt wurde. Im Faltblatt zur Dada-Messe von 1920 hatte Wieland Herzfelde sich in dem programmatischen Text von der „Kunstsprache“, wie er sie nannte, abgesetzt, die Absichten der Dadaisten erklärt und zur Nachahmung aufgerufen: „Die Dadaisten hingegen sagen, Bilder herstellen ist keine Wichtigkeit, wenn es aber geschieht, so soll wenigstens kein Machtstandpunkt aufgezogen werden, so soll den breiten Massen die Lust 1 2

George Grosz montiert. Collagen 1917–1958, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin 2010; Helene Hegemann, Axolotl Roadkill, Berlin 2010. Durs Grünbein, Plagiat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Februar 2010.

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an gestaltender Beschäftigung nicht durch die fachmännische Arroganz einer hochmütigen Gilde verdorben werden. (…) Die Dadaisten rechnen es sich als Verdienst an, Vorkämpfer des Dilettantismus zu sein.“3 Herzfelde wetterte gegen die herrschende Vorstellung des Künstlergenies oder des Künstlerfürsten in völligem Einklang mit George Grosz und John Heartfield, die in der gegen Oskar Kokoschka gerichteten Debatte um den „Kunstlump“ von den „erledigten, individualistischen Kunstquälereien“ eines Vincent van Gogh schrieben, den eben erst „als Erzieher“ hochgepriesenen Rembrandt verwarfen und den 1918/19 in München ausgestellten Isenheimer Altar des Matthias Grünewald zu „kirchlichem Zimmt [sic!]“ erklärten.4 Der „Vergottung des Künstlers“ setzten sie eine egalitärkommunistische Konzeption entgegen, die ohne den vom „Bürgertum“ erfundenen „Begriff Kunst und Künstler“ auskommen müsse, denn schon die „Titulierung ‚Künstler‘ ist eine Beleidigung.“ Jedoch macht ihre Erläuterung deutlich, dass sie ihn und die „Arbeitsprodukte der produktiv tätigen Menschen“ zwar anders in der Gesellschaft verorten, nicht aber abschaffen wollten: „Der Künstler“, so ist zu lesen, „steht nie höher als sein Milieu und die Gesellschaft derjenigen, die ihn bejahen. Denn sein kleiner Kopf produziert nicht den Inhalt seiner Schöpfungen, sondern verarbeitet (wie ein Wurstkessel Fleisch) das Weltbild seines Publikums.“5 Eben jenes Verknüpftsein mit den Diskursen der Gesellschaft wird verdeutlicht, wenn auf der Dada-Messe an der unter Nr. 74 geführten Fotomontage (Abb. 1) exemplifiziert, der die Abbildung eines Ölbildes von Picasso zugrunde liegt. Der Name des umstrittenen Künstlers ist im Katalogtext und im Bild zu lesen.6 Als Autoren der unter der Rubrik „Korrigierte Meisterbilder!“ geführten Arbeit werden „GroszHeartfield mont.“ angegeben.7 Im Bild selbst signieren sie mit demselben Wortlaut in Druckbuchstaben und kennzeichnen sich damit als „Monteure“, laut Meyers Konversationslexikon von 1909 als Arbeiter, die „eine Maschine aus den Teilen zusammensetzen und aufstellen.“8 Vermutlich wollten und konnten die Dadaisten aber auch noch auf das deutsche Wort ‚Umbruch‘ anspielen, das schon vor dem 3

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Wieland Herzfelde im Faltblatt für die Erste Internationale Dada-Messe Berlin – Kunstsalon Dr. Burchard 1920, Reprint in: Eberhard Roters (Hg.), Stationen der Moderne. Kataloge epochaler Kunstausstellungen in Deutschland 1910–1962, Köln 1988, Bd. 4 (Ausstellung und Verkauf dadaistischer Erzeugnisse/ Kunsthandlung Dr. Otto Burchard, Berlin), unpag.. Zur Rekonstruktion der Ausstellung mit einem kommentierten Objektverzeichnis vgl. Hanne Bergius, Montage und Metamechanik, Berlin 2000, S. 349–414. Alle vorangehenden Zitate nach John Heartfield/ George Grosz, Der Kunstlump (1919/20), wiederabgedruckt in: Uwe M. Schneede (Hg.), Die Zwanziger Jahre. Manifeste und Dokumente deutscher Künstler, Köln 1979, S. 50–58, hier S. 58, z. T. unter Bezugnahme auf Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Leipzig 11890. Zur Rezeption des Isenheimer Altares nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Ann Stieglitz, Wie man sich an den Krieg erinnert. Geschlechtsspezifische Unterschiede bei Darstellungen des Leids, in: Silvia Baumgart u. a. (Hg.), Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1993, S. 235–257, hier S. 240–243. Heartfield/ Grosz 1979 (wie Anm. 4), S. 56. Zu diesem Bild vgl. auch Uwe Fleckner, Carl Einstein und sein Jahrhundert, Berlin 2006, S. 130–134. Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3). Meyers großes Konversations-Lexikon, Leipzig u. a. 1909, Bd. 13, S. 108.

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1 Grosz-Heartfield mont., Pablo Picasso, La vie heureuse, Dr. Carl Einstein gewidmet; Montage, aus: Faltblatt zur Dada-Messe Berlin 1920

Ersten Weltkrieg in der Fachterminologie der Drucktechnik dem französische Synonym ‚Montage‘ gewichen war.9 Der damals in Kennerkreisen längst hochgeschätzte Picasso hatte die Vorlage, das kubistische Ölbild Tête de jeune fille,10 wahrscheinlich schon 1913 bei seiner ersten Retrospektive in der Galerie Thannhauser in München gezeigt.11 Sein Porträt von Weiblichkeit ist in geometrische, meist rechtwinklige Flächen geteilt; nur noch gewellte Haare sind wieder zu erkennen; die herkömmliche Anschaulichkeit eines weiblichen Körpers ist verstellt. Der fotomechanische Nachdruck wurde von „GroszHeartfield“ mittels Schrift- und Fotoausschnitten von Orten und Personen überdeckt und politisiert. Buchstaben und Zahlen wurden als einzelne, autonome Zeichen und auch in lesbaren Worten zusammengefügt, so wie schon die Kubisten und Futuristen 9 Rolf Sachsse, Mit das Beste auf dem Gebiet der Reklame – Fotomontage, in: John Heartfield, Ausst.-Kat. Akademie der Künste Berlin 1991, Köln 1991, S. 266–273, hier S. 268. 10 Christian Zervos, Pablo Picasso, Bd. 2,2 (Œuvres de 1912 à 1917), Paris 1979, Kat.-Nr. 426 und Pierre Daix/ Joan Rosselet, Pablo Picasso –The Cubist Years 1907–1916. A Catalogue Raisonné of Paintings and Related Works, London 1979, Kat.-Nr. 590 datieren das Gemälde jeweils auf 1913. 11 Picasso, Ausst.-Kat. Moderne Galerie Thannhauser München 1913, Kat.-Nr. 58. Dort wird Tête de jeune fille auf 1911 datiert. Es bleibt jedoch offen, ob das Ölbild oder eine nach Titel, Bildaufbau und -elementen zugehörige Collage zu sehen waren, vgl. Zervos (wie Anm. 10), Kat.-Nr. 427 bzw. Daix/ Rosselet (wie Anm. 10), Kat.-Nr. 589. Carl Einstein, Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 31931, S. 315 datiert das dort ebenfalls abgebildete Ölbild auf 1912.

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die dialektische Montage als „den Schock heterogener Elemente“ begonnen hatten.12 Nun aber propagierten „Grosz-Heartfield“ die überklebte, jetzt − im Gegensatz zu ihrer nur von einer Seite zu betrachtenden Vorlage − allseitig lesbare Montage als „vollendete Kunst“ und wiesen damit zugleich auf die darunter liegende Malerei als unvollendete hin, wobei sie jedoch „behutsam“ vorgingen und keine „ikonoklastische Zerstörung“ begingen.13 Der Ort der Stirn des Mädchenkopfes ist mit einem Foto der Frontalansicht einer bis jetzt nicht identifizierten Fassade, vielleicht sogar der eines Schlosses, überklebt. Bei dem Ausschnitt des Fotos, vermutlich eines Porträts von Carl Einstein, am unteren Ende des Bildes verhinderten sie eine einfache Wiedererkennung des Fotografierten durch das Auftragen eines Zwickerteiles auf dessen rechtes Auge und das Schwärzen seines linken. Im gesamten Faltblatt und in diesem Bild wurden weder die Personen noch die Standpunkte für die Betrachtung oder die Leserichtung fixiert. Deutlich kennzeichneten „Grosz-Heartfield“ ihre Absicht mit der wie ein Objektschild von der Abbildung abgesetzten Unterschrift „Bild Nr. 74. Grosz-Heartfield mont. Korrigierter Picasso“,14 dessen Werk, so betrachtet, auf den Kopf gestellt ist. In einem Winkel von 180 Grad dazu weisen sie innerhalb der Abbildung und in der von Picasso vorgegebenen Leserichtung auf ihre Veränderung hin. Die angesetzte Zeile enthält einen neuen Titel „La VIE HEUREUSE“, den Zusatz „Dr. Carl Einstein gewidmet“ und eine neue Autorschaft „Grosz-Heartfield mont.“15 Von den Längsseiten gelesen drängen sich weitere Bildtitel auf: „Vollendete Kunst“ von der einen, von der anderen „Grosz“.16 Die bereits im Kubismus mit dem „zerstreuten Blick“ des Großstädters17 korrespondierende Darstellungsweise wird mit der Freiheit zur Wahl der Ansichtsseite des Bildes weitergetrieben und auf diese Weise der „Vergottung des Künstlers“18 entgegnet. Uneindeutig ist auch die Identität des Uniformierten, womit auf die vorhandene Kenntnis der Betrachtenden ebenso wie auf die Austauschbarkeit der Individuen verwiesen wird. Das Foto kann an den „Marschall“ Grosz, wie er sich als Veranstalter auf dem Faltblatt nannte, erinnern, bildet ihn aber nicht ab, obwohl der in zusammengewürfelten Buchstaben mit diesem Bild verbundene Autorenname dies suggeriert und im doppelten Sinne auf den Kopf gestellt ist. Die Zuordnungen von Signifikant und Signifikat wird gestört, d. h. das Foto eines anderen Soldaten tritt ins Wechselspiel mit dem Namen des Autors. Lediglich die politische Gegenwart ist eindeutig: Parallel zum Pendelstrich von Picasso erscheint ein doppelt so langer schwarzer Balken, der, durch die Aufschrift „Noske“ seiner Offenheit der Interpretation entledigt, zum Schlagstock wird. Der Knüppel des sozialdemokratischen Polizeipräsidenten, der sich 12 Jaques Rancière, Politik der Bilder, Berlin 2005, S. 68. 13 Fleckner 2006 (wie Anm. 6), S. 134. Das Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3), erfordert für die Lesbarkeit aller In-, Um- und Unterschriften das Bild von allen vier Seiten zu betrachten; Fleckner 2006, S. 438, Anm. 29 hingegen sieht die Ansicht von Picasso gewahrt. 14 Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3). 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Zum „zerstreuten Blick“ des Großstädters vgl. Ole Frahm, Die Sprache des Comics, Hamburg 2009, S. 182–208. 18 Heartfield/ Grosz 1979 (wie Anm. 4), S. 56.

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in der blutig gebremsten Revolution selbst zum Bluthund erklärt hatte und gerade durch den Kapp-Putsch und den niedergeschlagenen Märzaufstand zu neuem, zweifelhaften Ruhm gelangt war, sprengt im wahrsten Sinne des Wortes den Rahmen des kubistischen Kunstwerkes. Uwe Fleckner identifiziert Carl Einstein nicht nur in dem eingeklebten Foto, sondern sieht in dem „korrigierten Picasso“ insgesamt „die Züge eines intellektuellen Portraits“ 19 dieses Kenners und Befürworters des Kubismus, der mit Grosz um diese Zeit die linke Zeitschrift Der blutige Ernst herausgab20. Die Wahl einer Arbeit von Picasso, den Einstein bereits 1912 in seinen Anmerkungen zur neueren französischen Malerei besonders herausgehoben hatte, ist sicher als Hommage an den Kunstkritiker zu verstehen, der entgegen aller Schelte den Kubismus in Deutschland popularisiert hatte.21 Ins Bild gesetzt wurde, so Fleckner, dessen ästhetische Überzeugung, in der Heartfield und Grosz einen „unaufgelösten Widerspruch von künstlerischer Ambition und Zeitkritik, von Kunst und Revolte“ sahen.22 Unverkennbar aktualisierten sie mittels der Fotomontage den akademischen Brauch des Studiums ‚großer‘ Meister, so wie sie es auf derselben Dada-Messe mit Bildern von Botticelli, Leonardo, Rubens, Beethoven und Henri Rousseau, wenn auch deutlich polemischer, in der Absicht vorführten, die von Einstein erwartete „Kräftigung“ des Sehens durch die Künstler zu vollenden – und dies auf dem neuesten Stand der technischen Produktionsmittel.23 Die Montage aus vorgefundenen Teilen wurde auf der Dada-Messe in dem Bild dada-merika (Abb. 2), nach eigenen Angaben eine Konstruktion des „Grosz-Heartfield-Konzerns“ von 1919, noch konsequenter inszeniert. Auf dem einzig erhaltenen und mit Randnotizen versehenen Andruck des verlorenen Werkes kann nicht mehr ermittelt werden, ob Druckmesser, Münzen, Streichhölzer, Hanf, Fotos und Fahrkarten als Abbildungen oder als die Dinge selbst, als objets trouvés, eingesetzt wurden. „Wenn früher Unmengen von Zeit, Liebe und Anstrengung auf das Malen eines Körpers, einer Blume, eines Hutes, eines Schlagschattens usw. verwandt wurden, so brauchen wir nur die Schere nehmen und uns unter den (...) fotografischen Darstellungen all dieser Dinge ausschneiden, was wir brauchen; handelt es sich um Dinge geringeren Umfangs, so brauchen wir auch gar nicht Darstellungen, sondern nehmen die Gegenstände selbst, z. B. Taschenmesser, Aschenbecher, Bücher“, kommentierte Herzfelde das Verfahren im Faltblatt.24 Mitten in dieser Montage von sich drehender Zeit-, Raum- und Druckmessung, und vor einer Himmelskarte der Milchstraße, auf die von links unten ein aus der Zeitungsnachricht „Erinnerung an Massenmorde“ geschnittener Arm hinweist, ist ein Messer zu erkennen, das, nach dem Schatten zu urteilen, als realer Gebrauchsge19 Fleckner 2006 (wie Anm. 6), S. 134. 20 Vgl. auch Hanne Bergius, Das Lachen Dadas, Gießen 1989, S. 214–219. 21 Carl Einstein, Anmerkungen zur neueren französischen Malerei (1912), wiederabgedruckt in: ders., Werke, Berlin 1994, Bd. 1, S. 134–138. 22 Fleckner 2006 (wie Anm. 6), S. 134. 23 Carl Einstein, Herbstausstellung am Kurfürstendamm (1913), wiederabgedruckt in: ders., Werke, Berlin 1994, Bd. 1, S. 170–173, hier S. 172 und ders., Neue Galerie (1913), ebd., S. 174–175, hier S. 174. 24 Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3).

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2 GroszHeartfield mont., dadamerika, Montage, 1919

genstand aus dem Bild hervortrat. Auf dessen Klinge prangte ein Foto von George Grosz in ganzer Figur und autorisierte solchermaßen das Montieren und Schneiden des vorgefundenen Materials als dessen Ausschnitt von Welt. Hierzu wurde keine Schere, mit der wohl die meisten Ausschnitte zugerichtet wurden, ins Bild gesetzt. Sie hätte möglicherweise auf den eher der ‚femininen‘ Kunst zugerechneten Scherenschnitt verwiesen, mit dem Hannah Höch sich selbst und ihre Freunde portraitierte.25 Grosz‘ und Heartfields gemeinsame Montage entsprach dem Postulat, dass auch die Dilettanten zur Bildherstellung aufgerufen waren,26 und die Umbenennung der 25 Abgebildet in: Marion Ackermann, SchattenRisse, Silhouetten und Cutouts, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus München 2001, Stuttgart 2001, S. 189–191. 26 Schriftplakat zur Dada-Messe 1920: „Dilettanten erhebt Euch gegen die Kunst“; abgebildet in: Bergius 2000 (wie Anm. 3), S. 241.

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Künstlersignatur vom alten pinx(it), inv(enit) zum mont(iert) unterstrich die intendierte Nähe zu den Arbeitern. Auffällig ist jedoch, dass zur gleichen Zeit mehrere Collagen mit einer Porträtfotografie des Autors versehen wurden. So beklebte Johannes Baader das Ehrenporträt für Charlie Chaplin oder Gutenberggedenkblatt, das auch auf der Dada-Messe zu sehen war, unten links mit einem Foto von sich selbst.27 Außerdem beherrschten die Fotos der drei männlichen Veranstalter der Dada-Messe, Hausmann, Heartfield und Grosz, im neuentwickelten Großformat die Eingangssituation.28 In der gemeinschaftlichen Montage dada-merika, in der die gedruckten Namensnennungen vor dem „mont.“ auf ausgeschnittenen Papierstreifen stehen, wird die Komposition aus vorgefertigten Materialien von den Vorstellungen der autonomen Urheberschaft zwar abgesetzt, das Bild eines fotografierten Autors ermöglicht jedoch wieder eine individuelle Zuordnung und damit eine neue Grenzziehung zu den „breiten Massen“ und deren „Lust an gestaltender Beschäftigung“.29 Allerdings stimmen auch hier Porträt und angegebene Autorennamen nicht ganz überein. Mit der Entkoppelung von Künstler und Werk wurde versucht, Kunst neu zu definieren und die Produktionsgemeinschaft der Künstlermonteure in den Vordergrund zu rücken. In diesem Wechselspiel kann kein einzelner Meister mehr gefunden werden. Noch weiter werden in der dritten Ausgabe des Dada die Grenzen singulärer Urheberschaft durch die vermischten Namensteile der Herausgeber verstellt, sie firmieren als „groszfield / hearthaus / georgemann“.30 Ein Porträt im Blaumann (Abb. 3) führt das Wechselspiel zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem ein weiteres Mal vor. Laut Titel soll es den „Monteur John Heartfield. Nach Franz Jungs Versuch ihn wieder auf die Beine zu stellen“ darstellen, jedoch ist der Kopf des ausführenden Monteurs und Künstlers Grosz im Profil zu erkennen. Den gleichen Tausch der Profile mit Wieland Herzfelde zeigt der Umschlag des Buches Gesellschaft, Künstler und Kommunismus von 1921, denn rot auf schwarz wird nicht der Kopf des Autors, sondern die markante Silhouette von Grosz sichtbar.31 Dieses kollegiale Spiel mit der Autorschaft ist allerdings nur innerhalb der linken Berliner Dadagruppe anzutreffen, die es auch im halböffentlichen Bereich der Postkartenproduktion einsetzte.32 Ihre Absicht, durch Uneindeutigkeit die kollektive Arbeit herauszustellen, wird im Nationalsozialismus zur eindeutigen Überführung des ‚entarteten‘ Künstlers benutzt. Wolfgang Willrich diffamierte in seiner kunstpolitischen

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Bergius 2000 (wie Anm. 3), Farbtafel VIII. Abgebildet in: Bergius 2000 (wie Anm. 3), S. 358f. Wieland Herzfelde im Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3). Bettina Schaschke, Dadaistische Verwandlungskunst, Berlin 2004, S. 36. John Heartfield. Zeitausschnitte. Fotomontagen 1918–1938 aus der Kunstsammlung der Akademie der Künste Berlin, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie Berlin 2009, Ostfildern 2009, Abb. S. 43. 32 So zwischen Baader und Hausmann auf einer Postkarte an Hannah Höch, vgl. Brigid Doherty, Berlin, in: Dada. Zürich, Berlin, Hannover, Cologne, New York, Paris, Ausst.-Kat. Centre Pompidou Paris/National Gallery of Art Washington/Museum of Modern Art New York 2005/06, Washington/D.C. 2005, S. 84–112, hier S. 36.

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Kampfschrift zur Säuberung des Kunsttempels von 1936 George Grosz‘ Ölbild John der Frauenmörder von 1918 als ein Porträt seines Kollegen John Heartfield.33 Angeregt durch Konstantin Umanskijs Berichte über neue Kunstrichtungen in Russland wurde für die Dadaisten „der Tatlinismus oder die Maschinenkunst“, so die Artikelüberschrift im Ararat von 1920, zum Vorbild für ihr antiakademisches Konzept.34 Tatlin, die „Galionsfigur für neue dadaistische Monteurarbeit“, schrieb der Maschine metaphysischen Geist zu.35 Und Umanskijs Äußerung über Tatlin, dass er sich nicht fürchte, sein „Maschinenherz“ zu offenbaren,36 gilt auch für die aquarellierte Komposition der Künstler-Monteure. In dem als „Heartfield“ bezeichneten Selbstporträt setzte Grosz ineinandergreifende Teile verschiedener Apparate an die Stelle des Herzens (Abb. 3). Brigid Doherty analysierte das Blatt als Darstellung des traumatisierten Kriegsneurotikers und eingekerkerten Revolutionärs in regredierender Wut und deutete die Herz-Maschine als Gegenentwurf zu Max Pechsteins Darstellung des flammenden Herzens auf der vom regierungseigenen Werbedienst herausgegebenen Broschüre An alle Künstler vom Januar 1919.37 Durch das mechanische Herz als Lobpreis der Technik setzten sich die Dadaisten im Einklang mit dem Fortschrittsglauben der russischen Revolutionäre von der expressionistischen Indienstnahme künstlerischer Emotionen ab. Die hohen Erwartungen an die Maschinenwelt und deren Abbildungen in den dadaistischen Montagen menschlicher Figuren lassen auch die „Verhaltenslehre der Kälte“ der Weimarer Moderne erkennen, die nach Helmut Lethen nicht nur die Techniker an den Tag legen sollten.38 Wieland Herzfelde schrieb im Kommentar zu diesem Bild, „die einzigen und wesentlichen Reflexionen: das sind die Vertrautheit mit der Maschine (die ja auch die Kunst des Verbrechers ausmacht ...).“ Die Künstler stellen sich damit als Außenseiter dar, die den Regeln der herrschenden Gesellschaft zuwider handeln, eine Position, die seit Nietzsche erneut ein Vorbild für die sich außerhalb des Bürgertums positionierenden Künstler geworden war.39 „Das Bild zeigt den Verbrecher weder in menschlich-sentimentaler noch in bürgerlich moralischer Auffassung, lediglich als vitales Geschöpf. Wir sehen einen deformierten Körper, dessen Formen ungewöhnliche Energievorräte verraten, welche nach allen Richtungen gegen die gleichgültigen Wände hin anschwellen.“40 In dieser Bildbeschreibung von Herzfelde lässt sich deutlich die Arbeit an einem neuen, auf Technik beruhenden Künstlerbild ablesen, das zu Bildern von Kriminellen und 33 34 35 36 37

Wolfgang Willrich, Die Säuberung des Kunsttempels, München/Berlin 21938, S. 16. Bergius 2000 (wie Anm. 3), S. 50. Ebd. Ebd. Brigid Doherty, „See. We are all Neurasthenics!“ or the Trauma of Dada-Montage, in: Critical Inquiry 24/1997, S. 82–132, hier S. 102–118 bzw. Doherty 2006 (wie Anm. 32), S. 104. Zur Broschüre An alle Künstler (1919) vgl. auch Christian Vogel, Werben für Weimar. Der „Werbedienst der deutschen sozialistischen Republik“ in der Novemberrevolution 1918–19, Aachen 2008, Kat.-Nr. 68. 38 Helmut Lethen, Verhaltenslehre der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994. 39 Zu den Verbrechernamen, die sich George Grosz zwischen 1915 und 1920 zulegte, vgl. Alexander Dückers, George Grosz. Das druckgraphische Werk, Berlin 1979, S. 143. 40 Wieland Herzfelde im Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3).

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3 George Grosz, Der Monteur John Heartfield. Nach Franz Jungs Versuch ihn wieder auf die Beine zu stellen, Montage, 1920

kriminellen Handlungen gesteigert wurde. Die einfache künstlerische Tat des Zerschneidens verband Grosz auf einem Aquarell ohne Titel aus dem Jahre 1919, das eine mit dem Sträfling nahezu identische Täterfigur in blauem Arbeitskittel zeigt, sogar mit dem schwerstmöglichen Verbrechen, dem Serienmord.41 Hannah Höch hingegen betonte den bis heute als typisch weiblich konnotierten Ort im Haus sowie die Hausarbeit. Hierauf spielt auch der Titel ihrer bekanntesten Fotomontage an, die auf der Dada-Messe ausgestellt war, der Schnitt mit dem Küchenmesser

41 Kathrin Hoffmann-Curtius, Im Blickfeld George Grosz. „John, der Frauenmörder“, Stuttgart 1993, S. 29, Abb. 22.

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Dada durch die letzte Bierbauchkulturepoche Deutschlands von 1919/20.42 Das dadaistische Messer ist hier kein Machtzeichen individueller Autorschaft, sondern mit der Mechanik von Hausarbeit verknüpft. Analog zum Schnibbeln mit dem Küchenmesser, das auch eine − wenn auch hausfraulich konnotierte − Form serieller Produktion darstellt, zerteilte Höch die Druckerzeugnisse unterschiedlicher Herkunft und bereitete mit ihnen etwas Neues zu. Sie ironisierte die martialische Inszenierung männlicher Herrschaft über Messer und Schnitt ihrer Künstler- und Malerkollegen als „Diktatur der Dadaisten“ und rückte die den Frauen zugeschriebene Hausarbeit ins Blickfeld.43 Nicht die spezielle Schnittaktion des Künstlers, sondern die Mechanik des Schneidens, das anstelle des Malens getreten war, betonte Höch und wusste sie auch mit ihrer dadaistischen Skulptur der Dadamühle zu inszenieren, auf der ein zum Messer umgeschnitzter Pinsel rotiert (Abb. 4). Bei Höch bleibt das Schneiden ein alltäglicher, mechanischer Prozess. Bei Grosz hingegen wird es zum Zeichen eines individuellen, gewalttätigen Aktes, den er unter anderem für ein Atelierfoto inszenierte.44 Blut scheint an der Stelle vom Rahmen des Spiegels zu fließen, an der der Künstler mit dem Messer das altmodische Modell des Abbildes einer sich spiegelnder Schönen im Atelier attackiert. Durch die martialische Zurschaustellung des eigenen Schnittwerks wird die individuelle Autorschaft für Collage und Montage in der Fotografie dramatisiert, aber auch gerettet. Denn die theatralische Betonung des Schnittes kann auch als Antwort des modernen Zeichner-Maler-Collagisten auf die Konkurrenz des mechanischen und damit seriellen Schnittprinzips gelesen werden, auf dem das damals neue optische Speichermedium, der Film, beruht. Die existenzielle Bedeutung der Inventio für das künstlerische Selbstbild zeigt sich trotz kollektiver Produktion im Wetteifern um die Entdeckung der Fotocollage.45 Wie die Avantgarde in Frankreich um Entstehungsdaten stritt, so reklamierten auch Grosz und Hausmann jeweils frühere Termine, obwohl bis heute keine Fotomontagen der deutschen Dadaisten aus der Zeit vor 1919 überliefert sind. Grosz schrieb 1928 allerdings nicht ohne Ironie: „Als John Heartfield und ich 1916 in meinem Südender-Atelier an einem Maientage frühmorgens um 5 Uhr die Photomontage erfanden, ahnten wir beide weder die großen Möglichkeiten noch den dornenvollen, aber erfolgreichen Weg, den diese Entdeckung nehmen sollte.“46 Hausmann beanspruchte 1972 die Erfindung ebenfalls für sich und datierte sie in das Jahr 1918. Jedoch erzählte er keine Schöpfung aus dem Nichts, dafür traf es ihn – der Held und sein Wetter47 – beim Anblick einer Vorlage, ein aufgeklebter Soldatenkopf auf einem Kriegsgedenkblatt, „wie ein Blitz: man könnte – ich sah es augenblicklich – Bilder machen, ganz und gar aus zerschnittenen Fotos zusammen42 Jula Dech, Hannah Höch. Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, Frankfurt am Main 1989. 43 Zitiert nach Bergius 2000 (wie Anm. 3), S. 369. 44 In der Ausstellung Georg Grosz montiert in Lebensgröße zentral im Eingangsbereich; vgl. Ausst.-Kat. Berlin 2010 (wie Anm. 1), S. 106. 45 Vgl. Doherty 2006 (wie Anm. 32), S. 93–95. 46 George Grosz, Randzeichnungen zum Thema, in: Blätter der Piscatorbühne 2/1928, unpag.. 47 Friedrich Christian Delius, Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus, München 1971, S. 129 ff.

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4 Hannah Höch, Die Dada-Mühle, plastische Montage, um 1920

gestellt.“48 Auf die Namensgebung erhob er trotz seiner Erfindung keinen alleinigen Anspruch: „Gemeinsam – George Grosz, John Heartfield, Johannes Baader, Hannah Höch und ich – beschlossen wir, die Erzeugnisse Fotomontage zu nennen.“49 Im Widerspruch zu seinem Bestehen auf künstlerischer Originalität fasste er dann das gemeinsame Programm der Dadagruppe zusammen: „Dieser Name entstand dank unserer Abneigung, Künstler zu spielen; wir betrachteten uns als Ingenieure (daher 48 Karl Riha/ Günter Kämpf (Hg.), Raoul Hausmann. Am Anfang war dada, Gießen 11972, hier zitiert nach ders. 21980, S. 45. 49 Ebd., S. 45.

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unsere Vorliebe für Arbeitsanzüge), wir behaupteten, unsere Arbeiten zu konstruieren, zu montieren. Das war die Geschichte der Erfindung der Fotomontage. Es waren vor allem ich, Johannes Baader und Hannah Höch, die die neue Technik entwickelten und ausbauten.“50 Wieland Herzfelde stellte 1962 in der Biographie seines Bruders den politischen Zusammenhang heraus und beschrieb die Benutzung der Montage beim Austausch von Sendungen satirischer Liebesgaben und verklebt-verdeckter Nachrichten auf Postkarten mit Soldaten an der Front des Ersten Weltkriegs: „Das ermunterte Heartfield, aus einer ursprünglich politisch aufreizenden Spielerei eine bewusste Technik zu entwickeln.“ Auf diesem Hintergrund wollte er auch den zitierten Satz von Grosz verstanden wissen und resümierte: „In der Tat, die Fotomontage ist mehr entdeckt als erfunden worden.“51 Hannah Höch sprach 1966 nicht von Erfindung. Die Montage von dem Wort Collage absetzend, von dem sie glaubte, dass es erst nach dem 2. Weltkrieg nach Deutschland kam, erzählte sie: „Hausmann brachte dann die wirkliche Montage in Schwung. Er hat damit die Möglichkeit der wirklichen Fotomontage zuerst erkannt.“ In ihrer Erinnerung an Hausmanns Gedankenblitz gestand sie ihm zu, er habe „bewusst die Anregung gegeben, Neubildungen zu erreichen durch Zerschneiden, Umformen oder Entformen, Weglassen oder Hinzufügen“. Dann erläuterte sie vorsichtig den Unterschied zu ihrer eigenen Arbeit, die sie als „etwas Ähnliches“ ansah: „Nur hatte ich es bildmäßig mit vielen Fotos gemacht, die nach Inhalt Gruppen bildend – eine Aussage ergaben.“ 52 Trotz aller „mont.“-Signaturen und Monteuranzüge ist also rückblickend nicht die Rede davon, den Künstler(beruf ) als Subjektposition abschaffen zu wollen, sondern davon, ihn mittels Technik zu modernisieren.53 Das war auch die Quintessenz des Schriftplakates mit dem sich die Monteure Grosz und Heartfield in der Dada-Messe vor der elektro-mechanischen Tatlin-Plastik ablichten ließen: „Die Kunst ist tot / Es lebe die neue Maschinenkunst / Tatlins“.54 Kunst und Künstler außerhalb des Dadaismus wurden auf der Dada-Messe destruiert und zugleich wurde eine neues Künstlerbild markanter Männlichkeit entworfen. Den Demütigungen als Soldat im Krieg folgte die Erneuerung des virilen Künstlersubjektes. „Erneuerung“, so formuliert es Albrecht Koschorke, „das versteht

50 Ebd., S. 45. 51 Beide vorangehende Zitate aus Wieland Herzfelde, John Heartfield. Leben und Werk. Dargetellt von seinem Bruder, Dresden 1962, S. 17–18. 52 Alle vorangehenden Zitate aus Hannah Höch, Erinnerungen an DADA. Ein Vortrag 1966, in: Hannah Höch. 1889–1978. Ihr Werk, ihr Leben, ihre Freunde, Ausst.-Kat. Berlinische Galerie Berlin 1989, S. 201–213, hier S. 207 f. 53 Ein Indikator sind die genauen Angaben der unterschiedlichen Autoren und Autorinnen für die einzelnen Kunstobjekte im Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3). Zu den theoretischen Prämissen des Künstlersubjekts vgl. zuletzt Susanne Lummerding, agency@? CyberDiskurse. Subjektkonstituierung und Handlungsfähigkeit im Feld des Politischen, Wien/Köln/ Weimar 2005. 54 Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3), Kat.-Nr. 90; vgl. dazu auch Bergius 2000 (wie Anm. 3), S. 390 und S. 393.

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sich, im Zeichen des Mannes.“55 Unübersehbar männlich inszenierte George Grosz im August 1919 seine Unterschrift in der Widmung seiner ersten sogenannten Kleinen Groszmappe. Das Blatt wird von einem Hodensack und einem erigierter Penis dominiert, die durch das schwungvoll ausgezogene „Z“ seines Namens und den Titel „Propagandada“ zu einem Signet verbunden sind.56 Ebenso viril gab er sich in dem Selbstporträt, das er Charlie Chaplin zueignete.57 Über Männlichkeit wird das neue Künstlersubjekt entwickelt, wird Autorschaft in der Zeichnung fixiert, die Autorschaft, die mit dem Kleben der Zitate aus Technik, Geschichte und Gegenwart fragwürdig geworden war. Grosz ließ sich auch boxend mit nacktem Oberkörper fotografieren, als ein von den Literaten damals verfochtener Idealtyp des Sportlers.58 Hausmann finden wir auf der in der Dada-Messe ausgestellten Collage mit dem Titel Ein bürgerliches Präzisionsgehirn ruft eine Weltbewegung hervor als eleganten Herren in Hut und Mantel vor.59 Dieser Ort, das Atelier mit Staffelei, musste offenbar von Neuem besetzt werden durch männliche Autorschaft, auch wenn oder möglicherweise gerade weil die Dadaisten, wie anfangs zitiert, sagten: „Bilder herstellen ist keine Wichtigkeit“.60 Auch die Dada-Avantgarde modellierte mit am „Typus des entscheidungsfreudigen Mannes, der sich mit der Technik und der Moderne ausgesöhnt und infolgedessen seine nervöse Antriebsschwäche abgelegt hat. (…) Rationalisierung und Vitalismus, die beiden ehemals verfeindeten Prinzipien gehen ein folgenträchtiges Bündnis ein.“61 Die Frau im Manne, das weiblich-Hysterische sollte abgelegt und die strikte Geschlechterdifferenz von Neuem verdeutlicht werden.62 Mit der angeblich effeminierten Vergangenheit und der dunklen, verschlingenden Erotik vor dem Kriege, für die das Bild der Männer mordenden Weiblichkeit, der Femme fatale, stand, in deren Fängen sich auch die Künstler sahen, hatte man gebrochen.63 Nun gerierte sich der Künstler als Monteur nach einem neuen Männlichkeitskonzept, mit „ungewöhnlichen Energievorräten“ im Körper oder als „vitales Geschöpf als 55 Albrecht Koschorke, Die Männer und die Moderne, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Der Blick vom Wolkenkratzer, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 141–162. 56 Kalligraphie und Zeichnung von Grosz und Heartfield mit der Widmung an den lieben „Herrn Kurtz“ im Besitz der Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr. DR 3302.1–20. 57 Abgebildet in Dückers 1979 (wie Anm. 39), Kat.-Nr. E 53. 58 Als Gegner posierte dabei Heartfield, Hausmann gab den Schiedsrichter, abgebildet in Bergius 1989 (wie Anm. 20), S. 24; vgl. auch das auf der Dada-Messe 1920 gezeigte Boxbild in Bergius 2000 (wie Anm. 3), S. 385 und den Katalogtext zu Grosz‘ Ölbild von Max Schmeling in Peter Klaus Schuster (Hg.), George Grosz. Berlin – New York, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie Berlin/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Düsseldorf 1994/95, Berlin 1994, Kat.-Nr. IX.29. Zum Zusammenhang von Boxen und Kunst vgl. Kai Marcel Sicks, „Der Querschnitt“ oder die Kunst des Sporttreibens, in: ders./ Michal Cowan (Hg.), Leibhaftige Moderne, Bielefeld 2005, S. 33–47 sowie Michael Mackenzie, The Athlet as Machine. A Figure of Modernity in Weimar Germany, in: ebd., S. 48–62. 59 Abgebildet in Bergius 2000 (wie Anm. 3), S. 371. 60 Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3). 61 Koschorke 2000 (wie Anm. 55), S. 153. 62 Ebd., S. 148 f. 63 Kathrin Hoffmann-Curtius, Constructing the Femme Fatale. A Dialogue between Sexology and the Visual Arts around 1900, in: Helen Fronius (Hg.), Women and Death. Representations of Female Victims and Perpetrators in: German Culture 1500–2000, Rochester/N.Y. 2008, S. 157–185.

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5 John Heartfield mit Polizeipräsident Zörgiebel neben seinen Werken aus der Großen Berliner Kunstausstellung, Arbeiter Illustrierte Zeitung, September 1929

Verbrecher“, der Repräsentationen von Weiblichkeit in Fragmenten neu montierte.64 Angestrebt wurde ein einseitigeres Männlichkeitsideal, als es das holistische Konzept des ‚ganzen Mannes‘ im 19. Jahrhundert verlangt hatte, das auch feminin konnotierte Bereiche wie Gefühl, Familiensinn und Geselligkeit mit eingeschlossen hatte.65 Mit der vielfältigen Dekonstruktion autonomen Schaffens entthronte der Dadaismus den aus sich heraus schöpfenden Künstler. Seine männlichen Protagonisten ersetzten ihn durch die Darstellung aggressiver Täterschaft. John Heartfield stellte sie in Fotomontagen in der Arbeiter Illustrierten Zeitung der Zwanziger Jahre in der Selbstinszenierung als politischer Attentäter aus (Abb. 5), während Hannah Höch mit Haus und

64 Beide Zitate nach Wieland Herzfelde im Faltblatt zur Dada-Messe 1920 (wie Anm. 3). 65 Vgl. Martina Kessel, The ‚Whole Man‘. Longing for a Masculine World in Nineteenth-Century Germany, in: Gender & History 15/2003, S. 1–31 und das noch nicht publizierte Typoskript von Gabriele Dietze, Queering Willie. Wilhelminische Maskulinitäten und die Kaiser Figuration (2010), in das sie mir freundlicherweise Einblick gewährte.

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Tanz die bekannten patriarchalen Zuordnungen feminin konnotierter Arbeit und Kunst aufzeigte.66 In der Berliner Ausstellung von 2010 wurden die Arbeiten von Grosz in zwei Kategorien geteilt, die des politischen Künstlers, also auch jene, die er mit Heartfield montierte, und die des genialen Zeichners. Die Kuratorin der Ausstellung bezieht sich bei diesem Genienachweis ausdrücklich auf einen renommierten Kenner von Grosz, Alexander Dückers, der dessen zeichnerisches Oeuvre von 1915 bis 1920 dezidiert als „Geniezeit“ bezeichnet hatte.67 Mit Hilfe der langen Tradition der Handzeichnung übernahm Dückers für Grosz den Begriff des Genies, das aus sich heraus die Welt entwirft. Aufgrund der Vorstellung von Authentizität im Medium Handzeichnung und deren Verbindung mit dem disegno lässt sich so das männliche Genie zumindest auf Teilzeit retten, selbst wenn Grosz auch in seinen vielen Zeichnungen montierte – allerdings nur für den Kenner sichtbar und von der Ausstellungskuratorin als lebenslange Praxis vermerkt. Die Montage hat zwar als künstlerisches Prinzip eine lange Tradition, jedoch wirkte ihre erste moderne Zurschaustellung auf der Dada-Messe nachhaltig bis in die Gegenwart. Nicht ohne Grund wurde diese sensationelle Provokation der bürgerlichen Kunstanschauung um 1920 damals weltweit in der Presse rezipiert. Siebzehn Jahre später machte man sie in der Inszenierung der Schau Entartete Kunst zum Kernstück der Diffamierung, um zum Illusionismus akademischer Imitatio des ganzen Körpers zurückzukehren.68

66 Vgl. ihre Collage Meine Haussprüche von 1922; zum Tanz als weibliche Kunst s. Kathrin Hoffmann-Curtius, Michelangelo beim Abwasch. Hannah Höchs Zeitschnitte der Avantgarde, in: Frauen Kunst Wissenschaft 12/1991 S. 59–80, hier S. 73–75. 67 Birgit Möckel, Arbeiten und nicht verzweifeln, in: Ausst.-Kat. Berlin 2010 (wie Anm. 1), S. 38–83, hier S. 39 in Bezugnahme auf Dückers 1979 (wie Anm. 39), S. 159. 68 Kathrin Hoffmann-Curtius, Die Kampagne „Entartete Kunst“. Die Nationalsozialisten und die Moderne Kunst, in: Deutsches Institut für Fernstudien (Hg.), Studienbegleitbrief 9 des Funkkollegs Moderne Kunst, Weinheim/Basel 1990, S. 49–88, hier S. 66–74.

‚künstlergestalter‘ widersprüche im künstlerhabitus am bauhaus

wolfgang ruppert vorbemerkung Was möchte ich mit dem Begriff ‚KünstlerGestalter‘ im Titel herausarbeiten? Im Bauhaus wurden die Grenzen zwischen den künstlerischen Professionen grundlegend infrage gestellt. Mit einer Synthese von eigenschöpferischer Intensität der kreativen Arbeit und lebensbezogener Neuerfindung der materiellen Kultur sollte ein neuer Typ des Künstlers, der ‚KünstlerGestalter‘, hervorgebracht werden. Ich werde mich in drei Schritten mit dieser künstlerischen Utopie und ihren kultur- und politikgeschichtlichen Kontexten beschäftigen: – der Neugründung einer Kunsthochschule, – deren Personaltableau und – der Spezifik des Künstlerhabitus am Bauhaus.

die neugründung einer kunsthochschule und die neubestimmung des künstlerhabitus Neugründungen von Kunsthochschulen sind nur in besonderen historischen Konfigurationen möglich. Welche Umstände ermöglichten somit das Bauhaus? Im Winter 1918/19 stand für die provisorische republikanische Regierung in Weimar die Notwendigkeit im Vordergrund, die Folgen des Ersten Weltkriegs und der davon verursachten Finanzkrise zu bewältigen. Das waren günstige strukturelle Voraussetzungen, um unter diesen Bedingungen ein radikales Programm zu etablieren, das in die mentale Grundstimmung der aus der Novemberrevolution hervorgegangenen sozialdemokratisch geführten Koalitionsregierung passte und die politische Reformbewegung mit ihrer demokratischen Aufbruchsutopie repräsentierte. Mit der Zusammenlegung der Kunstgewerbeschule Henry van de Veldes und der Hochschule der bildenden Künste sollte die Künstlerausbildung auf eine neue Grundlage gestellt werden, um qualifizierte Gestalter für das regionale Gewerbe auszubilden. Lassen Sie uns daher die Vorstellung vom Künstler untersuchen, die diesem Reformmodell zugrunde lag. Wir können hierzu auf das zentrale Dokument, das Bauhausmanifest zurückgreifen, werden darüber hinaus aber die weitere Konkretisierung der darin entworfenen Vorstellungen und die tatsächlichen Praxisformen in der Institution einbeziehen. Zu Recht wird das Bauhausmanifest von Walter Gropius vom März/April 1919 als ein bedeutendes Dokument der Kunstgeschichte des 20. Jahr-

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hunderts gewürdigt.1 Es muss in eine Beziehung zum Almanach Der Blaue Reiter von Wassily Kandinsky und Franz Marc gestellt werden. Denn beide Manifeste haben ihre Wurzeln in den tiefer liegenden kulturgeschichtlichen Entwicklungen im Konzept des modernen Künstlers selbst. Es bedurfte jedoch intellektuell innovativer und sprachfähiger Künstlerindividuen, um hieraus ein zugespitztes Programm zu formulieren. Beide wandten sich radikal gegen die Herrschaft des ‚Akademismus‘ als einer Auffassung von künstlerischer Kompetenz und vom Künstlerhabitus, die sich im 19. Jahrhundert als Leitkonzept zur Ausbildung des ‚freien‘ Künstlers herausgebildet hatte und überwiegend an den Kunstakademien gelehrt wurde. Im Falle des Blauen Reiters wie des Bauhausmanifests umfassten diese Programme stattdessen ein Verständnis von Kunst, das den ausgeprägten ‚künstlerischen Willen‘ zum alleinigen Kriterium für die schöpferische Leistung von Künstlern erhob, unabhängig von der Art der ästhetischen Sprache, der Zeit der Entstehung oder dem Medium. Mit der Gründung des Bauhauses sollte das Konzept des Künstlers selbst und dessen Qualifikation als kreativer Akteur in diesem Sinne neu justiert werden, allerdings für die gestalterischen Erfordernisse der Alltagswelt geöffnet. Um die hinter diesen Manifesten stehenden längerfristigen Entwicklungen in unsere Analyse einbeziehen und damit die Anstrengungen von Gropius und später von Hannes Meyer in ihrer Bedeutung einordnen zu können, muss ich etwas ausholen und die Begriffe klären, die meinem Denkansatz zugrunde liegen. In meinem Buch Der moderne Künstler. Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität ging es mir darum, nach den Merkmalen des modernen Künstlers und deren Veränderungen zwischen dem ausgehenden 18. Jahrhundert und etwa 1930 zu fragen. Um den inneren Kern von Eigenschaften zu erfassen, habe ich den Begriff des ‚Künstlerhabitus‘ ausgearbeitet, unter Rückgriff auf Pierre Bourdieus allgemeine Definition des Habitus. Bourdieu hatte im Anschluss an andere Autoren, wie Norbert Elias oder Erwin Panofsky, mit dem Begriff des Habitus ein „strukturiertes Unterscheidungsvermögen“ bezeichnet, als ein „System der organischen und mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“.2 Dieses Verständnis des Habitus fortführend, eignet sich der Begriff des ‚Künstlerhabitus‘, um das Ensemble der im Verständnis des Künstlers verdichteten schöpferischen Kompetenzen, Arbeitspraktiken und stilisierenden Unterscheidungsmuster zu erschließen, in denen sich die kreative Individualität äußern kann.3 Denn die Entfaltung von kreativer Individualität in künstlerischer Arbeit erfordert bewusste und intuitive Arbeitskonzepte gleichermaßen sowie einen individualisierten ästhetischen Ausdruckswillen, um die Ideen, unbewussten Empfindungen oder inneren Bilder in einer medialen Form objektivieren zu können. In diesem Sinne ist der moderne Künstler durch ein 1 2 3

Walter Gropius, Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar, hg. vom Staatlichen Bauhaus, Weimar 1919, wieder in: Hans M. Wingler, Das Bauhaus, Weimar/Dessau/Berlin 3 1975, S. 38–41. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 1974, S. 40. Wolfgang Ruppert, Der moderne Künstler. Zur Sozial und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998, S. 225–474, insbesondere S. 232f.

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Ensemble von spezifischen Kompetenzen und Wissensressourcen charakterisiert, die sich in kulturellen Mustern, Begriffen, Vorstellungen, symbolischen Formen sowie von individualisierten ästhetischen Wahrnehmungs- und Artikulationsweisen äußern. Hierzu gehören insbesondere die entwickelte Subjektivität des Ausdrucks in einer spezifischen Form sowie die Orientierung an der Autonomievorstellung des ‚künstlerischen Willens‘ bei der Produktion eines Werkes. Diese Kompetenzen werden in der Regel im Verlauf eines Kunststudiums in Form einer künstlerischen Grammatik angeeignet und auf der Basis einer entwickelten ästhetischen Individualität als Habitus verinnerlicht. Um in dieser Perspektive die Reformprogrammatik und die am Bauhaus schließlich erprobte Neudefinition des Künstlers einordnen zu können, müssen wir die langfristige Herausbildung der künstlerischen Professionen skizzieren. Denn es ging in der Utopie des Bauhausmanifests explizit um eine neue Einheit der im Verlauf des 19. Jahrhunderts voneinander separierten und im gesellschaftlichen Prestige hierarchisierten künstlerischen Berufe mit ihren Wissensformen. Die Ausdifferenzierungen fanden am Beginn der kulturellen Moderne im ausgehenden 18. Jahrhundert statt. Sie erhielten um 1800 mit der Bildung neuer Institutionen ihre Repräsentation. Die Scheidung der im bürgerlichen Individuum vereinigten kulturellen Kompetenzen in drei in der Gesellschaft getrennte Wissensformen wurde mit deren Etablierung befestigt.4 Diese sind einerseits ‚die Künste’, mit dem auf die Gefühlswelt, die Wahrnehmungen und die Intuition bezogenen Wissen, für die beispielsweise 1808 in München eine moderne Akademie der bildenden Künste neu konstituiert wurde. Sie umfasste Malerei, Bildhauerei, Architektur, aber auch ältere serielle Medien wie Kupferstechen. In dieser Institution entstand der Habitus des ‚autonomen‘ Künstlers und der ‚hohen‘ Kunst. Mit der modernen Akademie sollte ein eigenständiger Entfaltungsraum für die Selbstfindung des kreativ begabten Individuums entstehen. Deren Kontinuität konnte 2008 als 200jähriges Jubiläum der Münchner Kunstakademie gefeiert werden.5 Andererseits entstand eine zweite, davon gänzlich separierte Wissensform: die Wissenschaften. Sie versammelten das kognitive und rationale Wissen. Für diese wurde zeitgleich die moderne Universität als neuartige Institution eingerichtet, z. B. 1810 in Berlin. Auch den Wissenschaften wurde der Status der Autonomie zuerkannt. Die Institutionen Kunstakademie und Universität scheiden in unserer Kultur bis heute die Wissensformen in zwei gegensätzliche Bereiche, die jedoch beide die Kultur des modernen Menschen umfassen. Die Institutionen Akademie und Universität bilden den Nachwuchs an Künstlern sowie an Wissenschaftlern aus und formen diese im jeweiligen Berufshabitus. Ihnen wurde von der Gesellschaft der Begriff und der kulturelle Raum für Bildung zugeordnet. 4 5

Zur Entstehung des bürgerlichen Individuums in einer Infrastruktur gesellschaftlicher und kultureller Bezüge vgl. Wolfgang Ruppert, Bürgerlicher Wandel. Zur Geburt der modernen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1984. Nikolaus Gerhard/ Walter Grasskamp/ Florian Matzner (Hg.), 200 Jahre Akademie der Bildenden Künste München, München 2008; zu den Institutionen allgemein Ekkehard Mai, Deutsche Kunstakademien im 19. Jahrhundert, Weimar/Wien 2010.

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Mit dieser Neuordnung des Wissens um 1800 erhielt jedoch die ästhetische Arbeit an gewerblichen Produkten und an der Welt der materiellen Objekte des Gebrauchs mit den Zwecken der Bewältigung des Lebens einen minderen Status zugeschrieben. Das entstandene Defizit wurde erst nach einem halben Jahrhundert als nicht länger hinnehmbar thematisiert.6 Der für diesen Bereich 1851 neu gebildete, synthetische Begriff ‚Kunst-Gewerbe’ fand bekanntlich mit der Gründung der Kunstgewerbeschulen in den 1860er Jahren in Deutschland seine institutionelle Erhebung zum Lehrgebiet. Dies allerdings in rein schulischen Formen, in denen für die Selbstfindung der Schüler als künstlerischer Individuen kaum Raum gegeben wurde, die Ausbildungszeit etwa halb so lang war wie an den Kunstakademien, dafür jedoch von Anfang an auch Mädchen ästhetische Fähigkeiten im Zeichnen und Musterentwerfen erlernen konnten. Frauen wurden bekanntlich an Kunstakademien, in München bis 1919, nicht mehr zum Studium zugelassen. Die Protagonisten der ‚modernen Bewegung‘ betrachteten um 1900 die defizitäre Qualifikation dieser ‚Kunstgewerbler‘ als eine Folge der unzureichenden Ausbildung an den Kunstgewerbeschulen.7 Der Unterricht sei zu flach und lasse die Entfaltung einer künstlerischen Persönlichkeit nicht zu. Die ‚moderne Bewegung‘, die in dieser Phase die neuen Entwurfspraktiken der ‚angewandten Kunst‘ erfand, bildete sich charakteristischerweise weitgehend aus Maler-Künstlern, die selbst ein Akademiestudium in der freien Kunst absolviert hatten und sich nun aber entschieden der Gestaltung der materiellen und visuellen Kultur für das moderne Leben zuwandten. Richard Riemerschmid, Peter Behrens oder Paul Schulze-Naumburg gehörten hierzu. Sie verbanden sich bekanntlich in einem nächsten Schritt 1907 im Werkbund mit Industriellen zur Verbreitung einer zeitbezogenen, modernen Industriekultur, in Architektur, Objekt- und Produktgestaltung sowie Plakat und Grafik. Diese ‚angewandten‘ Medien wurden von diesen ‚KünstlerGestaltern‘ als zueinander durchlässige Arbeitsgebiete betrachtet und gleichermaßen mit ‚künstlerischem Willen‘ bearbeitet, ebenso wie weiterhin die Malerei. Walter Gropius schulte sich zwischen 1908 und 1910 im Büro von Peter Behrens in dieser Auffassung des Künstlerhabitus der ‚modernen Bewegung‘. Das an Gewicht gewinnende Verständnis von ‚angewandter Kunst‘ konnte jedoch nichts daran ändern, dass die Kunstakademien weiterhin auf den Habitus des ‚autonomen‘ Künstlers ausgerichtet blieben und sich auf der Grenzlinie der ‚freien‘ Künste abschotteten, die ‚Gestaltung‘ aber den Kunstgewerbeschulen zuordneten.8 Diese Situation wurde von den Reformern der modernen Bewegung vor allem deswegen als unzureichend kritisiert, weil damit die eingeschränkten Entfaltungschancen des Kunstgewerbes für die ‚angewandte Kunst‘ fortgeschrieben wurden, zumal die begonnenen Reformen der Kunstgewerbeschulen, so von Peter Behrens in Düsseldorf

6 7 8

Ruppert 1998 (wie Anm. 3), S. 517f. Zum Begriff der ‚modernen Bewegung’, Ruppert 1998 (wie Anm. 3), S. 541. Ruppert 1998 (wie Anm. 3), S. 483–497, insbesondere S. 495.

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oder Richard Riemerschmid in München, schnell in deren strukturellen Grenzen stecken blieben.9 Vor diesem Hintergrund setzte Gropius mit dem Bauhausmanifest einen Bruch mit den bis dahin prägenden Ordnungsformen des modernen Künstlerhabitus, wie sie sich im 19. Jahrhundert in den Institutionen der Künstlerausbildung und ihren jeweiligen Fächern habituell verstetigt hatten. Es ging Gropius darum, die Zielrichtung der künstlerischen Arbeit neu zu justieren. Im Bauhausmanifest heißt es visionär: „Das Bauhaus erstrebt die Sammlung alles künstlerischen Schaffens zur Einheit, die Wiedervereinigung aller werkkünstlerischen Disziplinen – Bildhauerei, Malerei, Kunstgewerbe und Handwerk – zu einer neuen Baukunst als deren unablösliche Bestandteile.“10 Der Programmatiker Gropius setzte hier dezidiert das Kunstgewerbe in ein gleichberechtigtes Verhältnis zu den der freien Kunst zugeordneten Professionen der Malerei und Bildhauerei. Für die tatsächliche Entwicklung ist diese Programmutopie allerdings nur eingeschränkt aussagefähig. Die Realität des Bauhauses entwickelte sich komplexer als im Entwurf einer visionären Vorstellung. Nach den sich im Verlauf des Jahres 1919 weiter präzisierenden Zielen von Gropius sollte die neue Institution weder auf die bis dahin existierende Ausbildung von Kunstgewerblern noch auf die von Malern oder Bildhauern gerichtet sein, sondern einen neuen Typ des Künstlers als ‚KünstlerGestalter‘ hervorbringen, der in der Lage sein würde, sich in seiner eigenschöpferischen Arbeit ganz auf die Erfordernisse der ästhetischen Gestaltung des modernen Lebens, dessen Alltagspraktiken und materieller Kultur zu beziehen. Hierzu versuchte Gropius die bislang in den Spaltungen des Künstlerhabitus im 19. Jahrhundert voneinander geschiedenen Kompetenzbezirke in der Beziehung von ‚Kunst und Leben’ in seiner neuartigen Institution weitergehend zu integrieren. Daher sollten die innovativen und entfalteten ästhetischen Kompetenzen der zeitgenössischen radikal-modernistischen autonomen Künstler mit denen der Handwerker zu einem neuartigen Habitus verbunden werden, der Objekte entwerfen und herstellen, visuelle und haptische Gebrauchskultur, ebenso wie experimentelle künstlerische Werke und Werkstücke in unterschiedlichen Medien hervorbringen konnte. In den Werkstätten sollte das in der zünftischen Tradierung kollektiv angesammelte, solide Praxiswissen zwischen Metallverarbeitung und Textil einbezogen und angeeignet werden. Dementsprechend konzipierte Gropius den Lehrbetrieb. Die angestrebte Synthese der künstlerischen und handwerklichen Kompetenzen fand ihren Ausdruck in einer Verbindung der Lehre eines Formmeisters und eines Handwerksmeisters in einer Werkstatt. Der Formmeister gab den künstlerischen Unterricht. Im Falle von Paul Klee oder Wassily Kandinsky war dies eine Formlehre, die sich aus ihrer individuellen

9 Ekkehard Mai, Vom Werkbund zur Kölner Werkschule. Richard Riemerschmid und die Reform der Kunsterziehung im Kunstgewerbe, in: Winfried Nerdinger (Hg.), Richard Riemerschmid. Vom Jugendstil zum Werkbund. Werke und Dokumente, München 1983, S. 39–62; Ruppert 1998 (wie Anm. 3), S. 562–575. 10 Gropius 1975 (wie Anm. 1), S. 40.

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ästhetischen Erfahrung als modernistische Künstler speiste.11 Der Handwerker vermittelte dagegen die aus den langfristigen Erfahrungen der Handwerke überindividuell gewonnenen berufspraktischen Kompetenzen zur Umformung von Material. In der Verbindung der bislang getrennten Wissensformen im neu zu schaffenden Habitus des ‚KünstlerGestalters‘ sollte die gegenseitige Durchdringung und schöpferische Steigerung von Kunst und Handwerk ermöglicht werden. Die aus diesem Konzept erwachsenen Praktiken und Selbstbilder schufen den markanten Habitus der ‚Bauhäusler‘. Gropius stellte seinem Manifest 1919 den Holzschnitt Die Kathedrale der Zukunft von Lyonell Feininger voraus.12 Ich meine, es ist die bis heute wirkende starke fiktionale Bildlichkeit, die sich mit Feiningers Holzschnitt zu einem mythischen Programm der Reintegration des bis dahin fraktierten Künstlerhabitus am gemeinsamen Werk verband (Abb. 1). Diese expressive Bildlichkeit sicherte dem Bauhausmanifest einen singulären Platz in unserem kollektiven Gedächtnis. Mit den Begriffen der Marketingkommunikation würden wir heute vom Branding einer Marke sprechen. Darüber hinaus hatte dieses Programm, das die Bildlichkeit der Kathedrale als symbolische Form voranstellte, aber auch eine inhaltliche Dimension, die an tiefere kulturgeschichtliche Bezüge anschlussfähig war. Künstlerischer Entwurf und Handwerk in einer Synthese vereint, wie beim Bau des Schlüsselwerkes der stadtbürgerlichen Gemeinschaft des Mittelalters, diente als Symbol einer Gestaltungskraft, die aus den geistigen Quellen der Religion und den kommerziellen Erträgen aus den Zweckarbeiten der Gewerbe der Stadtbürger erwachsen war. 1919 sollte aber mit diesem aus den Ressourcen der Geschichte gewonnenen starken Bild der Konstruktion einer Kathedrale in einer Gemeinschaftsanstrengung für den kulturellen Aufbau der Zukunft der Moderne geworben werden. Diese Vorstellung wurde aus den kulturellen und politischen Kontexten der eigenen Zeit gespeist. Nach der Novemberrevolution von 1918 dominierten in der linken politischen Kultur des demokratischen Aufbruchs die mythischen Begriffe ‚Einheit‘ und ‚Sozialismus‘. Diese gingen in die Sinnorientierung der auf der Basis von Gleichheit in den Künstlerräten Münchens und Berlins versammelten Künstler ein. Im Berliner Arbeitsrat für Kunst, dessen Vorsitz Gropius in den Monaten Februar und März 1919 inne hatte, oder im Münchner Künstlerrat, in dem Richard Riemerschmid eine führende Rolle spielte, wurden die anstehenden Zukunftsfragen der Weiterentwick-

11 Zu Klee vgl. Rainer K. Wick, Bauhaus. Kunst und Pädagogik, Oberhausen 2009, S. 269– 296; Oskar Bätschmann, Grammatik der Bewegung. Paul Klees Lehre am Bauhaus, in: ders./ Josef Helfenstein (Hg.), Paul Klee. Kunst und Karriere. Beiträge des internationalen Symposiums in Bern, Bern 2000, S. 116–124; zu Kandinsky vgl. Egon von Rüden, Zum Begriff künstlerischer Lehre bei Itten, Kandinsky, Albers und Klee, Berlin 1999; Wolfgang Ruppert, „Es nahte die Umwälzung“. Kandinsky und der Künstlerhabitus am Bauhaus, in: Anja Baumhoff/ Magdalena Droste (Hg.), Mythos Bauhaus, Berlin 2009, S. 127–146. 12 Hierzu problematisierend Magdalena Bushart, Am Anfang ein Missverständnis. Feiningers Kathedrale und das Bauhaus-Manifest, in: Bauhaus-Archiv u. a. (Hg.), Modell Bauhaus, Ostfildern 2009, S. 30–32.

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1 Lyonel Feininger, Kathedrale, Titelblatt für das Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses Weimar, Holzschnitt, April 1919

lung der eigenen Berufsfelder ähnlich gesehen.13 Die Künstlerräte verbanden mit dem Begriff ‚Einheit‘ dezidiert die Intention der Überwindung der realen Spaltungen zwischen den künstlerischen Professionen, die in ihren Ausbildungsinstitutionen 13 Will Grohmann beschrieb diesen Zusammenhang: „Die Idee des Bauhauses lag in der Luft. Als unmittelbar nach dem Krieg der ‚Arbeitsrat für Kunst’ gegründet wurde, erhob dieser Forderungen, die denen des Bauhauses eng verwandt waren: Reform der Kunstschulen, Ausbildung auf handwerklicher Grundlage, Synthese der Künste, Abwehr des schrankenlosen Individualismus usw.“, zitiert nach Eckard Neumann (Hg.), Bauhaus und Bauhäusler. Erinnerungen und Bekenntnisse, Köln 1985, S. 245; vgl. auch Bätschmann 2000 (wie Anm. 11), S. 111–115.

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mit einer nur schwer überwindbaren Grenzziehung voneinander geschieden worden waren. Damit muss man den Mythos der individuellen Erfindungskraft von Gropius bei der Formulierung des Bauhausmanifests relativieren. Tatsächlich bündelte er in seinem Text zugleich allgemeine Ideen aus den Debatten in den Künstlerräten dieser nachrevolutionären Phase. Das Bauhausmanifest bezog sich allerdings auch auf den bereits seit den 1880er Jahren, beispielsweise im Rembrandtdeutschen von Julius Langbehn, ins bildungsbürgerliche Bewusstsein getretenen romantischen Geist der Aufhebung der Spaltungen des Wissens in der kulturellen Moderne.14 Dies umfasste gleichermaßen die intellektuell-wissenschaftlichen Wissensformen. Gropius, Kandinsky oder Klee waren Bildungsbürger, die am geistigen Leben ihrer Zeit Teil hatten. Daher lag es in der Konsequenz dieser integrativen Anstrengungen, im Verlauf der 1920er Jahre wichtige Repräsentanten der einschlägigen Wissenschaften zu Vorträgen ans Bauhaus zu holen und deren kognitive Erkenntnisse in das eigene Verständnis der Moderne einzubeziehen.15

der personalkörper Ein Programm steht und fällt mit den Personen, die dafür arbeiten. Daher begann Gropius bereits unmittelbar nach seiner Bestätigung als Direktor mit der Gewinnung von neuen kompetenten Lehrern. Seine Wahl fiel auf ihm bekannte modernistische Künstler, auf Lyonel Feininger, der als führender deutscher Kubist galt, und auf den in Wien wirkenden Johannes Itten.16 Den anderen Pol bildeten weiterhin die Lehrer und Studierenden der als Institution nun aufgelösten Hochschule für bildende Kunst in Weimar, die in das neue Institut übergingen, Engelmann, Thedy und andere.17 Diese repräsentierten die klassischen Professionen der Bildhauerei und Malerei sowie die ästhetische Sprachlichkeit des deutschen Impressionismus.18 Zwar hatte Engelmann für die aufgelöste Kunstakademie das Bauhausmanifest begrüßt. Darin wurden die Malerei und Bildhauerei explizit als gleichberechtigte Lehrgebiete benannt. Doch im Verlauf des Jahres 1919 14 Zu dieser kulturgeschichtlichen Bedeutung des Rembrandtdeutschen vgl. Ruppert 1998 (wie Anm. 3), S. 327–339. 15 Hierzu Peter Bernhard, Die Gastvorträge am Bauhaus. Einblicke in den ‚zweiten Lehrkörper‘, in: Baumhoff/ Droste 2009 (wie Anm. 11), S. 91–112. 16 Der Wortlaut im Protokoll der ersten Sitzung des Lehrerkollegiums, an der die übernommenen Lehrkräfte und der neue Direktor teilnahmen im Bericht an das Hofmarschallamt: „Betrifft Neuberufungen – L. Feininger, Maler und Graphiker – Johannes Itten, Maler – Cesar Klein, Maler – Gerhard Marcks, Bildhauer (bisher Kunstgewerbeschule) (ab 1.Okt.1919 frei)“, zitiert nach Volker Wahl (Hg.), Die Meisterratsprotokolle des Staatlichen Bauhauses Weimar 1919–1925, Weimar 2001, S. 43. 17 Ute Ackermann/ Kai Uwe Schierz/ Justus H. Ulbricht (Hg.), Streit ums Bauhaus. Begleitband zur Ausstellung in der Kunsthalle Erfurt 7. Juni–2. August 2009, Jena 2009. 18 Zur Spannung zwischen der ‚Weimarer Schule’ und der Avantgarde vgl. Gerda Wendermann, Die Ausstellungspolitik Wilhelm Köhlers zwischen Weimarer Malerschule und Bauhaus, in: Ackermann/ Schierz/ Ulbricht 2009 (wie Anm. 17), S. 60–85.

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waren die übernommenen Kunstprofessoren nur mehr eingeschränkt bereit, an der Umsetzung des neuen Konzepts mitzuwirken, insbesondere als deutlich wurde, dass ihre klassischen Lehrgebiete und ihr eigener Habitus als ‚autonome‘ Künstler künftig eine mindere Rolle einnehmen sollte. Der Vorwurf gegen Gropius lautete bald öffentlich, ausgerechnet die Malerei, eine der angesehensten Künste, werde an dieser neuen Kunsthochschule vernachlässigt. Der ‚Bauhausstreit‘ gegen Ende 1919 war die Konsequenz, der mit der Wiedererrichtung einer Hochschule für bildende Kunst durch Thedy, Engelmann und andere als klassische Kunstakademie 1920/21 endete, die dann freilich bedeutungslos blieb. Die Aufmerksamkeit von Gropius galt nun der Gewinnung weiterer Vertreter einer radikalen Modernität in den Bildmedien Malerei und neue Medien. Daher holte er 1920 Paul Klee, 1922 Wassily Kandinsky, 1923 László Moholy-Nagy nach Weimar.19 Dies waren allesamt ausgeprägte Individualisten, die jedoch bereitwillig am gemeinsamen Aufbauwerk mitarbeiteten. Nicht nur in Ittens Hang zur MazdaznanLehre wirkten die esoterisch-mythischen Praktiken des zeitgenössischen Bildungsbürgertums auch in die Lehrer- und Schülerschaft.20 Demgegenüber vertrat Gropius ein eher aufgeklärt-vernunftbetontes Weltbild. Dieser konfliktträchtige Widerspruch in den kulturellen Grundhaltungen zwischen Itten und Gropius wurde 1922 mit dem Abschied Ittens entschieden. Als Nachfolger beauftragte Gropius Moholy-Nagy mit dem Vorkurs. Dieser beschäftigte sich als Künstler bereits experimentell mit Lichtkunst, die noch lange Jahrzehnte nach den Konventionen der offiziellen Kunst als illegitimes Medium galt, zunächst im Medium von Fotogramm und Fotografie.21 Seit 1922 trat die Formel der Verbindung von ‚Kunst und Technik‘ auch in der Programmatik von Gropius in den Vordergrund. Sie hatte de facto bereits in der ‚modernen Bewegung‘ nach 1900 einen Sektor der gestalterischen Innovation gebildet, exponiert in der Produktgestaltung von Peter Behrens für die AEG nach 1907, seinen Ventilatoren, Wasserkesseln, technischen Armaturen und Plakaten.22 Für Gropius beinhaltete dieser Bezug zur rasanten technisch-industriellen Modernisierung in den zwanziger Jahren ein Potenzial zur Profilierung des Bauhausprogramms, das als Verbindung von Kunst, Industrie und Leben ganz im Sinne des Werkbundes lag. Die Bauhausausstellung von 1923 bot bekanntlich die erste Gelegenheit, das Zusammenwirken der in den Werkstätten verankerten Spezialisierungen der Entwerfer mit ihren Arbeiten der Objektgestaltung, Textilien oder grafischen Arbeiten im gemeinsamen Werk in Weimar zu erproben. Diese Ausstellung war auch deswegen so 19 Zu Klees Voraussetzungen vgl. Otto Karl Werckmeister, Sozialgeschichte von Klees Karriere, in: Bätschmann 2000 (wie Anm. 11), S. 38–67. 20 Zu diesen esoterischen Unterströmungen vgl. Christoph Wagner, Das Bauhaus und die Esoterik. Johannes Itten, Paul Klee, Wassily Kandinsky, Ausst.-Kat. Gustav-Lübeke-Museum Hamm/Kulturspeicher Würzburg 2005, Bielefeld 2005; ders. (Hg.), Esoterik am Bauhaus. Eine Revision der Moderne?, Regensburg 2009. 21 Andreas Haus, Moholy-Nagy. Fotos und Fotogramme, München 1978; zusammenfassende Einordnung bei Kai-Uwe Hemken, Der Wille zum Licht. Erneuerungsutopien der klassischen Avantgarde, in: Kunst Licht Spiele. Lichtästhetik der klassischen Avantgarde, Ausst.-Kat. Kunsthalle Erfurt 2009, Bielefeld/Leipzig 2009, S. 32–43. 22 Tilmann Buddensieg, Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914, Berlin 1979.

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Herbert Bayer, Umschlag des Katalogs zu den Metallmöbeln Marcel Breuers, 1927: „stahlclubsessel“, 1926 2

notwendig geworden, weil sie den künstlerischen Ertrag des Bauhauses für eine größere Öffentlichkeit sichtbar machen konnte und der Polemik der völkischen Politiker gegen diesen Arbeitsansatz entgegenwirkte. Über die ganze Zeit seiner Tätigkeit als Direktor floss ein erheblicher Teil der Arbeitskraft von Gropius in die Öffentlichkeitsarbeit, um sein Projekt zu stabilisieren und in den Teilen des ‚modern‘ eingestellten Bürgertums um Unterstützung zu werben.23 Bekanntlich setzten sich die Gegner mit Dr. Herfurth als Sprecher dann nach einem Rechtsruck bei den Thüringer Landtagswahlen 1924 mit ihrer Forderung nach Mittelstreichung dennoch durch, sodass seit 1925 ein neuer Standort in Dessau ausgestaltet werden musste. Die im Bauhaus in Weimar ausgebildeten ersten Jungmeister, Marcel Breuer oder Gunta Stölzl, realisierten das Bauhausprogramm in diesen Jahren in ihren Werkstücken auf je eigene Weise. Ich muss mich auf ein Werkbeispiel für die experimentelle Neuerfindung von materieller Kultur beschränken. Zu Marcel Breuers stahlclubsessel wurden 1927 in einem Prospekt Hinweise auf die Gebrauchswerte eingearbeitet. Der Prospekt wurde von Herbert Beyer gestaltet (Abb. 2): Sitzen und Form, Gebrauchswert und modernistische Ästhetik wurden von Breuer in eine neuartige, experimentelle Beziehung gebracht.24 Darin entstand eine Alternative zu den zeitgenössischen konventionellen, schweren Clubsesseln des gehobenen bürgerlichen Ausstattungsbe23 Will Grohmann: „Solange das Bauhaus bestand, wurde es angegriffen. Die Besten standen zwar auf seiner Seite, aber sie waren eine kleine Minorität“, zitiert nach Neumann 1985 (wie Anm. 13), S. 245. Diese entscheidende Bedeutung des Engagements von Gropius wird verkannt bei Patrick Rössler (Hg.), Bauhauskommunikation, Innovative Strategien im Umgang mit Medien, interner und externer Öffentlichkeit, Berlin 2009. 24 Allgemein hierzu Gerda Breuer, Vorzeigeobjekt des Neuen Wohnens. Marcel Breuers Clubsessel B3, in: Baumhoff/Droste 2009 (wie Anm. 11), S. 203–206.

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3 Paul Ludwig Troost, Halle der 1. Klasse auf dem Lloyddampfer „Columbus“, 1924

darfs. Der Vergleich mit dem ‚Dampferstil‘ von Paul Ludwig Troost, der gleichzeitig im kulturkonservativen Bürgertum als repräsentativ galt, demonstriert den Unterschied der symbolischen Ordnungen, zwischen experimenteller Neuerfindung der materiellen Kultur bei Breuer und der konventionellen Repräsentationsästhetik der bürgerlichen Oberschicht (Abb. 3).25 Bekanntlich kam die im Bauhausmanifest als integrative Kunst beschriebene „Baukunst“ als tatsächliches Lehrgebiet erst 1927 mit der Einrichtung der Architekturabteilung unter der Leitung von Hannes Meyer hinzu. Die Malerei begleitete die meisten Bauhäusler allerdings ohnehin als ihr individuelles Ausdrucksmedium als Künstlerindividuen. Im Lehrbetrieb diente sie zunächst vorrangig als spezifische Quelle von ästhetischer Kompetenz. Erst 1927 wurden für Kandinsky und Klee auch offiziell eigene Malklassen im Lehrbetrieb eingerichtet. Mit der allmählichen Ermüdung von Gropius in der Rolle des Direktors und seiner Suche nach einem Nachfolger entwickelte sich ein weiterer Widerspruch zwischen zwei Varianten des Künstlerhabitus. Die Bestellung von Hannes Meyer 1928 als neuem Direktor brachte diesen bereits ausgewiesenen modernen Architekten und theoretisch sprachfähigen Gestalter in die Schlüsselstellung für eine programmatische Neuausrichtung des Bauhauses. Seine Formel ‚Volksbedarf statt Luxusbedarf‘ repräsentierte die soziale Utopie der Demokratisierung der modernen Gestaltung.26 Da sich Hannes Meyer in seiner Beziehung zur linken Arbeiterbewegung als politischer Künstler verstand, suchte er nach Möglichkeiten, um die Verbesserung der Lebensverhältnisse der ärmeren Bevölkerungsschichten mit einer minimalistischen 25 Sonja Günther, Design der Macht. Möbel für Repräsentanten des ‚Dritten Reiches‘, Stuttgart o. J., S. 12f. 26 Winfried Nerdinger, „Anstößiges Rot“. Hannes Meyer und der linke Baufunktionalismus – ein verdrängtes Kapitel Architekturgeschichte, in: Hannes Meyer 1889–1954. Architekt – Urbanist – Lehrer, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin u. a. 1989, Berlin 1989, S.12–29.

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und zugleich bezahlbaren Ästhetik zu verbinden. Seine Entwurfsarbeit, ausgehend von der rationalen Analyse des Gebrauchs, der Funktion von Objekten im Lebenszusammenhang und der Einbeziehung von modernistischen Werkstoffen wie Sperrholz und Metall, gipfelte in einer dezidierten Ablehnung der gefühlsbezogenen Intuition im ‚autonomen‘ Künstlerhabitus, wie er seit dem 19. Jahrhundert im konventionellen zeitgenössischen Künstlerverständnis etabliert war: „Das Künstleratelier wird zum wissenschaftlich-technischen Laboratorium und seine Werke sind Ergebnisse von Denkschärfe und Erfindungskraft. Das Kunstwerk von heute ist, wie jedes Zeitprodukt, den Lebensbedingungen unsrer Epoche unterworfen, und das Resultat unsrer spekulativen Auseinandersetzung mit der Welt kann nur in exakter Form festgelegt werden. Das neue Kunstwerk ist die Totalität, kein Ausschnitt, keine Impression (...). Das neue Kunstwerk ist ein kollektives Werk und für Alle bestimmt, kein Sammelobjekt oder Privilegium Einzelner.“27 Dieser Weg erwies sich als eine schmale Gradwanderung der experimentellen Erkundung zwischen individueller Willensanstrengung, ästhetischer Realisierbarkeit und den Grenzen, die die politische Entwicklung setzte. Unter seinem Direktorat entwickelten linke und kommunistische Studenten eine offensive Agitation für die Politisierung der Bauhauskünstler im Sinne der Arbeiterbewegung. Die Differenz im Künstlerhabitus zwischen dem bürgerlichen Reformer Gropius und dem marxistischen Linkssozialisten Meyer spitzte die Gegensätze am Bauhaus zu. Im Verlauf des Jahres 1930 wurde die politische Rechte bei den Wahlen in Erdrutschsiegen massiv gestärkt, nicht zuletzt aufgrund der ansteigenden Arbeitslosigkeit und der mentalen Folgen der Weltwirtschaftskrise. Sie hatte damit auch eine gestärkte Grundlage für den Kampf gegen das Bauhaus. In diesem politischen Kontext wurde schließlich der Widerspruch zwischen zwei Varianten des modernen Künstlerhabitus im Architekten und Entwerfer, dem primär gestalterisch interessierten Gropius und dem politisch radikaleren Meyer, mit der Entlassung des Letzteren gelöst.

kulturelle voraussetzungen für den künstlerhabitus am bauhaus Wir können die Bedeutung des Bauhauses für die Infragestellung der konventionellen Grenzen innerhalb des Künstlerhabitus nur im Vergleich zu anderen Kunsthochschulen angemessen bewerten. Das innovative Ziel eines neuen Habitus des ‚KünstlerGestalters‘ bedurfte sowohl offenerer Formen der Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft, als auch einer neuen Wahrnehmungskultur für die Lebenswelt. Die damit verbundene Öffnung der kulturellen Muster wurde von den Studierenden als attraktiv wahrgenommen, weil das Bauhaus in seinen symbolischen Verkehrsformen mit den zu dieser Zeit üblichen Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden an Kunsthochschulen brach. Sichtbarer Ausdruck für den Abbau autoritärer Hierarchien im Binnenverhältnis war nicht nur die Benennung der Kunstprofessoren als ‚Meister‘, ein Begriff, der de-

27 Ebd., S. 73.

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4 Gruppenaufnahme vom 2. Bauhausfest im Saal der Wirtschaft „Ilmschlösschen“ in Oberweimar, Fotografie, Juni 1924

monstrativ Gleichheit mit den Handwerksmeistern herstellte.28 Zugleich wurde auch die Schwelle zwischen Dozenten und Kunstschülern niedriger gesetzt als an Kunstakademien, an denen nach wie vor eine strikt autoritäre Hierarchie den Umgangston bestimmte. Deren enges Korsett eines normativen Akademismus, mit dem häufig willkürlichen Ritual der Korrektur der Arbeiten der Studierenden durch den Professor, galt in der demokratischen Linken als unwürdig. Hiervon wollte man sich mit der „Pflege freundschaftlichen Verkehrs zwischen Meistern und Studierenden außerhalb der Arbeit“ am Bauhaus mit einer auf die Gestaltung der Gefühle bezogenen Gemeinschaftskultur abgrenzen (Abb. 4).29 Die ganze Zeit über, während des Bestehens des Bauhauses, fanden Feste statt, als ein besonderer Höhepunkt des kommunikativen Austausches „von Ideen, Gefühlen und Temperament“, wie der Bauhäusler Xanti Schawinsky diese Verbindung von Leben und künstlerischem Ausdruck benannte.30 Farkas Molnar berichtete 1925: „Wer die Bauhausfeste nicht kennt, dem ist auch das Bauhausschaffen fremd. Diese Feste werden spontan unter den unterschiedlichsten Vorwänden gefeiert, z. B.: Es weht ein starker Wind. Daraufhin wird ein unübersehbares großes Transparent im Ort herumgetragen, auf dem ‚Fest der Luftspiele‘ zu 28 Magdalena Droste, Vom Meister zum Professor. Die Symbolik der Titelfrage am Bauhaus, in: Wolfgang Ruppert/ Christian Fuhrmeister (Hg.), Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität. Formen der Künstlerausbildung 1918 bis 1968, Weimar 2007, S. 127–136. 29 Gropius 1975 (wie Anm. 1), S. 40; zur Produktion einer gemeinsamen Identität durch Feste vgl. Wolfgang Thöner, Feste und Spiele, in: Dimensionen. Bauhaus Dessau 1925–1932, Ausst.-Kat. Bauhaus Dessau 1993, S. 94–109; Ulrike Bestgen, Unser Spiel – Unser Fest – Unsere Arbeit. Bühne, Fest und Spiel im frühen Bauhaus, in: Ute Ackermann/ Ulrike Bestgen (Hg.): Das Bauhaus kommt aus Weimar, Berlin/München 2009, S. 145–153. 30 Xanti Schawinsky zitiert nach Thöner 1993 (wie Anm. 29), S. 96.

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5 Das Kollegium des Bauhauses Dessau, 1926

lesen ist. Zweihundert Flugkörper von unterschiedlicher Farbe und Form steigen in die Lüfte, von einer dünnen Leine gehalten (...). Die meiste Energie wird an den Kostümabenden entwickelt. Ein wesentlicher Unterschied zu den Kostümfesten in Paris, Berlin oder Moskau (...) ist, dass die Kostüme hier wirklich neuartig sind (...). Goldige Mädchen in roten Würfeln. Eine Schnecke kommt, wird in die Luft gezogen und spritzt Duftstoffe und Lichtstrahlen aus (...). Kandinsky liebt es, als Antenne zu erscheinen. Itten kam als amorphes Ungeheuer, Feininger als zwei rechtwinklige Dreiecke, Moholy-Nagy als von einem Kreuz durchbohrtes Segment, Gropius als Le Corbusier, Muche als ungewaschener Apostel und Klee als Gesang des blauen Baumes.“31 In dieser symbolischen Kultur, der Stabilisierung eines Anregungsraumes kreativer Individuen für ‚freie‘ Phantasie, hatte das Bauhaus seine Stärke. Dennoch legten herausragende Künstler wie Kandinsky bald Wert auf eine angemessene Bezeichnung ihrer Stellung, sodass sich schließlich die Bezeichnung ‚Professor‘ wieder durchsetzte. Dies mag ein Zugeständnis an die Realität aller anderen Kunsthochschulen gewesen sein. Eine Fotografie zeigt die Bauhauslehrer auf dem begehbaren Dach des neuen Bauhausgebäudes in Dessau (Abb. 5). Sie verkörpern mit ihrer Kleidersprache einen damals ausgesprochen modernen Habitus des Bürgers. Der Vergleich mit der Entwicklung der Künstlerausbildung in der Kunststadt München schärft unseren Blick für die Spezifik der kulturellen Formen am Bauhaus vollends. Die institutionelle Spaltung in die Akademie der bildenden Künste und in die Kunstgewerbeschule in München war auch der Erfahrungshintergrund für den ausgebildeten Maler, exponierten Architekten und angewandten Künstler der ‚modernen Bewegung‘ Richard Riemerschmid, der als Direktor der Münchner Kunstgewerbeschule die Debatten im Münchner Künstlerrat des Winters 1918/19 in ein Konzept zu einer Kunsthochschulreform in München bündelte. Sein Modell zielte auf eine Integration beider Ausbildungsformen, der ‚freien‘ und der ‚angewandten‘ 31 Molnar Farkas, Das Leben im Bauhaus, in: Hubertus Gaßner (Hg.): Wechselwirkungen. Ungarische Avantgarde in der Weimarer Republik, Marburg 1996, S. 272–74.

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6 Das Kollegium der Akademie der Bildenden Künste München, 1919

Kunst, in einer neuen, auf dem gleichberechtigten Zusammenspiel der künstlerischen Professionen aufgebauten Akademie.32 In München war jedoch das Eigenbewusstsein des konservativen Akademiekollegiums in der renommierten, aber erstarrten und überalterten Münchner Kunstakademie so sehr dem Selbstbild der ‚autonomen‘ Kunst verpflichtet und von der materiellen Kultur von Gewerbe und Industrie distinktiv abgehoben, dass die Kunstprofessoren die Vorschläge Riemerschmids zur institutionellen Neuordnung wegen der damit entstehenden Nähe zum ‚Kunstgewerbe‘ lediglich als Angriff auf das eigene Prestige erlebten und pauschal ablehnten. Ihr Anspruch der ‚hohen‘ Kunst war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr ‚hoch‘ in den Himmel der Ideale erhoben und von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgespalten worden, sodass sich die Kunstprofessoren allein als kompetent erachteten, um über die Ausgestaltung ihrer Institution befinden zu können und diese vom Leben weiterhin abzugrenzen. Die Akademieprofessoren repräsentieren mit ihrer Kleiderund Körpersprache ihr Selbstbild der Zugehörigkeit zum künstlerischen Akademismus und dem Künstlerhabitus des 19. Jahrhunderts (Abb. 6). Im Unterschied zum Bauhaus hielten sie an der institutionellen Trennung der beiden Habituskonzepte, ihrer Ausbildungsgänge und der damit verbundenen symbolischen Formen fest und setzten diese gegen die Reformer durch. Riemerschmid wurde zur Aufgabe seiner Stellung gezwungen. Gerade an der Moderne und einer offenen, lebensbezogenen symbolischen Kultur interessierte junge Künstler und Künstlerinnen wanderten verstärkt ab. Gunta Stölzl, die zunächst an der Münchner Kunstgewerbeschule Riemerschmids studiert hatte, war bereits 1919 aus München nach Weimar gegangen. Ebenso begründete Lydia Driesch-Foucar, die im Frühjahr 1920 32 Ruppert 1998 (wie Anm. 3), S. 500–510 und S. 567–570.

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von München nach Weimar übersiedelte, dies ausdrücklich mit der attraktiven Wirkung der offenen Gemeinschaftskultur am Bauhaus: „Hier erwartete mich zunächst, was die angekündigte Töpferwerkstatt betraf, eine Enttäuschung: Es war keine da. Nur eine Menge enthusiastischer junger Leute fand sich vor, die – meist in abstrakten Formen – zeichneten, malten, aus Metall- und Holzabfällen oder anderen Dingen Materialstudien zusammenbastelten, daneben heftig diskutierten, Feste feierten oder auch im Keller Lithografie-Steine abschrubbten. Es sollte ja alles von Grund auf neu werden (...). Es war die Gesellschaft, die ich schon lange gesucht und mir gewünscht hatte.33

zusammenfassung In der Spezifik des Künstlerhabitus am Bauhaus sind mehrere Ebenen zu unterscheiden. Einmal ist dies die Historizität des Bauhauses: Die Eingebundenheit in eine politische Zeitkonstellation, die die Entwicklung dieses Reformkonzept des ‚KünstlerGestalters‘ lediglich in eingeschränkten Zeitphasen, mit begrenzten Finanzmitteln, an unterschiedlichen Orten und mit vielen Widersprüchen zuließ. Zweitens ist dies die Attraktivität der großen Utopie einer auf Gleichberechtigung aufgebauten, demokratischen Gesellschaft in den zwanziger Jahren, die für zahlreiche ‚Bauhäusler‘ motivierende, utopische Kraft hatte, die Sinnbezüge auch für die gestalterische Arbeit vorgab. Die ästhetische Kompetenz der ‚KünstlerGestalter‘ sollte von einer neuen Grammatik der Grundformen und -farben ausgehen und in einem bewussten Bezug zum gesellschaftlichen Bedarf der Menschen mit dessen Gebrauchswerten deren Formen experimentell weiter entwickelt werden. Drittens ist es die Überwindung des ‚autonomen‘ Künstlerhabitus als eines hegemonialen Künstlerkonzeptes am Bauhaus. Vermittelt wurden Schlüsselkompetenzen der gestalterischen und künstlerischen Arbeit, gespeist aus dem handwerklichen Erfahrungswissen der Werkstatt, doch so offen und flexibel, um zwischen den unterschiedlichen künstlerischen Medien und der gestalterischen Arbeit wechseln zu können, zwischen Malerei, Fotografie, Textil, Metall, Möbel, Bühne, Werbung oder Architektur. Ein Künstler wie Max Bill trug diesen Habitus fort. Gerade die Spannung zwischen den herausragenden modernistischen MalerKünstlern wie Kandinsky und Klee, den Handwerkern, den Architekten und Objektgestaltern in ihrem jeweiligen Berufshabitus ergab die spezifische Atmosphäre eines kreativen Anregungsraums von Vernetzungen, die die kulturelle und ästhetische Innovation mit der experimentellen Erkundung der kulturellen Moderne ermöglichte. In diesem kreativen Bezugsfeld konnten sich verschiedene Varianten des ‚KünstlerGestalters‘ entwickeln. Im gefestigten und langfristig weiter wirkenden Habitus der ‚Bauhäusler‘ erfüllte sich der Programmanspruch des Bauhausmanifestes, allerdings in spannungsreicher Form. Gemeinsam war den ‚Bauhäuslern‘ eine Arbeitshaltung, 33 Lydia Driesch-Foucar, zitiert nach Keramik und Bauhaus, Ausst.-Kat. Bauhaus-Archiv Berlin 1989, S. 71.

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zugewandt zu den Aufgaben des modernen Lebens der Menschen. In diesem Arbeitshabitus verbanden sich emotional-intuitive und rational-reflexive Schichten der Kultur. Das in den sechziger Jahren im Bauhausmythos entstandene Bild von allein rational-funktionalen Denkweisen stellt eine völlige Verzerrung der Kultur der Bauhäusler und ihres Künstlerhabitus dar. Die Unterschiede der Künstlerindividuen und der künstlerischen Professionen überdauerten jedoch die Gemeinschaftsanstrengung von vierzehn Jahren Künstlerausbildung am Bauhaus.

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barbara lange fäden und stränge Im Verlauf der letzten hundert Jahre hat das Ideal des modernen Künstlers eine Reihe von Revisionen erfahren. Zwar gehen, wie Anja Zimmermann noch vor wenigen Jahren in einem Lexikon zu den Grundlagen der Kunstwissenschaft bemerkte, Vorstellungen von individueller Schöpferkraft, Kreativität und auktorialem Ursprung des Kunstwerks nach wie vor in das ein, was eine Künstlerfigur ausmachen soll.1 Sie decken jedoch schon lange weder das Spektrum der Rollen ab, in denen Künstler in unserer Gesellschaft auftreten, noch vermögen sie den Rahmen ausreichend zu skizzieren, in dem Kunst zu verorten ist. Michael Wetzel hat auf die nachhaltig wirksamen, auf Roland Barthes und Michel Foucault zurückgehenden Diskussionen über die Rolle bzw. den Tod des Autors hingewiesen und ausgeführt, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Erweiterung, wenn nicht gar konzeptionelle Verschiebung erfolgte, bei der der Künstler als Schöpfer durch den Künstler als Organisator ersetzt wurde.2 Dieser stellt durch die Revision des Vorgefundenen Wahrnehmungsprozesse zur Disposition. Angefangen von den Futuristen über die Künstleringenieure wie El Lissitzky und László Moholy-Nagy, in der Nachkriegszeit die Independent Group, bis hin zu der in den 1960er Jahren massiv einsetzenden Befragung des modernen Kunstverständnisses lässt sich eine derartige Verschiebung konstatieren, die schon Walter Benjamin in seinem vieldiskutierten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit (1935–39) bemerkte und als „Ausstellungswert“ charakterisierte.3 Benjamin führte den Ausstellungswert als Opposition zum Kultwert ein und brachte ihn – ein auch für unsere Diskussion entscheidender Aspekt – mit den Veränderungen in der sozialen Struktur der Gesellschaft zusammen, wonach der Masse der Bevölkerung ein Gemälde von Picasso – Benjamin verfasste seinen Aufsatz in den 1930er Jahren – unverständliche, ein Film mit Charlie Chaplin hingegen zugängliche

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Anja Zimmermann, Künstler/Künstlerin, in: Ulrich Pfisterer (Hg.), Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, Stuttgart 2003, S. 188–192, hier S. 188. Michael Wetzel, Autor/Künstler, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 480–544, vor allem S. 481–485. Benjamins Aufsatz hat eine komplexe Editionsgeschichte, die uns hier nicht weiter interessieren muss. Ein Abdruck der letzten von Benjamin autorisierten Fassung von 1939 befindet sich in: Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno/ Gershom Scholem (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Bd. 1. 1, Frankfurt am Main 1974, S. 471–508, wiederabgedruckt in: Walter Benjamin, Medienästhetische Schriften, Frankfurt am Main 2002, S. 351–383, hier v. a. S. 360–362.

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Kunst sei.4 Indem nun die Masse kulturbestimmend werde, verändere sich auch der Charakter von Kunst. Der Kultgehalt, wie ihn die idealistische Ästhetik manifestiert habe – Benjamin verweist in diesem Zusammenhang auf Hegel5 –, sei dadurch ins Beiläufige abgeglitten: „Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewusste, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.“6 Das Operieren mit Bildern, die durch Reproduktion allen zugänglich waren und gegenüber der künstlerischen Schöpfung und deren Einbindung in Marktmechanismen das Zeigen und Aufzeigen als Grundlage der Kunstproduktion haben, machte in der Konsequenz ein neues Anforderungsprofil für die Rolle des Künstlers erforderlich. Oskar Bätschmann hat in seiner Untersuchung über die Mechanismen des modernen Kunstbetriebs für diejenigen, die weiterhin den Kultwert ihres Werkes auszuspielen suchen, mit Blick auf die Funktionen moderner Öffentlichkeit den Begriff des „Ausstellungskünstlers“ geprägt.7 Dieser ist es jedoch nicht, den Benjamin im Auge hat, wenn er von der Emanzipation der Kunst durch die Ausstellung spricht.8 Die Künstlerinnen und Künstler, die mit dem operieren, was Benjamin den „Ausstellungswert“ nannte, reflektieren zwar möglicherweise auch den Kunstmarkt und nutzen das Forum der Ausstellung, allerdings unter einer ganz anderen, wenn man so will, gegenläufigen Perspektive, als sie Bätschmann für die „Ausstellungskünstler“ beschrieben hat. Während die „Ausstellungskünstler“ ihr Werk letztlich als Ware begreifen, um damit ihre Existenz sichern zu können, verweigern die Anderen der Kunst den Warenwert zugunsten der Kommunikation und nutzen damit, bei zum großen Teil gleichen Schauplätzen der Öffentlichkeit, andere Strukturen des Kunstbetriebs. Kultwert, Ausstellungswert, Ausstellungskünstler, Warenwert, Ausstellung etc. – mir ist es wichtig, zu Beginn die ähnlich klingenden Begriffe in ihren Differenzen zu klären, die als einzelne Fäden und Stränge ein Knäuel von Identität oder möglicherweise doch Identitäten formen. Durch die Dimension der Zeit und die Historisierung von Kunst laufen sie zudem Gefahr, miteinander wie Wollfäden zu verfilzen und zu Einem zu machen, was ursprünglich von unterschiedlichem Charakter war. Was einmal Ausstellungswert hatte, wie etwa Werke von Agit-Prop Künstlern aus den 1920er Jahren, ist im Laufe der Zeit in einen Kultwert überführt worden. Eine Künstlerin, die sich zunächst durch die Wahl ephemerer Werkformen dem Warencharakter verweigerte, mag später mit genau diesen Werken zur Ausstellungskünstlerin geworden

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Ebd., S. 373. Ebd., S. 360, dort Anm. 10. Ebd., S. 361. Oskar Bätschmann, Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997. Benjamin 2002 (wie Anm. 3), S. 361.

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sein, wie dies an den Geschichten von Performance-Künstlern, die die Relikte oder Dokumentationen ihrer Werke verkaufen, zu verfolgen ist. Kultwert und Ausstellungswert allein liefern somit keine ausreichenden Kriterien, um die Frage nach dem Profil der künstlerischen Existenz abschließend klären zu können. Zwar lässt sich durch diese Differenzierung beschreiben, dass neben die Vorstellung von einer schöpfungsbasierten Formgebung, die Zimmermann als eine Implikation der Künstlerfigur auflistet,9 ein weiteres, anderes Konzept getreten ist, das sich Bildphänomene der Massengesellschaft zueigen macht. Das Arbeiten mit Reproduktionen und Auflagenobjekten sowie die Verweigerung des Warencharakters müssen jedoch mitnichten die konventionellen Charakteristika der modernen Künstlerfigur, Kreativität und auktorialen Ursprung, verneinen. So entspricht es etwa gerade dem Konzept der Avantgarde, dass die Anregung der Kunstrezipienten zu einer Auseinandersetzung mit Wahrnehmungsstrukturen vom Impuls des Künstlers ausgeht.10 Diese Vorstellung wird auch dort beibehalten, wo die Mitwirkung des Publikums am künstlerischen Prozess für das Kunstwerk konstitutiv ist. Die für das 20. Jahrhundert konstatierte Verschiebung von der poiesis hin zur aisthesis, von der Schöpfung hin zur Wahrnehmung, beinhaltet zwar die prinzipielle Öffnung von Kunst zu allen anderen Feldern der Gesellschaft, die zitiert, paraphrasiert oder als Aktionsräume beansprucht werden, genauso, wie die Konzentration auf Wahrnehmung auch die aktive Kreativität der Rezipierenden mitdenken bzw. einfordern kann. Diese Autorisierung des Publikums bleibt jedoch auf den auktorialen Ursprung bezogen – und zwar egal, ob wie bei Joseph Beuys der künstlerische Impuls die Kreativität des Publikums freisetzen und in gesellschaftlich sinnvolles Handeln überführen soll oder wie bei Fiona Tan, die einige ihrer Filme und Videos in weiten Strecken aus found footage montiert, so dass die Wahrnehmungserfahrung ihres Publikums durch die Kontexte dieser Bilder eigene Wege gehen wird.11 Im Falle von Beuys dient die Delegation an das Publikum letztlich dazu, den Status des Künstlers als den eines besonders befähigten Menschen zu manifestieren, und bestätigt so das idealistische Konzept eines mit sich selbst identischen schöpferischen Subjekts, das zu Recht den Anspruch auf Originalität erheben kann.12 Diese Rückversicherung hat eine Künstlerin wie Tan aufgegeben, indem sie sich durch die Nutzung verfügbarer Bilder einer bildschöpferischen Autorschaft verweigert. Sie präsentiert sich vielmehr als Teil einer Gemeinschaft von Nutzern und Nutzerinnen eines allgemein zugänglichen Bildarchivs, die Bilder sammeln, bearbeiten und anderen zur Verfügung stellen.13 Doch auch wenn sich hier die Kom9 Vgl. Zimmermann 2003 (wie Anm. 1) 10 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974. 11 Vgl. hierzu etwa Martin Hochleitner, Wir tragen alle Bilder in uns. Zum Begriff der Ikonografie in den Bildern Fiona Tans, in: Kunst und Kirche 1/2008, S. 32–35 oder Brian Dillon, Different Voices. Memory, Exile and Cultural Heritage in the Films of Fiona Tan, in: Frieze 132/2010, S. 126–131. 12 Vgl. Barbara Lange, Joseph Beuys – Richtkräfte einer neuen Gesellschaft. Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer, Berlin 1999. 13 Nicolas Bourriaud, Postproduction. La culture comme scénario. Comment l’art reprogramme le monde contemporain, Dijon 2003.

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munikation über die Bilder vor die formschaffende Leistung der Künstlerin schiebt, bleibt diese Form gleichwohl ihr Werk, das bei Tan und vergleichbaren Anderen sogar eine konventionelle, materialisierte Form erhält, ausstellbar und verkaufbar wird.14 Autorschaft, so lässt sich in Bezug auf die Fäden und Stränge konstatieren, die es hier zu verfolgen gilt, verschwindet keineswegs, wenn das Kreieren von Bildern zugunsten ihres Ausstellungswertes zurück genommen wird. Das Material und die Arbeitsweisen – hier zeitgemäß copy, paste, create and share – sind nur andere. Vielmehr kommt es offenbar darauf an, auf welche Art und Weise die Akteure ihre Handlungsräume nutzen und etablierte Narrative zum Künstlersubjekt, die nicht zuletzt durch die verschiedenen Facetten der Kunstgeschichtsschreibung zur Moderne tradiert werden, bespielen oder unterlaufen. Sie können und müssen Fäden und Stränge zu einem Muster eigener Identität verknüpfen.

netzwerken Inzwischen können wir auf eine kleine Geschichte der Kunst zurückblicken, in der sich Künstlerinnen und Künstler dem Autonomiekonzept verweigern. Mit ganz unterschiedlichen Ansatzpunkten versuch(t)en sie, die Disposition auszureizen, die mit der künstlerischen Freiheit einhergeht, ohne dabei in die politische Belanglosigkeit abzugleiten – sei es letztlich innerhalb der konventionellen Strukturen des Kunstbetriebs, sei es über unterschiedliche Formen von Bürgerinitiativen oder sei es, indem sie die Strukturen des Kunstbetriebs gewissermaßen wie ein Sprungbrett nutzen, um, wenn nicht gezielt sozialpolitische Konfliktsituationen zu provozieren, so diese doch in Kauf zu nehmen. Bei all diesen Ansätzen spielen Kommunikationsformen und -medien eine zentrale Rolle, steht der oben skizzierte Ausstellungswert von Kunst im Vordergrund, geht es um die Entwicklung von Alternativen zur konventionellen Rolle des Künstlers, der immer Gefahr läuft, Ausstellungskünstler zu werden. Bereits der oben zitierte Walter Benjamin meldete in den 1920er Jahren seine Zweifel bezüglich der politischen Potenzen von Künstlern an. Einzig den Surrealisten gestand er einen sozialpolitischen Einfluss zu. In deren Arbeitsweise, die die gesellschaftlichen Muster der Massenkultur paraphrasierte und so im Kontext von Kunst eine Reflexionsbasis über die kulturellen Strukturen schuf, sah er ein selbstkritisches Potential der Moderne.15 Folgt man dem Denkansatz von Benjamin, so kann für ge14 Vgl. hierzu auch, wenngleich mit anderen Beispielen, Hal Foster, Ein archivalischer Impuls, in: Matthias Michalka (Hg.), The Artist as ..., Nürnberg 2006, S. 49–77. 15 Walter Benjamin, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz (1929), in: Rolf Tiedemann/ Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften 2. 2, Frankfurt am Main 1977, S. 295–310. Vgl. hierzu auch Karlheinz Barck, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: Burkhardt Lindner (Hg.), Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2006, S. 386–399, der nicht nur der Idee politischen Künstlertums, die diese Schrift begründet, nachgeht, sondern auch deren Rezeption in den letzten Jahrzehnten anreißt, die mit deren Wiederabdruck in den Gesammelten Schriften einsetzte.

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sellschaftskritische Künstlerinnen und Künstler eine Alternative zur Vereinnahmung ihrer Position durch ein idealistisches Kunstverständnis nicht allein darin liegen, die Muster der Wahrnehmung zu thematisieren, die die Bedingungen von Machtverhältnissen verschleiern. Vielmehr müssen sie sich darüber hinaus die populären Medien zu Eigen machen – ein Konzept, das in Praxis und Theorie seit den 1920er Jahren immer wieder verfolgt wird. Deren Resultate zeigen aber auch, dass dieses Konzept nicht unbedingt aufgehen muss. Der Kunstmarkt ist mächtig und der ökonomische Druck zur Finanzierung einer künstlerischen Existenz groß. Entsprechend hoch sind in diesem Zusammenhang die Erwartungen in Hinblick auf die Nutzung des Internet, verspricht dieses Medium doch nicht nur die Gestaltung virtueller Räume und damit eine gewisse Konkretisierung von Utopien, sondern durch seine Partizipationsmöglichkeiten – zumindest auf der nördlichen Halbkugel, wo anders als in der südlichen Hemisphäre tatsächlich viele Menschen Zugang zum Internet haben16 – die Ausbildung neuer, idealerweise (kunst)marktunabhängiger Strukturen. Daniel García Andújar ist einer der Künstler, der mit seiner Arbeit Postcapital Archive 1989–2001 diese Möglichkeiten des Internets zu nutzen sucht. Das Werk, das Andújar seit 2006 präsentiert, basiert auf der ständig wachsenden Datenbank des Künstler aus Fotos, Ton- und Videoaufnahmen, die er aus dem Internet kopiert und in einer jeweils neu zusammengesetzten Auswahl im Rahmen von Ausstellungen zeigt. Er produziert also das, was Hal Foster mit „Datenbankkunst“ umschreibt.17 Für Foster stellt sie eine „maschinenmäßige Verarbeitung der menschlichen Interpretation“ dar, der er die „widerspenstig materiell(en), fragmentarisch statt fungibel(en)“ archivalischen Arbeiten von Thomas Hirschhorn, Tacita Dean und Sam Durant als „sehr viel taktiler und persönlicher als irgendein Interface im Netz“ gegenüberstellt.18 Es ist aber gerade diese „maschinenmäßige Verarbeitung“, die Zurücknahme des Persönlichen und taktil Wahrnehmbaren des menschlichen Faktors, jedoch nicht seine Preisgabe, die die Person des organisierenden Künstlers zurücktreten lässt und dabei zugleich Handlungsraum für die Rezipierenden schafft. Zwar bleibt der Künstler auch im Werk von Andújar Impulsgeber. Die Aktionen, die er auslöst, müssen jedoch nicht zu ihm zurücklaufen oder an ihn gebunden bleiben. Anders als die Jahreszahlen im Werktitel vermuten lassen, stellt der Bezug auf Ereignisse der politischen Geschichte – 1989 Fall des Eisernen Vorhangs, 2001 Zerstörung der Twin Towers des World Trade Centers in New York – nur eine mögliche Referenz dieser Arbeit dar. Den eigentlichen Ausgangspunkt des Werkes bildet die Tatsache, dass 1989 am CERN in Genf der Grundstein für das World Wide Web gelegt wurde, durch das Andújars Archiv überhaupt erst realisierbar geworden ist. Nicht mehr die Information selbst, die durch die digitale Datenkommunikation verfügbar geworden ist, sondern die Interpretation der im Netz bereitgestellten Information

16 Zur Verteilung von Zugangsmöglichkeiten ins Internet vgl. Le Monde diplomatique, Atlas der Globalisierung, Berlin 2009, S. 32–33. 17 Foster 2006 (wie Anm. 14), S. 51. 18 Zitate ebd.

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bildet in Postcapital Archive 1989–2001 den wesentlichen Gegenstand von Kommunikation und deren Archivierung.19 Andújar folgt damit einer Lesart, die das Internet grundsätzlich als eine Demokratisierung von Öffentlichkeit versteht. Diese Perspektive geht vor allem auf JeanFrançois Lyotard zurück, der in seiner 1979 erschienenen Untersuchung La condition postmoderne in den Bedingungen der digitalen Medientechnologien die Möglichkeiten gesehen hatte, die sogenannte große, inzwischen an der Heterogenität der Gesellschaften gescheiterte Erzählung durch die vielen kleinen Erzählungen ersetzen zu können.20 Andújar sieht die von ihm ins Auge gefasste Zeitspanne 1989–2001 als maßgeblich für die Konstituierung dieser neuen Bedingung an. Wie schon in Bezug auf den zeitlichen Rahmen operiert der Künstler auch hier mit einer doppeldeutigen Bezeichnung: Die Wahl des Begriffs „postcapital“ meint nicht nur mit Blick auf den Wegfall der Antagonismen Kapitalismus und Kommunismus den Beginn einer neuen politischen Ordnung. Er funktionalisiert zugleich die englischsprachige Bedeutung von „capital“ als Hauptstadt, Kapitale, zur Beschreibung einer postkapitalen Struktur, die durch die digitale Nachrichtenvermittlung entstanden sein soll. Im postkapitalen Zeitalter des Internet laufen danach die Stränge der Macht nicht mehr allein in den urbanen Zentren der Politik zusammen. Vielmehr hat sich parallel dazu ein anderes Netz aufgebaut, für das der alte Gegensatz der Moderne von Stadt und Land vergleichsweise unwichtig geworden ist. Der Zugriff auf das in Andújars Arbeit zusammengestellte Archiv ermöglicht es, mit ganz unterschiedlicher Perspektive die Vielfalt der Prozesse deutlich zu machen, wobei, wie in jedem Archiv, die Auswahl durchaus begrenzt ist. Andújar sammelt kontrastiv sowie an den top sellern der Bilderwelten orientiert Dateien zu weltweit operierenden Konzernen wie Dateien zu NGOs, verschiedenartige Berichterstattungen zu politischen Ereignissen, Sexualisierung von Werbung und Sport, Bilder von Gewaltverherrlichung in Videospielen. Andújar präsentiert Postcapital Archive 1989–2001 ausschließlich in Kunstinstitutionen; den Anfang machte 2006 La Virreina in Barcelona. Die Präsentationsformen variieren und werden von ihm gemeinsam mit den jeweiligen Kuratoren der ausstellenden Institution erarbeitet. Der Künstler demonstriert damit in Bezug auf die öffentliche Präsentation seines Werkes eine kollaborative Arbeitsweise, wie sie sich im Zusammenhang mit projektbasierter Kunst etabliert hat.21 Nicht der eigenwillige Außenseiter, dem es recht zu machen gilt, kooperiert hier mit Dienstleistern einer Ausstellungsinstitution. Künstler und Kuratoren bilden vielmehr ein Team von Gleichberechtigten, die im Austausch gemeinsam eine Ausstellung realisieren. Durch einfache Einbauten – z. B. black boxes für Filmaufzeichnungen, Kojen für Lichtbildprojektionen, die thematische wie medienspezifische Inseln schaffen – wird 19 Vgl. Faltblatt zur Ausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart, 22.11.2008– 18.1.2009. 20 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, hg. von Peter Engelmann, Wien 52006. 21 Vgl. Helmut Draxler/ Andrea Fraser, Services – Ein Vorschlag für eine Ausstellung und ein Diskussionsthema, in: Beatrice von Bismarck/ Diethelm Stoller/ Ulf Wuggenig (Hg.), Games, Fights, Collaborations. Das Spiel von Grenze und Überschreitung. Kunst und Cultural Studies in den 90er Jahren, Ostfildern-Ruit 1996, S. 72–73.

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der Ausstellungsraum strukturiert, werden dabei aber auch geläufige Narrative von Ausstellungsinstallationen paraphrasiert, die sich inzwischen für die Präsentation gesellschaftskritischer Partizipationskunst etabliert haben: Es gibt eine Leseecke, es gibt Computerterminals. Das Herzstück der Ausstellung ist immer der Server, die Maschine, auf dem der Datenbestand des Archivs gelagert ist. Die Computerterminals sind mit diesem vernetzt und erlauben den Ausstellungsbesuchern so einen direkten Zugriff. Auch hier werden erzählerische Elemente eingebaut. In der Präsentation der Arbeit im Württembergischen Kunstverein Stuttgart 2008/09 befand sich der Server in einem Gestell, das an die Zeichnung von Gustav Klucis Lautsprecherbühne Nr. 5 (1922) aus der sowjetischen Agit-Prop Kultur der 1920er erinnerte, die vor allem auch durch spätere Nachbauten im Rahmen von Ausstellungen bekannt wurde. In Verbindung mit der Ausstellung des Archivs bietet Andújar Workshops an, auf denen er die Teilnehmer in der Nutzung des Internets als einem alternativen Medienforum unterrichtet. Die ausstellende Institution veranstaltet darüber hinaus ggf. noch weitere Diskussionsveranstaltungen als thematische Ergänzungen.22 In der kunsthistorischen Analyse hat man damit begonnen, Werke wie Postcapital Archive 1989–2001 mit politischen Theorien von Paolo Virno, Antonio Negri und Michael Hardt sowie den soziologischen Konzepten von Maurizio Lazzarato und Manuel Castellis in Zusammenhang zu bringen, die eine Veränderung in den Produktions- und Konsumtionsstrukturen der Industrieländer konstatieren und die den alten, hierarchisch strukturierten Machtverhältnissen von Bestimmenden und Bestimmten das Konzept des flexiblen Netzes der sogenannten Informationsgesellschaft entgegenstellen.23 Philipp Ekardt hat auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, für den Kunstbetrieb hier tatsächlich konkrete Bezüge aufmachen zu können, ohne dabei Gefahr zu laufen, verkürzend zu argumentieren.24 Vor allem kann eine derartige Verknüpfung dazu führen, das Feld der Kunst nicht als eigenständigen Mitspieler im Aushandeln von Wissen und Handlungsmaximen zu respektieren, sondern es Gedanken unterzuordnen, die für andere Zusammenhänge formuliert wurden. So lässt sich zwar konstatieren, dass ein Werk wie Postcapital Archive 1989–2001 mit seinen Bestandteilen Beratung und Lehre genau die Arbeitsformen des sekundären Dienstleistungsbereiches fokussiert, die auf den Umgang mit Information, dem tertiären Sektor, angewiesen sind, und damit Ähnlichkeiten zu den Strukturen aufweist, die die oben aufgeführten Theoretiker als maßgebliches Kennzeichen für die neuen 22 So fand etwa im Rahmen der Ausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart 2008/09 das Symposium Zensur in der Kunst statt. 23 Vgl. Philipp Ekardt, „Don’t do it yourself, do it with everybody else“. Künstlerische Mythologien der Netzwerkarbeit. Modelle parasitärer Produktion, in: Jan Broch/ Markus Rassiller/ Daniel Scholl (Hg.), Netzwerke der Moderne. Erkundungen und Strategien, Würzburg 2007, S. 161–190, hier S. 161–164. Die folgenden Ausführungen basieren auf Ekardts konziser Skizze der Theorien zu den sogenannten postfordistischen Arbeitsverhältnissen. 24 Ebd., S. 163–164. Es wäre willkürlich, hier einen Überblick über diejenigen Versuche geben zu wollen, die eine Verbindung zwischen den Theorien des Postfordismus und partizipativ konzipierten Kunstwerken knüpfen. Generell lässt sich sagen, dass es inzwischen kaum noch ein Großereignis im Gegenwartskunstbetrieb gibt, bei dem dieses Verhältnis nicht thematisiert wird.

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Arbeitsverhältnisse nennen. Zwar entstehen auch in Postcapital Archive 1989–2001 immaterielle Formen, indem als wesentlicher Bestandteil des Werkes Bildwissen und der Umgang mit Bildwissen verhandelt werden. Die Kollaboration, mit der wir es in dem Kunstwerk zu tun haben, zielt jedoch, anders als in den neuen Wirtschaftsstrukturen, keineswegs darauf ab, die kreativen Ressourcen der Rezipierenden auszunutzen. Vielmehr wird durch das immaterielle Produkt, das aus der Nutzung des Archivs in der Ausstellung hervorgeht, eine gewisse Souveränität im Umgang mit genau der Information geschaffen, die an sich dazu beiträgt, diese Ökonomie zu stabilisieren. Andújar in Kooperation mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Institution des Kunstbetriebs liefert so die Grundlage für einen „counter-space“ (Lefèvbre), der durch das Internet zudem die engen Grenzen des Ortes mit seinen kunstspezifischen Konnotationen verlassen kann. Das Kunstpublikum kann zu einem souveränen Mitproduzenten werden, der seine eigenen Fäden knüpft. In dieser Konstellation profitiert der eine vom anderen, der Künstler, der wie Joseph Beuys sein Publikum nutzt, um durch dieses seinen sozialen Stellenwert zu gewinnen, und das Publikum, das vom Künstler ermächtigt wird, nicht nur im Netz der Informationen navigieren, sondern unter Nutzung diese Netzes seine eigenen und eigenständigen Kommentare verfassen zu können, die nicht mehr, wie dies bei Joseph Beuys der Fall war, einer Rückbindung an den Künstler bedürfen. Der Server, nicht der Künstler, ist hosting. Damit gilt es aber auch, die Rolle des Künstlers zu überdenken.

verstrickungen In einem Werk wie Postcapital Archive 1989–2001 geht die aisthetische Dimension, die oben als Kennzeichen für die Rolle des Künstlers als der eines Organisators angeführt wurde, tatsächlich im Ausstellungswert auf. Andújar ist kein sogenannter Ausstellungskünstler, und es ist schwer vorstellbar, dass er einmal einer werden wird. Sein Konzept bemüht vielmehr konsequent die Annahme, dass die flexible Netzstruktur des Internet Möglichkeiten einer persönlichen Souveränität anbietet und solchermaßen das Publikum ermächtigt, nicht mehr nur durch, sondern auch neben dem Künstler kreativ sein zu können. Ein Kultwert bleibt seiner Arbeit durch die Netzwerkstruktur, die er in ihrem Grundmuster selbst schafft, versagt. Allerdings wird wohl heute – anders als zu den Anfangszeiten des Internet, als die oben erwähnte Netzeuphorie noch ein Thema war – niemand mehr ernsthaft annehmen, dass durch ein Werk wie Postcapital Archive 1989–2001 tatsächlich eine Subversion von politischen Verhältnisse stattfinden kann. In ihrer Untersuchung über den Netzwerkgedanken im Kunstbetrieb geben Julia Gelshorn und Tristan Weddigen luzide Einblicke in die rhetorische Funktion dieses Denkbildes, das bereits auf die Anfänge moderner Wissensformation im 18. Jahrhundert zurückdatiert.25 Keines25 Vgl. Julia Gelshorn/ Tristan Weddigen, Das Netzwerk. Zu einem Denkbild in Kunst und Wissenschaft, in: Hubert Locher/ Peter J. Schneemann (Hg.), Grammatik der Kunstgeschichte. Sprachproblem und Regelwerk im „Bild-Diskurs“. Oskar Bätschmann zum 65. Geburtstag,

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wegs bedeutet das Netz mehr Transparenz der Informationen, bezieht es eine größere Vielfalt an Meinungen ein, noch entsteht durch das Internet ein Mehr an Wissen.26 Wie alle Informationssysteme unterliegt auch das Internet einer Ordnung. So hat auch das Archiv von Andújar eine Struktur, die auf der Grundlage der technologischen Voraussetzungen alles in programmierte bits und bytes zerlegt und gespeichert hat, bevor es den Nutzern zur Verfügung gestellt werden kann. Die Codierung wie die Strukturierung der Datenbank bleiben ihnen dabei ebenso opak wie das Netzwerk, dessen sie sich mittels der Computerterminals, des Internet und des Servers bei Postcapital Archive 1989–2001 bedienen und die nur scheinbar Eingriffe erlauben. Für die Frage nach dem Charakter von Autorschaft sind dies wichtige Faktoren. Andújar mag den Server, die Maschine, verbal zum Herz des Archivs proklamieren.27 Tatsächlich aber ist er der Administrator des Ganzen, ohne den dieses Herz nicht schlagen würde! Wie zentral seine auktoriale Position sowie die Machtstrukturen innerhalb des mehrteiligen Netzwerkes sind, macht der Seitenblick auf einen Künstler deutlich, der auf andere Weise mit digitaler Netzkunst arbeitet. Ai Weiwei, der nach längerem Aufenthalt in New York heute wieder in Peking lebt, wo er sich neben seiner künstlerischen Arbeit auch für die Umsetzung der Menschenrechte engagiert, unterhält ein Blog, in dem er über seine künstlerischen wie vor allem politischen Aktivitäten im In- und Ausland informiert und zu Kommentaren einlädt. In Europa wie anderen Kulturregionen mit lateinischen Schriftzeichen ist dieses Angebot in der Regel jedoch nicht zu nutzen: Aufgrund der standardmäßig geladenen Computerprogramme stellen sich beim Aufrufen des Blogs hier nur Kästchen dar, aber auch die chinesischen Schriftzeichen dürften die meisten nicht lesen können. Gelegentlich wird die Website, über die der Künstler sein Blog betreibt und verwaltet, von der chinesischen Regierung abgestellt.28 Bei aller Freiheit der Meinungsäußerung, die die Internetkommunikation bei entsprechendem Zugang zu ihrer Technologie bieten mag, Ai Weiweis Internetaktivitäten machen deutlich, dass die Macht über die Kommunikation tatsächlich bei denjenigen angesiedelt ist, die die Straßen für den Internetverkehr betreiben. Die drastischen Konsequenzen dieser Macht zeigen sich auch, als Ai Weiwei Anfang April 2011 mit dem Vorwurf, gegen Wirtschaftsgesetze des Landes verstoßen zu haben, verhaftet wird. Die Tatsache, dass Andújar bislang gleiches mit seinem Werk nicht erlebt hat, wird durch das System demokratischer Kommunikationsstrukturen in der Gesellschaft garantiert, in der er arbeitet. Es ist nicht per se durch diese Technologie gegeben, im Gegenteil.

Zürich 2008, S. 54–77. Zum Denkmodell des Netzwerkes vgl. auch: Hartmut Böhme, Einführung. Netzwerke. Zur Theorie und Geschichte einer Konstruktion, in: Jürgen Barkhoff/ Hartmut Böhme/ Jeanne Riou (Hg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln u. a. 2004, S. 17–36. 26 Vgl. Gelshorn/ Weddigen 2008 (wie Anm. 25), S. 55. 27 Vgl. Faltblatt Stuttgart 2008 (wie Anm. 19). 28 Vgl. Der gute Mensch von Sichuan – Ai Weiwei in Chengdu. Eine Dokumentation, in: Süddeutsche Zeitung vom 10./11.10.2009, S. 15, sowie das Interview von Holger Liebs mit Ai Weiwei, Mangel an Sauerstoff – Ai Weiwei über Kunst, Politik, die Zensur in China und über seine Twitter-Bilder, ebd., S. 14.

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Sowohl die auktoriale Position des Administrators als auch die Möglichkeiten der freien Meinungsäußerung umreißen den Handlungsraum eines Künstlers wie Andújar als den des modernen Subjektideals, das auch zur politischen Positionsnahme aufgerufen ist. Im Zusammenhang mit der sozialen Netzwerkarbeit von Rirkrit Tiravanija ist wiederholt auf die Tatsache verwiesen worden, dass er zwar seinem Publikum Aktionsraum überlasse, dieser jedoch überhaupt nur zustande kommen und bestehen kann, da er mit dem Namen des Künstlers in Verbindung stehe.29 Vor allem wird dies an seinen Arbeiten Untitled, 1992 (free) Untitled, 1995 (still), beide jeweils in dem im Titel genannten Jahr in der New Yorker 303 Gallery gezeigt, sowie Untitled, (tomorrow is another fine day), 1996 im Kölnischen Kunstverein präsentiert, diskutiert. Bei den New Yorker Inszenierungen funktionierte der Künstler die Galerieräume zur Küche um, in der er im ersten Fall selbst für das Publikum Thaigerichte kochte, im zweiten Fall diese Tätigkeit an einen anderen Künstler mit thailändischer Herkunft delegiert hatte. Die Speisen wurden unmittelbar in der Galerie verzehrt, die Überreste der Aktionen als Installationen in den Büroräumen von 303 Gallery eingerichtet. In der Kölner Inszenierung ließ er sein New Yorker Appartement in Leichtholzbauweise nachbauen und bot dieses den Ausstellungsbesuchern zur Nutzung an. Die Dispositionen, die für diese Arbeiten von Tiravanija herausgearbeitet wurden, lassen sich auch auf die Arbeit mit dem Archiv als Datenbank übertragen. Wie bei den Beispielen aus der sozialen Netzwerkarbeit wird auch hier die Autorschaft eines Einzelnen nicht aufgegeben – aufgrund der technologischen Voraussetzungen mit der Notwendigkeit von Administratorenrechten vielleicht sogar noch weniger als bei Kunstwerken, wie denen von Tiravanija. Nicht nur wird alles demjenigen zugeschrieben, unter dessen Eigennamen als Künstler die Kommunikation und das immaterielle Werk öffentlich firmiert. Diese Person ist und bleibt auch der Macher des Werkes. „Von einem gegenseitigen featuren von allen durch alle kann jedenfalls keine Rede sein,“30 bemerkt Philipp Ekardt in Bezug auf Tiravanija. Dieser Satz lässt sich voll und ganz auf Postcapital Archive 1989–2001 übertragen. Bei der Arbeit von Andújar begegnet uns ein Künstlersubjekt, wie es Ulrich Bröckling in Anlehnung an Michel Foucault als typisch für Subjektverhältnisse seit dem späten 20. Jahrhundert beschreibt. Subjekt sein bedeutet ideologisch nicht mehr die Beschreibung eines konstanten, stabilen Zustandes, sondern vielmehr den eines ständigen Handlungsvollzugs mit unterschiedlichen Bewegungsrichtungen und Dynamiken: „Ein Subjekt zu werden ist ein paradoxer Vorgang, bei dem aktive und passive Momente, Fremd- und Eigensteuerung unauflösbar ineinander verwoben sind. (...) Der Mensch wird zum Subjekt, weil er sich zu dem erst machen muss, was er schon ist, weil er das Leben führen muss, welches er lebt. Dieses Subjekt zeichnet sich 29 Vgl. etwa Claire Bishop, Antagonism and Relational Aesthetics, in: October 110/2004, S. 51–79 oder Ekardt 2006 (wie Anm. 23), S. 169–174. Zur Arbeitsweise von Tiravanija und deren Kontext vgl. Nina Möntmann, Kunst als sozialer Raum. Andrea Fraser/ Martha Rosler/ Rirkrit Tiravanija/ Renée Green, Köln 2002, und Antje Krause-Wahl, Konstruktion von Identität. Renée Green, Tracey Emin, Rirkrit Tiravanija, München 2006. 30 Ekardt 2006 (wie Anm. 23), S. 174.

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dadurch aus, dass es sich erkennt, sich formt und als eigenständiges Ich agiert; es bezieht seine Handlungsfähigkeit aber von ebenjenen Instanzen, gegen die es seine Autonomie behauptet. Seine Hervorbringung und seine Unterwerfung fallen zusammen.“31 Andújar verkörpert in und mit seiner auf politische Eigenverantwortung hin ausgerichteten Arbeit ein derartiges Subjekt, das ganz im Sinne etablierter Künstlerschaft den Anderen die kreativen Seiten des Ich als einen Spiegel vorhalten kann. Allerdings zeigt sich in seiner Künstlerrolle gegenüber früheren modernen Künstleridealen eine maßgebliche Verschiebung, die der Entwicklung unserer Vorstellung von Kreativität in den letzten Jahrzehnten Rechnung trägt. War die konventionelle Vorstellung vom modernen Künstler mit dem romantischen Konzept vom Genie verbunden, das mit seiner Schöpferkraft gestaltet und gestaltend eingreifen kann, so folgt die Rolle, wie Andújar sie verkörpert, einem Konzept, das im Rahmen der US-amerikanischen Kreativitätsforschung nach dem Zweiten Weltkrieg zur Optimierung individueller Fähigkeiten konturiert worden ist.32 Damit konnte das Alltägliche, wie im Fall unseres Beispiels das Kopieren, Sammeln und Ordnen von Daten, den Charakter einer kreativen Tätigkeit erhalten, war überhaupt erst die Voraussetzung geschaffen, ein Kunstwerk gänzlich aus den rituellen Zusammenhängen von Kunst und Mythos zu lösen. Weder bei den Agit-Prop Künstlern der 1920er Jahre, den Künstleringenieuren wie El Lissitzky oder László Moholy-Nagy, noch den Surrealisten, die Walter Benjamin im Auge hatte, war das bereits der Fall gewesen. Indem Andújar sich mit seiner Arbeit dem Kultwert verweigert, kann er die Hülle des Außergewöhnlichen ablegen und so als Vorbild der Ich-Identität erscheinen – ein Ideal muss er dabei nicht mehr sein. In seinem Werk zeigt er vielmehr das oben zitierte Miteinander der aktiven und passiven Momente von Identitätskonturierung, die auf Jede und Jeden zutreffen, und beschreibt den Rahmen der Bewegungsmöglichkeiten, dem er als Kreator dieses Rahmens selbst auch unterworfen ist. Die Rolle, die er dabei einnimmt, ist wie auch die Technologie, die er dafür nutzt, zeitgemäß. Der subversive Charakter seiner Arbeit ist als eine rhetorische Geste zu verstehen, die nur auf symbolischer Ebene Bestand hat. Damit muss aber auch die Zielsetzung anders als in den utopischen Entwürfen der Avantgarden, muss die Sprecherrolle des Künstlers anders definiert werden. In Anlehnung an Bourriauds Formulierung einer relationalen Ästhetik ist bei dieser das sich vernetzende Handeln, nicht aber eine Idee oder ein materielles künstlerisches Produkt, formgebend.33 Die ästhetische Form geht hier, unter Verlust des Kultwertes, in der sozialen auf. Indem die Subversion, die als Geste und möglicherweise auch als ein Versprechen das Kunstwerk mitbestimmt, tatsächlich nur beschrieben wird, realisiert sich die Handlungsfähigkeit der partizipierenden Subjekte bei Postcapital Archive 1989–2001 auch nur auf der symbolischen Ebene. Denn Andújar wie auch andere, die mit dem Gedanken des Netzwerkes 31 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, S. 19. 32 Vgl. Ulrich Bröckling, Kreativität, in: Ulrich Bröckling/ Susanne Krasmann/ Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt am Main 2004, S. 139–144, hier S. 141. 33 Vgl. Nicolas Bourriaud, Esthétique relationelle, Dijon 1998.

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künstlerisch arbeiten, bedürfen des Kunstbetriebs, um diese Idee als Kunstform überhaupt konstituieren zu können, in der sie selbst dann als Netzknüpfer agieren und möglicherweise agitieren. Problematisch ist daran, dass sie die Bedingungen des Systems, in dem sie arbeiten, dabei nicht befragen und zur Disposition stellen.34 Es gibt keine kritische Distanz zu den Orten, die als etablierte Institutionen ein Kunstwerk wie Postcapital Archive 1989–2001 durch hosting the host erst möglich machen. Nicht zwangsläufig, aber wahrscheinlich werden auf diese Weise die sozialen Ausschlussmechanismen, die mit dem bürgerlichen Kunstbetrieb einhergehen, perpetuiert: „Durch den ikonoklastischen Verzicht auf Repräsentation zu Gunsten der Präsentation mangelt es an reflexiver Distanz gegenüber den gesellschaftlichen Netzwerken, die das Kunstsystem ausmachen. Es werden so eher neue Denkkollektive, die vom System parasitär profitieren, als selbstkritische Instrumente für dessen Analyse entwickelt.“35 Das Aufgeben einer kunsteigenen Sprache, die mit dem Kultwert eines Werkes verbunden ist, scheint nicht per se der Weg zu neuen Künstlerrollen und Kunstkonzepten zu sein. Letztlich dokumentiert eine Arbeit wie Postcapital Archive 1989–2001 nicht mehr, als dass das Internet mit seinen Möglichkeiten auch im Kunstbetrieb angekommen ist. Das Netz kann dabei zur Tarnung der tatsächlichen Machtverhältnisse im Kulturbereich dienen, auch wenn der Künstler inzwischen ein Kreativer geworden ist.

34 Vgl. Gelshorn/ Weddigen 2008 (wie Anm. 25), S. 72. 35 Ebd.

der künstler als unternehmer und die folgen

rachel mader Jüngst wurde der Aspekt des Unternehmerischen im Bereich der Kunst nicht nur zu einem ausgesprochen rege diskutierten Thema, sondern ebenfalls zu einem der umstrittensten. Dies, weil das Unternehmerische dabei nahezu ausschließlich auf das Element der Vermarktung reduziert wurde und der boomende Kunstmarkt und alle damit verbundenen Effekte zum Schreckgespenst eines wahren Kunstwollens erklärt wurden. Wenn ich nun im Folgenden auf den Begriff des Unternehmertums rekurriere, dann nicht um diesen Aspekt auszublenden, aber doch in der Absicht ihn ordentlich zu relativieren und dabei diejenigen Elemente unternehmerischen Handelns in den Vordergrund zu rücken, die mir für eine Besprechung des gegenwärtigen Status des Künstlers weitaus spannender und weiterführender erscheinen. Nicht nur hat die Ökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche auch das Feld der Kreativität erfasst, in ähnlich umfassender Manier haben sich Elemente des kreativen Schaffens so in die Sphäre des Ökonomischen eingewoben, dass Kritiker dieser Entwicklung wie etwa Gerald Raunig und Ulf Wuggenig in ihrer 2007 erschienen Publikation Kritik der Kreativität vom „totalen kreativen Imperativ“ zu sprechen sich genötigt sahen.1 Folgt man dieser Annahme, dann ist die einstige Schlüsselkompetenz der „Institution Kunst“2 – eine Bezeichnung, mit der Marcuse noch auf der relativen Autonomie des künstlerischen Feldes insistieren konnte – das kreative Handeln nämlich zum gesellschaftlichen Allgemeingut geworden. Welche Konsequenzen diese grundlegenden gesellschaftlichen Restrukturierungen für das künstlerische Handeln, das Selbstverständnis der Künstler sowie für die Position der Kunst in der Gesellschaft haben, soll im Folgenden entlang eines ausgewählten Fokus diskutiert werden. Mein spezifisches Interesse gilt dabei den aktuellen Produktionsformen von Kunst. Betrachtet werden diese nicht isoliert als Ereignisketten künstlerischer Einzelentscheidungen, sondern im Bezug auf ihre institutionelle Anbindung. Ausgangspunkt der Überlegungen bildet deshalb ein Konvolut von in den letzten beiden Jahrzehnten insbesondere in Großbritannien entstandenen Institutionen, die sich ausschließlich der Produktion und Vermittlung von Gegenwartskunst widmen. Die Form der Zusammenarbeit zwischen Kunstschaffenden und Institution, die Exklusivität der realisierten Werke sowie die offensive Ansprache neuer Publikumssegmente setzten international neue Maßstäbe und stehen modellhaft für ein künstlerisches Schaffen in der New Cultural Economy. Mit diesem Interesse folge ich Martin Warnkes Grundannahme, die er in seiner Analyse der Künstler an der Institution Hof als 1 2

Gerald Raunig/ Ulf Wuggenig (Hg.), Kritik der Kreativität, Wien 2007, S. 9. Mit Bezug auf Herbert Marcuses Schrift Über den affirmativen Charakter der Kultur beschreibt Peter Bürger in seinem Band Theorie der Avantgarde die Positionierung der Kunst im gesellschaftlichen Ganzen; vgl. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974, S. 15.

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„Bedingtheitsforschung, die sich auch der Geschichte gesellschaftlicher Institutionen bedient“ benannt hat. Anders als in traditionellen Auftragsgeberverhältnissen „stellen Institutionen Vermittlungsinstanzen dar, in denen sich vielfältige Bedürfnisse, Normen und Handlungsstrategien organisieren; die Institution selbst ist schon ein Ausgleichserzeugnis unterschiedlich interessierter Subjekte.“3 Anhand der Aktivitäten der im Zentrum stehenden Institutionen können deshalb nicht nur Aussagen über den veränderten Produktionsbegriff und das gewandelte künstlerische Selbstverständnis gemacht, sondern auch die jeweils gültige Rolle der Kunst in der Gesellschaft betrachtet werden.

commissions, projekte und kooperationen: freie kunst im auftrag Spätestens in den 1970er Jahren hat sich in weiten Kreisen des Kunstbetriebes die Einsicht durchgesetzt, dass ein guter Teil der damals aktuellen Kunst sich im bestehenden musealen Rahmen nicht adäquat entfalten könne.4 Die zeitgleich einsetzende und in den letzten Jahren zusätzlich intensivierte Ausdifferenzierung der institutionellen Landschaft im Kunstsystem ist mit ihrem aktuellen vielgestaltigen Antlitz Ergebnis von Initiativen unterschiedlichster ideologischer Ausrichtung: nebst künstlerischer Selbstorganisation haben staatliche Deregulierung, der Hype des Kreativen als relevanter Faktor erfolgreichen Unternehmertums oder auch eine weit ausgreifende Popularisierung künstlerischer Avantgarde-Praktiken zur Auffächerung des Angebotes beigetragen. Ein kurzer und auf wenigen ausgewählten Beispielen basierender Einblick in das aktuelle institutionelle Setting mit Fokus London soll nicht nur die Komplexität der Konstellationen andeuten – denn ganz im Gegensatz zu zahlreichen Stimmen bin ich nicht der Meinung, dass es in den letzten Jahren zu einer Vereinheitlichung gekommen ist5 –, sondern zudem einige der darin zentral verhandelten kunstwissenschaftlich relevanten Debatten aufzeigen und ansprechen. 3 4

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Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers (1985), Köln 1996, S. 12. Flankiert wurden diese Einschätzungen durch kulturtheoretische Reflexionen zur Konditionierung des Ausstellungsraumes, wie sie etwa von Brian O’Doherty in Inside the White Cube (1976 als dreiteilige Essayfolge erstmals in der amerikanischen Zeitschrift Artforum erschienen) angestellt wurden, sowie durch zahlreiche künstlerische Interventionen und Kommentare. Dazu zählen insbesondere institutionskritische und kontextspezifische Positionen. Eine aufschlussreiche Auswahl davon findet sich in Christian Kravagna/Kunsthaus Bregenz (Hg.), Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln 2001. Korrekterweise weist Kravagna in den einleitenden Worten darauf hin, dass die Kritik am Museum allerdings nicht eine Neuerrungenschaft der Neo-Avantgarden ist, sondern sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als zentrales Thema herauszukristallisieren begann. Solche Diagnosen basieren vor allem auf der Beobachtung der zunehmenden Verschmelzung zwischen privaten und öffentlich unterstützten Initiativen im Kunstbetrieb, vermutet wird eine dadurch verstärkte Instrumentalisierung künstlerischer Aktivitäten. So argumentiert etwa Christian Kravagna in: Kravagna/Kunsthaus Bregenz 2001(wie Anm. 4) oder auch Maria Lind in: Maria Lind/ Raimund Minichbauer, European Cultural Policies 2015. A Report with Sce-

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Das in London ansässige Institute of Contemporary Arts (ICA) muss als eine frühe Ausformulierung des Typs neuartiger Institutionen bezeichnet werden, wie sie heute in unterschiedlichsten Modellen gang und gäbe sind und auf die der Fokus in diesem Zusammenhang gerichtet sein soll. Diese zeichnen sich in abwechselnder Kombination durch Kriterien aus wie die dezidierte Zuwendung zu ‚experimenteller Kunst‘, multidisziplinäres und themenorientiertes Vorgehen, eine Öffnung gegenüber diskursiven Elementen wie Workshops, die Ausstellungen begleitenden Tagungen, Lesungen und Diskussionen, projekt- und prozessorientierten Formaten oder auch dem Aufgreifen aktueller gesellschaftlicher und politischer Fragen und alternativen Modellen der Zusammenarbeit zwischen KünstlerInnen und VermittlerInnen. Gemeinsam ist den Institutionen zudem, wenn auch in unterschiedlichem Maß, eine prinzipiell progressive Ausrichtung ihres Handelns, progressiv nicht zwingend im politisch-ideologischen Sinne. Vielmehr ist damit ein Agieren gemeint, das sich von der bestehenden institutionellen Landschaft abzusetzen gedenkt, da es diese als den aktuellen künstlerischen Vorgehen nicht mehr adäquat erachtet. So auch das ICA, das diese Ausrichtung auf seiner Website mit der entsprechenden Terminologie anpreist: „The Institute of Contemporary Arts (ICA) is the UK’s original, not-for-profit, multi-disciplinary arts centre. Established in 1947 by a collective of artists, poets and writers to explore contemporary culture across the broadest platforms, the ICA has been at the forefront of artistic experiment since its formation and has presented some of the most radical exhibitions, artists, films, music and thought to have shaped our world. It continues today as a dedicated space for new, experimental and independent arts practice and ideas.“6 Während unzählige zu Beginn ähnlich gelagerte Künstlerinitiativen weltweit sich mittlerweile zu mitunter einigermaßen konventionellen Kunsträumen entwickelt haben,7 ist es dem ICA gelungen, sich nicht nur international zu etablieren, sondern den einstigen Geist den aktuellen Gegebenheiten anzupassen und sich weiterhin für die Ränder der Kunstproduktion zu interessieren und einzusetzen. Das wiederum scheint u. a. mit einer Kulturpolitik zu tun zu haben, die diese Form der Förderung zeitgenössischer kultureller Praxen unterstützt.8 Das jedenfalls behauptet auch Rob La Frenais, der hauptverantwortliche

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narios on the Future of Public Funding for Contemporary Art in Europe, London/Stockholm/ Vienna 2005. Zitiert nach der Website des ICA: http://www.ica.org.uk/12350/About-us/About-us.html (13.12.2010) In den USA florierte die Szene der sogenannten alternative spaces in den 1970er Jahren insbesondere auch dank der finanziellen Unterstützung der staatlichen Förderagentur, des National Endowment for the Arts. Kritische künstlerische Initiativen der darauffolgenden Jahre beurteilten diese Entwicklung als Etablierung und distanzierten sich davon. So etwa Group Material in einem die Auflösung ihres eigenen Galerieraumes begleitenden Statement im Jahr 1981: „We hated the associaton with ‚alternative spaces‘ because it was clear to us that most prominent alternative spaces are, in appearance, policy and social function, the children of the dominant commercial galleries in New York.“ Flugblatt im Besitz von Julie Ault (Gründungsmitglied Group Material). Seit seiner Gründung in den 1940er Jahren unterstützt das Arts Council England systematisch neu entstehende institutionelle Trägerschaften im Kunstbetrieb. So erhielt etwa das ICA wenige Jahre nach seiner Gründung bereits kleinere Beiträge vom Arts Council. Heute gehört die finanzielle Unterstützung der „regularly funded organisations“ zu einem der Kernge-

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Kurator einer in den Grundzügen ähnlich ausgerichteten englischen Institution.9 Die Rede ist vom Arts Catalyst, einer von zahlreichen seit den 1980er Jahren in England entstandenen Institutionen, die sich in vergleichbarer Manier, wenn auch mit inhaltlich gänzlich anderer Ausrichtung wie das ICA als Spezialisten für ungesichertes Terrain in der zeitgenössischen Kunst verstehen: „The Arts Catalyst commissions contemporary art that experimentally and critically engages with science. We produce provocative, playful, risk-taking artists’ projects to spark dynamic conversations about our changing world.“10 Während der Arts Catalyst inhaltlich auf die Schnittstellen zwischen Kunst, Wissenschaft und Technologie fokussiert ist, haben sich andere Institutionen auf die kulturelle Vielfalt,11 auf Kunst im öffentlichen Raum,12 auf die Produktion von Film und Video13 oder wie eine der bekanntesten dieser Institutionen, der Artangel schlicht auf die Produktion von „exceptional projects by outstanding contemporary artists“ spezialisiert.14 Die große Dichte dieses Institutionstyps in England hat – wie bereits angemerkt – zum einen mit kulturpolitischen Eigenheiten eines Landes zu tun, das der Kunst in der Gesellschaft eine grundsätzlich bedeutsame und erstaunlich potente Position zuschreibt. Das zeigt sich etwa in den legitimatorischen Bestrebungen des Arts Council England, der staatlichen Förderstelle, in denen nicht nur das Recht aller auf großartige Kunst deklariert, sondern diese zugleich zum Motor für ein besseres Leben erklärt wird.15 Es hat aber auch mit Entwicklungen im Kunstbetrieb insgesamt zu tun, wie sie in den letzten fünfzehn Jahren auch in anderen Teilen Europas zu beobachten waren. Orte, wo heute aktuelle Kunst stattfindet, heißen etwa Bureau for Open Culture,16 Post-Academic Institute for Research and Production17 oder wie in Wien: Open Space – Zentrum für Kunstprojekte.18 Das Interesse für die bei den Namensgebungen

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schäfte des Arts Council. Für Angaben über die aktuellen Fördertätigkeiten des Arts Council vgl. http://www.artscouncil.org.uk/ (14.12.2010); zur Geschichte des Arts Council England vgl. Chin-Tao Wu, Privatising Culture. Corporate Art Intervention since the 1980s, London/ New York 2002. Rob La Frenais in einem Gespräch mit mir anlässlich meines Besuches beim Arts Catalyst im Oktober 2008. Zitat nach der Website des The Arts Catalyst: http://www.artscatalyst.org/ (14.12.2010). Auf kulturelle Diversität spezialisiert ist unter anderem das Institute of International Visual Arts (Iniva) http://www.iniva.org/home (14.12.2010). Die Realisierung von Kunst im öffentlichen Raum nimmt in England einen prominenten Status ein. Entsprechend engagieren sich unterschiedlichste öffentliche und private Organisationen in diesem Bereich. Dazu gehören u. a. die Commissions East (http://www.commissionseast. org.uk/), die erst seit wenigen Wochen geschlossene General Public Agency (http://www. generalpublicagency.com/) oder auch Modus Operandi (http://www.modusoperandi-art. com/docs/home.php), (13.12.2010). Hier zu nennen wäre Film and Video Umbrella (http://www.fvu.co.uk/), (13.12.2010). Zitiert nach der Website von Artangel: http://www.artangel.org.uk/about_us (14.12.2010). So finden sich auf der Website des Arts Council England etwa folgende Ausführungen zur Bedeutung der Kunst in der Gesellschaft: „Great art inspires us, brings us together and teaches us about ourselves and the world around us. In short, it makes life better.“; vgl. http:// www.artscouncil.org.uk/about-us/ (14.12.2010). http://www.bureauforopenculture.org/about.html (14.12.2010). http://www.janvaneyck.nl/ (14.12.2010). http://www.openspace-zkp.org/2010/ (14.12.2010).

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bedeutsamen Terminologien rührt in diskurstheoretischer Tradition davon, dass damit nicht nur eine modische Bezeichnungspraxis nachgezeichnet und gefasst werden kann, sondern diese vielmehr die Topologie einer kulturellen Landschaft beschreiben, die offenbar über neue Parameter verfügt. Denn wird Kunst in den erwähnten Beispielen als Ort gefasst, in dem der Künstler einer unter vielen Tätigen ist, das Werk eine unter vielen Möglichkeiten darstellt etwas zu produzieren und das Ausstellen eine von vielen Optionen ist mit einem Publikum in Kontakt zu treten, so bedeutet dieser Umstand auch, dass auch der Künstler seinen Handlungsradius massiv erweitert hat und dabei neue Rollen übernehmen kann, die bis anhin eher anderen Berufsgattungen zugerechnet worden sind. Die Frage der unterschiedlichen, fast beliebig wählbaren Rollen in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist wiederum deshalb bedeutsam, weil sie offenbar zu einem Zeitpunkt passiert, in dem der Kunstbetrieb insgesamt sich neu konzipiert und dabei weit über seine einstigen Tätigkeitsfelder ausgreift und als Folge davon in neue Felder vordringt. Neue Arbeitsverhältnisse und -modalitäten sind weitere Konsequenz dieser Entwicklungen, in denen Begriffe wie Produktion, Projekt oder Forschung ganz selbstverständlich zur Schilderung der jeweiligen Unternehmen verwendet werden. Makrolab, ein Projekt, das vom slowenischen Künstler Marko Peljhan entworfen und vom bereits erwähnte Arts Catalyst produziert und mit Hilfe zahlreicher Organisationen aus Kunst, Kultur und Wissenschaft schließlich umgesetzt wurde, ist eine dieser äußerst komplexen Anlagen, die hier exemplarisch skizziert werden soll. Peljhan, als Makrolab’s Creator bezeichnet,19 legte den thematischen Fokus fest, wählte den Ort, die Architektur, die Struktur der Zusammenarbeit und die jeweilige personelle Besetzung aus. Den inhaltlichen Schwerpunkten des Arts Catalyst folgend sollte das Projekt am Beispiel des schwedischen Hochlandes anhand von Faktoren wie „telecommunications, environment, migration and weather patterns“ nachzeichnen, „how our planet functions on social, technological and natural levels.“20 Zur Erkundung dieser Frage wurden in wechselnden Konstellationen und für die Dauer von jeweils zwei Wochen KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen in ein eigens entworfenes raumschiffähnliches Gebilde eingeladen (Abb. 1), das ihnen während dieser Zeit als Arbeits- und Lebensort zur Verfügung stand. Die vorerst eigenartige Konstellation dieses Settings, zusammengesetzt aus der Isolation in der Natur – das nächste Dorf war nur zu Fuß erreichbar –, einem HighTech-Equipment mit akribischen Aufzeichnungen von Wetter und topographischen Daten und der Notwendigkeit von personeller Interaktion auf unterschiedlichsten Ebenen wird vor Peljhans Interesse nachvollziehbar. Anlässlich der ersten Durchführung von Makrolab an der documenta X im Jahr 1997 beschrieb er die Versuchsanlage als „autonomous communication, research and living unit/space, capable of sustaining concentrated work of four people in isolation/insulation conditions for up to

19 Zitiert nach der Projektbeschreibung auf der Website des Arts Catalyst: http://www.artscatalyst.org/projects/detail/makrolab_scotland/ (14.12.2010). 20 Projektbeschreibung auf der Website (wie Anm. 19).

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Marko Peljhan, Makrolab, Clunes Beat, Atholl Estate, Perthshire, Scotland, 2002

120 days.“21 In dichter Konzentration sollte eine ausgewählte Gruppe von Leuten die Möglichkeit und zugleich Aufgabe erhalten, losgelöst und möglichst unabhängig über spezifische gesellschaftliche Themen nachzudenken und eine eigene Position dazu zu entwickeln. Ob dieses komplexe Projekt bzw. die einzelnen Ergebnisse, die je nachdem künstlerischer oder wissenschaftlicher Art oder dazwischen sein konnten, qualitativ überzeugend sind oder nicht, steht hier nicht zur Debatte. Die Schilderung dieses Projektes scheint mir aber geeignet, um diejenigen Elemente zu illustrieren, die künstlerisches Arbeiten heute nicht selten beinhalten: der Künstler wird zum Mitarbeiter, er hat sein Schaffen in einen übergeordneten Kontext einzufügen und entwirft seine künstlerische Position in kollaborativen Konstellationen zusammen mit Experten aus unterschiedlichsten fachlichen Bereichen. Eingeladen wird der Künstler nicht nur aufgrund seiner bisher vorgeführten Arbeitsweise, sondern ebenso wegen seiner Einbindung in die entsprechenden Netzwerke und seiner Diskursfähigkeit. Der Anspruch, mit der künstlerischen Produktion einen Beitrag zu einem aktuellen und gesellschaftlich relevanten Thema zu leisten, und dies im Bezug

21 Peljhan zitiert von Kodwo Eshun, Makrolab’s twin Imperatives and their Children too, in: The Arts Catalyst/Zavod Projekt Atol (Hg.), Makrolab, Katalog zum Projekt, London 2003.

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auf eine heterogene Öffentlichkeit, ist ein omnipräsenter Subtext, dem er sich ebenfalls gegenüber sieht.22

vom sonderstatus zum kreativarbeiter und zurück Damit scheint die künstlerische Arbeitsweise sich Produktionsformen angeglichen zu haben, wie sie heute nicht nur in der Kreativindustrie gang und gäbe sind, sondern auf dem Arbeitsmarkt insgesamt zur Norm erhoben wurden. Diese Annäherungen waren in den letzten Jahren Gegenstand zahlreicher Publikationen.23 Allerdings galt dabei das Interesse sehr viel mehr der Adaption einst mehrheitlich der künstlerischen Sphäre vorbehaltener Elemente durch Unternehmen jeglicher Ausrichtung, als den Rückwirkungen, die diese Ausbreitung einst der kreativen Sphäre vorbehaltenen Arbeitsformen auf die Kunstschaffenden und ihr Schaffen hat. Grundlage dieser Diskussionen bildet die Beobachtung, dass Kreativität in den aktuellen westlichen Gesellschaften eine nie da gewesene Prominenz hat. Die Ausstellung Be Creative!, die 2002/03 im Zürcher Museum für Gestaltung stattfand, fasste diesen Umstand in ihrem pointierten Titel und zerlegte die Diskussion vor dem Hintergrund des sogenannten „kognitiven Kapitalismus“ in einzelne Themenblöcke wie Wissensgesellschaft, New Economy, Start-Ups, Lifelong Learning, Kreativarbeiter oder auch Fragen zur Bildung. These dabei war, dass die „aktuelle Kreativitätssemantik (…) sich (…) nicht mehr an ein emphatisches Konzept des Ausnahmeindividuums, etwa das künstlerische Genie (richtet)“, sondern dass „kreatives Handeln und Denken (…) nun von allen BürgerInnen und LohnarbeiterInnen der westlichen Industriegesellschaft gefordert“ würden.24 Nachvollziehen lässt sich diese Entwicklung an unzähligen exemplarischen Momenten, dazu gehören genauso Team-Workshops, in denen mit Hilfe von Legos die Probleme einer Unternehmung kreativ gelöst werden sollen, wie etwa Bestrebungen im Bildungsbereich, die den einzelnen Arbeitnehmer durch konstante Weiterbildung für den sich schnell wandelnden Arbeitsmarkt fit zu halten beabsichtigen. Mit der Wendung des „unternehmerischen Selbst“ bezeichnet der Soziologe Ulrich Bröckling die Konsequenzen dieser neuen Konstellationen für das Subjekt, das sich dadurch auszeichnet, dass es sich „in allen Lebenslagen kreativ, flexibel, eigenverantwortlich, risikobewusst und kundenorientiert verhält.“25 Genau diese Kriterien eines erfolgversprechenden Selbstmanagements decken sich in erstaunlicher Weise mit Charakteristika, wie sie 22 Allerdings gilt es nicht zu vergessen, dass die Kriterien einer derartigen Arbeitsweise nicht in erster Linie institutionell verordnet sind, sondern von Kunstschaffenden selbst eingeführt und mitunter gar eingefordert wurden. Vgl. dazu Arbeiten aus dem Bereich der sogenannten Kontextkunst bzw. aus dem Umfeld der Institutionskritik. 23 Zwei derjenigen Publikationen, in denen die Effekte dieser Verschmelzung vor allem aus der Sicht des Kunstbetriebes problematisiert werden, sind Marion von Osten (Hg.) Norm der Abweichung, Zürich/Wien/New York 2003 und Raunig/ Wuggenig 2007 (wie Anm. 1). 24 Marion von Osten, Insert Be Creative!, in: von Osten 2003 (wie Anm. 23), S. 3. 25 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, Klappentext.

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das künstlerische Agieren spätestens seit dem 20. Jahrhundert auszeichnen. Der in Frankreich tätige Philosoph und Soziologe Maurizio Lazzarato hat in einem seiner jüngeren Texte darauf hingewiesen, dass aus dieser Übereinstimmung nicht geschlossen werden sollte, dass die Kunst bzw. die Kunstschaffenden das Vorbild der sich neu etablierenden Arbeitsformen darstellen, wie dies in einigen Analysen behauptet werde.26 Vielmehr hätte der Neoliberalismus bzw. dessen Verfechter diese Arbeitsmodalitäten aus unternehmerischen Überlegungen abgeleitet und auf die allgemeinen Arbeitsverhältnisse implementiert. Das künstlerische Schaffen ist also nicht das avantgardistische Modell aktueller Arbeitssituationen, vielmehr sehen sich die Kunstschaffenden selbst damit konfrontiert, dass die ökonomische Lage auch sie zum Unternehmertum gezwungen hat.27 Und genau dieser Umstand wird punktuell auch in der aktuellen institutionellen Landschaft im Kunstbetrieb reflektiert und ist wohl nicht zuletzt auch mit ein Grund, warum genau diese institutionelle Landschaft in den letzten Jahren ebenfalls Gegenstand zahlreicher Debatten geworden ist. Gemeint ist damit nicht die Institutionskritik, die bereits seit längerer Zeit seitens zahlreicher Kunstschaffender unternommen wird,28 sondern eine erst seit wenigen Jahren und nicht selten von den jeweiligen Trägern der Institutionen selbst initiierte Auseinandersetzung darüber, was ein Kunstort heute soll und kann.29 Diagnostizierte Christian Kravagna in der Einleitung zu seiner Textsammlung zur Institutionskritik noch eine generelle Anpassung seitens der Kunstinstitutionen an aktuelle wirtschaftliche Anforderungen, was sich etwa im Corporate Sponsoring oder einer offensiven Selbstvermarktung zeige,30 so beurteilen jüngere Analysen die Situation weit weniger düster und eindeutig. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett etwa beharrt in seiner jüngsten Publikation Die neue Kultur des Kapitalismus (2005) gerade auf den demokratischen und transparenten Elementen, über die Institutionen gerade angesichts eines globalisierten Marktes noch verfügen, und just 26 So etwa auch von Marion von Osten in ihrer Einleitung zu von Osten 2003 (wie Anm. 23, S. 9f): „…vielmehr avancieren in der postmodernen ‚Kulturgesellschaft‘ auch die klassischen Ausnahmesubjekte der Moderne – Künstler, Musiker, Nonkonformisten und Bohemiens – zu role models (Diedrich Diedrichsen 1999). Sie verkörpern jene erfolgreiche Verkettung von unbegrenzter Ideenvielfalt, abrufbarer Kreativität und smarter Selbstvermarktung, die heute als Anforderung an alle gerichtet wird.“ 27 Maurizio Lazzarato, Die Missgeschicke der „Künstlerkritik“ und der kulturellen Beschäftigung, in: Raunig/ Wuggenig 2007 (wie Anm. 1), S. 190–204. 28 Zur problematischen Funktion der Institutionskritik als potenziell affirmativer Akt vgl. Alice Creischer/ Andraes Siekmann, Reformmodelle, in: Kravagna/Kunsthaus Bregenz 2001 (wie Anm. 4, S. 167ff.). 29 Vgl. dazu u. a. Shamita Sharmacharja (Hg.), A Manual for the 21st Century Art Institution, London 2009; Nikolaus Hirsch u. a. (Hg.), Institution Building. Artists, Curators, Architects in the Struggle for Institutional Space, Berlin 2009; Nicolaus Schafhausen/ Julia Moritz (Hg.), Die Frage des Tages/The Question of the Day, Berlin 2007; Nina Möntmann (Hg.), Art and its Institutions. Current Conflicts, Critique, and Collaborations, London 2006. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Formation des Netzwerks Comitée van Roosendaal, das 2006 als informelle Arbeitsgruppe begann und zu Beginn dieses Jahres seine Beschäftigung mit der Thematik anlässlich einer großen Tagung mit dem Titel „Institutional Attitudes“ an die Öffentlichkeit trug. http://www.comitevanroosendaal.eu/index.php (14.12.2010). 30 Kravagna/Kunsthaus Bregenz 2001 (wie Anm. 4).

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dieser Aspekt scheint sich auch in der Betrachtung des aktuellen Kunstsystems bzw. dessen institutioneller Landschaft niedergeschlagen zu haben. Der Kritiker und Kurator Simon Sheikh, selber über mehrere Jahre in einer erst kürzlich weggekürzten, selbsternannten „utopian institution“ engagiert, negiert die von Kravagna skizzierten Entwicklungen zwar nicht, stellt dagegen aber die Praxis zahlreicher Kunstorte, die es in den letzten Jahren verstanden haben, das Museum aus seiner bürgerlichen Tradition zu lösen und sich für heterogene Öffentlichkeiten zu öffnen. Diese Demokratisierung sei als grundlegender Anspruch für Kunstorte einzufordern, so Sheikh in seinen Ausführungen weiter, ein Wert allerdings, denn es konstant auszuhandeln und zu verfechten gelte.31 Diese Bemerkungen zur Dynamik institutioneller Gefüge sind für den vorliegenden Zusammenhang deshalb besonders bedeutsam, weil sie nicht nur den Hintergrund zur künstlerischen Arbeit darstellen, sondern eine ihrer grundlegenden Bedingungen sind. Wenn also eine progressive Institution wie das ICA in den späten 1970er Jahren sich für eine stärkere Unterstützung des künstlerischen Produktionsprozesses einzusetzen beginnt,32 dann ist das heute allgegenwärtige Commissioning33 von Arbeiten obzwar als Errungenschaft dieser und ähnlich gelagerter Initiativen zu verstehen. Zugleich hat aber diese Form der Auftraggeberschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen für die Kunstschaffenden u. a. auch die Konsequenz, dass sie ihr Arbeiten, inhaltlich und strukturell, den Schwerpunktsetzungen von Kuratoren oder Förderinstitutionen anzupassen haben. Das ist keine wertende Beschreibung, aber eine, die sich der Ambivalenzen dieser Entwicklungen bewusst ist. Damit hat sich die Situation insofern prinzipiell verändert, als dass der oder dem Kunstschaffenden ein Teil ihrer bzw. seiner hoheitlichen Entscheidungsbefugnis beschnitten wird und die künstlerischen Aktivitäten sich entlang einer ganzen Reihe von vorgegebenen Bedingungen ausformulieren müssen. Damit gleichen sich diese Arbeitsverhältnisse etwa denjenigen von Architekten oder auch Designern an, Berufssparten, die immer noch als angewandte Professionen betitelt werden. Dass sich mit der Veränderung oder gar Angleichung der Arbeitsmodalitäten aber der Status der Kunstschaffenden selbst nicht zwingend in derselben Weise und Geschwindigkeit ändert, davon handelt das letzte Kapitel.

31 Simon Sheikh, Öffentlichkeit und die Aufgaben der „progressiven“ Kunstinstitution, in: http:// www.republicart.net/disc/institution/sheikh01_de.htm (14. 12. 2010). 32 Vgl. Papier „Proposal for Fundings“ (ICA, 955/4/16 Hyman Kreitmann Research Center). Dieses Dokument belegt erste interne Problematisierungen des als Missstand diagnostizierten Umstandes, dass der Prozess der Produktion in sämtlichen institutionellen Strukturen finanziell nicht entschädigt wird. 33 Commissioning beschreibt ein Auftraggeberverhältnis, bei dem eine Institution Kunstschaffende meist inhaltlich spezifisch ausgerichtet für die Dauer eines Projektes oder einer Arbeit einlädt und finanziert. Diese Form der Arbeitsverhältnisse wird vor allem in England seit längerer Zeit immer häufiger praktiziert (dies auch, weil immer mehr entsprechende Organisationen und Institutionen entstanden sind), im letzten Jahrzehnt ist diese kuratierte Produktion zunehmend auch auf dem europäischen Festland Praxis.

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der gesellschaftsauftrag der kunst Die Lektüre der legendären Diskussion zwischen Hans Haacke und Pierre Bourdieu, in der sie die Anfänge der bereits kurz erwähnten Ökonomisierung der Kultur in kritischen Voten besprechen, mutet aus heutiger Perspektive – das Gespräch wurde zu Beginn der 1990er Jahre geführt – fast nostalgisch an. Nicht wegen der Entrüstung, die ihre Aussagen begleitet, und auch nicht, weil sich die von ihnen skizzierte Vermengung heute ganz selbstverständlich niedergeschlagen hat. Nostalgisch scheinen die Ausführungen vielmehr in ihrer Argumentationsweise und in der Entschiedenheit der Positionierung. Etwa dann, wenn sich Haacke darüber beklagt, dass Sponsoren nicht „aus Liebe zur Kunst“ handeln würden34 und deren Einflussnahme auf Programm und Inhalt selbst bei kleinen Geldbeiträgen als grundsätzlicher Natur einschätzt und deshalb meint, dass nur der Staat – wovon die ehemaligen sozialistischen Staaten ausgenommen sind – Kultur ermöglichen könne, die keinen Markt finde.35 Haacke selbst und mit ihm zahlreiche weitere Kunstschaffende haben in den letzten Jahren mehr oder weniger gut mit den Paradoxien der zunehmend feingliedrigeren Vermengung zwischen den Feldern Kunst und Ökonomie zu leben und zu agieren begonnen. Und so ist denn selbst die kritische Betrachtung des 1995 von Andrea Fraser für die Generali Foundation in Wien realisierten Projektes (Ein Projekt in zwei Phasen, Teil der Reihe Services) durch die Künstlerkollegen Alice Creischer und Andreas Siekmann wenn auch prinzipieller, so doch nicht verurteilender Art. Das von Fraser als Dienstleistung konzipierte Zwei-Phasen-Projekt nahm sich die Sammlung der Stiftung des weltweit tätigen Versicherungskonzerns vor. In einem ersten Teil wurden Fakten zu den Umständen des Sammlungsaufbaus und dessen Präsentation in den Räumen der Generaldirektion durch die Künstlerin recherchiert, während im zweiten Teil des Projektes die Bilder aus der Generaldirektion entfernt und von Fraser im Ausstellungsraum reinszeniert wurden. Damit sollten die strukturellen Bedingungen der Kunstsammlung der Öffentlichkeit gegenüber offengelegt und transparent gemacht werden. Creischer und Siekmann betonen die Ambivalenz derartiger Vorgehen, bei der Kunstschaffende gleichsam einen „Service zur funktionierenden TopDown-Kommunikation“ leisten würden. Und die von ihnen daraus abgeleitete Problematik scheint mir aktueller denn je: „Vielleicht kann erst innerhalb dieser neuen Finanzierungsrahmen und ihrer neuen Abhängigkeiten reflektiert werden, dass die Infragestellung des Autonomiecharakters der Ware Kunstwerk eben auch die Souveränität der ProduzentInnen angreift.“ Obzwar Creischer und Siekmann den Verlust der Souveränität als problematisch bezeichnen, sehen sie doch zugleich den fragwürdigen Effekt von dessen Aufrechterhaltung, benennen ihn als „geistig behütetes Inseldasein“ der Kunst.36

34 Hans Haacke/ Pierre Bourdieu, Freier Austausch. Für die Unabhängigkeit des Denkens und der Phantasie, Frankfurt am Main 1995, S. 24. 35 Haacke/ Bourdieu 1995 (wie Anm. 34), S. 74–76. 36 Creischer/ Siekmann, Reformmodelle, in: Kravagna/Kunsthaus Bregenz 2001 (wie Anm. 4), S. 167.

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Zahlreiche Kunstwissenschaftler und Künstlerinnen haben bereits mit dem Gedanken kokettiert, Kunst als Arbeit und den Künstler als Produzenten zu begreifen, meist blieben die Adaptionen punktuell und von kurzer Dauer, wie etwa auch Seth Siegelaubs Vertragsvorlage für Werkverkäufe demonstriert.37 Angesichts der geschilderten gesellschaftlichen Konstellationen scheint diese Thematik aber aktueller denn je. Den Künstler als Unternehmer zu begreifen erachte ich dann aber nicht nur als deskriptiven Akt, sondern ebenso als analytisches Modell, in dem das Agieren nicht primär und schon gar nicht ausschließlich als künstlerisches, sondern in gleicher Weise als strategisches Verhandeln und Kooperieren verstanden wird. Ihr kulturelles Kapital, das sich heute etwa in Form von Diskursgewandtheit und Selbstreflexion zeigt, setzen die Kunstschaffenden in einem komplex organisierten Feld ein, in dem nicht nur der Galerist, sondern in gleichem Maße der Kurator und die Kunsthistorikerin und viele mehr wichtige Parameter und Verhandlungspartner darstellen. Sich darin zu positionieren ist ein Unternehmen, nicht selten auch eine Gratwanderung innerhalb der beschriebenen gesellschaftlichen Konstellationen, die alles andere als eindeutig sind. Und deshalb ist diese Positionierung auch mehr als ein individuelles Unterfangen und vielmehr Ausdruck eines Aushandelns von Kräfteverhältnissen in einer Phase des gesellschaftlichen Wandels. Autonomie ist dabei insofern ein Schlüsselbegriff, als dass er den Handlungsradius des Individuums in Bezug setzt zu seinen Rahmenbedingungen. Inwiefern die neuen institutionellen Trägerschaften – nicht selten sogenannte public-private-partnerships – diese nicht nur lautstark postulieren, sondern sie effektiv ermöglichen, ist eine derjenigen Fragen, die es in diesem Umfeld gründlich zu analysieren gilt.

37 Vgl. dazu insbesondere Maria Eichhorn, The Artist’s Contract, Köln 2009.

konstruktionen künstlerischer kreativität

einführung sabine fastert Zurzeit herrscht zumindest in der westlichen Kultur und Gesellschaft eine wahre Hochkonjunktur des Kreativen, die weit über das Modische hinaus das Selbstverständnis des Menschen prägt. Keine wirtschaftliche oder technologische Konzeption, keine Forschungspolitik oder Pädagogik, die nicht darauf fokussiert ist. Dabei gilt Kunst als Ausdruck von Kreativität par excellence. So versammelt Hans Ulrich Reck in seinem „Index Kreativität“ (2007) auf über 550 Seiten mehr als 130 Stichwörter zum Thema der künstlerischen Kreativität. Die Einträge reichen von A wie „Aneignung“ und „Alles falsch“ bis Z wie „Zerstörungen“ und „Zeugungsverdacht“. Das Adjektiv „kreativ“ wird dabei im dreifachen Sinne verwendet: erstens auf eine Person bezogen, die Ideen hat und diese verwirklicht, zweitens kann es die Eigenschaft von Handlungen und drittens auch deren Ergebnis bezeichnen. Entsprechend meint das Substantiv „Kreativität“ entweder eine Persönlichkeitseigenschaft oder steht als Sammelbegriff für Prozesse, Denk- und Handlungsschritte, die erforderlich sind, um kreative Ergebnisse zu erreichen. Weitgehende Übereinstimmung besteht in der Literatur des Weiteren darüber, dass kreative Produkte relativ neuartig oder unkonventionell sein müssen. Das Bizarre oder Skurrile reicht allein jedoch nicht aus, neben der zentralen Bedingung „neuartig“ zählen auch „Effektivität“, „Relevanz“ und „Nützlichkeit“ zu den häufig angeführten Kriterien für kreatives Handeln. Diese Aspekte werden allerdings gerade im Bereich der Pädagogik stark relativiert, wo Kreativität rein subjektiv begriffen wird, also Neuartigkeit nur für das jeweilige Individuum gegeben sein muss. Das führte zu einem geradezu inflationären Gebrauch des Begriffs beispielsweise für jegliche Form von Bastelarbeit und bildnerischem Handeln. In Bezug auf den Künstler gilt es aber zu differenzieren. Zum einen ist der Künstler kreativ, weil er etwas erschafft, zum Beispiel eine Skulptur. Schuster und Woschek (1989) haben in diesem Zusammenhang zur besseren Abgrenzung den Begriff „generativ“ ins Spiel gebracht, im Sinne von „erzeugen“. Davon unterscheiden sie die kreativen Höchstleistungen, bei denen etwas Innovatives hervorgebracht und die Grenzen der menschlichen Denk- und Auffassungsmöglichkeiten überschritten werden. Zusätzliche Bewertungskriterien können die Überwindung spezieller Schwierigkeiten, ästhetische Vollkommenheit, innere Stimmigkeit, überraschende und eindrucksvolle Wirkung oder der Eindruck der Mühelosigkeit des Zustandekommens sein. Das ursprünglich lateinische Wort „Kreativität“ hat damit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine bemerkenswerte Karriere durchlaufen. 1950 wird es zunächst in der amerikanischen Diskussion als psychologischer Fachbegriff verwendet und gelangt erst über diesen Umweg in den deutschen Sprachschatz. Dort ersetzt es ab ca. 1970 zunehmend den älteren Begriff des „Schöpferischen“. „Schöpfung“ und „Geschöpf“ wurde einst von christlichen Missionaren für das lateinische „cre-

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are“ gewählt und zunächst auf die göttliche Schöpfung, dann nobilitierend auch auf das künstlerische Schaffen und sein Ergebnis übertragen. Einher geht mit dem Begriffswandel in der Mitte des 20. Jahrhunderts eine Demokratisierung des Kunstverständnisses, wodurch der lange Zeit die ästhetische und kunsttheoretische Diskussion dominierende Genie-Begriff endgültig für obsolet erklärt wird. Die Anonymisierung des Kreativen findet in der Postmoderne und dem proklamierten „Tod des Autors“ ihren deutlichsten Ausdruck. In jüngster Zeit stellen aber auch die Neurowissenschaften das souveräne Subjekt konsequent in Frage und postulieren stattdessen ein radikal reduktionistisches Verständnis von Psychologie, bei dem jedes Verhalten soziobiologisch determiniert ist. Zentrale Fragen bleiben allerdings erhalten: Ist Kreativität lehr- und lernbar? Gibt es eine spezifisch menschliche Kreativität? Unterscheiden sich Menschen kulturell und psychologisch in der Hervorbringung kreativer Höchstleistungen? Welche Faktoren sind ausschlaggebend dafür, dass etwas als „neu“ gelten darf? Was begünstigt künstlerische Innovationen? Damit kommen wir zum letzten, aber doch entscheidenden Aspekt der Kreativität. Natürlich hängt die wahrgenommene Neuheit vom Hintergrund der beurteilenden Person wie vom sozialen Konsens ab. Was für den einen neu und wertvoll ist, muss es für den anderen nicht gleichermaßen sein. Das gilt nicht nur für Individuen und Gruppen, sondern ebenso für Epochen. Dadurch enthält der Begriff „Kreativität“ ein dezidiert historisches Element. Besonders deutlich wird dies an den umfangreichen Forschungen zum zentralen Topos moderner Künstlerkonzeptionen, der ebenso einflussreichen wie verhängnisvollen Verknüpfung von künstlerischer Kreativität mit psychischen Ausnahmezuständen. Auch ist die zugrunde liegende Vorstellung, dass es überhaupt einen Fortschritt im Sinne von „Neuheit“ geben muss, ihrerseits geschichtlich zu verorten. Die Frage der Epigonalität als modernes Schaffensprinzip wird aktuell ebenso rege erörtert wie die Bedeutung von Kunstkritik und Kunstgeschichte beim Aufspüren so genannter kreativer Einfälle. Der Zwang zur Innovation, wie ihn die Moderne kennt, ist außerdem abgelöst worden durch jene viel diskutierte und „postmodern“ genannte Wende, die wieder den Umgang mit Formen zulässt, die die Avantgarde als überholt abgeschafft hatte. Deshalb gilt es nicht nur, unterschiedliche Aspekte künstlerischer Kreativität kritisch auszuloten und historisch zu verorten, sondern zugleich ein grundsätzliches Hinterfragen des modernen Kreativitätskonzepts zu ermöglichen.

epigonalität als erfindung cordula grewe Die Kunsthalle Basel zeigt Cindy Sherman.1 Es ist eine dieser Ausstellungen, die sich mir als junger Kunstgeschichtsstudentin tief ins Gedächtnis brennen sollten. Unweigerlich ist diese Erinnerung nur Fragment, eine Serie unzusammenhängender Bilder und Empfindungen. Dennoch ergeben die Fetzen einen Sinn. Zum einen erinnern sie mich an die physikalische Präsenz dieser großformatigen Fotografien, deren phänomenologische Wirkung keinen Zweifel an ihrem Status als monumentale Kunstwerke aufkommen ließ. Zum anderen rufen sie das Gefühl des Dialogs auf, das diese Zitatenwelt in mir erweckte. Sherman erschien mir nicht zuletzt als ideale Kunst für Kunsthistoriker, als ein intellektuelles wie sinnliches Spiel, das ich mit meiner Begleitung vergnügt annahm, reüssierend, suchend, ein Fest des Entdeckens, Aufdeckens und Verschleierns, des Weiterdenkens, Rückblendens und Verfußnotens. Und es war ein emphatisch weiblicher Dialog, ein Bloßlegen ungeschminkter Sexualität unter Tünche und falschen Körperteilen. Die Kunsthalle Basel zeigt mir Cindy Sherman als dominante Regisseurin einer geborgten Bilderwelt, die mir ein starkes Bewusstsein von Selbst und Sein in der Welt vermittelt. Die Maskerade wird zum Moment, in dem ich mich, im Angesicht der künstlerischen Erfindung, finde. Autobiographische Selbstoffenbarungen laufen immer Gefahr, einer gewissen Naivität oder Peinlichkeit anheim zu fallen. Dass ich trotzdem einen solchen Anfang gewählt habe, hat methodologische wie programmatische Gründe. Die Rückblende auf die erste Begegnung mit dem (damals noch) zeitgenössischen Gegenstand dieses Aufsatzes betont das Moment der dreifachen Historisierung, der den hier zu untersuchenden, aneignenden Schaffensstrukturen zugrunde liegt.2 Historisierung erfolgt in der Positionierung von Kunstwerk, Künstler und Betrachter gegenüber verschiedenen Ebenen von Zeit und Zeitbewusstsein, wobei die gegenseitige Durchdringung und die ständigen, sich permanent verschiebenden Vermittlungsvorgänge untereinander mitgedacht werden. Mein Zugang ist dabei grundsätzlich hermeneutisch, wobei dieser Aufsatz durch ein Überblenden von Historismus und Appropriation das Problem der Autorenschaft als doppelten Prozess von Epigonalität und Erfindung neu auszuloten sucht. Kreatives Schaffen wird dementsprechend als Moment der Selbstkonstitution begriffen, in dem sich Erinnerung, Appropriation des Vorgefundenen und unmittelbares Erleben mischen und zwar notwendigerweise.

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Cindy Sherman, Ausst.-Kat. Kunsthalle Basel/Staatsgalerie Moderner Kunst München/ Whitechapel Art Gallery London 1991, Stuttgart 1991. Mein Nachdenken über das Problem der Zeitgenossenschaft, das meinem Ansatz einer historischen Hermeneutik eingeschrieben ist, hat wichtige Anregungen erhalten durch Verena Krieger (Hg.), Kunstgeschichte & Gegenwartskunst. Vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft, Köln u. a. 2008.

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Der Begriff der Epigonalität reflektiert in besonders nachhaltiger Weise den Widerstreit zwischen Zeitgenossenschaft und historischem Wissen, Nähe und Distanz, der insbesondere der Gegenwartskunst und ihrer diskursiven Aufarbeitung – ob nun kunstkritisch oder kunsthistorisch – eingeschrieben ist. Er setzt sich expliziter als andere Ansätze mit der jedem Kunstwerk eingeschriebenen doppelten Eigenschaft von Historizität und Aktualität auseinander, eine Auseinandersetzung, die sowohl auf der praktischen wie theoretischen Ebene und häufig in Personalunion erfolgte.3 Die Querschaltung von Epigonenbegriff und Appropriationstheorie widersetzt sich nicht nur dem Antihistorismus postmoderner Kunstgeschichtsschreibung. Sie postuliert auch ein genuin historisches bzw. historisierendes Element als konstitutiv für die als posthistorisch gelesene Kunst der Pictures Generation.4 Damit versteht sich meine Lesart als Widerlager zur Ideologie der amerikanischen Kunsttheorie-Zeitschrift October, welche die Diskussion postmoderner Phänomene aus marxistischer Sicht als Anfertigung einer „new roadmap“ verstand, die als „kritische Intervention in einer komplex-vielschichtigen (gemeinhin reaktionären) Gegenwart“ darauf abzielte, „diese Praktiken in eine Krise zu rufen (was Kritik schließlich bedeutet), um sie so zu transformieren“.5 Die einseitige Ausrichtung auf Repräsentations- und Institutionskritik und die damit verbundene polemische Zweiteilung der Postmoderne in antikapitalistische good guys und affirmative bad guys hat jedoch den Blick auf strukturelle Gemeinsamkeiten verstellt, die jenseits stilistischer und ideologischer Unterschiede analoge Prinzipien der Selbstschöpfung sichtbar werden lassen.6 In diesem Sinne ist Hal Fosters Definition „humanistischer Hermeneutik“ als Versuch, „das Objekt durch Interpretation zu vollenden oder zu beleben (als ob es defizitär oder tot sei),“ ebenso reduktiv wie unproduktiv.7 Hermeneutik kann uns vielmehr helfen, in den Brüchen zwischen Medium, Vervielfältigung und Zitat eben jenes Autorenselbst aufzuspüren, das sich trotz vehementer Todesnachrichten letztlich nicht hat auslöschen lassen. Bei dieser Neubewertung, die den Rückfall in totalisierende Ganzheitsansprüche ebenso zu vermeiden sucht wie falsche Vorstellungen von zeitloser Wesenhaftigkeit, erweist sich der Blick auf das 19. Jahrhundert als fruchtbar. Den theoretischen Ankerpunkt 3

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Im Zentrum meiner Überlegungen stehen Karl Leberecht Immermann und Wilhelm Schadow, der eine Schriftsteller, der andere Maler, die beide ihr künstlerisches Schaffen mit umfangreichen theoretischen Überlegungen umfassten. Grundsätzliche Überlegungen zur Doppelnatur des Kunstwerks finden sich in Krieger 2008 (wie Anm. 2), S. 5–25. Der Begriff der Pictures Generation leitet sich von Douglas Crimps bahnbrechender Ausstellung Pictures im Jahre 1977 ab; deren Prämissen und Ergebnisse erlangten kanonischen Einfluss durch den zwei Jahre später in edierter und revidierter Form erschienenen Wiederabdruck des Katalogaufsatzes; vgl. Douglas Crimp, Pictures, in: October 8/1979, S. 75–88. Inzwischen ist die historische Aufarbeitung dieses postmodernen Phänomens selbst zum Projekt geworden, wie die Beispiele von Peter Muir, Signs of a Beginning. October and the Pictures Exhibition, in: Word & Image 20/2004, H. 1, S. 52–62 oder Douglas Eklund (Hg.), The Pictures Generation 1974–1984, Ausst.-Kat. Metropolitan Museum of Art New York 2009, New Haven 2009 zeigen. Hal Foster, Recodings. Art, Spectacle, Cultural Politics, Seattle 1985, S. 1–3. Vgl. dazu die brillante Analyse von Verena Krieger, Der Blick der Postmoderne durch die Moderne auf sich selbst. Zur Originalitätskritik von Rosalind Krauss, in: Krieger 2008 (wie Anm. 2), S. 143–161. Foster 1985 (wie Anm. 5), S. 2.

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bilden die Schreibtheorien Karl Leberecht Immermanns, dessen Auseinandersetzung mit dem epigonalen Status des zeitgenössischen Künstlers eine ebenso komplexe wie moderne Vorstellung des Autors als gleichzeitig originärer Eigenschaft und nachahmender Funktion vorgelegt hat. Das Comeback von Modernität und Modernismus im theoretischen Diskurs wie in der angewandten Praxis des 21. Jahrhunderts gibt der Erarbeitung eines nuancierteren Historismusbildes neue Dringlichkeit.8 Denn die Moderne, so eine Grundthese meiner Arbeit zum 19. Jahrhundert, war von Anfang an von einer komplexen Gemengelage modernistischer und postmodernistischer Elemente geprägt, nur dass letztere in dieser Epoche nicht als ‚post‘ sondern zumeist als ,anti‘ theoretisch erfasst werden. In der in den 1980er Jahren so intensiv betriebenen ‚Archäologie der Moderne‘ entwickelte sich die Perspektive auf das Moderne des Antimodernistischen sowie die ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ in der Kunstgeschichte jedoch nur rudimentär, im Gegensatz zu ihren historischen und soziologischen Nachbardisziplinen.9 In diesem Sinne kann es nicht darum gehen, das 19. Jahrhundert aufzuwerten, indem man selbst unliebsame oder sperrige Bewegungen wie die Nazarener oder l’art pompier in das bestehende Wertekorsett positiv konnotierter Entwicklungsstränge presst. Es geht vielmehr darum, eben diese Stränge zu verkomplizieren und, wo geboten, sogar zu verwirren. Vor allem aber muss man der Versuchung widerstehen, ungebrochene Genealogien konstruieren zu wollen. Stattdessen sollen analoge Fragestellungen und Problemlösungen herausgearbeitet werden, die wiederum durch den Rückblick eine Neubewertung der Jetztzeit ermöglichen. Die Neureflektion auf interpretative Wiederholungsstränge ist, wie die kritische Analyse von Rosalind Krauss’ einflussreichem Aufsatz Die Originalität der Avantgarde durch Verena Krieger unmissverständlich gezeigt hat, durchaus notwendig. Denn der erstmals 1981 in October veröffentlichte Aufsatz schreibt, entgegen seiner eigenen Argumentation, avantgardistische Prinzipien fort, womit er wiederum Andreas Huyssens Argument belegt, dass die amerikanische Postmoderne ihre Wurzeln in den europäischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts habe.10 Für unseren Zusammenhang ist aber noch wichtiger, dass Krauss’ Argumentation des unreflektierten Stereotyps eines universalen „Kults der Originalität“ bedarf. Erst diese Absetzung ermöglicht die von Krauss vorgenommene Selbstpositionierung als progressiv-revolutionäre Stimme in der kritischen Intervention von Repräsentations- und Institutionskritik, welche die spätkapitalistischen Strukturen einer alles kooptierenden Konsumgesell-

8 Zum diesem Comeback von Modernität und Modernismus vgl. Andreas Huyssen, Introduction. Modernism after Postmodernity, in: New German Critique 99/2006, S. 1–5. 9 Man denke hier beispielsweise an die bahnbrechenden Forschungen zur Modernität des Konservatismus, die Karl Mannheim schon in den 1920er und 1930er Jahren vorgelegt hat. Zur ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ vgl. Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935. 10 Andreas Huyssen, The Search for Tradition. Avant-Garde and Postmodernism in the 1970s, in: New German Critique 22/1981, S. 23–40. Ist damit die Postmoderne in der Kunstkritik ebenfalls ein absterbendes „endgame“, ein „replayed end of the traditional avant-garde“, wie es Huyssen für die Kunst prognostiziert hatte?

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schaft zu unterminieren sucht.11 Nun belegt aber Immermanns Beispiel, dass die Diskussionen um Autorenschaft und Originalitätsbegriff keineswegs nur um die Idee des autonomen Genies kreisten – wobei ich zu behaupten wage, dass man auch den Geniebegriff letztlich auf bewusst ‚nicht-geniale‘ Kunst anwenden kann, solange man ihn als emanzipatorische Gesetzgebung begreift. Eine dem Schillerschen Autonomiegedanken entgegen gesetzte, auf Heteronomie und Verbindung mit der Lebenspraxis insistierende Kunstvorstellung ließe sich auch am Beispiel der Nazarener zeigen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Kunst, vor deren Folie sich Immermanns Theorien ausformulierten, in einer nazarenischen Position wurzelte.12 Die Grundlagen für die postmoderne Appropriation, so die provokative These dieses Aufsatzes, hat der Historismus geschaffen. Johann Joachim Winckelmann steht an dessen Beginn, auch wenn er sich selbst das Problem historischer Relativität, welches die historistische Stilanmutung prägt, noch nicht vollends eingestehen wollte oder vielmehr noch nicht zu sehen vermochte. Natürlich ist es anachronistisch, die mit Winckelmann einsetzende und von der Romantik vorangetriebene Form der Aneignung mit der Terminologie der 1970er Jahre als Appropriation zu erfassen. Doch birgt der Anachronismus eines solchen Vor- und Rückblendens auch ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für die Ausbildung neuer kritischer Instrumentarien und ich habe die Möglichkeiten solcher doppelten Theoriebildungen an anderer Stelle ausgelotet.13 Hier nun möchte ich diese analytisch-terminologische Arbeit fortsetzen, in dem ich einen Begriff wiederbelebe und für die Kunstgeschichte fruchtbar mache, der die ihm ursprünglich innewohnende Potenz durch seine Rezeption rasch oder zu Unrecht verloren hat, nämlich den Begriff des Epigonentums bzw. der Epigonalität.

nachahmung als paradox „Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt.“14 In der Definition des Genies, wie sie die Ästhetik des 18. Jahrhunderts formulierte, geht es um mehr als künstlerische Originalität im formalen Sinn; das innovative Kunstwerk, das mit einem bestehenden Regelwerk bricht, ist vielmehr Ausdruck einer politisch und ethisch kodierten Selbstgesetzgebung. Zur Diskussion steht ein ganz und gar neues menschliches Subjekt, 11 Vgl. dazu auch Krieger 2008 (wie Anm. 6). 12 Ich beziehe mich hierbei auf die rege Rezeption der Düsseldorfer Malerschule durch Immermann. Das Problem der nazarenischen Grundlagen der akademischen Praxis in Düsseldorf und Schadows Modifikationen seiner Wurzeln im Lukasbund werde ich in dem mit Penn State University Press herauskommenden Buch Cordula Grewe, The Nazarenes. Style and Aesthetics, University Park 2011 (in Vorbereitung) im Kapitel „The Word made Flesh“ diskutieren. 13 Cordula Grewe, Historicism and the Symbolic Imagination in Nazarene Art, in: Art Bulletin 89/2007, H. 1, S. 82–107. 14 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Berlin u. a. 1790, § 46, Abs. I.

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das sein Gesetz in den Tiefen der eigenen, frei gewonnenen Identität entdeckt und sich als Prinzip der Autonomie zu Eigen macht.15 Originalität ist somit ein Akt der Selbstbefreiung. Deren Bedeutung beschränkt sich wiederum nicht auf solipsistische Selbstfindung, auf die Posen von antibürgerlichem Bohemien, verrücktem Genie oder charismatischem Star der Kunstszene, sondern liegt in ihrem Leistungsvermögen als gemeinschaftsbildendem Ferment. In diesem Sinne warnt Immanuel Kant, dass „es auch originalen Unsinn geben kann“ und dringt auf den exemplarischen Charakter der Produkte des Genies als „Muster“.16 Kant glaubt keineswegs an das Prinzip der creatio ex nihilo, sondern versteht die geniale Schöpfung durchaus als traditionsverbunden, wenn eben auch nicht traditionsgebunden. Dementsprechend unterscheidet er zwischen „Nachmachung“ und „Nachahmung“. Selbstgesetzgebung als Gesetzesgrundlage bedingt keinen absoluten Bruch, sondern eine kreative Regelaneignung, in deren Verlauf das Gesetz immer wieder modifiziert und erneuert wird.17 Kants Unterscheidung greift darin auf Johann Joachim Winckelmanns Idee der Nachfolge zurück, die sich in dem einflussreichen Grundsatz artikulierte: „Der einzige Weg für uns groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten.“18 Das dem Geniegedanken des 18. Jahrhunderts eingeschriebene Autonomiekonzept ist aus marxistischer Sicht als Schein kritisiert worden, der revolutionäre Energie durch eine ungenügende, da rein innerliche Entlastung abbaut und damit affirmativ zur Stabilisierung des Status Quo beiträgt.19 Die Diskussion um das emanzipatorische Potenzial ästhetischer Autonomie kann hier nicht geführt werden. Stattdessen möchte ich den Blick auf das Paradox lenken, das der Idee der Nachfolge eingeschrieben ist. Unnachahmlichkeit wird mit dem Prozess der Nachahmung verkoppelt, und zwar als unabdingbare Voraussetzung allen modernen Schaffens. Paradox ist diese Formel aus dreierlei Gründen: Zunächst kommt es zum Konflikt zwischen dem Prozessualen des Schöpfens und dem als zeitlos-ewig konstituierten Zustand der Schöpfung. Darin ist, zweitens, eine endlose Serialität eingeschrieben, die in Winckelmann zu einem ungelösten Nebeneinander von unnachahmlichen Momenten führt, da sein System versäumt, das einmal durch Nachahmung Erreichte erneut in den Aneignungs- und Schöpfungsprozess einzugliedern. Drittens, und hiermit komme ich zum Kernpunkt meiner Ausführungen, wird Originalität über das Motiv der Kopie konstituiert. Daran ändert auch die Distinktion von Nachahmung und Nachmachung nichts, die zwar als Theorie überzeugt, praktisch aber Aporie bleiben muss. Solange sich Nachahmung an die nachgeahmte Form anschmiegt, ist sie immer auch Nachmachung. Nun ließe sich sicherlich diskutieren, in welchem konkreten Verhältnis Nachahmung und Nachmachung in jedem einzelnen Akt der Umformung des Modells in Neuschöfpung stehen 15 16 17 18

Terry Eagleton, Ästhetik. Die Geschichte ihrer Ideologie, Stuttgart 1994, S. 20. Kant 1790 (wie Anm. 14), § 46, Abs. II. Kant 1790 (wie Anm. 14), § 47, Abs. II. Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, Friedrichstadt 1755, zit. nach Johann Winckelmanns sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe. Herausgegeben von Joseph Eiselein, Donaueschingen 1825, Bd. 1, S. 3–58, hier S. 8. 19 Dieser in der Frankfurter Schule entwickelte Gedanke liegt auch der wichtigen Analyse von Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974 zugrunde.

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oder welche qualitativen Unterschiede zwischen verschiedenen Aneignungsprozessen und -ergebnissen existieren (man denke hier beispielsweise an die Mittelalterrezeption eines Victor Orsel und die Verarbeitung von Orsels Werk durch Picasso). Trotz solcher Nuancierung und ihrer Notwendigkeit bleibt der entscheidende Faktor für unsere Fragestellung der Restbestand wiedererkennbarer Bildelemente im Neuwerk. Solange Aneignung keine reine Strukturanalogie ist, solange sich Aneignung am Bildrest abarbeitet, solange erscheint Originalität im Sinne Winckelmanns als Funktion eines (wenn auch übersteigernden) Kopierens. Das Original ist immer (auch) Kopie. Dies ist das Paradox modernen Kunstschaffens; dies ist der Fluch der Moderne. In dem unterschwelligen Ringen mit dem Problem des Zuspätseins, das Harold Bloom gut zweihundert Jahre später psychoanalytisch als Phänomen der Einflussangst aufarbeiten sollte, weist Winckelmanns Kopiekonzept genuin moderne Züge auf.20 An dieser Stelle möchte ich den Bogen zum 20. Jahrhundert schlagen und die Reproduktionslogik der appropriation art durch die Blende der Winckelmanns Originalitätsbegriff eingeschriebenen Idee einer Setzung des Subjekts als Prozess der Aneignung betrachten.

verdoppelungen: reproduzierte reproduktionen Springen wir also nach vorne, indem wir uns zurückbegeben zu der von Douglas Crimp 1977 im Artists Space in New York organisierten Ausstellung Pictures und deren picture girl Sherrie Levine. Levines Fotografien von Reproduktionen von Fotografien demonstrieren kongenial die radikale Infragestellung von Originalität und Genie. Ihre Verarbeitung von Bildwelten wie Walker Evans‘ sozialkritischen Bestandsaufnahmen Amerikas während der großen Depression veranschaulicht die Absage der in den späten 1970er Jahren heranreifenden appropriation art. Fast ununterscheidbar vom angeeigneten Ausgangspunkt sind Levines Gelatindrucke nicht nur Reflektionen auf die Kommodifizierung von Kunst. Sie fragen zugleich nach der Authentizität der Kopie bzw. von Authentizität als Kopie. Anders gesagt, die Serie After Walker Evans problematisiert die Möglichkeit, Autonomie und Authentizität im Moment der Kopie zu erfahren und zu setzen. „Du bekommst eine Idee und denkst, die sei toll“, sagt Sherrie Levine dazu, „und nach einer bestimmten Zeit stellst Du fest, dass genau diese Idee schon seit langem durchgekaut wird. Als ich in der Schule war, war ich ständig frustriert, weil alles was ich tat, (...) irgendwie abgeleitet war. Daher, als ich mit dem Kopieren vorhandener Werke anfing, verstand ich diesen Weg als eine Art Widerstand gegen solche Frustrationen (...). Ich kann aufhören, originell zu sein.“21 Levine 20 Harold Bloom, The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry, New York/Oxford 1973; für eine Diskussion von Blooms Konzept in Bezug auf die nazarenische Kunst vgl. Cordula Grewe, Re-enchantment as Artistic Practice. Strategies of Emulation in German Romantic Art and Theory, in: New German Critique 94/2005, S. 36–72. 21 Sherrie Levine im Gespräch mit Noemi Smolik. „Meine Absicht ist es nicht, ein Kunstwerk zu kopieren, sondern es zu erfahren“, in: Kunstforum International 125/1994, S. 287–291, hier S. 288.

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postuliert somit zum einen die Unmöglichkeit der Selbst-Realisierung außerhalb des Zitats. Zugleich erarbeitet sie sich einen Freiraum. Selbsterfüllung wird im bewussten Erarbeiten des eigenen Zuspätkommens erfahrbar. Diese Dynamik erhält zusätzliche Energie durch Levines bewussten Verstoß gegen das Copyright; die Raubkopie markiert einen Akt der Transgression, in dem sich das Selbst intensiv erfahren kann: „Meine Absicht ist es nicht, ein Kunstwerk zu kopieren, sondern es zu erfahren.“22 Als Einschnitt bleibt dieser Einbruch im Werk erhalten. Im Zitieren kommt Sherrie Levine zu sich selbst. Sherrie Levines Vorgehensweise wird durch das gewählte Medium, die Fotografie, noch gesteigert. Als der moderne Apparat der Vervielfältigung schlechthin lässt die Kamera Kopiertes und Kopie bis zur Unkenntlichkeit verschmelzen. Eine Variante zu dieser radikalen buchstäblichen Form der Appropriation stellt das Spiel mit Zitaten und Teilkopien dar, wie es die Malerei eines Carlo Maria Mariani inszeniert.23 Nicht zufällig greift dessen ‚metaphysischer‘ Neoklassizismus eben auf jenen Moment zurück, an dem sich das Paradoxe modernen Kopierens erstmals manifestiert. Marianis expliziter Bezug auf Winckelmann ist umso interessanter, als dieser nur am Anfang einer ins Unendliche gedachten Reihe von Adaptionen steht. Denn Mariani folgt Winckelmanns Theorien in deren Umsetzung durch den Maler Anton Raphael Mengs, den er wiederum imitiert. Indem Mariani damit die bereits im 18. Jahrhundert erfolgte Verdoppelung fortschreibt, lässt er Nachfolge als postmodernes Prinzip potenzierter Nachahmung in der eigenen Jetztzeit wieder aufleben.24 Das Neue und Einzigartige gibt sich in der Art der Aneignung und der spezifischen Verwendung des Angeeigneten zu erkennen. Die Individuation des Machers erfolgt in der ironischen Brechung; Originalität und Subjekt treten in der Konfrontation von Zitat und Kopie deutlich zu Tage. Levine und Mariani als Zeugen analog zu setzen mag erstaunen, deuten doch schon die gewählten Techniken – hier Fotografie und Montage, dort traditionelle Malerei und Allegorie – grundsätzliche Unterschiede in Intention und Rezeptionsverhalten an. Die Bewertung dieser Strategien war, zum Teil andauernd, denn auch Thema heftiger Auseinandersetzungen.25 Der polemische Ton dieser Debatte nährte sich nicht zuletzt aus der poststrukturalistischen, marxistischem Gedankengut verpflichteten Ideologie der October-Sturmtruppe.26 Dementsprechend teilte Hal Foster die Postmoderne entlang zweier gegenläufiger Achsen, einer radikalen und einer re22 Levine 1994 (wie Anm. 21); vgl. auch Krieger 2008 (wie Anm. 6), S. 158. 23 Charles Jencks, Postmodern and Late Modern. The Essential Definitions, in: Chicago Review 35/1987, H. 4, S. 31–58. 24 Robert Aldrich, The Seduction of the Mediterranean. Writing, Art and Homosexual Fantasy, London/New York 1993, S. 211–213. 25 Tim Woods, Beginning Postmodernism, Manchester/New York 1999, S. 125–131. 26 Eine Analyse der Unterschiede in den methodologischen Ansätzen der October-Gruppe sowie deren politischer Implikationen kann hier nicht geleistet werden. Eine Selbstreflektion der führenden Mitglieder (Hal Foster, Rosalind E. Krauss, Yve Alain Bois und Benjamin H. D. Buchloh) bietet Art since 1900. Modernism, Antimodernism, Postmodernism. New York 2004. Peter Muir (wie Anm. 4) diskutiert den Prozess der Politisierung der zunächst primär ästhetischen Perspektive.

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aktionären, auf. Während Cindy Sherman und Sherrie Levine einen Platz im „postmodernism of resistance“ finden, zählen Mariani wie der ihn zelebrierende Kritiker Charles Jencks zum „postmodernism of reaction“.27 Diese Gegenüberstellung von kritischer Appropriation und affirmativem Pastiche ist in ihrer Unvereinbarkeit politisch überdeterminiert, was letztlich die Frage aufwirft, welche Interpretationskraft die so gewonnene Analysemethode außerhalb dieses scharf abgegrenzten, gegen Bourgeoisie und Kapitalismus ausgerichteten Weltbilds hat. Auch schiene ein kritischer Vergleich der ideologischen Grundlagen von Kunst und Kunstkritik wichtig, um ein nuancierteres Bild von deren Interaktion zu gewinnen. Diese Arbeit kann hier nicht geleistet werden. Stattdessen soll das Augenmerk auf die strukturellen Gemeinsamkeiten beider Verfahren gelenkt werden. Denn trotz inhaltlicher wie produktionsästhetischer Unterschiede verbindet das Zitatenspiel dieser verschiedenartigen Postmodernismen eine gemeinsame Verwurzelung im Kollektivgedächtnis sowie die Reflektion über das Historische als Medium der Werk- und Selbstsetzung. In der modernen Mediengesellschaft, und dies gilt schon für das 19. Jahrhundert, ist das zum Massenmedium gewordene Bild Erzeuger wie Repositum von historischem Bewusstsein und Kollektivgedächtnis. Dies gewährleisten die immer effizienter werdenden Reproduktionsverfahren. Die appropriation art macht sich diese Proliferation des Bildmaterials zunutze, das als vervielfältigte Bilderwelt allgemein bekannt und damit frei verfügbar ist. Diese Omnipräsenz des Visuellen ist essenziell, da sie ein Kernstück der Appropriation sichert, den unverzichtbaren Akt des Erkennens und Wiedererkennens. Dieser Moment der Unterscheidung ist konstitutiv, denn wenn die Kopie nicht als Kopie erkannt wird, löst sich der Akt der Aneignung schlichtweg in Nichts auf.28 Bleibt das appropriierende Kunstwerk nämlich, analog zur unaufgedeckten Fälschung, als Kopie unerkannt, verfällt es schlichtweg zu einem traditionell kodierten Original. Wurzelt Appropriation also zum einen im Kollektivgedächtnis eines musée imaginaire und dem Spiegeleffekt von Kunstwerk und Werk, so beruht es zum anderen auf einem Bewusstsein historischer Distanz. Der Kopie wohnt eine ihr genuine Nachzeitlichkeit inne. In diesem Sinne umschließt Nachahmung eine relationale wie temporale Dimension: ‚Nach‘ bedeutet in diesem Sinne immer ein Zuspätkommen, eine Ungleichzeitigkeit; der Kontext der Kopie ist nie identisch mit dem Kontext ihres Vorbildes, sei es der historische, sei es der künstlerische. Die Kopie kann die Einzigartigkeit, die dem Moment der Vollendung des Originals innewohnt, nicht einholen. Stattdessen verkörpert die Kopie eine unüberwindbare Ungleichheit zwischen stilistischer Erscheinung und tatsächlicher Entstehungszeit.29

27 Hal Foster, Postmodernism. A Preface, in: ders., Postmodern Culture, London 1985, S. vii– xiv. 28 Romana Rebbelmund, Appropriation Art. Die Kopie als Kunstform im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 22–26 liefert einen kurzen Abriss der verschiedenen Begriffe und Kategorien. 29 Vgl. die Überlegungen zum Begriff der Originalität in Rebbelmund 1999 (wie Anm. 28), S. 28–30.

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Trotzdem assoziieren wir die Kunst der Aneignung, appropriation art and the art of appropriation, mit einem authentischen Moment der originären Selbstverwirklichung. Gleichgültig wie wir es angehen, Sherrie Levine und Cindy Sherman sind in unserer Imagination nicht weniger schöpferische Autoren als Phidias oder Raffael. Zwar ist diese Originalität nicht mehr im Sinne von Antike und Renaissance dem Kunstwerk selbst eingeschrieben. Auch ist das Konzept absoluter Authentizität aufgegeben. Der Künstler wird nicht mehr unmittelbar und vollständig in der Struktur bzw. auf der Oberfläche sichtbar, sondern erst im Dialog von Kunstwerk, Werk und kritischer Rezeption. Dennoch ist auch Appropriation eine Form der Selbstkonstitution, nur eben eines Selbst, dessen individuelle zugunsten der kollektiven Seite geschwächt ist. Die Kopie erweist sich so als ein Raum, in dem sich das moderne Selbst aus der Masse von zirkulierten Bildern, d.h. aus dem kollektiven Gedächtnis heraus und in der Auseinandersetzung mit diesem, konstituiert.

die epigonen Der Nexus von Aneignung und Selbstkonstitution war, wie wir an Winckelmann gesehen haben, kein neues Phänomen der Postmoderne. Dessen Problematik sowie kreative Leistungsfähigkeit wurde aber erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts theoretisch durchdrungen, wobei das nun zum Tragen kommende Konzept des Epigonen das diesem Nexus innewohnende Leiden an der Moderne reflektierte. Die Popularität der Begrifflichkeit der Epigonalität im 19. Jahrhundert geht auf Karl Leberecht Immermann und dessen 1836 veröffentlichten Roman Die Epigonen. Familienmemoiren in neun Bänden zurück. Allerdings setzte bereits unmittelbar nach dessen Erscheinen, wie Markus Fauser in seinen wegweisenden Immermann-Studien zur Intertextualität als Poetik des Epigonalen gezeigt hat, die terminologische Reduktion ein.30 Schon die zeitgenössische junghegelianische Kritik trug dazu bei, dass Immermanns Begriff des Epigonen rasch zum Synonym für einen unschöpferischen Nachahmer wurde, der unter der Last der Vergangenheit zusammengebrochen ist. Immermann hingegen begriff Epigonentum durchaus auch als positive Werkgrundlage. Zwar leidet der Epigone unzweifelhaft an der Vergangenheit. Doch in diesem Leiden ist er fähig zur produktiven Schöpfung, auch wenn diese – da eben Appropriation und nicht creatio ex nihilo – zwingend in dem Reflexionsraum zwischen Kunst und Geschichte entsteht. Diese Reflexionsgebundenheit spiegelt das Fragmentarische der Moderne, das sich letztlich, wie Immermanns monumentaler Roman Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken von 1838 eindrücklich vor Augen führt, nur collageartig verarbeiten lässt. Angesichts der Unmöglichkeit von Totalität setzt sich das Werk – wie das Ich – in der Montage. Immermanns Begrifflichkeit ist auch in ihrer theoretischen Aufwertung der Reproduktion genuin modern. Die massenhafte Vervielfältigung von Kunst wird kate30 Markus Fauser, Intertextualität als Poetik des Epigonalen. Immermann-Studien, München 1999. Meine hier vorgelegte Analyse ist maßgeblich durch Fausers Überlegungen inspiriert.

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gorisch zur Grundlage von Aneignung, Appropriation und damit zeitgenössischem Kunstschaffen erklärt. Die Verfügungsgewalt über die Kunst durch deren serielle Reproduktion wird zugleich mit der durch die freie Marktwirtschaft in Gang gesetzten Zirkulation der Objekte, sei es Unikat oder Kopie, gedacht. Zusammen bilden diese technisch-ökonomischen Neuerungen die entscheidenden Mechanismen epigonaler Schaffensformen. „Wir sind“, heißt es in diesem Sinne bei Immermann, „Epigonen, und tragen an der Last, die jeder Erb- und Nachgeborenschaft anzukleben pflegt. Die große Bewegung im Reiche des Geistes, welche unsere Väter von ihren Hütten und Hüttchen aus unternahmen, hat uns eine Menge von Schätzen zugeführt, welche nun auf allen Markttischen ausliegen.“31 Dabei gilt, „jede Kunst ist der besonderen Erscheinung nach, eine historische Erscheinung.“32 Der Traditionsbruch, den Winckelmann schon fühlte, aber noch nicht aussprach, wird zum strukturellen Prinzip moderner Kreativität. Echte Nachahmung im eigentlichen, unmittelbaren Sinne ist nicht möglich, da wir nicht mehr mit den Augen der Alten sehen oder sehen können. Die überlieferte Tradition muss immer aufs Neue aus der Distanz angeeignet werden. Wie später Carlo Maria Mariani (und in der post-postmodernen Nachfolge nun auch dieser Aufsatz), verortet Immermann den Beginn des kreativen Epigonentums, das sich die Vergangenheit aus der Distanz aneignet, im Neoklassizismus. Sein künstlerischer Gewährsmann ist Asmus Jakob Carstens, jener gleichermaßen von Goethe und den Nazarenern geschätzte Deutschrömer des 18. Jahrhunderts, der das direkte Studium der Antike durch ein Verfahren des Memorierens ersetzt hatte.33 Bei Carstens wandelte sich das Zeichnen von einem Mittel, die Natur wiederzugeben, zu einem Medium des Zeichensetzens. Nicht die Form, sondern das Wesenhafte des Gegenstandes gilt es zu ergreifen. Dieses Eindringen in das Wesen der Form bedingt für Carstens eine Ablösung von der akademischen Praxis, Antiken vor dem Original zu kopieren.34 Dies bedeutet keineswegs eine Absage an die Vorbildhaftigkeit der Antike als solcher. Es projektiert vielmehr eine Revolutionierung der gängigen Idee von Antikenkopie als letztlich rein handwerkliche Einübung stilistischer Prinzipien und damit als minderwertige ‚Nachmachung‘. Die Alternative sieht Carstens in einem erinnernden Verfahren, das in einem ausgedehnten, meditativen Betrachten wurzelt. Eine sol31 Karl Leberecht Immermann, Die Epigonen. Familienmemoiren in neun Büchern 1823–1835. Nach der Erstausgabe von 1836 mit Dokumenten zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, Textvarianten, Kommentar, Zeittafel und Nachwort hg. von Peter Hasubek, München 1981, S. 118. Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 13–23 diskutiert die Karriere des Schlagworts ‚Epigone‘ in seiner Einleitung. 32 Zitiert nach Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 28. 33 Wegweisend für die Neubewertung und theoretische Durchdringung der zeichnerischen Produktion des Neoklassizismus, insbesondere des deutschen, waren die Arbeiten Werner Buschs, wie sein früher Aufsatz Der sentimentalische Klassizismus bei Carstens, Koch und Genelli, in: ders./ Reiner Haussherr/ Eduard Trier (Hg.), Kunst als Bedeutungsträger. Gedenkschrift für Günter Bandmann, Berlin 1977, S. 317–343. Grundlegend war ferner Robert Rosenblum, The International Style of 1800. A Study in Linear Abstraction, New York 1976. 34 De facto basierte die akademische Praxis nördlich der Alpen zumeist auf der Kopie nach Gipsabgüssen, was der Frage von Repetition und Wiederholung weitere Komplexität hinzufügt. Dieses Thema kann hier jedoch nicht weiterverfolgt werden.

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che Technik kann selbstredend nicht auf die Richtigkeit der Wiedergabe abzielen. Im Zentrum steht die im subjektiven Eindruck des Betrachters geborene Wesenhaftigkeit des Gegenstandes. Ausgehend von Carstens’ Ansatz erhielt das Falschzeichnen als eine Form des Abstrahierens und Symbolisierens in der deutschen Kunst Konzeptcharakter. Bewusster Verzicht auf eine korrekte Wiedergabe des Körperlichen und Perspektivischen sollte Symbolgehalt und allegorische Verweiskraft des Kunstwerks steigern und die unvoreingenommene, direkte Vermittlung von Gefühl und Empfindung verbürgen. Aneignung aus der Erinnerung wird zum neuen Unterscheidungsmerkmal zwischen ‚Nachmachung‘ und ‚Nachahmung‘. Das unmittelbare Abbild wird ersetzt durch die nachschaffende Gedächtnisleistung. Immermann begegnete Carstens’ zeichnerischem Werk nicht mehr an dessen originalem Entstehungsort in Rom, sondern nach dessen Musealisierung als Bestandteil der Weimarer Kunstsammlungen.35 Diese Ortsverschiebung, die auch eine temporale ist und ein verspätetes Erleben markiert, ist signifikant. Denn allein durch die Musealisierung kann der Prozess der Aneignung in Gang gesetzt werden, um den es Immermann ging. Der Dichter war umso mehr von Carstens angezogen, als er in dem 1798 verstorbenen Neoklassizisten einen Vorreiter jener „genialen Aneignung“ sah, die sich aus einer bewussten Absage an das Genie- und Originalitätsdenken des 18. Jahrhunderts entwickelt habe. Carstens ist prototypisch epigonal. Er habe „auf den Ruhm alles eigentlich originellen Producirens verzichtet“, und müsse daher als „der geist- und empfindungsvollste Nach-Denker, Nach-Fühler“ geehrt werden.36 Immermann konnotiert die Musealisierung von Carstens’ Nachlass dementsprechend positiv. Das Museum fungiert als Bildspeicher für zukünftige Aneignungsprozesse und Immermann hofft nur folgerichtig auf die baldige Zirkulation von Carstens’ so gespeichertem Werk durch Nachstiche. Carstens verkörpert somit Immermanns Überzeugung, dass Kunst immer an „eine abgelaufne große KunstEpoche“ anschließt. „In Carstens hat sich, wie mich dünkt, der Ausgangspunkt dieser Bestrebungen am reinsten dargestellt,“ lautet Immermanns Fazit. „Nachmals hat sich das System der Aneignung mannigfach gefärbt, auch wohl unter originellseynwollenden Formen verhüllt, ohne gleichwohl je aufgegeben worden zu seyn, und ohne dass es bisher der Kunst unsrer Tage gelungen wäre, einen andern, als einen abgeleiteten Charakter zu erringen.“37 Immermanns Perspektive auf das Epigonale der zeitgenössischen Kunst ist letztlich durch die Nazarener und die Düsseldorfer Malerschule vorgegeben, der eigentlichen Matrix für die Annäherung des Dichters an Carstens’ Werk. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf das Porträt zu werfen, das Wilhelm Schadow 1828 von Immermann malte (Abb. 1). Das Porträt macht mit dem Dichter auch das Problem epigonaler Schöpfung sowohl in deren intermedialer wie intertextueller Dimension zum Thema. 35 Zur intermedialen Bedeutungskonstitution bei Immermann vgl. Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 193–241. 36 Karl Leberecht Immermann, Die fränkische Reise (Herbst 1837), in: Robert Boxberger (Hg.), Immermanns Werke, Berlin 1883, Bd. 18/20 (Memorabilien 1–3), S. 4–97, hier S. 81. 37 Immermanns Tagebucheintrag, zitiert nach Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 195.

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Wilhelm Schadow, Karl Leberecht Immermann, Öl auf Leinwand, 1828 1

von übermalten urgemälden Als Ausgangspunkt für das Spiel der Palimpseste, das sich in Schadows Tondo entfaltet, mag uns die Schriftrolle in Immermanns Hand dienen. In fein geschwungenen Lettern gibt es sich als dessen soeben vollendetes Drama Kaiser Friedrich II. zu erkennen. Schadow setzt den Bezug zum Kaiserlichen in eine dem Barock entlehnte Pose um, die – mit üppig drapiertem Mantel und Lorbeerzweig angereichert – das traditionelle Herrscherbildnis zitiert. So tritt uns, begeisterte sich das Kunst-Blatt, ein „deutsche[r] Dichterheros“ entgegen.38 Nicht umsonst hatte Schadow in seiner Jugend Peter Paul Rubens’ Idealporträt des Julius Cäsar kopiert. Kaiser und Feldherr – der imperiale Eindruck färbt auf die Schriftrolle ab und lässt sie zu jenem Feldherrenstab werden, der Schadow als Requisit unzähliger Prinzen- und Königsdarstellungen des Berliner Rokoko zutiefst vertraut war. Man denkt sofort an Friedrich den Großen und die Verbindung von Stauferkaiser und Hohenzollernkönig scheint kaum zu weit hergeholt. Das Prinzip epigonaler Schöpfung setzt sich in der Aneignung eines anderen Dichterporträts fort, Johann Heinrich Tischbeins Schiller als Franz Moor, das ebenfalls auf ein berühmtes Drama, Die Räuber, re38 M., Gemäldeausstellung in Düsseldorf im August 1828, in: Das Kunst-Blatt 9/1828, H. 81, S. 321–324, hier S. 324 („Das Brustbild Immermanns“).

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kurriert.39 Immermann als biedermeierlicher Dichterkaiser entpuppt sich als facettenreiche Amalgamierung historischer und höchst anachronistischer Referenzen, welche den mittelalterlichen Leitfaden des 1194 geborenen Friedrich II. zu einem komplexen Geflecht von intertextuellen und interpikturalen Bezügen verwebt. Rollenspiele werden so multipliziert – ganz im Sinne von Immermanns Drama, das den Stauferkaiser ebenfalls nicht als geschichtliches Individuum, sondern als Projektionsfläche historischer Mythenbildung aufarbeitet. Immermanns Friedrich II. ist ein Kaiser aus vielen Helden. Er ist eine anachronistische Überblendung von Geschichtsbildern. „Friedrich ist keine historische Figur, sondern Medium der Koppelung von Geschichtsmythen, wie sie das nationale Gedächtnis bewahrt“, stellt Markus Fauser fest, „weshalb Immermann auch nicht Barbarossa wählt, sondern den Epigonen, der seine Bedeutung von Vorbildern herleitet.“40 Zugleich ist das Drama geprägt von einer intermedialen Aneignung der Düsseldorfer Malerschule, was das Zitatenwesen noch durch den Verstoß gegen Lessings Reinheitsgebot der Künste kontaminiert. Fruchtbar für unseren Zusammenhang ist nun insbesondere die Metapher von Friedrich II. als „übermaltes Urgemälde“: „Mir scheint, des Kaisers Herz glich einer Tafel Auf die ein frommer Maler still und fleißig Ein heil’ges Bild gemalt. Die Tafel aber Kam in die Welt, sie kam in viele Hände, Die pinselten darüber lose Sachen Mit mürben Wasserfarben. Malten viel Mythologie und Weltweisheit und Fabeln.“41 Schadows Porträt macht sichtbar, wie dieses Übermalen als Spiel mit Zitaten und Kopien zum Resonanzraum für die Ausbildung des Subjekts wird. Er tut dies, indem er die angeeignete Bildersprache krass gegen den Realismus der porträtierten Züge setzt. Im Zeitalter der Massenmedien und der positivistischen Geschichtswissenschaft musste dieser Gegensatz unweigerlich als bewusste Inszenierung gelesen werden. Das kritische Fiasko von Ingres’ Napoleonbildnis im Salon von 1806 war ein warnendes Beispiel, was passierte, wenn man das wohlbekannte Haupt eines Zeitgenossen in ein idealisiert-unzeitgemäßes Muster ornamentalisierter Herrschaftszeichen einzumontieren versuchte. Was in der mittelalterlichen Bronze eines Charlemagne noch möglich war, die perfekte Verschmelzung von zeitlichem und göttlichem Königskörper, war im Europa nach der Französischen Revolution zur Unmöglichkeit geworden.42 Schadow wusste dies. Immermanns barocke Pose ist darum genau dies: Pose. Adaption setzt ironische Distanz voraus, und der interne 39 40 41 42

Um 1806/1808, Öl auf Lwd., 91 x 71 cm, Schloss Bückeburg. Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 234. Zitiert nach Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 235 Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990; zu Ingres’ Napoleonbildnis zuletzt Susan L. Siegfried, Ingres. Painting Re-imagined, New Haven/London 2009, S. 262–289.

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Gegensatz von Historismus und Realismus markiert Bild wie Bildnis als eine auf sich selbst zurückgebogene Inszenierung. Mit eindringlich-eindrucksvoller Anschaulichkeit tritt uns aus der Mitte der angehäuften Referenzen die ungeschönte Physiognomie des Dichters entgegen: „Mein Freund Schadow hat mein altes schnödes Gesicht in Lebensgröße herrlich gemahlt“, schrieb dieser ganz beglückt an seinen Bruder Ferdinand am 27. Juli 1828. „Das Porträt ist ganz vortrefflich, und Du wirst Dich wundern, wie ein wahrer Künstler auch ein an sich hässliches Gesicht vortheilhaft aufzufassen gewusst hat.“43 Sorgen machte ihm allein „der Lorbeerzweig, mit dem Schadows überschätzende Freundschaft mich auf meinem Portrait bedacht hat“. Immermann befürchtete, wie er am 5. Oktober 1828 dem gemeinsamen Freund Julius Eduard Hitzig schrieb, dieser werde „vermuthlich zu vielen schlechten Witzen Anlaß geben, man wird ihn wie das Bild für Bestellung des Autors halten“. Hitzig konnte den Dichter jedoch beruhigen. Das Bildnis habe ganz Berlin entzückt, „und wer den gerade zur rechten Zeit eingegangenen Kaiser Friedrich gelesen, hat den Lorbeer wahrlich nicht mißdeuten können“.44 Für unseren Zusammenhang ist der Hinweis auf die autonome Entstehung des Porträts als eigenständige Schöpfung – und nicht als Auftragswerk – bedeutsam. Immermann hatte sein Drama Schadow gewidmet, und die malerische Antwort kann in diesem Sinne als Freundschaftsbild verstanden werden. Und doch ist diese Geste emphatisch selbstreferentiell. Die Repräsentation des Anderen wird zur Spiegelung des eigenen Selbst. Aneignung erfolgt zwischen Dargestelltem und Darstellendem, zweifach gebrochen durch die Persönlichkeits- und Werkebenen. Indem Schadow nämlich Porträt und Drama kurzschließt, wertet er das traditionell auf den unteren Rängen der Gattungshierarchie stehende Bildnis als historisches, da historisierendes Tableau auf. Das Kunst-Blatt nannte das Bild daher auch ein „wahrhaft historisches Porträt.“45 Die Kunstkritikerin Amalie von Helvig schloss sich diesem Urteil an. „Seinen Gegenstand zu historischer Bedeutsamkeit erhebend, [lasse Schadow] aus den Zügen des in kräftigstem Mannesalter stehenden Dichters eine Geistesfülle hervortreten (...), wie nur das Epos oder Trauerspiel vor unserer inneren Anschauung seine Helden belebt.“46 Das Tondo blieb im Besitz der Familie Schadow, bis es 1894 durch testamentarische Verfügung der Tochter des Künstlers, Sophie Hasenclever, als Stiftung in den Besitz der Städtischen Gemäldegalerie in Düsseldorf überging. Immermann hingegen wurde sich selbst erst in der Kopie eigen: „Sobald [das Bildnis von der Berliner Kunstausstellung] zurück ist“, teilte er Ferdinand mit, „laße ich hier eine gute Copie

43 Karl Leberecht Immermann an Ferdinand Immermann, 27. Juli 1828, in: Karl Leberecht Immermann, Briefe. Textkritische und kommentierte Ausgabe in 3 Bänden von Peter Hasubek, München/Wien 1978, Bd. 1, Brief Nr. 335, S. 660–665, hier S. 664. 44 Karl Leberecht Immermann an Julius Eduard Hitzig, 5. Oktober 1828, in: ebd., Brief Nr. 339, S. 670–672, hier S. 672; Hitzig an Immermann, 1. Januar 1829, Hasubek 1978 (wie Anm. 44), Bd. 3, Teil 1, S. 526. 45 Das Kunst-Blatt 1828 (wie Anm. 38). 46 Amalie von Helvig, geb. Freyin von Imhof, Ueber die Kunstausstellung zu Berlin im Oktober 1828 (Fortsetzung von H. 99, 1828), in: Das Kunst-Blatt 10/1829, H. 8, S. 29.

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von geschickter Hand davon nehmen, und sende sie der Mutter.“47 Am 21. Februar 1830 konnte er seinem anderen Bruder, Hermann, berichten, dass die Kopie nicht nur abgetrocknet und gefirnisst, sondern auch recht gut geworden sei, da Schadow „selbst die letzte Hand an diese Kopie gelegt“ habe.48 Seinen Abschluss fand dieser so ins Rollen gebrachte Reproduktionsprozess aber erst in der Entäußerung in den öffentlichen Raum. Als wohlfeiler kleinformatiger Stahlstich wurde Schadows Immermanninszenierung in die Maschinerie des Druckgraphikmarktes eingeschleust und so dem Personenkult übergeben.49 Durch die Abarbeitung an der Geschichte und durch das Zusammenspiel der Künste erstehen Schadows Individualstil und Immermanns Persönlichkeit in gegenseitiger Durchdringung. Obwohl uns am Ende beide Autoren in klaren originären Zügen entgegenzutreten scheinen, wird diese Anschaulichkeit dennoch letztlich als fragmentarisch und relational gekennzeichnet. Der Modalitätenwechsel umreißt scharfkantig eine merkwürdige Bruchstelle im Bild, die das Dargestellte als Aufführung inszeniert. Anders ausgedrückt, in dem Gegensatz zwischen Nachahmung, Zitat und mimetischer Präzision artikulieren sich Appropriation und Montage als moderne Prinzipien. Schadows damals viel Aufmerksamkeit erregender autobiographischer Roman Der moderne Vasari. Erinnerungen aus dem Künstlerleben machte die Konstruktion des Künstlers sowie des Künstlerselbst explizit zum Thema eines intermedialen sowie kollaborativen Projekts.50 Das Frontispiz verwandelt sein realistisches Porträt in ein überzeitliches Emblem (Abb. 2). Schadows Ego wird als Alter Ego konzipiert, dessen Bedeutung allegorisch konstituiert und zugleich aufgelöst wird. Zu dieser Zeit fast erblindet, war Schadow auf die Hände und Augen anderer angewiesen – auf die Hände seiner Frau Charlotte, der er den Text diktierte, und auf die Augen seines Schülers Julius Hübner, der die Illustrationen zum Buch ausführte. Selbstporträt und Porträt verschmelzen in einem kollaborativen Konstrukt, das zugleich Gedächtnisarbeit ist. Denn das 1854 im Holzstich reproduzierte Bildnis von Schadow beruhte auf einer Zeichnung, 47 Karl Leberecht Immermann an Ferdinand Immermann, 27. Juli 1828 (wie Anm. 44), Bd. 1, S. 664. 48 Karl Leberecht Immermann an Hermann Immermann, 21. Februar 1830, in: Hasubek 1978 (wie Anm. 44), Bd. 1, Brief Nr. 390, S. 812–814, Zitat S. 813. Das von Immermann bestellte Werk befindet sich heute in Marburg, Marburger Universitätsmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Öl auf Lwd., 67,5 x 56,5 cm. Interessanterweise wurde dabei nicht nur das Format verändert, was nun rechteckig ist, sondern auch die ikonographisch wie bildtheoretisch wichtige Schriftrolle, zusammen mit dem Lorbeer, weggelassen. Diese Veränderungen sind der Wirkung abträglich und lassen, trotz des ausdrucksvollen Gesichts, das Kopierte spürbar werden. 49 A. Terlings nach Wilhelm Schadow, Karl Leberecht Immermann, Stahlstich, 19 x 14,5 cm, Stadtmuseum Düsseldorf, Inventarnummer D 2133. 50 Wilhelm von Schadow, Der moderne Vasari. Erinnerungen aus dem Künstlerleben, Berlin 1854. Für eine ausführliche Analyse vgl. Cordula Grewe, Portrait of the Artist as an Arabesque. Romantic Form and Social Practice in Wilhelm von Schadow’s The Modern Vasari, in: Intellectual History Review 17/2007, H. 2, S. 99–134 sowie dies., The Künstlerroman as Romantic Arabesque. Parody, Collaboration, and the Making of „The Modern Vasari“ (1854), in: Catriona MacLeod/ Charlotte Schoell-Glass/ Véronique Plesch (Hg.), Elective Affinities. Testing Word and Image Relationships, Amsterdam/Atlanta 2009, S. 77–97.

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2 Hugo Bürkner nach Julius Hübner, der Alte, Holzstich, 1854

die Hübner gut zwanzig Jahre zuvor, 1837, angefertigt hatte und zwar als Vorlage für ein Historienbild des Trauernden Hiobs und seiner Freunde. Das Frontispiz zu Schadows autobiographischer Novelle wird so zum ultimativen Emblem epigonaler Poetik und epigonaler Kunst.

zur konstitution des subjekts im zitat Diese Konstitution des Subjekts durch das Zitat eines im Kollektivgedächtnis verankerten Bildschatzes ist ein Kernpunkt der historistisch-romantischen Malerei in Deutschland. Vielleicht verkörpert kein Gemälde dieses Prinzip programmatischer als Johann Friedrich Overbecks 1840 vollendeter Triumph der Religion in den Künsten

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3 Johann Friedrich Overbeck, Triumph der Religion in den Künsten, Öl auf Leinwand, 1840

(Abb. 3). Viel ließe sich über dieses Bild sagen, das der linkshegelianische Kritiker Friedrich Theodor Vischer mit solcher Eloquenz verrissen hat, dass er es ungewollt unsterblich machte.51 Trotz frappanter Unterschiede in Stil, Thema und Zielsetzung weist Overbecks monumentale Leinwand höchst aufschlussreiche Parallelen zu Schadows Immermannporträt auf. Overbecks Triumph der Religion in den Künsten ist ein wahres Paradebeispiel des romantischen Epigonentums. Das Bild lebt von der Appropriation der Renaissance, Albrecht Dürers, aber vor allem Raphaels, den Overbeck in Komposition und Malweise kopiert. Die Versammlung vorbildlicher Meister aus Mittelalter und Renaissance als eine Art sacra conversazione unterstreicht das Postulat der Vergangenheitsaneignung. Das Ergebnis ist von gläserner Glätte, deren scheinbar ungestörte Oberfläche jedoch rasch den Blick auf einen tiefgehenden konzeptionellen Zwiespalt frei gibt. Dessen Bruchstelle verläuft zwischen der Einheitlichkeit der weitgehend raffaelesken Stilkopie und der Vielfalt der als ebenbürtige Modelle beschworenen Künstlerpersönlichkeiten, bei denen es sich zudem um penibel recherchierte, weitgehend authentische Porträts handelt. Diese Spannung zwischen Stileinheit und Modellvielfalt betont letztlich das zugleich Spezifische und Willkürliche von Overbecks Wahl. 51 Friedrich Theodor Vischer, Der Triumph der Religion in den Künsten von Friedrich Overbeck, in: Deutsche Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst 4/1841, S. 109–128; im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in ders., Kritische Gänge, Tübingen 1844, Bd. 2, S. 163–206.

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Indem der Nazarener unter den zur Verfügung stehenden religiösen Stilen die mit seiner Befindlichkeit korrespondierende Ausdrucksform favorisiert, schafft er eine Korrespondenz zwischen Nachgeahmtem und Nachahmer, die zur Konsolidierung seiner eigenen Persönlichkeit dient und zugleich einen Stil schafft, der den Zeitgenossen zur Aneignung übergeben wird. In der Tat war die Leinwand als anschauliches Lehrbild für die dem Städel angegliederte Kunstschule konzipiert. Nicht umsonst hat sich Overbeck selbst in dieses Bild hineingemalt. Er entsteht, und mit ihm sein Stil, aus der bewussten und vom Betrachter erkannten Stilkopie. Der historistische Bruch mit der Tradition sowie die Entstehung eines Reflexionsraums zwischen Kunst und Geschichte sind für Overbeck ebenso konstitutiv wie für Immermann und Schadow. Dies ist immer wieder als Zeichen der Krise gedeutet worden, ganz im Sinne des Linkshegelianers Friedrich Theodor Vischer, der das Bild wegen seines Kunstgeschichtscharakters als genuin modern, allerdings modern im negativen Sinne bewertet hat.52 Aus Sicht des Epigonalen ist diese Krise aber auch Ausdruck neuer Freiheit. Denn erst aus der Distanz wird Geschichte, und zwar zum ersten Mal, in Form von Wissen frei verfügbar. Zugleich wurde Geschichte selbst als subjektive Größe entdeckt. Subjektiv, da Geschichte immer erst im Geschichtsbild, sei dies nun geschrieben oder gemalt, Kohärenz erlangt. Immermann bestand nachdrücklich auf der subjektiv-fiktiven Qualität von Geschichte, die stets nur als Geschichtsschreibung zur Verfügung steht. Sogar der Vater der positivistischen Historik, Leopold von Ranke, hatte ganz und gar nicht positivistisch auf diese kreativunwissenschaftliche Komponente verwiesen und der Geschichtsschreibung einen doppelten Charakter zugeschrieben, einmal als Kunst, einmal als Wissenschaft.53 Overbecks Leinwand steht damit in einer 1840 fest etablierten Tradition, eine produktionsästhetische Parallele zwischen Poesie und Geschichtsschreibung zu ziehen. Diese Parallele ermöglichte wiederum Immermann, Literatur und Literaturwissenschaft als ähnliche poetische Funktionen miteinander zu verschränken. So wird die Reflexion auf das eigene Tun, auf die Bedingungen des Mediums, zum festen Bestandteil des kreativen Akts. Die sorgfältig recherchierte Porträthaftigkeit der bei Overbeck versammelten Künstlerpersönlichkeiten konkretisiert das Interesse an der Subjekt- und Selbstkonstitution im Akt der Aneignung.54 Eine Zeichnung von 1812 verkörpert, was Immermann später als Epigonentum begrifflich fassen sollte (Abb. 4). Sie zeigt zwei Galionsfiguren des deutschen Nazarenertums, Johann Friedrich Overbeck und Peter Cornelius, die sich auf dem Blatt gegenseitig porträtiert haben. Trotzdem ist die Zeichnung wie aus einem Guss. Diese anempfindende Einfühlung verleugnet programmatisch die eigene Handschrift und postuliert damit das Kollektiv als Grundlage individuellen Schaffens. 52 Vischer 1844 (wie Anm. 52), S. 169. 53 Leopold von Ranke, Idee der Universalhistorie (1831 oder 1831/32), in: ders., Vorlesungseinleitungen. Hg. von Volker Dotterweich and Walther Peter Fuchs, München 1964, S. 72– 89. 54 Für eine ausführlichere Diskussion der Zeichnung sowie der darin zum Ausdruck kommenden Idee einer Nachfolge, die Religiöses und Künstlerisches miteinander verschränkt, vgl. Grewe 2005 (wie Anm. 20).

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4 Johann Friedrich Overbeck und Peter Cornelius, Gegenseitiges Doppelbildnis, Bleistift, 1812

Zugleich kommt es in dem Doppelporträt zu einer Serie höchst komplexer interpikturaler Überlagerungen, welche die Idee des Kollektivs gleich zweifach auf das historische Gedächtnis ausdehnen. Zum einen rekurriert die Zeichnung auf das berühmte Selbstbildnis Raphaels aus dessen Fresko der Schule von Athen, in dem sich der Renaissancekünstler neben einem bis heute nicht eindeutig identifizierten Malerkollegen verewigte. Das vatikanische Doppelporträt war durch unendliche Nachstiche bestens bekannt, so dass der Wiedererkennungseffekt gesichert war. Die Konstitution des Selbst durch die Stil- und Motivkopie dieses Freundschaftsbildes der Renaissance war jedoch bereits die Wiederholung einer Wiederholung, eine repetitive Repetition, die Nachfolge als Programm fortschreibt. Die Zeichnung von 1812 dupliziert das Doppelporträt von Overbeck und Franz Pforr aus dem 1808 begonnenen Historiengemälde Der Einzug Christi in Jerusalem (Abb. 5). Da Overbeck dieses frühe Hauptwerk, an dem er bis 1824 arbeiten sollte, in Wien begann, war das zentrale Motiv des Doppelporträts aus zweiter Hand gewonnen. Am Anfang dieser komplizierten Nachahmungsfolge stand die Reproduktion. Das Blatt von 1812 ist somit Potenzierung einer bereits zu Beginn des Lukasbundes und damit als konstitutiv aufzufassenden Aneignung. Durch die verschiedenen Überlagerungen entsteht ein serieller Charakter, der Nach-Ahmung und Nach-Leben in verschiedenen Realitätsebenen vorführt. Denn als Cornelius den Platz neben Overbeck im Bild einnahm, lag Pforr bereits im Sterben. Kunst und Lebenswirklichkeit

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5 Johann Friedrich Overbeck, Selbstporträt mit Franz Pforr und Lukasbrüder, Detail aus Einzug Christi in Jerusalem, Öl auf Leinwand, 1824

werden so auf das Engste zusammengeführt, wenn auch nicht ohne eine makabere Komponente. Nachfolge bedeutet auch Austauschbarkeit. Das Gesetz der Appropriation ist die Substitution. Individualität ist eine Funktion, die das Rollenspiel des Nachfolgers bestimmt. Unverwechselbar ist das Selbst nur an den fragilen Bruchstellen, die in diesem Prozess der Verdoppelungen und Spiegelungen aufbrechen.

moderne als allegorie: zur materialität als infra-mince zwischen transzendenz und immanenz Hiermit komme ich zu einer abschließenden Beobachtung, die dem bereits Gesagten eine letzte Nuance hinzufügt. Denn es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Epigonentum eines Immermann und seiner nazarenischen Variante. Bei Immermann erfolgt die Formierung des Selbst immer und ausschließlich aus der Aneignung der Form heraus.55 Anders gesagt, gibt es keine identitätsstiftende Instanz jenseits der des Materials – also jenseits der Kunst, jenseits des Textes. Die Nazarener hingegen verbinden das Stilzitat weiterhin mit einem absoluten Außenbezug; ihr archimedischer Punkt ist die personale Gottheit des Christentums. Zwar ist diese Bezugsstelle letztlich abwesend, da absolut transzendent, doch wird sie als mögliche Präsenz, als potentieller Einbruch in die Wirklichkeit, als sich am Ende aller Tage völlig enthüllende Gegenwart wenigstens hypothetisch als real gesetzt. In diesem Sinne ist das Motivzitat oder die Stilkopie nur bedingt willkürlich. In der Tat besteht der tiefere und eigentliche Sinn des Triumphs der Religion in den Künsten gerade darin, das Willkürliche letztlich mit einer Grenzlinie zu umziehen. Das Bruchstück ist nie nur 55 Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 37–38.

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ästhetisches Zitat, sondern immer auch Reliquie im religiösen Sinne.56 Nur die ewig gestrigen Vertreter unseres Faches, die störrisch an dem Paradigma der Kunstfrömmigkeit festhalten, können diesen Unterschied übersehen. Karl Leberecht Immermann jedenfalls übersah ihn nicht. Nach einem Jahrzehnt der engsten Freundschaft kam es zum Bruch zwischen Immermann und Schadow. Auch hier beschwor der Dichter die Metapher des übermalten Bildes. So warf er Schadow vor, nach seiner zweiten Italienreise Anfang der 1830er Jahre mit katholisch übertünchtem Geist zurückgekehrt zu sein. Man mag Schadows Frömmigkeit nun bewerten wie man will. Auf jeden Fall belegt die Malerei der Düsseldorfer Malerschule, zumindest deren nazarenischer Fraktion, ganz eindeutig das Eingeschriebensein des Zitaments in den göttlichen Heilsplan. Wenn uns Schadow also im Zentrum von Eduard Bendemanns berühmtem allegorischen Historiengemälde Die gefangenen Juden in Babylon als verstummter Harfner begegnet, so ist sein imposantes Porträt innerhalb dieses sanften, naturalistisch umgeformten Raphaeltraums als emphatische Bejahung eines religiös begründeten Epigonentums zu verstehen.57 Der Blick zurück auf den romantischen Historismus der Nazarener und die Schreibtheorien Immermanns durch das Objektiv der Postmoderne lässt das Moderne ihres Allegorieverständnis – oder sollte man sagen, ihr Verständnis der Moderne als Allegorie? – in scharfen Umrissen hervortreten. Beiden ist das Bewusstsein einer unüberwindbaren Distanz eingeboren, einer Distanz, die sich einerseits als Bruch mit dem Erbe der Vergangenheit, andererseits als Entfremdung zur eigenen Gegenwart zeigt. Charles Taylor hat dies als Zustand von disembeddedness charakterisiert.58 Es ist kein Zufall, dass Walter Benjamin seine Allegorietheorie auch im Rückgriff auf romantische Denker wie Friedrich Schlegel, Joseph Görres und Friedrich Creuzer entwickelte.59 Benjamin wird derzeit in der Forschung so überstrapaziert, dass ich auf 56 Zum Begriff der Reliquie vgl. Werner Telesko, Friedrich Schlegel und die Konzeption der Kunst als ‚Reliquie der Göttlichen Offenbarung‘. Ein Beitrag zur Problemgeschichte des frühen Historismus, in: Kunstjahrbuch der Stadt Linz (o.Bd.-Nr.)/1996, S. 10–24, der allerdings noch aus der Perspektive der Säkularisierungsthese argumentiert. Eine erste theologische Ausdeutung der spätromantischen Kunstreliquie findet sich bei Cordula Grewe, Italia und Germania. Zur Konstruktion religiöser Seherfahrung in der Kunst der Nazarener, in: Paolo Chiarini/ Walter Hinderer (Hg.), Rom – Europa. Treffpunkt der Kulturen 1780–1820, Würzburg 2006, S. 401–425. Für eine umfassende Theorie der nazarenischen Religionsästhetik vgl. demnächst Grewe 2011 (wie Anm. 12). 57 Vgl. dazu Alexander Bastek/ Michael Thimann (Hg.), „An den Wassern Babylons saßen wir“. Figurationen der Sehnsucht in der Malerei der Romantik. Ferdinand Olivier und Eduard Bendemann, Ausst.-Kat. Museum Behnhaus/Drägerhaus Lübeck 2009/10, Petersberg 2009; zur religiösen Ausdeutung von Bendemanns Gemälde sowie der Bedeutung des Schadow-Porträts bes. Cordula Grewe, Christliche Allegorie und jüdische Identität in Eduard Bendemanns „Gefangene Juden in Babylon“, in: ebd., S. 41–56. 58 Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge/Mass. u. a. 2007, S. 146–158. 59 Die Problematik der Allegorie und die mannigfachen Verbindungen zwischen Frühromantik, Spätromantik und Benjamins Neuformulierung können hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Eine komprimiert-nuancierte Diskussion von Benjamins Allegoriebegriff liefert Burkhardt Lindner, Allegorie, in: Michael Opitz/ Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamins Begriffe, Frankfurt am Main 2000, Bd. 1, S. 50–94.

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diese Verbindung hier nicht extensiv eingehen möchte. So sei hier allein auf eine grundlegende Übereinstimmung zwischen dem romantischen und dem Benjaminschen Denken verwiesen; beiden liegt die Einsicht eines gewollten „Zusammenklebens“ von Bedeutendem und Bedeutetem in der Allegorie bzw. dem rebushaften BildSchriftzeichen zugrunde. Dieser Vorgang setzt wiederum voraus, dass das Bedeutende immer schon zerstückelt, fragmentiert, anamorphisiert, entseelt und aus dem Kontext herausgerissen ist.60 Die Nazarener wissen dies und suchen ihr Leiden an dieser Grundbedingung der Moderne utopisch aufzuheben, indem sie der Materialität des Kunstwerks den Gestus auf eine dahinter liegende Transzendenz einzuschreiben suchen. Auch Immermann leidet an dieser Erkenntnis, tritt aber die Flucht nach vorne in die Immanenz des Materiellen an. Damit radikalisiert er das allegorische Zitament der Romantik. Immermanns Auffassung von Epigonalität lässt sich damit durchaus mit den Kriterien bestimmen, die Stephen Melville für die postmoderne Allegorie aufgestellt hat: „Für den traditionellen Allegorist ist die Allegorie eine Praxis der kontinuierlichen Metapher: ‚das Staatsschiff‘ ist, für sich genommen, eine Metapher, aber wenn wir diese Metapher über die gesamte Oberfläche der Leinwand oder die ganze Länge eines Gedichts fortsetzen (…), dann werden wir eine Allegorie haben – ein bildliches oder poetisches Ganzes, das überall und beständig etwas anderes bedeutet als die Oberfläche buchstäblich zeigt.“61 Die Duplizität der Allegorie bleibt in ihrer postmodernen Umwandlung erhalten, erhält jedoch eine neue Qualität. In den Werken der Metro Pictures-Künstler funktioniert Allegorie „als etwas, das vielleicht in derselben Weise vorangetrieben wird nicht durch das Metaphorische, sondern durch eine Art fortwährendes Wortspiel, wobei sich jedes Wort oder Bild explosionsartig von sich selbst hinweg öffnet.“62 Während so die Möglichkeit diskursiver Signifikation aufrechterhalten wird, kommt es doch zu einer entscheidenden Verschiebung, da der eigentliche Grund der Bedeutungsproduktion von einer außerhalb liegenden Autorität rein in die Immanenz des Materials verlegt wird. Auf diese Weise schreibt die postmoderne Allegorie das modernistische Gebot der Mediumspezifität fort, ohne jedoch, wie Melville ausdrücklich betont, dessen präsentische Funktion zu übernehmen. Nicht überraschend schlussfolgert Melville, „die reinsten Werke postmoderner Allegorie sind vielleicht Sherrie Levines fotografische Reappropriationen vorhergehender Fotografien in ihrem nackten Geltendmachen der absoluten Priorität von Wiederholung und Vermittlung über Originalität und Präsenz.“63 Vielleicht könnte man diese allegorische Umschreibung der Allegorie auf die Formel bringen, dass das Medium nicht gereinigt wird (wie bei Kant), sondern verabsolutiert (wie bei Immermann). „Das Werk selbst ist relational geworden: die Struktur, die wir allegorisch genannt haben, schneidet in das Werk selbst und ist nicht einfach eine Frage, was oder wie das Werk bedeutet: es 60 Ebd., S. 67. 61 Stephen Melville, Postmodernism and Art. Postmodernism Now and Again, in: Steven Connor (Hg.), The Cambridge Companion to Postmodernism, Cambridge 2004, S. 82–96, hier S. 86. 62 Ebd. 63 Melville 2004 (wie Anm. 62), S. 87.

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strukturiert, was es ist, was es ist als Werk.“64 Mediumspezifität wird somit zur Vermittlerfunktion.

schlussakt Wie Markus Fauser zeigen konnte, basierte der dem Epigonentum eingeschriebene Subjektivitätsbegriff auf der Erkenntnis, dass sich das moderne Selbst nur im und durch das historische Material entfalten kann, dies wiederum aber eine freie Tätigkeit ist. Intertextualität ist die Grundlage einer Poetik des Epigonalen. Es gibt kein Selbst jenseits der kopierten Existenz.65 Wie aber kann Epigonalität zur Matrix von Kreativität werden? Die Antwort darauf liegt, wie Fauser deutlich herausgearbeitet hat, in der Ausdifferenzierung von zwei Ebenen. Die erste Ebene ist die Ebene der Struktur, die durch Selbstreferenz gekennzeichnet ist und auf der Texte intertextuell und Bilder interpiktural gelesen werden müssen. In seiner Overbeck-Kritik charakterisiert Vischer diesen Prozess als ein Rückbiegen auf sich selbst. Die zweite Ebene ist die Ebene des Dargestellten, die einen unteren, aber unmittelbareren Bereich von Beobachtung und Wahrnehmung erschließt. In diesem unteren Bereich der Darstellung lassen sich nun, wie Fauser feststellt, „Phänomene der Subjektivität beobachten, auf dem oberen Bereich beobachtet die Subjektivität sich selber und reflektiert ihre eigene Abhängigkeit. Dort wird dann die Differenz markiert, die das Kunstwerk von anderen unterscheidet, und dort wird auch das Subjektivitätskonzept greifbar, mit dem sich die Poetik des Epigonalen von anderen Schreibweisen abgrenzt. So bleibt auch die Poetik des Epigonalen ein Medium der Selbstkonstitution.“66 Epigonalität bedeutet in diesem Sinne, um hier auf Roland Barthes und das Thema des folgenden Abschnitts in diesem Sammelband, Autorfunktion und Kunstgeschichte, zu rekurrieren, ein paradoxes Miteinander von Tod und Wiedergeburt des Autors. Als Epigone ist der Künstler immer zugleich auch Progone, immer sowohl Autor wie Leser. Damit kommen wir zu meiner Eingangsthese zurück, dass die Kopie einen Raum bildet, in dem sich das moderne Selbst aus der Masse der zirkulierenden Bildern, d.h. aus dem kollektiven Gedächtnis heraus und in der Auseinandersetzung mit diesem konstituiert. Es gibt kein Jenseits der Selbstkonstitution, kein vollständiges Auflösen im Medium, eine Idee, die als eine Art postmoderner Mythos die Lesarten der October-Kritiker durchgeistert. Auch wenn das Konzept der Epigonalität der Vorstellung absoluter Originalität mit einer Form von Autorenfunktion entgegentritt, so schließt sie doch zugleich die Möglichkeit aus, es gäbe eine Kunst, beispielsweise Shermans postminimalistische Porträts Untitled Film Stills, wo „es nichts hinter dem Bild zu wissen werden gibt, das Sherman darin beharrt (es ist, multipliziere, ihr Bild, von ihr);

64 Ebd., S. 88. 65 Diese Idee wird schon prägnant im Titel von Fauser 1999 (wie Anm. 30). 66 Fauser 1999 (wie Anm. 30), S. 35.

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eine Fotografie zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was es bedeutet, dass das Bild von Sherman sei – that the image is of Sherman.“67 Die Doppelbedeutung von „of“ – aus / von – kann aber auch so gelesen werden, dass der aktive Eingriff des künstlerischen Subjekts stets spürbar bleibt. Es gibt immer ein auslösendes Moment, etwas, das hinter dem Bild zu wissen übrig bleibt. Der Abdruck menschlicher Kreativität kann zwar reduziert, kritisch gebrochen, historisch aufbereitet, medial absorbiert und in die Zirkulation massenhafter Bildformen eingeschrieben werden; er kann aber nie völlig ausradiert, vernichtet oder unsichtbar gemacht werden. Diese Behauptung meinerseits lädt zu einer letzten, zweifellos gewagten Anwendung von Kants Geniebegriff als Akt der Selbstgesetzgebung ein. Denn man könnte gerade die reflexive Aneignung und Umformung existierender Machtund Repräsentationsstrukturen ganz im Kantschen Sinne als autonomen Akt der Emanzipation sehen, der im so geschaffenen Objekt (auch wenn dieses nicht mehr den zeitgebundenen ästhetischen Schönheitsnormen des 18. Jahrhunderts entspricht) neue Regeln aufstellt. Die Appropriation der appropriation art lässt sich hier als weiteres unterstützendes Argument heranziehen, wenn man diese als Fortsetzung einer bilddiskursiven Gesetzbildung im Kantschen Sinne begreift. Als Alternative zu der Ausmerzung des Originalitätsbegriffs, wie ihn die Ideologiekritik von Rosalind Krauss verlangt, möchte ich somit dessen Modifikation vorschlagen, die Originalität jenseits einer auf essenzielle Totalität abzielenden Vorstellung als Arbeits- und Denkbegriff weiterhin nutzbar macht.

67 Melville 2004 (wie Anm. 62), S. 89.

duchamp als wissenschaftler seine notizen über das ‚infra-mince‘ (1934/35–1945)

antje von graevenitz Als Marcel Duchamp Denis de Rougement 1945 in einem Interview anvertraute, der Begriff „infra-mince“ interessiere ihn, weil er der naturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgangen sei, und erklärte, „ich habe mich für das Wort hauchdünn entschieden, vor allem weil es ein menschliches, emotionales Wort und kein präzises labortechnisches Maß ist“, und weiter ausführte, „es ist eine Kategorie, mit der ich mich seit zehn Jahren beschäftige. Ich glaube, dass wir mit Hilfe des infra-mince von der 2. in die 3. Dimension gelangen können“ (im Original: „Je crois que par l’infra-mince on peut penser de la deuxième à la troisième dimension“) – wechselte er da seine Rolle als Künstler mit der eines Wissenschaftlers und sogar eines Naturwissenschaftlers?1 Ein Künstler zu sein verpflichtet, wenn auch nicht per se zum Malen oder zur Bildhauerei, jedoch zum Umgang mit visuellem Material. Wollte Duchamp davon Abstand nehmen? In dem angegebenen Zeitraum, 1935–1945, nahm er immerhin weiter an Ausstellungen teil. Ein Künstler wollte er bleiben, aber offensichtlich einer, der die Grenzen der Rolle erweitern wollte und das bereits für lange Zeit. Aber als Wissenschaftler, sogar Naturwissenschaftler, hatte er sich vor 1934/35 nicht betätigt. Dafür gibt es an sich feste Regeln. Ein Wissenschaftler muss nicht nur Hypothesen aufstellen, sondern seine Methode, die Resultate seiner Experimente und die anschließenden Analyse überprüfbar machen. Dazu braucht er logische Argumente. Sollte das nicht der Fall sein, ist er womöglich nur ein Pseudo- oder Para-Wissenschaftler. Dieser gibt nur wissenschaftliches Arbeiten vor, obwohl er sich jeglicher Verifikation seiner Resultate entzieht und möglicherweise unhaltbare Hypothesen aufgestellt hat, die eher zur Metaphysik oder zur Literatur zählen können. Ferner gibt es den Proto-Wissenschaftler, der sich die größte Mühe macht, ein Wissenschaftler zu sein, dessen Arbeit aber allenfalls als vorläufig bewertet wird. Sollte sich Duchamp als Wissenschaftler einschätzen wollen, welche Art sollte er für sich wohl geltend gemacht haben? In der ihm eigenen, einzelgängerhaften Weise hatte sich Duchamp schon früh mit der Imagination geistiger Prozesse in Bild, Objekt und Text beschäftigt. Nicht nur Kandinsky suchte also parallel zur Wissenschaft nach para-wissenschaftlichen Regeln für das Geistige, sondern auch Duchamp seit ca. 1912, vermehrt in seinen Texten über die Arbeit am Großen Glas und in Notizen, die er später in Schachteln veröffent1

Interview von Denis de Rougement mit Marcel Duchamp (1945) in: Preuves. Paris XVIII, no. 204 S. 46; Marcel Duchamp, notes. Preface Pontus Hulten, translated and editied by Paul Matisse. Centre National d’Art et de Cultures Georges Pompidou, Paris 1980, Nr. 1–46; Marcel Duchmap, notes, foreword by Paul Matisse, preface by Pontus Hulten. Paris 1999. o S. (Der Wortlaut der Notiz kehrt auf einem Werk von Duchamp wieder, vgl. Anm. 21).

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lichte und so als Restbestandteile und Konzepte für Kunstwerke erkannte. Insgesamt betrachtete er diese Schachteln ebenfalls als Kunstwerke. Wie könnte es anders sein in einer Zeit, die sich so stark mit dem Bewussten und dem Unbewussten beschäftigte, sowie mit der unwillkürlichen und der willkürlichen Imagination. Auch Duchamp wandte sich diesem Thema zu. Er fand in der Tat etwas, das der Wissenschaft bis heute entgangen ist, eine wüstenähnliche Differenzzone als Intervall zwischen der Interaktion zweier Zustände, der Duchamps ganze Aufmerksamkeit galt und die er „infra-mince“ oder „infra mince“ nannte. Es ist dieses Beinahe-Nichts, das zwischen Etwas entsteht. Dieses Dazwischen, im hauchdünnen Abstand von zwei Dingen, kann zwischen Schein und Sein entstehen. Im Wörterbuch wird man dazu nicht fündig. Einzeln nachgeschlagen ergibt das Wort „infra“ in Thibauts Wörterbuch der französischen und deutschen Sprache von 1897 und das Wörterbuch von Sachs-Villate von 1911 die Vorsilbe „über“, – „mince“ dagegen die Bedeutung von „dünn“, „schmal“ und „unbedeutend“.2 Es scheint sich also um einen Neologismus für das kaum noch nachweisbare Volumen des FastNichts zu handeln, den möglicherweise Duchamp allein bildete.3 Duchamp definiert den hybriden Begriff „infra-mince“ nicht in zusammenfassender, abstrakter Weise, sondern anhand von 46 Notizen, die 1968 postum von seiner Frau Teeny seinem Stiefsohn Pierre Matisse als Paket übergeben wurden, das bis 1980 unbeachtet im Centre Georges Pompidou verblieb, bis es Pontus Hulten endlich gemeinsam mit Paul Matisse veröffentlichte.4 Darunter findet sich als Nr. 16 das „infra-mince“ als eine Allegorie des Vergessens. Vermutlich ist die Nummerierung der Notizzettel nicht von Duchamp selbst überliefert, sondern seinem Herausgeber Pierre Matisse zu verdanken. Dennoch scheint es programmatisch zu sein, dass gerade die erste Notiznummer das Prinzip angibt: „Das Mögliche ist ein infra-mince“ (Abb. 1).5 In der Form handelte es sich um einen Fetzen Papier, um etwas unsäglich Nichtiges, wie Duchamp es schon lange vor 1934/35, bereits 1913 für Notizen über „possible“ benutzt und immerhin doch als wichtig und anscheinend notwendig aufgehoben hatte.6 Viele seiner zahlreichen Notizen entsprachen in etwa Gleichungen. D.h. im allgemeinen Sinne: Dies = Das. Das Mögliche ist also etwas Hauchdünnes, ein Intervall, das man eigentlich kaum wahrnehmen kann. Mit anderen Worten, das „infra2 3 4 5 6

M. A. Thibaut, Wörterbuch der französischen und deutschen Sprache, Braunschweig 1897, bzw. Karl Sachs/ Césaire Villatte, Enzyklopaedisches französisch-deutsches und deutschfranzösisches Wörterbuch, Berlin-Schöneberg 1911. Jean Clair, Duchamp et la photographie. Essai d’analyse d’un primat technique sur le développement d’une œuvre, Paris 1977, S. 102; Yoshiaki Tono, Duchamp und „infra-mince“, in: Marcel Duchamp, Ausst. Kat. Museum Ludwig Köln 1984, S. 65–68. Paul Matisse (Hg.), Marcel Duchamp, notes. Présentation et traduction Paul Matisse. Préface par Pontus Hulten, Paris 11980, Paris 21999, Nr. 1–46. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 1. Handschriftliche Notizen von Duchamp „Possible“ (1913) in der Collection Centre Georges Pompidou, 1958 von dieser Institution hrsg. in einem typographischen Erstdruck. Vgl. die Analyse von Sandro Zanetti, Handschrift, Typographie, Faksimile – Marcel Duchamps frühe Notizen – „Possible“ (1913) in: Davide Giuriato/ Stephan Kammer (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Basel/Frankfurt am Main 2006, S. 203–238, besonders S. 219ff.

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1 Marcel Duchamp, inframince, Notiz 1. Le possible est/ un infra mince (..., 1913/34

mince“ ist möglich, aber so genau weiß man es nicht. Nehmen wir also an, es könnte existieren. Die Gleichung ist eine Hypothese. In der Folge blieb es nicht bei solcher Abstraktion, sondern Duchamp notierte sich auf weiteren Zettelchen einige Beschreibungen für sinnlich wahrnehmbare, dynamische Momente.7 Zumeist gibt er dabei die vollen Sätze auf und setzt statt eines 7

Zitiert nach Dalia Judowitz, Unpacking Duchamp. Art in Transit, Berkeley 1998, S. 213. Duchamp weist auf ein „Intervall“, das auf einer Projektionsfläche in einem weiteren Sinne die beiden Bedeutungen männlich und weiblich enthielte.

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abgeschlossenen Verbes das Gerundium ein: Nicht ist, sondern seiend. Das Zeitliche ist dabei im Satzfragment angesprochen. Somit passen Papierfragment und Satzfragment zueinander. Beispielsweise sei das, was zwei Kordhosenbeine durch Aneinanderreibung entstehen ließen, ein „infra-mince“.8 Meint er die Reibungswärme oder die Vermischung zweier Sphären mithilfe gegenseitiger Durchdringung, mögliche Funken, die hin- und herspringen, oder suggeriert Duchamp, dass sich auch zwei Hosenbeine berühren und quasi zu lieben scheinen nach dem Modell des traditionellen Begriffes einer ‚chymischen Hochzeit‘? Sollte auch beim „infra-mince“ ,Eros, c’est la vie‘ als Devise des humorvollen Intellektuellen gelten? Der Begriff kommt in seinem Werk ein einziges Mal wörtlich vor, sozusagen als erste Veröffentlichung, nachdem er bisher nur Notizen verfasst hatte. Im März 1945 gestaltete er für den Umschlag der Zeitschrift VieW die Vorder- und die Rückseite (Abb. 2).9 Dazu gibt es eine Vorgeschichte. Er hatte mit dem nach New York emigrierten Protagonisten des Surrealismus, André Breton, beim Abendessen eine Flasche Rotwein geleert und dazu geraucht. Aus diesem Anlass ließ er später eine Flasche so fotografieren, als wäre aus der leeren Flasche eine kleine Rauchwolke entwichen. Es ist der Rauch, auf den es ankommt, ein Beinahe-Nichts. Möglich ist die Assoziation mit dem Geist aus der Flasche, der aus dem Behälter von Spirituosen als Spirit entweicht. Auch die Franzosen kennen in ihrer Sprache die Metapher vom Geist aus der Flasche. In diesem Falle scheint aber die Verbindung zum Namen der Zeitschrift entscheidend. Duchamp schreibt bei dem Wort für Blick das ‚W‘ mit einem Grossbuchstaben, eine Tatsache, die in fast allen Katalogen übersehen wurde. Es ergibt sich nun in ein und demselben Wort auf kryptische Weise dreierlei: das französische Wort für ‚vie‘ (das Leben), aber auch das Englische ‚we‘ (wir) und W für ‚Double You‘. Da Duchamp derlei Wortspiele aus Homophonen liebte, die er aus Stéphane Mallarmés und Raymond Roussels literarischem Werk kannte, kann man sich selbst danach auf die Suche machen.10 Es ergibt sich aus Bildmotiv und Wort folgende Assoziationskette: Blick, Leben, Wir, zweimal Du und der Geist (aus der Flasche). Die rückseitige Mitteilung erklärt dazu: „Quand la fumé de tabac sent aussi de la bouche qui exhale, les deux odeurs s’épousent par infra-mince.“11 In seinen Notizen kehrt der Satz auf den Zetteln Nr. 11 und 33 wieder, wohl ein Zeichen dafür, wie wichtig dem Autor diese Vorstellung war. Das Intervall gleicht einer Membran, durch die die Substanzen auf osmotische Weise zueinander kommen. Beide vermählen sich. Dieses Verb ver8 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 9v, 44. 9 Antje von Graevenitz, Das Schweigen brechen. Joseph Beuys über seinen „Herausforderer“ Marcel Duchamp, in: Rainer Jacobs/ Marc Scheps (Hg.), In medias res. Festschrift zum siebzigsten Geburtstag von Peter Ludwig, Köln 1995, S. 197–224. 10 Raymond Roussel, Impressions d’Afrique, Paris 1910. Gemeinsam mit Apollinaire, Picabia und dessen Frau Gabriele besuchte Duchamp 1912 Roussels Theaterstück gleichen Namens und war von der Methode, aus der gegebenen Sprache und dem nur daraus zu Hörenden Sinn-Verschmelzungen herzustellen, begeistert. Zur Methode allgemein vgl. Dario Gamboni, Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London 2002. 11 Wenn der Tabaksrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn entließ, dann vermählen sich die zwei Gerüche zum infra-mince (Übersetzung der Verfasserin); zitiert und interpretiert in Juan Antonio Ramirez, Duchamp. Love and Death, even. Translation by Alexander R. Tulloch, London 1998, S. 193f.

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2 Marcel Duchamp, Titelseite (Vorund Rückseite gemeinsam) der Zeitschrift ,VieW‘ Serie V Nr. 1 (gewidmet Marcel Duchamp), New York, March 1945

mählen ist ein Begriff aus dem erotischen Leben des Menschen, das auch als ‚Liebesleben von Substanzen‘ der Alchemie als Metapher diente.12 Aus der Mischung bzw. gegenseitigen Durchdringung zweier Gerüche, die der Rauch der Zigarren bewirkt, ist etwas neues Extra-Dünnes entstanden. Duchamp definiert also den Geist nicht nur als Pneuma, das nach antiker und alchemistischer Überlieferung den Menschen mit spirituellem und seelischem Leben füllt, sondern als ein Miteinander einander durchdringender, riechender Pneumae, einem ‚Double You‘. Die ‚chymische Hochzeit‘ des zunächst Geteilten ergibt das „infra-mince“. Sie ist eine Liebesbeziehung inmitten eines Intervalls. Offensichtlich betrachtete er die Vermählung extrem dünner Substanzen im Intervall als 4. Dimension, nicht etwa – wie es sonst üblich ist – die Zeit, sondern die Hochzeit. Offensichtlich bestimmte er so das „infra-mince“ zu einem Kuppelbegriff für sein Oeuvre. Wie lassen sich die „infra-mince“-Beispiele klassifizieren? Ich habe eine Einteilung der 46 Notizen versucht. Zunächst gibt es eine abstrakte Klasse. Das Mögliche, die Potenz, die in einer Sache liegt und wäre es auch nur ein hauchdünnes Intervall, klingt platonisch.13 Platon bestimmte das Existierende einerseits und den Grund dafür andererseits als Dualität für eine gemeinsame Potenz.14 Das Mögliche ist abstrakt, weil es noch vor der Existenz des Realen angenommen werden muss. Ferner schreibt Duchamp, die Allegorie des Vergessens sei ein „infra-mince“ – nicht etwa das Vergessen oder das Vergessene, sondern nur die Personifikation des Vergessens, selbst also eine rhetorische Strategie des Geistes, eine versinnlichte, verlebendigte Verschiebung eines abstrakten Phänomens, das sich auf das richtige Vergessen bezieht, also auf die 12 Vgl. Helmut Gebelein, Alchemie. Die Magie des Stofflichen, München 1991. 13 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 1. 14 Platon, Timaios, 58a–61c.

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Verneinung oder Auslöschung von Gewusstem.15 Aber auch die Analogie der Allegorie sei ein „infra-mince“.16 Gemeint ist hier die rhetorische Methode der Sprache zur Verschiebung abstrakter Bedeutung in eine sinnliche Vorstellung, beispielsweise die Schönheit allegorisch in der Figur der Venus zu verpacken. Auch die Differenz zwischen Ähnlichkeit und Gleichheit sei laut Duchamp ein „infra-mince“17 sowie die Frage der Identität überhaupt, z. B. bei zwei Menschen, die einander wie Zwillinge, wie Wassertropfen, gleichen würden.18 Zur zweiten Klasse des „infra-mince“ zählt in den Notizen die Vermählung von Wirklichkeit und Schein für die Wahrnehmung, was z. B. die Farben im Postimpressionismus Seurats beträfe.19 Gleiches gilt für eine Lackpolitur, die man mit dem Atem anhauchen und darauf zeichnen würde. Wenn man den Dampfhauch abklingen ließe und daraufhin erneut die Politur aufhauche, sei die Zeichnung wieder sichtbar. Schein oder Sein ist hier die Frage. Als dritte Klasse des „infra-mince“ lassen sich Passagen nennen, Metrotüren z. B., die für einen Moment von dem Körper des Passanten gefüllt werden. „Die Passage vom einen zum anderen Ort im infra-mince“, heißt es bei Duchamp.20 Dazu passt Duchamps Erklärung, die er auch Robert Lebel gab: „I believe that we can pass from the second onto third dimension through the infra mince.“21 Da Duchamp hier das Durchqueren eines Intervalls anspricht, kommt einem eine seiner frühen Zeichnungen, Le roi et la reine traversées par des nus en vitesse (König und Königin durchquert von eiligen Nackten bei hoher Geschwindigkeit) von 1912, in den Sinn.22 Hier wird ein Intervall zwischen den Geschlechtern durchquert. Leicht lässt sich hierbei auf die Tradition der Alchemie verweisen, für die seit Jahrhunderten König und Königin als Allegorien dualistischer Substanzen oder auch Eigenschaften gelten, wie Gold und Silber, Sonne und Mond, warm und kalt, weiblich und männlich. Auf Abbildungen in der alchemistischen Literatur halten sie sich zumeist umarmt. Sie sind im Dualismus unterschieden und doch vereint in der ‚chymischen Hochzeit‘. Das Thema ‚Mann und Frau‘ gibt es in Duchamps Werk oft. Zwar wird immer wieder Duchamps Aussage im Gespräch mit Robert Lebel angeführt, er habe sich nicht mit Alchemie beschäftigt oder wenn doch, dann ohne es zu wissen. Inzwischen wurde jedoch der Satz aus Duchamps französischer Formulierung anders übersetzt: „Si j’ai fait de l’alchemie,

15 16 17 18 19 20

Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 2. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 7. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 8. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 35. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 2. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 2; vgl. auch Ludger Lütkehaus, Nichts, in: Johannes Bilstein/Mathias Winzen (Hg.), Big Nothing. Die jenseitigen Ebenbilder des Menschen, Ausst.Kat. Staatliche Kunsthalle Baden-Baden 2001, Köln 2001, S. 37, der diese Definition so auslegt, dass sie auch das Werdende enthielte. 21 Robert Lebel zitiert in: André Breton/ Gérard Legrand (Hg.), L’art magique (Formes de l’art Bd. 1), Paris 1957, S. 98; vgl. auch Duchamps Erklärung, er habe Alchemie als philosophische Disziplin verstanden, in Graham Lanier, Conversation with the Grand Master, New York 1969, S. 6. 22 Arturo Schwarz, The complete Works of Marcel Duchamp, London/New York 1969, Nr. 187.

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3 Marcel Duchamp, Glastür für die Ausstellung Gradiva, Paris 1937, organisiert von André Breton (zerstört). Breton geht gerade an der Tür vorbei, Fotografie, 1937

c’est de la seul façon, qui soit de nos jours admissible, c’est-à-dire sans le savoir.“23 Letzteres übersetzt Moffit nun mit „without its becoming known“, im Geheimen, wie sich das für die geheime Wissenschaft ziehme.24 Robert Smithson fragte später nach: „Ich sehe, Sie arbeiten mit Alchemie?“ Duchamp antwortete freiheraus: „Ja.“25 Die Vereinigung von Mann und Frau ist für Duchamp ein so grundsätzliches Thema, dass er nicht nur in seiner Notiz 28 „Zärtlichkeiten“ als eine Form der „infra-mince“ bezeichnet – vielleicht ist es sein Hauptthema: Das „infra-mince“ ist auch hier nicht anders als hauchdünn. Als Transvestit Rrose c’est la vie ließ sich Duchamp auf einer Parfumflasche abbilden, als Liebes-Duftmarke namens Belle Haleine, die sich im Duft weiterhin mit anderen Körpern vermählt. Das Passagenthema beschäftigte ihn auch weiterhin, wobei er die Wissensgebiete Alchemie und Psychoanalyse miteinander verband. In der Periode seiner Notizen zum „infra-mince“ entstand seine Tür Gradiva von 1937, eine konturierte Tür in einer Glaswand zu einer Ausstellung, die André Breton organisiert hatte (Abb. 3). Wer sie durchschritt, konnte meinen, sein Körper würde mit dem des Liebespaares aus der Erzählung von Wilhelm Jensens Novelle der Gradiva im blitzartigen Moment des Durchquerens zusammenfallen. Sigmund Freud hatte in einer Analyse 1907 Jensens

23 Breton/ Legrand 1957 (wie Anm. 21), S. 98. 24 John F. Moffit, The Case of Marcel Duchamp. Alchemist of the Avantgarde, New York 2003, S. 264. 25 Zitiert nach Linda Dalrymple Henderson, Duchamp in Context. Science and Technology in the Large Glass and Related Works, Princeton 1998, S. 232.

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Erzählung als Beispiel einer erfolgreichen Selbsttherapie in Anspruch genommen.26 Im Moment der Liebe, im „infra-mince“, wenn man so will, liegt die Heilkraft, an der nun auch 1937 in Duchamps Glastür der Betrachter teilhaben soll, damit er gestärkt die Ausstellung betreten kann. Die Glastür repräsentierte nicht nur dieses schmale Volumen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wie sie die Gradiva-Novelle erzählt, sie war auch in der konkretisierten Passage ein „infra-mince“ zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Zur vierten Klasse der Notizen zum „infra-mince“ zählen besonders viele, im Ganzen acht Beispiele zum Thema Licht und Schatten. Schatten vergegenwärtigen durch alle Lichtquellen „verschiedene Aspekte der Wechselwirkung“.27 Die Zusammenwirkung mit dem Schattenträger ergäbe ein hauchdünnes Intervall genannt „infra-mince“.28 Auch für den Unterschied zwischen dem fotografierten Schatten und dem echten Schatten hält er seinen Begriff „infra-mince“ für angemessen.29 Die fünfte Klasse eines „infra-mince“ ist der Temperatur gewidmet. So kommt es zu der besonders komischen Notiz Nr. 4: „Die Wärme auf einem Stuhl (den man gerade verlassen hat) ist infra-mince“ (Abb. 4). Die sechste Klasse widmet sich dem Blick. Zwischen den Phänomenen, die das Auge wahrnimmt und diesen selbst konstatiert Duchamp ein „infra-mince“. Ferner hält er fest, dass zwischen den Blicken, die man jemandem offeriere und den eisigen Blicken, die ein Publikum einer Sache widmet und sie danach sofort vergäße, ein hauchdünnes Intervall bestünde. Der siebten Klasse widmet er viele Berechnungen von winzigen Gewichtsunterschieden und solche von Maßeinheiten von Geräten, wie man sie aufspüren könne.30 So gälten z. B. für feine Frauenhände andere Gewichte als für männliche.31 Da er sich immer wieder mit dem hauchdünnen Intervall zwischen Wirklichkeit und Schein beschäftigt, widmet sich die achte Klasse des „infra-mince“ den Spiegelreflexen und anverwandten Phänomenen, wobei sie mit glänzenden Stoffen und Materialien erzeugt und dabei beispielsweise Moiré-Effekte erzielt werden, sowie einer Politur, in der sich Phänomene spiegeln, so dass sich in der zweidimensionalen Fläche eine Dreidimensionalität auftut.32 Die neunte Klasse handelt von einer Verzögerung in der Wahrnehmung von einem Klang und der sichtbaren Folge, zwischen dem Geräusch einer abgefeuerten Kugel und ihrem Einschlagsloch in einer Mauer.33 Mit dem Thema Verzögerung hat sich Duchamp auch an anderer Stelle vielfach beschäftigt. Es ist ein Begriff, der der Unschärfenrelation gleicht, die Werner Heisenberg 1929 auf einer Wanderung auf Helgoland auffiel. Der Physiker beobachtete damals Sterne und konnte auf Grund 26 Antje von Graevenitz, Duchamps Tür „Gradiva“. Eine literarische Figur und ihr Surrealistenkreis, in: Avantgarde. Revue interdisciplinaire et internationale 2/1989, S. 63–93. 27 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 3. 28 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 4. 29 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 13. 30 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 9, 12r, 29, 30 r, 30v, 31. 31 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 9r. 32 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 9r, 9v, 43. 33 Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 12.

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4 Marcel Duchamp, infra-mince, Notiz 4. La chaleur d’un siège (qui vient/ d’être quitté) est infra-mince, 1934

der verzögerten Wahrnehmung nicht mehr mathematisch bestimmen, wie weit der Abstand zwischen dem weiter gewanderten Stern und dem wahrnehmbaren Licht sein würde. Duchamp interessiert sich für das Retardieren in jeder Hinsicht. Deshalb notiert er sich Formen von Viskosität, wie z. B. Cremes oder Quecksilber auf ihrem Träger in der Bewegung retardieren oder auch, dass zwei Flüssigkeiten aufeinander liegen können, jedoch in unterschiedlicher Viskosität.34 Die zehnte Klasse behandelt entsprechend allerlei technische Handlungen, die Anhaftungen von flachen Materialien aneinander ermöglichen wie das Collagieren, Laminieren, Vertuschen,35 sogar die Anhaftung von Haarschuppen, die auf dem geleimten und noch feuchten Kragen haften bleiben und dort ein Pastell ergeben.36 Mit ein bisschen Humor lässt sich sogar Duchamps Notiz Nr. 28 in diese Klasse einreihen, die besagt, auch Zärtlichkeiten seien ein „infra-mince“, da ja auch hier zwei Körper einander haften. Solche humorvollen Beispiele ersinnt Duchamp oft. Überhaupt bezieht er seine para-wissenschaftlich notierten Beispiele gern auf den Alltag, und anders als Alfred Jarry vor ihm also nicht auf eine präsurreale Phantasiewelt. Seltsam ist die Tatsache, dass Duchamp ein Nicht-Intervall doch als ein solches betrachtet – von mir hier als elfte Klasse aufgelistet. Hierzu passt besonders eine Notiz, die sich mit der Betrachtung der Rückseite von Glasmalerei beschäftigt.37 Wohl gibt es auch dort Malerei zu sehen, aber sie ist nicht die Gemeinte. Ein Unterschied, der ihn interessiert, weil das Gemeinte und das Ungemeinte hier physisch zusammenfallen, und nur für den Be34 35 36 37

Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 14, 24. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 14, 24, 26, 26v, 27, 34. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 20. Duchamp 1980 (wie Anm. 4), Nr. 15.

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trachter perspektivisch auseinanderdriften. Aus der Liste der hier aufgeführten Klassen des „infra-mince“ lassen sich nun grundsätzliche Definitionen herauslesen, 1) abstrakte Definitionen (dazu zählen auch mathematische), 2) natürliche, 3) alltägliche, 4) menschliche, 5) wahrnehmungsabhängige. Hinzu kommen weitere Prinzipien, I die Vermischung von Gegensätzen zu einer Einheit, II die Verbindung von Gegensätzen trotz eines hauchdünnen Intervalls, III die Kongruenz von Gegensätzen, obwohl keine direkte Vermischung zu Stande kommt. Mit anderen Worten, Duchamp gibt sich mit der gedachten, der ermittelten und erfahrenden Dualität von Bedeutungen, Substanzen und Prozessen ab, die ein unsichtbares Intervall mit einschließen, das die Korrespondenzen überhaupt erst ermöglicht. Der Dualismus ist an sich im 20. Jahrhundert für die Naturwissenschaft nicht mehr so typisch, sieht man einmal ab von den damals ganz besonders relevanten Untersuchungen zu der Dualität von Zeit und Raum. Typisch ist es eher für die Tradition der Alchemie und ihrem Grundsatz ‚solve et coagula‘ (trenne/löse und vereine), der romantischen Naturphilosophie und der Parawissenschaft, die dem Symbolismus nahe stand, die jedoch allesamt kein Intervall behandeln. Dabei darf man weder aus den Augen noch aus dem Sinn verlieren, dass es Duchamp nicht um sichtbare Phänomene zu tun war, sondern gerade um das unsichtbare oder zumindest unbegriffene, unbewusst oder übersehen gebliebene Intervall des „infra-mince“, für das er eine neue Ontologie, wenn nicht Phänomenologie, entwarf. Es blieb bei einem Entwurf, der den Namen Abhandlung nicht verdient. Die äußere Form der Papierfetzen entspricht dort dem Einfall, der Beobachtung, dem noch Unbegreiflichen und Unbegriffenen. Eine Gesetzmäßigkeit wird nicht aufgestellt, noch werden Argumente erhoben. Wollte Duchamp die Phänomenologie des Geistes von Hegel oder die Phänomenologie von Edmund Husserl erweitern, der Kategorie des Unbewussten von Freud etwas entgegensetzen, das sowohl im Gehirn als auch parallel dazu in der Realität vorhanden ist? Wollte er Beispiele für etwas angeben, das Joseph Jastrow in La Subconscience 1908 als eine Wahrnehmung beschrieb, die das Unbewusstsein auf eine begierdelose/interessenlose Weise wahrnimmt? Wir wissen es nicht. Vorzuschlagen ist hier deshalb eine viermalige Lesbarkeit des „infra-mince“, 1. als das Hauchdünne in der Welt zwischen den Dingen, das dazugehört, obwohl es selbst eigentlich fast ein Nichts ist, weil es so gut wie gar nicht erscheint, als etwas Niedriges, niedriger selbst als das Niedrige, womit sich die Surrealisten beschäftigten, 2. als etwas, das existiert, obwohl man es nicht messen könne, dies um Henri Bergson zu widersprechen, der meinte, was nicht messbar sei, könne kein Objekt der Wissenschaft sein,

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3. als das Allerfeinste der Prozesse im Gehirn, wobei man nun das ‚mince‘ als das lateinische ‚mens‘ = Geist lesen könne, zumindest enthält es das lateinische Wort als Homophon, 4. als das Unbedeutende ‚mince‘, das man im Französischen etwa auch mit ‚alors‘ und im Deutschen mit ‚Herrjeh‘, ‚verflixt‘ oder ‚Donnerwetter‘ bestaunt oder im Niederländischen mit ‚Nou ja!‘ kommentiert! Eine surrealistische Para-Wissenschaft leistete Duchamp mit seinen Notizen um das „infra-mince“ nicht, denn er suchte es nicht in der Fiktion, außer in der Reflexion des Spiegels. Gnostisch lässt sich die Untersuchung allenfalls nennen, da er durchaus Korrespondenzen zwischen ontologisch Verschiedenem mit ihrem Intervall fand und eine Ordnung für das Eine im Anderen aufstellte,38 wofür er sogar nach Regeln fahndete, ohne sie aufzustellen.39 Damit gelang Duchamp – jedenfalls im Ansatz – eine experimentelle Physik im proto-wissenschaftlichen Versuch, nach einem Begriff, den der Wissenschaftshistoriker Thomas Kuhn (erst) 1962 einführte,40 und zugleich eine eigenwillige Philosophie des Alltags als Parallele für den Geist vom Gesichtspunkt des Künstlers und Betrachters aus, ganz wie beabsichtigt: „Meine Absicht war stets, von mir selbst wegzukommen (…) Nennen Sie es ein kleines Spiel zwischen ‚ich‘ und ‚mir‘“, erklärte er 1961 Katherine Kuh im Gespräch.41 Damit befand sich Duchamp auf den wissenschaftlichen Spuren Leonardo da Vincis, jedoch auf so modernen Spuren, dass sie noch von keinem Wissenschaftler ernst genommen wurden. Duchamps Proto-Wissenschaft harrt noch der Falsifikation oder Widerlegung.

38 Vgl. Gamboni 2002 (wie Anm. 10). 39 Vgl. Jacob Taubes, Notizen zum Surrealismus, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik. Ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne, Kolloqium Köln 1964, München 1966, S. 141f. 40 Thomas S. Kuhn, The Structure of scientific Revolutions, Chicago 11962, dt. als Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1970. 41 Serge Stauffer (Hg.), Marcel Duchamp. Interviews und Statements, Ostfildern-Ruit, 1992, S. 117.

der künstlerwahnsinn wie sich die metapher der ‚verführung‘ zum nationalsozialismus und der geschlechterkampf in einem spielfilm der 1950er jahre überlagern

barbara schrödl Im Zentrum des Films Das zweite Leben steht ein bildender Künstler. Bei dem Film, der 1954 in die Kinos kam, handelt es sich um eine französisch-deutsche Koproduktion, die damals viel beachtet wurde, doch nicht in die Filmgeschichte eingegangen ist und erst heute langsam wiederentdeckt wird. Entworfen wird eine Verbindung künstlerischer Kreativität mit psychischen Ausnahmezuständen, die in der zeitgenössischen Gegenwart der Nachkriegszeit angesiedelt ist und deutlich auf die nationalsozialistische Vergangenheit Bezug nimmt. Im Dialog wird nicht nur explizit die Kunstpolitik der Nationalsozialisten thematisiert. Der Entwurf eines an einer Kopfverletzung leidenden Künstlers im Kontext der Auseinandersetzung um ‚die Moderne‘ musste zudem die nationalsozialistische Ausdeutung des Künstlerwahnsinns in Erinnerung rufen, die modern arbeitende Künstler als ‚entartet‘ diffamiert hatte. Darüber hinaus wird das Motiv der ‚Verführung’ in einer interessanten Weise ins Spiel gebracht: Eine Frau ‚verführt‘ den Künstler zu einer nationalistischen Ideologie. Meine These ist, dass sich der Film als Beitrag zu einer seit Ende des Krieges betriebenen Feminisierung des Faschismus lesbar machen lässt. Der Regisseur Victor Vicas erzählt die Geschichte des Pariser Malers Jacques Fontenac, der unmittelbar vor seiner Hochzeit in den Zweiten Weltkrieg zieht, um als Soldat zu kämpfen. Er erleidet eine schwere Kopfverletzung und erwacht ohne Erinnerung in einem deutschen Lazarett. Die Deutschen identifizieren ihn irrtümlich als ihren Landsmann Siegfried Einer. Unter der Fürsorge einer ihn liebenden Krankenschwester erarbeitet er sich eine neue, eine ‚deutsche‘ Identität. Nach Kriegsende beginnt er erneut bildnerisch zu arbeiten. Sein Selbstverständnis als Künstler, seine Kunstproduktion und sein kunstpolitisches Engagement zeigen jedoch entscheidende Neuerungen. Als Jacques war er ein moderner Künstler, als Siegfried vertritt er nun eine konservative, nationalistisch fundierte Kunstauffassung. Im Zentrum des Films steht jedoch nicht das Ringen des Künstlers um seine Kunst, sondern das Leiden des Mannes am Verlust seiner Erinnerung und seiner Identität. Seiner Pflegerin und Geliebten gegenüber klagt er: „Ein Leben aus Büchern aus deiner Bibliothek, das ist alles, was du mir gegeben hast.“ Mit dieser Äußerung weist er sich als ihr Geschöpf aus. Der Dialog bestätigt damit eine den Film bereits seit Längerem unterschwellig durchziehende Deutung der Frau als ‚Verführerin‘ und damit als verantwortlich für Siegfrieds nationalistische, ja an nationalsozialistisches Gedankengut erinnernde Kunstauffassung. Erst als die ehemalige Verlobte des Künstlers ihn ausfindig macht, wird die Macht der ‚Verführerin‘ gebrochen, Siegfried Einers wahre

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Identität als Jacques Fontenac enthüllt und eine Rückkehr des Gesundeten nach Paris angedeutet. Der Film basiert auf dem Bühnenstück Siegfried von Jean Giraudoux aus dem Jahr 1928, das wiederum auf den sechs Jahre zuvor erschienenen gleichnamigen Roman des Autors zurückgeht. Giraudoux war ein französischer Schriftsteller und Diplomat. Er war seit seiner Jugend an der deutschen Kultur interessiert, nahm aber dennoch am Ersten Weltkrieg teil und es scheint, dass er seine Erfahrung der Zerrissenheit gegenüber Deutschland mit Siegfried literarisch verarbeitet hat. Im Unterschied zu dem knapp dreißig Jahre später gedrehten Film kreisen Roman und Bühnenstück nicht um das Leiden eines bildenden Künstlers, sondern erzählen von einem französischen Schriftsteller, der in Folge einer Kriegsverletzung eine Amnesie erleidet, eine deutsche Identität annimmt, in der Weimarer Republik als Politiker Karriere macht und schließlich in sein altes Leben zurückkehrt. Im Zentrum steht jedoch nicht diese Figur, sondern ein Ich-Erzähler, der in dem Schriftsteller-Politiker seinen Jugendfreund erkennt und ihm dazu verhilft, seine Vergangenheit zu rekonstruieren. Von den Zeitgenossen wurde der Roman und mehr noch das Bühnenstück als Appell zur deutsch-französischen Versöhnung interpretiert. Beispielsweise erklärt Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym Peter Panter in der Vossischen Zeitung: „Nachbarn sind wir und kümmern uns nicht genug umeinander; Nachbarn sind wir und kennen uns nur aus dem Graben. (...) Das Stück von Jean Giraudoux ruft, und wir nehmen den Ruf auf: es werde, trotz allem, Licht!“ 1 Deutlich zeigt sich, dass sich Vicas dafür entschied, einen politisch hoch besetzten Stoff zu verfilmen. Eine Nähe zum Politischen ist für die Spielfilme des als Kosmopoliten geltenden Regisseurs, der seine Regietätigkeit als politischer Dokumentarfilmer begonnen hatte, charakteristisch. Der vorliegende Film agiert in dieser Hinsicht vergleichsweise vorsichtig. Die Journalistin Erika Müller erklärt gar in ihrer Rezension des Films, Vicas hätte dem Stoff „politischen Zündstoff weggenommen“, indem er Giraudoux’ Schriftsteller-Politiker durch einen bildenden Künstler ersetzte.2 Aus der Rückschau überrascht die Entschiedenheit und Eindeutigkeit ihrer Aussage. Zwar ist im Film von Kunst und Kunstpolitik die Rede und nicht von Politik, doch stellt sich der Kunstdiskurs der Nachkriegszeit als ein hochpolitisches Feld dar. An Fragen der modernen Kunst wurden Konstruktionen von Geschichte abgehandelt und Entwürfe für die Zukunft der Gemeinschaft durchgespielt. Das Bekenntnis zur formalen Freiheit der zur ‚abstrakten Moderne‘ reduzierten Kunst der Moderne wurde in der jungen Republik als politische Stellungnahme für die Demokratie gewertet. Demonstrativ grenzte man sich im Ausstellungswesen, der Kunstkritik und der akademischen Kunstgeschichte von der nationalsozialistischen Diffamierung ‚der Moderne‘ ab, blieb aber vielfach dennoch alten Denkstrukturen verhaftet. Ein Beispiel hierfür ist die medizinische Terminologie, in die Kreativitätsvorstellungen weiterhin gerne ge1 2

Peter Panter, „Siegfried“ oder der geleimte Mann, in: Vossische Zeitung, 23.5.1928, zitiert nach http://www.textlog.de/tucholsky-siegfried-mann.html (12.7.2010). Erika Müller, Siegfried oder Das zweite Leben. Veränderter und entschärfter Girandoux als Film, in: Die Zeit, 04.11.1954, zitiert nach http://www.zeit.de/1954/44/Siegfried-oder-Daszweite-Leben (12.7.2010).

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fasst wurden. Hatten die Nationalsozialisten modern arbeitende Künstler als ‚entartet‘ gebrandmarkt, so erklärten in der Nachkriegszeit einzelne Intellektuelle wie Hans Sedlmayr, moderne künstlerische Strömungen seien als ein Symptom einer Krankheit der Kultur zu werten oder sprachen zahlreiche Stimmen, wie der Künstler Willi Baumeister oder die Theoretikerin Hilla Rebay, der ‚abstrakten Moderne‘ beruhigende, ja heilende Kräfte für die Seelen der Zeitgenossen zu.3 Im populären Medium Spielfilm wurde dagegen die Figur des ‚kranken Künstlers’ wichtig. In den 1950er Jahren wurde sie wiederholt mit den Debatten um ‚die Moderne‘ verbunden. Betrachtet man die Filme zusammenfassend, so zeigt sich, dass sich im Kino eine Struktur herausbildete, die in einem interessanten Gegensatz zur hochkulturellen Rehabilitation der Moderne stand, denn der ‚abstrakte Künstler‘ tritt als Kranker auf, der ‚gegenständliche Künstler‘ dagegen als Gesunder oder Geheilter, wobei Krankheit und Gesundheit keineswegs wertneutral eingesetzt werden, sondern das Gesunde als erstrebenswert gilt.4 Das zweite Leben folgt diesem Muster jedoch nicht. Zwar werden auch in diesem Film eine Moderne und eine Tradition einander gegenüber gestellt und es wird ein ‚kranker Künstler‘ entworfen, doch bleiben die zeitgenössischen Debatten über formale Fragen der Kunst weitgehend außen vor. Gegenübergestellt werden gerade nicht ein ‚abstrakter‘ und ein ‚gegenständlicher Künstler‘. Es verwandelt sich vielmehr ein Pariser Bohemien, der mit seiner Freundin in einer über und über mit Bildern und Malutensilien angefüllten Dachmansarde lebte und seine Gemälde in Galerien zu verkaufen suchte, in den Gründer einer Künstlergemeinschaft. deren Werkstatt sich in einem ehemaligen Kloster befindet, von den Besitzern der Anlage finanziert wird und Kirchenfenster herstellt. Als Gegenpol des modernen Künstlers fungiert somit nicht ein antimoderner Künstler, sondern es wird historisch weiter ausgeholt. Entworfen wird eine Spannung zwischen der autonomen Kunst der bürgerlichen Gesellschaft und einer in die zeitgenössische Gegenwart transferierten, vormodernen sakralen Kunst. Interessant ist vor allem letzteres Konstrukt, das im Kunstdiskurs der Nachkriegszeit kaum Parallelen haben dürfte. Die nationalistische Kunsthaltung Siegfried Einers wird einerseits mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und andererseits mit dem Mittelalter sowie christlich-nationalen Strömungen des 19. Jahrhunderts 3

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Zu Sedlmayr und Baumeister siehe: Hans Gerhard Evers (Hg.), Darmstädter Gespräch. Das Menschenbild in unserer Zeit, hrsg. im Auftrag des Magistrats der Stadt Darmstadt und des Komitees Darmstädter Gespräch 1950, Darmstadt 1951; Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1999, S. 158 und Beat Wyss, Willi Baumeister und die Kunsttheorie der Nachkriegszeit, in: Gerda Breuer (Hg.), Die Zähmung der Avantgarde. Zur Rezeption der Moderne in den 50er Jahren, Basel und Frankfurt am Main 1997, S. 55–71. Zu Rebay siehe Katja van der Bey, Maler und Hausputz im deutschen Wirtschaftswunder. Künstlermythen der Nachkriegszeit zwischen „Kulturnation“ und „Wirtschaftsnation“, in: Kathrin Hoffmann-Curtius/ Silke Wenk (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 234–244 und Katja van der Bay, Nationale Codierung abstrakter Malerei. Kunstdiskurs und -ausstellungen im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945–52, Diss. Universität Oldenburg 1997, insbesondere S. 112–145. Siehe hierzu: Barbara Schrödl, Das Bild des Künstlers und seiner Frauen. Beziehungen zwischen Kunstgeschichte und Populärkultur in Spielfilmen des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Marburg 2004.

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in Zusammenhang gebracht. Die sakralen Bezüge werden auf der visuellen Ebene ins Spiel gebracht. Der vom Dokumentarfilm kommende Vicas lokalisiert Siegfried Einers Kunstzentrum in dem mittelalterlichen Kloster Eberbach.5 (Abb. 1) Sensibel arbeitet er die puristische Ästhetik des gut erhaltenen Zisterzienserklosters heraus und verleiht dadurch der Gemeinschaft einen weltabgewandten Charakter.6 Die meisten Zuschauer und Zuschauerinnen mögen beim Anblick der Bilder nur an das Mittelalter gedacht haben, einige aber zudem auch an Gemeinschaften wie beispielsweise die Lukasbrüder, die Anfang des 19. Jahrhunderts auf eine Erneuerung der Kunst im christlich-nationalen Sinne zielten und ihren „romantischen Traum gemeinschaftlichen Arbeitens“ zeitweilig im Kloster San Isidoro in Rom verwirklichten.7 Auf die nationalsozialistische Vergangenheit wird dagegen nur auf der Ebene des Dialogs angespielt. Im Licht eines Torbogens stehend erklärt beispielsweise der weltoffene Besitzer der Klosteranlage gegenüber Siegfried: „Sie wissen doch ganz genau, wohin uns diese nationale Hermetik, diese Deutschtümelei gebracht hat. Was Sie als Kultur ausgeben, Herr Einer, das wird Ihnen unter den Händen zur Politik. (...) Ich bezweifle nicht Ihre guten Absichten, aber Sie sind leider ein Phantast und solche Leute pflegen hierzulande leicht gefährlich zu werden.“ Der Brückenschlag zwischen der nationalsozialistischen Vergangenheit und Phasen bzw. Entwicklungen der deutschen Kunst, die hoch geschätzt bzw. zumindest toleriert wurden8, musste für die Zeitgenossen einiges Konfliktpotential enthalten. In der Tat entzündete sich an Fragen der Kunst wiederholt eine negative Kritik des hinsichtlich des Schauspiels, des Schnitts und der Bildgestaltung viel gelobten Films. Ich

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Die Filmarbeiten sind unter anderem durch Unterlagen im Hessischen Hauptstaatsarchiv belegt: „115 1954. Produktion des Films ‚Das zweite Leben’ im Kloster Eberbach durch die Trans-Rhein Film-Gesellschaft mbH Wiesbaden, enthält v.a.: Genehmigung des Filmvorhabens, Rechnung über Instandsetzung für die bei den Filmaufnahmen entstandenen Schäden und sonstige Unkosten“, in: Repertorien des Hessischen Hauptstaatsarchivs, Bestand 534, Verwaltung der Staatsweingüter, Teilbestand, Prüfungsarbeit der Inspektoranwärterin, Annett Schreiber, Wiesbaden, August 2006, zitiert nach www.hadis.hessen.de/hadis-elink/ HHStAW/534/Findbuch.pdf (12.7.2010). Die Anlage wurde in den 1950er Jahren nicht nur in der Kunstgeschichte hoch geschätzt, so wertet beispielweise Hanno Hahn die Klosterkirche in seiner Dissertation 1953 als „eine der bedeutendsten Zeugen mittelalterlicher Ordensbaukunst der Zisterzienser in Deutschland“ (Hanno Hahn, Die frühe Kirchenbaukunst der Zisterzienser. Untersuchungen zur Baugeschichte von Kloster Eberbach im Rheingau und ihren europäischen Analogien im 12. Jahrhundert, Diss. Frankfurt am Main 1953, Berlin 1957, S. 280), sondern sie dürfte als typischer mittelalterlicher Zisterzienserbau in ihrer puristischen Ästhetik auch den ästhetischen Vorstellungen großer Teile der zeitgenössischen Architekturszene entsprochen haben. Birgit Verwiebe, Künstlerbrüder und Gemeinschaftswerk. Die Casa Bartholdy in der Nationalgalerie, in: Bernhard Maaz, Im Tempel der Kunst. Die Künstlermythen der Deutschen, Ausst.Kat. Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin 2008, Berlin 2008, S. 60–63, hier S. 60. In Bezug auf die Nazarener ist anzumerken, dass ihre Kunst zwar zunächst parallel zum Aufkommen des Impressionismus zunehmend als sentimental abgewertet wurde, die kunsthistorische Aufarbeitung jedoch bereits in den 1920er Jahren begann, wenn sie auch erst in den 1960er Jahren intensiviert und in die breite Öffentlichkeit getragen wurde.

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1 Victor Vicas, Das zweite Leben, Standbild, Der ,deutsche‘ Künstler – links – und seine Gemeinschaft in der im Kloster Eberbach angesiedelten Werkstatt, D/F 1954

möchte einige der damaligen Stimmen zu diesem Thema zu Wort kommen lassen.9 Die Illustrierte Film-Bühne, eines der schmalen Programmhefte, die damals jeden Film in einer Art und Weise begleitete, wie wir es heute noch vom Theater kennen, entschärft den Konflikt der Verbindung des Nationalsozialismus mit anderen Phasen der Kunstgeschichte. Sie setzt die mittelalterlichen Bezüge prominent ins Bild, übergeht die Anklänge an die Lukasbrüder und umschreibt die Erinnerung an die nationalsozialistische Kunstpolitik mit den auf die Künstlerfigur bezogenen Worten: „In seltsamer geistiger Verkrampfung verschließt er sich allen Anregungen von jenseits der Grenze.“10 Die Kritik konzentrierte sich dagegen ganz auf die ‚völkischen‘ Anklänge. Der katholische Film-Dienst äußerte: „Ein französischer Maler, der durch Kriegsverletzung sein Erinnerungsvermögen verloren hat, hält sich später für einen Deutschen und sperrt sich als Gründer eines nationalistischen Kunstinstituts gegen ausländische Kultureinflüsse. Der Film ist kunstvoll inszeniert und gespielt, verfehlt sein hohes Ziel (Völkerverständigung) aber durch den wenig allgemeinen Einzelfall und seinen unklaren Schluss.“11 Der Spiegel formuliert mit deutlicher Ironie: „Ein völkischer Kunstpriester, ein Ausländer scheuender Übergermane“.12 Mitunter trägt gerade der spezifische Entwurf des Künstlers zur Ablehnung des Films bei. In Der Zeit kritisierte Erika Müller, der nach deutschen Werten suchende Siegfried sei unrealistisch gezeichnet, denn die 9 Zur zeitgenössischen Aufnahme des Films siehe: Philipp Stiasny, Ein deutsch-französischer Gehirnschaden. Weltkrieg, Gedächtnisverlust und großes Durcheinander in Victor Vicas ‚Das zweite Leben‘ (1954), in: Filmblatt, 13/2008, H. 38, S. 71–84. 10 Illustrierte Film-Bühne, Das zweite Leben, Nr. 2530, 1954. 11 N.N.: Das zweite Leben, in: 6000 Filme. Kritische Notizen aus den Kinojahren 1845 bis 1958. Handbuch der katholischen Filmkritik. Film-Dienst, 3. Auflage, Düsseldorf 1963, S. 504. 12 N.N.: Neu in Deutschland, in: Der Spiegel, 9/1955, H. 2, S. 26, zitiert nach http://www.spiegel. de/spiegel/print/d-31968844.html (12.7.2010).

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deutschen Künstler „suchten und suchen mit größter Anstrengung den Anschluss an das Kunstschaffen in der Welt, sie suchen das Gespräch mit dem Ausland.“13 Und Gunter Goll schreibt: „Das kann man nun wirklich nicht behaupten, dass für die heutigen Deutschen germanische Trutzbolde typisch seien, die der Kunst des Auslandes finster die Tür weisen – für eben jene Deutschen, die sich nachgerade übereifrig auf eben jenes Auslandes Bücher, Bilder und Bühnenstücke stürzen und nicht zuletzt auf die von Giraudoux.“14 Auch in der Berliner Neuen Zeitung liest man Vergleichbares: „Ein wirklicher Künstler von so bornierter Kolbenheyerischer ‚Bauhütten‘-Ideologie war nach 1945 nicht denkbar.“15

2 Victor Vicas, Das zweite Leben, Standbild, Der ,deutsche‘ Künstler arbeitet an einem Kirchenfenster, D/F 1954

Die französische Identität des Künstlers weist aber selbst in Fragen der Kunst und Kunstpolitik indifferenten Zuschauern und Zuschauerinnen einen klaren Standpunkt zu. Die Versuche des Franzosen, eine „Neugeburt der deutschen Kunst“ ohne „jeglichen ausländischen fremden Einfluss“ herbeizuführen, kann das Publikum kaum ernst nehmen. Der Kontrast zwischen dem Filmkostüm Siegfried Einers – der korrekte Herrenanzug des bürgerlichen Mannes, eine Lederjacke aus dem Repertoire der neuen Freizeitkleidung sowie eine Frisur mit Tolle, die an die Halbstarken denken lässt – und seiner Wiederbelebung des mittelalterlichen Zunftwesens, verstärkt die Distanz gegenüber dem deutschtümelnden Künstler weiter (Abb. 2). Deutlich wird markiert, 13 Erika Müller 1954 (wie Anm. 2). 14 Gunter Goll Verständigung auf Stelzen. „Das zweite Leben“, in: Gunter Goll, Lichter und Schatten. Filme in dieser Zeit. 100 Kritiken, München 1956, S. 166–167. 15 N.N., Das andere Leben, in: Neue Zeitung, 19.12.1954, zitiert nach Philipp Stiasny 2008 (wie Anm. 9), S. 71–84, hier S. 80.

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3 Victor Vicas, Das zweite Leben, Video-standbild, Werke des Künstlers aus der Pariser Zeit, D/F 1954

dass etwas ‚verrückt‘ ist. Den Umgang des Films mit der Erinnerung an den Nationalsozialismus beschreibt Philipp Stiasny als eine mitunter ins Groteske abgleitende Distanzierung.16 Zusätzlich wird das kulturpolitisches Konzept Siegfried Einers dadurch der Lächerlichkeit preisgegeben, dass sich die Glasfenster nur geringfügig von seinen Gemälden aus seiner Pariser Bohemienzeit unterscheiden (Abb. 3). Zwar zeigen sich in der Wahl des künstlerischen Mediums, Tafelmalerei bzw. Glasfenster, und der daraus folgenden Zuordnung zur ‚freien‘ bzw. ‚angewandten’ Kunst, deutliche Unterschiede, doch stilistisch lassen sie sich je als eine Abstraktion vom Gegenstand beschreiben, die expressionistische Züge trägt und sich vor der Folie der Kunst der 1950er Jahre als moderat modern charakterisieren lässt. Eine großflächige Formensprache zeigt elegante Kurven, betonte Umrisslinien und gleichmäßig gefärbte Binnenflächen. Interessant ist, dass im Vorspann ein ‚Kasiulis‘ explizit als Urheber der Bilder ausgewiesen wird. In der Tat lässt sich im Deutschland der Nachkriegszeit ein Künstler namens Vytautas Kasiulis ausfindig machen, dessen Werke stilistisch den im Film gezeigten Bildern nahe kommen (Abb. 4). Kasiulis hatte in den 1940er Jahren in seiner litauischen Heimat als Professor mit Staatskunstpreis Karriere gemacht, konnte aber im deutschen Exil nur in den allerersten Jahren an seine früheren Erfolge anknüpfen. Nach 1950 verliert sich seine Spur in der Kunstgeschichte weitgehend.17 Eine Mitar16 Philipp Stiasny 2008 (wie Anm. 9), S. 71–84, hier S. 81. 17 Kasiulis wurde 1918 in litauischen Simnas geboren und studierte an der Dekorationsabteilung der Hochschule für Angewandte Kunst in Kaunas, wo er anschließend eine Professur erhielt. 1942 wurde er mit dem Ersten Staatspreis für Malerei ausgezeichnet. In den frühen Nachkriegsjahren hielt er sich in Deutschland auf und konnte zunächst an seine früheren Erfolge anschließen. Er war an Kollektivausstellungen beteiligt und wurde 1946 Lehrer an der neugegründeten Freiburger Kunstschule École des Arts et Metiérs. (Zum Lebenslauf: Aleksis Rannit, Vytautas, Kasiulis. Un peintre lithuanien, Baden-Baden 1948, S. 22.) Diese heute kaum mehr bekannte Freiburger Schule war unter Führung von Vytautas Kazimieras Jonynas von litauischen Kriegsflüchtlingen gegründet worden, um die litauische Kunsttradi-

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Vytautas Kasiulis, Opernsänger, Öl auf Leinwand, undatiert 4

beit an Victor Vicas Film wäre jedoch denkbar.18 Für die Ölgemälde könnten aktuelle Arbeiten verwendet worden sein,19 während im Falle der Glasfenster einige der farblos verglasten Fenster des Klosters Eberbach für die Filmaufnahmen bemalt worden sein dürften.20 Für die 1950er Jahre wäre es nicht singulär, dass sich ein bildender Künstler namentlich beim Film engagierte – man denke beispielsweise an den Einsatz von tion der Vorkriegszeit zu bewahren und an die nächste Künstlergeneration weiterzugeben. Die französische Besatzungsmacht tolerierte das Unternehmen, um der Beschäftigungslosigkeit der ‚displaced persons’ in den Flüchtlingslagern etwas entgegen zu setzen. Die Studierenden kamen vorwiegend aus mittel- und osteuropäischen Ländern. Das Lehrprogramm knüpfte an den vormaligen litauischen sowie an den aktuellen französischen Konzepten an. Im Zentrum stand die angewandte Kunst. Stilistisch fanden vor allem Strömungen der Besatzungsmacht Beachtung, namentlich Henri Matisse, George Braque oder Pablo Picasso, sowie die expressionistische Kunst im Deutschland der Weimarer Zeit. 1950 wurde die Schule geschlossen. Vgl. Rasa Andriušytė-Žukienė, Litauische Künstler in Freiburg nach dem Zweiten Weltkrieg, http://www.kamane.lt/lt/menotyros_archyvai/andriusyte_zukiene/tekstas13 (12.7.2010). 18 Dafür spricht neben stilistischen Überlegungen, dass Künstler und Regisseur neben ihrer osteuropäischen Herkunft, ein enger Bezug zu Frankreich verband, und zudem der Maler Kasiulis mit der angewandten Kunst vertraut war. 19 Aleksis Rannit (wie Anm. 17), S. 19. 20 Im Film wird insbesondere die Neugestaltung der großen Maßwerkfenster der gotischen Seitenkapellen der ansonsten weitgehend im romanischen Stil erbauten Basilika ins Bild gesetzt. Ein wenig entschärft wird damit, dass die überwiegend im romanischen Stil erbaute Klosterkirche den für die frühe Zisterzienserarchitektur charakteristischen Verzicht auf Farbe wie auch auf eine gegenständliche Gestaltung zeigte. Berühmt ist Kloster Eberbach unter anderem für ein einzelnes erhaltenes romanisches Glasfenster. Diese zeigt eine ornamentale und farblose Gestaltung. Aus der Perspektive der Filmemacher könnte man sagen, dass die Eberbacher Glasfenster den nötigen Gestaltungsspielraum zur Verfügung stellten, während aus der Perspektive der Kunstgeschichte die Idee der farbigen Fenster eher befremdet.

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5 Victor Vicas, Das zweite Leben, Standbild, Der Künstler als Kranker mit seiner deutschen Pflegerin und Geliebten, D/F 1954

Arbeiten von Fritz Wotruba im Film Wien, du Stadt meiner Träume.21 Überraschend ist aber, dass ein modern arbeitender Künstler ohne den Schutz der Anonymität auch solche Werke gefertigt zu haben scheint, die mit dem Nationalsozialismus verbunden werden sollten. Der Konflikt wird jedoch darüber entschärft, dass in der Logik des Films zwar Siegfried Einers Kunstauffassung, nicht aber seine Kunst abgelehnt wird. Der als Vertreter von Moderne und Moral fungierende Hausherr der Klosteranlage beispielsweise erklärt, dass er die Künstlergemeinschaft gerne fördern würde, wenn sie ihre ausländerfeindliche Haltung aufgeben würde. Nachdem ich gezeigt habe, dass Das zweite Leben die der Figur Siegfried Einer zugeschriebene Kunstauffassung deutlich ablehnt, die mit dieser Identität verbundenen Kunstwerke jedoch akzeptiert, möchte ich noch einmal genauer nach der dem Publikum nahe gelegten Beurteilung der Person des Künstlers fragen. Interessant ist, das diese zwar Ablehnung erfährt, jedoch nicht schuldig gesprochen wird. Sie erscheint vielmehr als ‚Verführter’ und damit selbst als ein Opfer. Siegfried Einer wird als Geschöpf seiner Geliebten und medizinischen Betreuerin ausgewiesen. Sein Leiden unter dem Verlust der Selbstkontrolle wird in nahen, effektvoll ausgeleuchteten Bildern über lange Passagen des Films einduckvoll in Szene gesetzt (Abb. 5). Die Angst vor der Verführungskraft von Frauen bildet einen festen Bestandteil unserer Kultur. Wiederholt wird im Nachkriegsfilm diese Tradition herangezogen, um zum zeitgenössischen Geschehen Stellung zu nehmen. Die neue Stärke vieler Frauen durch ihren Einsatz an der Heimatfront und die Gebrochenheit vieler Kriegsheimkehrer 21 Willi Forst, Wien, du Stadt meiner Träume..., Ö 1957. In diesem Film werden Werke von Fritz Wotrubas einer Bildhauerin zugeschrieben und stehen für ein zeitgenössisches, modernes Wien, das die Touristen neben den tradierten – hochkulturellen wie auch volkstümlichen – Wiener Sehenswürdigkeiten nicht vernachlässigen sollten.

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aufnehmend, war beispielsweise der Trümmerfilm durch die Paarbildung zwischen einer ‚starken Frau‘ und einem ‚schwachen Mann‘ gekennzeichnet. Bereits um das Jahr 1950 wurde diese Paarkonstellation wieder problematisiert. In einigen Filmen wird gezeigt wie der ‚schwache Mann‘ unter der Abhängigkeit von der ‚starken Frau‘ leidet. Dabei bildeten sich unterschiedliche Muster heraus. Ein Feld der Inszenierung des Geschlechterkampfes war die Sexualität. Die Mehrzahl der weiblichen Filmfiguren charakterisiert eine spezifische Verbindung von Erotik und Asexualität.22 Einige Frauen werden jedoch offensiv sexualisiert und mitunter sogar als ‚dominante Frau‘ gefasst. Ein Beispiel ist der Film Der Arzt von Stalingrad.23 Darin wird ein deutscher Arzt entworfen, der in einem russischen Lager für deutsche Kriegsgefangene zum Symbol für Menschlichkeit avanciert. Ihm wird eine junge, russische Ärztin gegenübergestellt. Auch die Ärztin fasziniert die Lagerinsassen, doch basiert diese Faszination nicht auf ihren charakterlichen Qualitäten, sondern ist erotischer Natur. In ihrer strengen Uniform und ihrem militärischen Gehabe erinnert sie an eine Domina. Und wie eine Domina genießt sie ihre Macht. Als Ärztin gefährdet sie damit das Leben ihrer Patienten und als Frau die Psyche ihres Geliebten, eines jungen deutschen Arztes, der ihr zuliebe seine ärztliche Pflicht vernachlässigt und an dieser Schuld zu zerbrechen droht. Auch im Film Das zweite Leben gefährdet eine Frau die psychische Gesundheit ihres Patienten. Agierte die Krankenschwester zu Beginn des Films in der Rolle der aufopferungsvollen Pflegerin, so zielt sie bald, ganz auf ihre eigenen Wünsche bedacht, darauf, ihren Geliebten zu halten. Mit aller Kraft versucht sie die zunehmenden Zweifel des Künstlers an seinem Leben als Siegfried Einer zu zerstreuen, während dieser immer deutlicher darunter leidet, dass er seiner Persönlichkeit und Selbstkontrolle beraubt wurde. Die Kameraführung setzt dieses Machtverhältnis ins Bild, indem sie der Frau wiederholt eine erhöhte Position zuordnet. Zudem arbeiten nahe, effektvoll ausgeleuchtete Bilder das Leiden des Künstlers heraus. Mit angestrengten Gesichtszügen starrt der Mann vor sich hin. Der leidende Künstler ruft die Deutung des Künstlers als Märtyrer in Erinnerung und variiert sie. Indem dem Leiden jedoch kein Sinn verliehen wird, wird der ‚verführte Künstler‘ nicht in die Nachfolge der christlichen Märtyrer gestellt. Der ‚verführte Künstler‘ erzeugt Spannung, da die Position des hilflosen Opfers traditionell weiblich gedacht wird. Der Entwurf des ‚verführten Künstlers‘, der in den 1950er Jahren nicht nur im vorliegenden Film in Erscheinung tritt, lässt sich aus dieser Perspektive als ein Überschreiten der Grenzen des Spielraumes des Männlichen beschreiben. Fragt man danach, in welchem Kontext die Konstellation ‚verführter Künstler‘ und ‚dominante Frau‘ in den 1950er Jahren auf Interesse stoßen konnte, so scheint mir die These der Feminisierung des Faschismus hilfreich. Wolfgang Fritz Haug konnte zeigen, dass das Markieren der Geschlechterdifferenz in der Nachkriegszeit ein beliebtes Muster im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit war.24 22 Annette Brauerhoch, Moral in Golddruck, in: Frauen und Film. Themenheft Die fünfziger Jahre, 35/1983, S. 48–57. 23 Géza von Radvànyi, Der Arzt von Stalingard, D 1958. 24 Wolfgang Fritz Haug, Der hilflose Antifaschismus. Zur Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten, 4. Aufl., Köln 1977.

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Vor allem im Feld des Visuellen wurde diese Beobachtung seit den 1990er Jahren weiter ausgearbeitet und differenziert. Irit Rogoff beobachtet, dass Ausstellungen über den Nationalsozialismus in deutschen historischen Museen der 1980er und 1990er Jahre dem Leben von Frauen, dem häuslichen Bereich und der Kultur des Überlebens besondere Aufmerksamkeit schenken. Statt der sozialen Wirklichkeit würde ein ewiges passives menschliches Drama heraufbeschworen, das die Frauen auf die Opferrolle einschränke und dieses Bild des Weiblichen als „Metapher für und als Struktur der Identifikation stellvertretend für eine ganze Nation der Opfer“ einsetze.25 Zudem zieht sie den Begriff der Feminisierung heran, um ein Repräsentationsprinzip zu beschreiben, das innerhalb eines Diskurses eine weiblich konnotierte Position gegenüber einer anderen, männlich gedachten an den Rand drängt. Die Feminisierung des Nationalsozialismus trage dazu bei, diese Epoche in der historischen Erinnerung zu marginalisieren. Kathrin Hoffmann-Curtius beobachtet in ihrer Analyse der visuellen und sprachlichen Erinnerung an den Nationalsozialismus im Kunstkontext vergleichbare Strategien wie Rogoff und beschreibt zudem ein Phänomen, dass für die Analyse des vorliegenden Films von besonderem Interesse ist. Das Gemälde Deutschland 1944 von Franz Radziwill26 beispielsweise analysiert sie als einen politisch ausgedeuteten Geschlechterkampf. Sie schreibt: „Die Anordnung des Bildpersonals weist auf eine Verführung des kleinen Mannes durch die große femme fatale Germania hin.“27 Vergleichbar lässt sich auch die Figurenkonstellation des ‚verführten Künstlers‘ und der ‚dominanten Frau‘ in Das zweite Leben interpretieren, auch wenn weniger von Erotik und mehr von Liebe gesprochen wird. Doch auch in dieser filmischen Vision leidet ein Mann unter der ‚Verführung‘ einer Frau zu nationalsozialistischem Gedankengut. Im Kampf um das Objekt der Liebe konkurriert die ‚dominante Frau‘ mit einer ‚reinen Frau‘. Die ‚reine Frau‘ wird im Kino der Nachkriegszeit wiederholt als Bild für den gesellschaftlichen Neuanfang eingesetzt und steht damit in einer langen Tradition, das Bild des Weiblichen als Bild für die Nation auszudeuten. Auch Das zweite Leben codiert die ‚reine Frau‘ national, doch verkörpert sie nicht Deutschland. Die deutsche Krankenschwester in der Rolle der ‚dominanten Frau‘ konkurriert mit der jungen Braut aus der Pariser Zeit. Durch die Französin findet der Künstler im Finale zu seiner ‚richtigen‘ Identität zurück. Vor der Öffentlichkeit der zur Feier der Einweihung des „Zentrums für deutsche Kunst“ geladenen Gäste wird seine Vergangenheit rekonstruiert, worauf sein Gedächtnis und die alten Liebesgefühle wiederkehren. Er ist geheilt. Die Lichtführung unterstreicht das Geschehen. Der Sieg der jungen Französin über die ältere Deutsche spielt die Metapher von Licht und Finsternis wirkungsvoll 25 Irit Rogoff, Von Ruinen zu Trümmern – Die Feminisierung von Faschismus in deutschen historischen Museen, in: Sylvia Baumgart u. a. (Hg.), Denkräume zwischen Kunst und Wissenschaft, Berlin 1993, S. 259–285, hier S. 265. 26 Franz Radziwill, Deutschland 1944, Öl auf Leinwand, 1944, 103,5 x 44,5 cm, Bilddatenbank Prometheus: http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/image/large/Image-dresdendb1ea296655155bee1be6d673553e5140dfc11c0. (12.7.2010). 27 Kathrin Hoffmann-Curtius, Feminisierung des Faschismus, in: Claudia Keller (Hg.), Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Antifaschismus. Geschichte und Neubewertung, Berlin 1996, S. 45–69, hier S. 55.

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6 Victor Vicas, Das zweite Leben, Standbild, Die französische Braut bringt im Finale Aufklärung, D/F 1954

aus. Während im feierlichen Dunkel der Klosterkirche die Deutsche als elegante Dame im schwarzen Abendkleid neben dem Künstler sitzt, kommt im Licht der Hauptpforte die Französin in einem hellen Kleid mit weitschwingendem Rock herein, um Aufklärung zu bringen (Abb. 6). Die Französin kann man als Metapher für die Befreiung der Deutschen durch die Alliierten lesen. Die Figur würde damit für eine Sichtweise stehen, die in Frankreich sicherlich goutiert wurde, in Deutschland jedoch auf Widerstand gestoßen sein dürfte, wenn dies auch kaum offen ausgesprochen werden konnte. Für die in Aspekten negative deutsche Kritik des Films könnte dieses Moment unterschwellig mitverantwortlich gewesen sein. Das weitgehende Desinteresse des deutschen Publikums kann es jedoch nicht erklären. Vielmehr scheint mir dieses daraus zu resultieren, dass im populären Kontext ein explizites Thematisieren der nationalsozialistischen Vergangenheit, das in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch auf einiges

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Interesse stieß, Mitte der 1950er Jahre nicht mehr aktuell war. Zwar waren auch die aktuellen Filme meist nicht frei von politischen Konnotationen, doch verschob sich die Aufmerksamkeit des deutschen Kinos auf die Zukunft im ‚Wirtschaftswunder‘. Ernste, fast quälend akribische Inspektionen einer fragilen Psyche, die die Erfahrung des Nationalsozialismus sowie seines Zusammenbruchs in Erinnerung riefen und nationalsozialistische Kunstvorstellungen formulierten, fanden im populären Medium Kino keinen Raum mehr – auch nicht, wenn sie an die Ausnahmefigur des Künstlers gebunden wurden.

der künstler als inframediales gesamtkunstwerk inszenierungen und autorisierungen von schöpfertum als kleiner unterschied bei richard wagner und marcel duchamp

michael wetzel Die Wahl dieser beiden Künstler bedarf sicherlich einer vorgängigen Erklärung, um nicht zu sagen Entschuldigung. Ausgehend von Richard Wagner und Marcel Duchamp zu versuchen zu zeigen, wie um 1900 ein neuer Typus von Künstlersubjektivität entsteht, ist nicht nur gewagt, sondern scheint im wahrsten Sinne des Wortes ‚vermessen‘. Denn man kann kaum zwei Künstlertypen auswählen, die – abgesehen von der zeitlichen Distanz: Wagner starb vier Jahre vor der Geburt Duchamps – so entgegengesetzte Teile der geistigen Weltkarte bewohnten: Der eine pathetisch, rauschhaft, seine Kunst mythisch-mystisch zu einer neoreligiösen Dämonie verklärend, der andere nüchtern kühl, intellektuell distanziert, angeblich im Schachspiel und Reißen von Witzen (franz.: mots d‘esprit) seine Kunst suchend und gleichzeitig verspottend; der ‚Blubo‘-Deutsche und der ‚Intello‘-Franzose, um einmal die vulgärsten Stereotypen zu bedienen – aber halt: So fern sind sich die Welten gerade auf der Ebene nationaler Berührungen nicht. Man weiß, welch enthusiastische Aufnahme Wagner gerade bei den französischen Symbolisten von Baudelaire bis Mallarmé gefunden hat, welch letzterer wiederum einen nicht unerheblichen Einfluss auf das Denken Duchamps hatte. Man weiß sogar, dass Duchamp Wagners Opern schätzte, obwohl ihm Strawinsky näher war und andererseits die Musik in seinem Œuvre – außer der kleinen Zeichnung eines Radfahrers auf einem Notenblatt und dem dadaistischen Kompositionsspiel Erratum musicale sowie der persönlichen Freundschaft zu Eric Satie – eher einen geringeren Anteil hatte.1 Aber es geht nicht um die Überwindung der Gegensätze, sondern gerade um ihre Betonung bzw. Zuspitzung oder genauer – mit einem musikfachlichen Terminus gesprochen, den Adorno überaus schätzte – um ihre Engführung. Aus einem Gesichtspunkt der Originalität von Forschung heraus formuliert, ist es doch gerade das Unmögliche des Vergleichs, das den größten Reiz ausmacht, einmal in der schwarzen Nacht des Niegedachten, Unvermuteten, Abgelegenen zu stöbern, um nicht doch und zwar unterirdisch, jenseits der architektonischen und geradlinig gewachsenen Ordnungen eine quasi rhizomatisch quer wuchernde Verbindung zwischen den entlegenen Orten zu finden. Heißt es doch, das Unmögliche zu versuchen, um wirkliche 1

Vgl. den Artikel von Alfred Kreymborg in: Serge Stauffer (Hg.), Marcel Duchamp, Interviews und statements, Ostfildern-Ruit 1992, S. 14, sowie die entsprechenden Abbildungen der genannten Werke Duchamps in Arturo Schwarz, The Complete Works of Marcel Duchamp, New York 2000, S. 329, 334, 572, 592 u. 598.

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Erfahrungen zu machen, wie sie Maurice Blanchot in seinem Begriff von „impossiblité“ beschwört, eine wirkliche Erfahrung, „expérience au sens strict“, die sich da ergebe, wo etwas radikal anderes eine „passion du Dehors même“, des Draußen als das Unerwartete erweckt.2 Zunächst aber dominiert der Kontrast – schon physiologisch zwischen dem großen und schlanken Intellektuellen-Künstler aus der Normandie und dem deutschen Dichter-Komponisten, klein zwar, aber nicht dick, nur aufgeblasen. Und wenn er seinen Ruf ausgibt: „Höchste Lust, unbewusst“, dann erwartet man keinen Anschluss unter dieser Nummer im Atelier Downtown Manhattan. Aber der Schein trügt. So wie in Wirklichkeit Wagner gar nicht so ‚bewusstlos‘ komponierte, sondern genau jeden Effekt bis hinein ins kleinste Detail der Inszenierung kalkulierte, setzte Duchamp bei seinem kühlen, rational reflektierten Vorgehen immer wieder auf unberechenbare, blinde Zufälle, das heißt auf das, was dem Künstler beim Schaffen in seiner bewussten Selbstkontrolle entgeht, auf intentionslos Passierendes, akausale Synchronizität von Staub, Störungen, Unfällen z. B. als Brüche im Glas oder schlicht die Indifferenz der Materie. Zum Gegensatz werden die kreativen Einsätze des kalkulierten Kontrollverlustes erst auf der Metaebene der rezeptionsgeschichtlichen Bewertung, die bei Wagner das Hohe Lied der Abgründe mythisch-mystischer Mausoleen singt, die natürlich für einen Spötter wie Duchamp keinerlei Thrill-Effekt haben. Sein ‚Unbewusstes‘ ist kein spinnenwebenbedecktes Kellergewölbe, sondern eher ein hybrider kybernetischer Koloss auf tönernen Füßen oder besser solchen aus Elfenbein, wie bei einem wertvollen Glücksspiel die ewig rollenden Würfel es sind. Es gibt nämlich eine fundamentale Gemeinsamkeit zwischen Richard Wagner und Marcel Duchamp, ohne die alle folgenden Überlegungen sinnlos wären, weil sie nämlich im entscheidenden Einschnitt in die Entwicklung des Künstlerbildes im 19. Jahrhundert wurzelt. Über einen solchen Einschnitt – oder vielleicht sollte man gleich davon im Plural reden – gehen die Meinungen natürlich auseinander. Gemeinsam haben sie nur, dass es einen solchen Einschnitt gibt und dass er etwas mit dem kulturellen Umbruch der Zeit zu tun hat. Dieser wird mal mehr am Ökonomischen, Mentalen, Sozialen oder neuerdings spezifischer am Medientechnischen fest gemacht. Recht haben alle, wenn man sie zusammennimmt. Die Differenz zur großem Aufbruchstimmung im 18. Jahrhunderts mit ihrer Fundierung so vieler Künstlermythen ist sicherlich auch das gegenläufige Negative einer Verweigerung des großen Schöpfungsgestus, die Antihaltung der Neuen Avantgarden. In seiner großen Eloge auf Duchamp sucht André Breton nach einer epochal stimmigen Formel für den Neuen Künstlertyp, die er in einer Formulierung Edgar Allan Poes findet: „The fact is that originality (unless in minds of very unusual force) is by no means a matter, as some suppose, of impulse or intuition. In general, to be found, it must be

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Maurice Blanchot, La parole plurielle, in: ders, L‘Entretien infini, Paris 1969, S. 66.

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elaborately sought, and although a positive merit of the highest class, demands in its attainment less of invention than negation.“3 Interessanterweise lautet die deutsche Übersetzung der Kernformel: „weniger Einfall als Auswahl“4, so dass die Ersetzung des Paares „Invention/Negation“ durch das von „Einfall/Auswahl“ wie ein Wink in Richtung Duchamps wirkt, der das Destruieren mehr in die verbindliche Version des „Reduzierens“ kleidet: „Reduzieren, reduzieren, reduzieren, das war mein Gedanke, – aber gleichzeitig richtete sich mein Ziel mehr nach innen, als auf äußere Dinge. Und später, indem ich diese Sicht weiterverfolgte, kam ich soweit zu spüren, dass ein Künstler alles benützen kann – einen Punkt, eine Linie, das konventionellste oder unkonventionellste Symbol –, um das zu sagen, was er sagen will.“5 Reduzieren wird hier in der negierenden Tendenz zugleich mit einer Wendung ins Innere verbunden, die auch als Abwendung vom Außen verstanden werden kann und zu einer ästhetischen Indifferenz führt. Darin ein Potenzial der Schöpfung zu suchen, wurde schon für Wagner zur Aufgabe, im „Geist des Missvergnügens an allem, was existiert“, die Wurzel zur Schöpfung von Neuem zu finden als „Ausdruck eines dunkel-fanatischen Willens zum Bruch mit der Kunst.“6 Dieser wird zum Motor einer fortschrittlichen Verbindung von Destruktion und Konstruktion/Komposition, und Fortschritt ist in der Tat das Zauberwort der Epoche und auch für Wagner. Immerhin nimmt kein Begriff einen auch nur vergleichsweise zentralen Ort im Diskurs Wagners ein wie das Wort Zukunft. Aufsatztitel wie Der Künstler der Zukunft, Das Künstlertum der Zukunft, Das Kunstwerk der Zukunft sind hierfür symptomatisch, und es ist die Kraft der Verneinung, die das Werk der Einlösung von Zukunft betreibt. Aber was heißt Zukunft? Zunächst sei erinnert an das ontologische Fundament von Zukunft nämlich als Bestimmung von Zeit! Und es ist eine besondere Dimension von Zeit, die damit zumindest intentional berührt wird, denn es ist eine Zeit, die nicht gegeben ist, ja die, wenn sie da ist, schon nicht mehr Zukunft ist, sondern Gegenwart und auch diese nur für einen Augenblick, bevor sie Vergangenheit wird. Damit wird auch der Kern der Fragestellung des Künstlertums berührt, bei der es ja im Wesentlichen um Schöpfertum geht7, also auch um eine Umgangsweise mit Zeit als Dimension des Werdens und der Entwicklung von Neuem. Zugleich stehen beide Künstler im Fokus von Zeit-Revolutionen im doppelten Sinne: einem politischen als Zeit der Revolutionen und einem epistemologischen als Revolution der Zeitvorstellung durch die naturwissenschaftlichen und ökonomischen Veränderungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts.

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Edgar Allan Poe, Philosophy of Composition, in: Graham’s American Monthly Magazine of Literature and Art, Vol. XXVIII, Philadelphia 1846, S. 166. Vgl. André Breton, Marcel Duchamp. Phare de „La Mariée”, in: ders., Le surréalisme et la peinture, Paris 1965, 117. Edgar Allan Poe, Die Methode der Komposition, übers. von Ursula Wernicke, in: Edgar Allan Poe, Werke, Bd. IV, Olten 1966, S. 542. Marcel Duchamp, Gespräch mit James Sweeney, in: Duchamp 1992 (wie Anm. 1), S. 37. André Malraux, Stimmen der Stille, übers. von Jan Lauts, Baden-Baden 1956, S. 337. Vgl. z. B. den Untertitel von Verena Krieger, Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007.

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Der politische Aspekt des Künstlers als Revolutionär ist bei Wagner dominanter8, aber auch Duchamp entwickelt sozusagen als Revolutionär der Kunst und des Künstlerbildes seine subversive Kraft aus reinen Ideen.9 Beide ziehen so, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die Konsequenz aus der industriellen Revolution, indem sie ein neues Künstlerbild nicht aus sich, nicht aus einer Setzung des autonomen Ichs, sondern im Sog der von ihnen empfundenen neuen Kraft der Zeit entwickeln, einer Zeit, die anders ist, einer anderen Zeit, einer Zeit der anderen Zeitregime, der Unzeit, die dem Zeitempfinden und Zeitregiment des die Zeit des Werks gebenden und so ‚werkbeherrschenden‘10 Künstlers, des die Zeit chronologisch autorisierenden Autors – enträt. Und das ist der Geniestreich, den zuerst Wagner und dann – ohne eine Verbindung oder Filiation – Duchamp vollzieht: dass sie – mit Poe gesprochen (und dessen Verweis auf „unusual force“ einmal weglassend) – Originalität an Negation: zunächst auch an Selbst-Negation knüpfen. Ihr Ziel: ein Künstler-Sein qua Selbst-Destruktion, Autorschaft qua Aufhebung von Autorschaft im Reich des Unbewussten, Ungewussten, Ungefügten, Unzeitigen, etc., das aber refigurierbar wird über eine Zeit, in der Zeit – als berechenbare – aufgehoben wird. Wagner und Duchamp, so die Hypothese, intendieren über ein Moment der bewussten Aussetzung von Autorschaft qua Autorität übers Material eine potenzierte Form der Teilhabe am Eigenleben dieses Materials, die über das Prinzip Zeit als Intensität und Evolution verstehbar wird: als Einleben ins Proprium des Materials, als akkumulierende Appropriation desselben im Namen einer restitutiven Autorschaft. Diese geht nicht mehr von einer creatio ex nihilo aus, sondern begreift sich als Arrangeur des vorgefundenen Materials. Der Weg dorthin heißt Suspension, ein Konzept, dessen semantische Weite das ‚Aussetzen‘ als Enthaltung ebenso umfasst wie die chemische Vorstellung der ‚Verteilung‘ in einer Flüssigkeit, die physikalische eines ‚Aufhängens‘ als In-der-Schwebe-Haltens bis hin zum englischen Wort suspense für ‚Spannung‘. Über dieses Verständnis von Autorschaft als Aufschub, Verzögerung, Umweg vermittelt sich zugleich eine Diversifikation der künstlerischen Medien, die vom Text übers Bild bis zum Plastischen und Performativen alle Dimensionen zu umgreifen suchen. Das bei Wagner sogleich assoziierte Motiv vom Gesamtkunstwerk wird bei Duchamp irritierenderweise nicht aufgegriffen, obwohl doch seine spätestens seit der Arbeit am Großen Glas dezidierte Parallelisierung von pikturalen Elementen und textuellen Kommentaren, Konstruktionszeichnungen und theoretischen Spekulationen11 sowie die medial avancierten Präsentationsweisen der Boxes und Valises als Musées Imaginaires dank des gezielten Einsatzes von Reproduktionstechnologien der Photographie und des Films und Distributionstechnologien wie dem Radio (in der Form des Interviews) das Konzept ent8 Vgl. ebd., S. 69ff. 9 Vgl. ebd., S. 152ff. 10 Vgl. zu diesem Begriff Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geiste der Goethezeit, Paderborn 1981, bes. S. 124, wo Bosse vom Monopolismus der Werkherrschaft spricht. 11 Vgl. Michel Sanouillet (Hg.), Marcel Duchamp, Duchamp du signe. Ecrits, Paris 1994; sowie ders., Notes, Michel Sanouillet und Paul Matisse (Hg.), Paris 1999.

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scheidend weiterführen. Beide sind in diesem Sinne auch avant la lettre als ,konzeptuelle‘ Künstler eines tonalen bzw. pikturalen Nominalismus zu verstehen, insofern der Text, der Diskurs, die reflektierenden, theoretisierenden Publikationen (man denke an das große essayistische Werk Wagners, aber auch an die ‚Zettel‘-Editionen neben den Interviews von Duchamp) Teil des künstlerischen Schaffens sind. Aber es ist ganz buchstäblich so, dass bei Wagner in Form eines „Sprachvermögens des Orchesters“12, bei Duchamp explizit als „nominalisme pictural“13 das Bezeichnende über das Bezeichnete triumphiert, um jede Form von unmittelbarer Natürlichkeit am kulturellen Code zu brechen. Und sollte hier der Verdacht eines Vorurteils dem Musikalischen gegenüber bei Duchamp sich erheben, so wird dieser durch die kongenialen Wiederaufnahmen seiner Motive durch John Cage und choreographisch durch Merce Cunningham entwertet. Aber zurück zur Ursprungsfigur, die gemäß der historischen Fiktion Wagner und Duchamp teilen, insofern beide behaupten, als kreative Künstler nicht Ursache für die Uridee des Kunstwerks zu sein, sondern diese in einer Form von Passivität zu empfangen und zu entwickeln (wobei für beide Künstler als Angehörige des Zeitalters der technischen Reproduktion der photographische Nebensinn von ‚Entwickeln‘ zu reklamieren wäre). Sie stellen nur unbewusst Intensitätsströme des Künstlerischen durch, indem sie eine initiale Mediatisierung des Künstlers unterstellen. Der Künstler als Medium in allen Bedeutungen: materiell als dazwischen tretendes und vermittelndes Mittel, spirituell als Verbindung zur Geisterwelt und apparativ als Aufzeichnungs- und Übertragungsmaschine von Daten. Duchamp formuliert diesen Zusammenhang explizit: „Allem Anschein nach handelt der Künstler wie ein mediumnistisches Wesen, das aus dem Labyrinth jenseits von Zeit und Raum seinen Weg in eine Lichtung sucht. Wenn wir dem Künstler die Attribute eines Mediums zubilligen, so müssen wir ihm folglich den Zustand der Bewusstheit auf der ästhetischen Ebene absprechen. Was er tut und warum er es tut – alle seine Entscheidungen bei der künstlerischen Ausführung des Werks bleiben rein intuitiv und können nicht in eine Selbst-Analyse übersetzt werden, sei sie gesprochen, geschrieben oder bloß gedacht.“14 Oder mit Wagner formuliert, der ähnliche Töne anschlägt: „Auch im Künstler ist aber der darstellende Trieb seiner Natur nach durchaus unbewusst, instinktiv, und selbst da, wo er der Besonnenheit bedarf, um das Gebilde seiner Intuition mit Hilfe der ihm vertrauten Technik zum objektiven Kunstwerk zu gestalten, wird für die entscheidende Wahl seiner Ausdrucksmittel ihn nicht eigentlich die Reflexion, sondern immer mehr ein instinktiver Trieb, der eben den Charakter seiner besonderen Begabung ausmacht, bestimmen.“15 12 Richard Wagner, Oper und Drama (1852), Stuttgart 1984, S. 321. 13 Duchamp 1994 (wie Anm. 11), S. 111. 14 Marcel Duchamp, Der kreative Akt (1957), in: ders., Die Schriften, hg. u. übers. von Serge Stauffer, Zürich 1994, S. 239. Es gilt anzumerken, dass die Übersetzung des Titels nicht ganz korrekt ist, da es im Französischen „le processus créatif“ heißt (vgl. Duchamp 1994 (wie Anm. 11) S. 187). 15 Richard Wagner, Zukunftsmusik, Dichtungen und Schriften, Dieter Borchmeyer (Hg.), 10 Bde., Frankfurt am Main 1983, Bd. 8, S. 46.

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Sowohl Wagner als auch Duchamp berufen sich also auf die Intuition als Quelle des Schöpferischen und sprechen dem Künstler die bewusste Kontrolle über seine Entscheidungen ab. Es ist eine andere Souveränität, die sie im Sinn haben, eine Macht, die in einer selbst gewählten, bewusst eingesetzten Ohnmacht des Unbewussten gründet, das Wagner an anderer Stelle als „eben das Unwillkürliche, Notwendige und Schöpferische“16 bestimmt. Es handelt sich dabei um eine Begründungslogik, die mit Kategorien wie „Unbewusstes“, „Trieb“ keinen festen Grund reklamiert, sondern sich eher einer Dimension von Abgründlichkeit ausliefert, einer mise-en-abyme, was wörtlich ‚In-den-Abgrund-Setzen‘ bedeutet, aber eine Selbstreferentialität meint. Denn es geht bei aller Negation ja nicht darum, die Funktion des Künstlers etwa selbst zu negieren, durchzustreichen, zu eskamotieren. Das zeigt vielleicht am besten die Rolle der sogenannten Ready-mades bei Duchamp, deren banale Erscheinungsweise als industrielle Massenprodukte immer wieder dahingehend missgedeutet wird, dass Duchamp die Absicht unterstellt wird, er habe damit das schöpferische Moment im Kunstbereich ad absurdum führen wollen. Verkannt wird dabei, dass allein schon der Akt der Auswahl, ganz zu schweigen von der Präsentation durch photographische Reproduktionen und der Kommentierung durch phantasievolle Signaturen, Titel und Legenden, eine besondere Auszeichnung der künstlerischen Leistung darstellt. Schon Wagner war sich bewusst, dass die Möglichkeiten der Originalität ihre Grenzen im Material findet, das sie darzustellen hat, „denn Erfinden ist in Wahrheit nichts anderes als Auffinden“, nur dass sein selektives Warenangebot nicht wie bei Duchamp in der ‚hardware‘ (zu Deutsch: ‚Werkzeug‘), sondern in der Lebensmittelabteilung befriedigt wird als „Nehmen von der Natur: dies ist kein Raub, sondern ein Empfangen, in sich Aufnehmen, Verzehren dessen, was, als Lebensbedingung des Menschen in ihm aufgenommen, verzehrt sein will.“17 Auch wenn somit Wagners Vorstellungswelt damit mehr in die Richtung einer ‚Düsseldorfer‘ Körperfunktions-Kunst à la Joseph Beuys oder Daniel Spoerri zu weisen scheint, während Duchamp vor dem Verzehr seiner ausgewählten Objekte einhält, so verbindet doch das gemeinsame Bekenntnis zur Wahl, die, so unbewusst, zufällig, willkürlich, oder auch irrelevant sie auch erfolgen mag, allein durch ihr Ereignis eine Zeitlichkeit des künstlerischen Prozesses schafft, in der sich eine Autorität des Künstlers als Autorschaft über den Aneignungsprozess herstellt. Man kann Walter Grasskamp nur in jeder Hinsicht in seiner Korrektur des Künstlerbildes von Duchamp zustimmen: „Das Anliegen seiner ready-mades war offenbar nicht die in der Tat überaus folgenreiche Veränderung des Kunstbegriffs, sondern die Neudefinition des Künstlers, der Kunst schafft, ohne sie herzustellen, allein dadurch nämlich, dass er Gegenstände auswählt. In dieser von Duchamp mit Nachdruck betonten Geste, die als Angriff auf alle Konventionen der Kunst gefeiert wird, bleibt ihre für die Neuzeit zentrale Kon16 Richard Wagner, Das Künstlertum der Zukunft (1849), in: ders., Dichtungen und Schriften, Dieter Borchmeyer (Hg.), 10 Bde., Frankfurt am Main 1983, Bd. 5, S. 245. 17 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft (1849b), in: ders.: Dichtungen und Schriften, Dieter Borchmeyer (Hg.), 10 Bde., Frankfurt am Main 1983, Bd. 6, S. 25f. u. 37.

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vention erhalten, nämlich die der genialen Potenz des Künstlers, der gleichsam durch Handauflegen Kunst erschafft, in einer Art negativer Produktionsästhetik.“18 Mit dieser durchaus ermächtigenden Reduzierung des Künstlers auf eine existenzielle Funktion statt auf ein bewusstes und zielgerichtetes Handeln wird der klassische Begriff künstlerischen Genies qua Schöpfung aus einer Fülle durch den von Autorschaft ersetzt, der mehr auf die Aneignungs- und auch textuellen Inszenierungszusammenhänge verweist. Allerdings ist es kein substanzieller Begriff von Autorschaft, sondern eher ein kritischer, der im Sinne der Analyse Foucaults eine „klassifikatorische Funktion“19 bestimmt, nämlich Selektion zu leisten, eine Wahl zu treffen. Bei Wagner erscheint diese Funktion allerdings selbst wieder als unbewusste, instinktive Aleatorik, während Duchamp mehr die Willkür des Zufalls betont, der jede Entscheidung im Sinne des mallarméschen Coup de dé zum Unentscheidbaren werden lässt. Demonstriert in der nahezu experimentellen Versuchsanordnung von Trois stoppages étalon, die als Resultat die zufälligen Figuren von drei nacheinander fallen gelassenen Fäden von einem Meter Länge konserviert, stilisiert sich der Künstler zum Protokollanten, zu dem auch Wagner in seinen geschwätzigen Theorieschriften wird: als – um noch einmal Foucaults Definition von Autorschaft zu zitieren – „derjenige, durch den gewisse Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transformationen erklärt werden können, deren Deformationen, deren verschiedene Modifikationen.“20 Durch diesen Aspekt von Autorschaft lässt sich die besondere Leistung des Künstlers auch als Spur spezifizieren, die er im Werk als dessen Form hinterlässt. Niklas Luhmanns Differenzformel von Medium und Form bekäme so einen neuen Sinn, insofern der als Medium begriffene Künstler im Werk eine jeweilige Formierung dieses latenten Medialen evident werden ließe.21 Oder mit einem anderen, die Spurenmetapher wieder aufgreifenden Vergleich gesprochen, ist die künstlerische Leistung die ‚Seele‘ des Werkes im waffentechnischen Sinne, so wie man nämlich bei einem Gewehr- oder Revolverlauf von der individuellen Feinstruktur seiner Bohrung (an der z. B. ein dadurch abgefeuertes Projektil identifiziert werden kann) als Seele spricht. Die berühmte Formel McLuhans: „the medium is the message“, die hier vor dem Hintergrund der Gleichsetzung von Künstler und Medium zu der missverständlichen Deutung verleiten könnte, dass im Kunstwerk nur der Künstler sich selbst mitteilen wolle, muss vielmehr so verstanden werden, dass es die Spur des Mediums ist, welche die Botschaft bestimmt, im Sinne einer Signatur im übertragenen Sinne einer wieder erkennbaren Handschrift oder – etwas salopper ausgedrückt – auch eines Stallgeruches. Was damit zugleich deutlich wird, ist die bisher unausgesprochene Tatsache, dass der 18 Walter Grasskamp, Duchamp, als Genie betrachtet, in: Merkur 52/1998, H. 586–597, S. 101. 19 Michel Foucault, Was ist ein Autor?, übers. von Karin von Hofer, in: Fotis Jannidis/ Gerhard Lauer/ Matias Martinez/ Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 210. 20 Ebd., S. 215. 21 Vgl. zu dieser Differenz von Medium und Form Sabine Kampmann, Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft, München 2006, S. 73.

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Künstler als ein Medium kein Subjekt ist, das sich als Souverän oder als Sender eines Mediums bedient, sondern selbst als Medium im technischen Sinne funktioniert. Es ist immer schwierig, eine befriedigende Definition des Begriffs ‚Medium‘ zu geben, aber im allerweitesten Sinne handelt es sich gewiss um apparative Zusammenhänge (schon in der Gutenberg-Galaxis), die etwas möglich machen: die als in diesem Sinne Dispositive, d.h. zur Verfügung stellende, Daten aufzeichnen, berechnen, übertragen, um aus ihnen Informationen zu machen. Man kann diesen Prozess auch als Differenzierungsprozess beschreiben, der nach einem Algorithmus funktioniert, den Duchamp mit einem zunächst rätselhaft erscheinenden Konzept als Infra-mince bezeichnet. Es geht dabei um hauchdünne Unterscheidungen und vor allem um ihre Reversibilität, wobei auch hier Fragen der Geruchsmarkierung eine Rolle spielen. Duchamp benutzt diesen Begriff zum ersten Mal 1945 bei der Gestaltung der ihm gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift View, wobei er ihn in Gestalt eines Aphorismus einführt: „Wenn der Tabakrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn ausatmet, vermählen sich die beiden Gerüche durch InfraMince.“22 Auch hier geht es also um eine olfaktorische Markierung der Herkunft, das ‚Vermählen‘ beider Gerüche von Botschaft und Medium ist aber im alchimistischen Sinne zu verstehen, als elementare Vermengung zu Zwitterwesen. Entsprechend geht es in den einschlägigen Notizen zum Hauchdünnen um die unterschiedlichsten Formen des Unterschieds, der durch die Relationen von Wiederholung, Umkehrung, Separation, Spiegelung, Intervall, Analogie, Ähnlichkeit, Berührung, Abdruck, Reibung, Ausstrahlung, Transparenz etc. zugleich affirmiert und negiert wird.23 Ziel ist – wie schon die erste Notiz fordert –, durch immer hauchdünnere Unterscheidungen Möglichkeiten freizusetzen, ohne den Unterschied aufzuheben. Duchamp ist mit diesem Denkansatz geprägt durch neue physikalische Modelle der Zeit als Vierte Dimension bei Henri Poincaré und vor allem Esprit Jouffret, in dessen Traité élémentaire de géometrie à quatre dimensions von 1903 bereits der Begriff des „unendliche Kleinen“ [infiniment petit] eine entscheidende Rolle für die Schnitte zwischen den Dimensionen als „unendlich dünne [infiniment mince] Schicht“ spielt.24 Letztendlich macht Duchamp mit dieser Logik aber eine Aussage über die Funktionsweise des Künstlers als Medium, das wie eine Differenziermaschine arbeitet und sich dabei immer wieder – wie man im Zeitalter der Turing-Galaxis sagen würde – ‚rekursiv‘ auf seine eigenen Axiome zurückbezieht, sich um sich selbst dreht in einer Torsion oder Retorsion der Wendung, Drehung in der Spirale der Zeit, die Neues werden lässt. Man kann also die Rede vom Künstler als Medium auch übersetzen in die vom Künstler als Maschine, die bewusstlos Abstände und Unterschiede herstellt und die hinsichtlich dieser internen, rekursiven oder auch unterschwelligen Differenzierungen als inframediale Maschine bezeichnet werden kann. Als solche stellt sie das 22 Vgl. auch Duchamp 1994 (wie Anm. 11), S. 274: „Quand la fumée de tabac sent aussi de la bouche qui l’exhale, les deux odeurs s’épousent par Infra-Mince.“ 23 Vgl. Duchamp 1999 (wie Anm. 11), S. 21–36. 24 Vgl. Esprit Jouffret, Traité élémentaire de géométrie à quatre dimensions et introduction à la géométrie à n dimensions, Paris 1903, S. Xf./181f.; vgl. dazu Craig Adcock, Marcel Duchamp’s Notes from the large glass: An n-dimensional Analysis, Ann Arbor 1983, S. 37f.

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Potenzial des Hauchdünnen dar, das sich aufschiebt und in diesem Aufschub ausdifferenziert, um erst in der Form zu erscheinen als inframediales Kunstwerk, d.h. als spannungsgeladene Konfiguration von Vektoren der Transformation, Deformation und Modifikation. Ähnlich inframedial formuliert auch Adorno seine Skepsis gegenüber dem Mythos vom künstlerischen Schöpfertum, das für ihn „so gut wie ein Nichts“ ist im Vergleich zum „Differential des Neuen“ als eigentlicher Ort der Produktivität: „Durch das unendlich Kleine des Entscheidenden erweist der Einzelkünstler sich als Exekutor einer kollektiven Objektivität des Geistes, der gegenüber sein Anteil verschwindet; in der Vorstellung vom Genie als einem Empfangenden, Passivischen war implizit daran erinnert.“25 Was ist der Name des Künstlers anderes als ein Label, das diesem inframedialen Kunstwerk voller überbordender Potenzen des Anderseins aufgeklebt ist wie einer Flasche mit einem explosiven Gemisch, wie der Bordeaux-Flasche, die Duchamp auf der Vorderseite der Zeitschrift View als Pendant zu seinem TabakRauch-Aphorismus abgebildet und sich mit seinem aufgeklebten Militärpass persönlich zugeeignet hat, und aus der Rauch wie ein Gas durch Überdruck entweicht?26 Ähnlich wie bei der obsessiven Beschäftigung mit dem Phänomen der Rotation der Glasscheiben seiner Objekte einer Präzisionsoptik geht es Duchamp als Kind des 19. Jahrhunderts und dessen Beschäftigung mit Frequenzen und Stroboskopeffekten um die energetische Erzeugung eines neuen, genau genommen vierdimensionalen Raumes, die jetzt die Gültigkeit des euklidischen Raumes in Frage zu stellen beginnt. Die neue Aufgabe des Künstlers ist also vor allem der Umgang mit Zeit als Zeit, d.h. als dem Zeitigenden, das den hauchdünnen Übergang zwischen Medium und Form, Künstler und Werk ermöglicht. Zwei Dimensionen sind hierbei jedoch zu unterscheiden: die Aufgabe einer Darstellung von Zeit als Bewegung im Kunstwerk und die Verzeitigung des künstlerischen Schaffens, nicht nur im Sinne einer Temporalität des kreativen Prozesses selbst, sondern auch einer Endlichkeit des Künstlersubjekts in seiner individuellen Existenz (letztlich durch den Tod). Wagner löst die erste Aufgabe durch seine erfinderische Umgangsweise mit dem Rhythmus, der nicht mehr einer chronologischen, sondern einer intensiven Zeit gehorcht. Für Duchamp ist es eine Frage der Sprengung oder Überwindung der dritten Dimension durch Rotation und der Transparenz der Bildoberfläche, was eine Einbeziehung des Zeitraumes der Präsentation impliziert. Darüber hinaus spielt für beide auch hier jene intermediale Relation des Gesamtkunstwerks eine Kardinalrolle, nämlich als die zum Visuellen supplementäre Sprache des Kunstwerkes, bei Wagner in Form der berühmten Leitmotive als wieder erkennbare Sprachbilder jenes „Sprachvermögens des Orchesters“, bei Duchamp als Verbindung von Plastik und Legende, von Bild und Wortkommentar bis hin zu Spielen mit der Sprache in den paratextuellen Funktionen der Titel.

25 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann (Hg.), Frankfurt am Main 2003, S. 402f. (Hervorhebungen von mir; für den Hinweis danke ich Sandro Zanetti). 26 Vgl. Titelseite der Zeitschrift „View“, New York, März 1945, abgebildet in: Duchamp 2000 (wie Anm. 1), Abb. 196, S. 412.

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Die zweite Aufgabe aber sehen beide Künstler ähnlich als Selbstbegrenzung der eigenen schöpferischen Funktion durch die Weitergabe an den Rezipienten qua interaktiven Koproduzenten. Es sind die Schauer (die „regardeurs“), die das Bild machen, wird Duchamp formulieren27 und damit an Wagner anschließen können, für den ebenfalls erst im Zuhörer, im Publikum und zwar ganz dezidiert in der prinzipiell unabschließbaren Dimension des zukünftigen Publikums sich das Werk vollendet. In der eindeutig elektrodynamische Metaphern benutzenden Sprache Wagners heißt es: „Der eigentliche Erfinder war von jeher nur das Volk, – die namhaften einzelnen sogenannten Erfinder haben nur das bereits entdeckte Wesen der Erfindung auf andere, verwandte Gegenstände übertragen – sie sind nur Ableiter. Der einzelne kann nicht erfinden, sondern sich nur der Erfindung bemächtigen.“28 Bei Duchamp kommen solche Adressaten wie ‚Volk‘ nicht vor, aber auch bei ihm wird der schöpferische Prozess im Sinne der von Adorno genannten „kollektiven Objektivität des Geistes“ wie dem schon genannten Betrachter dezentriert, wobei das Kommunikationsmodell hier nicht dem Vorbild der Elektrizität folgt, sondern biologischen Gesetzmäßigkeiten, nämlich als „‚Transfer‘ des Künstlers auf den Zuschauer in Form einer ästhetischen Osmose, die durch die leblose Materie – Pigment, Klavier, Marmor – stattfindet.“29 Dennoch lobte schon früh Apollinaire Duchamps Verhältnis zum Volk, dem seine gerade nicht ästhetisierende Kunst verbunden sei: „Cet art peut produire des oeuvres d‘une force dont on n’a pas l’idée. Il se peut même qu’il joue un rôle social. (…) Il sera peut-être réservé à un artiste aussi dégagé de préoccupations esthétiques, aussi préoccupé d’énergie que Marcel Duchamp, de reconcilier l’art et le peuple.“30 Vielleicht hat Apollinaire schon geahnt, dass Duchamp in seinem gegen das retinale Genie gerichteten Künstlerbild wie in einem Zitat der Schlussszene von Fritz Langs Metropolis die Versöhnung von Hirn und Hand intendierte. Es geht auf jeden Fall in dieser rezeptiven Perspektive um Zukunft als zu-kommende, unvordenkliche und unentscheidbare Zeit, in der – eine berühmte Formel Roland Barthes’ variierend – der Tod des Künstlers die Geburt und damit die Zukunft des Kunstwerkes ermöglicht. In diesem Sinne lässt sich auch noch einmal die Mediatisierung der Künstlerrolle aufgreifen, deren kreativer Prozess ja als infraisierende differenzierende Datenverarbeitung, Übertragung, als Durchstellen durch einen Kanal im Kunstwerk als dessen Form oder besser In-Formation zur Darstellung kommen soll, und die – um auf das bewegende Zeitmoment zurückzukommen – auch Bewegung auslösen soll, und zwar im weniger psychologischen als vielmehr physiologischen Sinne von E-motion. Wagners Oper ist dafür legendär, dass es ihr darum ging, den Zuhörer in jeder Hinsicht zu erschüttern, ihn in einen narkotischen Zustand zu versetzen, um nicht gleich von Hypnose zu sprechen. Diese spielt aber auch bei Duchamp ihre nicht unbedeutende Rolle. Noch kaum ausreichend diskutiert ist die Tatsache, dass die Rotoreliefs, die 27 28 29 30

Vgl. Duchamp 1994 (wie Anm. 11), S. 247. Wagner 1849 (wie Anm. 16), S. 246 (Hervorhebung des Verfassers). Duchamp 1957 (wie Anm. 14), S. 239. Apollinaire, Les peintres cubistes, in: ders., Oeuvres en prose complètes II, Pierrre Caizergues und Michel Décaudin (Hg.), Paris 1991, S. 48.

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er in großer Anzahl hergestellt hat, den Scheiben ähneln, mit denen Hypnotiseure operieren. Und bei dem sogenannten Kleinen Glas, in das eine kleine Lupe eingelassen ist, durch die der Zuschauer laut Titel eine Stunde lang mit starrem Blick hindurchschauen soll, handelt es sich explizit um eine Apparatur, die Visionen erzeugen soll – wie das Perspektiv in E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann, durch dessen mediale Funktion für den Protagonisten der unbelebte Automat Olimpia sich zu bewegen und zu leben beginnt. Der Motor der Bewegung aber ist die Zeit, die schon in der Funktion des Rhythmus und der Geschichte eine fundamentale Rolle spielt, die beide Künstler immerhin als Zeitgenossen des Zusammenbruchs des euklidischen Raumes im 19. Jahrhundert und der Heraufkunft des Riemannschen vierdimensionalen Raumes prädisponiert. In der Musik liegt es offen auf der Hand. Drüner schreibt dazu in seinem Buch über Wagner als „Schöpfer und Zerstörer“: „Im Gegensatz zu anderen Kunstgattungen unterliegt in den darstellenden Künsten die schöpferische Produktion stets der Zeit. Dies gilt für Oper, Schauspiel und Tanz allgemein, wobei allerdings optische Elemente den Zwang der Zeit teilweise relativieren. Nicht so in der Musik. In ihr ist die Zeit die hauptsächliche Norm, der alle anderen unterworfen sind: angefangen von technischen Kriterien wie Intonation und Rhythmik bis zu Interpretationsfragen wie Melodiebildung, klangliche Vorstellung, harmonische Phantasie, strukturelles Denken, motivische Rückbezüge, gedankliche Gesamtkomplexe. (…) Deshalb arbeiten Komponist und Interpret ständig unter dem Diktat der Zeit; deshalb müssen sie extrem schnell hören, reagieren, denken, empfinden und handeln (…).“31 Für Wagner ist hier der Einfluss Nietzsches von besonderer Bedeutung, der als erster die antike Rhythmusvorstellung als „Rauschen eines Stromes“ charakterisierte, die kontrovers zu denken ist zum „Ictus“, dem modernen Akzent des geschlagenen Rhythmus als „Aufeinanderfolge von gleichen, oft mannigfachen Zeiträumen“.32 Wichtig ist dabei die „Zeitverschiedenheit“ und das wechselnde „Kräfteverhältnis“ im Rhythmus, wie sie von Nietzsche erstmalig formuliert wurden angesichts einer Zeiterfahrung, die sich nicht dem Diktat des alles verschlingenden Gottes Chronos unterwirft. Stattdessen wird eine andere Gottheit entdeckt, verkörpert im spielenden Kind, nämlich Aion, der nunmehr nicht als das äonenhafte Zeitlose gilt, sondern einer Zeitigung überführt wird, aber einer anderen Zeit, der Dauer, der „durée“ – wie der Nachnietzscheaner Bergson es nennen wird –, die Sein mit Werden, Wiederholung mit Veränderung verbindet. Es ist eine Zeit, die sich eben nicht aus der Summierung oder Aufzählung von (geschlagenen) Jetzt-Zeitpunkten zusammensetzt, sondern die in ihrem Fließen in kleinsten, allerfeinsten, nicht-entscheidbaren Übergängen besteht, infinitesimalen oder intensiven Mächtigkeiten der Zeit in vertikaler wie in horizontaler Hinsicht, in denen sich die Kräfteverhältnisse des Lebens artikulieren. Nietzsche schreibt dazu: 31 Hans Drüner, Schöpfer und Zerstörer. Richard Wagner als Künstler, Köln 2003, S. 117. 32 Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Theorie der quantitirenden Rhythmik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, München 1920, S. 297.

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„Die Zeitverschiedenheiten sind ja vorhanden, eine unendlich feine Symbolik (…) Eine ganz verschiedene Rhythmik ist die der Kräfteverhältnisse. Auch hier ist die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur zu bändigen durch gewisse Grundformen (regelmäßigen Wechsel von „stark“ und „schwach“). (…) Physiologisch ist ja das Leben eine fortwährende rhythmische Bewegung der Zellen. Der Einfluss des Rhythmus scheint mir eine unendlich kleine Modification jener rhythmischen Bewegung zu sein.“33 Wagner fasst das in Oper und Drama im Konzept der Beweglichkeit zusammen: „Das Orchester ist der verwirklichte Gedanke der Harmonie in höchster lebendigster Beweglichkeit. Es ist die Verdichtung der Glieder des vertikalen Akkordes zur selbständigen Kundgebung ihrer verwandtschaftlichen Neigungen nach einer horizontalen Richtung hin, in welcher sie sich mit freiester Bewegungsfähigkeit ausdehnen – mit einer Bewegungsfähigkeit, die dem Orchester von seinem Schöpfer, dem Tanzrhythmos, verliehen worden ist.“34 Was Nietzsche „unendlich kleine Modification“ nennt, macht sich in Wagners „freiester Bewegungsfähigkeit“ der Ausdehnung geltend als Abweichung in der Wiederholung, als „l’intervalle infra-mince“35, das auch zwei identische Momente trennt, ja Identisches selbst von einem Augenblick auf den anderen verändert. Im rhythmischen Wandel der Musik wäre also wieder das inframediale Fungieren des kreativen Prozesses beschrieben, dessen minimale und mikrologische Ausdifferenzierungen erst im Aufschub oder der Ausdehnung, also im Akt der Bewegung (sozusagen als passage à l’acte) den Unterschied performativ erzeugen und ihn nicht als präexistierenden konstatieren. Das Beispiel der Musik kann vielleicht am besten veranschaulichen, welche Bedeutung das Hauchdünne der Abstände oder Intervalle für die Hörbarkeit des als Einheit empfundenen Klangs hat. Es ist eine Simultaneität von Differenz und Wiederholung, von Ausdehnung und Zusammenziehen, wie sie Pierre Boulez im Zusammenhang seiner Ring-Inszenierung eindrücklich als Wagners musikalische Besonderheit beschwört, nämlich einen fließenden Zustand der Musik jenseits der Kodifizierung des Tempos zu erreichen und zwar als „zeitliche Biegsamkeit“: „Wenn die Motive bei Wagner zunächst auch aufgrund einer bestimmten Geschwindigkeit in einem bestimmten Tempo vorgestellt werden, so sind sie doch nie, oder nur sehr selten, ein für alle mal auf dieses Tempo, diese Geschwindigkeit festgelegt. (…) Sie sind nicht nur an kein bestimmtes Tempo, geschweige denn endgültiges Tempo geknüpft, sondern halten sich auch in ihren Abwandlungen an keine vorgegebene formale Hierarchie. Ihre Tempo-Metamorphosen hängen entscheidend vom momentanen Ausdruck ab, vom Augenblick, in dem sie angewendet werden, und vom expressiven Grund, um dessentwillen Wagner sie anwendet.“36

33 Friedrich Nietzsche, Rhythmische Untersuchungen, in: ebd., S. 324 u. 333. 34 Wagner 1852 (wie Anm. 12), S. 320. 35 Duchamp 1999 (wie Anm. 11), S. 33; vgl. ebd., S. 21: „Dans le temps un même objet n’est pas le même à la seconde d’intervalle.“ 36 Pierre Boulez, Die neuerforschte Zeit, in: Pierre Boulez u. a., Boulez in Bayreuth. Der Jahrhundert-Ring, Begleitheft der Phonogram-Aufnahme, Baarn 1981, S. 13.

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In diesem Augenblick – so die inframediale Einsicht –, in dem sich die musikalischen Formen im Medium des Klangs realisieren oder verräumlichen, teilen sie sich auch schon wieder, zerfallen sie – hauchdünn – in ein Moment des Erstarrens und eines des Entzugs, bewirkt durch die Möglichkeit der Abweichung kraft der virtuellen Potentialität des Mediums. Boulez spricht von „Ausdehnung“ und „Zusammenziehen“ wie in Anlehnung an Husserls Begriffe der Protention und Retention, man könnte es aber auch als Zugleich von Formation/Deformation beschreiben, wobei die inframediale Inversion den Prozess in Fluss hält: „Der Übergang, der immer mehr zu Wagners Hauptanliegen wird, lässt sich nur von einem Material her verstehen, aus dem die Fixierung praktisch verbannt wurde (…) zugunsten des Austausches, des Flusses im Werden.“37 Man hört in diesen Metaphern des Durchstreichens der Form zugunsten des fortwährenden Übergangs, des unstabilen Zustandes, der Differenz zwischen fixierten und bewegten Flächen und Schnitten, natürlich Bergson durch, den Boulez sicherlich durch seine Zusammenarbeit mit Gilles Deleuze, einen der wichtigsten Exegeten Bergsons in Frankreich, zur Kenntnis genommen hat. Entscheidend ist aber die Anschlussfähigkeit an die im Bildnerischen sich stellenden Probleme Duchamps, der in erstaunlich ähnlicher Weise der Linearität und Hierarchie der Zeit zu entgehen sucht. Bei Duchamp ist der Umgang mit einer kontinuierlich-diskontinuierlichen Zeit besonders ausgeprägt und zugleich vom Einfluss der Philosophie Bergsons geprägt.38 Das Große Glas, das nicht als Bild missverstanden werden darf, sondern ein Bild-Programm darstellt, ein Diagramm von Werteverläufen möglicher, virtueller Bilder, folgt der Aufgabe, ein „tableau de fréquence“39 herzustellen. Entsprechend lauten die zeitintensiven Beschreibungen auch: „retard en verre“ als Anspielung auf den Verzögerungs- bzw. Aufschubeffekt, „repos extra-rapide“, „épanouissement cinématique“ als Beschreibung des wie ein kinetisches ‚Aufblühen‘ erlebten Stroboskopeffektes des rotierenden Rades, immer mit dem latenten Ziel, eine „vision en quatre dimensions“ und einen „continu d’images virtuelles“ herzustellen.40 Und in diesen Zeitstrom muss sich der Künstler als Medium hineinstellen, um über ihn sozusagen von Innen her, inframedial, Autorität übers Material zu gewinnen. Der Einschnitt in die Geschichte der künstlerischen Autorschaft zeigt sich also deutlich als Übergang von einer funktionalen zu einer energetischen Begründung: Autorschaft verdankt sich nicht nur der Besetzung von bestimmten Schlüsselpositionen im Prozess der Formung und Repräsentation von ästhetischem Sinn, sondern der Übernahme, Verwandlung und Weitergabe von thermodynamischer Kraft. Oder um es mit einem weiteren philosophischen Säulenheiligen der Epoche zu benennen, dessen Name nach Nietzsche, Bergson – implizit schon Freud – nicht fern liegt, nämlich Karl Marx: der Aneignung der Produktionsmittel zum Zwecke der Nutzung und Ausbeu37 Ebd., S. 14. 38 Vgl. Michael Wetzel, Die Möglichkeit der Möglichkeit. Henri Bergson und Marcel Duchamp „s’épousent par infra-mince“, in: Ilka Becker/ Michael Cuntz/ Michael Wetzel (Hg.), Just not in time. Inframedialität und non-lineare Zeitlichkeit in Kunst, Film, Literatur und Philosophie, München 2011. 39 Duchamp 1994 (wie Anm. 11), S. 38. 40 Vgl. ebd. S. 41, 43, 62, 128 u. 138.

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tung, d.h. der Mehrung von Produktivkraft, kapitalistisch gesprochen der Erzeugung von Mehrwert (was dem lateinischen Etym von „augere“ in Autor entspräche). Eine ästhetische Sicht auf Autorschaft weicht damit einer in jedem Sinne ökonomischen, die energetischen, maschinellen und synergetischen Gesichtspunkten den Vorzug gibt und ‚Auktorialität‘ von der Arbeitskraft und den libidinösen Strömen ableitet, die im Künstler als Wunschmaschine pulsieren: „des Wissens bar, doch des Wunsches voll“, wie Brünhilde in der Götterdämmerung singt. Diese Matrix des Künstlers als gleichsam inframedial ‚innervierter‘ Körper, dessen Sensorium Eindrücke empfängt, um sie aber erst im Unbewussten wie in einem Chemie- oder Photolabor zu entwickeln, hat Wagner in seiner berühmten Anekdote über die Intuition des Orchestervorspiels vom Rheingold beschrieben, die zugleich auf das seit der Romantik geltende und in der Psychoanalyse dann systematisierte Paradigma des Traumes verweist. Nach Tagen des Unwohlseins und der Schlaflosigkeit auf der Flucht vor dem Lärm italienischer Städte versinkt Wagner in einen „somnambulen Zustand“, der von dem Gefühl beherrscht ist, in fließendem Wasser zu versinken: „Das Rauschen desselben stellte sich mir bald in musikalischem Klange des Esdur-Akkordes dar, welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahinwogte; diese Brechungen zeigten sich als melodische Figurationen von zunehmender Bewegung, nie aber veränderte sich der reine Dreiklang von Es-dur, welcher durch seine Andauer dem Element, darin ich versank, eine unendliche Bedeutung geben zu wollen schien. (…) Sogleich erkannte ich, dass das Orchester-Vorspiel zum ‚Rheingold‘, wie ich es in mir herumtrug, doch aber nicht genau hatte finden können, mir aufgegangen war (…).“41 Hier haben wir die Urszene des Künstlers als Empfangsapparat, der im somnambulen Zustand die aufgenommenen atmosphärischen Strahlen und Ströme des gleichsam kosmischen Weltatems formiert, transformiert und weitergibt als Medium, das Freud dann in der Traumdeutung durch Mechanismen wie Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit unter Zuhilfenahme von photographischen, telegraphischen und kybernetischen Modellen (die sich ähnlich schon bei Bergson in Materie und Gedächtnis vorgeprägt finden) als Psychischen Apparat des Unbewussten beschreiben wird. Duchamp greift den Staffelstab mit seinem (wiederum von Bergson übernommenen) Konzept des osmotischen Körpers des Künstlers auf, der die „Wandlung der leblosen Materie in ein Kunstwerk“, eine von Duchamp doppeldeutig so genannte „Transsubstantiation“, die sich letztendlich erst im Zuschauer vollzieht, der die „Rohmasse“ „raffinieren“ muss.42 Es handelt sich dabei aber um eine Rohmasse, die schon in sich den Keim inframedialer Ausdifferenzierung trägt, den Duchamp in mathematischer Analogie als „Kunst-Koeffizienten“ bezeichnet: In ihm vollziehe sich der Kampf der Absicht um Verwirklichung, der durch eine „Kette völlig subjektiver Reaktionen“ (wieder eine chemische Analogie) verläuft und eine „Serie von Bemühungen, Leiden, Befriedigungen, Verzichten, Entscheidungen“ durchläuft, die unbewusst bleibt und in die immer infra-mince eingeschrieben bleibe die „arithmeti41 Richard Wagner, Mein Leben, Martin Gregor-Dellin (Hg.), München 1963, Bd. 2, S. 512. 42 Duchamp 1957 (wie Anm. 14), S. 240.

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sche Relation zwischen dem Unausgedrückten-aber-Beabsichtigten und dem Unabsichtlich-Ausgedrückten“43 (also als chiasmatische Verschränkung der hauchdünnen Differenz zwischen unbewusster Intention und zufälliger Evidenz). In dieser alchymischen Hochzeit von Mathematik und Ästhetik kehrt nicht nur latent der Anfang der neuzeitlichen Autor-Künstler im Modell des Ingeniere à la Leonardo da Vinci wieder, es wird auch noch einmal der Brückenschlag zwischen Kunst und Wissenschaft vollzogen, der auch das von Duchamp zitierte physikalische Modell T.S. Eliots vom Künstler als Katalysator beherrscht44 und der, was das Rätsel der Erfindung (inventio) betrifft, auch den Mathematiker vor ähnliche Probleme gestellt weiß. Der für Duchamps physikalisches Weltbild entscheidende Henri Poincaré hat die Frage nach dem Wesen der „mathematischen Erfindung“ und den Nutzen derselben nicht in neuen Kombinationen bekannter Elemente, sondern im Reduzieren erkannt: „Erfinden heißt ausscheiden, kurz gesagt, auswählen.“45 Diese, später dann für Duchamps Schaffen von Ready-mades bestimmende Methode führt er am Beispiel des Ringens mit einem mathematischen Problem aus. Die Plötzlichkeit, mit der die lange sich verzögernde Lösung dann einleuchtete, ist für ihn Anzeichen einer vorausgegangenen „unbewussten“ Arbeit daran, die Inspiration müsse dann aber noch in einer zweiten bewussten Phase redigiert und geprüft werden, fest steht jedoch: „Das unbewusste Ich, oder, wie man sagt das subliminale Ich, spielt eine Hauptrolle bei der mathematischen Erfindung (…) Die Regeln nach denen eine solche Auswahl getroffen werden muss, sind ungemein fein und subtil. Das subliminale Ich steht keineswegs tiefer als das bewusste Ich, es arbeitet nicht rein automatisch, es hat die Fähigkeit zu unterscheiden, es hat Feingefühl; es kann auswählen, es kann ahnen.“46 Die Beschreibung ähnelt den Ausführungen Freuds zum sogenannten anderen Schauplatz der Traumarbeit und den dort wirksamen Mechanismen des Unbewussten, nur dass es kein Phänomen der Verdrängung gibt. Dafür sucht Poincaré nach einem anderen Modell für diese Arbeitsweise an der Lösung, die er durch die Begriffe von „Freiheit“ sowie „Zufall“ und „Unordnung“ spezifiziert, ohne an ihrer allerdings niemals fertig werdenden Produktivität neuer Kombinationen zu zweifeln; und er findet ein solches Modell in der kinetischen Gastheorie, die sicherlich auch Duchamp bei seiner Darstellung der Flasche auf dem Titel von View und bei anderen Spekulationen über Gasphänomene in seinen Werken vorgeschwebt haben dürfte: „Anders ist es während einer Periode scheinbarer Ruhe und unbewusster Arbeit: dann lösen sich einige dieser Atome von der Wand los, und setzen sich in Bewegung. Sie durchfurchen den Raum, oder besser gesagt, das Gefäß, in dem sie eingeschlossen sind, nach allen Richtungen hin, etwa wie ein Schwarm von Mücken oder, 43 Ebd., S. 239. 44 Ebd.; Duchamp bezieht sich auf Eliots Essay Tradition and Individual Talent, wo sich der Vergleich findet. 45 Henri Poincaré, Wissenschaft und Methode, übers. von Ferdinand Lindemann, Berlin/Leipzig 1914, Nachdruck Berlin 2003, S. 40. 46 Ebd., S. 44f. (der Übersetzungsfehler „sublimes Ich“ wurde stillschweigend durch „subliminales Ich“ korrigiert).

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wenn man einen gelehrten Vergleich vorzieht, wie die Gasmoleküle in der kinetischen Gastheorie. Ihre gegenseitigen Zusammenstöße können dann neue Kombinationen hervorbringen.“47 Man könnte es – bei einem kleinen Wechsel vom Medium des Gases zu dem des Wassers – auch als Parallelbeschreibung zum Wogen des inframedial komponierenden Unbewussten Richard Wagners lesen. Von Duchamp gibt es – im Gegensatz zu einschlägigen Experimenten der Surrealisten – keine Berichte über solche persönlichen Erlebnisse. Allerdings hat er außer den Zufalls-Serien der fallengelassenen Meter-Fäden von Trois stoppages étalon der Willkür des Schicksals auch einmal bei einer musikalischen Komposition die Hand überlassen. Beim musikalischen Experiment Erratum musical ist der Künstler nur noch Medium aleatorischer Auswahlentscheidungen, deren Kombination er transferiert. In der ‚Partitur‘ für drei Stimmen hat Duchamp zusammen mit seinen beiden Schwestern Yvonne und Magdelaine die Notenfolge durch willkürliches Ziehen von Noten wie Lose aus einem Hut festgelegt, während der gesungene Text die lexikalische Definition des Begriffs „drucken“ wiedergibt: „Faire une empreinte, marquer des traits une figure sur une surface, imprimer un sceau sur cire“. Das Serielle bzw. Automatische (wie in der ‚écriture automatique‘ der Surrealisten) wird mit dem Zufälligen des Mallarméschen Würfelwurfes gepaart: „Diese Arbeit, so ungewöhnlich sie im Kontext der zeitgleich entstandenen bildnerischen Arbeiten scheint, teilt doch die in ihnen angelegte Hinwendung zur Maschinenwelt als Absage an überlieferte ästhetische Begriffe wie Werk, Schöpfertum, Subjektivität. Deren Aufgabe wird ironisch im Bildtitel Rechnung getragen: Erratum musical – Musikalischer Irrtum.“48 So treffen sie wieder aufeinander, Richard Wagner und Marcel Duchamp: dieser, der in seiner Jugend eine Ausbildung als Graphiker absolviert hatte, produziert wie eine wild gewordene Druckmaschine Noten- und Buchstabensalat, jener amalgamiert das Rauschen vom Mittelmeerwogen und italienischem Straßenlärm zu RheingoldVorspielen: jeder eine inframediale Wunschmaschine auf seine Art. Aber lassen wir nun zum Schluss die beiden Antipoden oder auseinanderdriftenden Gegenwelten, die dieser Diskurs für einige Minuten zusammengezwungen hat, wieder in ihre disparaten Sphären des Orbits entfliehen, in deren Unendlichkeit sie sich aber doch wieder begegnen werden. Denn noch im zugespitztesten Punkt ihrer Unversöhnlichkeit berühren sie sich: wenn Wagner natürlich die Schöpfungskraft des Lebens feiert als organische der fruchtbaren Fortpflanzung (in Bildern einer Besamung durch den Künstler, der Geburt des Werks), während Duchamp in anorganischen Bildern des sterilen Junggesellentums denkt; also ein restitutives Körperbild des molaren, ganzen Körpers einem projektiven des molekularen, zerstückelten Körpers gegenübersteht. Um den Gegensatz dann doch noch einmal und zwar im Sinne Nietzsches zu formulieren: Wagner, der im Laufe seines Lebens immer mehr darum bemüht war, sich in die heroische Fratze einzuüben und die acherontischen Abgründe des ‚Dionysischen‘ 47 Ebd., S. 48; vgl. auch ebd. S. 49. 48 Peter Becker/ Peter Rautmann, Kann man eine Skulptur hören? Synästhetische Konzepte in der Musik der Gegenwart am Beispiel John Cage, in: Frank Schneider (Hg.), Im Spiel der Wellen. Musik nach Bildern, München 2000, S. 119f.

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zu bewegen, um daraus nur eine billig gepuderte Puppe apollinischer Versöhnung hervorzuzaubern, und auf der anderen Seite Duchamp, der immer schön verspielt heiter das ‚Apollinische‘ mit Unverbindlichkeit verwechselt, doch unter der Hülle des schönen Scheins seines Witzes („esprits“) die wahren Höllenkräfte einer dionysischen Abgründigkeit aufzureißen wusste, wie den Schlund eines Vulkans, in den er das Phantom des abendländischen Künstlers schleudert. Bleibt er dort verschollen oder kehrt er in veränderter, mutierter Form wieder? Vielleicht aber spuckt der Vulkan wie bei Empedokles nur einen Schuh aus – fragmentarisch wie diese Überlegungen, aber wenn man sie ein bisschen dreht, wird vielleicht ein Schuh daraus.

einführung julia gelshorn Der Begriff des Autors wird heute reflexartig mit seiner Infragestellung durch literaturwissenschaftliche Bewegungen wie den New Criticism und die Erzähl- und Intertextualitätstheorien sowie mit seiner letztendlichen Todsagung durch den Poststrukturalismus verbunden. Dazu gehört allerdings längst auch wieder die Rede von einer „Rückkehr“ des Autors oder zumindest von einer Revision seiner Position und Funktion in den Künsten, da die beharrliche Beständigkeit der Autorfigur aller Dekonstruktion zum Trotz nach einer Neubewertung verlangt. Auch wenn die Disziplin der Kunstgeschichte – wie in vielen theoretischen Belangen – ihre Aufarbeitung der Autorfunktion der begrifflichen Vorarbeit anderer Wissenschaften entlehnt hat und entsprechend verspätet – auch gegenüber der Reflektiertheit der Kunst selbst – Kategorien wie die Intentionalität, Subjektivität oder Geschlechtlichkeit des Künstlers kritisch in Frage gestellt hat, geschieht doch heute auch die kunstwissenschaftliche Analyse von Autorfunktionen aufgrund der Annahme einer diskursiven Konstruiertheit von Künstler- ebenso wie von Geschlechterrollen. Grundlegend für dieses Bewusstsein waren sowohl künstlerische wie wissenschaftliche Arbeiten aus feministischer Perspektive, in denen die historische Verschränkung von Autor/Künstler, Genie und männlicher Identität sowohl in sozialen Realitäten der Künstler wie auch in wissenschaftlichen Strukturen bloßgelegt werden konnte. Dabei wurde zunächst der Kanon von ‚Autoren‘ der Kunstgeschichte um ‚Autorinnen‘ erweitert. Um aber einer fortgesetzten Marginalisierung von Geschlechtern, Gattungen oder wissenschaftlichen Diskursen ebenso entgegenzuwirken wie einer Festschreibung von Geschlechterverhältnissen, hat sich die ‚Frauenperspektive‘ auf eine Geschlechterforschung und damit auf eine umfassende Identitäts- und Alteritätsforschung ausgeweitet. Dass Künstlerinnen und Künstler sich selbst äußerst reflektiert mit Identitätsmodellen, Rollenspielen, Maskeraden, Körperdiskursen, Künstlermythen sowie einer Vielfalt von Autorfiguren und Produktionsmodi auseinandersetzen, war hierfür nicht nur Anstoß, sondern muss auch weiterhin als Herausforderung für die Wissenschaft gesehen werden. Wie ist das Wechselverhältnis von Wissenschafts- und Kunstproduktion jeweils zu analysieren? Inwiefern deutet die Kunst theoretische Topoi, die die Wissenschaft entwickelt hat, um und trägt dabei selbst zu Theorien der Autorschaft bei? Welches sind die Konsequenzen von derart reflektierten künstlerischen Modellen von Autorfunktionen: Muss der performative Umgang mit Autorrollen in der Kunst letztlich doch wieder auf eine souveräne ‚Autorität‘ zurückgeführt werden? Oder verfällt ein derartiges Denkmuster vielmehr wieder der Konstituierung eines repräsentativen und kohärenten Subjekts, das doch gerade in Frage gestellt wird? Es scheint, als stoße die „Subjektwissenschaft“ Kunstgeschichte (Knobeloch) hier an ihre strukturellen Grenzen, da ihre Deutungsmuster und Erkenntnisziele selbst in Frage

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gestellt sind. Die Dekonstruktion und Destruktion normativer Funktionen von Autorschaft und Subjektivität durch die Kunst fordert hingegen dazu auf, diese Produktionsmodelle als Neukonzeptionen von Autorschaft zu begreifen, welche jenseits eines normativen und kohärenten Begriffs von Subjektivität angesiedelt sind. Der Kunstmarkt hingegen und mit ihm die entsprechenden Publikationsorgane sowie auch häufig das Ausstellungswesen sind – vielleicht stärker denn je – daran interessiert, den Kult der Künstlerfigur und damit die Fetischisierung des Autors aufrecht zu erhalten. Abgesehen von einer derartigen Vermarktung (und Selbstvermarktung) der Künstler und der Feier ihrer ‚Selbstinszenierungen‘, hat aber die radikale Dekonstruktion einer Subjekt- und Autorenposition auch wieder ein wissenschaftliches Interesse an der Konjunktur und der nicht zu negierenden Bedeutung von Künstlerperson und -biografie befördert. Deckt diese „Rückkehr des Autors“ auf, dass es sich bei der Vorstellung einer ‚autorlosen‘ écriture (Barthes) oder einer mechanisch durch Sprache produzierten Subjektivität (Lacan) ebenfalls um Konstruktionen, um Gegenmythen, handelt? Es wäre zu fragen, ob in diesem Sinne auch künstlerische Positionen denkbar wären, die sich gezielt jenseits eines selbstreflexiven Umgangs mit dem vermeintlichen „Tod des Autors“ ansiedeln ohne sich des Rückfalls in ‚überholte‘ Subjektpositionen verdächtig zu machen. Autorschaft – so lässt sich in jedem Falle folgern – ist nur als performative Wechselbeziehung zwischen Werk und unterschiedlichen historischen wie zeitgenössischen Begriffen und Kontexten beschreibbar und in ihren Funktionen analysierbar. Die Vielfalt und Dynamik dieser Kontexte kann dabei etwa als Beziehung zwischen Systemen oder auch als dynamisches Netzwerk gedacht werden. Was leisten derartige Modelle für die Analyse der Autorfunktion und für den Begriff des Autors, ja für das Verständnis der Rolle, Person oder den Beruf des Künstlers? Muss das Konzept des Autors im Hinblick auf die spezifischen Kontexte der bildenden Kunst anders gefasst werden als etwa in der Literaturwissenschaft? Und wie lassen sich künstlerische Produktivität oder künstlerische ‚Arbeit‘ in ihrer Spezifik beschreiben, ohne dabei eine Heroisierung von Schöpfertum oder aber eine symbolische Marginalisierung von KünstlerInnen, wie sie die Moderne hervorgebracht hat, fortzuschreiben? Haben Kunst und Kunstgeschichte sich damit abgefunden, dass der „Autor als Produzent“ (Benjamin) sich nicht gegenüber ‚autonomen‘ Künstlerpositionen durchsetzen konnte? Oder ist der Künstler tatsächlich inzwischen nichts anderes als ein „Mann der Welt“ (Kaprow), der eine spezialisierte Disziplin, einen Beruf wie jeden anderen ausführt? Lässt sich denn von einem wie auch immer gearteten ‚Autor‘ überhaupt sprechen, ohne ihm einen ‚Sonderstatus‘ in der Gesellschaft einzuräumen? Oder ist der künstlerische ‚Autor‘ ein ‚Urheber‘ wie jeder andere?

„aufstand gegen die sekundäre welt“1 die biografik zwischen fact und fiction

renate berger Biografien beflügeln. Wenn alles vorbei ist – wenn auf Dachböden oder in Archiven bereit liegt, was öffentlichen Institutionen, Sammlern oder einfach Privatpersonen anvertraut werden soll, wenn der Duft eines Parfums verflogen, der Glanz einer Krawatte stumpf geworden ist, wenn die lebensvolle Gegenwart eines Individuums, das starb und unter vielen, oft zerstreuten und zerstreuenden Blicken jetzt gleichsam zerfällt oder sich im Gedächtnis der Überlebenden umzuformen beginnt, sobald „Anlässe“ ersonnen werden, der Toten zu gedenken – wenn alles vorbei ist und ein Werk dennoch Interesse weckt und Fragen offen lässt, dann schlägt die Stunde der Biografen. Wer das Wagnis einer Biografie auf sich nimmt, muss es mit einer Fülle von Problemen aufnehmen, bevor der Kern des betrachteten Lebens jenseits jedweder Interpretation in Erscheinung treten kann. Die ungemein aufwendige, oft schon mit Geburtsort und -datum beginnende Recherche, die Zugänglichkeit oder Unzugänglichkeit von Materialien und die damit verbundenen Kontakte zu Angehörigen bzw. Nachlassverwaltern setzen nicht allein dem Erkennungsvermögen Grenzen, sondern das ganze Unterfangen einem Grad an Unsicherheit aus, den nicht jede/r auf sich zu nehmen bereit ist. Plötzlich auftauchende, plötzlich frei gegebene Quellen können eine sich oft über Jahre erstreckende Arbeit teilweise oder ganz in Frage stellen, weshalb auf wissenschaftlicher Basis geschriebene Biografien in Gefahr sind, rascher zu veralten als andere Texte, selbst wenn sie die Probe der „Lesbarkeit“ bestanden haben. BiografInnen sitzen zwischen allen Stühlen. Leben und Werk – Kunst und Wissenschaft – Fakten und Fiktionen erzeugen Bruchkanten, die bereits den Versuch in Frage stellen, der nachträglich hergestellten Physiognomie eines Lebens Präsenz zu verleihen, wie es die Antibiografik seit Roland Barthes getan hat.2 Säuberlich getrennt oder wechselseitig in Dienst genommen – die Trennung von Leben und Werk, aber auch das in musealer Katalogproduktion immer noch anzutreffende, sich so gut wie nie legitimierende Mischungsverhältnis von werk- und lebensgeschichtlichen Informationen hat längst an Überzeugungskraft eingebüßt. Diese Mischung, der kunsthistorische Umgang mit biografischem Material selbst ist unter Beschuss geraten.

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Nach Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, Nachwort zu George Steiner: Von realer Gegenwart, München 1990. Vgl. dazu: Fotis Jannidis u. a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–232.

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Der Empfindung, unliebsame Erklärer könnten sich vor das Bild schieben und durch die Aufforderung zu „nachahmendem Lernen“ einen Prozess selbst bestimmter Annäherung verhindern, finden wir bei Schriftstellern wie Elias Canetti oder – ins Verachtungsvolle gewendet – in Thomas Bernhards „Alte Meister“. Für Canetti geht „ein Weg zur Wirklichkeit über Bilder. Ich glaube nicht, dass es einen besseren Weg gibt. Man hält sich an das, was sich nicht verändert und schöpft damit das immer Veränderliche aus. Bilder sind Netze; was auf ihnen erscheint, ist der haltbare Fang.“ Deshalb muss es „einen Ort geben“, wo der Mensch „sie unberührt finden kann (...) Wenn er das Abschüssige seiner Erfahrung fühlt, wendet er sich an ein Bild. Dann hält die Erfahrung still, da sieht er ihr ins Gesicht.“3 Ersetzt man Bild durch Biografie, überlässt man sich der Vorstellung, ein Weg zur Wirklichkeit könne die biografische Annäherung sein, gerät man zwischen mehrere Fronten. Wahrscheinlich gibt es kaum ein Thema, das in geisteswissenschaftlichem Zusammenhang mehr Kopfzerbrechen ausgelöst hat als die Bestimmung des Stellenwerts von Autobiografie und Biografie im Verhältnis zum Werk. Begreift man mit Sloterdijk Literatur „als klassische Organisationsform von Erfahrung im bürgerlichen Zeitalter, so ist die Autobiographik das subjektive Zentrum der ästhetischen Organisation lebensgeschichtlichen Wissens, also in gewisser Weise das Paradigma von Literatur überhaupt. Zugleich sprengt die autobiographische Literatur den Rahmen der Kunst, da sie wie sonst kaum eine Gattung den Anspruch auf Wahrheit und Lebensnähe erhebt.“4 Fallen bei der Autobiografie Subjekt und Objekt der Darstellung in eins, folgt die Trennung von beiden in der Biografie dennoch der gleichen „zweifachen Lesbarkeit als historisches Zeugnis und als literarisches Kunstwerk“ und nimmt in ihrem „Grenzgängertum zwischen Geschichte und Literatur“ sowohl in der Literatur- als auch in der Kunstwissenschaft eine Randposition ein, obwohl sie genuin literarische bzw. künstlerisch relevante Fragen behandelt.5 Biografien lassen Raum für Deutungen. Noch für Marcuse ist die „Jugend ihres Helden (…) seit je der große Tummelplatz der Biographen gewesen; hier können nach Belieben die Ursachen gemischt werden – Abstammung, Erbe, Milieu: die Mischung soll dann alles Spätere ,erklären‘. Weshalb gelingen diese Erklärungen immer? Weil alle Erscheinungen vieldeutig sind; weil es zu jedem Rätsel nicht immer nur eine, sondern Millionen Lösungen gibt.“6

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Elias Canetti, Die Fackel im Ohr, Lebensgeschichte 1921–1931, 21. Aufl. Frankfurt am Main 2000, S. 110. Peter Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Autobiographien der zwanziger Jahre, München 1978, S. 5–6. Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart/Weimar 2000, S. 1f.; vgl. Gabriele Jancke/ Claudia Ulbrich (Hg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographie und Selbstzeugnisforschung, Querelles 10/2005, Göttingen 2005 und Irmela von der Lühe/ Anita Runge (Hg.), Biographisches Erzählen, in: Querelles 6/2001, S. 9–30. Ludwig Marcuse, Argumente und Rezepte. Ein Wörter-Buch für Zeitgenossen, Zürich 1973, S. 18.

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Die Ansprüche an Biografien sind inzwischen gewachsen; doch naturgemäß wird ihre Entstehung begleitet von Bildern – inneren und äußeren. Wie zeichnete sich ein Mensch im Bewusstsein, im Gedächtnis der Mit- und Nachwelt ab? Was ist sprachlich und visuell noch erfahrbar? Lassen sich Impulse derer, die eine solche Herausforderung suchen, benennen? Gibt es ein leitendes Interesse, das Zusammenhänge in den Blick nimmt? Wie gehen BiografInnen mit dem Unbehagen um, das entsteht, wenn sie sich ein Bild von jemandem machen – im biblischen oder im Sinne von Max Frisch? Sein Roman Stiller (1954), beginnt mit dem Satz „Ich bin nicht Stiller“ – und thematisiert das Gefangensein eines Menschen in dem Bild, das sich andere von ihm machen. „Man geht“, so heißt es in Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr, „sowie man eine Zeitlang an einem Ort ist, in zu vielen Gestalten, Gerüchtegestalten um und hat immer weniger Recht, sich auf sich selbst zu berufen.“ Ihr Protagonist kommt nach längerer Abwesenheit in Rom an und trifft dort „auf die Gestalt, die er den anderen damals zurückgelassen hat. Sie wird ihm aufgezwungen wie eine Zwangsjacke. Er tobt, wehrt sich, schlägt um sich, bis er begreift und stiller wird. Man lässt ihm keine Freiheit, weil er sich erlaubt hat, früher, als er jünger war, hier anders gewesen zu ein. Er wird sich nie und nirgends mehr befreien können, von vorn beginnen können.“7 Nimmt man die Biografik lebender Personen aus, wird das abgeschlossene und damit aller Interventionsmöglichkeiten beraubte Leben in seiner Wehrlosigkeit offenbar, ist es doch an seine (mehr oder weniger zugängliche) Hinterlassenschaft materieller, geistiger und selbst körperlicher Art geschmiedet. Sie allein bestimmt darüber, was erforscht, konturiert und in den gebührenden Kontext gestellt werden kann. Gegen dieses Unbehagen angesichts eines preisgegebenen Lebens ist noch die gründlichste Recherche, die gewissenhafteste Prüfung der Quellen, das Stehenlassen „leerer“, durch keinen Beleg gefüllter Zonen ebenso wenig ein Mittel wie die strikte Ausgrenzung sämtlicher Hinweise auf jene „Gerüchtegestalten“, die uns als Lebende und posthum begleiten.8 Als Vorläufer künstlerischer Biografik hatte Giorgio Vasari in seinen „Lebensgeschichten der hervorragendsten italienischen Architekten, Maler und Bildhauer von Cimabue bis in unsere Zeit“ (1550; 1568) eine Kunstgeschichte des Erzählens als Sammlung chronologisch angeordneter Künstlerviten vorgelegt. Gespickt mit Anekdoten standen schicksalhafte Wechselfälle im Vordergrund. Heroisierung, virtù und Männlichkeit – bezogen auf theoretische Überlegungen – schufen Grundmuster geschlechtsorientierter Betrachtung und Bewertung von Kunst, die bis heute virulent geblieben sind. Das trifft nicht nur für Künstler, sondern auch für die wenigen Künst-

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Ingeborg Bachmann, Das dreißigste Jahr, 10. Aufl., München 2003, S. 21. So verzichtete Sigrid Weigel nicht aus personellen, sondern aus methodischen Gründen auf die Aussagen von Zeitzeugen und visuelles Material zugunsten von schriftlichen Quellen. Vgl. Sigrid Weigel, Ingeborg Bachmann, Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses, Wien 1999, S. 18–19.

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lerinnen zu, die Vasari im Gefolge der Bildhauerin Properzia de’Rossi zusammen, d. h. gleichsam in einem Aufwasch, abhandelte.9 Eine Tendenz hat sich in der kunsthistorischen Literatur bis heute erhalten: Erscheint das Leben im männlichen Fall eher als Appendix einer Monografie, die sich nach Selbstbedienungsmanier des einen oder anderen lebensgeschichtlichen Details bedient, fällt die Auseinandersetzung im weiblichen Fall oft ins andere Extrem und erscheint biografielastig unter Vernachlässigung des Oeuvres.10 Ausnahmen könnten Vorboten einer neuen Regel oder einfach nur Ausdruck einer bewussten Abkehr von überholten Darbietungs- und Deutungsmustern sein. Die Opulenz männlicher Biografik fand bis ins frühe 20. Jahrhundert kaum ein weibliches Äquivalent. Autobiografien von Frauen und ihnen gewidmete Biografien blieben geringer an Zahl. Als historische Spätlinge auf diesem Feld sollten Schriftstellerinnen und Künstlerinnen seltener in den Genuss sorgsam recherchierter, werk- und kontextbezogener, ihren Status fundierender und – wie für Männer üblich: heroisierender, in der Regel mehrbändiger Biografien kommen.11 Doch der Generalangriff auf eine Biografik alten Stils ließ nicht lange auf sich warten. Diesen Wendepunkt in der Geschichte biografischen Zugriffs auf ein Leben stellt Lytton Stracheys Eminent Victorians von 1918 dar. Mit seinen Essays zu vier Persönlichkeiten der englischen Geschichte – darunter Florence Nightingale – legte er die Axt an Grundüberzeugungen, die über Jahrhunderte tiefe Wurzeln im europäischen Bewusstsein geschlagen hatten. Der Autor brach mit dem Comment, „Weltgeschichte“ sei „nichts als die Biographie großer Männer“, was Thomas Carlyle 1840 in seiner Vorlesungsreihe On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History vehement vertreten und sich dabei an Heiligen- und Künstlerlegenden orientiert hatte.12 Strachey wandte sich sowohl gegen die Logorrhöe als auch die heroisierende Diktion, vor allem aber: gegen die Heuchelei viktorianischer Biografik. Denn die Tradition der „biography of praise“ mitsamt ihrer Verführung zu Legendenbildung und Heroisierung erforderte nicht nur eine alles Negative, Fehlerhafte oder ethisch Fragwürdige ausblendende Strategie, sie kultivierte auch die Vorstellung, Geschichte sei ein Prozess unaufhaltsamen Fortschritts.13 Dagegen konzentrierte sich Stachey weniger auf die Gesamtheit eines Lebens als die mentalen Konturen seiner ProtagonistInnen, die in Bewährungssituationen scharf hervortraten. Da es ihm um deren „state of mind“ ging, ließ er – obwohl sein Bruder 9 Giorgio Vasari, The Life of Madonna Properzia de’Rossi, in: The Lives of the Artists (1568), trans .Julia Conaway Bondanella/ Peter Bondanella, Oxford, 1991, S. 339–344. 10 Beispiele dafür sind Camille Claudel oder Frida Kahlo, für die eine angemessene kunsthistorische Bearbeitung noch aussteht. Zur Problematik vergl. Andrea Kettenmann, Frida Kahlo. Über die Formen des Umgangs mit Werk und Person einer mexikanischen Künstlerin, Magistra-Arbeit, Kunsthistorisches Seminar der Universität Hamburg, Hamburg 1984. 11 Friedrich Engel-Janosi, Von der Biographie im 19. und 20. Jahrhundert, in: Grete Klingenstein/ Heinrich Lutz/ Gerald Stourzh (Hg.), Biographie und Geschichtswissenschaft. Aufsätze zur Theorie biographischer Arbeit, München 1979, S. 241. 12 Zu den Ursachen vgl. Michaela Holdenried (Hg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin 1995, S. 131–141. 13 Peter Gay, Die Macht des Herzens, Das 19. Jahrhundert und die Erforschung des Ich, München 1997, S. 195f.

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Freud-Übersetzer war – alles beiseite, was die junge Psychoanalyse zu bieten hatte.14 Nicht der von allen Flecken gereinigte „große Einzelne“ stand nun im Mittelpunkt – es ging um Wendepunkte im Leben eines Menschen. Zugleich gerieten nicht allein die Lebenshaltungen einer ganzen Epoche auf den Prüfstand, sondern die Diktion selbst. „After Strachey, no good biographer has dared to be less than an artist.“ Der lapidare Stil von Eminent Victorians (1918) machte Furore. Was die moderne Biografik braucht, ist nach Gittings „the saving grace of proportion“.15 Von nun an stehen Intention, Auswahl, Struktur im Vordergrund, der entschiedene, sich in umfangreichen Vorworten begründende Zugriff auf ein Leben.16 Angesichts so vieler neu erprobter Freiheiten konnten Irritationen nicht ausbleiben. Wo immer man literatur-, kunst- und kulturwissenschaftliche oder historische Betrachtungen zu Autobiografik und Biografik in den Blick nimmt, fällt folgendes auf: – das Verschwimmen von Genres, die sich durch die ihnen eigene Mutationskraft über Jahrhunderte hinweg nie in reiner Form behaupten konnten, sowie ihre Verschmelzung zu faction.17 Diese Merkmale haben nicht nur eine Art Resignation im Hinblick auf Trennschärfe und Konturierbarkeit auto&biografischer Texte erzeugt, sondern – besonders in England und den USA – zu einem freieren, experimentelleren Umgang geführt.18 In Anlehnung an die im amerikanischen Sprachgebrauch sichtbare Verschmelzung von fact und fiction zu faction prägte Serge Doubrovsky 1977 den Begriff autofiction. Nicht nur die Grenzen zwischen Bio- und Monografie lösen sich auf. Neben Einzeldarstellungen entstehen Paar-Biomonografien von Paaren oder Künstler-Duos.19

14 Friedrich Engel-Janosi in: Klingenstein u. a. 1979 (wie Anm. 11), S. 241. Robert Gittings, The Nature of Biography, London 1978, S. 41. Er kannte Freud nicht, obwohl sein Bruder FreudÜbersetzer war. 15 Gittings 1978 (wie Anm. 14), S. 39, 65. Zu Freuds Haltung gegenüber autobiographischen Darstellungen vgl. Siegfried Bernfeld/Susanne Cassirer Bernfeld: Bausteine der Freud-Biographik, hg. von Ilse Gubisch-Simitis, Frankfurt am Main 1991, S. 9. Friedrich Engel-Janosi in Kingenstein u. a. 1979, S. 241. 16 Gittings 1978 (wie Anm. 14), S. 39. Während Strachey sich dem Thema von der Seite des Schreibens her näherte, beschäftigt sich der Kulturhistoriker Peter Gay mit der Rezeption und entdeckt noch ein verborgenes Motiv hinter dem Bedürfnis der „Vergötzung kultureller Ikonen durch die Mittelklasse; „im Kern Erfolgsgeschichten“ sieht er in ihnen „nichts anderes, als Beratung (...) in Beispiele verpackt“, also Vorläufer der Selbsthilfebücher, vgl. Gay 1997 (wie Anm. 13), S.197–202. 17 In Anlehnung an die im amerikanischen Sprachgebrauch sichtbare Verschmelzung von fact und fiction zu faction prägte Serge Doubrovsky 1977 dafür den Begriff autofiction, vgl. Alfonso Toro/ Claudia Gronemann (Hg.), Autobiography Revisited. Theorie und Praxis neuer autobiographischer Diskurse in der französischen, spanischen und lateinamerikanischen Literatur, Hildesheim u. a. 2004, S. 117–123. 18 Besonders ausführlich in jüngster Zeit: Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt am Main 2004, S. XVIII ff. oder Hermann Kurzke, Das Leben als Kunstwerk. Geständnisse eines Thomas Mann-Biographen, in: Kursbuch 148/2002, S. 127–137. 19 Vgl. Gail Levin/ Josephine Nivision-Hopper/ Edward Hopper. Ein intimes Porträt, München 1998 [mit Josephine Nivison-Hopper] und Gisela Kleine, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares, Frankfurt am Main/Leipzig 1990.

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Vertreter einer dezidiert antibiografischen Haltung formierten sich in in der Nouvelle Critique, im postmodernen bzw. poststrukturalistischen Umfeld. 1968 rief Roland Barthes den „Tod des Autors aus“ und verabschiedete ihn zugunsten „des Lesers“. Der Beitrag ist als Polemik zu lesen und nur verständlich, wenn man weiß, dass Barthes sich gegen die „explication du texte“ richtete, d. h. eine Verknüpfung von auto&biografischer und Werk-Deutung, die in anderen Ländern – etwa in den USA der 50er Jahre – längst infrage gestellt worden war. Doch sein Fazit: „Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors“ war zu weltfremd, um selbst im universitären Feld zu greifen. Sein Vorwurf, die „traditionelle Literaturwissenschaft habe sich niemals um den Leser gekümmert“, trifft nicht zu.20 Im Jahr darauf propagierte Michel Foucault in seinem Essay „Was ist ein Autor?“ (in dem er sich zwar auf Barthes bezieht, ihn aber nicht beim Namen nennt) die Abschaffung „des Autors“ zugunsten der „Autorfunktion“ und steuerte Überlegungen zum Thema Inspiration, also gleichsam verdeckter „Autorschaft“ bzw. geistiger Nachfolge bei, die im Musen- oder Künstlerpaare-Diskurs schon bald eine größere Rolle spielen sollten.21 Leugnen nach Jannidis Dekonstruktion und Diskursanalyse „die bestimmende Macht des Autors“ und „sehen die Texte in Diskursformationen eingebunden und das Subjekt an den Diskursprozess verloren“, wird der Unterschied zwischen Autobiografie und Biografie irrelevant, da es für die „erzählerische Konstruktion“, und den „Versuch, über die Narration Sinn zu erzeugen“, keinen Unterschied mache, wer schreibe.22 Damit ist zugleich das Ende des von Philippe Lejeune konstatierten „autobiographischen Pakts“ ausgerufen: Die lesende Person gewährt der schreibenden Person einen „Vertrauensvorschuss“, wobei die BiografInnen sich allein durch Integrität und aufrichtiges Bemühen legitimieren. Philippe Lejeunes „autobiografischer Pakt“, der darin bestand, dass Lesende dem Erzähler einen Vertrauensvorschuss gaben, wird prinzipiell in Frage gestellt.23 Für Helmut Scheuer tritt „die Hybridität der als Norm betrachteten männlichen Autorinstanz (...) in der kritischen Reflexion des weiblichen autobiographischen Ichs“ zu Tage. „Barbara Kosta hat darauf hingewiesen, dass gerade zu einem Zeitpunkt, Ende der sechziger Jahre, zu dem Roland Barthes den Tod des Autors verkündete, Frauen und andere ,Randgruppen‘ versuchten, sich einen Autor(innen)status zu erkämpfen. Die auktoriale Selbstermächtigung von Frauen findet demnach vor dem Hintergrund eines bereits in Frage gestellten Autorbewusstseins statt.“24 20 Barthes in: Jannidis u. a. 2000 (wie Anm. 2), S. 185–193. 21 Foucault in: Jannidis u. a. 2000 (wie Anm. 2), S. 198–229. 22 Richard Kämmerlings, Das Ich und seine Gesamtausgabe, in: Kursbuch 148/2002, S. 99– 109. Susan Groag Bell/ Marilyn Yalom (Hg.), Revealing Lives. Autobiography, Biography and Gender, New York 1990, S. VIIIff. 23 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1994. 24 Helmut Scheuer in: von der Lühe/ Runge 2001 (wie Anm. 5), S. 20–25. Einen Überblick zur poststrukturalistischen, dekonstruktivistischen und diskursbezogenen Auflösung von Subjektpositionen geben Toro/Gronemann 2004 (wie Anm. 18); Wagner-Egelhaaf 2000 (wie Anm. 5), S. 98.

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Nach Kämmerlings war die polemische Ausrufung vom „Tod des Autors“ „für die Autobiographie (...) doppelt schmerzhaft. Mit dem schreibenden Subjekt kam ihr zugleich der Gegenstand abhanden. Die Vorstellung einer sich selbst sprechenden Sprache, die sich der vermeintlich autonomen, ,ihrer Sprache mächtigen‘ Subjekte nur bedient, ließ der Autobiographie als Gattung keinen Spielraum. ,Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen‘, wie Michel Foucault in seiner (...) Antrittsvorlesung am Collège de France formulierte. Als Autorfunktion des literarischen Diskurses fristet er sein Dasein, doch gerade in dieser Nische gewinnt die Autobiographie an Gewicht. Wenn sich Autor und Werkbegriff wechselseitig legitimieren, wird die Frage eines inneren Zusammenhangs des Werks zentral, den nur die Lebensgeschichte des Autors verbürgen kann.“25 Die Autorin ist weder Instanz noch wird sie mitgedacht. Sie spielt in den Grenzen dieses jeden Bezug zu Gender im männlichen wie weiblichen Feld ausblendenden Denkens mit seiner gewaltsamen Rückbindung an anonymisierende Tendenzen früher Jahrhunderte keine Rolle und stieße, ernst genommen, gerade Schriftstellerinnen in eine langwierig überwundene Namenlosigkeit zurück. Offenbar gewann die Auflösung klassischer Subjektvorstellungen seit 1968, genau zu dem historischen Zeitpunkt, an Brisanz, als die Frauenbewegung sie auf den weiblichen Menschen anwenden, sie gleichsam einklagen wollte. Im Anwendungsfall sind die Grenzen psychoanalytischer, poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Theoriebildung im Umgang mit Autobiografie und Biografie rasch erreicht, da der Umgang mit Autorinnen das historisch begründbare Wissen von einer völlig anderen, durch Untersuchungen immer noch nicht eingeholten Situation des weiblichen Subjekts und damit der Autorin nötig macht. Der Autor geistert in diesen Texten als Maskulinum ohne weibliche Reich- und Tragweite herum. Alle Bemühungen, Thesen und Axiome mit dem Wissen um die historische Bedingtheit und Differenz von Autor- sowie Autorinnenschaft in Verbindung zu bringen, wie es die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Nancy K. Miller 1985 in Changing the Subject versuchte, sind in den Grenzen dieses Autorinnen ausblendenden Denkens zum Scheitern verurteilt.26 Jede sich avantgardistisch gebärdende Strömung entwickelt Orthodoxien. Protagonisten einer dezidierten Antibiografik haben seit Ende der 60er Jahre verstärkt zu Wort gemeldet und „den Autor“ zugunsten „des Lesers“ bzw. von Funktionen verabschiedet. Der „Tod der Literatur“ oder „des Autors“ wurde inzwischen so oft ausgerufen, dass man nicht umhin kann, die Vitalität dieser Spezies zu bewundern. Autorinnen wurden von den durch sexblindness gekennzeichneten Auseinandersetzungen ohnehin nicht berührt. Sie existieren, schreiben, werden gelesen. Und natürlich verzichten Protagonisten der Totsagung keineswegs auf ihre Autobiografie – wie Roland Barthes – oder werden keineswegs mit erzählerischer Enthaltung ihrer Bewunderer, sondern 25 Kämmerlings 2002 (wie Anm. 21), S. 102. 26 Zur Spezifik der autobiographischen Situation für Frauen vgl. Wagner-Egelhaaf 2000 (wie Anm. 5), S. 94–99.

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mit dickleibigen Biografien alter Art bedacht.27 Als Prototyp darf James Millers Die Leidenschaft des Michel Foucault von 1995 gelten. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, lautet der erste Satz darin: „Dieses Buch ist keine Biographie.“ Da es jedoch alle Merkmale der alten, heroisierenden Biografik trägt, ergänzte der Verlag den Umschlag (vermutlich gegen Millers Willen) mit dem Zusatz: „Eine Biografie“. Die Klappentextprosa solcher und vergleichbarer Publikationen macht deutlich: Manche Autoren mögen sich nicht zur Biografie bekennen, folgen aber im Focus, im Zuschnitt, in der Redundanz und Heldenverehrung geläufigen Mustern, die Strachey bereits 1918 verabschiedet hatte.28 Nun ist die moderne Biografik längst avancierter als ihre Kritiker. Es hat sich herumgesprochen, dass Biografie Konstruktion sein muss, die Subjektivität der beschriebenen und der beschreibenden Person in ihrer jeweiligen Zeit spiegelt und von der Auflösung der Gattungsgrenzen profitiert. Über die Fiktionalisierung des Auto&Biografischen mag man sich noch streiten – doch selbst die Konventionen des Narrativen, etwa das Festhalten am chronologischen Ablauf, werden inzwischen konterkariert. Überhaupt wurde die von Antibiografen immer noch unterstellte Zwangsläufigkeit bestimmter Darstellungsmuster längst außer Kraft gesetzt. Die Dinge sind in Bewegung geraten. Angriffe auf Subjekt, Autorschaft, Konventionen der Sinnbildung etc. werden in England mit einer anderswo schwer aufzufindenden Gelassenheit ignoriert oder mit wachsender Skepsis zur Kenntnis genommen. So ging es Braithwhite, der sich mit der „destruction of any voice, of any origin“ auseinandersetzte, um festzustellen, dass etwas an diesen Behauptungen nicht stimmen könne.29 Sigrid Löffler, die dem Thema Biografie 2001 ein Heft der Literaturen widmete und ihr als eine im anglo-amerikanischen Raum besonders kultivierte Form der Robustheit zuschreibt, glaubt, dass „sich der poststrukturalistische Staub inzwischen gesetzt hat“. Als Beispiel für das ironische Kommentieren postmoderner Literaturtheorien führt sie Antonia S. Byatts Roman Das Geheimnis des Biographen an, flieht doch der „Held (...) ein Literaturstudent, entnervt aus seinen Foucault- und Lacan-Seminaren, um sich den verachteten ,Fakten‘ in die Arme zu werfen. Er will etwas gänzlich Verbotenes tun – die Biografie eines Biografen schreiben – und scheitert glorios, entdeckt sich dabei aber als glücklicher Autobiograf und Erzähler.“30 Auf dem Spiel steht allerdings mehr als das Abwelken ganzer Begriffslandschaften, die sich während der letzten Jahrzehnte ausgebreitet haben, mehr als das Recht auf Privates, auf Geheimnis und Verborgenheit, mitsamt der deshalb gebotenen Verzichtsleistung, die für künstlerische Zusammenhänge nicht in Betracht kommen kann. 27 1975 erschien seine Autobiographie Roland Barthes par Roland Barthes (Ich über mich selbst), die in der Nachfolge Friedrich Nietzsches die Existenz objektiver Tatsachen leugnet und die immer vorhandene Interpretation des Faktischen durch den Beobachter konstatiert: „All dies muß als etwas betrachtet werden, was von einer Romanperson gesagt wird.“ Vgl. Louis-Jean Calvet, Roland Barthes. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1993. 28 James Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, Köln 1995. 29 William Bell, in: David Ellis (Hg.): Imitating Art, Essays in Biography, London, 1993, S. 158. 30 Sigrid Löffler, Biographien. Leben & Legenden, in: Literaturen 7/8/01 2001, S. 14–17, bzw. S. 32–34.

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Ohne einer falschen Unmittelbarkeit, einem Beharren auf Vorstellungen von Authentizität das Wort reden zu wollen, muss man doch zur Kenntnis nehmen, dass sich bestimmte Richtungen biografischer Annäherung als Teil eines „Aufstands gegen die sekundäre Welt“ begreifen, wie es Botho Strauß in der Auseinandersetzung mit George Steiner darlegte. Das mag auf den ersten Blick überraschen. Doch Biografik heißt: Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem, heißt: mit den Augen von heute Geschehnisse von einst zu betrachten, die Insularität einzelner Menschen in einem Meer durcheinander wirbelnder Ereignisse und Diskurse ernst zu nehmen. Heißt: das Leben anhalten.31 Dass der für das Besprechen von Kunstwerken aufgewendete Begriffsapparat suspekt geworden ist, hat Auswirkungen auf die Biografik. Im „Dickicht der Vermittlungen, Moderationen und Interpretationen“ träumt Steiner von einer „Stadt der Künste, in der es nur Werke und Empfänger, nur Künstler und Amateure geben soll und wo jedes Gerede – ,über‘, jeder Kommentar (mit Ausnahme des rein philologischen) verboten ist“ – eine Variation jener Kunsthistorikerschelte, der Thomas Bernhard bereits 1985 in „Alte Meister“ breiten Raum gegeben hatte.32 „Andererseits“, betont Botho Strauß, „ist die Auslegung und Deutung von Kunstwerken bei uns in die Obhut kleiner akademischer Zirkel gestellt, von denen vor allem die späten Schulen der Hermeneutik, die poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen, von Steiner mit respektvollem Unbehagen gewürdigt werden. In ihren Diskursen ist jede Begrenzung des Kommentars durch die Scheu vor dem Schöpfungsakt, dem Werk, längst gefallen. Die Schutzhülle des Textes ist zur Flechte des Parasiten geworden, der seinen Wirt ersetzt und überwuchert. Diese Poetik hat den esoterischen Poetisten hervorgebracht, dessen familiäres Mitreden am Werk den Poeten von seiner Poesie trennt und in minutiösen Schnitten Zeit, Ort, Sinn, Autorschaft vom Werk abspaltet, um es zu einer autonomen Textualität zu verarbeiten. Die Metapher vom Parasiten ist altgedient, und sie wiegt nicht mehr als ein umwelt-, ein ,logos-bewusster‘ Protest gegen die Übermacht der sekundären, medialen, indirekten Sprechweisen, die die atmende Sprache ebenso erstickend bedecken wie die Flächenversiegelung den fruchtbaren Boden.“33 Auch wenn es vorkommt, dass ein Buch viele andere aufwiegt: Die Biografik ist nicht inert gegenüber solchen Gefahren, profitiert aber vom Wissen, dass sie nicht mehr (aber auch nicht weniger) sein kann als Annäherung, dass sie nicht mehr (aber auch nicht weniger) zu geben vermag als eine Deutung, die neben anderen besteht.34 Und sie trägt dazu bei, die Macht des Sekundären zu brechen, indem sie es in ein Primäres rückverwandelt: „denn“, so erkannte bereits Sándor Márai, „nicht nur du schreibst das Buch; gleichzeitig schreibt das Buch auch dich.“35 31 Strauß 1999 (wie Anm. 1), S. 39–53; auch hier beruft sich jemand, wie Weigel 1999 (wie Anm. 8), S. 19, S. 45, auf das Geheimnis einer Person auf das „Mysterium“ eines Kunstwerks. 32 Zit. nach Strauß 1999 (wie Anm. 1), S. 44. Thomas Bernhard, Alte Meister, Komödie, Frankfurt am Main 1988 [1985], S. 33–36. 33 Strauß 1999 (wie Anm. 1), S. 45–46. 34 Darin folge ich von der Lühe/ Runge 2001 (wie Anm. 5), S. 27. 35 Sándor Márai zitiert in: Literaturen 5/2005, H. 10, S. 118.

durch das verschwinden des autors hindurch: kopflose ‚triebsubjekte‘ insa härtel Der inzwischen reichlich vertraute, wenn auch nicht restlos verdaute Tod des Autors hat für Erregung gesorgt – auch Debatten von dessen „Wiederkehr“1 nehmen notwendig Bezug auf sein Ableben. Gekämpft wird gelegentlich mit harten Bandagen. Bei Detering ist nicht nur von einer konzeptuell-widersprüchlichen Gemengelage, sondern auch von den sich „streckenweise wie Frontstellungen“ ausnehmenden Gräben zu lesen, die der Streit um Autor, ‚Tod‘ und Wiederkehr gezogen hat.2 1999 kommen die HerausgeberInnen des Bandes Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs zu dem Schluss, dass der Autor-Text-Bezug „solange als sinnvolle Analysekategorie anzuerkennen (ist), bis das Gegenteil erwiesen ist und dieser Nachweis nicht mit den kaum konsensfähigen philosophischen Prämissen der autorkritischen Positionen belastet ist“.3 Wird ein solch vorläufiger Freispruch des Angeklagten bzw. die ‚Wiederaufnahme‘ des bereits abgeschlossen erschienenen Verfahrens4 durchaus auch gegen z. B. Barthesche Theoriepositionen ins Feld geführt, so hat Barthes ‚selbst‘ den Autor, drei Jahre nach der Verkündung seines Todes, ‚freundschaftlich‘ wiederkehren lassen.5 Von diesem Bartheschen Wiederkehrer lässt sich sagen, dass es sich nicht um den institutionell identifizierten Autor, nicht um den „Held einer Biographie“ oder eine „Einheit“ handelt; vielmehr finden sich eine „Vielzahl von ‚Reizen‘“ oder auch ein nicht eben schicksalhaft zu denkender, durchbrochener Lebensbilderfluss – „wie bei einem wohltuenden Schluckauf“.6 Quasi reflexhaft enteignet übt der als Institution verstorbene Autor „gegenüber seinem Werk nicht mehr die gewaltigen Vaterrechte aus“, heißt es dann in Die Lust am Text.7 Befreundeter Entzug von väterlichem Hab und Gut: „(a)ber im Text begehre ich in gewisser Weise den Autor (…)“.8

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Vgl. etwa Eugen Simion, The Return of the Author, Evanston, Ill. 1996; Seán Burke, The Death and Return of the Author. Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault, and Derrida, Edinburgh 1999; Fotis Jannidis u. a. (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999. Heinrich Detering, Vorbemerkung, in: ders. (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar 2002, S. IX–XVI, hier S. XI. Detering zitiert hier den Ausschreibungstext der diesem Band zugrundeliegenden Tagung. Vgl. Fotis Jannidis u. a., Einleitung, in: dies. (wie Anm. 1), S. 3–35, hier S. 34. Es geht den AutorInnen hier um notwendige Binnendifferenzierungen des Phänomens. Ebd., S. 35. Roland Barthes, Sade Fourier Loyola, Frankfurt am Main 1986, S. 12. Ebd., S. 12f. Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt am Main 1996, S. 43. Ebd.

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Hier könnte ein eigener Beitrag beginnen.9 Für meinen Zusammenhang ist entscheidend: Dem ‚Tod‘ des Autors scheint, wenn auch auf differente Weisen, seine Wiederkehr anzuhaften und diese spricht nicht nur kategorisierende Seiten an, sondern auch Lust und Begehren. Auch muss die Rückkehr des Autors seinem Weggang nicht notwendig entgegenstehen. Zugespitzt formuliert: Erst „wenn der Autor wiederkehrt“ – keine zu verschweigende Gestalt mehr ist – „ist er ganz eigentlich gestorben“.10 Umgekehrt geht es mir um Überlegungen, die den ‚Tod‘ oder das potenzielle Verschwinden des Autors in sich aufgenommen haben, gleichsam ‚hindurchgegangen sind‘ und von dort aus Facetten kulturellen Tätigseins eruieren. Womit bereits gesagt sein soll, dass mein Beitrag nicht nur keinen Götzendienst am Künstler leistet. Er macht sich auch nicht für eine neue Autorbegriffsverwendung stark. Vielmehr kann, so die These, gerade das Entschwinden eine Form erregend-zersetzenden Erscheinens bewirken. Eine solche nicht-identische ‚Wiederaufnahme‘ des kulturell tätigen ‚Subjekts‘ erfolgt hier entlang der psychoanalytischen Figur des Triebs und dessen Schicksals in der Sublimierung: Wie tritt hier der Autor als Institution potenziell ab, ohne jedes leidenschaftliche Handeln zu suspendieren? Wenn es immer auch darum geht, einen Überschuss in der Positivität des Sozialen zu denken11 und damit das, was in gegebenen sozio-symbolischen Formungen nicht aufgehen kann, dann lautet die Frage hier: Vermag der sublimierte Trieb gegenwärtig als eine solche Denkfigur zu fungieren? Sublimierung, soviel vorab, galt Freud bekanntlich als eine der „Quellen der Kunstbetätigung“ oder auch als ein Prozess, durch den „mächtige Komponenten für alle kulturellen Leistungen gewonnen werden“.12 Dieses Konzept ist durchaus umstritten, gilt in seinen Vorstellungen sozialen Ansehens teils als nicht mehr zeitgemäß oder auch als lediglich prominentester Ausläufer einer „einigermaßen mechanistischen“ Vorstellung von der Analogie und Konkurrenz zwischen Sexualität und Kunst.13 Innerhalb des psychoanalytischen Diskurses ist die Sublimierung alles andere als ein einheitliches Konzept. Joan Copjec (2002) greift dieses Triebschicksal auf und stellt dabei recht unmechanistisch gängige Annahmen oppositionell-sexueller Ziele und sozialer Wertschätzung zeitentsprechend auf den Kopf. Insofern sie dabei ein kulturell tätiges Subjekt entwirft, das weder intentionaler Autor noch entbehrlich ist, bildet ihr Ansatz hier den roten Faden meines Theoretisierens zur Lust im Produzieren. Auf diese Weise möchte ich die riskante Figur einer Verknüpfung von Trieb und Kunst bzw. Kultur neu ausprobieren. Dies geschieht hier anhand eines theoretischen 9 Vgl. dazu Insa Härtel, „Weil der Text nämlich Text eines Autors ist …?“ Formen von Rückkehr und Relektüre, in: Olaf Knellessen/ Peter Schneider (Hg.), Freudlose Psychoanalyse? Über die Funktion der Autorschaft für die psychoanalytische Erkenntnis, Wien 2007, S. 59–85. 10 In anderem Zusammenhang Joachim Schiedermair, Die Rache des toten Autors. Gegenseitige Lektüren poststrukturaler Literaturtheorie und schwedischer Gegenwartsprosa, Freiburg 2000, S. 49f. 11 Vgl. Joan Copjec, Lies mein Begehren, München 2004. 12 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905d), Gesammelte Werke Bd. V, Frankfurt am Main 1999, S. 27–145, hier S. 140 und S. 79. 13 Christian Begemann, Der Körper des Autors. Autorschaft als Zeugung und Geburt im diskursiven Feld der Genieästhetik, in: Detering 2002 (wie Anm. 2), S. 44–61, hier S. 57.

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Materials und dies durchaus mit der Frage im Sinn, was ein solcher Psychoanalyseentwurf zur KünstlerInnenforschung beizutragen hat.

trieb Der Trieb hat derzeit einen schweren Stand – und dies nicht nur, weil er kreisen muss und folglich gar nicht stehen kann. Der Sexualforscher Gunter Schmidt etwa ist dabei, die „alte Triebmetapher“14 aus ihrem Dienst zu entlassen. Sex heute komme vergleichsweise entmystifiziert oder pragmatisch bzw. „frei von falschem Tiefsinn“ daher. ‚Designed desire‘ sei dabei, „die Metapher ‚Trieb‘ zu ersetzen“. Sexualität sei „erheblich entrümpelt“ worden – auch von der Psychoanalyse.15 Treten wir einen Schritt zurück: Welche psychoanalytische Dimension beschreibt der Trieb, dessen Schicksal hier zur Debatte steht? Auch wenn er nicht selten dazu verwendet wird, Psychoanalyse in Biologie zu befördern,16 handelt er nicht von Natur. Zugleich sind Triebe, „der Tatsache zum Trotz, dass sie außerhalb der Kultur keine Existenz haben“, nicht kulturell.17 Damit sind wir bereits mitten im Spiel. Der nicht natürliche Trieb als gewisses „Andere[s] der Kultur“18 drängt ausgehend von dem, was aus der ,sozio-symbolischen Bedeutung‘ fällt; er umkreist, was in der Symbolisierung scheitert. Um diesen Zug des Triebs zu erhellen, möchte ich kurz die eingängige Narration Laplanches skizzieren. Den Ansatzpunkt bilden asymmetrische Kontakte, in denen sich dem Menschenkind – etwa über Gesten der Pflege, mehrdeutige Gespräche etc. – rätselhafte Botschaften vermitteln, die bewussten Motiven durchaus zuwiderlaufen19 und die eine unbewusst-sexuelle Bedeutung durchzieht. Z. B. kann auch das Stillen als eine jener urverführenden Situationen erscheinen,20 bei der die Erregung quasi durch den sexuellen Gehalt entsteht, den die Berührung für die Mutter hat: Was will die Brust von mir? 21 Sexualität in diesem Sinne bricht durch „Intervention des Anderen“22 in die Ordnung des Lebens ein; implantiert aus der elterlich-erwachsenen Welt wird sie als eine Art erregender „innere(r) Fremdkörper“ vorgestellt.23 14 Gunter Schmidt, Sexualität und Kultur. Soziokultureller Wandel der Sexualität, in: Rainer Hornung/ Claus Buddeberg/ Thomas Bucher (Hg.), Sexualität im Wandel, Zürich 2004, S. 11– 28, hier S. 27. 15 Ebd. 16 Vgl. dazu Jacqueline Rose, Sexualität im Feld der Anschauung, Wien 1997, S. 62. 17 Copjec 2004 (wie Anm. 11), S. 241. 18 Ebd. 19 Udo Hock, Botschaft und Übersetzung, in: Lothar Bayer/ Ilka Quindeau (Hg.), Die unbewusste Botschaft der Verführung. Interdisziplinäre Studien zur Verführungstheorie Jean Laplanches, Gießen 2004, S. 121–138, hier S. 122ff. und S. 132. 20 Vgl. Jean Laplanche, Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze, Tübingen 1988. 21 Vgl. ebd., S. 224 und S. 139. 22 Jean Laplanche, Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1996, S. 214f. 23 Jean Laplanche, Leben und Tod in der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1985, S. 39 und S. 74.

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Es werden Situationen der Konfrontation entworfen, in der jene fremden ‚Botschaften‘ des Erwachsenen das empfangende Kind „in Anspruch“ nehmen, bevor es sie verstehen kann, und denen es Sinn verleihen, die es ‚übersetzen‘ muss, um sich zu ihnen in Beziehung zu setzen24 – was gewissermaßen (und spätestens damit verlassen wir den familialen Zusammenhang) lebenslang psychische Aufgabe bleibt.25 Dabei macht Laplanche immer wieder auch das Misslingen dieser Übersetzung deutlich. Dieses Unterfangen kann niemals ganz glücken. Es gibt immer etwas, das in der Beziehung Subjekt/Anderer hinkt, „keinen Sinn macht“,26 es entstehen Übersetzungs-Abfälle.27 Diese verkörpern quasi das in einem Lacanschen Sinne Reale unbewusster Konstitution.28 Gerade dort, wo Symbolisierung bricht, bewirken die nicht integrierbaren Reste fortwährend konstante Erregung: Das „teilweise(n) Versagen“29 der Übersetzungen bewirkt so ein Treiben, ein Getriebensein, einen Trieb. Daraus resultiert letztlich auch ein Einspruch gegen ein Verständnis des Sexuellen als ausschließlich sozio-symbolische Kategorie.30 Kann ihm nicht trotz der historischen Bedingtheit seiner Formen auch ein aussetzendes Moment innewohnen?

objekt Der psychoanalytische Begriff der Sublimierung nun bringt (mit Freud) zunächst eine erstaunliche Plastizität des Triebs ins Spiel, die Möglichkeit seiner Ausrichtung auf ‚andere‘ Ziele, seine Kapazität, Objektwechsel vorzunehmen, neue Befriedigungsmöglichkeiten zu finden. Hier nun sei einmal mehr Lacan angeführt, insofern er für Copjec eine wichtige Rolle spielt: Dessen Formel zufolge erhebt die Sublimierung ein Objekt „zur Dignität des Dings“.31 Sie verschafft dem Trieb eine Befriedigung, die sich von dessen ‚natürlichem Ziel‘ unterscheidet; sie enthüllt „die dem Trieb* eigene Natur, insofern dieser nicht rein Instinkt ist, sondern in einem Verhältnis steht zu das Ding* als solchem, insofern es vom Objekt verschieden ist“.32 Ausgangspunkt sind also Unterscheidungen von Objekt und Ding sowie von Trieb und Instinkt. Dabei wird die Sublimierung in gewisser Weise zum exemplarischen Triebschicksal. Sie gewährt dem Trieb eine von seinem ‚natürlichem Ziel‘ abweichende Befriedigung und sie enthüllt die ‚Natur‘ des Triebs. Folglich ist diese ‚Natur‘ (hierin ähnlich Laplanche) von vornherein durch eine Differenz zum Instinkt 24 Laplanche 1988 (wie Anm. 20), S. 221f., vgl. Laplanche 1996 (wie Anm. 22), S. 167. 25 Peter Passett, Die anthropologische Dimension der Sexualität, in: Bayer/Quindeau (wie Anm. 19), S. 139–169, vgl. hier S. 149. 26 Alenka Zupančič, Warum Psychoanalyse? Drei Interventionen, Zürich/Berlin 2009, S. 39. 27 Hock 2004 (wie Anm. 19), S. 132. 28 Vgl. Zupančič 2009 (wie Anm. 26), S. 41. 29 Insgesamt Laplanche 1988 (wie Anm. 20), S. 142f., vgl. auch S. 227. 30 Vgl. dazu auch Georg Gröller, Vortragsmanuskript 2002, auf http://www.psychoanalyse.org/ Portals/0/vortrag/groeller_georg0201.htm (6.8.2010). 31 Jacques Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch VII (1959–1960), Weinheim/Berlin 1996, S. 138. 32 Ebd.

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bzw. zu natürlichen Zielen charakterisiert. „Man kann den starrsinnigen Psychologen (…) nicht genug daran erinnern, dass der Freudsche Trieb nichts mit dem Instinkt [l’instinct] zu tun hat“, schreibt Lacan an anderer Stelle.33 Die Sublimierung offenbart demnach die Machenschaften des Triebs oder noch zugespitzter, ein nicht sublimierter Trieb wäre gleichsam ein biologischer Instinkt.34 Der Trieb hat nicht einfach ein natürliches Objekt wie der Instinkt, sondern seine Natur liegt quasi darin, durch das Objekt hindurch auf das Ding abzuheben. Dieses Ding wiederum, nach Cremonini gewissermaßen Vorläufer des Lacanschen Realen,35 ist nicht positiv bestimmbar; selbst eigenschaftslos und unassimilierbar, ‚orientiert‘ es gleichsam „im Innersten der Libidoökonomie“36 das Subjekt auf seine Objekte. So artikuliert sich in der sublimierenden Erhebung des Objekts zur Würde des Dings gerade auch das, was in ihm nicht darstellbar, im Vokabular Laplanches: nicht übersetzbar ist. Im Lauf der Sublimierung erlangt das Objekt eine besondere Funktion – was auch die Zündholzschachtel erwischen kann. Die Sammlung solcher ineinander verschachtelter leerer Schachteln eines Freundes, die aneinandergereiht als ein Band gewissen Raumkonturen folgen, stellt sich für Lacan als durchaus befriedigend heraus;37 willkürlich widersinnig wuchernd wird hier jenseits aller Verwendbarkeit auf die Dinghaftigkeit der Schachtel gezielt und das Sammlerobjekt zu einer Würde erhoben, die es „vorher nicht hatte“.38 Die Sublimierung wiederum neigt sich damit alltäglichen Dingen zu und rückt ab von Vorstellungen kulturell ausgezeichneter Objekte. Ein geläufiges Objekt wird zum Ding, das allerdings „noch nicht das Ding ist“; dieses ist allein umrisshaft abzustecken, zu zernieren.39 Wie gesehen, wechselt die Sublimierung das Objekt zu einem Ding und den Instinkt schon immer zum Trieb, dessen Befriedigung sich einzustellen scheint, derweil er sein Ziel nicht erreicht – was wiederum gleichermaßen seine ‚Natur‘ offenbart, wie sein ‚Schicksal‘ markiert. In einer vergleichbaren Wendung wird Sublimierung von Copjec als passendes eigentliches Triebgeschick charakterisiert.40 Mit der Lacanschen Formulierung einer ‚würdevollen Erhebung‘ hinwiederum sieht sie potentiell auch die Gefahr einer Fusion von Sublimierung und Idealisierung am Werk.41 Demgegenüber gehe es nicht darum, durch ein Objekt auf etwas anderes, entzogen ‚Jenseitiges‘ 33 Jacques Lacan, Über den ‚Trieb‘ bei Freud und das Begehren des Psychoanalytikers (1964), in: Christian Kupke (Hg.), Lacan – Trieb und Begehren, Berlin 2007, S. 13–17, hier S. 13. 34 Slavoj Žižek, From Desire to Drive. Why Lacan is not Lacaniano (1996), auf http://zizek.livejournal.com/2266.html (6.8.2010). 35 Andreas Cremonini, Vom Realen des Mythos zum Mythos des Realen. Lacans Theorie des Triebs als mythische Aufhebung des Begehrens, in: Kupke 2007 (wie Anm. 33), S. 101–130, hier S. 118. 36 Lacan (wie Anm. 31), S. 138; vgl. auch im Folgenden Nina Ort, Objektkonstitution als Zeichenprozeß. Jacques Lacans Psychosemiologie und Systemtheorie, Wiesbaden 1998, S. 242 sowie Bernard Baas, Das reine Begehren, Wien 1995, S. 46. 37 Lacan (wie Anm. 31), S. 140f. Bei dem genannten Freund handelt es sich um Jacques Prévert. 38 Ebd., S. 146, vgl. auch S. 141. 39 Ebd., S. 146. 40 Joan Copjec, Imagine there’s no Woman. Ethics and Sublimation, Cambridge, Mass./London 2002, S. 30. 41 Vgl. ebd., S. 38.

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zu zielen. Gerade im Falle der Zündholzschachteln impliziert demnach die ‚Erhebung‘ dieses alltäglichen Objekts keine Repräsentation des Dings, sondern führe eher zu dessen Ersetzung durch das gewöhnliche Objekt42 – was beispielsweise die von Lacan beim Anblick des Schachtelarrangements erfahrene Befriedigung zeige: „One seeks satisfaction from an ordinary object instead of waiting vainly for the arrival of the Thing“.43 Es geht nicht um ein unerreichbares ‚Anderswo‘ vollkommener Befriedigung, sondern just diese idealisierende Vorstellung wird zugunsten eines erreichbaren partialen Genießens fallen gelassen. Das Objekt des Triebs fungiert nicht als Mittel zu etwas anderem als ihm selbst, sondern ist – selbst anders als es selbst – direkt befriedigend.44 Sein ‚Mehr‘ an Wert liegt nicht in ihm eigenen, besonders anerkannten o.ä. Eigenschaften. Es ergibt sich zirkulierend aus seiner Wahl durch den Trieb als eben ein Befriedigungsobjekt.45

subjekt Copjec schlägt eine Figur des Stolperns, Stockens, Auf-etwas-Stoßens vor: „(T)he drive (…) does occasionally stumble on a satisfying object“.46 Für den künstlerischen Kontext führt sie zwecks Erläuterung des nicht mit sich identischen Triebobjekts in der Sublimierung Jasper Johns‘ Arbeit an. Dessen künstlerische Äußerungen scheinen sich für Triebbetrachtungen geradezu anzubieten. So benennt Mignon Nixon Johns’ Target with Plaster Casts (1955) als ein Beispiel für Arbeiten, die einen aimless drive ins künstlerische Feld führen bzw. die Grenze zwischen Symbolischem und Triebhaftem aufweichen,47 und interessiert sich für die gezeigten Partialobjekte in ihrer Körperlichkeit und phantasmatischen Verstricktheit. Copjec wiederum kommt Johns nicht allein wegen dieser Target-Arbeit und den darin vorfindlichen Partialobjekten in den Sinn, sondern vor allem wegen seiner Antworten an Leo Steinberg in einem Gespräch, das genau die als Gegenstand für die künstlerische Arbeit ausgewählten Objekte thematisiert. Entsprechend geht es auch mir hier nicht um die Kunst Johns‘ (die natürlich ein ganz eigenes Thema wäre), sondern um die wörtlich werdende Objektbeziehung. Den Ausgangspunkt bildet Steinbergs Beobachtung, dass die von Johns gewählten gewöhnlichen Objekte gerade niemandes Vorliebe entsprechen (auch nicht denen des Künstlers ‚selbst‘) – wie etwa ein schlichter Drahtkleiderbügel, dessen Formen man normalerweise keine weitere Aufmerksamkeit schenkt.48 Ebenso repräsentieren die amerikanischen Flaggen nach Copjec hier keine spezifischen Werte. Es finde keine z. B. erzürnte oder ästhetizistische Abänderung der gemalten Gegenstände 42 43 44 45 46 47

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 62. Mignon Nixon, Fantastic Reality. Louise Bourgeois and a Story of Modern Art, Cambridge, Mass/London 2005, S. 174, vgl. S. 213 und S. 236. 48 Vgl. insgesamt Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 39.

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statt.49 Johns äußert in einem Fall, dass er an seinen Objekten mag, „that they come that way“.50 Steinberg verdichtet diese Objekt-Beziehung in einer Formulierung, die Copjec wiederum als Vorlage für die Beschreibung von Trieb/Sublimierung dient: „it so wills what occurs that the object it finds is indistinguishable from the one it chooses.“51 Das Vorfallende ist vom Gewählt-Gewollten nicht zu unterscheiden. Erkennbar wird hier demzufolge weniger eine künstlerisch selbst-bewusste Inszenierung als eine mit dem Objekt verbundene bemerkenswerte Passion und Befriedigung. Die nicht begründete Faszination für Targets, Flags o.ä. wird gerade zum Hinweis auf die annäherungsweise Fügung des Triebs mit den Objekten.52 „If Johns keeps painting the same objects again and again, it is because their ability to fascinate him is inexhaustible – not because they stand for or represent something more than themselves, but because for him they are always more than themselves.“53 Außergewöhnliche Passion, unerschöpfliche Faszination durch ein Mehr… – entsteht eine schillernde Nähe zu Vorstellungen künstlerisch-‚genialer‘ Besessenheit im herkömmlichen Verständnis? Dagegen lässt sich vermerken: Wird hier eine Art erregter künstlerischer ‚Schöpfung‘ beschworen, dann eher eine des Triebs im Sinne einer Erzeugung eines Objekts eben da, wo das Ding immer schon fort ist. Diese ‚Erschaffung‘ ruft nicht einfach das romantische Bild des Künstler-Schöpfers wach.54 Eher im Gegenteil, der Künstler scheint zu verschwinden. „(W)ithout any human attitude whatsoever surrounding (them) “, wie Steinberg bemerkt, stehen die Objekte – unpersönlich – allein und nicht für irgendetwas anderes; sie sind nicht Ausdruck von etwas und spiegeln demnach nicht einmal Johns’ Einstellung gegen sie wider.55 Wenn der Trieb keine subjektive Haltung benennt56und es zu keinerlei Identifizierung kommt, dann schwindet das ‚Ich‘ als intentionales Erschaffer-Ego. – In einer dichten Passage seines prominenten Aufsatzes Was ist ein Autor? schildert Foucault die „Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod“, demzufolge dieses Schreiben heute „an das freiwillige Auslöschen“ im Leben gebunden sei; das Werk, das einst unsterblich machen sollte, habe nun „das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzubringen“.57 – Implizite Anspielung auf Barthes, Hinweis auf verblasste individuelle Züge: Der Schreibende übernimmt im Schreibspiel quasi die Rolle des Toten.58 Mit Copjec gedacht geht es hierbei nun, feierlich formuliert, nicht einfach um eine Vernichtung, sondern um eine durch die Auslöschung begründete Erfahrung des Sub-

49 Vgl. Steinberg nach ebd. 50 Zit. nach Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 39. Es geht hier um letter types/commercial stencils. 51 Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 39. 52 Vgl. ebd., S. 42. 53 Ebd., S. 40. 54 Ebd., S. 39. 55 Ebd., S. 39f. 56 Slavoj Žižek, Die Tücke des Subjekts, Frankfurt am Main 2001, S. 415. 57 Michel Foucault, Was ist ein Autor? (1969), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. I 1954–1969, Frankfurt am Main 2001, S. 1003–1041, hier S. 1008f. 58 Ebd.

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jekts.59 Der ‚Autor’ verschwindet als Schöpfer, doch auch die Vorstellung einer restlos ‚subjektlosen’ Produktion wird versuchsweise verworfen. Ist das ‚Subjekt‘ des Triebs in Copjecs Formulierung auch „egoless“,60 so nicht ohne leidenschaftliches „I“. Dieses kommt, wie sich mit Bezug auf Bersani sagen lässt, gewissermaßen auf dem Wege seiner Erschütterung und Zerrüttung ins Spiel. Das demnach abgeleitete Subjekt kann sich in einer Art leidenschaftlicher Selbst-Bezugnahme in jener ‚Zersplitterung‘ erfahren, der es ‚ursprünglich‘ ausgesetzt ist: „The human subject is originally shattered into sexuality“ und diese wiederum wird als eine Art Stabilitäts- und Integritätsgefährdung gefasst.61 Sublimierung richtet sich demnach auf eine Wiederholung jener (mit Laplanche) einbrechenden, überwältigenden sexuellen Erregung, um diese gleichsam aus all ihren kontingenten Anlässen heraus zu destillieren.62 Bindet sich sublimierte Energie schließlich an bestimmte (Ich-)Interessen – wie z. B. die Kunstproduktion –, dann fungieren diese Interessen nicht als Ersetzungen irgendeiner verdrängten ‚ursprünglichen‘ Lust; sie ‚symbolisieren‘ eher schon „the very process by which human interests and behavior are sexually moved”.63 Die Lust am Werk – falls man von dieser so noch sprechen kann – wäre so gesehen eine Art der Rückwendung auf jenes desintegrierende Genießen, welches das ‚Autorselbst‘ gleichsam ‚tötet‘, aber das ‚Subjekt‘ gerade nicht einfach zunichte macht. Von Copjec werden, wie gesehen, stärker die Objekte wie etwa Brust, Streichholzschachtel oder Drahtkleiderbügel hinzugezogen, die dann jene überschüssige Befriedigung verschaffen, über die der Trieb stolpert und durch die das Subjekt ‚sich‘ in einem Genießen erfährt. Sie bezieht sich dabei auch auf jene Formulierung vom ‚kopflosen Subjekt‘ des Triebs,64 die nicht zuletzt meinem Beitrag seinen Titel gibt: „(D)ie Erscheinung des Triebs“ lässt sich mit Lacan „als Erscheinung eines Subjekts ohne Kopf (…) begreifen“.65 „(N)icht daß da schon eins wäre“ – „Es geht um das Auftauchen eines neuen Subjekts“,66 welches, so Cremonini, „einen anderen Modus von Subjektivität darstellen“ soll.67 In diesem Modus ist das ‚Subjekt‘ gewissermaßen selbst ergriffen oder im Trieb fast schon gefangen; das azephale „Wesen des reinen Triebs“ lässt sich dann mit Žižek im Sinne eines „entsubjektivierten Subjekts“ begreifen.68 Mit dem Triebwesen dreht es sich hier letztlich um einen Prozess, über den das Subjekt nicht intentional, quasi als ‚Autor‘, gebieten kann, sondern von dem es viel59 Vgl. Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 58f. mit Bezug auf Foucault bzw. Bersani. 60 Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 61. 61 Leo Bersani, The Culture of Redemption. Cambridge, Mass/London 1990, S. 36; Leo Bersani, The Freudian Body. Psychoanalysis and Art, New York 1986, S. 60. 62 Vgl. Bersani 1990 (wie Anm. 61), S. 37. 63 Bersani 1990 (wie Anm. 61), S. 18 und S. 20. 64 Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 40. 65 Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI (1964), Weinheim/Berlin 1987, S. 189. 66 Ebd., S. 186 (veränderte Reihenfolge). 67 Cremonini 2007 (wie Anm. 35), S. 115. 68 In anderem Kontext Slavoj Žižek, Herrschaftsstruktur heute – eine lacanianische Sicht, in: Erik M. Vogt/ Hugh J. Silverman: Über Žižek. Perspektiven und Kritiken, Wien 2004, S. 210–230, hier S. 225; vgl. Žižek 2001 (wie Anm. 56), S. 414f.

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mehr selbst ‚vor den Kopf gestoßen‘ sein kann als etwas, was nun gedacht oder getan werden muss. Umkreist wird eine die Individualität verunsichernde, von dieser abgekoppelte Artikulation bzw. ein bestechend ‚unpersönlicher‘ Akzent auch in der Kunst, der dann, mit Pfaller gesprochen, von anderswoher käme „als aus den vertrauten Registern der eigenen Person“.69 Copjec schreibt mit Bezug auf ihr Beispiel: „The will that chooses these objects is absolutely Johns’s and yet absolutely impersonal“.70 Das kopflose Denkbild fungiert bei Copjec an dieser Stelle keineswegs als idiotisches Kreisen, stupides Gefangensein, blinder Wiederholungszwang oder Genussbefehl – allesamt mögliche Aspekte des Triebs. Copjec geht es hier mit der TriebSublimierung insgesamt vielmehr um eine Ethik, im Sinne einer anderen Logik als die, die herkömmlich ‚männlich-väterlich‘ durch Anderen bzw. Über-Ich umschrieben ist.71 Denn der sich vom Ego lösende Trieb kann sich darüber auch von Autoritäten wie dem ‚inneren Ankläger‘ entfernen. Er folgt gewissermaßen seinem Hang, kann am wenigsten ins Anerkennungsgeschehen involviert sein.72 Seine kaum um das Wohl besorgte Bewegung vermag auch „mit einem Selbstverständnis des Ichs, das aus intersubjektiv geteilten normativen Überzeugungen und symbolisch kodierten Rollenerwartungen gewoben ist“, zu kollidieren.73 Wenn gewöhnliche Objekte, die (wie bei Johns) niemandes ‚Vorliebe‘ zu entsprechen scheinen, verstörend sein können, dann auch insofern, als sie nach Copjec die Abwesenheit egoistischer Befangenheit signalisieren, die einen etwa veranlasst, sich den äußeren Umständen, Wünschen, Vorlieben oder auch Sorgen anderer zu fügen.74 Der Fischzug des Triebs scheitert nicht. „(I)n love with the impossible“75 zeigt er uns nicht nur die Unmöglichkeit, sich das Genießen vom Hals zu schaffen.76 Er steht auch für eben jene Kraft, die ausgehend von dem Nicht-Symbolisierten einer Situation imstande ist, sich von Kriterien „such as the good opinion of others“77 zu lösen: Seine drängende, anerkennungs-gleichgültige Kraft nimmt wie gesehen ihren Ausgang in dem, was im Kontext des kulturellen Bedeutungsuniversums nicht aufgeht, nicht einfach ‚übersetzt‘ werden kann. ‚Artikuliert‘ sich also, wenn man es ohne Angst 69 Robert Pfaller, Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur, Frankfurt am Main 2008, S. 34 und S. 281f. 70 Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 40. 71 Die dem Über-Ich entsprechende Forderung einer reinen Befriedigung oder eines absoluten Ziels (vgl. Copjec 2002, S. 46f.) wird nicht nur den jeder Idealisierung entledigten Dynamiken von Trieb/Sublimierung entgegengestellt. Darüber hinaus ist ein solches Postulat im Sinne der Lacanschen Sexuierungsformeln ‚männlich‘ konnotiert. Copjec folgend wird die Sublimierung einer ‚weiblichen‘ Ethik angenähert; vgl. dazu näher Insa Härtel, Symbolische Ordnungen umschreiben. Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht, Bielefeld 2009. 72 Jacques-Alain Miller, Kommentar zu Lacans Text (zu: Jacques Lacan: „Über den ‚Trieb‘ bei Freud und das Begehren des Psychoanalytikers“), in: Kupke 2007 (wie Anm. 33), S. 19–27, hier S. 21f. 73 Cremonini 2007 (wie Anm. 35), S. 124, vgl. S. 116. 74 Vgl. Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 40. 75 Diese Formulierung ist einem Kontext bzgl. Ismene/Antigone entnommen, nach ebd., S. 41. 76 Vgl. dazu Žižek 2001 (wie Anm. 56), S. 407f. 77 Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 41.

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vor Pathos fasst, in dem unpersönlichen Drängen des Triebs potentiell gesellschaftlich Unerhörtes?78

kultur Sexualität führt Menschen nach Bersani zusammen, um sie in ein Genießen zu stürzen, „that drives them apart“ und ist in diesem Sinne sozial dysfunktional.79 Das heißt auch, dass sie in einer Art „ethical-erotic project“ als eine Art Schutz gelten kann gegen die kulturell anerkannt autoritative Gestalt der, wie er schreibt, Tyrannei des Selbst.80 Der Trieb als eine das Selbst verstörende, ja kopfscheu machende Größe, an der kulturelle Übersetzungen scheitern, wäre dann an die Kultur dieses tyrannischen Selbst als ihr Anderes gebunden. Wenn der Trieb in dieser Hinsicht über durchkreuzende Dimensionen zu verfügen scheint, dann zeigen sich diese in einer solchen Kultur zugleich als gefährdet: „thus be in the process of losing its edge as ‚the only other of culture‘“.81 Mit den auf diese Weise weiterhin mitbestimmenden kulturellen ‚Übersetzungen‘ ist nun der letzte Aspekt benannt, den ich hier aufgreifen möchte. Wie bereits erwähnt, steht der Trieb aktuell als Erklärungsgröße durchaus zur Disposition. Auch in feministischer Theorie erfolgt eine Abkehr von einer „Idealisierung vermeintlich natürlicher Triebhaftigkeit“,82 bzw. – mit Foucault – von einem als „von Natur aus“ als machtwiderspenstig angenommenen Sexualtrieb.83 In der resultierenden Zurückweisung eines als zu begrenzt angesehenen psychoanalytischen Triebbegriffs trifft sich solche Kritik bei allen Differenzen partiell mit den bereits angesprochenen Formulierungen Schmidts; angeführt wird auch der Freudsche Triebballast.84 Auch innerhalb der Psychoanalyse ist der Trieb unter Beschuss: „Die Triebtheorie ist mit der Entsexualisierung der Psychoanalyse in den Hintergrund geraten“.85 Die zeitgenössischen Veränderungen sexuellen Verhaltens haben die Psychoanalyse aus solcher Sicht in „Bedrängnis“ gebracht.86 Es geht um nichts weniger als um die westlich-kulturelle Organisationsform des Sexuellen. Dieses hat, so eine vorherr78 Ein befremdlich-‚unpersönliches‘ Sprechen als Effekt eines Geschehens, worin sich „das Ungesagte und Unerhörte der Gesellschaft“ Gehör verschafft? Vgl. in anderem Kontext Pfaller 2008 (wie Anm. 69), S. 34. 79 Bersani 1990 (wie Anm. 61), S. 4. 80 Ebd., S. 3f. 81 Juliet Flower MacCannell, Drive on, in: Umbr(a). A Journal of the Unconscious, 1/1997, S. 61–65, hier S. 63. 82 Yvonne Bauer, Sexualität – Körper – Geschlecht. Befreiungsdiskurse und neue Technologien, Opladen 2003, S. 232. 83 Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Bd. 1, Frankfurt am Main 1991, S. 125. 84 Bauer 2003 (wie Anm. 82), S. 68. Vgl. zugleich die Kritik Bauers an Schmidt. 85 Susann Heenen-Wolff, Abschied vom Schiboleth? Über das Verschwinden der Sexualität in der zeitgenössischen Psychoanalyse, in: Irene Berkel (Hg.), Postsexualität, Gießen 2009, S. 169–190, hier S. 177. 86 Ebd., S. 177.

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schende Meinung, an Sprengkraft verloren – und zwar umso mehr, je beharrlicher bzw. aufdringlicher es öffentlich arrangiert werde, so etwa Sigusch.87 Das Phänomen sexueller Lustlosigkeit scheint weit verbreitet.88 Es ist auch die Rede von „innerer Desexualisierung“ bei „äußerer Sexualisierung“89 – von Braun benennt Tendenzen eines Überdrusses an Sexualität und einer „sexuelle(n) Aufladung des öffentlichen Raums“.90 Der konstatierte (dabei z. T. auch hinterfragte) Begehrensschwund bzw. das Phänomen asexuellen Erlebens wird mit Pfaller auch als eine – kulturell unglückstechnische – Form der Libidounterbringung lesbar,91 in der gleichsam das Selbst statt des Objekts in den Vordergrund tritt. „Es gibt nicht zu viel ‚Appetit‘ für äußere Objekte“ sondern „ein grenzenloses Interesse am eigenen Ich“; eine weitenteils „narzisstische Kultur ermutigt den Narzissmus der Individuen, nichts zu dulden, was sie über ihr Ich hinausführt“.92 Insofern zugunsten der Besetzung eines unerreichbaren Ideals auf die Erfahrbarkeit von Lust verzichtet wird, ist diese Art der Leidenschaft durchaus trübsinnig zu nennen.93 Copjec hält in anderem Zusammenhang fest: „(w)hat we find most difficult is hanging onto and enjoying the pleasure we have“. – Das Problem mit der Lust? „(A)ny of the countless reasons we invent to forsake it“.94 Eine Suche nach einer sichernden Anderen-Relation sowie eine Sehnsucht, „Subjekt der eigenen Sexualität“95 zu sein, tritt demnach zutage und damit weniger eine Fremdheit im sexuellen Wollen,96 mit Laplanche: ein innerer Fremdkörper der Sexualität. Was dann mit dem Verzicht auf den Trieb als Erklärungsgröße potentiell aus dem Blick gerät, ist Sexualität als ein Feld von „Alterität“,97 oder, mit Bersani gedacht, Sexualität in ihrer potentiell das Selbst desintegrierenden Qualität.98

87 Volkmar Sigusch, Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 8. 88 Heenen-Wolff 2009 (wie Anm. 85), S. 181 mit Bezug auf Lequeux. 89 Gunter Schmidt, Sexuelle Verhältnisse. Über das Verschwinden der Sexualmoral, Reinbek 1998, S. 25. 90 Christina von Braun, Die symbolische Geschlechterordnung in den drei Religionen des Buches, in: Berkel 2009 (wie Anm. 85), S. 105–122, hier S. 121. 91 Pfaller 2008 (wie Anm. 69), S. 222. 92 Ebd., S. 153 und S. 134. Das narzisstische Ich wäre hier gerade nicht im Sinne des ersten erotischen Ich nach Bersani zu verstehen, das „at its origin, would be nothing more than a kind of passionate inference necessitated by the anticipated pleasure of its own dismantling“ (Bersani 1990, wie Anm. 61, S. 38). Mit Pfaller geht es eher um eine narzisstische Besetzung des Ichs als Objekt im Sinne auch von Selbstachtung. Eine Diskussion verschiedener ‚Narzissmen‘ sprengt leider den Rahmen dieses Aufsatzes. 93 Vgl. Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt am Main 2002. 94 Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 174. 95 Pfaller 2002 (wie Anm. 93), S. 239; vgl. auch Copjec 2002 (wie Anm. 40), S. 174. 96 Vgl. dazu Pfaller 2008 (wie Anm. 69), S. 226ff. 97 Dazu Robert Pfaller, Der Normalnarzissmus der Verhandlungsmoral und seine Widersacherin, die Normalperversion – und was die Psychoanalyse aus ihrem Gegensatz lernen kann. Zu Franz Oberlehners Text ‚Sexualität und Bindung im Spätkapitalismus. Von der Normalneurose zur Normalperversion‘, in: texte. psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik 25/ 2005, H. 4, S. 12. 98 Vgl. Leo Bersani, Is the Rectum a Grave? in: Douglas Crimp (Hg.), Aids. Cultural Analysis/ Cultural Activism, Cambridge, Mass./London 1988.

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So gelesen ruft Copjecs auch als ‚weiblich‘ verstandene Ethik99 jenes Moment auf den Plan, das in derzeitigen Vorstellungen des Sexuellen nicht selten ‚unter den Tisch‘ fällt, d.h. eine ‚triebhafte‘ Dimension – und zwar nicht verstanden als ursprünglich biologisch-widerspenstige Macht, sondern als ein Sexuelles, das als irreduzibles „Ungleichgewicht im Menschen insistiert/beharrt“, „konstitutiv fehl am Platz“, ohne vorherbestimmten natürlichen Ort.100 Es wäre begreifbar als Lücke101 oder Fremdheit in einer kulturellen Ordnung, die (wenn auch natürlich nicht monolithisch) genau diese Lücke verstellt – und sie zugleich als abgewehrte denkbar macht: als das, was immer schon nicht-existiert.102 Copjecs Analyse kann meiner Textlektüre zufolge genau innerhalb einer ‚Kultur des Selbst‘ ein provokantes Plädoyer für das nicht-identisch Erregende ergeben, in dem, wie das Objekt daher kommt und was daran zwingend ist, statt etwa nach IchBestätigung zu suchen. Auch in der weitreichenden Verabschiedung des Gedankens gesellschaftlicher Wertschätzung für die Sublimierung (in Differenz zu Freud und auch Lacan) liegt damit eine kulturelle Bezogenheit. Wie Pfaller zeigt, verweist der Sublimierungsbegriff mit Notwendigkeit auf „das Verhältnis der Sexualtriebe zur gesellschaftlichen Norm“.103 Darin liegt zugleich eine Differenz. Setzt Copjec gewissermaßen auf das aus dem inkonsistenten ‚Anderen‘ der Kultur erwachsende Triebsubjekt, so ist nach Pfaller das ‚Subjekt‘ der Sublimierung die Kultur. Es wären deren hervorgebrachte Rahmenbedingungen, die dem Trieb gleichsam zu einer „Durchsetzung sowohl gegen die ihm feindlichen Triebe als auch gegen die ihm feindlichen kulturellen Überbauten dieser Triebe“,104 und so zu einer außerordentlichen Würdigung und Wertschätzung verhelfen – oder aber diese erschweren. Eine Kultur kann demnach – etwa durch Verstärkung narzisstischer Impulse – durchaus auch kultur- bzw. sublimierungsfeindlich agieren.105 Was erklären kann, warum Kulturen im Ausmaß der Entwicklung von Sublimierungsfähigkeit (und der Verteilung dieser erotischen Ressource) differieren.106 Am Ende erscheint es wie eine Kippfigur: Vermag Pfallers Sublimierungsmodell also die ‚kulturelle Differenz‘ genauer zu beleuchten und darin besonders die gebietende Macht der Kultur,107 so kann die Lektüre Copjecs die Aufmerksamkeit gerade 99 100 101 102

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Vgl. Anm. 71. Zupančič 2009 (wie Anm. 26), S. 15–17. Vgl. Marie-Luise Angerer, Vom Begehren nach dem Affekt. Zürich/Berlin 2007, S. 122. Vgl. Insa Härtel, Der Trieb als Übersetzungsfehler? Vom Einbrechen des Sexuellen, in: Martin Heinze/ Joachim Loch-Falge/ Sabine Offe (Hg.), Übersetzungen. Zum Erkenntnisgewinn von Verstehen und Missverstehen in der Psychiatrie und anderen Kontexten, Berlin (in Vorbereitung). Robert Pfaller, Die Sublimierung und die Schweinerei. Theoretischer Ort und kulturkritische Funktion eines psychoanalytischen Begriffs, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 63/ 2009, H. 7, S. 621–650, hier S. 630. Ebd., S. 641. Vgl. ebd., S. 644. – Was hier paradox klingen mag, ergibt sich m.E. nicht nur dadurch, dass Pfaller Kultur in ihren widerstreitenden Kräften denkt – die Sublimierung wird auch als „sexualfreundliche kulturelle Kraft“ (ebd. S. 641) gefasst –, sondern auch aus der Tatsache, dass er den Kulturbegriff teils normativ, teils deskriptiv verwendet. Vgl. ebd., S. 642. Vgl. ebd., S. 639f.

durch das verschwinden des autors hindurch: kopflose ,triebsubjekte‘

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auf das von kultureller ‚Würdigung‘ Ausgeschlossene lenken, was von dem in ihr Unmöglichen her treibt. Auch wenn dies selbstredend nur ein Aspekt im komplexen Geflecht von Kunst im Kontext des Sozialen sein kann und ein solcher Einbezug nicht an sich schon ein Durchbruch ist, wird so mit dem sublimierten Trieb bestenfalls ein Moment dessen denkbar, was in gegebenen kulturellen Äußerungen weder an Selbstsein noch an Anerkennungslogiken gebunden ist.108 Dabei wird zudem unübersehbar, dass der unmögliche Trieb potenziell alles trifft, sowie es sich löst. Wie künstlerische können schließlich auch menschliche Objekte unbegründbar packen und kopflos machen.

108 Bei Gefahr ausgerechnet einer Idealisierung des ent-idealisierten Schicksals des Triebs.

‚selbstbildnisse‘ eines subjekts, das ,verloren‘ ging aporien und strategien von künstlerinnen im 20. Jahrhundert

marion hövelmeyer Die Position von Künstlern und Künstlerinnen ist von einer Verschiebung von einem auktorialen hin zu einem diskurs-operativen Verständnis determiniert: „Wen kümmert’s, wer spricht?“1 – heißt es bei Foucault. Der „Autor“2 (und hierzu analog der Künstler, die Künstlerin) spreche kaum mehr, denn der sei tot, so Barthes. Die so markierte poststrukturalistische Reflexion von Autor- und Künstlerschaft ist für viele Künstler und Künstlerinnen des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zu einem faszinierenden Thema geworden, insbesondere für diejenigen, deren Sujet das sogenannte ‚Selbstporträt‘ ist. Aufgeladen mit Ansprüchen von ‚Authentizität‘ und ‚Urheberschaft‘ steht das ‚Selbstporträt‘ in einer ca. fünfhundertjährigen europäischen Bildtradition,3 deren Legitimation im 20. Jahrhundert in Erklärungsnot gerät. Möglicherweise allerdings nicht erst jetzt, werden doch bereits seit langer Zeit kunsthistorische Bedenken angemeldet, Leonardo da Vinci (1492–1519) habe sich mit dem weltberühmten Gemälde, das Mona Lisa genannt wird (Abb. 1a), selbst porträtiert4 und niemand anderen. Man kann gleichwohl darüber nachdenken, ob solcherlei Spekulationen ‚Werk‘ und ‚Künstler‘ überhaupt erst autorisieren bzw. konstituieren. Die künstlerische Avantgarde des 20. Jahrhunderts wartet mit zahlreich gewordenen Auseinandersetzungen zum historischen Erbe von ‚Meisterschaft‘, ‚Urheberschaft‘, ‚Originalität‘ und ‚Authentizität‘ auf, deren Bedeutungen bis in die zeitgenössische Kunst hinein wirksam sind. Für eine Verdichtung dieser Postulate sowie jeweils ihnen anhaftender weiterer Vorstellungen steht allen voran das ‚Selbstporträt‘ ein, für das sich im 20. Jahrhundert vermehrt auch Künstlerinnen interessieren. Nicht selten nutzen gerade sie das ‚Selbstporträt‘ im Sinne einer eigenen Standortbestimmung, mit der sich im- und explizit zugleich Kritik an patriarchalen Konventionen üben lässt.5 Dies gilt beispielsweise für die 1894 geborene französische Künstlerin Claude Cahun (mit Familiennamen Lucy Schwob), die mit Fotografien und Fotomontagen arbeitet. 1 2 3

4 5

Michel Foucault, Was ist ein Autor (1969), in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main u. a. 1979, S. 31. Roland Barthes, Der Tod des Autors (1967), in: Fotis Jannidis/ Gerhard Lauer/ Matias Martinez/ Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193. Siehe Sigrid Schade, Das Selbstportrait im Zeitalter seiner Unmöglichkeit, in: Galerie im Turm des Kulturzentrums Schlachthof Bremen (Hg.), Für sieh, Ausstellungen und Vorträge, Bremen 1995, S. 11–14; vgl. auch dies., Vom Versagen der Spiegel. Das Selbst-Portrait im Zeitalter seiner Unmöglichkeit, in: Farideh Akashe-Böhme (Hg.), Reflexionen vor dem Spiegel, Frankfurt am Main 1992, S. 131–163. Siehe beispielsweise http://www.studiolo.org/Mona/MONA15.htm (19.2.2010). Vgl. Schade 1995 (wie Anm. 3), S. 12.

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1a Leonardo da Vinci, Mona Lisa, Öl auf Pappelholz, um 1503–06

1b Yasumasa Morimura, Mona Lisa in Pregnancy, Fotografie, 1998

Einem größeren Publikum bekannt werden die Arbeiten der dem surrealistischen Zirkel Bretons nahestehenden Künstlerin erst in den 1980er und -90er Jahren, was begründet sein dürfte in restriktiven weiblichen Rollenvorstellungen der 1920 und -30er Jahre, die für eine unverheiratete, lesbische, jüdische und kommunistisch orientierte Künstlerin keine Optionen bargen – lange auch nicht in künstlerischen und kunsthistorischen Kreisen.6 Die Fotografie Que me veux tu? (1928), in der Cahun zwei sich teilweise überlagernde Profile ihres – für Frauen dieser Zeit gänzlich ‚unschicklich‘ – rasierten Kopfes abbildet und so die Themen eines ‚zweiten Selbst‘ und eines ‚Sich-Verweigerns‘ anreißt, kann beispielhaft für zahlreiche weitere, mithin maskeradisch-androgyne ‚Selbstporträts‘ genannt werden, in denen sich die Künstlerin etwa als Gewichtheber, Buddha oder Dandy inszeniert. Eine weitere, intensiv mit dem ‚Selbstporträt‘ arbeitende Künstlerin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Mexikanerin Frida Kahlo, die ihr eigentliches Geburtsjahr (1907) in das Jahr der Mexikanischen Revolution (1910) verlegt. In der kunsthistorischen Rezeption werden vor allem schwere körperliche und psychische Leiden der Künstlerin hervorgehoben und als Quellen ihrer Bildthemen verstanden, wie etwa ihre Erkrankung an Kinderlähmung, ein schweres Busunglück, bei dem ihr Becken durchbohrt wurde, oder ihre Kinderlosigkeit. Hinter einer maskenhaften 6

Vgl. www.txt.de/blau/blau18/cahun.htm (aufgerufen am 20.2.2010); siehe auch Laura Cottingham, Betrachtungen zu Claude Cahun, in: Heike Ander/ Dirk Snauwaert (Hg.), Claude Cahun Bilder, München 1997, S. XIX–XXIX; Ines Oberegger, Die androgyne Emanzipation. Selbstinszenierungen jenseits der ‚Weiblichkeit‘ bei Claude Cahun, Meret Oppenheim und Louise Bourgeois, in: Verena Krieger (Hg.), Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, Hamburg u. a. 2006, S. 75–102.

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Erstarrung suche die Künstlerin nach einer ‚authentischen‘ und ‚starken Frida‘, die „viele Gesichter“7 habe. Auch die Untreue ihres Ehemannes Diego Rivera sowie das Leben an der Seite dieses „großen Meisters“8 habe die Künstlerin in ihren ‚Selbstporträts‘ bearbeitet, heißt es beispielsweise in Bezug auf ihr Gemälde Selbstbildnis als Tehuana oder Diego in meinen Gedanken von 1943. Die 1947 geborene, französische Künstlerin mit dem selbstgewählten Namen ORLAN ist Vertreterin einer Body-Art, die unter dem ebenfalls selbstgewählten Titel Carnal-Art in parodistischer Weise eine Art Materialisierung weiblicher Idealvorstellungen vorführt. Mit Valie Export und Ulrike Rosenbach zählt ORLAN zu einer Gruppe sich als feministisch begreifender Künstlerinnen, die Manipulationen am eigenen Körper vollziehen. Zu denken ist beispielsweise an das Video des siebten chirurgischen Eingriffes, den ORLAN mit nur örtlicher Betäubung am 21. November 1993 in New York durchführen und via Satellit live übertragen lässt.9 Während der Operation, die die Künstlerin über weite Strecken mit einem Mikrofon kommentiert, werden u. a. im Schläfenbereich Implantate in Form zweier Beulen eingesetzt. Die Stirn der Mona Lisa da Vincis sei hierfür eine Vorlage, allerdings nicht im Sinne einer Adaption historischer Schönheitsmerkmale,10 so die Rezeption. Die unter dem Begriff ‚Selbstporträt‘ in der gender-Forschung der vergangenen zwanzig bis dreißig Jahre wohl meistbesprochenste Künstlerin ist die 1954 geborene US-amerikanische, ‚sich‘ stets in neuen Rollen und oft wiedererkennbar in Szene setzende Fotografin Cindy Sherman. Die Prominenz ihrer Arbeiten basiert maßgeblich auf einem – auch auf die bis hierher vorgestellten Positionen reformulierend rückwirkenden – kunstwissenschaftlichen Diskurs, der die seriellen Arbeiten der Künstlerin als „postmoderne,“11 maskeradische12 Strategie verhandelt. Dieser in den 1990er Jahren einflussreich werdende Diskurs bewirkt eine andere, weitere Dimension der Infragestellung einer Künstlerinnen- (und in der Folge auch Künstler-)schaft, die die Funktion des Bildes fokussiert. Schlagworte wie „Die Frau als Bild“13 oder „Das Bild ist das Bild“14 heben einen Bildstatus15 des Weiblichen hervor, demzufolge das Bild in der westlichen Kunst des 20. Jahrhunderts weiblich konnotiert ist und Frauen hier in einer kulturhistorischen Analogie zum Bild stehen. „Es geht nicht mehr um das 7 http://de.wikipedia.org/wiki/Frida_Kahlo (21.2.2010); siehe auch die offizielle Homepage der Künstlerin unter http://fkahlo.com/ingles/index_ingles.html (21.2.2010). 8 Ebd. 9 Siehe http://www.english.ucsb.edu/faculty/ecook/courses/eng114em/carnal.htm (19. 2. 2010). 10 Ebd. 11 Elisabeth Bronfen, Das andere Selbst der Einbildungskraft. Cindy Shermans hysterische Performanz, in: Cindy Sherman. Photoarbeiten 1975–1995, Ausst.-Kat. Deichtorhallen Hamburg/Konsthall Malmö/Kunstmuseum Luzern 1995/96, München 1995, S. 13–26, hier S. 20. 12 Vgl. beispielsweise Laura Mulvey, A Phantasmagoria of the Female Body. The Work of Cindy Sherman, in: New Left Review 188/1991, S. 137–150, hier S. 142. 13 Silvia Eiblmayr, Die Frau als Bild. Der weibliche Körper in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1993. 14 Marion Strunk, Das Bild ist das Bild. Zur Fotografie von Cindy Sherman, in: Die Philosophin 5/1992, S. 7–9. 15 Vgl. auch Sigrid Schade, Cindy Sherman oder die Kunst der Verkleidung, in: Judith Conrad/ Ursula Konnertz (Hg.), Weiblichkeit in der Moderne, Tübingen 1986, S. 229–341.

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Wesenhafte oder Eigentliche der Frau oder um die Rückeroberung ihres Körpers, sondern darum, mit dem gesellschaftlichen Konstrukt von Weiblichkeit, der Frau als Bild zu arbeiten,“16 heißt es bei Marion Strunk. Cindy Sherman betont: „Ich mache keine Selbstporträts (...). Ich versuche immer in den Bildern soweit wie möglich von mir selbst wegzugehen.“17 Das ‚Selbstporträt‘ ist damit angekommen im „... Zeitalter seiner Unmöglichkeit“, so Sigrid Schade.18 In der Appropriation Art werden durch bisweilen parodistische Konzepte der bildlichen Verdoppelung traditionelle Bedeutungspaare wie etwa ‚Bild und Geschlecht‘ und damit auch ‚Künstlerschaft und Identität’ besonders fragwürdig und auf diese Weise dekonstruiert. Ein Beispiel aus diesem Feld stellen – neben den Arbeiten Cindy Shermans – die Fotografien des japanischen Künstlers Yasumasa Morimura (geb. 1951) dar, der prominent gewordene Bilder von Künstlern und Künstlerinnen adaptiert und erkennbar mit seinem eigenen Gesicht versieht. So etwa die Fotoinszenierung To My Little Sister: Cindy Sherman (1998), die auf Shermans Fotoinszenierung Untitled #118 (1983) referiert, oder auch die Arbeit Dialogue with Myself 19 (2001), die offenkundig Bezug nimmt auf das ja bereits nicht unkritische Gemälde Kahlos mit dem Titel Die zwei Fridas (1939). Es entsteht hier unter dem Oberthema des ‚Selbstporträts‘ zumeist sehr detailgetreu: ein Bild – nach einem Bild – nach einem Bild etc. Die bis hierher vorgestellten Positionen, die in keiner Weise beanspruchen für eine Kunstgeschichte des ‚Selbstporträts‘ im 20. Jahrhundert repräsentativ zu sein, sollen aufzeigen, dass eine häufig angenommene Beziehung von „Selbstidentität und Selbstinszenierung“20 kunsthistorisch zweifelhaft und als solche thematisiert ist. Die Gründe und Erklärungen für diese Zweifelhaftigkeit sind mitbegründet in phasenspezifisch prominent werdenden Diskursen, die nicht nur die Rezeption der jeweiligen Gegenwartskunst konstituieren, sondern auch die der Moderne reformulieren. Der derzeitige kritische, philosophisch und psychoanalytisch gestützte kunstwissenschaftliche Diskurs besagt, dass das Subjekt nicht (mehr) ‚vor‘ dem Bild da sein kann,21 ein Bild nichts (mehr) sein kann, das ein Künstler bzw. eine Künstlerin ‚aus‘ und ‚von‘ sich gewissermaßen spiegelbildgleich kreieren kann, und dass Bild und Subjekt quasi substanzlos22 (geworden) sind – so nach Lacan, der das Subjekt auffasst wie eine 16 17 18 19

Strunk 1992 (wie Anm. 14), S. 8. Cindy Sherman zitiert bei Bronfen 1995 (wie Anm. 11), S. 13. Schade 1995 (wie Anm. 3), S. 11. Yasumasa Morimura, Dialogue with Myself, aus der Serie An Inner Dialogue with Frida Kahlo 2001. 20 Bronfen 1995 (wie Anm. 11), S. 19. 21 Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), in: Norbert Haas (Hg.): Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI, Olten 1978, S. 78: „... ich sehe nur von einem Punkt aus, bin aber in meiner Existenz von überall her erblickt“; siehe auch ebd., S. 113: „... auf dem Felde des Sehens ist der Blick draußen, ich werde erblickt, das heißt ich bin Bild/ tableau.“ 22 Peter Widmer, Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1990, S. 53; vgl. auch Marion Hövelmeyer, Pandoras Büchse. Konfigurationen von Körper und Kreativität. Dekonstruktionsanalysen zur Art-BrutKünstlerin Ursula Schultze-Bluhm, Bielefeld 2007, S. 54.

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„Leerstelle.“23 Dies fordert vor allem zeitgenössischen Künstlerinnen mitunter subtile Taktiken ab, befinden doch gerade sie sich in der paradoxen Situation, als Frau ‚selbst‘ wie ein Bild zu sein, und dann auch noch ein Bild, das immer nur ein Bild eines Bildes oder eines anderen Mediums der Bedeutung sein kann.

„Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das!“24 Die 1954 geborene, u. a. in Wien und Venedig lebende Künstlerin Irene Andessner beschäftigt sich seit 1988 mit dem Thema ‚Selbstporträt,’25 zunächst mittels Malerei und später auch mittels Performance-gestützter Foto-, Video- und Computerinszenierungen. Auf ihrer Homepage heißt es, die Künstlerin entwickle „das Selbstporträt originär weiter.“26 Was kann dies noch heißen in Zeiten, in denen Bild und Künstlerschaft fragwürdig (geworden) sind? Die web-Präsentation Andessners lässt deutlich werden, dass die konventionellen Wissenskategorien von Bild und Künstlerschaft noch wirksam sind, auch wenn diese kaum noch glaubhaft sind. Die verführerische und täuschende27 Funktion des Bildes nämlich ist für das Subjekt unverzichtbar. Die folgende Fokussierung auf die web-Präsentation der Künstlerin wird dies in besonderer Weise veranschaulichen. Nicht, weil in diesem vielleicht zunächst als ‚Kunstwerk’-fremd oder -separiert misszuverstehenden Medium der Selbstdarstellung Mechanismen des Marktes, also der Schaulust und der Selbstbehauptung, in ganz naheliegender Weise hervortreten, sondern weil diese Mechanismen der Schaulust und der Selbstbehauptung gerade diejenigen sind, die das ‚Selbstporträt‘ auch traditionell konstituieren28 – und zwar in Bezug auf einen/eine Betrachter/in, an dessen/deren Aufmerksamkeit „appelliert“29 wird. Der Bildmodus, innerhalb dessen Andessner Aufmerksamkeit erregt, besteht aus einer Art schwarzem Passepartout, in das wiederum ein schwarzes Tableau eingesetzt ist, wie es auf der Startseite der Homepage irene andessner. i am productions vom 23 Widmer 1990 (wie Anm. 22), S. 53. 24 Lacan 1978 (wie Anm. 21), S. 107. 25 Siehe vor allem die Werkserie Vorbilder (1995–98), in der Andessner u. a. vor einem Spiegel für ein ‚Selbstporträt’ posierende Künstlerinnen (wie z. B. Angelica Kauffmann, Gwen John und Frida Kahlo) nachstellt; außerdem das Langzeitprojekt Selbstporträt I.A., bei dem die Initialen „I.A.“ nicht nur auf den Namen der Künstlerin verweisen, sondern auch für ‚im Auftrag‘ stehen. Letzterem liegt ein Konzept zugrunde, innerhalb dessen Andessner „unter dem Vorzeichen der Selbstinitiierung von Fremdinszenierung“ Künstlerkollegen mit der Erstellung ihres ‚Selbstporträts‘ beauftragt und nach deren Vorgaben posiert; vgl. die Rubriken „Arbeiten“ und „Neues“ auf http://www.andessner.com/ (23.2.2010). 26 Zitiert nach der Rubrik „Profil“ auf http://www.andessner.com/ (23.2.2010). Die nachfolgende Analyse der web-Präsentation Irene Andessners bezieht sich auf den Stand ihrer Homepage am Tag des Aufrufs. 27 Lacan 1978 (wie Anm. 21), S. 119: „Weil das Bild jener Schein ist, der behauptet, er sei das, was den Schein gibt.“ 28 Zu den historischen und mythologischen Vorbildern, die noch in modernen Konstruktionen von Künstlerschaft wirksam sind, vgl. grundlegend Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität, Frankfurt am Main/New York 1986. 29 Schade 1995 (wie Anm. 3), S. 11.

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2 Irene Andessner, irene andessner. i am productions, website vom 23.02.2010

23. Februar 2010 erscheint (Abb. 2). Am rechten oberen Rand des Tableaus ist das angeschnittene Gesicht der Künstlerin eingefügt, das – perfekt geschminkt und mit einem weißen Kragen versehen – direkt auf die Betrachtenden zurückschaut. Das Design ruft Assoziationen von Schönheit, Erhabenheit und Perfektion auf. Einzig der zentral- und alleinstehende Satz, „Ich bediene ein Bild der Frau, das sich andere machen,“30 irritiert zunächst. In Kombination mit dem Schwarz allerdings erzeugt dieser Satz weniger eine Störung als die Wirkung eines Geheimnisvollen. Das Gesicht der Künstlerin bietet sich aufgrund seiner Randplatzierung und Maskenhaftigkeit für diesen Satz nicht als Quelle an. „Ich“ ist somit nicht eindeutig zuzuordnen und seine Tätigkeit „bediene(n)“ ebenso wenig. Wer oder was also spricht? Es ist ein Bildmodus, der sich zusammensetzt aus der Rhetorik des Verführens, der „Frau als Bild,“31 sowie des weiteren der Suggestion eines Bündnisses. Auf einer weiteren web-Seite Andessners werden diese Determinanten noch anschaulicher (Abb. 3). Quasi auf einer Diagonalen ist dreimal das Gesichtsbild der Künstlerin angeordnet. Oben rechts handelt es sich um das weitergehend eingezoomte Bild der Startseite und unten links um ein Thumbnail, das eine Wiederholung des größeren Abbildes in der Mitte ist. Größenverhältnis, Angeschnittenheit, Serialität und Platzierung der Gesichtsbilder erzeugen zusammen mit den filigranen weißen Rahmenlinien einen Verschachtelungs- und Tiefeneffekt. Auffällig an dem größeren Bild ist, dass der Gesichtsausdruck weniger maskenhaft wirkt. Die Funktion des mittigen Bildes ist in der Tat auch eine veränderte, geht es doch auf dieser web30 Zitiert nach der Startseite irene andessner. i am productions auf http://www.andessner.com/ (23.2.2010). 31 Eiblmayr 1993 (wie Anm. 13).

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3 Irene Andessner, irene andessner. i am productions, website vom 23.02.2010

Seite weniger um die Darbietung einer künstlerischen Arbeit, als vielmehr um die eines retrospektiven, online bestellbaren Werkkataloges. Neben dieser kommerziellen Absicht zieht dieser Katalogverweis eine Art publikationsdokumentarische Manifestierung von Künstlerschaft nach sich. Es sind die Bilder und ihre Platzierung, die sprechen,32 nicht die Künstlerin, auch wenn vor allem das mittlere Bild dies suggeriert. Neben einem katzenhaften, etwas verschlagenen erotischen Blick unterscheidet sich dieses Bild von dem anderen dadurch, dass an die Stelle eines „Ich“ hier ein „I am – irene andessner“ gesetzt ist. Die Momente von Verführung, Nähe und Selbstbehauptung sind publikumswirksam verdichtet, was – wie bereits gesagt – der traditionellen Konzeption des ‚Selbstporträts’ entspricht und nicht entgegensteht. Möglicherweise geschieht aber an dieser Stelle eine Übertreibung der Konzeption. Nimmt man den äußersten Rahmen bzw. den Reiter der web-Seite hinzu, so ist die Überschrift „irene andessner. i am productions“ erkennbar, die der Benennung eines Wirtschaftsunternehmens ähnelt, der ein Personenname implizit ist (etwa wie bei „Warner Brothers Pictures“). Überdies ist „I am“ nicht im herkömmlichen Sinne einer Selbstaussage zu verstehen, da es sich hierbei um den Namen des Produktionsteams der Künstlerin handelt. „irene andessner“, „i am“ und „productions“ – diese Bezeichnungen suggerieren ein Einstehen für einen Markenartikel; zusammen mit dem Gesichtsbild der Künstlerin wirken sie wie ein Corporate Design. Insgesamt ist dies als eine ironische Verdichtung verstehbar. Es handelt sich um eine geschickte, gleichwohl nicht offenkundige Bildtaktik, die sich

32 In Anlehnung an Roland Barthes Aussage, es ist „die Sprache, die spricht, nicht der Autor“; siehe Barthes 2000 (wie Anm. 2), S. 186.

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4 Irene Andessner, irene andessner. i am productions, website vom 23.02.2010

der Rhetorik des Verführens, der „Frau als Bild“33 und der Suggestion eines Bündnisses bedient, sie publikumswirksam einsetzt und noch auf eine Kompatibilität mit gegenwärtigen, quasi poststrukturalistischen Diskursen bedacht ist. Eine solche Bildtaktik lässt ihre ökonomischen und fachdiskursiven Prämissen offenkundig werden und verbirgt sie nicht. Eine weitere web-Seite der Künstlerin (Abb. 4) präsentiert – wiederum oben rechts und unten links von ihrem Gesichtsbild umrahmt – eine 2003 entstandene Atelierinszenierung mit dem Titel Donne Illustri, die im Saal der berühmten Männer im Caffè Florian am Markusplatz in Venedig als Fotografien gezeigt wurden.34 Die Künstlerin stellte den hier angebrachten Ölgemälden berühmter Venezianer ihre Nachstellung berühmter Venezianerinnen gegenüber, wie beispielsweise die der als „erste Frauenrechtlerin der Welt“35 bezeichneten Moderata Fonte (1555–1592). Auf der linken Seite ist ein lebensgroßes neuinterpretiertes Ganzfigurenporträt mit dem Titel Moderata Fonte #2 platziert, dessen Konstruktionssetting als attraktives Bildelement auftritt. Zu sehen ist Andessner in einer an historischer Garderobe und Frisurenmode orientierten Aufmachung auf einem Hocker sitzend inmitten eines Stahlgerüstes, an dem links und rechts kunterbunt Lampen angebracht sind. In der Rolle der Moderata Fonte hält die Künstlerin in ihrer Hand noch den Selbstauslöser des Fotoapparates, den sie soeben bedient hat. Vor allem zwei Gestaltungsweisen lassen vergessen, dass der Szenerie ja immer eine technische Bedingtheit des Bildes zugrundeliegt, nämlich eine tiefensuggestive Gesamtpräsentation von Leuchtkasten und 33 Eiblmayr 1993 (wie Anm. 13). 34 Siehe zu diesem Ausstellungsprojekt auch die pdf-Datei Donne_Catalog in der Rubrik „Arbeiten“ auf http://www.andessner.com/ (23.2.2010). 35 Zitiert nach ebd.

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5a Irene Andessner, Moderna Fonte #2, Fotografie, 2003

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5b Cindy Sherman, Untitled #183, Fotografie, 1988

web-Präsentation sowie ein opulentes Vexierspiel. Im rechten Drittel der web-Seite sind anklickbare kleine Büstenporträts erkennbar, die zu weiteren, von Andessner inszenierten ‚Selbstporträts‘ führen. Bezüglich des zur Moderata Fonte-Inszenierung gehörenden Kleinporträts (Abb. 5a) ist ein Vergleich mit einem Exponat aus der Serie der history portraits von Cindy Sherman (Abb. 5b) naheliegend, bei dem eine kalkuliert unrespektablere Inszenierung auffällt, die hinsichtlich der Frage einer dekonstruktiven Bildtaktik sehr viel offenkundiger agiert. Dass sich eine parodistische Bildtaktik im Vergleich zu einer weiteren als ambivalent erweist, ist in der Gegenwartskunst keinesfalls selten. Ist aber diese Ambivalenz selbst vielleicht in dem paradoxen Phänomen des zwar unmöglich gewordenen, gleichwohl weiterhin existenten ‚Selbstporträts‘ begründet? Ergeben sich aus einer Analyse der Verführungs- und Geheimnissuggestionen des ‚Selbstporträts‘ überhaupt brauchbare Rückschlüsse hinsichtlich der Position von Künstlern und vor allem von Künstlerinnen? Und zieht die Auseinandersetzung mit der kulturhistorischen Konstruktion der „Frau als Bild“36 unter dem Oberthema des ‚Selbstporträts‘ nicht ein Verschwinden von Künstler(innen)schaft nach sich, das sich gerade in Bezug auf Künstlerinnen als fatal erweist? Schreiben die gegenwärtigen Dekonstruktionen am und im Bild am Ende ein historisches Erbe fort, das den Status einer weiblichen Künstlerschaft seit jeher nihiliert?

36 Eiblmayr 1993 (wie Anm. 13).

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„ ... (den) Blick (im Bild) zu deponieren, wie man Waffen deponiert.“37 Die Erkenntnisse zum Bild und zum ‚Selbstporträt‘ – also über die Verführungs-, Tiefen- und Geheimnissuggestionen, mittels derer ein Bild eine persönliche Inhaltsschwere „behauptet“38 – sowie die Erkenntnisse über die bisweilen offenkundigen, übertriebenen und kalkuliert publikumswirksamen In-Szene-Setzungen etwa am Set, ziehen weitergehende Erkenntnisse über eine Täuschungswilligkeit von Künstlern, Künstlerinnen und Betrachtenden nach sich. Ein Subjekt, das ‚sich selbst‘ zum Bild macht, rückt sich ein in ein Bild,39 in ein Set, in einen Sinnzusammenhang, die nämlich für das Subjekt den Modus seines Sichtbarwerdens vorgeben. Lacan hat diese konstitutive Abhängigkeit mit dem Begriff des Anderen40 gefasst, zu dem das Subjekt in einer imaginären, identifikatorischen, aber auch trügerischen und nie wieder aufhebbaren Beziehung steht.41 Diese auch bildhafte Beziehung bildet die unbewusste und beruhigende42 Struktur einer lebenslangen ‚Selbstinszenierung‘.43 Selbst provokative, parodistische oder in anderer Weise dekonstruktive Variationen des ‚Selbstporträts‘ – wie beispielsweise Yasumasa Morimuras Arbeit Mona Lisa in Pregnancy (Abb. 1b) – vermögen diese, für Kunstschaffende und Betrachtende gleichermaßen konstitutive Struktur nicht außer Kraft zu setzen. Solche Variationen können nichts daran ändern, dass das Bild identifikatorisch wirkt und seine Attraktivität u. a. mittels Rhetoriken der Verführung und des Geheimnisses herstellt. Dem Bild ist Täuschung zugestanden – lieber ein täuschendes Bild als keines – ja Täuschung ist gerade interessant, löst sie doch weitere Wissens- und Wertstiftungen erst aus. Gleichwohl sind provokative und parodistische Variationen nicht unwirksam und nicht beliebig. Die Aufgeladenheit des Bildes mit geschlechtsspezifischen Codes, Wunsch- und Autoritätsvorstellungen, wird durch sie vielfach erst erkennbar. Morimuras Arbeit etwa ist – infolge der Einpassung seines Gesichtsbildes, eines nackten, schwangeren, ‚weiblichen‘ Rumpfes und zumindest eines ‚männlichen‘ Armes – als Parodie der historischen Vorlage lesbar, d.h. ihrer geheimnisumwitterten Dichotomie 37 38 39 40 41

Lacan 1978 (wie Anm. 21), S. 107. In Anlehnung an Lacan 1978 (wie Anm. 21 u. 27), S. 119. Vgl. Lacan 1978 (wie Anm. 21), S. 106. Vgl. ebd., S. 90–91. Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint, in: Norbert Haas (Hg.), Jacques Lacan. Schriften I, Weinheim/Berlin 1991, Bd. 1, S. 64: „Die jubilatorische Aufnahme seines Spiegelbildes (...) wird von nun an – wie uns scheint – in einer exemplarischen Situation die symbolische Matrix darstellen, an der das Ich (je) in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt (...). (...) von besonderer Wichtigkeit ist gerade, dass diese Form vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum alleine nie mehr auslöschen kann.“ 42 Lacan 1978 (wie Anm. 21), S. 107f.: „Dies eben macht die pazifizierende, apollinische Wirkung der Malerei aus“; vgl. auch ebd., S. 81: „Was besagt dies anderes, als dass im sogenannten Wachzustand der Blick elidiert ist.“ 43 Lacan 1991 (wie Anm. 41), S. 67. Lacan spricht in Bezug auf das (erste) Spiegelbild u. a. von einer „Form (...), die aufgenommen wird von einer wahnhaften Identität, deren starre Strukturen die ganze mentale Entwicklung des Subjekts bestimmen werden.“

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von weiblichem Bildmotiv und männlicher Meisterschaft, ihrer eurozentrischen Geschwätzigkeit sowie ihrer Verhandlung unter dem Thema des ‚Selbstporträts.‘ Eine Konterkarierung neuerlicher, eigener Berühmtheitseffekte allerdings leistet Morimuras Arbeit nicht. Ohnehin sind die am ‚Selbstporträt‘ exemplifizierten Optionen der Dekonstruktion auf die Frage der Künstler(innen)schaft nicht ohne weiteres rückbeziehbar, jedenfalls nicht solange diese mit dem Begriff des Subjekts verknüpft bleibt. Es ist das ‚Selbstporträt‘ nicht nur aufgrund der Abhängigkeit des Subjekts vom Bild und vom Anderen unmöglich, sondern auch, weil sein adäquates Pendant eigentlich nicht das Subjekt, sondern der bzw. die Kunstschaffende ist. Vergleichbar dem Modus des Bildes, obliegt auch Kunstschaffenden ein Modus, der beispielsweise Referenzen über Originalität und Auktorialität stiftet. Dieser Modus wirkt wie ein Relais für Zuschreibungen, Klassifikationen und Interpretationen. Der bzw. die Kunstschaffende ist in diesem systemischen Verständnis mit Foucault „eine bestimmte Seinsweise des Diskurses.“44 Ähnlich etwa den Verführungs- und Geheimnissuggestionen, die das Bild konstituieren, sind es hier beispielsweise Biografismus und Personifizierung, die Künstlerschaft konstituieren.45 Der Modus Künstlerschaft ist eine Funktion, die bestimmte Optionen des Bedeutens und Taktierens präfiguriert, die – etwa von Kunstschaffenden – beansprucht werden können; von Künstlern allerdings anders, d.  h. nach wie vor ‚selbstverständlicher‘, vertrauter, historisch zugestandener, als von Künstlerinnen. Auf diese Optionen erheben auch die Mechanismen des Marktes Anspruch, so etwa Museen, Sammler, Investoren, Publikum, Politik und Kunstgeschichtsschreibung. Dabei hat dieser Markt die Dekonstruktion von Bild und Künstlerschaft längst entdeckt und vorangetrieben; aber nur als Thema, nicht in einer konstitutiven Konsequenz. Die Kenntnis über die – auch geschlechtlich konnotierte – Fiktionalität von Bild und Künstlerschaft setzt deren wertbestimmende Operationspotentiale nicht außer Kraft. Man denke also nicht, die Mona Lisa sei ein ‚Selbstporträt‘ und man wird unweigerlich denken, die Mona Lisa sei eine neue Form des ‚Selbstporträts.‘

44 Foucault 1979 (wie Anm. 1), S. 17. 45 Ebd., S. 20: „... im Individuum soll es einen ‚tiefen‘ Drang geben, schöpferische Kraft, einen ‚Entwurf‘, und das soll der Ursprungsort des Schreibens sein, tatsächlich aber ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen lässt, der Annäherung, die man vornimmt, der Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zulässt, oder der Ausschlüsse, die man macht.“

andrea frasers künstlerischer geschlechtsverkehr oder wie man autorschaft als prozess beschreiben kann

sabine kampmann Der Künstler, dessen Wiederkehr zu Beginn des 21. Jahrhunderts begrüßt wird, war in Wirklichkeit nie ganz aus der Kunstgeschichte verschwunden. Denn die kunsthistorische Disziplin hat das Autorsubjekt zu keiner Zeit so radikal in Zweifel gezogen, wie dies etwa die Literaturwissenschaft tat. Bereits gegen Ende der 1960er Jahre boten die mittlerweile kanonischen Texte von Roland Barthes und Michel Foucault Anlass zu hitzigen Debatten über den Tod des literarischen Autors, über die vermeintliche Leugnung von dessen Subjektstatus und ein damit scheinbar verbundenes antihumanistisches Weltbild.1 Im Zentrum der literaturwissenschaftlichen Diskussionen über Autorschaft, die in den 1990er Jahren ihren publizistischen Höhepunkt erreichten, standen und stehen die Fragen nach der Individualität des Autors, nach der Intentionalität der geschaffenen Werke sowie die Kritik am Biographismus und vor allem auch die Reflexion der Parameter der wissenschaftlichen Disziplin selbst.2 Ein vergleichbarer Argwohn wurde bildenden Künstlerinnen und Künstlern nicht entgegengebracht. Doch auch in der Kunstgeschichte sind in den 1990er Jahren Ansätze zu beobachten, den eigenen Anteil der Disziplin an der Konstruktion beziehungsweise Produktion von Autorschaft zu reflektieren und insbesondere unter dem Stichwort der Künstlermythen eine hagiographische Kunstgeschichtsschreibung zu kritisieren.3 Der kunsthistorischen Geschlechterforschung ist es dabei zu verdanken, nicht nur subjekt- und identitätskritische Fragen formuliert, sondern auch dafür sensibilisiert zu haben, wie sich die Entstehung der Kategorie Künstler am männlichen Geschlecht orientierte und wie auch die kunsthistorische Disziplin selbst geschlecht-

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Roland Barthes, Der Tod des Autors (La mort de l’auteur, 1968), in: Fotis Jannidis/ Gerhard Lauer/ Matias Martinez/ Simone Winko (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185–193; Michel Foucault, Was ist ein Autor? (Qu’est-ce qu’un auteur?, 1969), ebd., S. 198–229. Vgl. rückblickend und stellvertretend für die umfangreichen Diskussionen: Jannidis u. a. 2000 (wie Anm. 1); Fotis Jannidis/ Gerhard Lauer/ Matias Martinez/ Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. Vgl. Nanette Salomon, Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden, in: kritische berichte 4/1993, S. 27–40; Heinz Knobeloch, Subjektivität und Kunstgeschichte, Köln 1996; Eckhard Neumann, Künstlermythen. Eine psycho-historische Studie über Kreativität, Frankfurt am Main/New York 1986 sowie die Wiederentdeckung des Buches von Ernst Kris/ Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein historischer Versuch (1934), Frankfurt am Main 1980 auch für den englischsprachigen Raum durch Catherine M. Soussloff, The Absolute Artist. The Historiography of a Concept, Minneapolis/London 1997.

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lich codiert ist.4 Kunstwissenschaftliche Arbeiten, die nicht die Werke, sondern ihre Urheber ins Zentrum rücken, beschäftigen sich seitdem mit der Analyse von Rollenmustern und Künstlerhabitus und fragen in kritischer Auseinandersetzung mit der Künstlerbiographik seit der Renaissance nach der Um- und Neucodierung klassischer Künstlertopoi. In den Fokus einer autorschaftssensiblen Kunstgeschichte gerät zum einen der Anteil, den die Disziplin selbst an der Entstehung von diskursiven Künstlerfiguren hat. Zum anderen auch der Anteil der Künstler an ihrer Inszenierung, sowohl vermittelt über ihre Werke, als auch über die Art sich zu benehmen, zu kleiden und zu kommunizieren. Diese unterschiedlichen Prozesse, durch die Autorschaft bildender Künstler entsteht, ebenso wie die Frage nach der Bedeutung und Funktion der Kategorie Künstler, geraten in der jüngsten kunstwissenschaftlichen Forschung zunehmend in den Blick. Der vorliegende Beitrag setzt an dieser Stelle an. Ausgehend von der Beobachtung, dass Künstler eine unverzichtbare Konstante im Diskurs darstellt, soll ein methodischer Vorschlag zur Analyse der Diskurse über Autorschaft unterbreitet werden. Dabei wird am Beispiel eines Kunstwerks von Andrea Fraser diskutiert, inwieweit ein in der Literaturwissenschaft etablierter Ansatz – die systemtheoretische Analyse – auch für die Forschung über bildende Künstler und ihre Werke geeignet ist. Was diese Anleihe aus der Literaturwissenschaft verspricht, sind gleich mehrere Dinge: Eine hohe analytische Schärfe, die für autorschafts- und kunstsystemreflexive Kunstwerke hilfreich ist, ein genaue Unterscheidung der Ebenen im Sprechen über Autorschaft und eine Perspektive, die über Kunst und Kunstgeschichte hinaus reicht und jene gesellschaftlichen Kontexte zu berücksichtigen in der Lage ist, in denen Künstler ebenfalls präsent sind. Am Ende steht ein Vorschlag, wie man Autorschaft als einen Prozess beschreiben kann.

andrea fraser, untitled, 2003 Zur Diskussion steht ein Werk ohne Titel der amerikanischen Künstlerin Andrea Fraser aus dem Jahr 2003. Den Rezipienten wird im Ausstellungsraum ein 60minütiges Video auf einem Monitor präsentiert, das in Farbe, ohne Ton und ohne Schnitte, den Geschlechtsverkehr eines Paares in einem Hotelzimmer zeigt. Von einer einzigen unter der Decke angebrachten Videokamera aus in entsprechender Entfernung gefilmt, sieht man, wie ein Mann und eine Frau mittleren Alters das Zimmer betreten. Man sieht ihre ersten Annäherungsversuche und Zärtlichkeiten, wie sie sich Entkleiden, in verschiedenen Stellungen miteinander Geschlechtsverkehr haben und nach einer abschließenden Phase des Aneinanderkuschelns Bett und Bildraum verlassen. Durch 4

Richtungsweisend für den deutschsprachigen Raum vgl. die Sammelbände Silke Wenk/ Kathrin Hoffmann-Curtius (Hg.), Mythen von Autorschaft und Weiblichkeit im 20. Jahrhundert, Marburg 1997; Ines Lindner/ Sigrid Schade/ Silke Wenk/ Gabriele Werner (Hg.), BlickWechsel. Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit in Kunst und Kunstgeschichte, Berlin 1989.

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die Werkbezeichnung auf einem Schild im Ausstellungsraum erfährt der Betrachter – wenn er es durch die begleitenden Pressemeldungen rund um das Video nicht ohnehin schon weiß – dass die Frau in dem Video Andrea Fraser selbst ist. Und er erhält Informationen über das dem Video vorangegangene Projekt: Im Winter 2002 hat Fraser über die New Yorker Friedrich Petzel Gallery nach einem Kunstsammler suchen lassen, der Interesse daran hat, mit der Künstlerin Sex zu haben, dies auf Video aufzeichnen zu lassen und eines der Exemplare der daraus entstehenden DVDEdition zu bekommen – natürlich gegen Zahlung einer entsprechenden Kaufsumme. Die Identität des zweiten Akteurs im Video wird also gelüftet und auch wieder nicht. Wer ihn kennt, mag ihn im Bild identifizieren, namentlich bleibt er jedoch anonym.5 Untitled wird seit Bekanntwerden der ersten Planungen zum Projekt und bei jeder öffentlichen Ausstellung des Videos von Empörungsrufen in den Medien begleitet. Der Künstlerin wird vorgeworfen, nach dem Prinzip sex sells billige Aufmerksamkeitsproduktion zu betreiben, und das Werk wird vorwiegend unter Aspekten der Prostitution diskutiert.6 Diese Debatten verdecken jedoch dessen interessante Struktur. Denn indem Fraser den Kunstsammler zum Akteur und unverzichtbaren Teil des Werks macht, praktiziert sie eine geteilte Autorschaft und thematisiert zugleich die Verflechtungen zwischen künstlerischem Schaffensprozess und Kunstmarktgeschehen. Es bleibt mehrdeutig, ob der Sammler für die sexuelle Dienstleistung, für das erste Exemplar der DVD-Edition oder für die besondere Nähe zum prototypischen kreativen Künstlersubjekt zahlt. Fraser sucht in der Werkentstehung die kollaborative Praxis, bleibt jedoch dessen alleinige Urheberin. Diese souveräne Autorinnenposition erscheint zugleich zweifelhaft, weil Fraser als Akteurin im Video nicht nur Objekt der Darstellung ist, sondern auch Objekt der Schaulust der Betrachter. Wofür genau kann also der Körper der Künstlerin im Werk stehen? Und in welchem Verhältnis befindet sich dieser Künstlerkörper zur Kategorie des Künstlersubjekts und dieses wiederum zum Begriff des Autors bzw. der Autorin?

künstler: körper, bewusstsein und kommunikative konstruktion Stellte man Niklas Luhmann diese Fragen, würde er wohl auf eine strikte Unterscheidung der Ebenen pochen. Es sind dies die drei emergenten Ebenen physischer, psychischer und sozialer Systeme, die zwar alle nach dem Prinzip der System/Umwelt5

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Zu Untitled siehe u. a. What Do We Want from Art, Anyway? A Conversation with Gregg Bordowitz, in: Artwurl, August 2004, H. 6, http://artwurl.org/aw_past_interviews.html (15.8.2010); Susan E. Cahan, Regarding Andrea Fraser’s Untitled, in: Social Semiotics 16/2006, H. 1, S. 8–15; Isabelle Graw, Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity Culture, Köln 2008, S. 223–226; Sabeth Buchmann, Es kann nicht jede/r Andrea heißen. Zu den neuen Arbeiten von Andrea Fraser, in: Texte zur Kunst 13/2003, H. 52, S. 99–109; Yilmaz Dziewior, Interview mit Andrea Fraser, in: Andrea Fraser. Works: 1984–2003, Ausst.Kat. Kunstverein in Hamburg, hg. v. Yilmaz Dziewior, Köln 2003, S. 78–90, bes. S. 88–90. Vgl. etwa Jerry Saltz, Critiqueus Interruptus. The Lady Is Not a Tramp. Andrea Fraser Replaces Sensationalism with Adoration, in: Village Voice, 13. Februar 2007, http://www.villagevoice.com/2007-02-13/art/critiqueus-interruptus/ (29.8.2010).

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Unterscheidung aufgebaut sind, sich aber nicht unmittelbar miteinander austauschen können, es sei denn über das Prinzip der strukturellen Kopplung.7 Es ist nicht wegzudiskutieren, dass Künstler Körper haben. Diese Körper stehen auf Vernissagen und posieren für Porträtfotos, mit ihren Händen halten sie Pinsel, tippen auf Tastaturen oder dirigieren Orchester. Mit den Augen sehen sie die sich füllende Leinwand oder den sich dezimierenden Steinblock. Luhmann interessiert sich für die Rolle des Künstlerkörpers im Schaffensprozess und betont, dass der Hersteller eines Kunstwerks „zunächst seinen Körper als primären Beobachter vorausschicken“ muss.8 Auch wenn also Produktion ebenso wie Rezeption von Kunst aus systemtheoretischer Perspektive beide einen Vorgang des Beobachtens darstellen, besteht der Unterschied darin, dass das erste „herstellungsleitende Beobachten nur einmal erfolgen kann, das betrachtende dagegen wiederholt.“9 Was im Kopf des Künstlers hingegen beim Meißeln von Marmor oder beim Zusammenschweißen von Metallschrott vorgeht, bleibt für andere unzugänglich – die Bewusstseinsinhalte psychischer Systeme sind gänzlich unbeobachtbar. Diese Ansicht entspringt der Auffassung des Bewusstseins als eines autopoietisch organisierten Systems: Die Gedanken operieren rekursiv in einem geschlossenen Netzwerk, für das körperliche oder kommunikative Offerten lediglich Reize aus der Umwelt darstellen, die nach den Regeln des psychischen Systems selbst verarbeitet werden.10 Der Künstler selbst „kann nicht (oder nur mit unerträglichen Vereinfachungen) beobachtet werden“ fasst Luhmann zusammen – die Suche nach der Intention eines Künstlers ist somit aus erkenntnistheoretischer Perspektive aussichtslos.11 Und dennoch wird über Künstler allerorten kommuniziert und nach den Absichten hinter ihren Werken gesucht. Das Bedürfnis danach, Identitäten zu konstruieren, hängt mit dem generellen Nutzen zusammen, den die Reduktion von Komplexität in sozialen Systemen bedeutet. Ein Kunstwerk kann so nur einer bestimmten Person zugerechnet werden, einem Künstler eben, der juristischer Urheber ebenso wie inhaltlicher Schöpfer ist und mit dessen Individualität das einzigartige Werk zu erklären ist. Doch Luhmann zufolge ist es wichtig, auf Ebene sozialer Systeme die Funktion des „Kondensats“ Künstler als einer kommunikativen Konstruktion zu bedenken: „Wenn wir Verdichtungsbegriffe wie ‚Beobachter‘, ‚Betrachter‘, ‚Künstler‘, ‚Kunstwerk‘ usw. verwenden, sind deshalb immer nur Kondensate des Kommunikationssystems Kunst gemeint, gleichsam Sedimente einer Dauerkommunikation, die mit Hilfe der so festgelegten Rekursionen von einem zum anderen findet. Künstler, Kunstwerke, etc. haben im Prozess der Autopoiesis von Kunst eine Strukturfunktion. Sie bündeln Erwartungen.“12

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Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 82–86. Luhmann 1995 (wie Anm. 7), S. 68. Ebd., S. 69. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie (1984), Frankfurt am Main 1996, S. 346–348. 11 Luhmann 1995 (wie Anm. 7), S. 123. 12 Ebd., S. 87–88.

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Diese Erwartungen und die damit zusammenhängenden Kommunikationen können sehr unterschiedlich ausfallen. Was die Wissenschaft über Künstler weiß, ist nicht automatisch wahrer als das, was die Platzierung in einem Kunstmarktranking verrät. Die in Kultur- und Lifestylemagazinen zu lesenden Berichte über Künstlerprovokateure oder -fürsten konkurrieren nicht mit dem Wissen, das die Familie über einen Künstler besitzt, der aus dieser Sicht etwa als liebevoller, abwesender oder besorgter Vater erscheint. All diese Perspektiven folgen unterschiedlichen Leitunterscheidungen, die durch die Technik der Beobachtung zweiter Ordnung sichtbar gemacht werden. In den Blick gerät dabei Künstler als ein vielgestaltiges Beobachtungsobjekt, dessen Vielgestaltigkeit in Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen Teilsystemen entsteht, die über Künstler kommunizieren. Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die kommunikativen Grenzziehungen zu all dem, was nicht als Künstler oder Autor erachtet wird, um so mit Hilfe „polykontexturaler Analysen“ diesen von seiner jeweiligen Umwelt trennscharf zu unterscheiden.13 Die Frage, ob Künstler Menschen sind, würde Luhmann also keineswegs verneinen. Doch Mensch als Kategorie lässt sich nicht vernünftig beobachten. Wer dennoch Wert auf eine vollständige Objektbeschreibung legt, wer also physisches Substrat, Leben, Bewusstsein bzw. die Gesamtheit der strukturellen Kopplungen rund um einen Künstler als Menschen berücksichtigen will, der müsse, so Luhmann, „der Beschreibung eine jeweils andere Systemreferenz zu Grunde zu legen bzw. die Systemreferenzen der Beschreibung ständig […] wechseln.“14 Genau dieser permanente Wechsel der Systemreferenz in der Beschreibung ist für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Künstlern und Autoren eine ebenso anspruchsvolle wie lohnenswerte Aufgabe.

abschiede: vom genie zur person Mit der analytischen Auflösung des Künstlersubjekts in drei voneinander getrennt operierende Systemebenen gehen Abschiede einher. So muss der Vorstellung, dass künstlerische Autorschaft eng mit Subjektivität oder sogar Genialität verbunden ist, Lebewohl gesagt werden. Seit der Renaissance hat der Künstler Urheber des Werks und das Konzept für das Kunstwerk von ihm selbst zu sein.15 Diese eindeutige Zurechnung verläuft im Umfeld der humanistischen Fürstenhöfe der Frühen Neuzeit parallel zur Nobilitierung des bildenden Künstlers zum uomo singolare und schließlich zum divino artista.16 Das zunehmende Interesse an der Subjektivität des Künstlers, der Innerlichkeit des Autorindividuums, steigert sich im 18. Jahrhundert auch in Bezug auf literarische Autoren. Hier diente die Betonung der Autorindividualität zunächst 13 Niels Werber/ Ingo Stöckmann, Das ist ein Autor! Eine polykontexturale Wiederauferstehung, in: Henk de Berg/ Matthias Prangel (Hg.), Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen 1997, S. 233–262. 14 Luhmann 1995 (wie Anm. 7), S. 88. 15 Ebd., S. 417. 16 Michael Wetzel, Autor/Künstler, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 480–544, hier S. 494.

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als „juristische Problemlösungsformel“, um die Autonomie der Kunst über die Autonomie des Künstlers zu begründen.17 Trotz zahlreicher künstlerischer Reflexionen über den eigenen Status – spätestens mit den Avantgarden des 20. Jahrhunderts – ist der Begriff des Künstlers als eines prototypischen Subjekts, das seine innersten Regungen authentisch zum Ausdruck bringt, bis heute dominant. Die zahlreichen Versuche, die ästhetische Grenze zu überschreiten und etwa anonyme Kunst zu machen oder im Alltag aufzugehen, greifen nicht: Sobald das Objekt, die Tätigkeit oder die Idee als Kunst identifiziert wird, ist auch die zugerechnete Person als Künstler oder Künstlerin gleichsam entlarvt. Neben den Charakterisierungen als Verdichtungsbegriff oder als Kondensat ist Luhmanns Begriff der Person hilfreich, um die Autorexistenz als kommunikatives Produkt im Wechselspiel sozialer Systeme zu begreifen. Die Form Person übernimmt Luhmann zufolge die Funktion, individuelles Verhalten für andere erwartbar zu machen.18 Dabei ist Person ein komplett äußerliches Konzept, das statt der Utopie eines mit sich selbst identischen Subjekts das Alternativprojekt einer Identität der Differenz setzt. Der auf dem Schrottplatz Dinge sammelnde Mensch wird nicht verjagt, weil er als Künstler auf der Suche nach Readymades erkannt wird. Die gleiche Person wird im Supermarkt jedoch sicher nicht als Künstler, sondern als Käufer adressiert, der wie alle anderen auch an der Kasse Güter gegen Geld einzutauschen hat. Die jeweils kontextspezifisch auswählbaren Beschreibungen eines Menschen bilden das Medium, vor dessen Hintergrund die Form Person je aktuell entsteht. Der Begriff Person eignet sich demzufolge, die verschiedenen einem Individuum zugewiesenen Identitätszuschreibungen kommunikativ zu einem Rollenensemble zu bündeln. Doch der Abschied vom Künstler als intentional handelndem Subjekt mit besonderen Fähigkeiten fällt nicht leicht. Insbesondere wenn es um die Beschreibung explizit autorschaftsreflexiver künstlerischer Arbeiten geht, ist es paradox, in der wissenschaftlichen Analyse des Kunstwerks die dahinterstehende Künstlerfigur als genialen Strippenzieher zu konstruieren. In solchen Situationen hilft es bei Luhmann nachzulesen: „Oft greift man zur Erklärung auf eine Herstellungsabsicht des Künstlers zurück, aber das bleibt trivial, bleibt eine tautologische Erklärung, weil die Absicht fingiert werden muss und ihre psychischen Korrelate unzugänglich bleiben.“19 Gestützt wird die Vorstellung des Künstlers als eines exemplarischen, kreativen und intentional agierenden Subjekts durch die Annahme, dass Leben und Werk eine Einheit bilden. Die Verknüpfung von Kunstwerk und Künstler ist Ergebnis eines Naturalisierungsprozesses.20 Die vermeintlich natürliche Verbindung zwischen dem

17 Gerhard Plumpe, Ästhetische Kommunikation der Moderne 1. Von Kant bis Hegel, Opladen 1993, S. 43; vgl. auch ders., Der Autor als Rechtssubjekt, in: Helmut Brackert/ Jörn Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Grundkurs 2, Reinbek 1981, S. 179–193. 18 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995. 19 Luhmann 1995 (wie Anm. 7), S. 113. 20 Vgl. Kris/ Kurz 1980 (wie Anm. 3), bes. S. 147–152.

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Werk und der Subjektivität des Autors scheint bis heute, zumindest aus Perspektive des Kunstsystems, unauflösbar. Systemtheoretisch gedacht, diffundiert allerdings parallel zum Begriff des Autors auch derjenige des Werks. Der ontologische Status des Kunstwerks und dessen isolierte und neutrale Wahrnehmbarkeit werden in Zweifel gezogen. Luhmann zufolge ist ein Kunstwerk ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium und nichts Materielles, es basiert auf dem Zusammenspiel von Medium und Form.21 Der künstlerische Schaffensprozess ist vor diesem Hintergrund als ein Vorgang des fortgesetzten Unterscheidens und Bezeichnens zu begreifen, bei dem der Künstler Formen entstehen lässt und so Beobachtungsdirektiven festlegt. Der Künstler ist dabei zwar stets der erste Beobachter seines Werks, doch seine Beobachtung ist nicht besser oder wahrer als die aller anderen Rezipienten. Das traditionelle Kausalverhältnis zwischen Künstler und Betrachter – demzufolge der Rezipient nur etwas wahrnehmen kann, das der Künstler zuvor in das Werk hineingelegt hat – wird somit aufgelöst. Eine systemtheoretische Perspektive auf Autorschaft verabschiedet sich also von der Vorstellung eines intentional handelnden, autonomen und individuellen Künstlersubjekts, weil dieses als unbeobachtbar gilt. Stattdessen legt sie Wert auf die Unterscheidung der jeweiligen Ebene, auf der der Künstler aktuell wird, sei es diejenige der Physis, des Bewusstseins oder der Kommunikation. Für die wissenschaftlichen Analysen von Autorschaft liegt der Fokus dabei auf der kommunikativen Produktion von Autorschaft. Die entscheidenden Fragen sind dabei, wie der Künstler in der Kommunikation durch Kunst (Kunstwerk) entsteht, wie er in der Kommunikation über Kunst (Kunstsystem) entsteht und wie er sich im polykontexturalen Kommunikationsgefüge je unterschiedlich schärft (soziale Systeme). Systemtheoretische Analysen von Künstlern oder Autoren kennen weder Schöpfer noch natürliche Verbindungen von Leben und Werk, sie begreifen vor dem Hintergrund des Personen-Konzepts das Individuum als ein Rollenensemble, innerhalb dessen sich die Funktionsrolle Autor/ Künstler situiert.

fraser, revisited In einigen Kunstwerken Andrea Frasers wird die Person als Rollenensemble explizit: Fraser tritt mal als Kunstvermittlerin oder -kritikerin, mal als ein berühmter männlicher Künstlerkollege oder als Sambatänzerin auf und nimmt so aktiv am Prozess der Produktion der Person Andrea Fraser teil.22 Fügt die Projekt- und Videoarbeit Untitled diesem Ensemble die Rolle der Prostituierten hinzu? Der genaue Blick auf 21 Niklas Luhmann, Ist Kunst codierbar? (1976), in: Niels Werber/ Niklas Luhmann (Hg.), Schriften zur Kunst und Literatur, Frankfurt am Main 2008, S. 14–44, hier S. 20–21; Luhmann 1995 (wie Anm. 7), S. 165–214. 22 Zur Bedeutung dieses Rollenensembles und Frasers Selbstdarstellungsstil in Hinblick auf das gesamte Oeuvre vgl. Buchmann 2003 (wie Anm. 5), bes. S. 102; Sabine Kampmann, Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft: Christian Boltanski, Eva & Adele, Pipilotti Rist, Markus Lüpertz, München 2006, S. 102–105.

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das Werk, auf die darin zu erkennenden Formentscheidungen, zeigt, dass es so einfach nicht ist. Auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung sehen wir einen sexuellen Akt und beobachten die Bewegungen der Akteure, ihre Stellungen und ihr Agieren im Raum. Man mag sich der voyeuristischen Situation bewusst werden und sich Gedanken machen über Schaulust, Scham und das sich Prostituieren. Damit, mit der Wahrnehmung als Kunst, befindet man sich bereits auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Die Information über die Identität der Akteure stellt dabei einen entscheidenden Teil des Werks dar und lenkt die Rezeption. Besonders die körperliche Präsenz der Künstlerin im Werk verwirrt die Betrachter, da Fraser so auch als Objekt der Schaulust zu sehen ist. Doch dieser Status bleibt auf Ebene der Kommunikation durch das Kunstwerk nicht unwidersprochen. Denn Fraser ist immer auch als Initiatorin des gesamten künstlerischen Projektes präsent, da sie es war, die sich den Kunstsammler als sexuellen Gespielen ausgewählt hat. Der sichtbare Körper der Künstlerin im Werk erhöht offenbar dessen Komplexität und erscheint als ein vieldeutiges Zeichen. In der bildenden Kunst wird die Abbildung des Künstlerkörpers traditionell als Selbstporträt gelesen. Lässt sich das Kunstwerk, wie bei Untitled der Fall, nicht in diese Gattung einordnen, so scheint der Körper doch zumindest für eine besondere Authentizität zu stehen.23 Es ist allerdings eine irritierende Authentizität, bei der Fraser als Schöpfersubjekt die Fäden in der Hand hält und zugleich mit ihrem Körper Medium des Kunstwerks ist. Luhmann hat diesen Fall als ein Problem der Authentizität beschrieben, das entstehe, wenn sich der Künstler selbst ins Werk hineinkopiert: „Jedenfalls erzeugt das re-entry der Erzeugungsoperation in das erzeugte Werk die Paradoxie, daß das authentische, weil unmittelbare Handeln als inauthentisch beobachtet wird – und dies durch den Betrachter und durch den Künstler, der es darauf anlegt, selbst.“24 Fraser macht sich in dem Kunstwerk auf eine Art und Weise als Künstlerin beobachtbar, in der das autonome, authentische und prototypische kreative Subjekt zu einer flüchtigen Kategorie wird, weil es sich mit dem Körper der Künstlerin als Akteurin und Objekt der Darstellung überlagert. Ob Frasers sexuell aktiver Körper als Indiz für die Identität einer Prostituierten gedeutet werden kann, hängt damit zusammen, inwieweit eine solche Lesart an existierende Programme der Kunst anschlussfähig ist. Auf der Bildebene gibt es wenig Anzeichen für Prostitution. Die Künstlerin ist weder durch ihre Kleidung noch durch eine aufreizend-animierende Körpersprache als sich prostituierende Frau markiert, vielmehr gewinnt man den Eindruck, den einvernehmlichen Sex gleichberechtigter Partner zu sehen zu bekommen. Das Videomaterial selbst erscheint vom Aufnahmemodus her nicht pornographisch: Weder Nahaufnahmen der Geschlechtsteile noch der sexuellen Handlungen sind zu sehen und durch die weit entfernte Position der

23 Wetzel 2000 (wie Anm. 16), S. 56. 24 Luhmann 1995 (wie Anm. 7), S. 123.

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Kamera und die schlechte Bildqualität ähnelt die Videoästhetik eher derjenigen einer Überwachungskamera. Die Deutungen des Werks als einer Auseinandersetzung mit Prostitution basieren demzufolge eher auf der konzeptuellen Ebene des Werks. Überdies erweisen sie sich als anschlussfähig an historische Bildprogramme der Kunstgeschichte. Darstellungen von Kurtisanen, von als sexuell aufgeschlossen geltenden Modellen und Tänzerinnen oder Szenen aus dem Bordell- und Halbweltmilieu finden sich zuhauf. Oft wird Charles Baudelaires Analogie zwischen Kunst und Prostitution als Bezugspunkt genannt. Doch Baudelaire hatte bei Verwendung dieser Metapher zweifelsohne den männlichen Künstler vor Augen, der so die Pose des Marginalisierten einnehmen konnte. Frasers Kunstwerk hingegen wäre die wörtliche Umsetzung bzw. Aufführung der Analogie von Kunst und Prostitution durch die Künstlerin als nackte Frau – ein folgenreicher Geschlechterwechsel, in dem vielfache Marginalisierungen aufscheinen. Es ist die prinzipielle Problematik weiblicher Autorschaft, die hier ins Spiel kommt. Die Künstlerin als schöpferisch tätiges Subjekt war in historischer Hinsicht lange die Ausnahme. Der Subjektbegriff hat sich parallel zu jenem des autonomen Künstlers am männlichen Beispiel entwickelt, wobei die Frau auf Seiten des Dargestellten, etwa als Modell, zu finden war und in Hinblick auf ihre ‚natürliche‘ reproduktive Funktion (das Gebären) als nicht fähig zu künstlerischer Produktion erachtet wurde.25 Wenngleich sich Theorie und Praxis weiblichen Künstlertums in den letzen 200 Jahren verändert haben, spielen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Verdichtungsbegriff Künstler bis heute mit hinein. Frasers gleichzeitige Ver-Körperung von Künstlerin und Modell im Werk rückt die Vorstellung eines per se männlichen Schöpfertums als einen Topos in den Blick. Die im Werk vorgeführte Sexualität gegen Bezahlung kann gar als Allegorie auf den künstlerischen Schaffensprozess unter geänderten geschlechtlichen Vorzeichen gelesen werden. Denn seit Giorgio Vasaris Viten haben die Vorstellung des Kunstwerks als einem Kind des Künstlers und die Analogie von Schaffensprozess und Sexualleben einen festen Platz in der Künstlerbiographik.26 Für solche Interpretationen benötigt man nicht zwingend systemtheoretisches Gedankengut, doch hilft der differenztheoretisch geschulte Blick, um zu erkennen, wie genau bestimmte Formentscheidungen im Kunstwerk an unterschiedliche kommunikative Programme des Kunstsystems anschlussfähig sind, ohne dabei die Künstlerintention als vermeintlich letzter Instanz zu bemühen. Auch andere kunstwissenschaftliche Perspektiven auf Andrea Fraser erzeugen eine in viele Richtungen offene Künstlerfigur und würdigen diese Offenheit dabei als autorschaftsreflexiven Aspekt des Kunstwerks. So spricht die Kunsthistorikerin Catherine Wood angesichts Frasers Spiel mit dem alter ego der Prostituierten von einer „Überidentifikation mit dem ökonomischen Unterbau der Kunstweltkultur“.27 Andrea Fraser selbst diskutiert in ihren Texten die künstlerische Praxis als ein Dienstleistungsverhältnis, das 25 Vgl. Kampmann 2006 (wie Anm. 22), S. 46–54. 26 Kris/ Kurz 1980 (wie Anm. 3), S. 147–150. 27 Catherine Wood, Kapitalistische Echtheit, in: Ausst.-Kat. PopLife. Warhol, Haring, Koons, Hirst…, Hamburger Kunsthalle 2010, Köln 2010, S. 49–65, hier S. 63.

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den Regeln der Ökonomie unterworfen ist: In der Regel bleibe der materielle wie symbolische Konsum unsichtbar, wenn jedoch Produktion und Konsumption in eins fallen, so Fraser, werde die ökonomische Dienstleistung sichtbar.28 Genau das scheint bei Untitled der Fall zu sein. Wie sich gezeigt hat, nimmt Fraser in Untitled die Rollen der Hure, des Freiers und des Zuhälters gleichermaßen ein, die sich mit denjenigen der Künstlerin, des Sammlers und des Galeristen vermischen, so dass eine metaphorische Gegenüberstellung des ökonomischen Tauschhandels im Prostitutionsgeschäft und den ökonomischen Regeln des Kunstmarktes entsteht. Sabeth Buchmann schreibt es der Struktur der Arbeiten Frasers selbst zu, dass sie weder eindeutig als affirmative „Tabubruch- und Überbietungsinszenierungen“ eingeordnet werden können, noch als kritische Auseinandersetzungen mit den post-fordistischen Arbeitsverhältnissen der Kreativen, sei doch „in Frasers ‚institutionskritischen‘ Arbeiten“ der „avantgardistische Double Bind von ‚Autonomie‘ und ‚Determinination‘“ angelegt.29 Das offene Spiel mit Autorschaft jenseits eindeutiger Zuordnungen als affirmativer oder kritischer Kunst wird jedoch nur aus Perspektive des Kunstsystems sichtbar, die Beobachtung mit den Leitunterscheidungen anderer Funktionssysteme ergeben eine eindeutigere Autorin. So wird in den Kommentaren zu Frasers Kunstwerk wiederholt die Höhe der durch den Sammler gezahlten Geldsumme diskutiert. Für die Kommunikation des Wirtschaftssystems interessieren dabei allein die Fragen nach kaufen/verkaufen oder zahlen/nicht bezahlen, sowie Aspekte der Quantifizierung, des Preis-Leistungs-Verhältnisses, des Wertes und des Investitionsrisikos. Andrea Fraser ist aus dieser Perspektive Verkäuferin auf dem Kunstmarkt. In den Diskussionen um die Angemessenheit des Preises für das Kunstwerk spiegeln sich jedoch die Differenzen zwischen Bewertungen durch das Kunst- bzw. das Wirtschaftssystems wider: Es wird erörtert, wofür genau der Preis – es waren weniger als 20.000 Dollar – angemessen sein soll. Ist es der aktuelle Marktwert einer Videoedition von fünf Exemplaren Frasers im Jahre 2003 oder ist auch ihr Marktwert als sich prostituierender Frau gemeint? Oder zielt die Diskussion der Angemessenheit auch auf eine Art Kompensationswert, auf eine als ausreichend erachtete Entschädigungssumme, um die sexuelle Selbstausbeutung, den Verlust an moralischer Integrität der Künstlerin wieder auszugleichen? Für den Kunstmarkt ist eindeutig der Wert der DVD die Richtschnur. Doch weil das Kunstmarktgeschehen durch die kollaborativen Praktiken mit dem Kunstsammler wie auch mit der Galerie zu einem Teil des Werks geworden ist, und weil die symbolische Auseinandersetzung mit den ökonomischen Verhältnissen im Kunstsystem mit der realen, körperlichen Konfrontation von Künstlerin und Kunstsammler in eins fällt, scheinen die Grenzen zwischen künstlerischem und ökonomischem Kalkül zu verschwimmen. Der Kunstsammler erscheint dabei als prototypischer Grenzgänger zwischen den Systemen Kunst und Wirtschaft. Für Frasers Projekt ist er als Finanzier ebenso wie 28 Andrea Fraser, How to Provide an Artistic Service. An Introduction (1994), in: Alexander Alberro (Hg.), Museum Highlights. The Writings of Andrea Fraser, Cambridge, Massachusetts 2005, S. 153–162, hier S. 157. 29 Buchmann 2003 (wie Anm. 5), S. 106.

andrea frasers künstlerischer geschlechtsverkehr

1–4 Andrea Fraser: Untitled, 2003, Projekt und DVD, 60 Min., Farbe, ohne Ton, 4 Videostills

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als Sexualpartner unverzichtbar. Seine ökonomische Macht, ebenso wie sein Begehren gegenüber der Kunst und die Suche nach einer besonderen Nähe zum kreativen Künstlersubjekt werden in dieser Arbeit ausgestellt. Doch aus Sicht des Kunstmarktes ist die kollaborative Arbeit des anonym bleibenden Sammlers bei der Entstehung des Werks irrelevant. Es ist allein die Künstlerperson Andrea Fraser, die zählt, und das ist aus Perspektive des Wirtschaftssystems auch gut so, denn so ist sie als Zahlungsempfängerin eindeutig zu identifizieren. Eine ähnliche Eindeutigkeit von Autorschaft ist auch aus juristischer Perspektive wichtig. Rollenspiele, Mimikry oder Auflösungsversuche künstlerischer Identität sind aus Sicht des Rechtssystems uninteressant, ebenso wie die Kollaboration mit Sammler und Galerie. Fraser ist hier die alleinige Urheberin und die kollaborative Praxis erscheint vor diesem Hintergrund lediglich als ein Programm der Kunst. Grundlage dieser Eindeutigkeit sind Verträge. Mit dem Sammler wurde offenbar nur mündlich vereinbart, für die gezahlte Summe das erste Exemplar der Auflage von fünf zu erhalten. Für den Verkauf aller weiteren Exemplare des Videos sind viele Dinge vertraglich festgehalten: Nicht nur das Copyright liegt bei Fraser, auch die Verfügungsgewalt über alle die Aufführung betreffenden Aspekte, von der Größe des Monitors bis zum Verzicht auf Sitzgelegenheiten im Präsentationsraum. Für jede Aufführung des Videos muss bei der Künstlerin die Erlaubnis eingeholt werden und sie reguliert alle zum Werk erscheinenden Publikationsmaterialen. Systemtheoretisch analysiert, ergibt sich anlässlich des Kunstwerks Untitled also eine variantenreiche wie auch variable Künstlerperson Andrea Fraser. Durch die Beobachtung der kommunikativen Struktur des Werks, der spezifischen Anschlussmöglichkeiten an Programme des Kunstsystems sowie die polykontexturalen kommunikativen Prozesse der Entstehung von Autorschaft entfaltet sich das Kondensat Künstler in seiner Komplexität. Künstlerische Autorschaft zeigt sich statt von der genialischen von ihrer prozessualen Seite.30

30 Eine Variante dieses Textes mit stärkerem Bezug zur literaturwissenschaftlichen Autorschaftsforschung erscheint unter dem Titel „Künstler als Kondensat“ in: Niels Werber (Hg.), Handbuch zur systemtheoretischen Literaturwissenschaft, Berlin 2011.

autorinnen und autoren

doris berger arbeitet freiberuflich als Kuratorin, Autorin und Editorin u. a. am Getty Research Institute in Los Angeles. Ihre Forschungsschwerpunkte sind moderne und zeitgenössische Kunst mit Fokus auf visuelle Kultur, Intermedialität, Urbanismus, Gender Studien. Bis 2004 war sie Direktorin des Kunstvereins Wolfsburg, wo sie zahlreiche Ausstellungen kuratierte. 2005–06 lehrte sie an der HBK Braunschweig und UdK Berlin. 2006–07 war sie Stipendiatin im DFG-Graduiertenkolleg “InterArt” an der FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Projizierte Kunstgeschichte. Mythen und Images in den Filmbiografien über Jackson Pollock und Jean-Michel Basquiat (Diss.), Bielefeld 2009; Wahlverwandtschaften (Mithg.), 2007; Sexy Mythos (Mithg.), Berlin 2006; In, mit und zwischen den Räumen (Hg.), Frankfurt am Main 2004; Touristische Blicke (Hg.), 2002, Das unheimliche Heim (Mithg.), Wolfsburg 2000.

renate berger Professorin für Kunst- und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Künstlerinnen des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, künstlerische Biografik, Ausdruckstanz, Russische Avantgarde, Film- und Mentalitätsgeschichte der Zwanziger Jahre, Selbstmorddarstellungen in der Kunst, Männlichkeitskonzepte der Moderne. Publikationen im Zusammenhang mit dem Tagungsthema u. a.: Liebe – Macht – Kunst, Künstlerpaare im 20. Jahrhundert (Hg.), Köln/Weimar/Wien 2000; Navigation im Lebensmeer. Zur Renaissance des weiblichen Subjekts in Autobiografie und Biografie, in: Theresa Georgen/ Carola Muysers (Hg.), Bühnen des Selbst. Zur Autobiographie in den Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts, Kiel 2006, S. 87–110; Rodolfo Valentino. Männlichkeit als Passion, Hamburg 2003; Paula Modersohn-Becker, Paris – Leben wie im Rausch, (Mithg.), Stuttgart 2009.

beatrice von bismarck Professorin für Kunstgeschichte und Bildwissenschaft, Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. 1989–93 Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt am Main, Abteilung 20. Jahrhundert. 1993–99 Universität Lüneburg, Mitbegründerin und -leiterin des „Kunstraum der Universität Lüneburg“. Seit 2000 Programmleiterin der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig sowie Mitbegründerin und -leiterin des /D/O/C/K-Projektbereiches der HGB. Initiatorin des Studiengangs „Kulturen des Kuratorischen“. Aktuelle Forschungsgebiete: Kuratorisches Handeln, der künstlerische Arbeitsbegriff, kulturelle Praxis und Globalisierungseffekte, Funktionen des postmodernen Künstlerbilds. Publikationen im Zusammenhang des Tagungsthemas: Die Gauguin-Legende. Die Rezeption Paul Gauguins in der französischen Kunstkritik 1880–1903, Münster/Hamburg 1992; Bruce Nauman. Der wahre Künstler/ The

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True Artist, Ostfildern-Ruit 1998; Interarchive. Archivarische Praktiken und Handlungsräume im zeitgenössischen Kunstfeld (Mithg.), Köln 2002; Globalisierung/ Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte (Mithg.), Marburg 2005; beyond education. Kunst, Ausbildung, Arbeit und Ökonomie (Mithg.), Frankfurt am Main 2005; Auftritt als Künstler, Köln 2010.

sabine fastert Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Berlin, im kunsthistorischen Teilprojekt „Künstlertum als paradigmatisches Schwellenphänomen. Zur Konstruktion moderner Konzeptionen künstlerischer Kreativität um 1900“ in der DFG-Forschergruppe 1120 „Kulturen des Wahnsinns, Schwellenphänomene der urbanen Moderne“. Studium der Kunstgeschichte, Soziologie und Neueren Deutschen Literaturwissenschaft in Kiel und München. 1999 Promotion in Kiel. 1999/2000 Stipendiatin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris, 2000/2001 Forschungsstipendium der DFG. 2001–08 Wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. Assistentin LMU München, Habilitation 2008. 2010 Vertretungsprofessur FSU Jena. Publikationen u.  a.: Die Entdeckung des Mittelalters. Geschichtsrezeption in der nazarenischen Malerei des frühen 19. Jahrhunderts, München 2000; Kunst – Geschichte – Wahrnehmung. Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungskonventionen (Mithg.), München 2008; Spontaneität und Reflexion. Konzepte vom Künstler in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1960.

julia gelshorn Seit 2010 Professur für „Neueste Kunstgeschichte – Kunst der Gegenwart“ an der Universität Wien. Ihre aktuellen Forschungsprojekte sind Form und Materialität der Grazie als soziale Norm im 18. Jahrhundert und das Netzwerk als Modell für Kunst und Kunstgeschichte. 2008–10 Habilitationsstipendiatin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris. 2008 Vertretungsprofessorin für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und 2005–10 am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. 2001–08 wissenschaftliche Assistentin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern. Publikationen: Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München 2010; Legitimationen. Künstlerinnen und Künstler als Autoritäten der Gegenwartskunst (Hg.), Bern 2004; „31“. Magazin des Instituts für Kritische Theorie (Zürich). Außerdem publiziert sie über zeitgenössische und moderne Kunst (zu Fragen der Aneignung, der künstlerischen Identität und der Künstlertheorie) sowie über ästhetische und soziale Normen in der Kultur des 18. Jahrhunderts.

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andrea gottdang Seit 2008 Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Salzburg. Habilitation 2003 an der LMU München, Promotion 1996 in Kiel. Studium der Kunstgeschichte, Neueren Deutschen Literaturwissenschaft und Volkskunde in Kiel und Wien, Forschungsschwerpunkte: Italienische Malerei, Deutsche Malerei des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Ikonographie, Wechselbeziehungen zwischen den Künsten, insbesondere Musik und Malerei. Publikationen: Venedigs antike Helden. Die Darstellung der antiken Geschichte in der venezianischen Malerei von 1680 bis 1760, München 1999; Vorbild Musik. Die Geschichte einer Idee in der Malerei im deutschsprachigen Raum 1780–1915, Berlin/München 2004; Einführung in die Ikonographie. Wege zur Deutung von Bildinhalten (Mithg.), München 2006.

antje von graevenitz Kunsthistorikerin, Professorin i. R., lebt in Amsterdam und Köln, unterrichtete an der Universität von Amsterdam moderne Kunstgeschichte, Professorin der Kunstgeschichte an der Universität Köln 1989–2005. Sie veröffentliche Bücher, MuseumsKataloge und Kunst-Magazine, produzierte mehrere Fernsehfilme und Radiosendungen, (Mit-)Herausgeberin von Zeitungen; etwa Vrij Nederland, Museum Journal, Kunstschrift OKB, Archis und das Wallraf-Richartz Jahrbuch. Für zehn Jahre Präsidentin der Holländischen Abteilung der AICA. Forschungsschwerpunkt: Interdisziplinäre Themen darunter anthropologische und hermeneutische Untersuchungen der Kunst des 20.Jahrhunderts, Beziehungen zu anderen Gattungen wie Theater, Tanz, Musik und Literatur mit besonderer Berücksichtigung von Übergängen und Schnittstellen, wie in den Arbeiten von Giacometti, Duchamp und Beuys, z. B. Duchamp’s Door „Gradiva“, in: von Antje Graevenitz/ Klaus Beekmann (Hg.), Marcel Duchamp. Avant Garde (2), Amsterdam 1989, S. 63–96.

cordula grewe Seit 2002 Associate Professor am Lehrstuhl für Kunstgeschichte und Archäologie an der Columbia Universität, New York. Schwerpunkt: deutsche Kunst des 18 und 19. Jahrhunderts. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit sowie Latein des Mittelalters in Freiburg i. Br., Berlin und Washington, D.C. Von 1999–2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut, Washington, D.C. Stipendiatin in Princeton und der Alexander von Humboldt Stiftung. Publikationen: Zahlreiche Aufsätze zur Malerei und Kunsttheorie der Romantik sowie zu Wilhelm Schadow und der Düsseldorfer Malerschule, u. a. in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1998), Pantheon (1999), Kunsthistorisches Jahrbuch Graz (2000), Word & Image (2000), Modern Intellectual History (2004),

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New German Critique (2005), Art Bulletin (2007) und Intellectual History Review (2007); Painting the Sacred in the Age of Romanticism, London 2009. Die Nazarener. Stil und Ästhetik, erscheint 2012. Ihr aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit dem Tableau Vivant von 1800 bis in die Gegenwart.

insa härtel Dipl.-Psychologin und Kulturwissenschaftlerin. Privatdozentin an der Universität Bremen, Fachbereich Kulturwissenschaft. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Forschungsschwerpunkte: Konzeptionen kultureller Produktion; psychoanalytische Kunst- und Kulturtheorie, Raum, Phantasmen, Sexualität. Aktuelles DFG-Forschungsprojekt zum Thema: „Übergriffe“ und „Objekte“: Bilder und Diskurse kindlich – jugendlicher Sexualität. Veröffentlichungen: Symbolische Ordnungen umschreiben. Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht, Bielefeld 2009; „Der Trieb als Übersetzungsfehler? Vom Einbrechen des Sexuellen“, in: Martin Heinze/ Joachim Loch-Falge/ Sabine Offe (Hg.), Übersetzungen. Zum Erkenntnisgewinn von Verstehen und Missverstehen in der Psychiatrie und anderen Kontexten, Berlin (in Vorbereitung).

nathalie heinich Forschungsdirektorin am Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) in Paris. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Soziologie der Künste (künstlerische Berufe, ästhetische Wahrnehmung, Konflikte über zeitgenössische Kunst), der Sozio-Anthropologie von Identitätskrisen (in der Literatur, Autorschaft oder Zeugnisse von Überlebenden), der Erforschung weiblicher Identität („Zustände“ von Frauen und MutterTochter-Beziehungen) und in der Epistemologie der Sozialwissenschaften. Publikationen u. a.: The Glory of Van Gogh. An Anthropology of admiration, Princeton 1996; Du peintre à l’artiste. Artisans et académiciens à l’âge classique, Paris 1993; Ce que l’art fait à la sociologie, Paris 1998; Le Triple jeu de l’art contemporain. Sociologie des arts plastiques, Paris 1998; Etre écrivain. Création et identité, Paris 2000; L’Elite artiste. Excellence et singularité en régime démocratique, Paris 2005.

marion hövelmeyer Kunst- und Kulturwissenschaftlerin, Pädagogin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunst und Kunsttheorie der Universität zu Köln, zuvor wissenschaftliche Assistentin am Studienzentrum für Künstlerpublikationen an der Weserburg – Museum für moderne Kunst in Bremen, sowie Kuratorin an weiteren Ausstellungshäusern. Forschungsschwerpunkte: Kunst und Ökonomie, Körper-, Kreativitäts- und Geschlechterkonstruktionen, Dispositionen von ‚high‘ und ‚un-

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derground‘, sowie Positionen von Künstlerinnen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Publikation u. a.: Pandoras Büchse – Konfigurationen von Körper und Kreativität, Bielefeld 2007.

kathrin hoffmann-curtius Freiberufliche Kunsthistorikerin in Berlin. Arbeitet über (nationale) Bilderpolitik, Mythen zu Künstlerinnen und Künstlern, Kunst in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und über die Anfänge der Rezeption des Holocaust in der deutschen Kunst. Für das Tagungsthema relevanten Publikationen: Im Blickfeld. George Grosz „John, Der Frauenmörder“. Hamburger Kunsthalle, Stuttgart 1993; Unikat und Plagiat. Die Meistererzählung im Comic, in: Kathrin Hoffmann-Curtius/ Silke Wenk (Hg.), Mythen von Weiblichkeit und Autorschaft im 20. Jahrhundert, Marburg 1997, S. 101–114; Der irrende Ritter. Künstler-, Kampf- und Kriegerromantik zum Ersten Weltkrieg, In: Frauen Kunst Wissenschaft, Heft 41, Juni 2006, S. 51–60; Constructing the femme fatale. A Dialogue between Sexology and the Visual Arts in Germany around 1900, in: Women and Death I, Rochester N.Y. 2008, S. 157–185.

alexis joachimides Privatdozent am Institut für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2011 Berufung auf eine Professur für neuere Kunstgeschichte an der Kunsthochschule der Universität Kassel. Studium der Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie an der Freien Universität Berlin und am Courtauld Institute of Art, London. 1994–96 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin. 1996 Promotion über „Die Museumsreformbewegung in Deutschland und die Entstehung des modernen Museums 1880–1940“. 2000–07 wissenschaftlicher Assistent, 2007–09 akademischer Oberrat an der LMU. 2006 Habilitation. Publikationen zum Tagungsthema: Rembrandt als Vorbild englischer Künstler im 18. Jahrhundert. Eine kontroverse Entscheidung, in Zeitschrift für Kunstgeschichte 74/2011, H 2, S. 217–236; Rezension von Bernhard Maaz (Hg.): Im Tempel der Kunst. Die Künstlermythen der Deutschen, München/Berlin 2008, in Kunstchronik 63, 2010, H. 1, S. 25–28; Verwandlungskünstler. Der Beginn künstlerischer Selbststilisierung in den Metropolen Paris und London im 18. Jahrhundert, Habilitation München/ Berlin 2008; Der Blick in den Spiegel. Konventionsbrüche im Selbstbildnis am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Margit Kern/ Thomas Kirchner/ Hubertus Kohle (Hg.): Geschichte und Ästhetik. Festschrift für Werner Busch zum 60. Geburtstag, Berlin/ München 2004, S. 219–232; Boheme, in Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2000, S. 728–750.

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sabine kampmann Kunstwissenschaftlerin und seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Aktuell arbeitet sie als Postdoctoral Fellow des Max Planck International Research Network on Aging am Kunsthistorischen Institut in Florenz. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift „kritische berichte“ und hat 2008 „Querformat. Zeitschrift für Zeitgenössisches, Kunst, Populärkultur“ mitgegründet. Arbeitsschwerpunkte: Kunst des 19. bis 21. Jahrhunderts, visuelle Kultur in Theorie und Praxis, Künstlertum und Autorschaft, Gender Studien, Systemtheorie, Alter(n)sforschung. Publikationen zum Tagungsthema: Künstler sein. Systemtheoretische Beobachtungen von Autorschaft. Christian Boltanski, Eva & Adele, Pipilotti Rist, Markus Lüpertz, München 2006; Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst (Mithg.), München 2003.

verena krieger Professorin für Kunstgeschichte an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Zuvor Lehrtätigkeit an den Universitäten Stuttgart, Bern, Jena und München sowie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Habilitation 2004. Für das Tagungsthema relevante Publikationen u. a.: Arachne als Künstlerin. Velázquez’ Las hilanderas als Gegenentwurf zum neuplatonischen Künstlerkonzept, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, Bd. 65, 2002, S. 545–561; Sieben Arten, an der Überwindung des Künstlersubjekts zu scheitern. Kritische Anmerkungen zum Mythos vom verschwundenen Autor, in: Martin Hellmold u. a. (Hg.), Was ist ein Künstler? Das Subjekt der modernen Kunst, München 2003, S. 117–148; Zur (Un-)Fruchtbarkeit der Liebe im Surrealismus. Die weibliche Gebärfähigkeit als Kreativitätsparadigma, in: Verena Krieger (Hg.), Metamorphosen der Liebe. Kunstwissenschaftliche Studien zu Eros und Geschlecht im Surrealismus, Hamburg 2006, S. 123–152; Was ist ein Künstler? Genie – Heilsbringer – Antikünstler. Eine Ideen- und Kunstgeschichte des Schöpferischen, Köln 2007; Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen und Nachteil der Zeitgenossenschaft (Hg.), Köln 2008; Ambiguität in der Kunst. Typen und Funktionen eines Topos (Mithg.), Köln/Weimar/Wien 2010; Kippenberger. Der Film – eine (post-)moderne Künstlerlegende?, in: Fabienne Liptay u. a. (Hg.), Die Passion des Künstlers. Kreativität und Krise im Film, München 2010.

barbara lange Barbara Lange ist Professorin für Kunstgeschichte an der Universität Tübingen. Zuvor freie Mitarbeiterin am Kunstmuseum Bonn, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Rheinischen Landesmuseum Bonn, wissenschaftliche Assistentin in Kiel, Lehrstuhlvertretung in Bonn, Hochschuldozentin in Kiel, Professorin in Leipzig. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Frage, wie Kunst die gesellschaftliche Identität mitbestimmt.

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In diesem Zusammenhang publizierte sie u. a. über Joseph Beuys und dessen Rolle als Gesellschaftsreformer. Weitere Projekte: Bilder der Literatur im BMBF-Projekt wissen&museum. Archiv – Exponat – Evidenz, Tübingen/Marbach (bis 2012). Identitätsstiftende Funktion von Kunst (Forschungsprojekt Diversität – Geschlechterordnungen – Machtbeziehungen 2004–06 an der Universität Leipzig. Publikationen u. a.: Joseph Beuys. Richtkräfte einer neuen Gesellschaft, Der Mythos vom Künstler als Gesellschaftsreformer Berlin 1999 (Habilitationsschrift); mit Gustav Frank: Einführung in die Bildwissenschaft, Darmstadt 2010; (in Vorbereitung) Imaginäre Räume. Bildgeschichte des Wissens und die Kartographie des Anderen.

rachel mader Kunstwissenschaftlerin; 2009–12 Projektleitung „Organising Innovation. Artistic Practice and Cultural Practice since 1980“, 2008/9 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Gegenwartskünste an der Hochschule der Künste in Zürich. Von 2002–08 wissenschaftliche Assistentin im Bereich Kunstgeschichte der Gegenwart an den Universitäten Bern und Zürich; 2006 Abschluss der Dissertation „Beruf Künstlerin. Strategien, Konstruktion und Kategorien am Beispiel Paris 1870–1900“, (2009 Berlin); 2006 Deubner-Preis für den Artikel „Meister der Leuchtstoffröhren – Wie Dan Flavin zu seinem Stil kam“. Forschungsaufenthalte: London (Organising Innovation), New York (Kollektives Kunstschaffen in den 1980er Jahren) und Paris (Beruf Künstlerin), diverse Stipendien, u. a. 2002–05 am interdisziplinären Graduiertenkolleg „Wissenschaft – Geschlecht – symbolische Ordnung“, Universität Basel. Dazu Tätigkeiten als Mentorin an Kunsthochschulen, Beteiligung an Forschungsprojekten, Owning Online Art – Study for a Netart Gallery, als Kritikerin für springerin, camera austria und Kuratorin u. a. Shedhalle, Belluard Bollwerk Festival Fribourg; Organisation von Tagungen und Künstlergesprächen; seit 2008 Stiftungsratsmitglied Stiftung GegenwART, Kunstmuseum Bern.

carola muysers Kunsthistorikerin. Arbeitsschwerpunkt: Künstlerinnenforschung. Tätigkeiten als Kuratorin, Kunstkritikerin, wissenschaftliche Autorin. Lehre an der BTU Cottbus, der Jacobs University und der UdK Berlin. 2008 Unternehmensgründung „bees&butterflies. artist in (e)motion. Agentur für Multitalente. Coaching, Beratung und Begleitung von Kreativen in ihren interdisziplinären Projekten“. Veröffentlichungen u. a.: Die bildende Künstlerin, Wertung und Wandel in deutschen Quellentexten 1855–1945, Dresden/Amsterdam 1999; Das bürgerliche Porträt im Wandel. Bildnisfunktionen und Auffassungen 1860–1900, Hildesheim/New York 2001. DFG Forschungs- und Habilitationsprojekt zur Professionalisierung, Autorschaft und Präsenz von Künstlerinnen an den Akademien von der Aufklärung bis zum frühen 20. Jahrhundert.

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ada raev Seit 2008 Professorin für Slavische Kunst- und Kulturgeschichte an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Studium der Kunstgeschichte und Promotion an der Staatlichen Lomonosov-Universität in Moskau. Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Russische Kunst des 18.–20. Jahrhunderts im gesamteuropäischen Kontext, Fragen der Geschlechterforschung, Wechselwirkung von bildender Kunst und Bühne. Publikationen u. a.: Russische Künstlerinnen der Moderne (1870–1930). Historische Studien, Kunstkonzepte, Weiblichkeitsentwürfe, München 2002; „La Bohème du XXe Siècle“, Die unveröffentlichten Memoiren der Marie Vassilieff, in: Bühnen des Selbst. Zur Autobiographie in den Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts, Theresa Georgen/ Carola Muysers (Hg.), Kiel 2006, S. 191– 210.

thomas röske Seit 2002 Leiter der Sammlung Prinzhorn an der Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie, Heidelberg. Lehraufträge am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg. Studium der Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Psychologie an der Universität Hamburg. Wissenschaftlicher Assistent am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Frankfurt, stellvertretender Sprecher des Graduiertenkollegs „Psychische Energien bildender Kunst“. 2000/01 DFG-Habilitationsprojekt „Der Künstler im Bild – Die Idee des Selbstausdrucks in Kunst und Kunsttheorie um 1800“. 2001 Ausstellungskurator des neu eröffneten Museums Sammlung Prinzhorn. Forschungsschwerpunkte: Outsider Art/Art Brut/Psychiatrieerfahrung und Kunst, Kunst der Klassischen Moderne in Deutschland, Kunst um 1800, Homosexualität und Kunst. Relevante Publikationen: Der Arzt als Künstler. Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn (1886–1933), Bielefeld 1995; Schizophrenie und Kulturkritik, Eine kritische Lektüre von Hans Prinzhorns ‚Bildnerei der Geisteskranken‘, in: Kunst und Wahn, Ingried Brugger/ Peter Gorsen/ Klaus Albrecht Schröder (Hg.), Aust.-Kat. Kunstforum Bank Austria, Wien/Köln 1997, S. 254–265; ,Heute hier sitze und ich, male hier‘. Zeichnen und Malen als Selbstverorten bei Robert Burda, in: Robert Burda, Zeichnungen, Aust.-Kat. Kunsthaus Kannen, Münster 2005, S. 7–9; ,Wie die Anstalt sie haben möchte ...‘, Selbstbilder in der Sammlung Prinzhorn, in: Bild und Eigensinn. Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern, Petra Leutner/ Hans-Peter Niebuhr (Hg.), Bielefeld 2006, S. 149–159.

wolfgang ruppert Seit 1988 Professur für Kulturgeschichte an der Universität der Künste Berlin, seit 1999 für Kultur- und Politikgeschichte. Studium der Geschichte, Germanistik, Soziologie, Politologie und Kunstgeschichte in München. Von 1978–81 konzipierte

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und entwickelte er das Museumsprojekt Industriekultur in Nürnberg. Forschungsfelder u. a.: Geschichte der Dinge und Geschichte des Künstlers. Publikationen u. a.: Bürgerlicher Wandel. Die Geburt der modernen deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1983; Die Fabrik, Geschichte von Arbeit und Industrialisierung in Deutschland, München 1983; Der moderne Künstler, Zur Sozial- und Kulturgeschichte der kreativen Individualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert, 2. Auflage, Frankfurt am Main 2000. Fahrrad Auto Fernsehschrank, Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge (Hg.), Frankfurt am Main 1993; Chiffren des Alltags. Erkundungen zur industriellen Massenkultur, Marburg 1993; Um 1968, Die Repräsentation der Dinge, Marburg 1998; Mit Christian Fuhrmeister (Hg.), Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität, Formen der Künstlerausbildung 1918 bis 1968, Weimar 2008.

sigrid schade Seit 2002 Professorin und Leiterin des Institute for Cultural Studies in the Arts ICS an der Hochschule der Künste in Zürich. 1994–2005 Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Gastprofessorin an der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Tübingen. Publikationen u.  a.: Intuition als Privileg von Künstlern?, in: Intuition, Erinnerungs-, Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeiten der Künste, Petra Maria Mayer (Hg.), München 2010; Künstlerbiografik, Künstlermythen und Geschlechterbilder im Angebot, in: Dienstleistung Kunstgeschichte, Oskar Bätschmann, u. a. (Hg.), Emsdetten/Berlin 2008; Wie Fiktionen wirklich werden, Zur Tradierung von KünstlerInnenmythen, in: „Heraus aus dem Elfenbeinturm!“, Neue Wege der Kunsthochschulen in die Gesellschaft, Nürnberg 2007; Strategien des Zu-Sehen-Gebens, Geschlechterpositionen in Kunst und Kunstgeschichte, mit Silke Wenk in: Hadumod Bussmann/ Renate Hof (Hg.), Stuttgart 2005.

peter schneemann Seit 2001 Direktor der Abteilung Kunstgeschichte der Gegenwart an der Universität Bern. 2008 Gastprofessur am Nova Scotia College of Art and Design (NSCAD). Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie in Freiburg i. Br., Colchester und Giessen. 1993 Dissertation über „Modelle und Funktionen der französischen Historienmalerei 1747–1789“. Habilitation im Jahr 2000 mit einer Arbeit über die Historiographie des Abstrakten Expressionismus (Berlin 2003). Sekretär des Comité International d‘Histoire de l‘Art (CIHA); Präsident der Vereinigung der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker in der Schweiz (VKKS). Arbeitsschwerpunkte: Diskursanalyse, Paradigmen der Kunstbetrachtung, Kunstausbildung, Archivprozesse, Display. Aktuellste Publikation: Kunstausbildung, Aneignung und Vermittlung künstlerischer Kompetenz (Mithg.), München 2008.

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autorinnen und autoren

barbara schrödl Universitätsassistentin am Institut für Kunstwissenschaft und Philosophie, Fachbereich Kunstwissenschaft der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz. Forschungsschwerpunkte: Künstler und Künstlerinnen im Film, Medienarchäologie der Kunst- und Architekturgeschichte, Film als Kunst, Filmkostüm. Publikationen zum Künstlerbild u. a.: Das Bild des Künstlers und seiner Frauen. Beziehungen zwischen Kunstgeschichte und Populärkultur in Spielfilmen des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, Marburg 2004; Weiße Wäsche, ‚reine‘ und doch schuldige Frauen, das Wirtschaftswunder und der Tod. Weiblicher Opfertod im Künstlerspielfilm der 1950er Jahre, in: Totenkleidung, Zur Konstruktion von Tod und Geschlecht in der materiellen und visuellen Kultur, mit Karen Ellwanger/ Heidi Helmhold/ Traute Helmers (Hg.), Bielefeld 2009, S. 193–214.

gregor wedekind Professur für Kunstgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie in Bamberg, Dijon und Berlin. Zuvor wissenschaftlicher Assistent am Fachgebiet Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin, und an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt. Bis 2007 Leiter des wissenschaftlichen Programms am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris. Habilitation 2007 über die Strategien der Mimesis im Werk von Théodore Géricault. Relevante Publikationen: Le culte des Grands hommes. 1750–1850, mit Thomas W. Gaehtgens (Hg.), Paris 2009; Heroes after the Death of the Hero, Géricault’s Raft of the Medusa, in: NCU Journal of Art Studies (National Central University Taiwan), Bd. 1, 2006, S. 103–128; L’esthétique d’un micheton, Les femmes d’Alberto Giacometti, in: L’artiste et sa muse. Mythification du créateur et de son modèle XIXe–XXe siècles, Christiane Dotal/ Alexandre Dratwicki (Hg.), Paris 2006 (Collection d’Histoire de l’Art de l’Académie de France à Rome), S. 141– 159; Adolph Menzels Selbstbildnis als Antiquar, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Bd. 41, 1999 Adolph Menzel. Im Labyrinth der Wahrnehmung. Kolloquium anläßlich der Berliner Menzel-Ausstellung 1997, Thomas W. Gaehtgens/ Claude Keisch/ Peter-Klaus Schuster (Hg.), S. 117–129; Paul Klee. Inventionen, Berlin 1996.

michael wetzel Seit 2002 Professor für Literatur- und Filmwissenschaft an der Universität Bonn. Promotion zum Thema „Autonomie und Authentizität“, nach Lehrtätigkeiten an der Université de Chambéry, am Collège International de Philosophie in Paris, an den Universitäten Kassel, Mannheim, Wien, Innsbruck und Essen Habilitation über „Kindsbräute. Motive und Medien einer Männerphantasie“, publiziert als „Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit“, München 1999. 1996/97 Docu-

autorinnen und autoren

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menta-Professur an der Kunsthochschule Kassel. Zahlreiche Publikationen zur französischen Philosophie des sogenannten Poststrukturalismus, zur Intermedialität von Text und Bild, zur Autor- und Künstlerthematik, Der Autor-Künstler, Frankfurt am Main und zur Inframedialität nach Marcel Duchamp; neueste Publikation: Jacques Derrida, Stuttgart 2010 (in Vorbereitung).

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raev (1) Karl Brjullov, Der letzte Tag von Pompeji, Öl auf Leinwand, 1830–1833, 456,5 x 561 cm, St. Petersburg, Staatliches Russisches Museum, aus: Michail Allenov, Russkoe iskusstvo XVIII – načala XX veka, Moskva 2000, S. 187. (2) Karl Brjullov, Selbstbildnis, Sepia, Deckweiß auf Papier, 1833–1835, 16,7 x 15,2 cm, Moskau, Staatliche Tret’jakov-Galerie, aus: Galina Leontjewa, Karl Brüllow. Maler der russischen Romantik. Bournemouth, Sankt Petersburg 1996, S. 152, Abb. 80. (3) Karl Brjullov, Italienischer Mittag (Italienisches Mädchen, Trauben pflückend), Öl auf Leinwand, 1827, 64 x 55 cm, St. Petersburg, Staatliches Russisches Museum, aus: The State Russian Museum. Karl Brullov. 1799–1852. Painting, Drawings and Watercolours from the collection of the Russian Museum. St. Petersburg 1999, S. 13, Kat,-Nr. 10. (4) Karl Brjullov, Porträt Ivan Vitali, Öl auf Leinwand, 1836–1837, 94,2 x 76,3 cm, Moskau, Staatliche Tret’jakov-Galerie, aus: Gosudarstvennaja Tret’jakovskaja galereja. Katalog sobranija. Živopis’ pervoj poloviny XIX veka. Serija Živopis’ XVIII–XX vekov, Tom 3. Moskva 2005, S. 52, Kat.-Nr. 71. (5) Karl Brjullov, Selbstbildnis, Öl auf Karton, 1848, 64,1 x 54 cm, Moskau, Staatliche Tret’jakov-Galerie, aus: Gosudarstvennaja Tret’jakovskaja galereja. Katalog sobranija. Živopis’ pervoj poloviny XIX veka. Serija Živopis’ XVIII–XX vekov, Tom 3. Moskva 2005, S. 62, Kat.-Nr. 95.

gottdang (1) George Grosz mit Modell Eva Peter im Atelier, Nassauische Straße 4, Berlin, um 1920, aus: Peter Klaus Schuster (Hg.): George Grosz. Berlin–New York, Ausst. Kat. Berlin 1994, S. 187. (2) George Grosz in seinem Atelier in Berlin, 1928, aus: Schuster, 1994, S. 312. (3) George Grosz in seinem Atelier in Berlin, Nassauische Straße 4, um 1927, aus: Schuster, 1994, S. 354. (4) George Grosz vor seinem Gemälde „Der Agitator“, 1928, aus: Ivo Kranzfelder: George Grosz, 1893-1959, Köln 1999, S. 53. (5) George Grosz in seinem Berliner Atelier vor seinem Gemälde „Stützen der Gesellschaft“, 1928, aus: Schuster, 1994, S. 558.

röske (1) Hyazinth Freiherr von Wieser, „Willenskurven“, 1912, Bleistift auf Papier, 20,5 x 16,3 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 2443. (2) Jakob Mohr, „Mordversuch“, um 1911, Feder in Schwarz über Bleistift; Buntstifte auf weißem Zeichenkarton, 33,3 x 49,9 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 627b.

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(3) August Natterer, „Wunder-Hirthe“, Bleistift, Aquarell auf Aquarellpapier, lackiert, auf grauem Zeichenkarton aufgezogen, 24,5 x 19.5 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv. Nr. 176. (4) Hermann Beehle, o.T., undatiert, Bleistift und Buntstifte auf Holzpappe, 14,0 x 6,4 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 73 verso. (5) Franz Karl Bühler, o.T., ca. 1909–1916, Kreide, laviert, auf Zeichenapier, 41,3 x 30,8 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 2945. (6) Wilhelm, R., „Das verkannte Genie!“, 1908, Bleistift auf Zeichenpapier, 16,0 x 10,4 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 77. (7) Adolf Wölfli, „Skt. Adolf=Groß=Groß=Groß=Vatter=Edel=Schlange“, 1915, Bleistift und Farbstifte auf Zeichenpapier, 34,0 x 25,5 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 4859. (8) Wilhelm Müller, o.T., 1916, Aquarell auf Toilettenpapier, 10,3 x 16,4 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 1124. (9)E. Mager, Josef Forster in seinem Atelier, um 1920, Fotografie, 11,0 x 7,8 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 4496. (10) Josef Forster, Ohne Titel, nach 1916, Mischtechnik auf Pappe, 35,4 x 22,1 cm, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 4494.

doris berger (1) Julian Schnabel, St. Sebastian–born in 1951, Öl und Wachs auf Leinwand, 1979, 281,94 x 167,64 cm, aus: Julian Schnabel. Retrospectiva, Ausst.-Kat. Museo de Monterrey 1994, S. 59. (2) Julian Schnabel und Gary Oldman mit Sarong, Filmproduktionsstill aus Basquiat, 1996, aus: Julian Schnabel. Versions of Chuck & Other Works, Derneburg 2007, S. 13, Foto: Miramax Films. (3) Julian Schnabel barfuß im Gramercy Hotel, New York, 2006, aus: Julie v. Iovine, Barfuss im Parkhotel, in: Architectural Digest, November 2006, S. 250, Foto: Jonathan Becker. (4) Julian Schnabel, Untitled (Self portrait), Öl und Harz auf Leinwand, 2004, 229 x 213,5 cm, aus: Julian Schnabel. Summer. Pinturas 1982–2007, Ausst.-Kat. Tabacalera Donostia-San Sebastián 2007, S. 267.

muysers (1) Giulia Lama, 1720, Museo Civici Venedig. (2) Nicolas Poussin, Midas und Bacchus, Öl/Lw., 98 x 153 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlung München, Alte Pinakothek. (3) Louise Seidler, Sitzender männlicher Akt um 1820, schwarze und weiße Kreide, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

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wedekind (1) Charles Meryon, La Loi Solaire, 1855, Radierung, 118 x 82 mm aus: Richard S. Schneiderman, The Catalogue Raisonné of the Prints of Charles Meryon, London 1990, Nr. 58. (2) Charles Meryon, La Loi Lunaire, 1856, Radierung, 159 x 240 mm aus: Schneiderman, 1990, Nr. 60. (3) Charles Meryon, La Loi Lunaire, No 2, 1866, Radierung, 124 x 90 cm aus: Schneiderman, 1990, Nr. 103. (4) Charles Meryon, Tourelle, Rue de l’Ecole de Medecine, 22, 1861, Radierung, 211 x 130 mm aus: Schneiderman, 1990, Nr. 72 (5) Charles Meryon, Frontispiz der Eaux-Fortes sur Paris, 1854, Radierung, 83 x 80 mm aus: Schneiderman, 1990, Nr. 34B. (6) Charles Meryon, Le Stryge, 1861, Radierung, 169 x 130 mm aus: Schneiderman, 1990, Nr. 27. (7) Charles Meryon, Titelblatt der Eaux-Fortes sur Paris, 1852, Radierung, 175 x 146 mm aus: Schneiderman, 1990, Nr. 22.

schade (1) Der Schreiber. Les automates Jaquet-Droz, Musée d‘Art et d‘Histoire de Neuchatel, 1774. (2) Das erste bekannte Seismogramm eines Fernbebens, 1889 in Potsdam aufgezeichnet http://www.geophys.uni-stuttgart.de/oldwww/seismometry/seismo_htm/seismographen.htm (9. 11 2011). (3) Karl Hofer, Der Rufer 1924, 109 x 88 cm, aus: Jürgen Schilling, Karl Hofer, Unna 1997, S. 91. (4) Jackson Pollock, Stenographic Figure 1942, Ol auf Leinwand, 101,5 x 142 cm aus: Kirk Varnedoe, Pepe Karmel, Jackson Pollock, Museum of Modern Art, New York, November 1, 1998 to February 2, 1999, New York 1998, S. 165. (5) WEF Klaus Schwab Interview mit dem Gründer des World Economic Forums, Klaus Schwab, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 18, 23./24. Januar 2010, S. 26.

hoffmann-curtius (1) Grosz-Heartfield mont., Pablo Picasso, La vie heureuse, Dr. Carl Einstein gewidmet; Faltblatt zu „Erste Internationale Dada-Messe Berlin – Kunstsalon Dr. Burchard 1920“, Reprint: Eberhard Roters (Hg.), Stationen der Moderne, Köln 1988. (2) Grosz-Heartfield mont., dada-merika, Montage, 1919, aus: George Grosz montiert, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin 2010, S. 42.

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(3) George Grosz, Der Monteur John Heartfield. Nach Franz Jungs Versuch ihn wieder auf die Beine zu stellen, Montage, 1920, aus: Dada, Zürich, Berlin, Hannover, Cologne, Paris, Ausst.-Kat. National Gallery of Art, Washington 2006, S. 120. (4) Hannah Höch, Die Dada-Mühle, plastische Montage, um 1920, aus: DADA – Eine internationale Bewegung 1916–1925. Ausst.-Kat. Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München 1993, S. 186. (5) John Heartfield mit Polizeipräsident Zörgiebel, der Autor neben seinen Werken aus der Großen Berliner Kunstausstellung, Arbeiter Illustrierte Zeitung September 1929, S. 17; Roland März, Heartfield montiert, 1930-1938, Leipzig 1993, S. 173.

ruppert (1) Lyonel Feininger, Kathedrale, Titelblatt für das Manifest und Programm des Staatlichen Bauhauses Weimar, Holzschnitt, April 1919, aus: Hans M. Wingler: Das Bauhaus. Weimar-Dresden-Berlin 1919–1933, dritte, verbesserte Auflage, Bramsche 1975, S. 83. (2) Herbert Bayer, Umschlag des Katalogs zu den Metallmöbeln Marcel Breuers, 1927: „stahlclubsessel“, 1926, aus: Frank Whitford (Hg.), Das Bauhaus. Selbstzeugnisse von Meistern und Studenten, Stuttgart 1993, S. 231. (3) Paul Ludwig Troost, Halle der 1.Klasse auf dem Lloyddampfer „Columbus“, 1924, aus: Sonja Günter, Design der Macht. Möbel für Repräsentanten des ‚Dritten Reiches‘, Stuttgart (o.J.), S. 14. (4) Gruppenaufnahme vom 2. Bauhausfest im Saal der Wirtschaft „Ilmschlösschen“ in Oberweimar, Fotografie, Juni 1924, aus: Whitford 1993, S. 125. (5) Das Kollegium des Bauhauses Dessau, 1926, aus: Wolfgang Ruppert/ Christian Fuhrmeister (Hg.), Zwischen Deutscher Kunst und internationaler Modernität. Formen der Künstlerausbildung 1918 bis 1968, Weimar 2007, S. 13. (6) Das Kollegium der Akademie der Bildenden Künste München, 1919, aus: Ruppert/ Fuhrmeister 2007, S. 12.

grewe (1) Wilhelm Schadow, Karl Leberecht Immermann, 1828, Öl/Lwd., Ø 72 cm, Gemäldegalerie, museum kunst palast, Düsseldorf. (2) Hugo Bürkner nach Julius Hübner, der Alte, 1854, Holzstich, 15 x 23 cm (Blatt), Frontispiz von Der Moderne Vasari von Wilhelm von Schadow. Illustrationen von Jul[ius] Hübner. Holzstich von H[ugo] Bürkner, Berlin, Wilhelm Hertz, 1854, Sammlung Cordula Grewe. (3) Johann Friedrich Overbeck, Triumph der Religion in den Künsten, 1840, Öl/ Lwd., 389 x 390 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main. (4) Johann Friedrich Overbeck und Peter Cornelius, Gegenseitiges Doppelbildnis, 1812, Bleistift, 42,4 x 37 cm, Münchner Privatbesitz. Photo: Engelbert Seehuber, München.

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(5) Johann Friedrich Overbeck, Selbstporträt mit Franz Pforr und Lukasbrüder, Detail aus Einzug Christi in Jerusalem, 1824, Öl/Lwd., 157,6 x 229 cm, ehemals St. Marien, Lübeck (verbrannt im Ersten Weltkrieg).

mader (1) Marko Peljhan, Makrolab, Clunes Beat, Atholl Estate, Perthshire, Scotland, 2002, Seite aus der Publikation Makrolab, co-published by The Arts Catalyst, Projekt Atol und Tramway, 2002, S. 4.

von graevenitz (1) Marcel Duchamp: infra-mince, Notiz 1. Le possible est/ un infra mince (..., aus: Marcel Duchamp, notes, Préface Pontus Hulten, Présentation et traduction, Arrangement and Translation Paul Matisse. Paris 1980, Nr. 1–46; keine Seitenzahl, Coll. Centre Georges Pompidou Paris. (2) Marcel Duchamp: Titelseite (Vor- und Rückseite gemeinsam) der Zeitschrift ‚VieW‘ Serie V Nr. 1 (geweiht an Marcel Duchamp), New York, March 1945, 30,5 x 23 cm, aus: d’ Harnoncourt, Anne und Kynaston McShine (Hg.), Marcel Duchamp, The Museum of Modern Art 1973, S. 323, Coll. Arman, New York /Coll. Philadelphia Art Museum. (3) Marcel Duchamp: Glastür für die Ausstellung Gradiva, Paris 1937, organisiert von André Breton (zerstört). Breton geht gerade an der Tür vorbei, aus: Arturo Schwarz, (1969): The Complete Works of Marcel Duchamp. London, New York, Nr. 455. (4) Marcel Duchamp: infra-mince. Notiz 4. La chaleur d’un siège (qui vient/ d’être, Coll. Centre Georges Pompidou Paris, aus: Marcel Duchamp, notes, Préface Pontus Hulten, Présentation et traduction, Arrangement and Translation Paul Matisse. Paris 1980, keine Seitenzahl, Coll. Centre Georges Pompidou Paris.

schrödl (1) Victor Vicas, Das zweite Leben, D/F 1954, Standbild, Der ‚deutsche‘ Künstler – links – und seine Gemeinschaft in der in Kloster Eberbach angesiedelten Werkstatt (Deutsches Filminstitut DIF). (2) Victor Vicas, Das zweite Leben, D/F 1954, Standbild, Der ‚deutsche‘ Künstler arbeitet an einem Kirchenfenster (Deutsches Filminstitut DIF). (3) Victor Vicas, Das zweite Leben, D/F 1954, Videostandbild, Werke des Künstlers aus der Pariser Zeit (Privatarchiv, Berlin). (4) Vytautas Kasiulis, Opernsänger, Öl auf Leinwand, undatiert, 79 x 102 cm (Live Auctioneers LLC).

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(5) Victor Vicas, Das zweite Leben, D/F 1954, Standbild, Der Künstler als Kranker mit seiner deutschen Pflegerin und Geliebten (Deutsches Filminstitut DIF). (6) Victor Vicas, Das zweite Leben, D/F 1954, Standbild, Die französische Braut bringt im Finale Aufklärung (Deutsches Filminstitut DIF).

hövelmayer (1a) Leonardo da Vinci, „Mona Lisa“ (La Gioconda), 1503–1506, Malerei, Holz, 77 x 53 cm. Quelle: DILPS Bilddatenbank Universität der Künste, Berlin http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/de/image/show/Image-berlin_udk-658bef6e796f11cbf97a0dba0e1769dd4eeed38a, 2010/02/13 13:52. (1b) Yasumasa Morimura, „Mona Lisa in Pregnancy,“ 1998, Computerdruck. Quelle: http://www.artnet.com/magazine/news/ntm3/Images/ntm12-1-7.jpg, 2010/02/22 21:18. (2) Website Irene Andessner, „irene andessner. i am productions.“ Quelle: http:// www.andessner.com/, Rubrik „irene andessner,“ 2010/02/23 18:09. (3) Website Irene Andessner, Buchangebot, „I am Irene Andessner.“ Quelle: http:// www.andessner.com/, Rubrik „Arbeiten,“ 2010/02/23 18:12. (4) Website Irene Andessner, „Donne Illustri,“ 2002–2003 (Bildergalerie). Quelle: http://www.andessner.com/, Rubrik „Arbeiten,“ 2010/02/23 18:15. (5a) Irene Andessner, „Moderata Fonte #2,“ Leuchtkasten, Fotografie, / C-Print, 80 x 62 cm, 2003. Hier Detailbild der website Irene Andessners. Quelle: http://www. andessner.com/, Rubrik „Arbeiten,“ 2010/02/23 18:19. (5b) Cindy Sherman, „Untitled #183,“ 1988, Fotografie. Quelle: DadaWeb, Universität zu Köln, Kunsthistorisches Institut. http://prometheus.uni-koeln.de/pandora/ de/image/show/Image-dadaweb-f93ca047e22a7cd1aa12d8ccfd7c571df2b3a1d4, 2010/02/13 21:03.

kampmann (1–4) Andrea Fraser: /Untitled/, 2003, Projekt und DVD, 60 Min., Farbe, ohne Ton, 4 Videostills.

VERENA KRIEGER

KUNST ALS NEUSCHÖPFUNG DER WIRKLICHKEIT DIE ANTI-ÄSTHETIK DER RUSSISCHEN MODERNE

Anders als im Westen knüpfen russische Philosophen, Literaten, Musiker und bildende Künstler im 19. und frühen 20. Jahrhundert an die Kunst messianische Erwartungen und erklären sie in phantastischer Übersteigerung zum historischen Subjekt einer universellen Neuschöpfung. Frühromantische Bildungsideale radikalisierend, ersetzt die russische Moderne die aufklärerische Wirkungsästhetik durch eine »Wirklichkeitsästhetik«, die letztlich eine Anti-Ästhetik ist: Kunst soll nicht allein auf die Gemüter wirken, sondern selbst eine neue ideale Wirklichkeit hervorbringen. Verena Krieger analysiert die Entwicklung dieser utopischen Idee anhand ihrer wichtigsten Repräsentanten: Aleksandr Ivanov, Fedor Dostoevskij, Nikolaj Cernysevskij, Vladimir Solov‘ev, Aleksandr Skrjabin, Vjaceslav Ivanov, Nikolaj Berdjaev, Kazimir Malevic, Pavel Filonov, Aleksandr Rodcenko und die Konstruktivistengruppe. Sie legt mit diesem Buch eine grundlegende Untersuchung der russischen Moderne und der Entfaltung ihres ästhetischen Paradigmas in einer rund 100-jährigen Entwicklung vor. 2006. IV, 296 S. 11 S/W- UND 5 FARB. ABB. AUF 12 TAF. GB. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-412-33605-9

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VERENA KRIEGER

KUNSTGESCHICHTE UND GEGENWARTSKUNST VOM NUTZEN UND NACHTEIL DER ZEITGENOSSENSCHAFT

Wenn sich die Kunstgeschichte der zeitgenössischen Kunst zuwendet, steht sie vor der paradoxen Aufgabe, die eigene Gegenwart zu historisieren. Frühe Kunsthistoriographen von Vasari bis Winckelmann handelten stets aus der aktuellen Kunstsituation heraus mit dem Interesse, konkrete Künstler oder Kunstströmungen zu fördern. Demgegenüber verhielt sich die Kunstgeschichte seit Hegel und Burckhardt bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein relativ abstinent gegenüber der Kunst ihrer jeweiligen Gegenwart. Erst in den letzten Jahrzehnten haben sich Kunstgeschichte und Kunstkritik wieder einander angenähert – Anlass zu reflektieren, welche theoretischen und methodischen Probleme daraus erwachsen. 2008. IV, 238 S. MIT 47 S/W-ABB. FRANZ. BR. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20256-9

Klar strukturiert, informativ, sprachlich präzise und spannend zu lesen, ist diese Publikation eine absolut lohnenswerte und preisgünstige Investition nicht nur für Kunsthistoriker und Studenten, sondern auch für all diejenigen, die sich für Gegenwartskunst interessieren! Portal Kunstgeschichte

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ALEX ANDR A TACKE

REBECCA HORN KÜNSTLERISCHE SELBSTPOSITIONIERUNGEN IM KULTURELLEN R AUM (LITER ATUR-KULTUR-GESCHLECHT, GROSSE REIHE, BAND 60)

Rebecca Horn ist eine der erfolgreichsten und vielseitigsten deutschen Gegenwartskünstlerinnen, die in den letzten vier Jahrzehnten ein komplexes Œuvre geschaffen hat. Sie ist mit zahlreichen Kunstpreisen ausgezeichnet worden – zuletzt 2010 mit dem sogenannten Nobelpreis der Künste, dem Praemium Imperiale des japanischen Kaiserhauses. Rebecca Horn arbeitet mit einer Vielzahl von Medien: Performance, Zeichnung, Installation, Kinetik, Video, Film, Fotografie und Text. Das vorliegende Buch stellt das Werk in seiner gesamten Breite vor, wobei der Schwerpunkt auf der künstlerischen Auseinandersetzung mit politischen, historischen, sozialen und medialen Räumen liegt. Durch ihre Referenzen auf diverse Kunstrichtungen und den – vornehmlich männlich dominierten – Kunstdiskurs positioniert sich Rebecca Horn auf so rebellische wie selbstbewusste Weise im kulturellen Feld. 2011. 293 S. MIT 101 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20683-3

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VERENA KRIEGER / R ACHEL MADER (HG.)

AMBIGUITÄT IN DER KUNST TYPEN UND FUNK TIONEN EINES ÄSTHETISCHEN PAR ADIGMAS (KUNST – GESCHICHTE – GEGENWART, BAND 1)

Moderne und zeitgenössische Kunst scheint kaum über eine eindeutige Aussage zu verfügen, vielmehr sind sich Kunstkritik und Kunstgeschichte einig, dass sie vieldeutig, rätselhaft ist. Damit erweist sich Ambiguität als eine versteckte ästhetische Norm der Moderne, die bislang kaum reflektiert wurde. Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit sind auch in der älteren Kunst vielfach zu beobachten. Erst um 1800 jedoch wurde Ambiguität als ästhetisches Paradigma formuliert, um 1900 wurde ihre absichtsvolle Hervorbringung systematisch erprobt und seit den 1960er Jahren erlangte sie den Status eines universellen Prinzips. Die hier versammelten Beiträge analysieren Typen und Funktionen der Ambiguität an Beispielen aus der mittelalterlichen bis zur zeitgenössischen Kunst.

2010. 295 S. MIT 99 S/W- UND 16 FARB. ABB. FRANZ. BR. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20458-7

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STUDIEN ZUR KUNST

Band 18:

Eine Auswahl.

LEONARDO DA VINCI IM ORIENT

Dietrich Seybold

GESCHICHTE EINES EUROPÄISCHEN MYTHOS

Band 11:

Doris Helga Lehmann

HISTORIENMALEREI IN WIEN

2011. 368 S. 10 s/w-Abb. Mit CD-Rom-Beilage. Gb. ISBN 978-3-412-20526-3

ANSELM FEUERBACH UND HANS MAKART IM SPIEGEL ZEITGENÖSSISCHER KRITIK

Band 19:

2011. VIII, 527 S. 124 s/w- und 20 farb. Abb. auf 64 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20107-4

MODELLE FÜR KUNSTÖFFENTLICHKEIT IM 18. JAHRHUNDERT

Band 14:

Michaela Braesel

BUCHMALEREI IN DER KUNSTGESCHICHTE ZUR REZEPTION IN ENGLAND, FRANKREICH UND ITALIEN

Eva Kernbauer

DER PLATZ DES PUBLIKUMS

2011. 338 S. 62 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20555-3

Band 20:

Kathrin Iselt

»SONDERBEAUFTRAGTER DES FÜHRERS«

2009. VI, 568 S. 49 s/w-Abb. auf 16 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20300-9

DER KUNSTHISTORIKER UND MUSEUMSMANN HERMANN VOSS (1884–1969)

Band 15:

2010. 516 S. Gb. ISBN 978-3-412-20572-0

Caroline Horch

»NACH DEM BILD DES KAISERS«

Band 21:

Ralph Gleis

FUNKTIONEN UND BEDEUTUNGEN DES CAPPENBERGER BARBAROSSAKOPFES

ANTON ROMAKO (1832–1889)

2011. Ca. 304 S. Ca. 49 s/w- und 8 farb. Abb. auf 32 Taf. 2 Faltkarten. Gb. ISBN 978-3-412-20346-7

2010. 317 S. Mit 73 s/w-Abb. 28 farb. auf 16 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20613-0

Band 16:

Band 22:

Ellen Spickernagel

DER FORTGANG DER TIERE DARSTELLUNGEN IN MENAGERIEN UND IN DER KUNST DES 17.–19. JAHRHUNDERTS

2010. 185 S. 48 s/w- und 72 farb. Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20454-9

Band 17:

Susanne Weiß

DIE ENTSTEHUNG DES MODERNEN HISTORIENBILDES

Julian Blunk

DAS TAKTIEREN MIT DEN TOTEN DIE FRANZÖSISCHEN KÖNIGSGRABMÄLER IN DER FRÜHEN NEUZEIT

2011. 432 S. 193 s/w-Abb. auf 80 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20626-0

KUNST + TECHNIK = DESIGN? MATERIALIEN UND MOTIVE DER LUFTFAHRT IN DER MODERNE

TW937

2010. 167 S. 258 s/w-Abb. auf 52 Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20495-2

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