Die Wiederentdeckung der Natur: Naturphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise 353422356X, 9783534223565

Was ist Natur und welche Stellung hat der Mensch in ihr? Dies ist eine der grundlegendsten und ältesten Fragen der Philo

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Die Wiederentdeckung der Natur: Naturphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise
 353422356X, 9783534223565

Table of contents :
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Teil I: Von der Natur als Organismus zur Weltmaschine
A Antike und Mittelalter
1 Platon: Aus Chaos wird Ordnung. Der Kosmos als Voraussetzung des menschlichen Lebens
2 Plotin: Die schöpferische Dynamik der Natur
3 Hildegard von Bingen: ‚ . . . denn er könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären ‘
3.1 Die Struktur der Welt
3.2 Der Mensch als Mikrokosmos
3.3 Die Ethik der Natur
3.4 Die Ästhetik der Natur
4 Nikolaus von Kues: Die Natur als Ausfaltung Gottes
4.1 ‚ Die Erde ist ein edler Stern ‘
4.2 Intelligentes Leben als Moment eines grenzenlos-unendlichen Universums
4.3 Zur Genese eines methodischen Konflikts: Von der Natur als natura naturans zur Quantifizierung empirischer Eigenschaften
B Neuzeit und Moderne
1 René Descartes: Die Einteilung der Welt in Dinge und Personen
2 Gottfried W. Leibniz: Jede Monade ist ein lebendiger Spiegel des Universums
3 Immanuel Kant: Vom Verlust der Kosmologie
4 Johann G. Herder: ‚ Des Menschen ältere Brüder sind die Tiere ‘
5 Alexander von Humboldt: Der Mensch als Zuschauer und Teilnehmer an der Natur
6 Homo faber und der Ursprung des modernen Nihilismus
7 Von der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie
8 Alfred N. Whitehead: Natur als Prozess
8.1 Die Aufgabe einer philosophischen Kosmologie
8.2 Eine Philosophie des Organismus
8.3 Natur als Prozess
8.4 Vom Eigenwert und der Schönheit der Natur
Teil II: Die Wiederentdeckung der Eigendynamik der Natur
1 Symptome der ökologischen Krise
2 Die Sphäre des Lebendigen als Vermittlung zwischen Sachen und Personen
3 Grenzen der naturwissenschaftlichen Methode: Der Ausdruck von Innerlichkeit
4 Die Eigendynamik des Lebendigen: Kausalursachen, Funktionalität und Zielgeleitetheit
5 Die Evolution des Bewusstseins als Korrelat wachsender Freiheit
6 Vom Überleben zum qualitativ guten Leben
7 Lebewesen als integraler Teil der Biosphäre
8 Der Mensch als integraler Teil der Biosphäre: Die Natur als Grundlage der Kultur
9 Zur Evolution von Empathie und Ethik
10 Ethische Schlussfolgerungen aus der Verwandtschaft der Lebewesen
10.1 Utilitaristische und anthropozentrische Ethik
10.2 Pathozentrische Ethik
10.3 Biozentrische Ethik
10.4 Holistische Ethik
11 Laboratorien für einen Perspektivenwechsel: Naturverständnis und Ethik von Nationalparks und Wildnisgebieten
12 Eine Landschaft als Ausdruckseinheit: Die Ästhetik der Natur
12.1 Ein Erleben mit allen Sinnen
12.2 Natur als Kunst – Kunst als Natur
Anmerkungen
Literaturverzeichnis

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Regine Kather Die Wiederentdeckung der Natur

Regine Kather

Die Wiederentdeckung der Natur Naturphilosophie im Zeichen der ökologischen Krise

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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ISBN 978-3-534-22356-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72754-4 eBook (epub): 978-3-534-72755-1

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I: Von der Natur als Organismus zur Weltmaschine . . . . . . . . . . .

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A Antike und Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Platon: Aus Chaos wird Ordnung. Der Kosmos als Voraussetzung des menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Plotin: Die schöpferische Dynamik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Hildegard von Bingen: ‚. . . denn er könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Struktur der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der Mensch als Mikrokosmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Ethik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Die Ästhetik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Nikolaus von Kues: Die Natur als Ausfaltung Gottes . . . . . . . . . . . . 4.1 ‚Die Erde ist ein edler Stern‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Intelligentes Leben als Moment eines grenzenlos-unendlichen Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Zur Genese eines methodischen Konflikts: Von der Natur als natura naturans zur Quantifizierung empirischer Eigenschaften

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B Neuzeit und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1 René Descartes: Die Einteilung der Welt in Dinge und Personen . . . 73 2 Gottfried W. Leibniz: Jede Monade ist ein lebendiger Spiegel des Universums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3 Immanuel Kant: Vom Verlust der Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . . . 86 4 Johann G. Herder: ‚Des Menschen ältere Brüder sind die Tiere‘ . . . 92 5 Alexander von Humboldt: Der Mensch als Zuschauer und Teilnehmer an der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6 Homo faber und der Ursprung des modernen Nihilismus . . . . . . . 102 7 Von der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . 109

6 8 Alfred N. Whitehead: Natur als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Die Aufgabe einer philosophischen Kosmologie . . . . . . . . . . . . 8.2 Eine Philosophie des Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Natur als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Vom Eigenwert und der Schönheit der Natur . . . . . . . . . . . . .

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Teil II: Die Wiederentdeckung der Eigendynamik der Natur . . . . . . . . 1 Symptome der ökologischen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Sphäre des Lebendigen als Vermittlung zwischen Sachen und Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Grenzen der naturwissenschaftlichen Methode: Der Ausdruck von Innerlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Die Eigendynamik des Lebendigen: Kausalursachen, Funktionalität und Zielgeleitetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Evolution des Bewusstseins als Korrelat wachsender Freiheit . . . 6 Vom Überleben zum qualitativ guten Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Lebewesen als integraler Teil der Biosphäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Der Mensch als integraler Teil der Biosphäre: Die Natur als Grundlage der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zur Evolution von Empathie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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10 Ethische Schlussfolgerungen aus der Verwandtschaft der Lebewesen 10.1 Utilitaristische und anthropozentrische Ethik . . . . . . . . . . . . 10.2 Pathozentrische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Biozentrische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4 Holistische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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11 Laboratorien für einen Perspektivenwechsel: Naturverständnis und Ethik von Nationalparks und Wildnisgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . 232 12 Eine Landschaft als Ausdruckseinheit: Die Ästhetik der Natur . . . . . 239 12.1 Ein Erleben mit allen Sinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 12.2 Natur als Kunst – Kunst als Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Einleitung „Darauf sprach der Herr zu Noach: Geh in die Arche, du und dein ganzes Haus, denn ich habe gesehen, dass du unter deinen Zeitgenossen vor mir gerecht bist. Von allen reinen Tieren nimm dir je sieben Paare mit, und von allen unreinen Tieren je ein Paar, auch von den Vögeln des Himmels je sieben Männchen und Weibchen, um Nachwuchs auf der ganzen Erde am Leben zu erhalten.“ (Gen. 7,1–3)

Die Frage, was Natur und welches die Stellung des Menschen im Kosmos ist, gehört zu den ältesten und grundlegendsten der abendländischen Philosophie. Ausgehend vom unablässigen Werden und Vergehen suchten die Vorsokratiker nach Prinzipien, die eine Ordnung im Wandel ermöglichen. Mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften seit dem 15. Jh. und durch die Kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie, die Kant vollzog, ging jedoch das Bewusstsein verloren, dass Menschen als leib-geistige Einheit ein Teil der Natur sind. Erst seit dem Beginn des 20. Jh. erlebt die Naturphilosophie eine Renaissance, die sich mit den Namen von M. Scheler, H. Plessner, N. Hartmann, H. Conrad-Martius, A. N. Whitehead, H. Jonas und K. Meyer-Abich verbindet. Durch Evolutions- und Quantentheorie einerseits, durch die ökologische Krise andererseits erlangte sie eine ethisch-praktische Bedeutung, die weit über die theoretische Analyse hinausführt. Erst heute wird das Streben Fausts zu ergründen, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘, in seiner ganzen Zweideutigkeit sichtbar. Durch die Naturwissenschaften, die durch das systematische Experiment untrennbar mit dem Fortschritt der Technik verbunden sind, hat sich der Bereich des Beobachtbaren in raum-zeitlicher Hinsicht in ungeahntem Maß erweitert. Teleskope erschließen das All in immer größerer Tiefe und enthüllen die Geschichte des Universums über den unvorstellbaren Zeitraum von mehr als 15 Milliarden Jahren; den Mikrokosmos bevölkern schon längst nicht mehr nur Elektron, Proton und Neutron, sondern eine Fülle von Teilchen, die oft nur wenige Bruchteile von Sekunden überdauern. Durch die Technisierung der Lebenswelt, die ungebrochen wachsende Weltbevölkerung und den steigenden Lebensstandard werden die natürlichen Ressourcen immer schneller ausgebeutet, sodass sie sich nicht regenerieren können. Die globale Dimension der Naturzerstörung macht sichtbar,

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Einleitung

wie sehr die Menschheit das Maß für das verloren hat, was machbar ist und was sich ihrem Willen entzieht. Ohne einschneidende Korrekturen werden durch den Klimawandel, soweit sind sich Ökologen und Ökonomen inzwischen einig, Lebensqualität und Lebensstandard in den nächsten Jahren dramatisch sinken. Die Überzeugung, dass alle Probleme technisch lösbar sind und die Natur nahezu vollständig beherrschbar ist, verbindet sich mit einer materialistischnihilistischen Grundstimmung, mit dem Gefühl von Sinnleere, Geworfenheit und Existenzangst. Weder die Naturwissenschaften noch die Haltung uneingeschränkter Machbarkeit können die bohrende Frage nach dem Ziel und Sinn des Lebens beantworten. Durch eine rein naturwissenschaftliche Erklärung aller materiellen Prozesse sind die Menschen mit ihren qualifizierten Empfindungen, Gedanken und Werten aus der Natur aus- und in die Innerlichkeit ihres Geistes und ihrer kulturellen Erzeugnisse eingeschlossen. Sinn beruht, im Sinne von Sartres Version des Existentialismus, nur auf dem eigenen Lebensentwurf und ist damit radikal endlich. Nur wenn sich die Grundeinstellung zur Natur ändert und sie nicht nur als Ressource, sondern auch in ihrem Eigenwert wahrgenommen wird, können sich Menschen in ihrer leib-geistigen Konstitution als deren Teil verstehen und ihrem Handeln eine andere Ausrichtung geben. Um diesen Gedanken zu entwickeln, werden über die Grenzen einzelner Disziplinen hinweg Impulse aus Philosophie, den empirischen Wissenschaften und ästhetischen Erfahrungen berücksichtigt. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste Teil bietet einen Überblick über repräsentative Konzeptionen der Natur von der Antike bis zur Gegenwart, die auf ihre anthropologischen und ethischen Implikationen hin befragt werden. Bei der Auswahl der Texte war keine ideengeschichtliche Rekonstruktion das Ziel, sondern das Bemühen, andere Perspektiven auf die Natur sichtbar zu machen und Defizite des modernen Naturverständnisses zu korrigieren, die eine Folge der einseitigen Betonung der naturwissenschaftlich-technischen Methode sind. Im Spiegel der Vergangenheit zeigt sich, dass Mensch und Natur keineswegs Gegenspieler sind, sobald alle Entitäten durch innere wie äußere Relationen verbunden und nicht nur natura naturata, sondern auch natura naturans sind. Obwohl die Modelle früherer Epochen nicht bruchlos in die Gegenwart übertragbar sind, lassen sich zumindest einige Impulse in einen veränderten Kontext integrieren. Das Anliegen des zweiten, systematischen Teils ist es daher, die Argumente zusammenzutragen, die Menschen in ihrer leib-geistigen Verfasstheit wieder als Teil der Natur zeigen. Ursprünglich waren sie als Jäger und Sammler in den Rhythmus einer allgegenwärtigen Natur eingebettet, die sie nährte und bedrohte, die Leben spendete und es wieder auslöschte. Erst mit dem Übergang zum Ackerbau wurde eine neue Phase eingeleitet: Aus einem noch unüberschaubar weiten Raum wurden

Einleitung

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kleine Enklaven ausgegrenzt, in denen sie ihre eigene Ordnung errichteten. Eine Wertung bahnte sich an, die bis in die Gegenwart bestimmend blieb: Die Natur erschien als wilde, ungebändigte, chaotische Macht, die Kultur dagegen als wohlgeordneter, Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung gewährender Bereich, der als Ausdruck des menschlichen Geistes der Natur überlegen zu sein schien. Dennoch verstanden sich die Menschen noch im Mittelalter als Teil des Kosmos, dessen Ordnung auf dem Zusammenwirken aller Entitäten beruhte. Der Mensch galt als Glied in der Kette der Wesen, als ein Mikrokosmos, der alle Strukturen wie in einem Brennpunkt in sich versammelt. Auch die Natur erschien noch nicht als die Gesamtheit äußerlich sichtbarer und durch mechanische Kräfte verbundener Objekte; den Formenreichtum der sinnlich-sichtbaren Natur erklärte man sich durch eine innere, geistige Dynamik. Die Unterscheidung zwischen natura naturata und natura naturans bestimmte das Denken von Platon bis zu Spinoza, Leibniz und Schelling; wir werden ihr in veränderter Form im 20. Jh. wieder begegnen. Ihrer immanenten Dynamik verdankt die Natur ihren ästhetischen Ausdruck und ihren intrinsischen Wert. Beide gründen jedoch letztlich nicht in der Vielzahl endlicher Formen, sondern in einem unendlichen Sein, auf das sie verweisen. Doch obwohl für die griechischen Philosophen wie für die Autoren der Bibel die Natur einen Eigenwert hatte und schon in der Antike durch die Abholzung der iberischen Halbinsel und des Apennin ökologische Schäden erkennbar waren, wurde keine Ethik der Natur entwickelt. Erst im Mittelalter verweist Hildegard von Bingen mit Argumenten, bei denen sich die theozentrische, kosmozentrische und anthropozentrische Perspektive durchdringen, auf die menschliche Verantwortung. Da der Mensch ohne die anderen Kreaturen kein Mensch sein könnte, käme deren Vernichtung seiner Selbstzerstörung gleich. Mit diesem Argument entwickelt Hildegard ein relationales Verständnis der Natur, das die Rückwirkung maßlosen Verhaltens auf den Menschen in den Blick rückt. Auch Cusanus, der die Natur als explicatio Dei begreift, hebt die Verbundenheit aller Entitäten durch innere und äußere Relationen hervor, – ein Gedanke, der nicht nur Leibniz und Whitehead inspiriert hat, sondern auch für die moderne Ökologie grundlegend ist. Erst mit der Entwicklung der Naturwissenschaften im 15. Jh. und der methodischen Orientierung an Daten, die sich empirisch im systematischen Experiment überprüfen lassen und deren Zusammenhang mathematisch-formal darstellbar ist, gerät die Unterscheidung von natura naturata und natura naturans aus dem Blick. Descartes markiert den Wendepunkt, an dem sich das derzeit vorherrschende Naturverständnis herauskristallisiert. Alle materiellen Prozesse, die des menschlichen Körpers eingeschlossen, werden kausal-mechanisch erklärt. Die Natur erscheint nicht mehr als ein großer Organismus, sondern

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Einleitung

gleicht einem Uhrwerk, dessen Räder exakt ineinander greifen. Aus dem empirisch-naturwissenschaftlich verstandenen Sein der Natur lässt sich kein ethisches Sollen mehr ableiten. Ziele und Werte erscheinen als Konstruktionen des menschlichen Geistes, über die man sich in einem rationalen Diskurs verständigen kann. Die Natur wird zu einem wertfreien Objekt, das der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Durch seinen Geist steht der Mensch einer naturgesetzlich determinierten Natur wie ein extramundaner Beobachter gegenüber, sodass die Eingriffe in die Weltmaschine, die einem unveränderlichen Plan folgt, nicht auf ihn zurückzuwirken scheinen. Bis heute gliedert sich für viele Autoren der hermeneutischen wie der analytischen Philosophie die Wirklichkeit nur in Personen und Sachen. Dennoch ist seit Descartes die Kritik an der durchgängigen Physikalisierung des Physischen nicht abgerissen. Einer der ersten Kritiker war Leibniz, der nicht nur das Motiv der Kette der Wesen wieder herstellt, sondern auch, wie Cusanus, die Verflechtung aller Entitäten betont. Herder wiederum thematisiert Kontinuität und Diskontinuität von Mensch und Tier unter dem Blickwinkel der Sprache. Und Alexander von Humboldt hebt die Einbettung menschlicher Lebensformen in kosmologische, geologische und klimatische Bedingungen hervor. Im 19. und 20. Jh. unterminierten Evolutionstheorie und Astrophysik die Überzeugung, dass die Arten und die Ordnung der Natur unveränderlich sind. Relativitäts- und Quantentheorie zerstörten die Vorstellung, dass die Bausteine der Materie harte, unwandelbare Partikel sind. Die umfassendste Antwort auf die von den Naturwissenschaften selbst ausgehenden Herausforderungen stellt die Naturphilosophie Whiteheads dar, die eine Synthese wissenschaftlicher, lebensweltlicher, ästhetischer und ethischer Aspekte bildet. Durch die Integration platonischer und kantischer Elemente gewinnt die Natur ihre ontologische Bedeutung als Bedingung des Erkennens und Handelns zurück und erscheint als ein Prozess der Koevolution zahlloser Entitäten, zu denen auch der Mensch gehört. Im zweiten Teil des Buches steht die Frage im Mittelpunkt, wie sich Menschen in ihrer leib-geistigen Konstitution wieder als integralen Teil der Biosphäre begreifen und eine ethische und ästhetische Orientierung gewinnen können, die in Einklang mit ökologischen Anforderungen steht. Die ökologischen Probleme, die durch ein Übermaß an technischen Interventionen ausgelöst wurden, lassen sich nur durch die Entwicklung noch effizienterer Technologien nicht lösen. Da die Technik für sich genommen keine normative Orientierung beinhaltet, muss sie durch ethische Werte geleitet werden. Doch nur wenn Menschen sich in ihrer leib-geistigen Konstitution zugleich als Vernunftwesen und als Teil der Natur begreifen, kann diese in ihrem ethischen und ästhetischen Ei-

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genwert in den Blick treten. Dadurch ändert sich das Verhältnis zur Natur strukturell: Die objektivierende Einstellung, die für Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie leitend ist, wird vom Bewusstsein der Partizipation umgriffen und in ihre Grenzen verwiesen. Ihre Dynamik erhält die fortschreitende Naturzerstörung vor allem durch den westlich geprägten Lebensstil und ökonomische Modelle, die auf Wirtschaftswachstum durch immer mehr Konsum beruhen. Während die ökonomische Entwicklung an einem linearen Wachstumsmodell orientiert ist, das bislang auch da noch angewendet wird, wo der Klimawandel mithilfe technischer Lösungen begrenzt werden soll, beruht die Dynamik natürlicher Systeme auf einem in sich rückgekoppelten Zusammenspiel von Teilen und Ganzem. Ökonomische und politische Modelle gehen folglich von graduellen Veränderungen aus, die sich in langen Zeiträumen vollziehen und als überschaubar, berechenbar und beherrschbar gelten; Systeme dagegen gehen schlagartig in einen anderen Ordnungszustand über, wenn sich das Zusammenspiel einzelner Komponenten verändert. Die Diskrepanz zwischen ökonomischen Modellen und der systemischen Dynamik der Biosphäre wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die letzte Eiszeit nicht durch eine allmähliche Abkühlung eingetreten ist, sondern vermutlich in nur wenigen Jahren zur Vereisung der Seen Nordeuropas führte. Außerdem greift die Vorstellung zu kurz, man könne den Klimawandel beschränken, indem man eine einzelne Ursache, etwa die Produktion von CO2, beseitigt. Als System lässt sich die Biosphäre nicht in einzelne Komponenten zerlegen, sodass die Veränderung nur eines Faktors deren Zusammenspiel insgesamt verändert. Übersehen wird, dass sich die Eigendynamik der Biosphäre nicht so regulieren lässt wie ein Heizungssystem, bei dem man die Temperatur bei ansonsten unveränderter Funktionsweise neu einstellt. Schon aus rein anthropozentrischen Motiven muss der ressourcenintensive Lebensstil so korrigiert werden, dass er sich in die komplexe Dynamik der Biosphäre einfügt. Gelingen kann dieser Schritt freilich nur, wenn der Ausgang vom Subjekt, der durch Kant philosophisch legitimiert und in den letzten Jahrzehnten gesellschaftlich dominant wurde, korrigiert wird und wieder etwas akzeptiert werden kann, das den Horizont menschlichen Wollens und Handelns überschreitet. Während die Kette der Wesen auf der seelisch-geistigen Verwandtschaft der Kreaturen beruhte, entdeckte die Evolutionstheorie die genetische Zusammengehörigkeit. Dennoch teilen für Darwin gerade aufgrund der gemeinsamen Vorgeschichte die Menschen viele psychische Eigenschaften mit anderen Lebewesen. Die Beobachtung, dass sie nur durch die Anpassung an eine spezifische Umwelt überleben können, stellt außerdem die neuzeitliche Substanzontologie in Frage. Unter ökologischer Perspektive sind Lebewesen keine für sich beste-

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Einleitung

henden Entitäten, die sich in einem unablässigen Kampf gegen andere durchsetzen. Sie sind integrale Elemente von Ökosystemen, die nur aufgrund der Abstimmung ihrer Aktivitäten mit der Lebensweise zahlloser anderer Organismen überleben können. Dadurch bahnt sich ein Wechsel der Perspektive an, die die letzten drei Jahrhunderte vorherrschend war: Auch Menschen sind, biologisch gesprochen, offene Systeme. Obwohl sie schon zur Sicherung des Überlebens in die Dynamik der Biosphäre eingreifen, sie benutzen und verändern, sind sie durch ihre körperlichen Funktionen auf spezifische Lebensbedingungen angewiesen. Die Biosphäre stellt ihrerseits Anforderungen an das Handeln, denen dieses entsprechen oder die es verfehlen kann. Mit ihren körperlichen Funktionen und kulturschöpferischen Aktivitäten sind die Menschen ein integraler Teil der Biosphäre, sodass Natur und Kultur in ihrer Dynamik nicht voneinander unabhängig sind. Durch die moderne Technik hat der Radius des Handelns inzwischen in räumlicher Hinsicht eine globale Perspektive erlangt; in zeitlicher Hinsicht erstreckt er sich auf unüberschaubar viele Generationen. Wenn, so argumentiert vor allem Jonas, das menschliche Leben ein Gut ist, das es zu erhalten gilt, dann haben Menschen die Pflicht, mit den natürlichen Ressourcen so umzugehen, dass auch kommende Generationen ihre körperlichen und geistigen Möglichkeiten noch entfalten können. Damit ist jeder Theorie eine Absage erteilt, die die Natur als irrelevant für die Ethik ansieht und sie nur auf Interessenabwägung und Konsens gründet. Doch haben Menschen eigentlich das Recht, den Lebensraum des gesamten Planeten für sich zu beanspruchen? Wenn, wie die Evolutionstheorie lehrt, auch andere Kreaturen bereits ein Moment der Subjektivität besitzen und qualifizierte Perzeptionen ebenso wie Lust und Schmerz unterscheiden können, dann muss ein rein anthropozentrisches Interesse an der Erhaltung der Natur überschritten werden. Zumindest die belebte Natur ist nicht das ganz Andere, Fremde. Durch die Möglichkeit, mit anderen Lebewesen zu kommunizieren, erweitert sich der Lebenshorizont in emotionaler und kognitiver Hinsicht. Sieht man zudem in den unterschiedlichen Manifestationen des Lebenswillens eine implizite Bejahung des eigenen Seins, dann ist die belebte Natur kein wertindifferenter Funktionszusammenhang, sondern hat, wie Jonas betont, ein sittliches Eigenrecht. Während sich die kontinentaleuropäische Tradition auf die Idee der Würde der Kreatur beruft, argumentiert die angelsächsische Tradition in Anlehnung an Locke, dass jedes Mitglied einer Gemeinschaft ein Recht auf den Schutz seines Lebens habe. Trotz unterschiedlicher Ausgangspunkte konvergieren die Argumente in der Überzeugung, dass der Radius ethischer Pflichten erweitert werden muss. Da man Individuen und Arten nur schützen kann, wenn man auch ihr Lebensumfeld erhält, muss letztlich die Biosphäre insgesamt, zumindest soweit es

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in der Hand der Menschen liegt, erhalten werden. Sie ist das umfassendste System dieses Planeten und die Lebensgrundlage aller Kreaturen, sodass nationale und kulturelle Grenzen überschritten werden. Wie die Häute einer Zwiebel umfasst die Ethik daher immer mehr Dimensionen: Sie reicht von einer anthropozentrischen über eine patho- und biozentrische bis zu einer holistischen Perspektive. Zumindest in einigen Ländern hat inzwischen auch die Gesetzgebung einem veränderten Verständnis der Natur Rechnung getragen. Es wäre jedoch einseitig, würde man nur die bedrohliche Dimension der Entwicklung betonen und Furcht zum entscheidenden Motiv der Veränderung machen. Die Erkenntnis der Verletzlichkeit der Natur birgt die große Chance, sie in völlig neuer Weise zu entdecken. Noch nie zuvor wurden weltweit so viel Engagement und Kapital eingesetzt, um bedrohte Arten zu schützen, intakte Ökosysteme zu bewahren und zerstörte Landschaften zu renaturieren. Nicht nur das Gefühl der Verantwortung, auch die Freude an der Schönheit der Natur und das Bedürfnis, den Schattenseiten der Zivilisation zu entrinnen, wird inzwischen für zahllose Menschen zur Motivation, ein neues Verhältnis zur Natur zu erproben. Weltweit wurden die Ideen des Nationalparks und der Wildnis, die am Ende des 19. Jh. in den USA entstanden, zu Modellen für den bisher umfassendsten Schutz von Ökosystemen, die durch die in den 1960er-Jahren einsetzende Ökologiebewegung noch einmal einen neuen Akzent erhielten. Die Tatsache, dass die Menschen in die Biosphäre eingebettet sind, sollte allerdings nicht mit der romantischen Vorstellung verwechselt werden, dass sie in den Mutterschoß der Natur zurückkehren können. Soweit sich die Geschichte der Hominiden zurückverfolgen lässt, gehört die Technik zu ihrer Lebensweise. Doch die Veränderung im Verhältnis des Menschen zur Natur fordert auch eine veränderte Einstellung zur Technik. Ziel ist die Entwicklung von Technologien, die sich in die Biosphäre einfügen und anderen Kreaturen den Raum für ihre Entwicklung gewähren. Sieht man in der Anerkenntnis von Grenzen die Bedingung ihrer Überschreitung, dann erweitert sich durch den Verzicht auf eine einseitige Durchsetzung menschlicher Interessen der Lebenshorizont. Das Naturverständnis, so wird sich immer wieder zeigen, lässt sich nicht von der Anthropologie und den das Handeln leitenden Werten trennen. In gewisser Weise kann man daher dieses Buch als den dritten Teil einer Trilogie ansehen: Die Bücher ‚Was ist Leben?‘ (Darmstadt 2003) und ‚Person‘ (Darmstadt 2007) ergänzen die Überlegungen dieses Bandes, dessen Schwerpunkt auf der Einbettung des Menschen in die Natur liegt. Abgesehen von der Fragestellung wurde die Auswahl der Autoren daher auch von dem Bemühen bestimmt, Überschneidungen zu vermeiden.

Teil I: Von der Natur als Organismus zur Weltmaschine

A Antike und Mittelalter 1 Platon: Aus Chaos wird Ordnung. Der Kosmos als Voraussetzung des menschlichen Lebens Paläoanthropologische Funde deuten darauf hin, dass sich Menschen, seit sie sich symbolisch in Malerei, Musik und Riten ausdrücken, nicht damit begnügt haben, nur die drängenden Probleme des Alltags zu lösen.1 Das Bedürfnis, sich und die Welt zu verstehen, Staunen und Neugier, trieben sie immer wieder über das faktisch Vorhandene und einfach nur Nützliche hinaus. Vor allem eine Frage hat sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen bewegt: Wie sind die Welt und ihre Ordnung entstanden? Noch in der Sprache des Mythos schildert Hesiod etwa um 700 v. Chr. in der ‚Theogonie‘, dass am Anfang von allem das Chaos entstand, die klaffende Leere, das gänzlich Unbestimmte und Ungestaltete. Aus der schöpferischen Dynamik des Chaos entstanden Gaia, die Erde, Sitz der Götter und Lebensraum der Menschen, in deren Innerem sich die Unterwelt, der Ort der Toten befindet, Eros als kosmische, verbindende Kraft, die dunkle Nacht und die Tageshelle und schließlich Uranos, der Himmel. Damit haben sich die drei großen Unterteilungen des Kosmos gebildet, die über mehr als zwei Jahrtausende bestimmend blieben und die noch Dante in der ‚Göttlichen Komödie‘ zugrunde legt: Himmel, Erde und Unterwelt. Die ungeheure Dynamik, die mit der Weltentstehung verbunden war, schildert Hesiod als den Kampf verschiedener Göttergenerationen um Macht. Die kosmische Ordnung, die in der Herrschaft des Zeus gipfelt und von Themis und Dike, von Wohlverhalten und Gerechtigkeit, erleuchtet ist, ist die Voraussetzung für das menschliche Leben. Damit ist ein Grundgedanke des griechischen Denkens formuliert: Der Kosmos, die Natur ist geordnet. Wahres Sein ist gestaltet. In ihm lebt der dieser Ordnung bedürftige Mensch. Hesiod beruft sich in seiner Schilderung noch nicht auf eigenständiges Denken. Quelle des Wissens sind die Musen, die ihm berichten, „was ist, was sein wird und was vorher war.“2 Mit dem Übergang vom ‚Mythos zum Logos‘ in der Zeit von 650−550 v. Chr. verliert die Natur ihren physiognomischen Charakter. An die Stelle göttlicher Mächte treten physische Stoffe und ontologische Prinzipien. Was, so lautet nun

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Teil I: Von der Natur als Organismus zur Weltmaschine

die Frage, sind der Urstoff der Welt und die Ursache von Dauer und Beständigkeit? Empedokles, der in Sizilien wirkte, entwickelte die Elementenlehre, die erst im 18. Jh. durch den französischen Chemiker Lavoisier, der das Periodensystem aufstellte, abgelöst wurde. Die Welt wird aus den Urteilchen von Erde, Wasser, Luft und Feuer aufgebaut. Alle sichtbaren Dinge unterscheiden sich nur durch die Menge und die Art der mechanisch erfolgenden Kombination kleinster Teilchen, von Atomen. Als polar wirkende Kräfte halten Liebe und Streit durch Vereinigung und Trennung den Weltprozess in Gang. Für Heraklit wird das unablässige Werden und Vergehen zum Ausgangspunkt der Überlegung. Alles, was lebt, entsteht aus einem anderen, das stirbt. Leben und Tod, Tag und Nacht, Krieg und Frieden fordern sich gegenseitig. Indem ein Pol immer wieder in den anderen umschlägt, entsteht die Dynamik der Natur. Obwohl nichts jemals in genau derselben Weise wiederkehrt, entsteht gerade durch den Umschlag der Gegensätze im unaufhaltsamen Wandel eine Ordnung, die dauert.3 Als unsichtbare Ordnung durchwaltet der Logos das sichtbare Geschehen und bringt alle Dinge in ein Verhältnis zueinander. Auch für Pythagoras aus Samos ist das Prinzip der Weltordnung nicht der Stoff, sondern die Zahl, die alles Seiende gestaltet und harmonische Beziehungen erzeugt. Schon in ihren Anfängen blieb die Naturphilosophie daher nicht bei der Beschreibung des Sinnlich-Wahrnehmbaren stehen, sondern erklärt es durch eine andere, unsichtbare Ordnung. In einem wesentlichen Aspekt stimmt die griechische Sicht mit dem ersten Schöpfungsbericht der ‚Genesis‘ überein: Vor allen bestimmten und begrenzten Formen, vor der Entstehung der Elemente und vor allen Lebewesen, die den Kosmos bevölkern, war das Chaos, das Tohuwabohu, eine ungestaltete, lebensfeindliche Leere. „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.“4 Die Erde, so kommentiert noch Hildegard von Bingen, „war leer, da sie noch keine Gestalt hatte.“5 Erst durch das Wort Gottes, eine rein geistige Kraft, wurden einzelne Bereiche voneinander geschieden: Licht und Finsternis, Himmel und Erde, Wasser und Land. Schöpfung ist Formgebung, Unterscheidung, Trennung, das Hervorgehen vieler Gestalten aus einer ungeschiedenen Einheit. Schritt für Schritt wird das uranfängliche Chaos durch eine schöpferische Macht gegliedert, bis Lebewesen entstehen: Pflanzen, Vögel, Fische und Säugetiere. Wie bei Hesiod muss auch nach der ‚Genesis‘ eine gewisse Ordnung da sein, bevor Menschen erschaffen werden können. Nur Gott, der Herr über das Chaos, kann die Welt wieder in ihren Urzustand zurückversetzen. Die Dichter, so resümiert Augustinus im 4. Jh., stellen das „Chaos als unförmige, gestaltlose Materie dar, ohne Eigenschaft noch Maß, ohne Ordnung noch Unterscheidung, ein verworrenes Etwas.“6

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Der Gedanke einer ‚creatio ex nihilo‘, einer Schöpfung aus dem Nichts, der sich erst in den ersten Jahrhunderten nach Christus durchsetzte, wird zum ersten Mal im zweiten Makkabäerbuch des Alten Testaments erwähnt. „Alles“, so heißt es, „was es da gibt, hat Gott aus dem Nichts erschaffen.“7 Auch die Urmaterie wird nun erschaffen; sie ist deshalb nur „beinahe nichts“8. ‚Vor‘ der Schöpfung, so betont Augustinus, war nichts außer Gott.9 Der Ursprung der Welt ist daher kein Ursprung in der Zeit, sondern der Ursprung von Zeit. Da alle endlichen Seienden aus dem Nichts geschaffen wurden, haben sie eine gewisse Tendenz zur Auflösung; sie stehen zwischen Sein und Nichtsein und haben einen Anfang und ein Ende. Die erste systematische Kosmologie des Abendlandes entwirft Platon im ‚Timaios‘. Sie wurde in ihren Grundzügen bis zur Neuzeit akzeptiert und noch im 20. Jh. für Wissenschaftler wie Heisenberg und Philosophen wie Whitehead zur Quelle der Inspiration. Kosmologie im Sinne des ‚Timaios‘ bedeutet eine Untersuchung über das Weltganze, zu der die Erklärung des physischen Aufbaus ebenso wie die der Stellung des Menschen gehören. Möglich ist jedoch nur eine „wahrscheinliche Rede“10, da der Erkennende keinen absoluten Standpunkt außerhalb des Kosmos einnehmen kann und sich alle Aussagen auf zeitlich Wandelbares beziehen. Dass dennoch ein erkenntniskritischer Realismus möglich ist, beruht darauf, dass zwischen Erkennendem und Erkanntem aufgrund des gemeinsamen Ursprungs eine Affinität besteht, sodass den Erkenntnisstrukturen Seinsstrukturen entsprechen. Die Ausgangsfrage des ‚Timaios‘, in der sich das Staunen über das Gewordene spiegelt, ist, ob der Himmel „stets war und keinen Anfang seines Entstehens hat oder ob er, von einem Anfang ausgehend, geworden ist.“11 Diese Frage wird, bei wechselnden Antworten, noch in der modernen Astrophysik gestellt. Anders als Aristoteles bejaht Platon einen Anfang der Welt: Der Kosmos ist sinnlich wahrnehmbar und damit, wie alles durch die Sinne in Verbindung mit Mutmaßung Erkennbare, werdend und vergehend. Will man einen regressus ad infinitum ausschließen, dann darf die Ursache allen Werdens selbst nicht mehr werdend sein. Der Grund allen Seins, der kein Glied einer unabsehbaren Kausalkette mehr ist, entzieht sich daher der an die Sinne gebundenen empirischen Erkenntnis. Nur argumentativ kann und muss man auf ihn schließen. Die Frage, ob die Welt entstanden ist, führt so zu einer ersten Unterscheidung zwischen Sein und Werden. Doch warum gibt es überhaupt etwas? Platon stellt die Frage noch in einer anderen Weise als Leibniz: Er fragt nicht, warum es nicht nur nichts gibt, sondern warum der Urgrund nicht selbstgenügsam in sich verharrte. Die Güte des Weltenbildners, so Platon, sei der Grund, warum das Weltall in der Vielfalt seiner Formen entstanden ist. Aufgrund seiner Neidlosigkeit wollte er, dass es et-

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was gibt, das ihm so ähnlich wie möglich ist. Wie in der ‚Genesis‘ wird die Welt bewertet: Sie ist gut, und sie hat ein Ziel: die Verähnlichung mit dem Göttlichen als der Idee des Guten. An die Fragen, ob und warum das All entstanden ist, schließt sich die Frage an, wie es geworden ist. Erklärungsbedürftig ist vor allem, dass es überhaupt begrenzte, wohlgeformte Seiende gibt. Das Werden des Alls vollzieht sich durch die Überführung von Unordnung in Ordnung, von Gestaltlosigkeit zu Gestalt. Da nur durch diesen Prozess endliche Entitäten entstehen, sind Gestalt und Ordnung besser als Ungestaltetheit und Chaos. Anders als Empedokles und Demokrit lehnt Platon, und Aristoteles wird ihm darin folgen, den Zufall und rein kausalmechanische Wirkungen als Ursachen gleichbleibender Formen ab. Kausal wirkende Kräfte können zwar mit einer gewissen Regelmäßigkeit immer wieder bestimmte Effekte erzeugen; doch durch die ungerichtete Einwirkung zahlloser einzelner Geschehnisse aufeinander entsteht keine innere Einheit, geschweige denn die harmonische Abstimmung der unüberschaubar großen Zahl an Seienden im Kosmos. Damit verschiedene, völlig disparate Momente zu einem Ganzen werden, bedarf es der Antizipation des Endzustandes, einer Ausrichtung auf ein Ganzes, das entstehen soll. Zeitlose Gestaltprinzipien, Ideen, erzeugen als Fülle alles Möglichen im ruhelos bewegten Stoff wohlunterschiedene, in sich strukturierte Gestalten. Zweckursachen wirken allerdings nicht losgelöst von Wirkursachen und von dem Stoff, in dem sie sich ausprägen. Dadurch gibt es auch zufällige, regellose und rein mechanisch entstandene Ereignisse, sodass die Ideen das Geschehen in der Welt nicht vollständig bestimmen. Die Welt ist keine Kopie einer zeitlosen, idealen Ordnung, obwohl im kosmischen Maßstab betrachtet trotz der Wirkung der blinden Notwendigkeit die Vernunft dominiert, Zwecke die richtungslose Kausalität des Geschehens lenken. Da in jedem Prozess Wirk- und Zweckursachen ineinander greifen, ist der Kosmos nicht nur stabil; durch den Anteil am intelligiblen Sein, an Zielen und Werten hat er einen intrinsischen Wert. Natur und Vernunft, Sein und Sollen gehören zusammen. Die Muster und die schöpferische Dynamik, die die Vielfalt endlicher Formen hervorbringen, entstammen einer immateriellen Sphäre. Obwohl materielle Prozesse im Kosmos eine notwendige Bedingung für geistige sind, verleihen diese jenen erst ihre Form. Sogar die Atome als kleinste materielle Partikel sind schon bestimmte Entitäten mit charakteristischen Eigenschaften, sodass es keine Materie ohne Geist gibt. Wenn es besser ist, zu sein als nicht zu sein, dann sind Form und Gestalt erstrebenswert und damit das, was sie ermöglicht: die Idee des Guten, die jedes innerweltliche Ziel transzendiert. Für den Menschen als bewusstem Wesen wird die Erkenntnis des Seinsgrundes daher zum Lebensziel, wie Platon im ‚Höhlengleichnis‘, ‚Symposion‘ und ‚Phaidros‘ betont.

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Die fünfte Frage ist, woraus bzw. worin der Kosmos entstanden ist: Es gibt Seiendes, Werdendes und eine Art Urraum, in dem sich das Werden vollzieht. Der Raum ist „allen Werdens bergender Hort wie eine Amme.“12 Gerade weil er ohne Bestimmtheit und formende Kraft ist, eignet er sich als Urstoff für alle möglichen Seienden. Wie die Ideen, wenngleich in anderer Weise, entzieht sich die „Prägemasse“13 dem Bereich sinnlich-wahrnehmbarer und begrifflich fassbarer Entitäten. Da sich das Denken immer auf etwas Bestimmtes und damit Definierbares richtet, ist sie nur einem „Bastard-Denken“14, einem „unechten Denken“15, wie Plotin sagen wird, zugänglich. Die Funktion des Raumes als Prägemasse deutet darauf hin, dass er, anders als bei Newton, nicht leer ist, sich also nicht von der Materie trennen lässt. Außerdem ist er kein unveränderlicher, homogener Behälter; er befindet sich nicht im Gleichgewicht, sondern „schwankt ungleichmäßig auf und ab.“16 Ursache für dieses Ungleichgewicht ist das Werden und Vergehen endlicher Seiender. Durch seine Instabilität übt der Raum Kräfte aus; er wird zu einer Art „Rüttelgerät“17, das leichtere und schwerere Elemente voneinander trennt und so zur Ordnung des Kosmos beiträgt. Dem Raum eignet somit eine eigentümliche Ambivalenz: Im Bild der Amme erscheint er als bergend, nährend, Werden ermöglichend; aufgrund seiner Unbestimmtheit wird jedoch alles, was entstanden ist, wieder vergehen. Zumindest in seiner Einseitigkeit ist der häufig gegen Platon erhobene Vorwurf unberechtigt, die Sinneswelt werde, wie die Leiblichkeit, nur negativ als Schattenwelt gezeichnet. Mit der Bestimmung des Werdenden zwischen dem reinen Sein der urbildlichen Formen und der bloßen Unbestimmtheit des Raumes hebt Platon auch für die Kosmologie die vermittlungslose Gegenüberstellung von Sein und Nicht-Sein auf, die Parmenides vollzogen hatte. Das Werdende ist zwar nicht Sein im vollen Sinne, aber es ist auch kein bloßes Nichtsein. Dank der immateriellen Formen eignet ihm ein gewisses Maß an Sein. Es dauert trotz seiner Vergänglichkeit und ist nur als Werdendes. Damit lässt sich auch ein anderer Vorwurf entkräften, der heute vor allem von neodarwinistisch eingestellten Biologen und Vertretern einer reduktionistischen Kosmologie erhoben wird: dass nämlich eine Welt, die in einem göttlichen Sein gründet, vollkommen sein müsse, sodass es kein Leid geben dürfe. Für Platon ist die Welt dem Göttlichen nur ähnlich, sie ist nicht mit ihm identisch. Das All ist „soweit möglich“18 seiend; nur „das meiste des im Entstehen Begriffenen“19 wird dem Besten entgegengeführt; das, was vormals „ohne Verhältnis und Maß“ war, wird „zu möglichst“20 Schönem und Gutem. Stets bleibt eine gewisse Einschränkung der Vollkommenheit bestehen, weil die Durchformung der Materie, die Bestimmung des gänzlich Unbestimmten, nie vollständig gelingen kann. Einerseits ist die Welt nicht so vollkommen wie es die Ideen sind; andererseits gäbe es ohne den chaotischen Urstoff überhaupt keinen Kosmos und damit auch kein Werden.

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Der Ambivalenz chaotischer Elemente werden wir bei Whitehead wieder begegnen, für den sie eine Voraussetzung für das indeterminierte Entstehen von Neuem und damit für die Evolution sind. Die Ideen erzeugen im uranfänglichen Chaos zunächst die vier Elemente, die sich dem chemisch ungebildeten Beobachter in der Natur zeigen: Erde, Wasser, Luft und Feuer. Während jedoch die Vorsokratiker die Ausdifferenzierung der Körper aus einem Urstoff, etwa dem Wasser (Thales), annahmen oder die Elemente als gegeben hinnahmen (Empedokles), formt Platon, der darin den Pythagoreern folgt, die Lehre seiner Vorgänger mithilfe mathematischer Prinzipien neu. „Diese damals von Natur so Beschaffenen gestaltete der Gott also zunächst durch Formen und Zahlen.“21 Zahlen sind in diesem Fall kein Mittel, um bereits vorgefundene Einheiten zu quantifizieren oder ihre räumliche Ausdehnung zu messen; als Strukturprinzipien ermöglichen sie die Gliederung des Urstoffs und damit, dass es überhaupt qualitativ unterscheidbare Einheiten gibt, die dann auch quantitativ zählbar sind. Die Elemente sind keine starren, stofflichen Substanzen, sondern qualitative Bestimmungen eines sich nur in diesen Modi darstellenden Urstoffs, der zugleich Raum, Materie und Energie ist. Da sie aus der Verbindung der Formen mit dem Urstoff entstehen, sind sie, anders als bei Newton und wie in der heutigen Physik, nicht unwandelbar. Nicht nur die einzelnen Elementarkörperchen sind nach mathematischen Prinzipien gebildet; das Gesetz der Proportion bestimmt auch das äußere Verhältnis der Elemente zueinander und setzt sie so untereinander in eine wohlbestimmte Relation. Die innere Proportion tritt als Verhältnis zu anderen Elementen äußerlich in Erscheinung. Proportionen verbinden das Unterschiedene in sich und mit anderem. Durch innere und äußere Relationen entsteht im Kosmos ein „freundschaftliches Einvernehmen.“22 Die dreidimensionale Räumlichkeit des Kosmos verdankt dem Gesetz der Proportion seine Stabilität. Es handelt sich um ontologische Strukturen, die mathematisch darstellbar sind. Dennoch sind die Gesetze von Geometrie und Arithmetik nicht mit der Ideenwelt identisch, wie Platon im ‚Liniengleichnis‘ der ‚Politeia‘ zeigt. Da die Welt durch Werden und Vergehen bestimmt ist, ist sie nie vollständig das, was sie von ihren Möglichkeiten her sein könnte. Immer steht etwas aus, das noch nicht ist, sondern erst werden kann, und immer ist etwas nicht mehr, das einmal war. Alles Geschehen in der Welt hat eine zeitliche Dynamik. Sogar die Zeit selbst hat einen Anfang, sie „entstand mit dem Himmel.“23 Sowenig wie es einen leeren Raum gibt, gibt es den Kosmos ohne Zeit, sodass, wie in der modernen Astrophysik, Raum, Zeit und Materie zusammen gehören. In ihrem ursprünglichen Sinn ist die Zeit daher nicht „die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ‚davor‘ und ‚danach‘“24, wie Aristoteles in der ‚Physik‘ definiert; zählbar ist nur, wie oft sich bestimmte, regelmäßig wiederkehrende Prozesse wie die

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Kreisbewegung der Gestirne oder der Sonnenaufgang wiederholen. Diese sind jedoch ihrerseits bereits zeitlich verfasst. Da Chronos, die Zeit, geworden ist, kann man sie ebenso wenig wie den Kosmos aus sich heraus verstehen, sondern nur durch den Bezug auf ihr unvergängliches Urbild, den Aion. Sie ist „ein bewegliches Abbild der Ewigkeit.“25 Die sich von der Ewigkeit herleitende Zeit interpretiert Platon mithilfe des Modells der Lebenszeit. Als Urbild des Kosmos ist der Aion die Idee eines Lebens, das nicht wird und vergeht. In ihm sind alle Lebensphasen, die Chronos sukzessive zur Entfaltung bringt, ungeteilt gegenwärtig. Im Unterschied zur gemessenen Zeit, die nur ein äußerlicher Parameter ist, der nichts zur Strukturierung der Prozesse beiträgt, bildet die Lebenszeit ein Ganzes, das die verschiedenen Lebensphasen zu einer inneren Einheit verbindet. Das Leben rundet sich, wenn alle Phasen durchlaufen werden. Während die Ideen alles, was möglich ist, zeitlos in sich schließen, wird die Welt ihrem Urbild dadurch ähnlich, dass sie das zeitlos Gegenwärtige im Durchgang durch die drei Ekstasen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durchläuft. Man würde freilich dem Modell der Lebenszeit nicht gerecht, wenn man sie nur als Nacheinander einzelner Zeitabschnitte begreifen würde. Die Phasen unterscheiden sich qualitativ und bauen aufeinander auf, sodass ihre Abfolge nicht beliebig ist. Da die Lebenszeit nicht homogen ist, ist es nicht gleichgültig, in welcher Reihenfolge etwas geschieht. Kindheit, Jugend, Reife und Alter sind verschiedene Phasen mit je unterschiedlicher Länge, besonderen Fähigkeiten und spezifischen Aufgaben, die das Individuum in der Gesellschaft hat. Auch Tag und Nacht, Monat und Jahr sind qualitativ verschiedene Momente eines in sich zusammenhängenden Zeitverlaufs; sie sind Glieder in einem komplexen Gefüge, das nur in seiner Ganzheit den Aion zum Ausdruck bringt. Das Jahr gliedert sich in die einzelnen Jahreszeiten, der Tag in verschiedene Tageszeiten, die wiederum mit unterschiedlichen Aktivitäten bei allen Lebewesen verbunden sind. Die Qualität des Lebens hängt weniger von der Zahl der Jahre ab als davon, ob alle Phasen durchlaufen werden. Dann ist es erfüllt. Wie die Raummaterie ist auch die Zeit janusköpfig: Als Abbild der Fülle der Zeiten ist sie nicht pure Vergänglichkeit, sondern Bedingung des Werdens, der Entwicklung von Möglichkeiten. Da diese jedoch nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander entfaltet werden können, schafft erst das Vergehen den Raum für neue Möglichkeiten. Um erwachsen zu werden, muss man die Kindheit hinter sich lassen, um weise zu werden, muss man eine Fülle von Erfahrungen durchlebt haben. Damit etwas Neues entstehen kann, muss das, was entstanden ist, vergehen. Ohne den Tod wäre die Entfaltung des Lebens unmöglich. Auch für die Zeit sind Proportionen entscheidend: Platon bestimmt sie als „in Zahlenverhältnissen umlaufend.“26 Im Kosmos hat jedes Lebewesen, in Hin-

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blick auf seine Lebensdauer und seine Lebensphasen, sein eigenes zeitliches Maß. Doch nur wenn die unterschiedlichen Lebenszeiten aufeinander abgestimmt sind, wird der Kosmos zu einem in sich gegliederten Ganzen. Als Urbild ist die Ewigkeit in gewisser Weise eine zeitlose Momentaufnahme, in der die zeitlichen Proportionen aller Lebewesen gleichzeitig vorhanden und aufeinander abgestimmt sind. Deshalb ist auch das Werden und Vergehen in der Welt kein bloßes Nach- oder Nebeneinander von Geburten und Toden, sondern wird durch die Verhältnisse der Lebenszeiten aller Lebewesen zueinander strukturiert. Erst das Zusammenspiel der Vielzahl einzelner Zeiten bildet die zeitliche Dynamik des Kosmos als ‚großem Lebewesen‘. Die Ordnung der Natur, so kann man diesen Gedanken übersetzen, ist nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche. Die Zeit ist nicht nur die Form der inneren Anschauung, wie Kant dachte, und keine bloß mentale und soziale Konstruktion; sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Erhaltung und Entfaltung einer Vielfalt von Lebewesen, von denen jedes eine Eigendynamik hat. Es liegt nahe, die platonische Zeitkonzeption in eine Beziehung zur modernen Ökologie zu bringen: Stabilität und Regenerationsfähigkeit eines Ökosystems beruhen auf der Abstimmung der Lebenszyklen der verschiedenen Lebewesen und der Stoffströme aufeinander. Zugvögel etwa können erst Nahrung finden, wenn Insekten vorhanden sind, die wiederum auf bestimmte Blumen angewiesen sind. Die Ankunft der Vögel und ihre Brut, die Blüte der Pflanzen und das Reifen der Früchte, die Eiablage und das Schlüpfen der Insekten müssen miteinander koordiniert sein. Ein Problem des Klimawandels besteht gerade darin, dass die unterschiedlichen Zeiten entkoppelt werden. Obwohl Platon nichts von der modernen Ökologie ahnen konnte, war die Beobachtung, dass die Aktivitäten unterschiedlicher Lebewesen miteinander korreliert sind, in einer stark von Landwirtschaft geprägten Gesellschaft vermutlich Allgemeingut. Platon charakterisiert die Zeit außerdem als umlaufend: Der Versuch, diese Aussage durch den Hinweis zu erklären, dass die antiken Denker die Erde als Mittelpunkt der Welt betrachteten, die von den Gestirnen umkreist wurde, greift zu kurz. Nicht nur am Firmament, sondern in der ganzen Natur lassen sich zyklisch wiederkehrende Prozesse beobachten. Nur wenn das Ende eines Jahres in den Beginn eines neuen mündet, auf einen Winter wieder der Frühling folgt, kann sich die Natur in ihrer Formenvielfalt entfalten und als gleichförmige Ordnung nahezu unbegrenzt erhalten. Nur als Kreisbewegung, die sich endlos wiederholt, kann die Zeit, so glaubte daher Platon, ein Abbild der Ewigkeit sein. Auch der Bestand einer Gesellschaft hängt davon ab, dass sich Geburten und Tode einigermaßen die Waage halten. Nur wenn ungefähr genauso viele Menschen geboren werden wie sterben kann sie sich erhalten. Wenn kaum

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Menschen sterben und gleichzeitig weiter Kinder geboren werden, sind Überbevölkerung und ein Raubbau an der Natur unausweichlich. Werden langfristig weniger Menschen geboren als sterben, stirbt die Menschheit aus. Die zyklische Abfolge ist daher nicht nur ein Bild für die Einheit der Lebensphasen, sondern auch eine Bedingung der Erneuerung des Lebens auf der Erde, seiner Regeneration im buchstäblichen Sinn. Den Kosmos vergleicht Platon mit einem „beseelten und mit Vernunft begabten Lebewesen“27, das „alle von Natur ihm verwandten Lebewesen in sich faßt.“28 Die Metapher des Lebewesens drückt die Einsicht aus, dass auch in diesem Kontext Werden und Vergehen in einem qualitativen Sinne zu verstehen sind. Wie bei einem Organismus bildet sich das Ganze aus dem Zusammenspiel der Teile, die ihrerseits ihre Funktion erst aus dem Bezug zum Ganzen gewinnen. Jeder Teil gewinnt seine eigentümliche Bestimmung erst durch die Beziehung zu etwas, was er nicht ist, was andere Eigenschaften und Fähigkeiten hat. Alles hat in seinem Sein Anteil an dem, was es nicht ist. Erst die dynamische Verschränkung von Sein und Nichtsein ermöglicht die Komplexität des Universums. Das Nichtsein, so argumentiert Platon im ‚Sophistes‘, ist das alles Seiende durchdringende Verschiedene: „Wir werden mit Recht sagen, daß gleichermaßen alles nichtseiend ist und daß es doch wiederum, weil es am Seienden teilhat, ist. Wenn wir Nichtseiendes sagen, so meinen wir nicht ein Entgegengesetztes des Seienden, sondern nur ein Verschiedenes.“29 Im Unterschied zum Vergleich des Kosmos mit einem Uhrwerk, der sich in der Neuzeit durchsetzen wird, beinhaltet die Metapher des Organismus die Durchdringung materieller und geistiger Prozesse. Der Kosmos wird in ähnlicher Weise von der göttlichen Vernunft durchwaltet wie der Leib von der Seele. Sieht man den Geist als höchste Form der Lebendigkeit, dann gibt es im Kosmos nichts, das völlig leb- und geistlos wäre. Wie ein Lebewesen hat der Kosmos das Prinzip der Organisation in sich, sodass die vielen Lebewesen keine Fremdkörper in einem ansonsten toten Universum sind, sondern Unterarten, Teile und Spezifikationen des Weltorganismus. Die Ordnung des Ganzen bleibt im Auf- und Abbau der Teile erhalten. Die Ordnung des Kosmos wird allerdings nicht nur durch die Gesetze bestimmt, die die Materie und das Verhältnis der Lebewesen zueinander regeln, sondern auch durch die Lebensweise der Menschen. Auch sie sind ein integraler Teil des Weltganzen, sodass eine Kosmologie ohne Anthropologie genauso unvollständig wäre wie eine Anthropologie ohne Kosmologie. In mythischer Rede schildert Platon die Entstehung einer Vielzahl von Lebewesen, die sich in vier große Gattungen unterteilen lassen und sich in unterschiedlicher Nähe zum höchsten Sein befinden: Götter; Lebewesen, die die Luft bevölkern, solche, die im Wasser leben und die, die auf der Erde wohnen. In jeder Lebensform hat

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eines der vier Elemente den Vorrang und bestimmt dadurch Lebensumfeld und Lebensweise. Das Geschlecht der Menschen entsteht aus gemischter Materie, sodass es an allen Elementen Anteil hat. Ihm kommt eine eigentümliche Zwischenstellung zu zwischen dem Wissen der Götter und der dumpfen Unwissenheit der Tiere, zwischen der göttlichen Unsterblichkeit und den ohne Wissen um ihren Tod lebenden Tieren und Pflanzen, zwischen dem Streben nach bloß vitaler Selbsterhaltung und dem nach der Erkenntnis des höchsten Seins. Das Verhalten kann sich an der Befriedigung der Triebe orientieren oder an der Vernunft ausrichten. Strukturell ist der Mensch ein gefährdetes Wesen. Die menschliche Seele ist zwar an den Leib gebunden, aber nicht aus der materiellen Organisation ableitbar. Schon im ‚Phaidon‘ argumentiert Sokrates, dass die Physik seiner Zeit nur materielle Ursachen berücksichtigt und versucht zu beweisen, dass Ziele und Absichten nicht aus der körperlichen Organisation ableitbar sind. Er berichtet, wie seine anfängliche Begeisterung für Anaxagoras einer großen Enttäuschung gewichen sei, als er feststellte, dass die Vernunft bei ihm funktionslos ist und, modern gesprochen, bestenfalls ein Epiphänomen materieller Prozesse sein kann. Die Argumente von Sokrates bzw. Platon klingen wie eine Kritik am modernen Naturalismus: „Mich dünkte, es sei ihm so gegangen, als wenn jemand zuerst sagte: Sokrates tut alles, was er tut, mit Vernunft, dann aber, wenn er sich daran machte, die Gründe anzuführen von jeglichem, was ich tue, dann sagen wollte, zuerst daß ich jetzt deswegen hier säße, weil mein Leib aus Knochen und Sehnen besteht und die Knochen dicht sind und durch Gelenke voneinander geschieden, die Sehnen aber so eingerichtet, daß sie angezogen und nachgelassen werden können, und die Knochen umgeben nebst dem Fleisch und der Haut, welche sie zusammenhält. Da nun die Knochen in ihren Gelenken schweben, so machten die Sehnen, wenn ich sie nachlasse und anziehe, daß ich jetzt imstande sei, meine Glieder zu bewegen, und aus diesem Grunde säße ich jetzt hier mit gebogenen Knien. Ebenso, wenn er von unserm Gespräch andere dergleichen Ursachen anführen wollte, die Töne nämlich und die Luft und das Gehör und tausenderlei dergleichen herbeibringen, ganz vernachlässigend, die wahren Ursachen anzuführen, daß nämlich, weil es den Athenern besser gefallen hat, mich zu verdammen, deshalb es auch mir besser geschienen ist, hier sitzen zu bleiben, und gerechter, die Strafe geduldig auszustehen, welche sie angeordnet haben.“30 Klar unterscheidet Platon zwischen kausal wirkenden Ursachen und Gründen, die dem Handeln eine Richtung verleihen und ethische Urteilsakte beinhalten. Nur durch die Vernunft kann eine angemessene Beziehung zu einem Ziel hergestellt werden, das auch gegen äußere Widerstände verfolgt wird. Da sich die Menschen anders als Tiere durch die Vernunft an den Ideen orientieren können, werden ihnen, so berichtet Platon im ‚Timaios‘, „die Natur

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des Alls und die vom Schicksal verhängten Gesetze“31 verkündet. Dass die Menschen die Ordnung der Natur zumindest in bestimmten Zügen erkennen können, ist eine Voraussetzung für das Überleben; doch anders als die evolutionäre Erkenntnistheorie will die platonische Philosophie nicht nur die Möglichkeit des Überlebens begründen, sondern die Voraussetzung für ein im ethischen Sinne gutes Leben, das die Orientierung an Werten wie Gerechtigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit und Wahrheitsliebe beinhaltet. Wie alle anderen Lebewesen sind auch die Menschen mit ihrer Lebensweise ein Teil des Ganzen, sodass ihre innere Einstellung und ihr Handeln den Gang der Dinge beeinflussen. Wenn sie sich an der idealen Ordnung orientieren, können sie zumindest einen Teil der in der Welt herrschenden Unvollkommenheit in Vollkommenheit verwandeln. Die Orientierung am göttlichen Urbild des Kosmos ist nicht nur für das Schicksal des Einzelnen wesentlich; sie ist die Voraussetzung dafür, dass das gesellschaftliche Leben insgesamt an der Idee des Guten und der Gerechtigkeit orientiert ist. Es liegt jedoch nicht in der menschlichen Macht, eine ideale Ordnung zu schaffen. Dass Menschen in die Natur eingreifen und sie zerstören können, war bereits Platon bekannt. Die Verkarstung unterhalb der Akropolis führt er im Dialog ‚Kritias‘, in dem er die Kämpfe zwischen Ur-Athen und der im Meer versunkenen Insel Atlantis schildert, auf die Abholzung der Wälder zurück, die dazu führt, dass die Erde nicht mehr von Wurzeln festgehalten, sondern durch das Regenwasser weggeschwemmt wird. „Übriggeblieben sind nun – wie auf den kleinen Inseln – im Vergleich zu damals nur die Knochen eines erkrankten Körpers, nachdem ringsum fortgeflossen ist, was vom Boden fett und weich war, und nur der dürre Körper des Landes übrigblieb. Jetzt bieten einige der Berge nur den Bienen Nahrung, es ist jedoch nicht lange her, als von Bäumen, die hier als Dachbalken für die gewaltigsten Bauten geschnitten wurden, die Dächer noch erhalten sind. Es gab viele andere hohe veredelte Bäume, die Erde trug unermeßlich viel Weidefutter für die Herden.“32 Eine gewisse Maßlosigkeit des Lebensstils, die sich im Wunsch nach repräsentativen Gebäuden zeigt, der Schiffsbau für Handel und Kriegsführung sowie Minen zum Abbau von Erzen führten zur Abholzung und der nachfolgenden Verkarstung der Landschaft, die artenarm ist und regelrecht krank wirkt. Aus diesen Missständen zieht Platon Schlüsse für eine Form der Landwirtschaft, die der Natur die Möglichkeit gibt, sich zu regenerieren. Sie fordert vom Landwirt einen ästhetischen Sinn und von der Bevölkerung einen maßvollen Lebensstil, der in der Mitte zwischen Luxus und Askese liegt und auf Tätigkeiten verzichtet, die einen Raubbau an der Natur bedeuten. Zu einem maßvollen Leben gehört auch die Regulierung der Bevölkerungszahl. Nur dann können Land und Besitz an die kommenden Generationen unverändert vererbt werden und einen gleichbleibenden Wohlstand ermög-

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lichen. Das Land „war, wie es sich erwarten läßt, gehörig in Ordnung gebracht von echten Landwirten, die eben nur dies betreiben, von schönheitsliebenden, wohlbegabten Männern, welche trefflichsten Boden, reichlichstes Wasser und über dem Land besttemperierte Jahreszeiten besaßen. Die Stadt aber war zur damaligen Zeit in folgender Weise angelegt: Zunächst war die Akropolis damals nicht so beschaffen, wie sie es jetzt ist. Jetzt nämlich hat eine einzige besonders regenreiche Nacht sie ringsum aufgeweicht und erdentblößt gemacht. In ihrer früheren Größe zur andren Zeit war (sie) durchgängig mit Erde bedeckt. Ihre Nordseite bewohnten sie, wo sie gemeinsame Häuser und Speiseräume für den Winter eingerichtet hatten und all das, wovon es sich ziemte, daß es dem gemeinsamen Staatsleben auf Grund von Baumaßnahmen für sie selbst und für die Heiligtümer zur Verfügung stand, doch ohne Anwendung von Gold und Silber; − dessen bedienten sie sich in keinem Falle, sondern sie erbauten, die Mitte zwischen Überheblichkeit und niedriger Dürftigkeit haltend, schmucke Wohnhäuser, in denen sie selbst und ihre Kindeskinder alt wurden und die sie stets in demselben Zustand anderen, die wie sie waren, übergaben. In dieser Form nun wohnten sie dort, ihrer eigenen Mitbürger Beschützer, der übrigen Griechen Anführer auf deren Wunsch; und sie gaben sorgsam darauf acht, daß ihre Anzahl an Männern und Frauen möglichst für alle Zeit dieselbe bliebe.“33 Das Zusammenspiel des Lebensstils, der von ethischen Haltungen geprägt sein sollte, mit den natürlichen Gegebenheiten prägt das Gesicht einer Kulturlandschaft – im Guten wie im Schlechten. Nicht in der Hand des Menschen liegen dagegen Naturkatastrophen wie die, die den Untergang der Insel Atlantis bewirkt haben soll. Anders als für Platon galt jedoch den meisten Menschen in der Antike die Übernutzung der Natur als legitimes Mittel, um Kultur, Wohlleben und exzessiven Luxus zu ermöglichen. Nicht umsonst war für Aristoteles, der seine Aufmerksamkeit vor allem Lebewesen zuwandte und für die Stoiker, die den Menschen mit seiner Vernunft in die vom Logos durchdrungene kosmische Ordnung einbetteten, eine der vier Kardinaltugenden die Fähigkeit zum Maßhalten. Anders als in der berühmt-berüchtigten Stelle des ‚Phaidon‘, an der Sokrates unmittelbar vor seinem Tod den Körper als Gefängnis der Seele bezeichnet, ist das Menschenbild im ‚Timaios‘ an der Harmonie von Leib und Seele ausgerichtet.34 Auch die Sinne sind ambivalent: Einerseits können sie den Menschen in die Irre leiten, andererseits haben sie, wie Platon im ‚Phaidros‘ und ‚Symposion‘ betont, eine unverzichtbare Bedeutung für eine angemessene Lebensführung. Nur durch das Sehvermögen kann man die Himmelsbewegung in ihrer Gleichförmigkeit betrachten und eine Ahnung von der urbildlichen, zeitlosen Ordnung gewinnen, die ihr zugrunde liegt. Dadurch wird die sinnliche Betrachtung der Natur zum Anstoß für die Hinwendung zu Wissenschaft und Philosophie.

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Vor allem die mit der Mathematik verwandte Astronomie gewinnt eine ethische Aufgabe: Sie wird zum Medium, durch das die Menschen die verwirrten, unruhigen Bewegungen der eigenen Emotionen der gleichförmigen Bewegung der Gestirne, jenem Abglanz der Ewigkeit, angleichen können. Die Verwirklichung des Lebenszieles, die kontemplative Schau der Idee des Guten, wird unterstützt durch die Übereinstimmung der Bewegungen von Leib und Seele, dem Einklang von Erkennen und Handeln. Gestalt, Struktur und Form galten dem griechischen Empfinden nicht nur als Voraussetzung dafür, dass überhaupt endliche Entitäten existieren, sondern auch als Ausdruck von Schönheit, sodass der Kosmos eine ästhetische Dimension besitzt. Unabhängig von menschlichen Urteilen ist er objektiv schön. Die ästhetische Dimension beruht auf den Proportionen, die einer Entität ihre Gestalt verleihen und sie mit anderen Entitäten in eine Beziehung setzen. Nur das, was Form und Gestalt hat, hat überhaupt Anteil am Sein; durch seine seinsverleihende Kraft erscheint dieses als ein erstrebenswertes Gut, sodass alle endlichen Entitäten bis zu einem gewissen Grad an ihm partizipieren, seiend und gut sind; nur weil sie eine Struktur besitzen, sind sie von anderen unterscheidbar und damit erkennbar; durch ihre Proportionen eignet ihnen schließlich auch ein ästhetisches Moment. Jede Entität ist durch ihre Teilhabe an der idealen Ordnung zugleich erkennbar, gut und schön. Inzwischen entdeckt, wie wir noch sehen werden, auch die moderne Ökologie den Zusammenhang von ästhetischen, ethischen und funktionalen Aspekten wieder. Da in der Natur geistige Prinzipien gegenwärtig sind, ist der Mensch als leibgeistige Einheit ein integraler Teil des Kosmos. Er kann sich nur selbst erkennen, wenn er auch um seine Stellung im Kosmos weiß. Dadurch thematisiert Platon auch die Fragen, die eine rein physikalische Kosmologie nicht mehr stellt. Dass jedoch zuerst über die Entstehung des Kosmos in seinen zeitlichen und materiellen Aspekten berichtet wurde, weist auf eine fundamentale Grunderfahrung hin, die die platonische Kosmologie, trotz aller Unterschiede, mit der physikalischen Kosmologie des 20. Jh. verbindet: Die großräumigen materiellen Strukturen des Alls und seine Gesetze gehören zu den ontologischen Voraussetzungen allen Lebens. Im Unterschied zu Kant, der den Ausgang der Welterschließung in das erkennende Subjekt verlagert, begreift sich der Mensch bei Platon aus dem ihn umgebenden Weltzusammenhang, den er mit seinem Geist überschreiten kann. Beide Argumente haben, so wird bei Whitehead deutlich werden, ihre Berechtigung.

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2 Plotin: Die schöpferische Dynamik der Natur Der Platon-Interpret Plotin beginnt im 3. Jh. n. Chr. nicht mehr, wie Platon und Aristoteles, mit der Analyse der sinnlichen Welt, um den Blick Schritt für Schritt auf den Seinsgrund zu lenken. Er geht von der umgekehrten Perspektive aus: Wenn es einen absoluten Ursprung gibt, dann muss die Erklärung bei ihm beginnen, denn ohne ihn gäbe es den Kosmos nicht und damit nichts, was zu erklären wäre. Da aus dem reinen Nichts − auch nach der modernen Physik − nicht etwas werden kann, muss es einen Grund dafür geben, dass es das Universum als ein in sich strukturiertes Ganzes mit der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit an Seienden überhaupt gibt. Der Kosmos erscheint als eine Art Beweis, dass es ein Sein gibt, das ihn transzendiert, das von anderer Art und vor allem wirkungsmächtiger ist als alles, was zeitlich und räumlich begrenzt ist. Da es ontologisch früher ist als alles Gewordene, ist es vor jeder Vielfalt; und da jeder Gedanke und jede Aussage bereits eine Unterscheidung von Erkennendem und Erkanntem beinhaltet, ist es undenkbar und unaussagbar. Wie die platonische Idee des Guten ist das Eine ‚jenseits des Seienden‘.35 Das absolute Sein, so glaubte Plotin, sei gleichsam übergequollen. Als Fülle aller Möglichkeiten ist es ein unerschöpfliches Vermögen, das den Kosmos aus sich hervorgehen lässt, ohne dabei seine Wirkungskraft einzubüßen. „Stell dir einen gewaltigen Baum vor, dessen Lebenskraft den ganzen Baum durchläuft, sein Urgrund aber verharrt in sich und zerstreut sich nicht über das Ganze, da er gleichsam in der Wurzel seinen festen Sitz hat; so verleiht dieser Urgrund dem Baum sein ganzes Leben in all seiner vielfältigen Fülle, bleibt jedoch selbst an seiner Stelle, denn er ist nicht selber Vielheit, sondern Urgrund dieses vielfältigen Lebens.“36 So wie die Zweige des Baumes nur lebendig sind, weil sie mit den Wurzeln verbunden sind, die sie nähren, so ist auch das schöpferische Prinzip nicht nur transzendent, sondern allem immanent. Nur weil es Anteil am Sein hat, entschwindet es nicht ins Nicht-Sein. Das Bild des Weltenbaumes, der im Himmel wurzelt, findet sich allerdings bereits in einem viel älteren Text eines anderen Kulturkreises, der Bhagavadgita, einem Schlüsseltext des Hinduismus, der sich wiederum auf die Upanishaden stützt.37 Indem das Eine Plotins sich selbst denkt, unterscheidet es sich von sich und bildet eine erste Form von Andersheit: den göttlichen Geist. Sein Leben besteht in der Bewegung des Aus-Sich-Hervorgehens und Zu-Sich-Zurückkehrens. Da der Geist nicht irgendein Objekt denkt, das außerhalb seiner selbst ist, sondern, wie der aristotelische Gott, sich selbst, ist seine Bewegung ohne Anfang und Ende, ewig. Wenn, wie Aristoteles definierte, das lebendig ist, was sich aus sich heraus bewegt, besitzt der göttliche Geist die höchste Form von Leben. Es beruht nicht auf dem Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit oder der Be-

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hebung eines Mangels, sondern ist in jedem Augenblick alles, was es sein kann, eine ungeteilte Ganzheit, „das klare und vollendete Leben.“38 Im Hervorgang aus dem Einen werden auch die Grundkategorien erzeugt, die für die Ordnung und die Erkenntnis der Welt konstitutiv sind: Sein, Bewegung und Ständigkeit, Identität und Andersheit. Mit der Bestimmung der endlichen Seienden werden auch ihre Unterschiede und möglichen Relationen festgelegt. In einer absteigenden Hierarchie entsteht nach dem göttlichen Geist und der Weltseele die Vielfalt endlicher Entitäten. Obwohl alle bis zu einem gewissen Grad Anteil an der Dynamik des göttlichen Geistes haben, sind sie bereits in ihrer Lebensspanne und schöpferischen Kraft begrenzt. Lebensintensität und Bewusstheit nehmen mit der Entfernung vom göttlichen Ursprung ab. Je dumpfer die Wahrnehmungsfähigkeit eines Lebewesens ist, desto weiter ist es vom schöpferischen Urgrund entfernt und desto geringer ist seine Kraft, sich zu erhalten und selbst etwas zu erzeugen. Die Stufenleiter des Seins nähert sich immer mehr dem Nichtsein. Obwohl auch die gänzlich ungestaltete Materie noch ein letzter, ferner Abglanz der Wirkungsmacht des göttlichen Ursprungs ist, verfügt sie über kein schöpferisches Potenzial mehr, mit dem sie eine weitere Seinsstufe erzeugen könnte. Sie ist der gestaltlose Urgrund, der, wie bei Platon, gerade durch seine Unbestimmtheit das Werden aller Seienden, auch der Atome, ermöglicht. Mit dem Kosmos und der Vielfalt der aus Stoff und Form gebildeten Entitäten, die ihn bevölkern, entstehen Werden und Vergehen, Geburt und Tod, sodass alle endlichen Wesen zeitlich verfasst sind. Da die schöpferische Dynamik nicht nur in den einzelnen Lebewesen, sondern in der ganzen Natur wirksam ist, kann man diese nicht mit einem „mechanischen Hebelspiel“39 vergleichen. Nicht kausalmechanisch und richtungslos wirkenden Kräften, Zug, Druck oder Stoß, sondern einer gestaltverleihenden Dynamik verdankt die Vielfalt sinnlich-sichtbarer Entitäten ihre innere Einheit und ihre charakteristischen Merkmale. Letztlich beruht die „Wirkungskraft“40 der Natur, wenngleich in abgeschwächter Form, auf der seinsstiftenden und seinserhaltenden Dynamik des Einen. Sie beinhaltet freilich weder Bewusstheit noch Gefühle oder Empfindungen. Der Begriff des Geistes ist nicht auf den menschlichen oder den göttlichen Geist beschränkt, sondern umfasst bereits die Dynamik, durch die sich kohärente Formen ausprägen. Schon den einfachsten natürlichen Entitäten eignet daher eine Art Streben, eine Ausrichtung auf das Erlangen einer Gestalt. Plotin vergleicht die Eigendynamik der Natur mit dem Zustand eines Menschen, der im Schlaf befangen ist: „Wollte einer sie fragen, um wessentwillen sie schafft, und sie ließe sich herbei auf den Frager zu hören und Rede zu stehen, so würde sie wohl antworten: Mein Betrachten bringt das Betrachtete hervor, so wie die Mathematiker zeichnen, indem sie betrachten; und während ich freilich nicht

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zeichne, sondern nur betrachte, treten die Linien der Körper ins Dasein, gleichsam wie ein Niederschlag.“41 So wie ein Maler den Pinsel führt, während er vor seinem geistigen Auge das Gemälde sieht, so erzeugt die Natur aus der bewusstlosen Vertiefung in zeitlose Formen die sinnlich-sichtbaren Gestalten. Das Erfassen einer in sich stimmigen Gestaltganzheit, eines Wesens, geht der Ausprägung der konkreten Gestalten voraus, die man gemeinhin als Natur bezeichnet. Nicht Konstruktion, sondern Kontemplation ist die Voraussetzung schöpferischer Aktivität. „Zeugung“, so Plotin, „ist Kraft der Betrachtung.“42 Lebensfähige Organismen entstehen nicht durch die allmähliche, zufällige Verbindung einzelner Elemente und Fähigkeiten, sondern nur durch deren zielgeleitetes Arrangement. Dass die Natur kein unzusammenhängender Haufen toter, kausalmechanisch bewegter Dinge ist, sondern sich immer wieder erneuert, Lebendigkeit und Ausdruckskraft besitzt, verdankt sie einer unsichtbaren, geistigen Dynamik. Obwohl keine neuen Formen entstehen, ist die Natur nicht statisch. Bereits bei Plotin findet sich somit die Unterscheidung zwischen natura naturata und natura naturans, zwischen der sinnlich-sichtbaren Natur und der sich in ihr manifestierenden schöpferischen Dynamik, die noch die ‚Ethik‘ Spinozas bestimmen wird. Dass etwas erst durch eine formende Kraft zu einer organischen Einheit wird, verdeutlicht Plotin am Beispiel des künstlerischen Schaffens. Eine Idee, die sich in diesem Fall im Geist des Schaffenden befindet, dient als Leitbild für die Bearbeitung eines bestimmten Materials; nur ihr eignet die schöpferische Dynamik, durch die der Stoff so durchformt wird, dass eine kohärente Gestalt entsteht. Anders als eine mechanische Konstruktion, bei der die Bauelemente nach einem ihnen äußerlich bleibenden Plan zusammengefügt werden, gewinnt ein Kunstwerk seine Ausdruckskraft erst durch die Durchformung des Materials. Die Formen sind dem Stoff immanent, sodass sich der sinnliche Ausdruck nicht von der Idee trennen lässt, die ihn erzeugt. Dadurch verweist das Kunstwerk zurück auf den Künstler, der es geschaffen hat. In analoger Weise bilden auch in der Natur Geist und Materie, mechanisch wirkende Kräfte und geistige Formen eine Einheit. Das Geistige manifestiert sich in der sinnlichen Erscheinung, diese enthält immer ein Moment des Geistigen. Da jedoch die Idee, wie wir bei Platon gesehen haben, den Stoff nie vollständig durchdringen kann, hätte Plotin in der Verschleißanfälligkeit einiger Körperteile keine Widerlegung seiner Überzeugung gesehen, dass Organismen nicht durch zahllose zufällige Modifikationen entstehen. Da sie, so argumentieren auch Biologen wie Portmann, nur als Funktionsganzheit überlebensfähig sind, gehört das Problem der Gestaltentstehung zu den übergangenen Fragen der Evolutionstheorie. Wie moderne Biologen hat auch Plotin beobachtet, dass Lebewesen in unterschiedlichem Grad lebendig sind. Pflanzen, die nur vegetative Funktionen

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haben, durch die sie sich erhalten und reproduzieren, wirken weniger lebendig als Tiere, die sich frei im Raum bewegen und zu komplexen Verhaltensweisen fähig sind. Im Unterschied zur modernen Naturwissenschaft können für Plotin jedoch aus toter Materie nicht Leben und Geist entstehen. Tot ist gerade das, was keine Eigendynamik hat und sich deshalb weder selbst entfalten noch etwas anderes erzeugen kann. Nur Leben kann wieder Leben erzeugen. Und da die Stufenleiter des Seins aus einer einzigen Quelle stammt, haben alle Wesen, wenngleich in unterschiedlichen Graden, an ihrer Seinsfülle Anteil. In allen Seinsstufen sind Geist und Leben untrennbar verbunden, sodass Leben nie schlechthin irrational und Geist kein bloßes Begriffsvermögen ist, das die Dinge nur klassifiziert. Die Eigendynamik endlicher Entitäten ist immer schon bis zu einem gewissen Grad strukturiert und deshalb auch erkennbar. Um die Lebensformen einzuteilen, wählt Plotin, wie vor ihm Aristoteles, ein Merkmal, das sich auf ihre Innenwelt bezieht und nicht empirisch überprüfbar ist. Je bewusster ein Wesen ist, desto näher ist es am göttlichen Sein als vollendeter Bewusstheit. Dadurch beinhaltet die Hierarchie des Seins eine Wertung: Obwohl alle endlichen Wesen durch die Teilhabe an der schöpferischen Dynamik des Einen einen intrinsischen Wert haben, ist der Wert ihres Lebens umso höher, je größer Lebensintensität und Bewusstheit sind. Die Qualität des Lebens wird durch den Grad der Bewusstheit bestimmt, der auch festlegt, in welchem Ausmaß ein Wesen aktiv werden kann. Nicht nur das Sein, auch die mit ihm verbundene Bewusstheit und Lebendigkeit sind erstrebenswert, sodass das Eine nicht nur der Ursprung, sondern auch das Ziel aller Wesen ist: das höchste Gut. Jeder Organismus hat die Tendenz, die Möglichkeiten, die er in sich birgt, zu entfalten; er überdauert einige Zeit, um schließlich zu sterben und zu zerfallen. Aus einem Tannensamen wird sich eine ausgewachsene Tanne entwickeln, wenn die notwendigen äußeren Bedingungen wie Wasser und Licht vorhanden sind. Die befruchtete menschliche Eizelle wird unweigerlich zu einem Embryo, dann zum Säugling und Kind und schließlich zum erwachsenen Menschen. Bestimmend für die grundlegenden Eigenschaften einer Entität, für ihr Entwicklungsziel, ist die Form. Dadurch sind Organismen nicht vollständig durch die Umwelt determiniert, sondern können Einflüsse selbstständig verarbeiten. Die kausal wirkenden äußeren Faktoren bestimmen nicht, was ein Lebewesen ist, sondern sind lediglich für seine Entfaltung förderlich oder hinderlich. Entwicklungsstörungen sind daher ein Indiz für äußere Hemmungen und Beschädigungen. Um den Heilungsprozess zu unterstützen, muss die Eigendynamik angeregt und eine angemessene Umgebung bereitgestellt werden. Werden die Möglichkeiten, die in einem Wesen schlummern, vollständig verwirklicht, ist das Telos, das Lebensziel, erreicht. Der Tod kann daher kein Lebensziel sein; er ist lediglich unvermeidbar. Da die Lebenserfüllung für jedes Wesen in „dem seiner Anlage gemäßen Vollzug

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des Lebens“43 besteht, wäre es für Plotin verfehlt, das Leben auf den Kampf ums Überleben, auf Selbsterhaltung und Selbstbehauptung zu beschränken. Dennoch ändert sich durch die Differenzierung des Begriffs des Lebens das, was für unterschiedliche Arten erstrebenswert ist. Pflanzen haben ein anderes Lebensziel als Tiere und Menschen. Obwohl alle höheren Lebewesen viel mit den einfacheren gemeinsam haben, sollten sie sich an dem orientieren, was ihre höchsten Möglichkeiten sind. Wenn ein Wesen „Vielfalt in sich hat“, d. h. komplex ist, dann ist „sein Gutes die Betätigung seiner besten Kraft.“44 Obwohl die Menschen viele Bedürfnisse und Eigenschaften mit Tieren teilen, beruht ihr Lebensziel gerade auf dem, was sie von diesen unterscheidet: auf der Betätigung ihres Geistes. Das Streben, das eigene Potenzial zu entfalten, wird für Plotin bei allen Lebewesen durch das Streben nach „Glückseligkeit“45 motiviert. Doch was bedeutet Glückseligkeit? Ungeachtet aller Unterschiede besteht auch für nicht-menschliche Lebewesen die Lebenserfüllung darin, „ungehemmt ihrer Anlage gemäß ihr Leben darzuleben.“46 Die „Vollbringung des wesenseigenen Geschäftes“47 beinhaltet Wohlbefinden als Ausdruck der Übereinstimmung mit den eigenen Möglichkeiten. Nicht der Nutzen für menschliche Ziele, sondern ihr eigenes Sein bildet den Maßstab für ihre Lebensweise und den Umgang mit ihnen. Zumindest rudimentär sind alle Lebewesen affizierbar; sie haben eine Sensitivität für ihre Zuständlichkeit und damit für das, was förderlich oder schädlich ist. Doch erst bei komplexeren Lebensformen wird der eigene Zustand gefühlt und schließlich sogar bewusst wahrgenommen. Auch Pflanzen haben daher bereits die Tendenz, ihre Anlagen zu entfalten und Sensorien für den Unterschied zwischen Erfüllung und Mangel. Im Unterschied zu Aristoteles streben auch sie bereits nach Wohlbefinden. „Leben muß immer entweder erfüllt sein oder das Gegenteil, wie es denn auch bei den Pflanzen ein Wohlbefinden und ein Nicht-Wohlbefinden gibt, d. h. ein Fruchttragen und Nicht-Fruchttragen. Wenn also die Lust der Zielwert ist und in ihr die Lebenserfüllung besteht, so ist es ein Unding, den außermenschlichen Wesen die Lebenserfüllung abzusprechen.“48 Tiere, so hatte auch Aristoteles gelehrt, verfügen bereits über Sinneswahrnehmungen, sodass „einem Wesen seine eigene Affektion nicht verborgen ist.“49 Sie fühlen, was ihnen gut tut und was nicht. Da sich alle Lebewesen nur durch die Teilhabe am Sein selbst erhalten können, zielen auch sie in ihrem Streben nach der Entfaltung ihres Potenzials letztlich auf den Ursprung von allem. Plotins Überzeugung, dass Lebewesen ein intrinsisches Ziel haben, konvergiert mit modernen Forderungen nach einer artgerechten Tierhaltung und dem Schutz der Integrität von Pflanzen, dem sich die Schweizer Bundesverfassung verpflichtet hat. Nur wenn nicht-menschliche Kreaturen ihrer Art gemäß leben können, lässt sich vermeiden, dass sie unter der Behandlung von Menschen und für deren Ziele leiden.

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Doch obwohl die meisten antiken Denker davon ausgingen, dass die Natur insgesamt und damit auch alle Lebewesen einen Eigenwert haben, waren es nur wenige Autoren, die ausdrücklich zu einem behutsamen Umgang mit Tieren aufforderten. Einer von ihnen, der für die platonische Tradition maßgeblich wurde, ist Pythagoras. Man solle, so lehrte er, Tiere nur töten, wenn sie für Menschen gefährlich werden, denn Menschen und Tiere sind lebende Wesen. Daher, so die Begründung, „gleicht das Teilhaben der Lebewesen aneinander einer Verwandtschaft, sind doch diese durch die Gemeinschaft des Lebens, derselben Elemente und der aus diesen bestehenden Mischung gleichsam geschwisterlich mit uns verbunden.“50 Und wer tut schon einem Verwandten Unrecht und fügt ihm willentlich Schmerz und Leid zu? Bei der Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Tier fällt einem unwillkürlich auch die jüdisch-christliche Tradition ein, vor allem jenes viel Zitierte ‚Macht Euch die Erde untertan‘ des ersten Schöpfungsberichtes der ‚Genesis‘. Betrachtet man die Passage jedoch genauer, können damit unmöglich Willkür und Macht über die Mitwelt gemeint sein, heißt es doch schon einige Zeilen weiter: „Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“51 Im Garten Eden, so die Bibel, lebte der Mensch in unmittelbarer Gottesgegenwart und war im Einklang mit den Tieren, die zu ihm kamen, um benannt zu werden. Herr der Schöpfung ist er, weil nur ihm die Gabe der Gotteserkenntnis verliehen wurde, die ihn vor den anderen Lebewesen auszeichnet. Damit ist ihm, wie einem König, Macht verliehen, die immer zwiespältig ist: Die Macht eines weisen Herrschers ist mit einem hohen Maß an Verantwortung verbunden für das, was ihm anvertraut wurde; sie kann jedoch auch skrupellos zur Befriedigung eigener Interessen missbraucht werden. Da der Mensch im Bilde Gottes geschaffen ist, soll er, wie Gott, der im Bild eines fürsorglichen Königs erscheint, über die Erde herrschen. Noch im Noachidischen Bundesschluss, in dem, lange nach der Vertreibung aus dem Paradies, eine neue Weltordnung errichtet wurde, wird der Tiere ausdrücklich gedacht: Der Bund, so heißt es, wird geschlossen zwischen „Gott und allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde.“52 Obwohl als Zugeständnis an die menschliche Schwäche zur Nahrung nun auch Fleisch gehören kann, wird der Genuss von Blut, in dem nach antiker Vorstellung die Lebenskraft, die Seele, war, ausdrücklich untersagt. Erst wenn es vollständig entwichen ist, darf das nun entseelte Fleisch gegessen werden. Das tiefe Empfinden für die Verbundenheit aller lebenden Wesen ist auch für Einstein der Sinn des jüdischen Gebots, die Sabbatruhe auch Tieren zu gönnen: „Es ist charakteristisch, daß im Gebot der Heiligung des Sabbats auch die Tiere ausdrücklich eingeschlossen waren, so sehr fühlte man die Forderung der Solidarität des Lebenden als Ideal.“53 Man stelle sich vor, dass die Kühe unter den

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Bedingungen der intensiven Massentierhaltung wenigstens am Sonntag einmal ohne jeden Produktionsstress auf der Weide spazieren gehen, frisches Gras fressen und einfach nur Kuh sein dürfen! Im Unterschied zum jüdischen Glauben beruht der christliche auf der Überzeugung, dass der Messias bereits erschienen ist. Christen sollten sich deshalb nicht am gefallenen Zustand und den mit ihm verbundenen Zugeständnissen, sondern am Urzustand orientieren, bei dem die Aussöhnung mit der nichtmenschlichen Kreatur wieder erreicht wäre. Mit dieser Begründung lebten die frühen Wüstenväter und leben nach wie vor einige Orden vegetarisch. Die Rückkehr zum Urzustand, in dem die Tiere vertrauensvoll zu Adam kamen, wurde zum Lebensziel. „Nach dem Sündenfall und der Sündflut, als die paradiesische Harmonie zwischen Gott und Mensch und Mensch und Schöpfung dahin war, habe Gott zu Noah gesagt: ‚Furcht und Schrecken vor Euch soll sich auf alle Tiere der Erde legen, auf alle Vögel des Himmels, auf alles, was sich auf der Erde regt, und auf alle Fische des Meeres; euch sind sie übergeben. Alles Lebendige, das sich regt, soll euch zur Nahrung dienen. Alles übergebe ich euch wie die grünen Pflanzen.‘ (Genesis 9,2–3) Das deuteten die frühen Mönche als eine Art ‚Notstandsordnung‘ angesichts der Hartherzigkeit der Menschen und nahmen sich vor, lieber zur ‚paradiesischen‘ zurückzukehren und wieder in Harmonie mit den Tieren zu leben.“54 Für Plotin ist es ein Privileg des Menschen, dass er um das höchste Gut wissen und es bewusst anstreben oder sich von ihm ab- und dem Nichtsein zuwenden kann. Er allein kann mithilfe der Vernunft beurteilen, dass das Lustvolle etwas Werthaftes ist. Als Urteilsvermögen steht die Vernunft über den Gefühlen, die ihrerseits ranghöher sind als bloße Empfindungen und qualifizierte Perzeptionen. Für ein vernunftbestimmtes Wesen kann daher das Lebensziel nicht die sinnlich-vitale Lust, sondern nur die geistige Glückseligkeit sein. Hält sich der Mensch an das Sein, dann, so argumentierte bereits Parmenides, unterscheidet er sich von jenem ‚Haufen, dem Sein und Nichtsein als dasselbe gilt‘. Plotin spitzt die Frage, worauf die menschliche Identität beruht, noch weiter zu: Solange das Verhalten von äußeren Reizen bestimmt wird, ist es nur eine reflexhafte oder gewohnheitsmäßige Re-Aktion. Da es durch die Macht der äußeren Umstände ausgelöst wird, ist es genauso ziellos und wechselhaft wie diese. Es entspringt keiner inneren Spontaneität, es ist nicht selbst verursacht, sondern im Sinne der modernen Neurophysiologie kausal bedingt. Nicht der Mensch beherrscht die Dinge, sondern diese fesseln ihn. Dadurch wird nicht nur das Lebensziel verfehlt; auch die Dinge erscheinen im falschen Licht. Wie die tanzenden Schatten an der unebenen Höhlenwand in Platons ‚Höhlengleichnis‘ sind sie in ihren Proportionen und ihrer Bedeutung verzerrt.

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Aber sollte der Mensch tatsächlich nur ein Bündel von Eindrücken und Gewohnheiten sein, bestimmt durch Erziehung und soziale Umstände? So zutreffend diese Beschreibung in vielen Situationen sein mag, so wäre es für Plotin verfehlt, das Verhalten durch Reiz und Reaktion zu erklären oder es auf das Erfinden erfolgreicher Überlebensstrategien zu beschränken. Wir verwechseln die Ursache mit der Wirkung, wenn wir glauben, die äußeren Einflüsse würden genügen, um Motive und Ziele zu erklären. Wir gleichen jemandem, der dem eigenen Schatten nachläuft, ohne den Blick auf dessen Ursache zu lenken. „Wir, die wir nicht gewohnt sind, auf das Innere zu sehen, und es nicht kennen, jagen dem Äußeren nach und wissen nicht, daß das Innere bewegt; so wie denn einer, der sein eigenes Spiegelbild sieht, ihm nachjagte, weil er nicht weiß, woher es kommt.“55 Plotin kannte noch nicht das Experiment, mit dem man untersucht, ob Tiere Selbstbewusstsein haben: Man malt Tieren, die an einen Spiegel gewöhnt sind, einen Kreidefleck auf die Stirn, um zu testen, ob sie sich wiedererkennen oder ein fremdes Gegenüber wahrnehmen. Menschenaffen und vermutlich auch einige Rabenvögel wie Elstern erkennen die Veränderung im Spiegelbild, sie sehen nicht ein anderes Tier, sondern sich. Das Wissen um sich selbst, Selbstbewusstsein im ursprünglichen Sinne des Wortes, erwacht erst mit dieser ‚Umlenkung des Blicks‘56. Für Plotin ist daher das empirische Ich im Sinne Kants nur ein schattenhafter Ausdruck des inneren Menschen, des intelligiblen Ich, das die kausal nicht determinierte, unbedingte Ursache des Handelns ist. Doch obwohl der Prozess der Selbsterkenntnis nicht beim Sinnlich-Wahrnehmbaren stehen bleiben darf, beginnt er mit ihm. Allerdings ist nicht jede Form der Sinneswahrnehmung geeignet, um den menschlichen Geist vom Äußeren ins Innere zu lenken. Während nach der von Kierkegaard begründeten Existenzphilosophie nur schmerzhafte Erfahrungen wie Leid, Schuld und Tod den Menschen für ein transzendentes Sein öffnen können, thematisieren die antiken und mittelalterlichen Autoren auch die Erfahrung von Schönheit und Liebe. Die andere Gewichtung der Grenzerfahrungen hängt untrennbar mit dem Naturverständnis zusammen: Durch eine rein naturwissenschaftliche Erklärung physischer Prozesse gilt die Natur nicht mehr als Erscheinung des Geistigen, sodass der menschliche Geist in ihr nichts Verwandtes mehr findet, das einen Prozess der Überschreitung in ein transzendentes Sein anregen könnte. Nur durch Grenzerfahrungen, die den endlichen Geist aus allen weltlichen Bezügen herauslösen, ihn auf sich zurückwerfen, kann er aus der Befangenheit in sich befreit und über sich hinausgeführt werden. Plotin dagegen beginnt, wie Platon im ‚Symposion‘57 und ‚Phaidros‘, mit der sinnlich wahrnehmbaren Schönheit. Was, so fragt er in der Enneade ‚Über das Schöne‘, bezeichnen wir eigentlich als schön? Offensichtlich kann man von einem schönen Gesicht genauso sprechen wie von einer schönen Melodie, schö-

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nen Gedanken oder schönen Handlungen. Doch erst wenn man sich vom unmittelbaren Sinneseindruck löst, den der einzelne schöne Leib auslöst, so argumentierte Platon, und die Leiber verschiedener Menschen vergleicht, kann man etwas Gemeinsames erkennen. Dann wird nicht mehr der einzelne Leib geliebt, sondern die Schönheit in allen Leibern. Doch was verleiht ihnen ihre Schönheit? Der sinnliche Eindruck allein kann nicht entscheidend sein, sonst könnte man nicht ein äußerlich schönes Gesicht als leer und kalt, ein gealtertes, faltiges Gesicht dagegen als strahlend und gütig wahrnehmen. Der Leib, so schließt Plotin, ist nur schön, weil er belebt ist und einen seelisch-geistigen Ausdruck hat. Weniger das messbare Ebenmaß der Gesichtszüge als vielmehr die Kraft, die ihnen ihren Ausdruck verleiht, ist die Ursache der Schönheit. Er lässt sich aus physiologischen Prozessen nicht ableiten. Es ist genau umgekehrt: Nur durch den Geist erhält der Leib seine Ausdruckskraft; sie ist eine Manifestation der inneren Lebendigkeit. ‚Anima forma corporis‘, die Seele ist die formende Kraft des Leibes, hieß es noch im Mittelalter. Sieht man in der Sinnenwelt die Erscheinung seelisch-geistiger Kräfte, dann verliert sie ihren blendenden, verführerischen Schein. Während die Gestalt des Leibes von Geburt an mitgegeben ist und nur innerhalb enger Grenzen durch die Lebensführung beeinflusst werden kann, ist die Freiheit, die Lebenseinstellung, Gedanken und Werte und damit das Verhältnis zu den Mitmenschen zu formen, ungleich größer. Motive und Ziele, die das Leben des Einzelnen und, durch das Handeln, auch das der Gesellschaft bestimmen, die „Schönheit in den Seelen“58 und in den „Sitten“59 treten nun ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Erst in der Abwendung von der suggestiven Macht äußerer Reize, der Freiheit von ihnen und der Wendung nach innen, entsteht der Freiraum zu selbstbestimmtem Handeln. Ein Mensch dagegen, der zerstreut, zerfahren, zerrissen und gehetzt wirkt, ist nicht bei sich selbst. Er ist buchstäblich außer sich, sich selbst fremd, bestimmt durch äußere Einflüsse. Da ihm die innere Einheit fehlt, ist er für Plotin hässlich. „Ist es ja auch beim Menschen so: schön sind wir, wenn wir uns selbst gehören, häßlich, wenn wir uns in ein fremdes Sein begeben; und wenn wir uns selbst erkennen, sind wir schön, wenn wir uns selbst verkennen, häßlich.“60 Das individuelle und gesellschaftliche Leben ist wiederum eingebettet in die Ordnung des Kosmos, die von den Wissenschaften, von Physik, Astronomie und Mathematik, erforscht wird. Auch die Ordnung der Natur, so hatten wir bereits gesehen, beruht auf der schöpferischen Dynamik, durch die eine Vielzahl in sich geeinter Entitäten entsteht. Damit ist ein entscheidender Grundzug von Schönheit entwickelt: Sie ist kein einmal erreichter Zustand, und sie beruht nicht auf dem Sinnlich-Sichtbaren, sondern auf dem unablässigen Prozess, in dem sich die innere Lebendigkeit zum Ausdruck bringt. Hässlich ist für Plotin dagegen in allen Seinsbereichen das Ungestaltete, Unbestimmte, Formlose, das keine Proportionen, Struktur

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und Grenzen hat und deshalb in keinem Verhältnis zu anderen Seienden steht. In seiner Unbestimmtheit ist es nahezu unerkennbar und nähert sich dem Nicht-Sein. Seiend-sein, gut-sein und schön-sein gehören genauso zusammen wie nicht-sein, schlecht- und hässlich-sein. „Alles Formlose ist bestimmt Form und Gestalt anzunehmen; solange es daher keinen Teil hat an rationaler Form und Gestalt, ist es häßlich und ausgeschlossen von der göttlichen Formkraft; das ist das schlechthin Häßliche.“61 Der Gedanke an das gänzlich Ungestaltete löste für Plotin einen schmerzhaft empfundenen Schauder aus. „Die Seele leidet unter der Unbestimmtheit.“62 Die Erfahrung von Schönheit hat daher eine subjektive und eine objektive Komponente. Sie beruht auf einer vom Beobachter unabhängigen Seinsgestalt, die jedoch nur von demjenigen erfasst werden kann, der nicht von oberflächlichen Reizen geblendet wird. Ein Blindgeborener, so Plotin, wird die Freuden der sinnlichen Wahrnehmung ebenso wenig erfassen, wie jemand die Freuden der Erkenntnis erleben kann, dessen Blick für seelische Qualitäten oder für die Wissenschaften verschlossen ist. Aus der Affinität zwischen Erkennendem und Erkanntem erwächst die eigentümliche Funktion des Schönen: Anders als in der Evolutionstheorie dient es nicht dem Überleben und der Anpassung an die Umwelt. Im Gegenteil: Es soll den Menschen über das Streben nach Selbsterhaltung, die er mit den Tieren gemeinsam hat, hinausführen, Selbstbezogenheit und Verschlossenheit in die eigenen Sorgen, Ansichten und Wünsche durchbrechen. Das Ich ist wie ein Brennpunkt zwischen zwei Bereichen, die normalerweise unbewusst sind: dem, was sich nach unten erstreckt, den Trieben, den einfachen vegetativen Funktionen des Körpers und den materiellen Prozessen; und dem, was sich nach oben erstreckt, dem reinen Geist und dem göttlichen Urgrund. Durch die Erscheinung des Geistigen im Sinnlichen wird der aufmerksame Betrachter an etwas erinnert, das im Getriebe des Alltags verschüttet bleibt. Nicht Schmerz und Leid, sondern die Sehnsucht, in immer höherem Maße an der formenden, schöpferischen Kraft Anteil zu gewinnen, führt über die Bedingtheiten des Alltags hinaus. Die Kraft, die die Seele buchstäblich beflügelt, ist Eros, die Liebe. Es ist das Lebendige im Schönen, das es liebenswert macht. Die Intensität der Liebe wächst in dem Maß, indem durch die sinnliche Erscheinung des schönen Leibes, der Natur oder eines Kunstwerkes hindurch das wahrgenommen wird, was ihnen Form und Ausdruck verleiht. Ihre höchste Intensität gewinnt die Liebe, wenn sie sich auf die Quelle allen Seins richtet. Das Eine, so schreibt Plotin, ist „Gegenstand höchster Befriedigung und das Ziel heftigster Sehnsucht.“63 Die Dynamik sich steigernder Bewusstheit, die mit der Begeisterung für die sinnliche Schönheit begonnen hat, mündet in die Sphäre der Transzendenz. Eros, die Liebe, verbindet die sinnliche und die geistige Welt miteinander. Sie ist, als Gabe des Göttlichen, immer auch Liebe zu ihm.

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Die an die Sinne gebundene Form der Erkenntnis wird ebenso wie das begriffliche Denken durch die noetische, intuitive Erkenntnis überschritten. Nicht durch rationale Argumentation, sondern durch eine spezifische Form der Erfahrung, die ‚cognitio Dei experimentalis‘, wird das Eine als Grund der eigenen Existenz und des Kosmos erkannt. Nur wenn der Mensch mit sich eins ist, kann er das Eine in einem zeitlosen Augenblick erfassen. In der mystischen Einung berührt „der Mittelpunkt des Menschen momenthaft den Mittelpunkt des Alls.“64 Die Kontemplation des göttlichen Ursprungs fordert daher für Plotin mehr seelische Kraft als das Handeln, als Technik und Kunst. Doch trotz aller methodisch geleiteten Erkenntnisbemühungen bleibt die Erkenntnis der Seinswahrheit unverfügbar. Sie zeigt sich dem Menschen ‚plötzlich‘65. Niemand kann jedoch ununterbrochen in der Kontemplation verharren. Lässt die innere Sammlung nach, dann sinkt die Seele wieder ins Alltagsbewusstsein herab. Dennoch führt die Erkenntnis des Seinsgrundes zu einer anderen Beurteilung von Ereignissen und dadurch auch zu einem anderen Verhalten. Der Weg zur Wahrheit ist kein rein kognitiver Prozess; er verändert den Strebenden existenziell. Im Mittelalter entstand eine Kunstform, der das neuplatonische Verständnis der Natur zugrunde liegt: die gotische Kathedrale. Ihr Konstruktionsprinzip lässt sich in zwei knappen Formeln zusammenfassen: ‚Kunst ist Wissenschaft‘ und: ‚Kunst ist Nachahmung der Natur‘.66 In der Schule von Chartres, die um 990 von Fulbert von Chartres gegründet wurde, wurden der platonische ‚Timaios‘ und der Spruch aus Sapientia 11.21: ‚Alles ist geordnet nach Maß, Zahl und Gewicht‘ miteinander verbunden und die Ordnung des Kosmos auf Zahlenverhältnisse zurückgeführt. Gott selbst war der Architekt, der das Weltgebäude mühelos und in voller Kenntnis der mathematischen Gesetze in seiner ganzen Schönheit geschaffen hatte. Sollten die Kathedralen, die als Darstellung der kosmischen Ordnung angesehen wurden, stabil sein, dann konnte sich auch der Architekt dem Gesetz der Proportion nicht entziehen. Die Zahlen waren daher keine bloß äußerlichen Maße, sondern entscheidend für die Struktur des Ganzen. Die Form erweist sich, wie Plotin sagte, als die Kraft, die die verschiedenen Elemente verbindet. „Der Grundriß von Chartres“, so formuliert Simson, „zeigt den kompakten Zusammenhang eines Organismus; er ist eine Einheit, die durch die kleinste Detailveränderung zerrissen würde.“67 Die Proportionen der Kathedrale verstand man nicht als realistische Kopie der sinnlich-sichtbaren Wirklichkeit, sondern als schöpferische Nachbildung ihrer intelligiblen, geistigen Strukturen. Die Idee, die sich im Geist des Künstlers fand, galt als Spiegel der Ideen, die sich im Geist Gottes, in ‚mente divina‘, befanden. Kunst verstand sich als Darstellung der gestaltenden Kräfte, die der Künstler in der Natur vorfand. Dadurch hat das subjektive Empfinden von Schönheit eine objektive Grundlage in der Struktur des Kunstwerkes und seines Vorbildes, des Kosmos.

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Gerade als Wissenschaft war die Kunst ‚Nachahmung der Natur‘. Als Abbild der Natur, die von Gott geschaffen war, lenkte die Kathedrale den Blick des Betrachters zurück auf den göttlichen Ursprung. Naturphilosophie und Naturforschung hatten in der Antike demnach drei Funktionen: Als Wissen um regelmäßige Abläufe in der Natur wurde sie zur Grundlage technischer Konstruktionen. Da die Naturforschung jedoch noch nicht an systematische Experimente gebunden war, konnte sie neben empirischen Beobachtungen auch die nur einer kontemplativen Einstellung sich zeigenden schöpferischen Dimensionen einbeziehen. Schließlich vollzog sich durch die Naturforschung auch die Herausbildung einer ethischen Haltung: Die Betrachtung der Natur erweckte das Bewusstsein für eine Ordnung, die alles überschreitet, was Menschen selbst herstellen können und sich ihrer Verfügung entzieht. Indem sie ihre eigene Lebenszeit, Wünsche und Ziele in einen größeren zeitlichen Rahmen einordnen, entstehen ethische Haltungen wie Demut, Freigebigkeit, Selbstgenügsamkeit, Bescheidenheit und Gerechtigkeitssinn. Durch die Allgegenwart des Geistes wurde die Natur außerdem zum Anstoß für die Hinwendung zum göttlichen Ursprung. Unter dieser Perspektive konnten materieller Wohlstand und Technik nur begrenzte Hilfsmittel sein, die den nötigen Freiraum schufen, um sich auf die wesentlichen Dinge des Lebens zu konzentrieren. Etwa um 540 n. Chr. schrieb der Neuplatoniker Simplikios in einem Kommentar zu Aristoteles ‚Physik‘: „Kommt man nicht so durch die Naturwissenschaft zu der kühnen Erkenntnis, daß wir als lebende Wesen ein unmerklicher Teil des Universums sind, und daß die Spanne unseres Lebens nichts ist verglichen mit der Dauer des Universums, und daß alles Erschaffene notwendig in Vernichtung enden muß, die eine Auflösung ist in die Elemente und eine Rückkehr der Teile in ihre Ganzheiten, eine Verjüngung des Gealterten und eine Wiederherstellung des Verbrauchten? Es ist offenkundig, daß die Naturwissenschaft es vermag, Verstehen zu erzeugen, das viel Verwandtes mit dem intuitiven Erkenntnisvermögen der Seele aufweist. Sie macht die Menschen großmütig und nobel. Sie macht die Menschen frei, weil sie sie dazu bringt, sich mit Wenigem zu begnügen, mit anderen gern zu teilen, was sie besitzen und nicht auf die Gaben anderer angewiesen zu sein. Ihr höchstes Gut aber ist, daß sie der beste Weg ist zur Erkenntnis des spirituellen Seins und zur Betrachtung der göttlichen Formen, wie auch PLATON uns zeigt und ARISTOTELES.“68

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3 Hildegard von Bingen: ‚. . . denn er könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären‘ 3.1 Die Struktur der Welt Vermutlich werden sich einige Leser fragen, warum ausgerechnet Hildegard von Bingen für die Darstellung der mittelalterlichen Naturphilosophie ausgewählt wurde. Zwei Gründe waren leitend: Hildegard hat in einer für Antike und Mittelalter beispielhaften Weise die dynamische Vernetzung der Lebensformen und die Verantwortung für sie dargestellt und damit eine Art Ökotheologie entwickelt; dadurch bietet sich die Möglichkeit, bei der Darstellung unterschiedlicher Konzeptionen der Natur auch die Stimme einer Frau zu berücksichtigen. Wie Plotin argumentiert auch Hildegard, dass es einen Grund dafür geben muss, dass es das Universum als in sich strukturiertes Ganzes, die Materie, die sie bestimmenden Gesetze und die Vielfalt an Lebensformen überhaupt gibt. Von Gott, der, wie es im ersten Schöpfungsbericht und im Prolog des Johannes-Evangeliums heißt, ‚im Anfang‘ ist, geht jedes zeitliche Beginnen aus. Alle endlichen Entitäten sind in ihrer Eigenstruktur und ihrem Verhältnis zueinander zeitlos im „Vorherwissen“69 Gottes gedacht. Sie sind nicht gleichewig mit ihm, sondern werden durch das schöpferische Wort, das ohne jeden Anfang vor dem Beginn der Schöpfung in Gott ist, ins Sein gerufen. Anders als das raumgebundene Wort der menschlichen Rede ist es „raumlos“70 und, da es schon vor dem Beginn der Welt war, zeitlos und immateriell. Es entfaltet sich nicht sukzessive wie die menschliche Rede und spricht nicht über einen Gegenstand, der von ihm unterschieden ist. Als reine, schöpferische Dynamik ist das Sein des göttlichen Wortes identisch mit seinem Wirken. So schuf Gott im „Tönen des Wortes“71 die ganze Welt. Durch seine dreifaltige Struktur thront Gott nicht wie ein unbewegter Beweger teilnahmslos über der Welt. Der Vater erzeugt den Sohn, und aus beiden geht der Heilige Geist hervor. Während Gott Vater den Kosmos überschreitet und der Heilige Geist ihn mit dem Sohn verbindet, umgreifen dessen Arme den Kosmos bergend und schützend. Der Kosmos, in dessen Mitte der Mensch steht, gleicht einem Organ Gottes; er ist sein Leib. Wenn, so kann man argumentieren, das Unendliche dem Endlichen ontologisch vorangeht, dann kann dieses nur entstehen, indem das Unendliche ihm in sich selbst Raum gibt. Außerhalb des kugelförmigen, endlichen Kosmos ist kein unermesslich weiter, leerer Raum, ‚denn‘, so wird Spinoza sagen, ‚alles, was ist, ist in Gott‘. Die schöpferische Dynamik, durch die die Welt ins Sein tritt, ist weder kausal bedingt noch mathematisch darstellbar noch wirkt das Entstandene auf Gott zurück. Sie kann sich frei verschenken, kann geben, ohne auf eine Gegengabe angewiesen zu sein. Gott wirkt nicht im Sinne eines Handwerkers, der etwas ge-

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staltet, das ihm selbst äußerlich bleibt. Während die Gottheit die Welt überschreitet, ist das göttliche Wort allem Seienden als Leben spendende Kraft immanent. „Als nun das WORT Gottes erklang, da erschien dieses WORT in jeder Kreatur, und dieser Laut war das Leben in jedem Geschöpf.“72 Da das Wirken Gottes keines äußeren Anstoßes bedarf, ist er in seiner vollendeten Bewusstheit im höchsten Sinne lebendig. Alle endlichen Wesen sind dagegen nur lebendig, weil ihnen ein Funken der göttlichen Lebendigkeit innewohnt, und sie sind es in dem Maße, in dem sie das göttliche Sein aufgrund ihrer Beschaffenheit aufnehmen können. Auf diese Weise ist die Welt zugleich umfangen und durchdrungen von der schöpferischen Macht Gottes, sodass keine Kreatur völlig geistlos ist. Der Lebensprozess lässt sich daher nicht auf physiologische Funktionen reduzieren, und er dient nicht nur der biologischen Selbsterhaltung. Kein Lebewesen ist nur Produkt der Umstände; jedes hat zumindest bis zu einem gewissen Grad die Fähigkeit, sich aus eigenem Antrieb und gemäß seiner Eigenart zu entwickeln. Jeder Versuch, die Welt rein empirisch zu erklären, muss daher scheitern. Das Vorherwissen Gottes legt allerdings nicht fest, wie die einzelnen Lebewesen ihr Sein unter konkreten historischen Umständen vollziehen. Bestimmt ist nur, was etwas von seinen Möglichkeiten her sein könnte. Mit seinem Ursprung ist ihm daher auch ein Ziel gesetzt, das es erreichen kann und soll. Obwohl die Welt von ihren Möglichkeiten her vollkommen ist, ist der Weltprozess selbst nicht abgeschlossen. Es entstehen allerdings keine neuen Arten; alle Kreaturen existieren gleichzeitig. Vor dem Hintergrund des ptolemäischen Weltbildes erscheint das All als ein Gebilde übereinander gelagerter Kreise, das Hildegard in ‚Scivias‘ mit einem Ei und in ‚De operatione Dei‘ mit einem Rad vergleicht. Auf die im Zentrum des Kosmos ruhende Erde folgt ein Luftkreis, die Atmosphäre, dann eine wässrige Luftzone, die umgeben ist vom sternenübersäten Äther, der wiederum von einem Feuerkreis als äußerstem Rand des Kosmos umschlossen wird. Das Rad symbolisiert die kreisförmig geschlossene Dynamik des Kosmos, die in ihrer Endlosigkeit ein Abbild des Ewigen ist, das alle Zeiten zeitlos in sich schließt. Doch, so Hildegard, weder das Ei noch das Rad stellen die wirkliche Gestalt der Welt dar, denn diese ist rundum heil, rund und kreisend. Die Visionen Hildegards dürfen daher weder unmittelbar wörtlich genommen noch als bloße Phantasiegebilde betrachtet werden. Es handelt sich um Gleichnisse, die eingebettet in die mittelalterliche Symbolik einen bestimmten Sinn vermitteln. Jedes Bild setzt sich aus einem Mosaik von Bedeutungen zusammen. Verändert sich der Kontext durch die Veränderung eines Details, dann ändert sich mit dem Sinn des Ganzen auch der der anderen Elemente.73 Das All wurde mit Sternen erleuchtet und mit einer Vielfalt unterschiedlicher Geschöpfe erfüllt; es wurde mit Winden verstärkt, die die Weltkräfte sym-

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bolisieren und es im Gleichgewicht halten. Mit dem Wehen der Winde beginnt das Weltenrad sich zu drehen und erzeugt mit der Zeit Entwicklung und Verfall. Der unaufhörliche Wechsel von Wachsen und Vergehen, Blühen und Verwelken, Schlafen und Wachen, Geburt und Tod wird zum Sinnbild für die Rhythmik der Jahreszeiten und der Lebensalter. Da das Ende immer wieder in den Anfang der Bewegung mündet, erfolgen alle zeitlich begrenzten Prozesse in einer kreisförmig-zyklischen Bewegung, die die sich ständig erneuernde Kraft der Natur symbolisiert. Da Gott als seinsverleihende Macht das höchste Gut ist, ist auch alles, was von ihm ausgeht, gut; es hat einen Eigenwert. Er ist unabhängig von menschlichen Interessen und kann nur anerkannt und respektiert werden, sodass dem menschlichen Gestaltungswillen Grenzen gesetzt sind. Alle Lebewesen sollen sich entfalten. „Ein jedes Tier sollte seine Art in sich tragen.“74 Es genügt jedoch nicht, nur einzelne Individuen zu schützen, weil sie, modern gesprochen, leidensfähig sind oder zu den bedrohten Arten gehören. Jedes Lebewesen benötigt ein seiner Lebensart entsprechendes Umfeld; nur in ihm kann es sich entwickeln. „Gott schuf Himmel und Erde. Zwischen diesen beiden hat Er die übrigen Geschöpfe gesetzt, so wie es für jede Kreatur notwendig war.“75 Der Kosmos besteht daher nicht aus einem Nebeneinander für sich bestehender Substanzen; Pflanzen, Tiere und Menschen können nur existieren, weil sie mit Kreaturen in Verbindung stehen, die andere Eigenschaften haben. Wie bei Platon gleicht der Kosmos einem Organismus, dessen komplexe Einheit sich aus dem dynamischen Zusammenspiel aller Wesen bildet. „So ist jedes Geschöpf mit einem anderen verbunden, und jedes Wesen wird durch ein anderes gehalten.“76 Die wechselseitige Angewiesenheit geht einher mit einer Differenzierung in unterschiedliche Fähigkeiten. Gott „hat jedes Ding weise vorherbestimmt und ihm im Weltall seinen Platz angewiesen, indem Er kraft Seiner Weisheit die einzelnen Wesen voneinander unterschied.“77 Durch seine Tätigkeit hat jedes Lebewesen eine spezifische Funktion für das Ganze; sein Wesen bestimmt sich aus seinem Wirken im Zusammenspiel mit allen anderen, von ihm unterschiedenen Kreaturen. Vielfalt, nicht Gleichförmigkeit ist die Grundlage des Lebens. Indem sich ein Lebewesen in seiner Besonderheit in das Netz des Lebens einfügt, wächst es über sich hinaus. „Gott hat alle Dinge der Welt so eingerichtet, dass eins auf das andre Rücksicht nehme. Je mehr einer vom anderen lernt, wo er von sich aus nichts weiß, um so mehr wächst doch in ihm das Wissen.“78 Die Natur ist nicht primär durch Konkurrenz, sondern durch Kooperation und Abstimmung der Lebewesen aufeinander bestimmt. Die Welt ist eine Ordnung, in der alles miteinander kommuniziert und einander Antwort gibt. „Die Kräuter bieten einander den Duft ihrer Blüten; ein Stein strahlt sei-

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nen Glanz auf die andern, und jedwede Kreatur hat einen Urtrieb nach liebender Umarmung.“79 3.2 Der Mensch als Mikrokosmos Inmitten des von der Gottheit umfassten Kosmos steht der Mensch mit erhobenem Haupt und in Kreuzesform ausgespannten Armen und Beinen. Er ist ein Teil des Kosmos, der wiederum in Gott gegründet und ein geistdurchwirktes, sinnvolles Ganzes ist. „Mitten im Weltenbau steht der Mensch. Denn er ist bedeutender als alle übrigen Geschöpfe, die abhängig von jener Weltstruktur bleiben. An Statur ist er zwar klein, an Kraft seiner Seele jedoch gewaltig. Sein Haupt nach aufwärts gerichtet, die Füße auf festem Grund, vermag er sowohl die oberen als auch die unteren Dinge in Bewegung zu versetzen. Was er mit seinem Werk in rechter oder linker Hand bewirkt, das durchdringt das All, weil er in der Kraft seines inneren Menschen die Möglichkeit hat, solches ins Werk zu setzen. Wie nämlich der Leib des Menschen das Herz an Größe übertrifft, so sind auch die Kräfte der Seele gewaltiger als die des Körpers, und wie das Herz des Menschen im Körper verborgen ruht, so ist auch der Körper von den Kräften der Seele umgeben, da diese sich über den gesamten Erdkreis hin erstrecken.“80 Die Welt sollte dem Menschen eine „Wohnstatt“81 sein, in der er sich heimisch und geborgen fühlen kann. Dass er mit seinen Gliedern alle Sphären durchdringt, ist nicht im Sinne räumlich-körperlicher Ausdehnung gemeint. Als Mikrokosmos entspricht er in seiner leib-geistigen Struktur dem Makrokosmos. Wie in einem Brennpunkt konzentriert er alle Weltbezüge in sich: Er hat teil an den anorganischen Stoffen durch den Aufbau seines Leibes; wie Pflanzen hat er das Vermögen zu wachsen und sich zu vermehren, und er hat vitale Bedürfnisse und Gefühle wie Tiere. Darüber hinaus ist er jedoch mit Vernunft begabt, sodass er über sich und die Welt nachdenken, sein Handeln bewusst lenken und sich Gott zuwenden kann. „Gott (hat) die gesamte Schöpfung im Menschen gezeichnet. In sein Inneres aber legte Er die Ähnlichkeit mit dem Engel-Geist, und das ist die Seele.“82 Im Unterschied zu den reinen Geistwesen lebt der Mensch aufgrund seiner Leiblichkeit inmitten des Kosmos und untersteht damit auch den physischen Kräften; doch anders als Pflanzen und Tiere ist er durch seinen Geist nicht auf seine Kreatürlichkeit beschränkt. Die Vernunft dient nicht nur dem Überleben und dem möglichst effizienten Lösen alltäglicher Probleme; sie öffnet ihn zur Transzendenz. Der Mensch hat eine „doppelte Natur“83, er ist, wie man in freier Abwandlung Kants sagen kann, ein Bürger zweier Welten. Eine Sonderstellung hat er nur dadurch, dass er alle Elemente des Kosmos in sich trägt und so Sinnes- und Geisteswelt, Zeit und Ewigkeit, Himmel und Erde in sich verbindet. Als Mikrokosmos ist er nicht nur im Bilde Gottes geschaffen, sondern auch im

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Bild der Welt. Diese gewinnt nur durch ihn ein Zentrum, das die verschiedenen Lebensbereiche vereint. Der räumlichen Mittelpunktstellung auf der im Zentrum des Kosmos ruhenden Erde entspricht die geistige als Mikrokosmos. Mensch und Welt sind demnach in dreifacher Weise verbunden: Der Kosmos wäre ohne den Menschen unvollständig; der Mensch wiederum kann sich nur aus der Beziehung zum Makrokosmos verstehen, durch seinen Geist schließlich weiß er um den gemeinsamen Seinsgrund. Als leib-geistige Einheit braucht er den Makrokosmos zur Erhaltung seines physischen und psychischen Gleichgewichts. Sein Leben hängt nicht nur von den Elementen, sondern auch von der Vielzahl anderer Kreaturen ab. „Denn er könnte kein Mensch sein, wenn die übrigen Geschöpfe nicht da wären.“84 Seine psycho-physische Identität, sein leibliches Wohlbefinden und seine geistige Kraft, beruhen auf einer gelingenden Beziehung zu den Mitgeschöpfen, sodass er sie nicht ausbeuten oder gar vernichten, sondern mit ihnen zusammenwirken sollte. Als leibgebundenes Wesen muss er handeln, sodass er nur als wirkend gedacht werden kann: Er ist homo operans. Die Lebensumstände sind nicht einfach hinzunehmen, sondern durch bewusste Entscheidungen zu formen. Homo operans ist der Mensch daher nicht, weil er gelegentlich tätig ist; zu wirken ist ihm wesentlich, es ist Ausdruck seiner Lebendigkeit. So wie Gott die Welt schuf, so soll der Mensch sein eigenes Leben bewusst gestalten. Verliert er diese Fähigkeit, dann ist zwar sein Körper noch lebendig, geistig jedoch ist er tot. Die Kraft, das Handeln zumindest bis zu einem gewissen Grad selbst zu verursachen, selbstbestimmt und eigenverantwortlich tätig zu sein, kann der Mensch freilich nicht aus sich heraus erzeugen. Umgekehrt formuliert: Wäre er wirklich autonom und könnte sein Leben selbst begründen, wäre er nicht sterblich. Die Fähigkeit zum schöpferischen Wirken verdankt er der Teilhabe an der schöpferischen Kraft Gottes, die in ihm wirksam ist. „Gott ist es, der Seinem Werk auch Leben geben kann, weil Er selbst Leben ohne Lebensanfang ist.“85 Im Bilde Gottes geschaffen zu sein bedeutet, eine innere Freiheit von kausal wirkenden Ursachen zu haben. Sie zeigt sich in allen Formen bewusster Lebensführung, in kulturschöpferischen Leistungen ebenso wie in ethischen Akten, in der Freiheit, jemandem etwas zu versprechen oder ihm zu verzeihen. Doch auch als Kultur schaffendes Wesen kann der Mensch nur inmitten der Natur handeln. Deshalb braucht er sie nicht nur zur biologischen Selbsterhaltung, sondern auch für sein geistiges Werk, sein Opus. Nur aus der Beziehung zum Weltganzen kann er sein seelisch-geistiges Potenzial entfalten. Die Einbettung in das kosmische Gefüge gehört daher nicht beiläufig, sondern wesentlich zu seiner Identität. Der Mensch ist jedoch noch nicht Mensch im vollen Sinne des Wortes; er kann und soll es erst werden. Um die Frage zu beantworten, was er ist, genügt es daher nicht zu beschreiben, wie sich eine große Zahl von Menschen gewöhn-

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lich, statistisch gesehen, verhält. Der Mensch wird an dem gemessen, was er sein könnte, wenn er sein Potenzial ausschöpfen würde. Die Deskription des Verhaltens muss daher durch einen normativen Anspruch ergänzt werden. Mit der Schöpfung der Welt ist ihm ein Ziel gesetzt, das er verwirklichen soll. Auch die Schöpfung hat ihre endgültige Gestalt noch nicht erreicht, sodass der Mensch dazu berufen ist, auch an ihrem Entfaltungsprozess mitzuwirken. Indem er sich in seinen Tätigkeiten verwirklicht, trägt er dazu bei, dass sich die ganze Schöpfung auf ihren Schöpfer zubewegt. Die Welt, wie wir sie kennen, kann daher nur der Weg, nicht das Ziel sein. Dennoch beinhaltet die Rückwendung zum Ursprung keine Weltverachtung, sondern eine sich vertiefende Beziehung zu allen Kreaturen. Das Verhältnis von Mensch und Natur ist also keineswegs einseitig. Es ist nicht nur der Mensch, der die Natur braucht; auch diese ist auf ihn angewiesen, damit sich die in ihr schlummernden Möglichkeiten entfalten. Auch die Inkarnation war für Hildegard kein reiner Gnadenerweis als Folge des Sündenfalls, sondern von Anbeginn im Plan der Schöpfung angelegt. Nur durch sie ist dessen Vollendung möglich. Eine wechselseitige Beziehung von Mensch und Natur ist nur möglich, weil der Mensch als Mikrokosmos strukturell alle Geschöpfe in sich trägt. Gemäß dem Grundsatz, dass nur das Ähnliche das Ähnliche erkennen kann, kann er auf allen Ebenen mit ihnen in eine Beziehung treten. Er partizipiert durch seinen Leib, seine Gefühle und seine Vernunft an der Natur, die ihrerseits von Geist durchdrungen ist. Dadurch ist das Verständnis des Menschen, die Anthropologie, ein Schlüssel für das Verständnis des Kosmos und umgekehrt. Im Unterschied zu natur- und kulturwissenschaftlichen Theorien, die entweder nur die Natur oder die Kultur thematisieren, denkt Hildegard das Ganze des Kosmos; das Weltenrad umschließt Natur und Kultur. Der Kosmos ist ein Gefüge dynamisch aufeinander einwirkender Kräfte, die sich gegenseitig steuern, verstärken und bremsen. Die diese Dynamik bestimmenden Winde werden zwar allegorisch als Tierköpfe dargestellt, doch sie „haben keineswegs die genannten Gestalten, sie gleichen nur in ihren Kräften der Natur der angeführten Tiere.“86 Mit dieser Charakterisierung erfüllt Hildegard die Kriterien, die Cassirer als kennzeichnend für den Übergang vom Mythos zur Religion herausarbeitet.87 Während im mythischen Weltbild die Kräfte mit Tieren identifiziert werden, verwandeln sie sich im Übergang zur Religion in Symbole. Wie im Mythos sind zwar auch bei Hildegard die Himmelsrichtungen keine rein geometrischen Orte in einem homogenen Raum, sondern qualitativ bestimmt; doch die Qualitäten haften nicht den Himmelsrichtungen selbst an, sondern sind nur der sinnlich-sichtbare Verweis auf bestimmte Eigenschaften. Wie im Mythos hat die Natur einen physiognomischen Charakter; sie ist voller Zeichen, die untereinander ein Netz von Verweisungen bilden. Durch ihre Be-

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deutung sprechen sie den Menschen an und vermitteln ihm eine Orientierung für sein Handeln, über Heil und Unheil. Im Unterschied zum Mythos werden sie jedoch nicht durch das Wirken dämonischer Mächte erklärt, sondern repräsentieren sittliche Qualitäten, freundliche wie feindliche. Auf diese Weise wird das Sinnliche zu einem Gleichnis für die geistige Welt, die ihrerseits dem Sinnlichen eine Bedeutung verleiht. Alle Kräfte haben zwei Seiten: Sie können für eine Entscheidung hilfreich sein, − oder eine Gefährdung beinhalten; sie können beflügeln, − oder Kampf und Bedrohung bedeuten. Die Ablösung von einer mythischen Welterklärung spiegelt sich auch in einer grundlegenden Veränderung des menschlichen Selbstverständnisses: Die Menschen sehen sich nicht mehr als Spielball göttlicher Mächte wie die Helden in Homers ‚Ilias‘. Sie stehen zwar, wie diese, inmitten eines komplexen Gefüges von natürlichen und sozialen Kräften, doch sie verstehen sich als eigenverantwortliche Individuen, die über Gut und Böse entscheiden müssen. Sie müssen sich in dem Gefüge aufeinander verweisender Bedeutungen selbst orientieren. Das Menschenbild von Hildegard ist daher keineswegs nur an Vernunft und rationaler Einsicht ausgerichtet. In ein ethisches Leben müssen auch die Emotionen einbezogen werden, die das Handeln motivieren und ihm Kraft verleihen. Nur wenn sie in der richtigen Weise zusammenwirken, kann ein Mensch tugendhaft handeln. Er antwortet durch seine Entscheidung auf die auf ihn zukommenden Anforderungen und wirkt seinerseits auf das Kräftespiel der Umgebung ein. Die Ordnung des Kosmos wird daher nicht nur durch physische Kräfte, sondern auch durch die menschlichen „Tugendkräfte“88 aufrechterhalten. Umgekehrt beinhaltet die Zerstörung der Weltkräfte die körperliche und seelische Selbstzerstörung des Menschen. Auch durch die zeitliche Rhythmik der Natur ist der Mensch in den Makrokosmos eingebettet. Wie in Platons ‚Timaios‘ ist auch bei Hildegard die Zeit am Modell des Lebens ausgerichtet. Ohne die Errungenschaften der modernen Technik, ohne elektrisches Licht und durchgehend beheizte Räume, vollzogen sich alle Werke der Kultur, Säen und Ernten, das Bauen eines Hauses, die Schmiedekunst und das künstlerische Schaffen inmitten der von der Natur vorgegebenen Rhythmik, die nur von der sakralen Ordnung der Zeit, den Festtagen, durchbrochen wurde, die den Menschen eine Auszeit vom Joch der Arbeit gewährten und sie an die Zeitlosigkeit Gottes erinnerten. So wie die Lebenszeit durch den Wechsel verschiedener Phasen mit je besonderen Aufgaben strukturiert ist, gliedert sich auch das Jahr in die einzelnen Jahreszeiten mit unterschiedlichen Qualitäten, die den Menschen ihre Aufgaben vorgeben. Erfolgreich können nur die Handlungen sein, die auf die Anforderungen der Natur abgestimmt sind, sodass nicht alles zu jeder Zeit möglich ist. Die zyklisch bestimmte Lebenszeit ist wiederum eingebettet in den Gang der Heilsgeschichte.

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Den Menschen als homo operans zu bestimmen bedeutet, ihn als Einheit aus Leib und Seele zu denken. Beide Momente unterscheiden sich in ihrer Funktion und lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Vermittels des Leibes nimmt der Mensch teil an der Sinneswelt, durch seine Seele hat er eine strukturelle Offenheit zur Transzendenz. Während die Seele zwischen Gott und Leib vermittelt, vermittelt der Leib zwischen der Seele und der Natur. Hildegard selbst verwendet die Begriffe Geist und Seele oft im selben Sinne: Mit Seele ist in diesem Kontext nicht nur das Gemütsleben, das Gesamt von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen und Bedürfnissen gemeint; ebenso wenig bezieht sich der Terminus Geist nur auf die Fähigkeit, auf Motive, Gedanken und Handlungen zu reflektieren und Begriffe zu bilden. Die Geistseele ist das Lebensprinzip, das auch Denken und Fühlen ‚beseelt‘. Als Hauch Gottes ist sie unvergänglich und unteilbar; weder wächst noch vergeht sie. Obwohl sie vermittels des Leibes in Zeit und Geschichte wirkt und auch dem Gemütsleben seine Lebendigkeit verleiht, ist sie überzeitlich und ewig. Im Unterschied zur Seele ist der Leib in seiner Stofflichkeit äußeren Einwirkungen ausgesetzt. Er braucht die Natur, um sich zu erhalten. Er wächst und vergeht. Seine Lebensdauer ist begrenzt. Sterblichkeit und mit ihm Leid gehören daher zur conditio humana. Obwohl die Seele unteilbar und einfach ist, äußert sich ihre Tätigkeit in unterschiedlichen Funktionen, die im Handeln zusammenwirken müssen. Nicht allein die geistige Vorbereitung einer Handlung setzt die Fähigkeit voraus, verschiedene Einzelschritte zu verknüpfen; ein Opus vollbringt nur der, der einen Entschluss unter konkreten, ständig wechselnden Lebensbedingungen beharrlich verfolgt. Das Ziel ist aus den äußeren Gegebenheiten nicht ableitbar, sondern bestimmt seinerseits, wie man sich zu ihnen verhält. Es ist kein Produkt äußerer Umstände oder neuronaler Mechanismen, sondern Ausdruck intentionaler Einstellungen, von Absichten und Werten. Sie gehen dem Vollzug der Handlung voran, die wiederum den Gang der Dinge beeinflusst. Nicht die körperlichen Funktionen erzeugen auf unerklärliche Weise Ziele und Werte, sondern der Geist verleiht dem Leib Ausdruckskraft und den körperlichen Bewegungen ihre Zielgeleitetheit. Obwohl die Ausführung der Handlung nur vermittels des Leibes möglich ist, ist die Seele „der Kraftpunkt jedweden schöpferischen Tuns.“89 Insofern ist die Seele, wie Hildegard betont, in der Tat wirkungsmächtiger als der Körper. Obwohl die Absicht, die eine Handlung leitet, nicht unmittelbar erkennbar ist, manifestiert sie sich vermittels des Leibes in einer Handlung. Dadurch ist der Leib kein äußerlich bleibendes Mittel, sondern das Medium, durch das hindurch sich der Geist mit seinen Zielen und seiner emotionalen Befindlichkeit ausdrückt. Der Geist greift nicht in einen physikalisch bestimmten Körper ein, wohl aber zeigt er sich vermittels des Leibes. Dadurch gewinnt auch dieser die

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Struktur von Intentionalität; in seiner sinnlichen Erscheinung wird er zum Träger von Sinn. Auch Wahrnehmungsvermögen und Empfindsamkeit verdankt der Leib der Seele. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf etwas und beurteilt es in seiner Bedeutung. Als geistiger Akt verleiht die Aufmerksamkeit dem Leib die Sensibilität für einen bestimmten Gegenstand. Nur durch die Seele hat der Mensch, mit Scheler gesprochen, „Leibbewusstsein“90. Doch obwohl die Seele dem Leib seine Lebendigkeit verleiht, lässt sich ihr Verhältnis nicht einseitig vom Geist her bestimmen. Um in der Welt zu leben, benötigt der Mensch nicht nur Vernunft, sondern auch Sensibilität und Empfindungsvermögen. Er ist „vernunftbegabt, weil er alles versteht, empfindungsfähig, weil er spürt, was in seinem Bereich liegt.“91 Leib und Seele sind demnach gegenseitig aufeinander verwiesen. „Der Körper wäre nichts ohne die Seele, die Seele würde nichts ohne den Körper verwirklichen. So sind sie nun im Menschen eins.“92 Einerseits wird der Leib von den Kräften der Seele durchdrungen; andererseits ist er das Haus der Seele, ihr „Zelt“ und ihre „Wohnstatt“93. Durch den Leib wird der Geist versinnlicht; er ist verkörpert, inkarniert; der Leib seinerseits wird durch die Seele vergeistigt. „Und so ist der Mensch von der ersten Bestimmung an zusammengesetzt; oben wie unten, außen wie innen, allüberall existiert er als Leiblichkeit.“94 Ziel ist letztlich die Übereinstimmung von Leib und Seele: „Wo nämlich Seele und Leib in rechter Übereinstimmung miteinander leben, da erreichen sie in einmütiger Freude den höchsten Lohn.“95 Die Seele schämt sich nicht für ihren Leib und sollte ihn nicht quälen. Er ist kein ‚Gefängnis der Seele‘, sondern als von Gott geschaffen gut. Er ist der schwächere Partner in einem Gespann und bedarf der Aufmunterung. Zwar wird der Leib erst durch die Seele zu „einem empfindsamen Wesen“96, diese sorgt jedoch ihrerseits dafür, dass dessen Bedürfnisse befriedigt werden. Nicht die leiblichen Bedürfnisse sind schlecht; verfehlt wäre es nur, sie zum Lebensziel zu machen. Die Seele muss daher jedes Bedürfnis und jede Handlung ethisch beurteilen. Sie ist es, die dem Leib die Kraft zu guten wie zu bösen Handlungen gibt. Sogar die Geschlechtlichkeit ist für Hildegard keine blinde Triebhaftigkeit. Da der Leib als ganzer beseelt ist, hat auch sie Anteil an der Vernunft. Auch diese Gedanken lassen sich in die moderne Sprache übersetzen: Im Unterschied zu allen anderen materiellen Objekten kann man sich vom eigenen Körper nie vollständig distanzieren. Bei einer Berührung werden nicht die physikalisch zu berechnende Kraftübertragung, sondern die Qualität der Empfindung und die mit ihr für den Lebensvollzug verbundene Bedeutung bestimmend für die Einstellung zu anderem. Der physiologisch funktionsfähige Körper ist immer zugleich empfundener Leib. Doch das qualifizierte Spüren des Leibes bleibt nicht auf ein rein innerliches Erleben beschränkt. Ein Wesen,

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das sich selbst erlebt, bringt sein Inneres – bewusst oder unbewusst, willentlich oder unwillkürlich – durch Laute, Blicke und Gesten zum Ausdruck. „Jede Lebensregung der Person“, so Plessner, „die in Tat, Sage oder Mimus fasslich wird, ist ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung, Objektivierung des Geistes.“97 Alle Funktionen des Leibes, Wahrnehmung, Bewegung, Ernährung und auch Sexualität, sind daher nicht einfach als physiologische Prozesse, Triebmechanismen oder Mittel zur Selbsterhaltung zu beschreiben; sie sind Modi, in denen eine bestimmte Person mehr oder weniger bewusst existiert. Je besser Leib und Geist zusammenwirken, je mehr ein Mensch mit sich eins und in sich gesammelt ist, desto größer ist für Hildegard seine Kraft zum Handeln, desto besser kann er Widerstände überwinden und schwierige Situationen meistern. Es entsteht ein Gefühl der Leichtigkeit des Seins. „Denn der Seele Freude ist es, im Leibe wirksam zu sein.“98 Das Bewusstsein, dass sie ihr Werk nur mit dem Leib ausüben kann, ist begleitet von einem Gefühl der Liebe: „Und doch besitzt die Seele alles in allem die umarmende Liebe zu ihrem Leibe, mit dem sie am Werk ist.“99 Da Leib und Seele jedoch verschiedene Naturen und damit unterschiedliche Bedürfnisse haben, kann es auch zu Konflikten kommen. Obwohl die Seele aufgrund ihrer geistigen Natur ihr Lebensziel nicht in der Befriedigung sinnlicher Genüsse sehen kann, kann sie ihr Ziel aus dem Blick verlieren. Für Hildegard entsteht jedoch aus dem Ausleben sinnlicher Bedürfnisse kein wirklicher Genuss. Im Gegenteil: Nicht nur der Geist, auch der Leib leidet. Der Geist verliert seine Klarheit und der Leib seine Empfindsamkeit. Verloren geht nicht nur die Lebensfreude, die aus der Übereinstimmung von Leib und Seele entspringt, sondern auch die Freude an der Welt. Diese wird nur noch als Mittel zur Triebbefriedigung wahrgenommen, sodass sich der Lebenshorizont verengt. Der Mensch überschreitet sich nicht mehr zur Welt, er nimmt nicht mehr an ihr teil, sondern ist in seinen Begierden gefangen. Er ist ein ‚homo curvatus in seipso‘, wie Augustinus sagte, ein Mensch, der nur noch um sich selbst kreist und dadurch seine eigenen Möglichkeiten verfehlt. 3.3 Die Ethik der Natur Die Menschen nehmen in dreifacher Weise an der Natur teil: Rein äußerlich gesehen ist ihr Organismus aus denselben Elementen aufgebaut wie der aller anderen Lebewesen, mit denen sie auch bestimmte vitale Bedürfnisse, Empfindungen und Gefühle teilen. Außerdem partizipieren die Menschen, wie alle anderen Kreaturen, am göttlichen Geist. „Das Leben, das die Geschöpfe erweckt hatte, ist auch das Leben des menschlichen Lebens, das dadurch lebendig ist.“100

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Die Menschen sind daher mit allen Geschöpfen in physischer, psychischer und geistiger Hinsicht verwandt. „Auf diese Weise hat Gott den Menschen mit allen Kräften der Natur gefestigt.“101 Alle Kreaturen tragen ihr Maß in sich, denn Gott hat sie „in der ganzheitlichen Vollkommenheit ohne einen Fehler geschaffen.“102 Da sie jedoch ohne Urteilsvermögen und Handlungsfreiheit sind, können sie die „ihnen von Natur aus gesetzte Art nicht überschreiten.“103 Nur der Mensch hat eine ausgezeichnete Stellung, weil er durch die Vernunft bewusst und zielgeleitet handeln kann. „Durch die Vernunft, die in seinem Innern verborgen ist, soll er wissen, dass er vorstehe den Fischen, die im Wasser schwimmen, den Vögeln in der Luft, den ungezähmten Bestien, der gesamten Kreatur, die sich auf Erden aufhält, wie auch jedem Kriechtier, das sich in der Erde regt. Denn alle diese sollte die Vernunft des Menschen überragen.“104 Die Anlehnung an den ersten Schöpfungsbericht der ‚Genesis‘ ist unübersehbar; ebenso deutlich ist freilich, dass Hildegard die Wortwahl variiert. Indem der Mensch durch seine Vernunft die anderen Kreaturen ‚überragt‘, ist ihm mit der größeren Erkenntnisfähigkeit und Macht auch eine besondere Verantwortung übertragen. Aus Naturphilosophie und Anthropologie leitet sich eine Ethik ab, die von rein utilitaristischen Überlegungen bis zum Respekt vor dem Eigenwert der Natur reicht. Zweifellos muss der Mensch die Natur benutzen, um sein Leben zu erhalten. „Mit Hilfe der Natur setzt der Mensch ja ins Werk, was für ihn lebensnotwendig ist. So gräbt er die Gärten mit dem Spaten, die Äcker wendet er mit dem Pflug um, indes der Stier sie pflügt, und er heißt diesen zu ziehen. Eine jede Art von Natur gewinnt er zu seinem Dienst und zu jenem Zweck, dessen er zu seinem Nutzen bedarf.“105 Entscheidend ist jedoch, wie er die Natur benutzt. Schon aus eigenem Interesse sollte er sie nicht ausbeuten, sondern in Einklang mit ihren Kräften und Möglichkeiten wirken. „Die ganze Natur sollte dem Menschen zur Verfügung stehen, auf dass er mit ihr wirke, weil ja der Mensch ohne sie weder leben noch bestehen kann.“106 Er sollte nicht so in sie eingreifen, dass das Zusammenspiel der Lebensformen gestört wird, sondern sie maßvoll benutzen, sodass sie sich, modern gesprochen, regenerieren kann. Die Weltkräfte „halten auch den Menschen zu seinem Wohle an, darauf Rücksicht zu nehmen, weil er ihrer bedarf, um nicht dem Untergang zu verfallen.“107 Er kann nur durch „die Kraft der Elemente und mit Hilfe der übrigen Geschöpfe“108 existieren. Selbsterhaltung und die Entfaltung des seelisch-geistigen Potenzials hängen davon ab, dass der Mensch mit den Kräften der Natur und nicht gegen sie arbeitet. Sein leibliches Wohlbefinden, sein kulturschaffendes Wirken und seine geistige Kraft beruhen auf der gelingenden Beziehung zu den Mitgeschöpfen. Das Lebensziel besteht jedoch nicht im bloßen Überleben und sinnlich-vitalen Wohlergehen; diese sind nur die Grundlage für die Entfaltung des genuin

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menschlichen Potenzials. Dadurch entsteht ein Freiraum für Beziehungen zur Natur jenseits des vitalen Eigennutzes. Der richtige Umgang mit den eigenen Kräften und das Respektieren von Grenzen sind die Grundlage von Beziehung und Austausch. Wenn der Mensch nur inmitten des Reichtums der Natur und der Vielfalt an Lebewesen seine eigene Freiheit und „Würde“109 entfalten kann, dann muss er auf andere Kreaturen Rücksicht nehmen. Dazu in der Lage ist freilich nur derjenige, der nicht nur seinen eigenen Interessen folgt, sondern zur „Selbstbeherrschung“110 fähig ist. Die Würde des Menschen beinhaltet keinen Rechtsanspruch, sondern die Selbstverpflichtung zu einer verantwortungsbewussten und maßvollen Lebensführung. Doch nicht nur die utilitaristisch, auch die anthropozentrisch geprägte Beziehung zur Natur wird überschritten. Vergegenwärtigt man sich die Immanenz des göttlichen Geistes in allen Kreaturen, dann können diese nicht nur Mittel menschlicher Selbsterhaltung und Selbstentfaltung sein. Sie haben ein Lebensziel und einen Wert, der unabhängig von menschlichen Interessen ist. Da das schöpferische Gotteswort in Mensch und Natur gleichermaßen wirksam ist, steht der Mensch der Natur nicht nur äußerlich als Erkennender und Handelnder gegenüber, sondern ist mit ihr auch innerlich aufgrund seiner Geistigkeit verbunden. Die Ethik kann sich daher nicht auf die Regelung des Verhältnisses zwischen Menschen und auf die Beziehung zu Gott beschränken, sondern muss auch die Mitgeschöpfe umfassen. „Wer so seinem Gott vertraut, wird auch den Bestand der Welt ehren.“111 Nicht nur die Tiere, die Menschen gefallen und als harmlos erscheinen, sind zu bewahren, sondern alle Arten. Die Menschen sollten jede gedankenlose Vernichtung anderer Lebewesen vermeiden und sich auf deren Bedürfnisse und Eigenschaften soweit einstellen, dass auch diese sich gemäß ihrer Art entfalten können. Aufgrund der durch die Vernunft bedingten Asymmetrie sind sie auf die richtige Entscheidungstat des Menschen angewiesen. Jenseits des Zusammenwirkens im Kosmos sind alle Geschöpfe auch durch ihr letztes Ziel miteinander geeint. Auch nicht-menschliche Kreaturen streben, freilich ohne es zu wissen, nach dem summum bonum, nach Gott, der ihr Sein erhält. „Jedes Geschöpf strebt in seiner Lebensaufgabe zu dem hin, der es gebildet hat.“112 Der Mensch ist daher geistig und leiblich, mit seinen Sinnen, Bedürfnissen und Gefühlen, in die Natur eingebunden. Dadurch ist das Verhältnis zur Natur nicht nur vom Nutzen, sondern auch von Fürsorge, Verantwortlichkeit, Anhänglichkeit, Verlangen, ja sogar von Liebe bestimmt. „In der Tat ist der Mensch gleichsam das Licht aller übrigen Geschöpfe, die auf der Erde weilen. Deshalb drängen sie sich häufig an ihn heran und hangen an ihm mit großer Liebe.“113 Tiere spüren die Absicht, mit der Menschen ihnen begegnen. Werden sie in

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ihrer Eigenart wahrgenommen, dann entwickeln sie Vertrauen und fühlen sich zu Menschen hingezogen. Der Mensch erscheint ihnen nicht als Fremdling, den sie fürchten müssen und vor dem sie fliehen. Im Gegenteil: Sie erkennen in ihm etwas Verwandtes, sodass sie seine Nähe suchen. Auch die Menschen fühlen sich mit den anderen Geschöpfen verbunden und von ihnen angezogen. „Der Mensch hat ein natürliches Verlangen nach der Kreatur, zu der er in Liebe brennt; oft und gern sucht er die Natur auf.“114 Alle Geschöpfe sind durch ein latentes Beziehungsstreben bestimmt. Auch zur menschlichen Identität gehört die Kommunikation mit nicht-menschlichen Kreaturen. In Mitfreude und Mitleid erweitert und vertieft sich der Lebenshorizont. Dennoch wusste auch Hildegard, dass es Tiere gibt, deren Verhältnis zum Menschen durch Furcht und Aggression geprägt ist und vor denen er sich schützen muss. Eine praktische Folgerung aus der Überzeugung, dass der göttliche Geist in allen Kreaturen gegenwärtig ist, war, dass nach der Benediktsregel nur die Schwachen zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit Fleisch essen durften. „Sobald es ihnen besser geht, sollten sie alle nach allgemeinem Brauch auf Fleisch verzichten.“115 Auch außerhalb eines theologischen Rahmens hat inzwischen eine fleischarme Ernährung große Bedeutung gewonnen: In anthropozentrischer Hinsicht als wirksames Korrektiv gegen viele Zivilisationserkrankungen, im Rahmen einer pathozentrischen Ethik, die Tieren ein leidfreies Leben und einen Eigenwert zugesteht und im planetaren Kontext als sinnvolle Maßnahme gegen den drohenden Klimawandel, da die industrielle Massentierhaltung mehr als ein Viertel der Treibhausgase erzeugt. Die Reichweite des Handelns, durch das der Mensch unwillkürlich in die Natur eingreift, erstreckt sich nicht nur auf andere Lebewesen, sondern auf die Ordnung der Natur insgesamt. „Der Mensch als Ganzes wirkt leibhaft auf seine Welt“116, sodass er das labile Beziehungsgeflecht aus dem Gleichgewicht bringen kann. Würde er gemäß seiner Bestimmung maßvoll und verantwortungsbewusst leben, würden die Elemente in den von Gott gesetzten Bahnen bleiben, die Jahreszeiten in gleichförmiger Rhythmik wiederkehren und das Klima beständig sein. „Ein Frühling käme wie der andere, und in diesem Sommer wäre es wie im vergangenen und so fort.“117 Doch das Einhalten des Maßes kann für ein Wesen, das mit Vernunft und Freiheit begabt ist, zum Problem werden. Maßvoll zu leben bedeutet nicht, sich an einem Mittelwert zu orientieren und in einer bestimmten Hinsicht einfach weder zu viel noch zu wenig zu tun; und es bedeutet auch nicht, dass sich jemand nur über seine eigenen Bedürfnisse und Erwartungen klar wird. Da alles in der Welt sich in seinen Eigenschaften von anderem unterscheidet und gerade dadurch in spezifischer Weise mit ihm verbunden ist, verhält sich derjenige maßvoll, der die Beziehungen, die das Zusammenspiel ermöglichen, respek-

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tiert. Das Verhältnis zu den Mitmenschen und zu anderen Kreaturen wird gestört, wenn etwas in seiner Bedeutung über- oder unterschätzt wird, sodass es aus seinem Zusammenhang gerissen wird. Der Mensch kann den Einklang mit der Natur durch seine seelische Unausgeglichenheit, die unweigerlich ein unangemessenes Verhalten nach sich zieht, verlassen. Unkenntnis, schiere Not, motiviert durch den Willen zu überleben, aber auch blinde Gier nach Macht und Reichtum zerreißen das wohlproportionierte Zusammenspiel der Kreaturen und der Elemente. Auf diese Weise haben, so zeigen moderne Studien, Kulturen schon lange vor der Entwicklung moderner Technologien ihre Umwelt zerstört und ihren Untergang heraufbeschworen.118 Das moralisch Böse ist keine Folge der Endlichkeit und Unvollendetheit der Schöpfung; es ist nicht von Gott geschaffen und nicht von ihm gewollt, sondern entsteht durch die Abkehr vom göttlichen Sein. Dass es zugelassen werden musste, ist eine unausweichliche Folge der Schöpfung von Wesen, die mit Freiheit begabt sind. Die eigentliche Ursache des Bösen ist für Hildegard jedoch keine bloße Nachlässigkeit, kein schlichtes Versagen, sondern der Wunsch, zu tun, was Gott getan hat: sich selbst und die Ordnung der Dinge aus eigener Kraft zu begründen, allmächtig zu sein. Kein Geringerer als Sartre, der jede Begründung des Menschen in einem transzendenten Sein ablehnt, sieht im Streben, die Welt nach dem eigenen Bilde zu gestalten, die Grundlage der Identität. „Der Mensch ist das Seiende, das die Absicht hegt, Gott zu werden.“119 Nur wenn die Welt den eigenen Lebensentwurf vollständig reflektieren würde und alles den Sinn hätte, der ihm zugewiesen wird, wäre das Ziel, den Grund seines Seins in sich selbst zu finden, erreicht. Da sich jedoch die Natur durch ihre träge Materialität, der Leib durch seine für andere sichtbare Außenseite und schließlich der andere Mensch durch seinen Entwurf diesem Ziel widersetzen, ist der Hass auf das Prinzip von Andersheit unausweichlich. Es ist fast tröstlich, dass für Sartre sogar der Hass sinnlos ist, da sich, sogar wenn es gelingen würde, jegliche Form von Andersheit aus der Welt zu tilgen, die Erinnerung an sie unauslöschlich im eigenen Bewusstsein eingebrannt hätte. Bei Hildegard verlocken gerade die Kräfte, die den Menschen kennzeichnen, Intelligenz und Eigenstand, zur Trennung von ihrem Geber. Indem er, berauscht von seiner Größe, zum ‚homo rebellis‘, zum Rebell wird, zerreißt er die für seine Selbstständigkeit konstitutive Relationalität mit Gott. Diese verkehrt sich in ihre Fehlformen, in Eigensinn und Hochmut. Er „wollte noch über Gott hinaus.“120 Wer nur auf sich selbst setzt, verschließt sich in sich; er ist einsam und fremd in der Welt und hält sich für den Maßstab aller Dinge. Mit der Abkehr vom Sein verändert sich daher nicht nur die geistige, sondern auch die emotionale Verfassung. Der Mensch sieht die Dinge nicht mehr, wie sie wirklich

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sind, sondern stützt seine Entscheidungen auf Wunschbilder. Er verstrickt sich in eine Scheinwelt und verliert seine schöpferische Kraft. Gefangen in seinen Interessen und Erwartungen wird auch das Band mit den anderen Kreaturen zerrissen, sodass schließlich sogar die Elemente in Aufruhr geraten. Um dem aufmerksamen Beobachter die tiefer liegenden Ursachen zu enthüllen, verleiht Hildegard den Elementen Sprache. „Und ich hörte, wie sich mit einem wilden Schrei die Elemente der Welt an jenen Mann wandten. Und sie riefen: ‚Wir können nicht mehr laufen und unsere Bahn nach unseres Meisters Bestimmung vollenden. Denn die Menschen kehren uns mit ihren schlechten Taten wie in einer Mühle von unterst zu oberst. Wir stinken wie die Pest und vergehen vor Hunger nach der vollen Gerechtigkeit.‘“121 Die Klage der Elemente, so betont Hildegard, sei nicht wörtlich zu nehmen. „Nicht in menschlicher Weise hörst du sie reden, sondern mit allen Zeichen ihrer augenscheinlichen Unterdrückung. Überschreiten sie doch die rechte Bahn, die sie von ihrem Schöpfer gesetzt bekamen, durch ihre fremdartigen Bewegungen und ihren widernatürlichen Kreislauf, verwirrt durch die Sünden der Menschen. Damit bringen sie zum Ausdruck, dass sie ihre Bahnen und natürlichen Funktionen nicht vollenden können, weil sie eben durch die Untaten der Menschen von unterst zu oberst gekehrt werden. Dabei stinken sie im Pesthauch der üblen Schandtaten.“122 Kein göttliches Zorngericht, sondern die Ordnung der Natur, die freilich von Gott in dieser Form geschaffen wurde, macht dem Menschen sein Fehlverhalten deutlich.123 Die Elemente stehen dem Menschen nicht mehr zu Diensten; seine Macht schlägt um in Ohnmacht. Damit gehört nicht nur das Übel und das durch es bedingte Leid, sondern auch das Böse in die Welt. Dieses wirkt sich nicht nur auf das Verhältnis zwischen Menschen aus, sondern auch auf die Ordnung der Natur. Luftverschmutzung, Missernten und klimatische Katastrophen sind die Folgen. Unter der Störung der natürlichen Ordnung leiden nicht nur die anderen Kreaturen; auch die menschliche Lebensqualität sinkt dramatisch. Als integraler Teil des Kosmos wirkt der Mensch nicht nur aktiv handelnd auf das Kräftespiel der Natur ein, sondern untersteht ihm auch durch seine Leiblichkeit. Dadurch schlägt das Fehlverhalten vermittels der entgleisenden Naturprozesse auf ihn selbst als Verursacher zurück. Da das Gefüge der kosmischen Kräfte eine ausgleichende Funktion für den menschlichen Organismus hat, wird bei einer Störung auch dessen Kräftegleichgewicht geschwächt. Krankheiten sind die Folge. „Mit der Harmonie der äußeren Elemente befinden sich nämlich auch die Säfte im Organismus in Ruhe, während bei Erregung und Unruhe der kosmischen Kräfte auch die Säfte zerstört werden.“124 Erst in den letzten Jahren ist auch für die moderne Ethik die Bedeutung des Maßhaltens wieder in den Blick getreten. Damit die Bedingungen für ein men-

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schenwürdiges Leben auch für die kommenden Generationen erhalten werden, muss das Lebensziel wieder in ein Verhältnis zu den raum-zeitlichen Dimensionen natürlicher Prozesse gesetzt werden. Nur wenn die Menschen ihr rücksichtsloses, eigenmächtiges Handeln aufgeben, können sie langfristig in Einklang mit der Dynamik der Biosphäre leben. Anders als in modernen ökologischen Ethiken ist für Hildegard dieses Ziel jedoch nur erreichbar, indem sich der Mensch dem göttlichen Urgrund zuwendet, in dem er gemeinsam mit allen anderen Kreaturen gründet. Nur dann ist die innere Einheit in der Vielfalt von Lebensformen wieder hergestellt. Sein und Sollen lassen sich in der Naturphilosophie Hildegards demnach in zweifacher Hinsicht nicht trennen: Zum einen greift das menschliche Handeln mit seinen Zielen und Werten in die natürlichen Prozesse ein, sodass deren Veränderung für ihn Bedeutung gewinnt; zum anderen hat die Natur einen Eigenwert. Der Mensch muss die Ordnung der Natur respektieren − um zu überleben, qualitativ gut und in Würde zu leben und um deren Eigenwert zu achten. Nur dann wird er der Spannbreite seiner Möglichkeiten gerecht. Utilitaristische, anthropozentrische, patho- und biozentrische, holistische und theozentrische Dimensionen der Ethik umgreifen sich wie die Häute einer Zwiebel. Da die Vielfalt der Lebensformen letztlich in Gott gründet, handelt es sich um eine „Ökotheologie“125. 3.4 Die Ästhetik der Natur Bewahrt werden sollte die Ordnung der Natur allerdings nicht nur aufgrund ethischer Pflichten, genuin menschlicher Verantwortung oder einer Heuristik der Furcht. Mindestens ebenso entscheidend ist die Freude an ihrer Schönheit, die als qualitative Bereicherung erfahren wird. Indem das göttliche Wort allem Form und Maß verleiht, reflektiert die Welt das göttliche Licht wie ein Spiegel. Da Schönheit ein objektives Attribut der Natur ist, wird die ästhetische Erfahrung zu einem Mittel, den eigenen Ort im Kosmos und damit auch die eigene Ganzheit wiederzufinden, heil zu werden. Die Natur wird nicht nur technisch vermittelt oder wissenschaftlich-abstrakt, sondern mit dem ganzen Leib, mit allen Sinnen, erschlossen. Farben, Klänge oder Gerüche sprechen den Menschen an, lösen etwas in ihm aus, wirken auf ihn ein und haben eine Bedeutung für ihn. Gott „hat dem Menschen die Rüstung der Schöpfung angezogen, damit er alle Welt im Sehen erkenne, im Hören verstehe und im Geruch unterscheide, damit er im Geschmack von ihr genährt werde und sie im Tasten beherrsche. Und so sollte der Mensch zur Erkenntnis des wahren Gottes kommen, der da ist der Schöpfer der gesamten Kreatur.“126 Da die sinnliche Schönheit der Natur Ausdruck der Teilhabe am göttlichen Sein ist, führt sie den Menschen, wie bei Plotin, über seine Grenzen

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hinaus; sie weitet den Blick für etwas, das größer ist als er und ihn trägt. Die sinnliche Erfahrung wird zum ersten Schritt auf dem Weg zur Gotteserkenntnis. In der Betrachtung der Natur, in der er das Wirken ihres Schöpfers sieht, wird er sich seiner eigenen Teilhabe am göttlichen Sein bewusst. Im Unterschied zu soziobiologischen Theorien beschränkt sich die Funktion des ästhetischen Erlebens daher nicht auf die Optimierung des Überlebens. Die „Schönheit der Schöpfung“127 wird geliebt, sie zieht den Menschen an und vermittelt ihm das Gefühl, dass er nicht willkürlich in sie eingreifen darf, wenn er sie nicht zerstören will. Als Erscheinung der Wahrheit ist sie die Manifestation eines zu bewahrenden Wertes. Dem Bild der Natur, das sinnliche Qualitäten und geistige Dimensionen gleichermaßen berücksichtigt, entspricht eine Anthropologie, die von der Einheit von Leib und Seele ausgeht. Die Betonung des Schönen beinhaltet keine falsche Verklärung der Wirklichkeit, da Hildegard sich auch mit dem Hässlichen auseinandersetzt. Mit dem Fall des Menschen wurde die ursprüngliche Schönheit der Natur verdunkelt, ohne jedoch vollständig verloren zu gehen. Hässliches und Entstelltes entstehen, wenn Möglichkeiten verfehlt werden. Abtrennung und Zerstückelung führen zur Auflösung der inneren Einheit und damit zum Zerreißen dessen, was ursprünglich zusammengehört. Durch die dreifache Verschlüsselung jedes Symbols erstreckt sich das Hässliche jedoch nicht nur auf das Sinnlich-Sichtbare, sondern auch auf die menschliche Seele. Weniger durch körperliche Entstellung, als vielmehr durch den seelischen Ausdruck von Gier, Hass, Überheblichkeit, Rücksichtslosigkeit, Zorn und Neid in Blicken, Gestik und Mimik, Wort und Tat wirkt ein Mensch hässlich, sind seine Gesichtszüge verzerrt. Das Hässliche ist Ausdruck seelischer Maßlosigkeit und innerer Zerrissenheit, die sich in Gedanken, Worten und Handlungen äußern. Doch trotz seiner gestaltauflösenden Wirkung ist es, wie das Böse, Ausdruck von Privation: Es ist nicht schöpferisch, sondern wirkt nur durch den Mangel an gestalterischer Kraft zerstörerisch. Für Hildegard beruht der Kosmos auf einem labilen Kräftespiel, an dessen Erhaltung die Menschen aktiv und eigenverantwortlich mitwirken müssen, wie Schipperges betont: „‘Kosmologie‘ ist hier in keiner Weise eine Beschreibung eines Weltsystems, sondern ein geistiger Anspruch, eine universelle Verantwortung. Es ist damit die Frage nach der ursprünglichen Lebenswirklichkeit des Menschen gestellt und wie man aus dieser Weltordnung zu einer verbindlichen Lebensführung finden könnte.“128 Indem Hildegards Werk wie in einem fernen Spiegel die Defizite der Gegenwart sichtbar macht, wird es zu einem Impuls für die unverzichtbare Korrektur des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Es zeigt in eindrucksvoller Weise, dass sich der Schöpfungsbericht der ‚Genesis‘ durchaus im Sinne eines Miteinanders von Mensch und Natur verstehen lässt.

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„Der Mensch ist nach dem göttlichen Heilsplan (oikonomia) gleichsam eingetaucht in Natur. Die Materie geht gewissermaßen ein in die Geschichte –, weitreichende Aspekte, aus denen wir längst eine ‚Philosophie der Natur‘ hätten herausarbeiten können.“129 Vor diesem Hintergrund hätte Hildegard, wie wir noch sehen werden, auch in der Gegenwart Gesprächspartner gefunden, die ihr Anliegen unter veränderten Voraussetzungen teilen: Whitehead, Teilhard de Chardin, Scheler und Jonas sind nur die bekannteren unter ihnen.

4 Nikolaus von Kues: Die Natur als Ausfaltung Gottes 4.1 ‚Die Erde ist ein edler Stern‘ Im Jahr 1401 geboren, wächst Nikolaus von Kues, auch Cusanus genannt, in ein Jahrhundert hinein, in dem das mittelalterliche Weltbild mit seinem in sich geschlossenen, wohlgefügten Kosmos durch die Renaissance und die beginnende Neuzeit abgelöst wird. Wie Plotin und Hildegard beginnt auch er seine Erörterungen noch mit dem Seinsgrund. Da dieser nicht zum Bereich endlich Seiender gehören kann, ist er mit keinem von ihnen vergleichbar. Er ist in keiner Hinsicht eine bloß quantitative Steigerung dessen, was ist. Da alle Aussagen, so hatte schon Plotin argumentiert, eine intentionale Struktur haben und sich auf etwas kategorial Bestimmtes beziehen, kann man ihn nicht begrifflich definieren. Alle sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten kommen an ihre Grenze, wenn sie sich auf das Unendliche beziehen. Umgekehrt formuliert: Wäre es bildlich vorstellbar oder begrifflich definierbar, wären seine Eigenschaften und Attribute klar benennbar, dann wäre es nicht das schlechthin Unendliche. Als Grund allen Seins ist es durch nichts anderes mehr bestimmt, sodass es nicht aus der Differenz zum Endlichen verstanden werden kann. Der Ursprung von allem kann „weder ein Anderes vom Anderen noch vom Nichts sein, weil er zu nichts im Gegensatz steht.“130 In seiner Transzendenz ist er über jeden Gegensatz, den von Zeit und Azeitlichkeit, von Raum und Raumlosigkeit, aber auch von Ruhe und Bewegung und Identität und Alterität erhaben. Er ist, so sagt Cusanus prononciert, „jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze.“131 Kein Zusammenbestehen der Gegensätze im Absoluten ist also gemeint, sondern eine Einheit über jedem Gegensatz. Als Grund des Seins umfasst er alles, was ist „in sich selbst.“132 Was sich in der Welt als gegensätzlich darstellt, ist im übergegensätzlichen Grund in differenzloser, eingefalteter Einheit präsent. Der die Verschiedenheit endlicher Perspektiven übergreifende Seinshorizont macht einen Relativismus der Weltanschauungen unmöglich. Eine Vielheit von Perspektiven gibt es nur vor dem Hintergrund der sie übergreifenden Einheit. Da diese kein Schlussstein für ein

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begrifflich lückenlos geschlossenes System ist, spricht Cusanus von einer Approximation an Gott.133 Zwar ist auch der menschliche Geist strukturell durch die Fähigkeit sich auf sich zurückzuwenden bestimmt; doch dieser Prozess vollzieht sich in der Zeit durch die sukzessive Integration von Vergangenheit und Zukunft, Erlebtem und Erhofftem. Vergegenwärtigung beinhaltet durch die Rückkehr auf sich allerdings auch eine Sammlung in sich. Soweit der menschliche Geist sich jedoch in dieser Bewegung nur auf sich bezieht, kann er nicht vollkommen in sich ruhen. Selbstbezogenheit würde zur Selbstverschlossenheit, die schon durch die Notwendigkeit zu überleben vereitelt wird; auf psychischer und intellektueller Ebene würde sie zur geistigen Stagnation führen. Endliches Leben ist weder physisch noch geistig in sich gegründet. Vollendete Selbstgegenwart, die auch selbst begründend ist, ist für es unerreichbar, sodass der Grund des eigenen Seins nur durch Selbstüberschreitung gefunden werden kann. Philosophen und Wissenschaftler, die eine naturalistische Interpretation der Welt vertreten, argumentieren, dass man das Universum, menschliche Handlungen eingeschlossen, vollständig naturwissenschaftlich erklären und dennoch ein gläubiger Mensch sein könne, da Gott in seiner Transzendenz das Universum nicht beeinflusst. Im Unterschied zu deistischen Positionen kann für Cusanus das Universum in seiner Endlichkeit jedoch nur bestehen, weil es vom Unendlichen in seinem Sein erhalten wird, sodass es kein abgeschlossenes, sondern ein offenes System ist. Obwohl Gott als Seinsursache nicht kausalursächlich auf die Welt einwirkt, verleiht er jeder Entität mit ihrem Sein auch die Kraft, sich aus sich heraus zu entwickeln. Jedes Wesen, das danach strebt, seine eigene Identität zu entfalten, muss deshalb auch nach dem Absoluten streben. Die Überlegungen zum Verhältnis von endlichem und unendlichem Sein werden bei Cusanus zur Grundlage einer Kosmologie, die die Wende zur Neuzeit einleitet. Obwohl ohne empirische Grundlage mit rein philosophischtheologischen Argumenten entwickelt, ist sie viel radikaler als die naturwissenschaftlich begründete von Kopernikus, Galilei und Kepler. Erst Einsteins Relativitätstheorie wird ein physikalisches Modell vom Universum entwickeln, das ebenfalls auf jeden Mittelpunkt verzichtet. Da das Absolute, so das Argument, in keiner Relation steht zu etwas, das kleiner, größer, schneller oder langsamer ist als irgendeine endliche Entität, kann man nicht vom Endlichen ausgehend durch viele Zwischenschritte zu ihm gelangen. Sogar wenn man das Universum in räumlicher oder zeitlicher Hinsicht immer weiter ausdehnen würde, wäre es nicht unendlich im Sinne Gottes. Es hätte nicht die Kraft, sein eigenes Sein zu erschaffen. Auch mathematische Aussagen genügen nicht, um die Struktur des Universums zu erklären. Während sie sich auf ideale, zeitlos-unveränderliche Gesetze, etwa die Idee des Kreises, beziehen, hat es die Kosmologie mit wirklichen Körpern und Kräften zu tun. Da es

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unmöglich ist, dass zwei Körper exakt dieselbe äußere Form und genau dieselbe Position im Raum haben, kann es nie zwei völlig identische Objekte geben. „In allem herrscht vielmehr dem Ort, der Zeit, dem Zusammenhang und anderem entsprechend, notwendig Verschiedenheit.“134 Andernfalls, so wird Leibniz argumentieren, könnten endliche Seiende nicht voneinander unterschieden werden. Nicht aufgrund unzureichender Beobachtungsmethoden, sondern aufgrund der Struktur der Welt können physikalische Aussagen nie dieselbe Exaktheit haben wie mathematische. Da die Welt durch die Ausfaltung dessen entsteht, was in Gott in eingefalteter Weise vorhanden ist, spiegelt sich in jedem Wesen sein zeitloser Ursprung. Dadurch haben die Relationen zwischen endlichen Entitäten zwei Dimensionen: Auf der einen Seite beruhen sie auf der Immanenz des Unendlichen in jedem von ihnen; alle partizipieren gemäß ihrer Fassungskraft, auf besondere Weise also, an der seinsstiftenden Kraft Gottes. Er ist „die absolute Kraft und darum die Natur aller Naturen.“135 Durch die Immanenz des göttlichen Geistes gewinnt die Bestimmung Gottes als Non-Aliud, als das Nicht-Andere, eine weitere Bedeutung: Nicht nur durch seine Transzendenz überschreitet er jeden Gegensatz, auch durch seine Immanenz. Schärfer formuliert: Dass es eine Vielfalt sich unterscheidender Seiender, mithin Andersheit, gibt, geht auf die seinsstiftende Kraft des Nicht-Anderen in ihnen zurück. Es ist als „Wesenheit der Wesenheiten“136 selbst keine bestimmte Wesenheit. Durch die Immanenz des göttlichen Geistes ist jedes endliche Wesen bis zu einem gewissen Grad mit der Fähigkeit zur Selbstverursachung ausgestattet und dadurch, wie bei Plotin und Hildegard, nicht nur natura naturata, sondern auch natura naturans. Die endlichen Seienden sind jedoch nicht nur aufgrund der Partizipation am göttlichen Geist miteinander verbunden, sondern auch unter konkreten raumzeitlichen Bedingungen aufgrund äußerlicher Relationen. Jedes von ihnen befindet sich an einem bestimmten Ort, existiert zu einem bestimmten Zeitpunkt und für eine begrenzte Zeitspanne. Bei einem mit Selbstbewusstsein ausgestatteten Wesen ist die Perspektive auch durch historische und biographische Bedingungen beschränkt. Doch gerade wegen ihrer spezifischen Begrenztheit stehen endliche Entitäten in einer Beziehung zu anderen Entitäten, die sich an einem anderen Ort befinden, zu einer anderen Zeit existieren oder die Welt unter einer anderen Perspektive betrachten. Begrenzt zu sein ist daher nicht nur Ausdruck eines Seinsmangels, sondern beinhaltet auch die Möglichkeit zur Überschreitung zu anderen Seienden und zum gemeinsamen Ursprung. Einzigartig sind die Entitäten daher nicht, wie Aristoteles glaubte, nur durch die Materie; ebenso wenig sind die Relationen bloß ein akzidentelles Merkmal einer in sich beharrenden Substanz. Einzigartig sind sie aufgrund innerer und äußerer Relationen. Wegen der mehr oder weniger stark vermittelten Beziehung

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einer Entität zu allen anderen Entitäten ist jede ein einzigartiger Spiegel des Universums und kann nicht quantitativ durch andere, gleichartige Wesen ersetzt werden. „Nur das Einzelne ist wirklich. In diesem sind die Universalien in Verschränkung dieses selbst.“137 Für Cusanus ist es daher unmöglich, die Dynamik der Natur unabhängig von ihrem geistigen Grund zu erklären, wie es Deismus und Naturalismus versuchen. Nur durch die Gegenwart des göttlichen Geistes ist das Universum eine dynamisch in sich verschränkte Einheit, die aufgrund der doppelten Form der Relationalität nicht mit einer Maschine verglichen werden kann. Lange bevor man im 20. Jh. die Bedeutung der Biodiversität für die Stabilität eines Ökosystems erkannte, sah man die Verflechtung belebter und unbelebter Entitäten als konstitutiv für die Ordnung der Natur an. Einerseits hat sich diese, anders als Cusanus glaubte, durch die Evolution immer wieder verändert; andererseits werden, im Unterschied zu naturwissenschaftlichen Erklärungen, die endlichen Entitäten nicht auf ihre Funktion für ein Ökosystem reduziert, sondern haben auch einen inhärenten Wert und ein für sie spezifisches Ziel. Obwohl jedes Lebewesen das Maß seiner Vollkommenheit in sich trägt und sich nicht mit anderen vergleichen sollte, kann es sein Potenzial mehr oder weniger stark ausschöpfen. Auch für Cusanus bleibt der Grad der Annäherung an Gott ein Maß für die Vollkommenheit einer Kreatur. Die Unterschiede zwischen endlichen Entitäten sind jedoch nicht absolut. Alles, was begrenzt ist, ist bezogen auf etwas, das größer oder kleiner, stärker oder schwächer, langsamer oder schneller ist. Die Differenz könnte daher durch viele einzelne Schritte überbrückt werden. Immer kann man sich etwas denken, was ein wenig größer oder schneller ist. Dadurch gibt es in der Welt kein absolutes Maß, nichts, was das absolut Größte oder Kleinste, Langsamste oder Schnellste ist. In der Welt, so argumentiert Cusanus, gibt es nichts Absolutes. Die konsequente Anwendung dieses Gedankens führt zu einer völlig neuen Idee des Kosmos. Wenn es nämlich im Bereich des Endlichen nichts Absolutes gibt, dann kann kein Körper vollständig in Ruhe verharren oder sich mit einer absoluten Geschwindigkeit bewegen. „Es gibt keine schlechthin größte Bewegung.“138 Die logisch zwingende Konsequenz ist, dass sich jeder Himmelskörper bewegen muss, die Sonne ebenso wie die Erde. Schon einige Jahrzehnte vor Kopernikus war Cusanus davon überzeugt, dass sich die Erde wirklich bewegt. Im Unterschied zu Osiander, der das Vorwort zu Kopernikus Werk ‚De revolutionibus orbium coelestium‘ geschrieben hat, war für Cusanus die Erdbewegung keine hilfreiche Hypothese, die nur dazu dient, die Berechnung der komplizierten Bewegungen der Gestirne zu vereinfachen. „Aus dem geht klar hervor, daß die Erde sich bewegt.“139 Aber wieso erscheint uns die Erde als ruhend? „Wir begreifen die Bewegung nur durch einen Vergleich mit etwas Feststehendem. Wie sollte jemand, der sich

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auf einem Schiff in der Mitte des Gewässers befindet, der das Ufer nicht sieht und nicht weiß, daß das Wasser fließt, begreifen, daß er sich bewegt?“140 Um entscheiden zu können, ob ein Körper in Ruhe ist oder sich bewegt und ob er sich schnell oder langsam bewegt, braucht man einen Bezugspunkt. Diese Beobachtung war seit Aristoteles bekannt. Doch Cusanus war der erste, der diesen Gedanken konsequent auf den gesamten Kosmos anwendete. Wenn es überhaupt keinen Körper gibt, der absolut ruht, dann gibt es auch keine Möglichkeit, den Bewegungszustand anderer Körper exakt zu bestimmen. Feststellbar ist nur die Relativbewegung verschiedener Körper gegeneinander. Diese kleine Verschiebung in der Argumentation verstieß nicht nur die Erde aus dem Zentrum des Kosmos; sie führte zu einer völlig neuen Vorstellung vom gesamten Universum und der Stellung des Menschen in ihm. Der Stern, auf dem sich der Beobachter befindet, ist relativ zu dessen Position in Ruhe; alle anderen Sterne scheinen sich dagegen relativ zu ihm zu bewegen. Deshalb sieht es so aus, als ob sich der eigene Stern im Mittelpunkt des Universums befindet. Für die Bewohner des Planeten Erde hat es den Anschein, als ob sich alle anderen himmlischen Körper um sie drehen würden. Aber auch die Bewohner eines anderen Planeten würden glauben, dass ihr Planet ruht und die Erde, die Sonne und alle anderen Himmelskörper ihn umkreisen. Noch eine weitere Konsequenz ergibt sich aus dem Gedanken, dass es in der Welt nichts Absolutes gibt: Das Universum kann keine ideale Gestalt haben, sodass es keine vollkommene Kugel sein kann. Auch die Bahnen der Planeten können nur mehr oder weniger Kreise sein. Genau diese Argumentation wird von Kepler benutzt werden: Auf der Suche nach einer mathematischen Formulierung für die Planetenbahnen argumentierte er, dass sie etwas weniger vollkommen als Kreise sein müssen und schloss, dass sie Ellipsen sind. Ohne ein absolutes Maß hat das Universum auch keine streng definierbare Grenze. „Folglich hat die Welt keinen Umfang.“141 Weder kann die Erde im Mittelpunkt des Kosmos ruhen noch kann der Kreis der Fixsterne die äußerste Grenze bilden, wie die mittelalterlichen Theologen geglaubt hatten. In räumlicher Hinsicht ist er grenzenlos. Was Cusanus noch nicht diskutiert, ist die Abhängigkeit der Zeit von der Relativbewegung der Körper. Schon einige Jahrzehnte vor Kopernikus und Galilei zerstörten die Schlussfolgerungen von Cusanus die untrennbare Einheit, die nach mittelalterlicher Vorstellung zwischen der physischen Ordnung des Universums und der Heilsordnung bestand. Wenn es nämlich kein absolutes ‚Unten‘ oder ‚Oben‘, ‚Rechts‘ oder ‚Links‘ gibt, dann kann der Kosmos nicht aus hierarchisch ineinander geschachtelten Sphären bestehen. Und dann muss jede substanzielle Differenz zwischen der irdischen und den himmlischen, der sublunaren und der translunaren Sphäre überwunden werden. Daraus folgt wiederum, dass sich alle vier

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Elemente in allen Himmelskörpern finden lassen müssen, sodass sie sich nur in ihrer Zusammensetzung unterscheiden. Mit der Überzeugung, dass überall im Universum dieselben Gesetze gelten, antizipiert Cusanus eine Idee, die Newton in Form eines physikalischen Gesetzes formulieren wird: Das Gravitationsgesetz bestimmt den Fall eines Apfels auf der Erde ebenso wie die Bahn des Mondes um die Erde oder die der Erde um die Sonne. In einem homogenen, mittelpunktslosen Universum ist die Erde nur ein Stern unter Sternen. Doch für Cusanus beinhaltet der Verlust des privilegierten räumlichen Ortes keine Abwertung und daher auch keine narzisstische Kränkung. Im Gegenteil: Wenn kein himmlischer Körper näher an Gott ist als ein anderer, dann hat jeder denselben Wert. Und dann ist die Erde nicht länger der niedrigste und dunkelste Platz im Universum, in dessen Zentrum sich die Hölle, der Ort der größten Seinsferne, befindet, wie noch Dante in ‚Die Göttliche Komödie‘ glaubte. „Und weil es wie aus dem eben Ausgeführten hervorgeht in Vollkommenheiten, Bewegungen und Gestalten das Größte oder Kleinste in der Welt nicht gibt, ist es nicht wahr, daß die Erde das Unterste und Schlechteste ist.“142 Die Erde wird in den Rang der Gestirne erhoben, in eine Sphäre, die vormals als göttlich galt. „Die Erde ist also ein edler Stern, der Licht und Wärme und einen anderen, von allen anderen Sternen unterschiedenen Einfluß besitzt, so wie sich jeder von jedem durch Licht, Natur und Einfluß unterscheidet.“143 4.2 Intelligentes Leben als Moment eines grenzenlos-unendlichen Universums Die Überzeugung, dass die Menschen mit ihrer Vernunftbestimmtheit ein Teil der Natur sind, hat, wie bei Hildegard, eine kosmologische und eine anthropologische Dimension: Zum einen ist die Natur nicht geistlos, sodass die Menschen überall auf Spuren des Geistes stoßen, den sie von sich selbst kennen; zum anderen sind sie leibgebundene Wesen und können ihre Identität nicht, wie Descartes glaubt, nur auf das denkende Ich gründen. Das menschliche Individuum ist eine Einheit von Geist, Seele und Körper. „Wir schauen die Kraft oder Einheit der Seele nicht in ihr selbst, sondern in sinnlicher Weise in ihrer körperlichen Ausfaltung. Genauso erfassen wir auch die Vernunft-Einsicht nicht in ihr selbst, sondern in der Seele, und die erste einfachste und absoluteste Einheit nicht so, wie sie ist, in ihr selbst, sondern in der Vernunft-Einsicht wie in einer Zahl und in einem Zeichen. Gott ist also die Gestalt der Vernunft-Einsicht, diese die der Seele, die Seele die des Körpers.“144 Auch bei Cusanus lassen sich die körperlichen Funktionen noch nicht mechanisch erklären; in ihnen drückt sich das Leben von Seele und Geist aus. Dadurch können Menschen mit anderen Kreaturen kommunizieren und diese sich ihrerseits auf die Stimmungen, Absichten und Ziele ihres menschlichen Gegenübers einstellen. Da sich im Körper seelisch-geistige Prozesse manifestieren, ist nicht nur der Geist, sondern

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auch der Körper einzigartig. Es ist der Leib dieses Individuums. Jeder Mensch ist durch seinen Leib, seine Seele und seinen Geist ein einzigartiger Teil des Universums. Obwohl qualifizierte Sinneswahrnehmungen für den Wissenserwerb nicht ausreichen, sind sie, anders als bei Descartes, unverzichtbar.145 Aus der Dezentrierung des Universums ergibt sich eine weitere Konsequenz: Der unwiederbringliche Verlust des räumlichen Zentrums beinhaltet für Cusanus nicht den Verlust von jeglichem Mittelpunkt. Indem er die Differenz zwischen dem materiell-räumlichen und dem geistigen Mittelpunkt betont, wird die Bedeutung der Immanenz des Geistigen sogar klarer herausgearbeitet als bei Hildegard. Wenn nämlich Gott, wie die Bibel lehrt, Geist ist und im Geist verehrt werden soll, dann kann er gar nicht an einer Stelle im Raum lokalisiert und in seiner Anwesenheit auf einen bestimmten Zeitpunkt begrenzt werden. Er ist nicht erst hier und dann da, sondern jenseits des Gegensatzes von hier und dort, früher und später. Dadurch ist er das immaterielle und azeitliche Zentrum des gesamten Universums. Und nur durch ihn ist es in einem nichträumlichen Sinne begrenzt: Nur im Vergleich zur göttlichen Schöpferkraft ist es endlich. Gott selbst ist daher nicht nur der allgegenwärtige Mittelpunkt, sondern auch Grenze und Umkreis des Universums. Cusanus zitiert eine Aussage, die aus der neuplatonischen Philosophie stammt und auf die sich auch Bruno und Leibniz stützen werden: „Darum verhält sich der Weltbau so, als hätte er überall seinen Mittelpunkt und nirgends seinen Umkreis, da sein Umkreis und sein Mittelpunkt Gott ist, der überall und nirgends ist.“146 Dadurch kann man Gott nicht nur auf der Erde, sondern überall im Universum, an jedem Platz und zu jeder Zeit finden. „Derjenige, der Mittelpunkt der Welt ist, Gott, der Gepriesene, ist auch Mittelpunkt der Erde, der Sphären und alles dessen, was in der Welt ist. Und zugleich ist er aller Dinge unendlicher Umfang.“147 Wenn alle Gestirne gleichrangig sind, liegt der Gedanke nahe, dass es auch auf ihnen intelligente Bewohner geben könnte. Bei Cusanus verbindet sich die platonische Überzeugung, dass die Kosmologie die Aufgabe hat, den Aufbau der Natur mitsamt der Vielfalt an Kreaturen zu thematisieren, mit der modernen Vorstellung, dass das Universum homogen ist. „Dabei nehmen wir an, daß keine Region der Bewohner entbehrt.“148 Es könnte allerdings sein, dass sich die Bewohner unterschiedlicher Sterne im Grad ihrer Geistigkeit unterscheiden. Möglicherweise sind sie sogar bewusster als Menschen und nehmen intensiver an der Wirklichkeit teil. Auch nach mittelalterlicher Vorstellung galt der Mensch nur auf der Erde als Krone der Schöpfung; in Hinblick auf die Gottesnähe war er jedoch keineswegs das höchste der Geschöpfe: Als reine Geistwesen standen die Engel über ihm. Aufgrund der Dezentrierung des Universums dreht es sich bei Cusanus jedoch nicht mehr um Intelligenzen in anderen Sphären, sondern um Wesen innerhalb des von Menschen bewohnten Universums. Cusa-

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nus vertritt demnach keinen Speziezismus: Der Wert einer Lebensform hängt nicht an der Zugehörigkeit zur biologischen Gattung, sondern am Grad ihrer Geistigkeit. Nicht, wozu andere Lebensformen fähig sind, ist entscheidend, sondern dass sie durch die Form ihrer Geistigkeit in eine unmittelbare Beziehung zu Gott treten können. Da er als Seinsgrund allgegenwärtig ist, ist jede von ihnen in Gott gegründet. Sie partizipiert auf ihre besondere Weise am geistigen Mittelpunkt des Alls, der trotz der Dezentrierung des Universums und der Relativbewegung aller Himmelskörper eine Orientierung verleiht. „Denn die Bewegung aller ist auf Gott gerichtet.“149 Für Cusanus wäre also die von modernen Astrophysikern ersehnte Kommunikation mit anderen Intelligenzen aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit ihrer geistigen Struktur möglich gewesen. Im Jahr 1972 wurde eine Pioneer-10-Sonde ins Weltall gesandt, die eine Plakette trug, die eine Kontaktaufnahme mit außerirdischen Intelligenzen ermöglichen sollte. 1997 verließ sie das Sonnensystem mit einer Geschwindigkeit von 54 000 Kilometern pro Stunde. Die Zeichnung auf der Plakette bedient sich der Symbolik früher Bildschriften und vermittelt grundlegende Daten über die Menschheit: Wie wir aussehen, wie groß wir sind, dass es zwei Geschlechter gibt und wo im Universum unser Heimatplanet ist. Offensichtlich waren die Autoren der Botschaft, die Nasa und der Wissenschaftler Carl Sagan, überzeugt, dass wir nicht die einzigen intelligenten Wesen sind, sondern dass noch andere Wesen in der Lage sind, symbolisch verschlüsselte Botschaften zu verstehen und eine hoch entwickelte Technologie besitzen, mit deren Hilfe sie Radioteleskope und Raumschiffe konstruieren können. Vielleicht wäre ihre Technologie sogar weiter entwickelt als unsere, sodass sie ihr Sonnensystem verlassen und unsere Sonde auf ihrem Weg durchs Universum abfangen und anschließend mit uns Kontakt aufnehmen könnten. Offensichtlich glaubten die Konstrukteure der Sonde auch, dass wir diese Intelligenzen friedlich begrüßen und diese ihrerseits uns in freundlicher Absicht aufsuchen würden. Es handelt sich um ein erstaunlich optimistisches Menschenbild, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sich die Besiedlung anderer Kontinente seit der Renaissance tatsächlich vollzogen hat und dass die ersten bemannten Reisen ins All ebenso wie die erste Mondlandung einen erbitterten Wettkampf um Prestige und Macht zwischen den USA und der damaligen UdSSR auslösten. Ebenso wenig wie bei unserer eigenen Spezies wird bedacht, dass auch andere Intelligenzen zum Guten wie zum Bösen fähig und deshalb bei der Kontaktaufnahme von niederen Motiven, von der Gier nach Macht, Prestige oder Besitz, geleitet sein könnten. Außerdem waren die Autoren der Botschaft überzeugt, dass die Vernunft nicht nur die Einheit der Menschheit, sondern sogar die aller intelligenten Wesen im Weltall ermöglicht. Damit würde sie zur Grundlage für eine die Gattungen übergreifende ethische

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Orientierung, für gegenseitigen Respekt und den friedlichen Austausch von Erfahrungen und Gütern. Dass der Sonde eine symbolisch verschlüsselte Botschaft mit auf den Weg gegeben wurde, verrät daher ein weiteres Motiv: Es dreht sich nicht nur um die wissenschaftlich distanzierte Erforschung der Frage, ob es noch woanders intelligente Lebewesen gibt, sondern auch um den Wunsch, mit ihnen zu kommunizieren. Wenn es, wie Cusanus und moderne Astrophysiker vermuten, vernunftbestimmte Wesen gibt, die nicht zur menschlichen Spezies gehören, erweitert sich allerdings auch der Radius ethischer Pflichten: Wir hätten ihnen gegenüber Pflichten und müssten ihre Rechte respektieren. Außerdem könnte man ihre Existenz nicht mehr durch ein zufälliges und äußerst unwahrscheinliches Zusammentreffen voneinander unabhängiger Bedingungen erklären. Der Mensch wäre nicht, wie Monod glaubte, ‚ein Zigeuner am Rande des Universums‘, der einsam und verloren in der unermesslichen Weite des Weltraumes auf einem unscheinbaren Planeten eine durchschnittliche Sonne umkreist. Wie die Erde wäre das ganze Universum ein Ort, der Lebewesen beheimaten kann. Die Entstehung des Lebens und dessen Entwicklung zu immer komplexeren Formen, so glauben viele Astrophysiker heute, kann sich zwar nur unter bestimmten Bedingungen vollziehen; wenn diese jedoch vorhanden sind, dann entwickelt es sich vermutlich mit Notwendigkeit. Doch auch die Erklärung durch Zufall und Notwendigkeit wirft Fragen auf, die sich allein mit der Methode der Naturwissenschaften nicht mehr beantworten lassen und eine nicht geringe Zahl von Astrophysikern zu Metaphysikern macht: Wie konnten das Universum und die Naturgesetze, die seine Entwicklung steuern, entstehen? Was geschah ‚im Anfang‘ von allem? Die Astrophysik ist die Disziplin, bei der das Denken unweigerlich an seine Grenzen stößt. R. Kippenhahn schreibt: „Galaxien und mit ihnen Menschen können nur in einem Weltall entstehen, in dem Unregelmäßigkeiten, die nicht zu Galaxien führen, mit der Zeit abklingen. Es scheint mir wichtig zu sein, daß man festhält, daß, wer immer die Welt entstehen ließ, eine Auswahl getroffen hat. Der Anfangszustand des Weltalls [ist] außerhalb der Physik. Wer war es, der die Welt in die Physik warf? Die Physik kann uns dazu nichts sagen, so wie uns die Ballistik nicht den Namen des Schützen verrät, der auf uns zielte. Die Frage nach Ursache und Urheber, sosehr sie sich uns aufdrängt, können wir nicht naturwissenschaftlich beantworten. Je mehr ich darüber nachdenke, um so weniger verstehe ich, warum naturwissenschaftliche Erkenntnisse Glaubensvorstellungen verdrängen sollen.“150

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4.3 Zur Genese eines methodischen Konflikts: Von der Natur als natura naturans zur Quantifizierung empirischer Eigenschaften Cusanus entwickelte nicht nur eine Kosmologie, die in die Zukunft weist, sondern skizzierte auch die Methode der empirischen Wissenschaften. Aufgrund humanitärer Argumente forderte er in einem, im Kontext seines Gesamtwerkes, kleinen Traktat mit dem bezeichnenden Titel ‚Der Laie und die Experimente mit der Waage‘, dass man alle Eigenschaften von Objekten, die messbar sind, messen solle – um damit eine bessere Diagnostik in der Medizin und die Intensivierung des Ackerbaus zu erreichen und nicht nur den wissenschaftlichen, sondern auch den sozialen Fortschritt voranzutreiben. Durch Galilei wurde das „Programm einer Erfahrungswissenschaft“151 zur Grundlage der Naturwissenschaften, die zu jener tiefgreifenden Veränderung des Verhältnisses von Natur und Geist führten, die bis in die Gegenwart auch die philosophische Diskussion bestimmt. Solange man sich, so das Argument, nur auf die subjektive Wahrnehmung von Wärme oder Gewicht stützt, um eine medizinische Diagnose zu stellen, die Witterungsverhältnisse zu beurteilen oder die Stärke der Sonnenstrahlung abzuschätzen, kommt man nie zu exakten Aussagen. Die gewünschte Präzision und Allgemeingültigkeit können nur erreicht werden, wenn man die subjektiven Komponenten des Erlebens, Farben, Töne und Gerüche, von der objektivierbaren Seite der Phänomene, ihrer Größe, Beweglichkeit, Härte oder Temperatur, trennt. Obwohl auch Cusanus sich noch auf den biblischen Ausspruch berief, dass ‚alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet‘ ist, sodass Zählen, Wiegen und Messen für ihn ursprüngliche Tätigkeiten des Verstandes waren, ändert sich durch die Quantifizierung von Eigenschaften die Bedeutung von Zahlen. Sie verlieren ihren symbolischen Charakter, der den Aufbau der Kathedralen und die Gliederung von Dantes ‚Göttliche Komödie‘ bestimmt hatte, und werden zu Maßeinheiten, die sich funktional verknüpfen lassen. Ungenauigkeiten lassen sich nur minimieren, wenn man eine Messung sehr oft unter identischen Bedingungen wiederholt. Um reproduzierbar zu sein, muss man künstlich immer wieder dieselben Anfangsbedingungen herstellen. Nur dann lässt sich das unveränderliche Gesetz erkennen, das sich hinter den empirischen Daten verbirgt und sie erzeugt – obwohl es, wie Cusanus argumentiert hatte, strenggenommen nichts gibt, was mit etwas anderem genau identisch ist. Die Reproduzierbarkeit der Messung garantiert zudem, dass sie grundsätzlich von jedem Menschen zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort durchgeführt und damit überprüft werden kann. Dazu müssen freilich auch die verschiedenen Beobachter als gleichartig angesehen werden; ihre biographische Individualität, ihre Ziele und Werte sind für diese Methode irrelevant. Der Beobachter kommt nur soweit ins Spiel, als er nach formalen Kriterien Daten analysiert und verknüpft.

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Durch das systematische Experiment ist die Entwicklung der Naturwissenschaften untrennbar mit der der Technik verbunden. Auch sie bilden daher die Realität nicht einfach ab, sondern analysieren sie aufgrund einer begrenzten Fragestellung und vermittels einer bestimmten Versuchsanordnung. Einerseits werden durch immer bessere Technologien Bereiche erschlossen, die der lebensweltlichen Erfahrung verschlossen bleiben, obwohl sie für diese bedeutsam sein können. Radioaktivität oder ultraviolette Strahlung, für die Menschen keine Sinne haben, beeinflussen körperliche Funktionen und bestimmen die Ziele einer Gesellschaft und menschliche Emotionen mit. Andererseits wird das, was erfahrbar ist, auf das beschränkt, was empirisch überprüfbar und quantifizierbar ist. Qualitäten werden in Quantitäten überführt. Farben, die durch ihre ästhetischen Qualitäten auf die Verfassung des Beobachters einwirken und in der künstlerischen Darstellung eine symbolische Bedeutung haben, werden zu Wellenlängen und Frequenzen. Der naturwissenschaftliche Begriff der Erfahrung unterscheidet sich daher in charakteristischer Weise vom lebensweltlichen, der auf der Betrachtung der Phänomene beruht, die für Menschen unmittelbar zugänglich und bedeutsam sind. Da sich die Theorie nur auf in systematisch durchgeführten Experimenten gewonnene empirische Daten stützt, erklärt sie die Welt ohne Bezug auf die Subjektivität des beobachtenden Individuums. Dadurch erscheinen alle Objekte, lebende Wesen eingeschlossen, nur unter der Perspektive des außen stehenden Beobachters, der der dritten Person. Sogar für die Quantentheorie, bei der der Prozess der Beobachtung nicht länger vernachlässigt werden kann, ist die Subjektivität des Beobachters irrelevant. Die empirischen Wissenschaften fragen nicht danach, was die Seienden sind und warum bzw. wozu sie so und nicht anders sind, sondern wie, aufgrund welcher Bedingungen und Gesetze etwas geschieht. Ein Ereignis zu erklären bedeutet nun, es aus einer zeitlichen Abfolge von kausal wirkenden Ursachen, von Randbedingungen und Naturgesetzen, zu verstehen. Indem der Begriff des Zieles eliminiert wird, wird der Begriff der Kausalität auf den der Wirkursache beschränkt. Die Entitäten sind nur noch durch äußere Relationen verbunden, durch die sie kausal aufeinander einwirken. Newton, der zum ersten Mal die Mechanik mathematisch formal darstellte, definierte deren Aufgabe folgendermaßen: „In diesem Sinne wird die theoretische Mechanik die Wissenschaft von den Bewegungen sein, die aus bestimmten Kräften hervorgehen, und von den Kräften, die zu bestimmten Bewegungen erforderlich sind.“152 Mit dem Ziel der naturwissenschaftlichen Methode, die Gesetze zu erkennen, die für gleichartige Ereignisse gelten, verändert sich das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem. Das Einzelne ist nicht mehr einzigartig, sondern ein Exemplar des Allgemeinen, dem es untergeordnet ist. Nur die Randbedingungen,

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die in einem Experiment künstlich variiert werden können, machen seine Besonderheit aus, sodass es rein quantitativ durch ein anderes Exemplar ersetzbar ist.153 Der mathematische Begriff des Gesetzes löst den der Form ab und entzieht ihm jede Anwendung auf die Erklärung der Naturerscheinungen. Die experimentell vermessene Natur ist daher nicht mehr die natura naturans, von der Plotin und Cusanus gesprochen haben; sie besteht aus einer Ansammlung von Körpern, deren Zustandsveränderung in der Raum-Zeit sich naturgesetzlich erklären lässt. Unter diesen Prämissen können die Wege der Natur, wie Galilei gesagt haben soll, kein Weg zu Gott mehr sein. Da sich Werte auf Wesen beziehen, für die Ereignisse eine Bedeutung haben, vollzieht die wissenschaftliche Methode mit dem Ausschluss der Subjektivität auch die Trennung des Tatsachen- vom Orientierungswissen. Aus dem empirisch verstandenen Seinsbegriff lässt sich kein Sollen ableiten. Die Erklärung physischer Prozesse beinhaltet daher keine Information über die Ziele, für die sie gebraucht oder nicht gebraucht werden sollten. Aus dem wissenschaftlich bestimmten Sein eines Atoms oder eines embryonalen ‚Zellhaufens‘ lässt sich keine normative Orientierung ableiten. Diese erscheint nun als menschliche Setzung aufgrund individueller Präferenzen oder rationaler Begründungen. Ihre Entstehung verdanken die Naturwissenschaften daher einem neuen Verhältnis von Erfahrung und Denken. Mit den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis ändert sich das, was als wirklich und als wahr gilt. Für Cusanus selbst konnte diese Form des Wissens nur eine Annäherung an das Wesen der Dinge sein. Der Ausschluss der irreduziblen Einzigartigkeit von Entitäten und des Geistes in seiner Subjektivität erfolgte nur innerhalb einer begrenzten Methode und für bestimmte Ziele. Trotzdem zeichnet sich in seinem Programm bereits die Trennung ab zwischen dem, was fortan als ‚objektiv‘ gilt und dem, was ‚nur‘ von subjektiver Relevanz ist. Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlich Nachweisbarem und subjektiv Zugänglichem wird im Laufe der folgenden Jahrhunderte immer mehr zu einer eindeutigen Wertung. Auf ihr beruht bis heute der Anspruch der Naturwissenschaften, objektiv gültige und allgemein verbindliche Aussagen über die Wirklichkeit zu machen und die Ablehnung anderer Erkenntnismodalitäten als subjektgebunden und unwissenschaftlich. Das Programm einer Erfahrungswissenschaft markiert eine geistesgeschichtliche Weichenstellung, bei der sich die Welt der Körper, die wissenschaftlich untersucht werden, von der des Geistes mit seinen qualifizierten Perzeptionen, Zielen und Werten trennt. Auch der Begriff des Kosmos verändert sich: Hat er bei Platon, Hildegard und Cusanus die Totalität aller endlicher Entitäten, unbelebte, belebte und vernunftbestimmte umfasst, so beschränkt sich die physikalische Kosmologie auf die Erklärung der großräumigen raumzeitlichen Strukturen und der materiellen Beschaffen-

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heit von Objekten. Durch die Trennung von Naturwissenschaft, Ethik, Ästhetik und Religion erscheint der Kosmos als sinn- und geistleerer Funktionszusammenhang, der sich mathematisch-formal beschreiben lässt.

B Neuzeit und Moderne 1 René Descartes: Die Einteilung der Welt in Dinge und Personen Merkmal des bisher betrachteten Naturverständnisses war es, dass der Mensch an der Schönheit der Natur Freude empfand und sich ihr staunend und neugierig zuwandte. Platon charakterisiert im ‚Symposion‘ Eros als den Erstgeborenen der Götter, der Himmel und Erde verbindet und in allen Dingen waltet, „in den Leibern aller Tiere sowie in den Gewächsen der Erde und kurz in allem, was ist.“154 Bei Hildegard und Cusanus ist der Heilige Geist als kosmische Kraft in allen Kreaturen gegenwärtig und verleiht ihnen ihre Lebendigkeit. Doch schon die Philosophie von Cusanus hatte sich als janusköpfig erwiesen: Noch im Mittelalter verwurzelt, weist sie bereits voraus in die Neuzeit, für die der Platz in der Natur nicht mehr vorgefunden wird, sondern zu finden ist. Die Geborgenheit, die der mittelalterliche Kosmos in seiner Wohlgefügtheit und Geschlossenheit vermittelte, wird verlassen, um das Leben, wie Giovanni Pico della Mirandola schreibt, nach dem eigenen Willen zu gestalten. Die Kehrseite des größeren Freiheitsbewusstseins ist der Wille zur Macht über die Natur. An die Stelle der selbstgenügsamen Betrachtung tritt die Befragung der Natur im systematischen Experiment, das, wie Bacon formuliert, ihr mit ‚Zwingen und Schrauben‘ ihre Geheimnisse entreißen soll. Dass die Gesetze der Natur, wie Galilei noch ganz im Sinne der platonischen Tradition sagt, in mathematischen Lettern geschrieben sind, ermöglicht eine bis dahin ungeahnte Erweiterung des Handlungsspielraums: Fortan gelten nicht nur in der translunaren, sondern auch in der sublunaren, irdischen Welt zeitunabhängige Gesetze, die man technisch nutzen kann. In dem Maß, in dem sich eine rein naturwissenschaftliche Erklärung physischer Prozesse durchsetzt, wird die Natur zu einem geistlosen, kausalmechanisch bewegten Stoff, zu einer Ressource, die man kaufen und verkaufen kann und die kein Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit mehr aufkommen lässt. „Die wissenschaftliche und technische Welt der Neuzeit“, so formuliert v. Weizsäcker, „ist das Ergebnis des Wagnisses des Menschen, das Erkenntnis ohne Liebe heißt.“155 Zum ersten Mal versucht Descartes die gesamte physische Welt physikalisch zu erklären. Körper, so die entscheidende These, lassen sich nicht durch Sinnes-

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wahrnehmungen, sondern nur durch den Verstand klar und deutlich erkennen. Bei einem Stück Wachs etwa verändern sich die sinnlichen Eigenschaften wie Geruch, Geschmack, Temperatur und Form beim Erhitzen oder Abkühlen. Was allen Formveränderungen zugrunde liegt, ist etwas Ausgedehntes. Qualifizierte Sinneswahrnehmungen wie heiß oder kalt, flüssig oder fest entstehen erst durch körperliche Affektionen im menschlichen Geist. Dass sie für objektiv gehalten werden, ist lediglich eine Folge der naiven, unwissenschaftlichen Alltagserfahrung. Sie tragen jedoch nichts zur Erkenntnis der Substanz des Wachses bei, die trotz wechselnder Zustände dieselbe bleibt. Im Unterschied zum Wesen eines Seienden beinhaltet sie kein Telos mehr, das zur Entfaltung drängt. Descartes geht jedoch noch einen Schritt weiter und führt auch die primären Qualitäten wie Undurchdringlichkeit und Resistenz auf Ausgedehntheit zurück. Beide Eigenschaften lassen sich aus geometrischen und damit mathematischen Eigenschaften der Materie ableiten. Der einzelne Körper kann in seine Bestandteile zerfallen, nicht jedoch das, woraus er gebildet ist, die Materie. „In der ganzen Welt gibt es also nur ein und dieselbe Materie, die allein daran erkannt wird, daß sie ausgedehnt ist.“156 Die Abstraktion von allen sinnlichen Qualitäten ist, wie Galilei und Descartes, Newton und Kant übereinstimmend betonen, eine Voraussetzung für die Mathematisierbarkeit der Natur und die Überprüfbarkeit der Theorie im Experiment. Anders als Descartes geht Newton im Anschluss an die antiken Atomisten davon aus, dass es Elementarteilchen gibt, denen bestimmte sinnliche Qualitäten objektiv zukommen. „Die Ausgedehntheit, die Härte, die Undurchdringlichkeit, die Beweglichkeit und die Trägheitskraft des Ganzen entsteht aus der Ausgedehntheit, Härte, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit, und aus den Trägheitskräften der Teile.“157 Die elementaren Bausteine makroskopischer Körper gelten als unwandelbare Substanzen, die ohne innere Wechselwirkung mit ihrer Umgebung bestehen. Die Frage Platons, wie es zur Bildung unterschiedlich geformter Elementarkörper mit verschiedenen Eigenschaften kommt, erörtert Newton nicht. Vor dem Hintergrund der Schöpfungslehre geht er davon aus, dass sie mit einem Schlag geschaffen wurden. Die Einheit der Körper ebenso wie ihre Vielgestaltigkeit entsteht durch den mechanischen Zusammenschluss von Elementarteilchen, die nur zur Ortsbewegung fähig sind. Der Raum zwischen den Atomen ist leer, sodass sich die Dichte eines Körpers aus dem Abstand zwischen ihnen erklärt. Trotz der unterschiedlichen Antwort auf die Frage, ob es Elementarteilchen gibt, bestimmen Newton und Descartes die Materie durch Passivität. Für beide ist sie kein Korrelat zur Form, sodass es nur eine Art der Bewegung gibt: die Ortsbewegung, die durch mechanisch wirkende Kräfte ausgelöst wird. Die Prinzipien der Bewegung liegen nicht in den Körpern selbst, da die Materie vollstän-

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dig bestimmt ist. Diese können sich nur aufgrund der ihnen eigentümlichen Trägheit angreifenden Kräften widersetzen. Da die Trägheitskraft ein passives Prinzip ist, verharren die Körper im Zustand der Ruhe oder geradlinig gleichförmiger Bewegung, wenn keine äußeren Kräfte auf sie einwirken. Diesen Gedanken formuliert das 1. Newtonsche Bewegungsgesetz158, an das sich das 2. Gesetz unmittelbar anschließt: „Die Bewegungsänderung ist der eingedrückten Bewegungskraft proportional und geschieht in der Richtung der geraden Linie, in der jene Kraft eindrückt.“159 Das 3. Gesetz formuliert die wechselseitige Einwirkung von Körpern aufeinander: „Der Einwirkung ist die Rückwirkung immer entgegengesetzt und gleich.“160 Wie Galilei macht auch Newton keine Aussagen über das Wesen der Kräfte noch über deren Ursache, sondern erklärt nur ihre Wirkung, die sich empirisch beobachten und mathematisch darstellen lässt. Der Ausschluss von Formen und subjektiven Qualitäten aus dem Bild der Natur markiert den Bruch mit dem Naturverständnis, das von Platon bis zu Cusanus leitend war. Dem Programm, alle sinnlichen Qualitäten aus der Erklärung natürlicher Prozesse auszuschließen, ist die Methode der Physik bis heute treu geblieben, wie Schrödinger betont: „Fragt man einen Physiker nach seiner Vorstellung vom gelben Licht, so wird er sagen, daß es aus transversalen elektromagnetischen Wellen besteht, deren Wellenlängen in der Nachbarschaft von 590 μμ (1 μμ = 10–6 mm) liegen. Fragt man ihn aber: ‚Wo steckt denn da das Gelb?‘, so wird er antworten: ‚In meinem Bilde überhaupt nicht; aber alle Schwingungen dieser Art geben, wenn sie auf die Netzhaut eines normalen Auges fallen, dem Besitzer dieses Auges die Empfindung von Gelb‘.“161 Die subjektiven Wahrnehmungen und ihre gefühlten oder gewussten Bedeutungen haben sich von der objektivierbaren Sicht der Welt getrennt. Dadurch zerfällt die Natur, wie Whitehead sagt, „in zwei Abteilungen, nämlich in die in das Bewußtsein aufgenommene Natur und diejenige Natur, die die Ursache des Bewußtseins ist. Die Natur, die das in das Bewußtsein aufgenommene Faktum ist, behält das Grünsein der Bäume in sich, den Gesang der Vögel, die Wärme der Sonne und das Gefühl von Samt. Die Natur, die die Ursache des Bewußtseins ist, ist das zusammengereimte System der Moleküle und Elektronen, die den Geist zur Hervorbringung des Bewußtseins der erscheinenden Natur anregen. Der Treffpunkt beider Naturen ist der Geist, wobei die verursachende Natur hinein- und die erscheinende Natur herausfließt.“162 Das erkennende Subjekt schließt sich entweder mitsamt der qualifizierten Perzeptionen aus der Ordnung der Natur aus oder wendet die mathematisch-physikalische Erklärung auch auf sich an, wie es reduktionistische Theorien tun. Der Begriff der Materie als passivem Material verkürzt daher nicht nur das Verständnis der Natur, sondern auch das der menschlichen Erfahrung. Die Natur ihrer sinnlich-ästhetischen Qualitäten und

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ihrer schöpferischen Dynamik entkleidete Natur kann den Menschen nicht mehr in seiner Leiblichkeit und seinen Gefühlen ansprechen. Während sich die Naturwissenschaften mit der materiellen Welt als totem Stoff befassen, fällt der Philosophie die Analyse des Geistes und seiner Ausdrucksformen zu. Gerade in der Getrenntheit von Natur- und Geisteswissenschaften spiegelt sich die geistesgeschichtliche Weichenstellung, die den Dualismus von Materie und Geist begründet hat. Prägnant fasst Cassirer die Transformation zusammen, die sich mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften vollzogen hat: „Der Größenbegriff war es gewesen, der, indem er eine neue Art der Naturbetrachtung schuf, die prinzipielle Umgestaltung der Weltbetrachtung ermöglichte: die Zurückführung allen Geschehens auf rein quantitative Veränderungen bildete für Galilei wie für Descartes den Anfang und die Bedingung ihrer Fragestellung. Damit änderte sich der Begriff des Seins selbst.“163 Durch die Gleichsetzung des Physischen mit dem Physikalisierbaren unterliegt „der gesamte physische Bereich gesetzesartiger Notwendigkeit.“164 Da das Programm der Physikalisierung des Physischen auch auf lebendige Körper angewendet wird, kann sich der Mensch selbst nicht mehr als leib-geistige Einheit begreifen. Wie alle Körper, so argumentiert Descartes, ist auch der menschliche teilbar und vergänglich. Man kann einzelne Gliedmaßen abnehmen, ohne dass das Bewusstsein, ein denkendes Wesen zu sein, beeinträchtigt wird. Das Herz funktioniert wie eine Pumpe, die das Blut durch ein Röhrensystem presst; das Gehirn gleicht einem komplizierten Räderwerk; Sehnen und Knochen wirken wie Verstrebungen und Stützen. Dass man nur am eigenen Körper Lust und Schmerz fühlt, interpretiert Descartes rein funktional: Diese Empfindungen sollen dem Geist anzeigen, was für den Körper zuträglich oder schädlich ist. Für das Verständnis der körperlichen Funktionen sind sie genauso unwichtig wie für die des Geistes und sein Verhältnis zur Welt. Geist und Körper unterscheiden sich daher nicht nur beiläufig, sondern substanziell in den für sie jeweils konstitutiven Eigentümlichkeiten. Der unendlichen Teilbarkeit der Körperwelt, in der es keine einheitsbildenden Prinzipien gibt, steht die Unteilbarkeit des denkenden Ich, das ungeachtet aller wahren und falschen Inhalte sich selbst als denkend begreift, vermittlungslos gegenüber. „Und wenngleich ich einen Körper habe, der mit mir sehr eng verbunden ist, so ist doch, − da ich ja einerseits eine klare und deutliche Vorstellung meiner selbst habe, sofern ich nur ein denkendes, nicht ausgedehntes Wesen bin, und andererseits eine deutliche Vorstellung vom Körper, sofern er nur ein ausgedehntes, nicht denkendes Wesen ist − so ist, sage ich, soviel gewiß, daß ich von meinem Körper wahrhaft verschieden bin.“165 Indem Descartes die Identität nur auf das denkende Ich stützt, verliert der Mensch alle wesentlichen Beziehungen zur Natur und den Mitmenschen. Er wird weltlos.

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Die Anwendung der naturwissenschaftlichen Methode auf alle physischen Prozesse führt zu einer erkenntnistheoretischen Asymmetrie: Die Bestimmung des Körpers wird nur aus der Perspektive der dritten Person abgeleitet; die Analyse des Geistes kann dagegen auf die der ersten Person nicht verzichten. Da alle physischen Prozesse als geistlos erscheinen, wird Geist zu einem Phänomen der je eigenen Innenwelt. Das erkennende Subjekt steht mit seinen qualifizierten Perzeptionen und Intentionen geistlosen, kausalmechanisch bewegten Objekten gegenüber. Anders als Descartes, der noch eine undefinierbare Einwirkung des Geistes auf den Körper zuließ, um Handlungen zu erklären, zieht Spinoza den entscheidenden Schluss: Weder können mechanische Prozesse Vorstellungen, Ziele und Zwecke erzeugen noch können Bedeutungen auf mechanisch bewegte Körper einwirken. „Dagegen wird kein Körper durch einen Gedanken begrenzt und kein Gedanke durch einen Körper.“166 Subjektiver Idealismus und reduktionistischer Materialismus sind die beiden Modelle, mit deren Hilfe man in den folgenden Jahrhunderten versuchen wird, den cartesischen Dualismus zu überwinden. Bis heute sind viele Wissenschaftler überzeugt, dass sich die Asymmetrie von erster und dritter Person-Perspektive nur durch eine naturalistische Erklärung des Geistes aufheben lässt. Um diese Hypothese zu verifizieren, müsste man allerdings zeigen, dass und wie materielle Prozesse geistige verursachen. Empirisch zugänglich sind nur die neuronalen Korrelate von Gedanken und Gefühlen, nicht jedoch die Inhalte des Bewusstseins. Obwohl ein Gerät aufzeichnen kann, welche Gehirnregionen aktiv sind, wenn jemand spricht, bleibt die Bedeutung, die die Worte für den Sprecher und den Angesprochenen haben, unzugänglich. Sie zu verstehen ist wiederum die Voraussetzung für eine gelingende soziale Kommunikation und die praktisch-ethische Orientierung im Alltag. Dass der Körper der Außenwelt zugeordnet und unter der Perspektive der dritten Person analysiert wird, hat auch Folgen für das Verhältnis zu den Mitmenschen. Als „Gliedermaschine“167 ist der Körper kein Ausdruck von Innerlichkeit, von Absichten und Werten. Das Auge erscheint nicht mehr als Spiegel der Seele, sondern als Sehapparat, der nach den Gesetzen der Optik funktioniert. Am äußeren Erscheinungsbild lässt sich daher nicht mehr ablesen, ob das Gegenüber Bewusstsein hat, Schmerz oder Glück empfindet und Absichten verfolgt. Nur noch durch einen Analogieschluss kann der außenstehende Beobachter von der körperlichen Erscheinung auf eine in ihr wie in einer Schachtel verborgene Innenwelt schließen. Durch die Begründung der Identität im denkenden Ich werden auch die Relationen zu den Mitmenschen irrelevant. Der Individualismus der modernen Gesellschaften spiegelt sich in den individualistischen Anthropologien von Descartes, Hobbes, Lockes und Rousseau. Woher, so lautet folgerichtig die Frage konstruktivistischer Philosophien, kann

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man überhaupt wissen, dass es noch andere Menschen gibt? Wie können Zombies, Körper mit menschlicher Gestalt, aber ohne Innerlichkeit, von Personen unterschieden werden? Auch Roboter registrieren Hindernisse und umgehen sie, sie öffnen Türen und steuern scheinbar zielstrebig ein bestimmtes Objekt an. Aber spüren sie den Schmerz, wenn sie sich stoßen? Verstehen sie die Bedeutung der Worte, auf die sie reagieren? Die sichtbaren Verhaltensweisen zeigen nur, dass bestimmte Daten so verarbeitet werden, dass eine der Situation angemessene Reaktion eingeleitet wird. Und zu welcher Ordnung der Wirklichkeit gehören eigentlich nicht-menschliche Lebewesen, Tiere und Pflanzen? Sind sie unteilbar wie der menschliche Geist oder teilbar und mechanisch bewegt wie Körper? Obwohl Descartes Tieren Wahrnehmungen zugesteht, ist er überzeugt, dass man sie kausalmechanisch erklären kann, sodass es keiner wie auch immer gearteten Seele im aristotelischen Sinn bedarf, um Zeugung, Wachstum, Ernährung, Fortbewegung und Verhalten zu beschreiben. Durch das Pumpen des Herzens und dessen Wärme entstehen die biologischen Lebensfunktionen; das Verhalten lässt sich durch Automatismen, wie sie Verdauungsprozessen zugrunde liegen oder Reflexe, wie sie beim Blinzeln auftreten, erklären. Empfindungen wie Hunger, Frieren oder plötzliche Nervosität treten unwillkürlich, ohne Ziele und Absichten auf; ihre Ursachen sind kausal induzierte körperliche Mechanismen. Auch Gefühle haben eine rein physiologische Ursache: Bei der Wahrnehmung von Nahrung werden Impulse durch die Nerven geleitet und lösen bestimmte Bewegungen aus. Um zu begründen, dass die körperlichen Prozesse von Lebewesen mechanisch verlaufen, entwickelt Descartes ein Gedankenexperiment: Man stelle sich einen Supermechaniker vor, der noch nie ein Tier gesehen hat und der eine Maschine konstruiert, die sich wie echte Tiere bewegt. Würde er dann eines Tages wirkliche Tiere sehen, würde er sie für die von ihm konstruierten Maschinen halten und ihre Bewegungen mechanisch erklären. Außerdem beruft sich Descartes auf zwei Tests, die er im fünften Kapitel der ‚Abhandlung über die Methode‘ darstellt und die dazu dienen, Automaten von Menschen zu unterscheiden. Noch so raffiniert konstruierte Automaten können, so das Argument, weder mit Wörtern noch mit Zeichen auf das reagieren, wonach man sie fragt; sie können keine neuen Wörter erfinden und nicht über sich selbst sprechen. Während sich Automaten berechenbar und unflexibel verhalten, können Menschen willentlich und situationsadäquat handeln. Da Tiere, so glaubt Descartes, diese Tests nicht bestehen können, kann ihr Verhalten mechanisch erklärt werden. Weil sie kein Bewusstsein von sich haben, fehlt ihnen der unteilbare Geist, sodass nur Menschen und Engel mit Innerlichkeit begabt sind. Durch die Physikalisierung des Physischen und die Gleichsetzung von Innerlichkeit mit der Fähigkeit zum selbstreflexiven, begrifflichen Denken geht die

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Kategorie des Lebens verloren, die seit Platon zwischen toten Körpern und selbstbewusstem Geist, zwischen Mensch und Natur vermittelt hatte. Während Tiere und Pflanzen zu mechanisch bewegten Gliedermaschinen herabsinken und dem Bereich der res extensa, der Körperwelt, zugeordnet werden, der unter der Perspektive der dritten Person beschrieben wird, definiert sich der Mensch als res cogitans, als denkendes Ich. Erst jetzt gewinnt er jene überragende Sonderstellung, die durch die Evolutionslehre in Frage gestellt werden wird. Nur für diese Tradition konnte die Entdeckung der Verwandtschaft von Mensch und Tieren zu einem Schock und einer narzisstischen Kränkung werden. Die große Kette der Wesen zerfällt in zwei Arten des Seienden, die nichts mehr miteinander gemeinsam haben: in Dinge und Personen. Unter diesen Prämissen ist die Frage, ob Menschen sich bis zu einem gewissen Grad in andere Lebewesen hineindenken können, ob sie empathisch reagieren und mit ihnen kommunizieren können, sinnlos geworden. Descartes sieht Analogieschlüsse vom menschlichen Verhalten auf das der Tiere daher auch als Projektionen an, die bar jeder naturwissenschaftlichen Grundlage sind. Dass Tiere nicht nur juristisch, sondern auch in Philosophie und Wissenschaft unter die Kategorie ‚Dinge‘ fallen, hat weitreichende Folgen für die Ethik: Wenn, mit Ausnahme der menschlichen Subjektivität, die Wirklichkeit nur als mechanisch bewegte Objektwelt gedeutet wird, entfällt die aristotelische Unterscheidung zwischen naturgemäßen und naturwidrigen Bewegungen, zwischen artgerechten und artwidrigen Lebensbedingungen. Ohne auf ihr Eigenleben Rücksicht nehmen zu müssen, kann man Tiere wie Sachen behandeln, deren einziger Zweck in ihrem Nutzen besteht, den sie für Menschen haben. Sie haben keinen Eigenwert, sondern sind Mittel, um menschliche Interessen zu befriedigen; ihr Wert wird durch die Funktion bestimmt, die sie für die Gesellschaft haben, als Objekte der Wissenschaft, der Nahrungsproduktion, ökonomischer Kalkulationen oder des Amusements. Als Sachen sind sie keine Mitglieder der moralischen Gemeinschaft, sodass Menschen ihnen gegenüber keine Pflichten haben. Wie Descartes sieht der Behaviorismus, der in den 1950ern dominierte und teilweise noch heute vertreten wird, in Tieren seelenlose Automaten. Ihr Verhalten, wie komplex auch immer, gründet entweder auf Reflexen oder ist das Ergebnis einer Konditionierung, einer Reaktion, die durch Lohn und Strafe andressiert wurde.

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2 Gottfried W. Leibniz: Jede Monade ist ein lebendiger Spiegel des Universums Der cartesische Dualismus blieb freilich nicht ohne Widerspruch. Kein Geringerer als Leibniz wandte sich gegen die Aufspaltung der Welt in den denkenden Geist und die ausgedehnte Materie und band den Menschen noch einmal in die Ordnung der Natur ein. Unabhängig davon, ob man, wie Descartes, die Materie als ausgedehnt denkt oder, wie Newton, von unteilbaren Atomen ausgeht, kann man nicht erklären, wie Körper eine begrenzte, unverwechselbare und für eine gewisse Zeit dauernde Gestalt erhalten. Sogar wenn man den Begriff der Materie durch den der Kraft ergänzt und darin über Descartes‘ Position ebenso hinausgeht wie über den Atomismus Newtons, sind folgende Fragen unausweichlich: Was ermöglicht die Einheit von Körpern − und sei es die der Elementarteilchen? Wodurch entstehen die qualitativen Unterschiede, auf denen der Formenreichtum der sinnlichen Welt beruht? Wie lässt sich die Beobachtung, dass sich Organismen aufgrund innerer Zielgeleitetheit entfalten, mit einer mechanischen Naturerklärung vereinbaren? Die Unterschiedlichkeit von Körpern, so Leibniz, setzt eine innere Einheit voraus, die sich aus mechanischen Kräften wie Druck, Zug oder Stoß nicht erklären lässt. Zwei Diamanten, die zusammengepresst werden, bilden keine Gestaltganzheit. Schon die Materie muss daher strukturiert sein, damit man die Bestimmtheit und Begrenztheit von Körpern erklären kann. Vielheit kann es nur geben, wenn es Einheit gibt. Die moderne Physik sieht sich vor ein ähnliches Problem gestellt: Nicht die Materie überdauert, wie Newton glaubte; invariante Prinzipien, deren ontologischer Status bis heute diskutiert wird, ermöglichen, dass aus Energie immer wieder diskrete Partikel entstehen. Leibniz greift auf den Begriff der Form zurück, ohne jedoch zur antiken Philosophie zurückzukehren. Im Sinne der Physik seiner Zeit hält er daran fest, dass die Bewegungen von Körpern und ihre Wechselwirkung mechanisch zu erklären sind. „Alles das, was im Körper der Menschen und Tiere vor sich geht, ist ebenso mechanisch, wie das, was in einer Uhr vor sich geht.“168 Verfolgt man die kausalen Einwirkungen der Körper aufeinander, so gelangt man immer nur zu körperlichen Vorgängen, niemals zu Begehren, Empfinden, Zielen oder Werten. Da jedoch die Methode der Physik nicht den ganzen Bereich der Wirklichkeit erschließt, muss man sie mithilfe stringenter philosophischer Argumentation ergänzen, um ein Gesamtbild der Natur zu gewinnen. Jedem Körper, auch schon Atomen, werden daher Monaden, unkörperliche, einheitsbildende Kräfte, zugeordnet. Organisation fordert sowohl eine gewisse Eigendynamik wie eine bestimmte Struktur, die die geregelte Entfaltung der verschiedenen Zustände einer Entität erlaubt. Das, was in der Abfolge der einzelnen Zustände

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dauert, ist das Gesetz ihrer Entfaltung.169 Form und Prozess sind miteinander verschmolzen: Die qualitativen Veränderungen der Monade beinhalten, im Unterschied zu den durch die Mechanik beschriebenen Wirkursachen, eine Zielgerichtetheit; ihre Bewegung erfolgt selbsttätig, ohne äußeren Anstoß, sodass die Monaden im Sinne der aristotelischen Bestimmung ‚lebendig‘170 sind. Aufgrund ihrer Selbsttätigkeit nehmen die Monaden Informationen aus ihrer Umgebung auf. Da alle Ereignisse im Universum mehr oder weniger unmittelbar miteinander verbunden sind, versammeln sie Informationen von allen Geschehnissen im Universum wie in einem Brennpunkt in sich. Nicht durch mechanische Einwirkungen, sondern durch Perzeptionen sind sie mit allen anderen Monaden verbunden. Da es unmöglich ist, dass zwei Monaden das Universum unter exakt derselben Perspektive und zum selben Zeitpunkt perzipieren, ist jede Monade auf einzigartige Weise mit allen anderen Monaden verbunden. Monaden sind unteilbare Einheiten, die sich aufgrund der Form der Welterfassung, die für sie wesentlich ist, voneinander unterscheiden. Die allgemeine Bestimmung Kind-sein etwa prägt sich bei jedem Menschen auf besondere Weise aus. Jedes Kind steht in einer spezifischen Relation zu seinen Eltern, Verwandten und Vorfahren. Relationen sind individualisierende Bestimmungen, sodass, wie bei Cusanus und später bei Whitehead, das Individuationsprinzip nicht die Materie, sondern die Form ist. Obwohl jede Monade die Welt unter einer einzigartigen Perspektive erfasst, befinden sich alle Monaden in einer Welt. Das Universum gleicht einer Stadt, die man von verschiedenen Seiten betrachten kann. Indem sich eine Monade entfaltet, stellt sie daher die ganze Welt unter einer einzigartigen Perspektive dar. Selbst- und Weltbezug sind miteinander verschränkt: Das ganze Universum ist konstitutiv für die Besonderheit einer Monade; das Universum seinerseits bildet sich erst aufgrund der Relationen, die die Monaden durch ihre Perzeptionen erzeugen. Die Monaden sind − wie Leibniz im Sinne von Cusanus sagt − „nichts anderes als verschiedene Konzentrationen der Welt, die gemäß der verschiedenen Gesichtspunkte dargestellt wird, durch welche sie sich unterscheiden.“171 Wie Cusanus unterscheidet auch Leibniz innere und äußere Relationen: Körper sind durch Nahwirkungen mechanisch und äußerlich miteinander verbunden, während die Monaden durch Perzeptionen innerlich aufeinander bezogen sind. Sie haben keine Perzeptionen, sondern sie perzipieren. Das, was die Monaden sind, beruht auf den Relationen, die sie durch ihre Perzeptionen erzeugen. Während die Regeln der Dynamik allgemeine Naturgesetze sind, die die konkrete Besonderheit des Einzelfalls nicht berücksichtigen, sind die Monaden trotz ihrer Universalität einzigartig. Um existieren zu können, müssen sie aufeinander abgestimmt sein. Die Vorstellung, es gäbe für sich bestehende, von der Umgebung unabhängige Substan-

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zen, verweist Leibniz in die Schranken bloßer Abstraktion. „Diese Verknüpfung nun oder diese Anpassung aller erschaffenen Dinge an jedes einzelne von ihnen und jedes einzelnen an alle anderen bewirkt, daß jede einfache Substanz in Beziehungen eingeht, die alle anderen ausdrücken.“172 Aufgrund der relationalen Verflechtung gründet keine Monade vollständig in sich; sie ist nicht nur aktiv, sondern immer auch leidend. Ihre Passivität beruht jedoch nicht, wie bei Körpern, auf mechanischen Einwirkungen, sondern darauf, dass sie nicht das gesamte Universum klar und deutlich perzipieren kann. Je klarer und umfassender die Bewusstheit ist, desto aktiver sind die Monaden. Doch nur die Urmonade, Gott, ist reine Aktivität und Bewusstheit zugleich. Obwohl die Philosophie von Leibniz in mancherlei Hinsicht der von Cusanus nahe steht, spiegelt sich in ihr bereits der Konflikt zwischen der individuellen Substanz und dem allgemeinen Gesetz, zwischen teleologischen und mechanischen Prozessen, der sich bei Cusanus durch den Entwurf der Methode der Erfahrungswissenschaft angebahnt hat. Anders als bei Platon und Aristoteles regiert bei Leibniz die causa efficiens unbeeinflusst von der causa formalis die Bewegung der Körper und umgekehrt. Es wäre eine unberechtigte Grenzüberschreitung, wenn man die mathematische Methode auf die durch Finalität gekennzeichnete monadische Struktur anwenden würde. Und da diese ihrerseits nicht in das mechanische Geschehen eingreifen, kann man sie in der wissenschaftlichen Erklärung der Phänomene außer Acht lassen. Dennoch ergeben erst die mechanische und die monadische Sicht zusammen ein Gesamtbild des Universums. Beide Bereiche sind aufgrund einer prästabilierten Harmonie so einander zugeordnet, dass sie in ihrer Unterschiedlichkeit zusammenpassen, ohne sich zu beeinflussen. „Die Seelen folgen ihren Gesetzen, die in einer gewissen Entwicklung der Vorstellungen, entsprechend Gütern und Übeln, bestehen; und auch die Körper folgen ihren Gesetzen, die in den Regeln der Bewegung bestehen. Und dennoch begegnen sich diese beiden Seinsbereiche von völlig verschiedener Art und stimmen miteinander überein wie zwei vollkommen nach demselben Maß eingerichtete Uhren, wenn auch vielleicht von gänzlich verschiedener Konstruktion. Das ist es, was ich prästabilierte Harmonie nenne.“173 Obwohl sich der Körper nach mechanischen Gesetzen bewegt und die Seele Zielen und Werten folgt, spiegeln beide dasselbe Universum. Wie Descartes und Spinoza kann deshalb auch Leibniz den menschlichen Körper nicht als Ausdruck des seelischen Lebens, von Intentionen und qualifizierten Perzeptionen, begreifen. Doch anders als bei Descartes und wie bei Spinoza ist der Mensch immer eine Einheit aus Körper und Geist und kann sich nur aus dem Bezug zum Weltganzen begreifen. Durch die Korrelation von körperlicher und monadischer Ordnung ist nicht nur die Monade individualisiert, sondern auch der ihr zugeordnete Körper. Er untersteht einmaligen Randbedin-

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gungen, da er durch äußere Relationen mit allen anderen Objekten des Universums verbunden ist. Dadurch kann man einen Menschen auch an seiner physischen Erscheinung wiedererkennen.174 Aufgrund der prästabilierten Harmonie kann Leibniz auch Sinnesempfindungen anders bewerten als Descartes: Mehr oder weniger vermittelt lösen die Ereignisse im Universum im eigenen Körper Prozesse aus, die wiederum vom Geist perzipiert werden. Sinneswahrnehmungen gehören zur körperlichen Organisation, da diese mit dem seelischen Geschehen korreliert ist.175 Nur dank der physischen Verbindung mit der Natur, aufgrund der körperlichen Situiertheit im Raum und der durch sie bedingten Sinneswahrnehmungen, ist das Universum erkennbar. Im Unterschied zu etlichen Neurophilosophen wären Leibniz und Spinoza unzufrieden gewesen, wenn sie keine Ursache für den Parallelismus von physiologischen und mentalen Prozessen hätten angeben können. Für Leibniz ist die Welt von Gott von Anbeginn an so geschaffen, dass beide aufeinander abgestimmt sind. Doch aufgrund der mechanischen Erklärung physischer Prozesse kann Leibniz die Welt nicht mehr mit einem Organismus vergleichen; sie ähnelt vielmehr einer Maschine, die allerdings ungleich haltbarer und viel exakter ist als das, was Menschen herstellen können und nicht mehr nachreguliert werden muss. Dennoch vertritt Leibniz keinen Deismus: Die Monaden verdanken ihre Fähigkeit zur Selbsttätigkeit der Immanenz Gottes, der ihr gemeinsamer Mittelpunkt ist und sie durch eine creatio continua erhält. „Man hat sehr richtig gesagt, daß er gleichsam überall Mittelpunkt sei; sein Umkreis ist aber nirgendwo, weil alles ihm ohne jede Entfernung von diesem Mittelpunkt unmittelbar gegenwärtig ist.“176 Auf diese Weise verbindet Leibniz den Gedanken der Transzendenz Gottes, den der Deismus betont und der eine durchgängige naturwissenschaftliche Erklärung der Körperwelt ermöglicht, mit dem der Immanenz, den wir bei Plotin, Hildegard und Cusanus kennengelernt haben. Dadurch ist auch für ihn die Natur nicht nur natura naturata, sondern auch natura naturans, obwohl beide Seiten der Wirklichkeit nicht mehr aufeinander einwirken. Aufgrund der monadischen Struktur, die schon der Materie eignet, ist für Leibniz, anders als für Descartes, nicht nur der menschliche Geist unteilbar. In allen Seinsbereichen finden sich unteilbare Elemente, sodass es nicht nur zwischen Menschen und Tieren, sondern auch zwischen Belebtem und Unbelebtem kontinuierliche Übergänge gibt. Nirgendwo in der Natur gibt es leere Räume oder unvermittelte Sprünge, sodass die Monaden und die ihnen zugeordneten physischen Prozesse wie die Glieder einer Kette vom Menschen bis zu den einfachsten atomaren Strukturen reichen. „Die Menschen stehen also mit den Tieren, die Tiere mit den Pflanzen, und diese wiederum mit den Fossilien in nahem Zusammenhang, während diese letzteren ihrerseits wieder mit den

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Körpern, die uns in der sinnlichen Anschauung erscheinen, zusammenhängen. Das Gesetz der Kontinuität fordert, daß, wenn die wesentlichen Bestimmungsmerkmale eines Wesens sich denen eines anderen nähern, auch alle sonstigen Eigenschaften des ersteren sich stetig denen des letzteren nähern müssen.“177 Nicht die Unteilbarkeit unterscheidet den menschlichen Geist von anderen Entitäten, sondern die Komplexität der monadischen Organisation und der mit ihr verbundenen körperlichen Funktionen. Dadurch erfährt der menschliche Geist in der ganzen Natur Spuren dessen, was ihm von sich selbst vertraut ist. Mithilfe des Begriffs der Analogie, der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des miteinander Verglichenen bedeutet, verbindet Leibniz die Selbsterfahrung des Menschen mit den Formen der Selbsttätigkeit der Monaden in anderen Seinsbereichen. Nichts in der Welt ist völlig geistlos, sodass die Natur in ihrer Formenvielfalt immer mehr ist als ein dem Beobachter gegenüberstehendes Objekt der Erkenntnis, mit dem er nichts gemeinsam hat. Schon einfache Monaden haben die Fähigkeit, Informationen aufzunehmen, ohne dass diese freilich empfunden, gefühlt oder gar gewusst werden. Ob etwas bewusst wird oder ein Wesen sogar Selbstbewusstsein erlangt, hängt von der Komplexität der psycho-physischen Organisation ab. Die Stufenordnung der Natur bildet sich aus dem immer komplexer werdenden Zusammenschluss von Monaden und der ihnen entsprechenden körperlichen Organisation; wachsende Komplexität in der physischen Organisation geht einher mit wachsender Bewusstheit von den äußeren Vorgängen und den Prozessen im eigenen Inneren. Dadurch überwindet Leibniz den cartesischen Dualismus in Hinblick auf den materiellen Aufbau der Wirklichkeit wie den ihm zugeordneten geistigen Aufbau. Aus dem nahezu unmerklichen Übergang zwischen den Lebensformen folgt für Leibniz eine gewisse Ähnlichkeit im Verhalten. Einfache Wesen erkennen weder, was sie sind noch was sie tun. So wie wir in Ohnmacht und Schlaf Geräusche wahrnehmen, ohne dass uns diese bewusst werden, ja sogar ohne dass wir uns des Schlafens bewusst sind, genauso dunkel und verworren sind die Perzeptionen einfacher Lebewesen. Tiere, so argumentiert Leibniz wiederum gegen Descartes, haben bereits Bewusstsein; sie haben Gefühle und Erinnerungen, sodass sie, wie Menschen, aus Erfahrung lernen. Doch nur die intelligente Seele kann ‚Ich‘ sagen; sie spürt nicht nur, was in ihr vorgeht, sondern kann über ihr Tun nachdenken. Sie hat Selbstbewusstsein. Das Wissen um sich ist wiederum die Voraussetzung für die Erkenntnis universeller und notwendiger Wahrheiten sowie ethischer Prinzipien. Wenn Menschen nur aus Erfahrung und Gewohnheit handeln, leben sie, so betont Leibniz, wie Tiere; erst wenn sie auch Gründe und Zusammenhänge durchdenken, wird die Fähigkeit, aus sich heraus tätig zu sein, zur Freiheit.178 Durch die Fähigkeit, sich seiner selbst und des Grundes der

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Welt bewusst zu werden, unterscheiden sich die Menschen zwar von anderen Lebewesen; dennoch ragt auch ihr Bewusstsein noch in die Tiefenschichten des Unbewussten hinab, das die einfachsten Wesenheiten kennzeichnet. Durch das, was Menschen bewusst und unbewusst perzipieren, was sie wahrnehmen, fühlen und erkennen, sind sie an den Facettenreichtum des Universums gebunden. Sie sind im buchstäblichen Sinne Kosmopoliten und weder das Maß noch das Ziel der anderen Geschöpfe. Diese sind nicht für sie geschaffen, sondern konstitutiv für die Komplexität und den Reichtum des Universums insgesamt. „Denn ich glaube, daß nicht allein die Seele und der Körper, sondern auch alle anderen geschaffenen Substanzen des Weltalls füreinander gemacht sind und sich gegenseitig ausdrücken.“179 Leibniz hätte daher noch keine Probleme mit der These der Evolutionären Erkenntnistheorie gehabt, dass sich schon bei Tieren Verhaltensmuster finden, die sich erst beim Menschen voll ausprägen. Allerdings war für ihn die Ursache der Kette der Wesen nicht das Zusammenspiel von Zufall und Naturgesetzen, sondern Gott, der die beste aller kombinatorisch möglichen Welten geschaffen hatte. Die Kette der Wesen war Ausdruck der Intelligibilität und Wohlgegründetheit des Kosmos, seiner Fülle. Doch obwohl bei Leibniz das Prinzip der Kontinuität die unterschiedlichen Seinsstufen stetig miteinander verbindet, weisen diese deutliche Unterschiede auf. Die großen Einteilungen der Natur, anorganisch, vegetativ, animalisch und intellektual unterscheiden sich durch die Form, die die Perzeptionen jeweils annehmen, mithin durch den Grad der Bewusstheit, der den Verhaltensspielraum bestimmt. Da Leibniz alle Entitäten als Einheit in der Vielfalt ihrer Momente begreift, führt eine geringfügige Veränderung einzelner Komponenten zu einer qualitativ neuen Organisation des Ganzen. Nicht aus der Addition von Teilen, sondern aus deren Integration erklären sich die Unterschiede zwischen den Seinsbereichen. Das Gesetz der Kontinuität führt daher zu keinem Gradualismus, sondern beinhaltet sprunghafte Übergänge, wie sie heute aus sich selbst organisierenden Systemen bekannt sind. Da auch für Leibniz die Welt kein ‚Zeugzusammenhang‘ ist, den erst der Mensch durch seine Begriffe und Ziele ordnet, gibt er einige Kriterien an, denen die Ordnung der Natur genügen muss: Grundsätzlich können nur solche Welten existieren, in denen alle Entitäten in ihren körperlichen und geistigen Eigenschaften aufeinander abgestimmt sind; sie müssen koexistieren können. Die beste aller möglichen Welten ist diejenige, die dem Extremalprinzip verpflichtet ist: In ihm zeigt sich für Leibniz die Güte Gottes, der die Welt so geschaffen hat, dass aufgrund der einfachsten Voraussetzungen die größte Vielfalt existieren kann. Dem Gedanken, dass der Kosmos alle möglichen Arten endlicher Wesen enthalten muss, sind wir schon im ‚Timaios‘ begegnet; Leibniz verwandelt den Gedanken jedoch dahingehend, dass nicht alle Wesen verwirklicht werden, son-

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dern nur die, die miteinander kompossibel sind. Diejenigen dagegen, die sich nicht in das komplexe Beziehungsgeflecht einfügen, können nicht erschaffen werden. Dadurch ist die Welt nicht nur durch das Prinzip der Fülle, sondern auch durch Harmonie gekennzeichnet. Es gibt „notwendigerweise Arten, die niemals existiert haben und niemals existieren werden, weil sie mit jener Reihe von Geschöpfen nicht verträglich sind, die Gott ausgewählt hat.“180 Man würde daher den Gedanken, dass die Welt die größtmögliche Mannigfaltigkeit in sich schließt, missverstehen, wenn man ihn als rein quantitatives Maximum deuten würde. Die Vollkommenheit der Welt besteht nicht in der Erfüllung des Raumes, sondern in der größtmöglichen Vielfalt an Formen, Arten und Individuen, die miteinander gleichzeitig oder nacheinander existieren können. Damit gewinnt auch das principium identitatis indiscernibilium eine kosmologische Relevanz: Lebewesen sind, auch wenn sie derselben Art angehören, aufgrund der für sie konstitutiven Beziehungen immer einzigartig. Die größtmögliche Vielfalt wird erreicht, wenn die Differenzen zwischen den Entitäten minimal sind, wenn sie nahezu kontinuierlich ineinander übergehen.

3 Immanuel Kant: Vom Verlust der Kosmologie Wie Leibniz setzt sich auch Kant mit dem Empirismus und den Naturwissenschaften, ihren Inhalten und ihrer Methode, auseinander; und wie Locke vollzieht er den Wechsel von der Substanzontologie zur Bewusstseinsphilosophie. Kant löst das Problem, das Bewusstsein von Zielen und Zwecken mit einer mechanischen Erklärung materieller Prozesse zu versöhnen, durch eine erkenntnistheoretische Wendung auf. Er analysiert nicht, was die Dinge sind, sondern nur die Bedingungen, unter denen sie erkannt werden. Da diese allgemeingültig sind, wird die Erkenntnis nicht der Beliebigkeit individueller Wahrnehmungsprozesse und kulturell geprägter Lebensgewohnheiten überantwortet. Obwohl die Erkenntnis nicht mehr objektbezogen ist, sondern auf den Erkenntnisschemata des Subjekts basiert, ist sie allgemeingültig. Mit der ‚Kopernikanischen Wende‘ in der Erkenntnistheorie führt Kant den cartesischen Ansatz weiter und macht die Natur vollends zum Gegenstand des Erkennens und Handelns. Während Kopernikus die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt gerückt hatte, macht Kant umgekehrt den Menschen zum Zentrum der Welterschließung. Den Sinnen, so glaubt Kant, tritt ein zunächst völlig ungeordnetes Datenmaterial entgegen. Würde es jedoch nur zusammenhanglose Sinneseindrücke geben, wäre keine Erkenntnis möglich; erst durch deren gesetzliche Verknüpfung entsteht ein Bild vom Objekt. Das sinnliche Material gewinnt seine Form durch Grundbegriffe, die nicht von den Dingen abgelesen,

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sondern durch den menschlichen Geist an sie herangetragen werden. Nur aufgrund der Anschauungsformen von Raum und Zeit und der Kategorien der Substantialität, Kausalität und Wechselwirkung sind Erfahrungen möglich. „Die Einheit der Objekte wird doch lediglich durch den Verstand bestimmt, und zwar nach Bedingungen, die in seiner eigenen Natur liegen; und so ist der Verstand der Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur, indem er alle Erscheinungen unter seine eigenen Gesetze fasst.“181 Durch die Bindung der Begriffsbildung an die Sinnlichkeit beschränkt Kant den Bereich möglicher Erfahrungen auf das, was in Zeit und Raum gegeben ist. Einerseits sind Begriffe ohne Anschauung leer; andererseits kann es keine überempirischen Erfahrungen geben. Im Unterschied zu Newton, von dem Kant stark beeinflusst war, ist die Zeit nur die Form des inneren, der Raum die des äußeren Sinnes. Nur weil Menschen die Fähigkeit haben, Zeit wahrzunehmen, erscheinen ihnen die Ereignisse in einer zeitlichen Ordnung.182 Auch beim Raum handelt es sich um eine apriorische Struktur, die nicht aus einer Vielzahl einzelner Erfahrungen abgeleitet wird. Dass ein Wesen strukturell fähig sein muss, Raum und Zeit zu ordnen, um einzelne Ereignisse in ihrer zeitlichen Folge und räumlichen Distanz wahrnehmen zu können, ist unbestreitbar. Dennoch stößt Kants Bestimmung von Zeit an eine Grenze: Wirkliche Prozesse des Werdens und Vergehens, von Geburt und Tod können nicht als mentale Konstruktionen begriffen werden. Nicht nur die vernetzte Dynamik natürlicher Prozesse in einem Ökosystem, auch die existenzielle Dimension der Endlichkeit entzieht sich daher seiner Bestimmung von Zeit. Und da auch Kant alle Körper, belebte und unbelebte, als Objekte bestimmt, die sich an einem bestimmten Ort im Raum befinden, die aber den Raum nicht selbst erschließen, bleibt auch bei ihm die Frage unbeantwortet, wo sich der erlebte Leib als Medium des Ausdrucks von Innerlichkeit zuordnen lässt. Da bei Kant eine Rückwirkung natürlicher Prozesse auf die begrifflichen Schemata ausgeschlossen ist, können diese nicht korrigierend auf jene einwirken. Ohne die Möglichkeit einer Erweiterung des Begriffssystems kann sich der Horizont der Erfahrung, so wird Whitehead argumentieren, nicht strukturell verändern. Und da die Ordnung der Natur nur durch den menschlichen Geist gestiftet wird, kann diese auch nicht durch Handlungen beeinflusst werden. Eine Rückwirkung der Eingriffe in die Natur auf ihren Verursacher, wie sie sich durch die ökologische Krise abzeichnet, ist vollends unerklärlich. Noch in den ‚metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft‘ (1786) geht Kant davon aus, dass die wissenschaftliche Betrachtung der Natur mit der mathematischen zusammenfällt.183 Die Natur umfasst das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist. Erst in der ‚Kritik

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der teleologischen Urteilskraft‘ (1790) argumentiert er für die methodische Eigengesetzlichkeit der Biologie, da sich deren Gegenstände durch charakteristische Merkmale von toten Objekten unterscheiden. Lebewesen sind durch eine rückbezügliche Struktur gekennzeichnet: Sie erhalten sich durch den Stoffwechsel als Individuen und durch Vermehrung als Art. Auf den ersten Blick scheint sich Kant der aristotelischen Differenzierung zwischen technischen Erzeugnissen und Lebewesen anzunähern. Während bei jenen der Konstruktionsplan von außen an ein geeignetes Material herangetragen wird, haben Lebewesen das Prinzip und das Ziel ihrer Entwicklung in sich. „Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern es besitzt in sich bildende Kraft.“184 Ein Organismus muss, so hatte auch Leibniz argumentiert, als ein Ganzes begriffen werden, als eine Einheit in der Vielfalt seiner Teile. Um den Begriff der Ganzheit zu verstehen, muss man den der Ursache differenzieren: Der Prozess der Selbsterhaltung wird nicht von vorangehenden Ursachen kausal determiniert; er beinhaltet ein antizipatorisches Moment, das die einzelnen Teilfunktionen auf etwas zu Leistendes ausrichtet. Ein Organismus würde sich nicht erhalten können, wenn Ursachen und Wirkungen nur in einer endlosen Sukzession aufeinander folgen würden. Erst indem eine Wirkung eine bestimmte Funktion für das Ganze gewinnt, ist Selbsterhaltung möglich. Der Zweckbegriff lässt sich deshalb nicht auf den Kausalbegriff reduzieren. „Die Kausalverbindung, sofern sie bloß durch den Verstand gedacht wird, ist eine Verknüpfung, die eine Reihe (von Ursachen und Wirkungen) ausmacht, welche immer abwärts geht; und die Dinge selbst, welche als Wirkungen andere als Ursache voraussetzen, können von diesen nicht gegenseitig zugleich Ursache sein. Diese Kausalverbindung nennt man die der wirkenden Ursachen (nexus effectivus). Dagegen aber kann doch auch eine Kausalverbindung nach einem Vernunftbegriffe (von Zwecken) gedacht werden, welche, wenn man sie als Reihe betrachtete, sowohl abwärts als aufwärts Abhängigkeit bei sich führen würde, in der das Ding, welches einmal als Wirkung bezeichnet ist, dennoch aufwärts den Namen einer Ursache desjenigen Dinges verdient, wovon es die Wirkung ist. Eine solche Kausalverknüpfung wird die der Endursachen (nexus finalis) genannt.“185 Obwohl sich viele Teilprozesse mechanisch erklären lassen, sind sie in den Organismus als Funktionsganzheit integriert und den finalen Prozessen untergeordnet. Dennoch ist das Ganze den Teilen nicht als äußerliches Organisationsprinzip übergeordnet; es wird seinerseits erst durch das Zusammenspiel der Teile konstituiert. „Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.“186 Anders als eine Maschine, die man in Teile zerlegen kann, ist ein Organismus unteilbar und organisiert sich durch die Rückkopplung zwischen Ganzem und Teilen selbst; er ist „Ursache und Wirkung seiner selbst.“187

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Da das Funktionieren der Teile keinem äußerlich vorgegebenen Ziel dient, sondern dem Organismus selbst, hat dieser, anders als eine Maschine, einen Zweck in sich. „In einem solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen existierend, d.i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist, (denn es könnte auch Werkzeug der Kunst sein, und so nur als Zweck überhaupt möglich vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen, ein Naturzweck genannt werden können.“188 Allerdings beruhen für Kant Zweckursachen nicht auf dem Wesen eines Seienden; sie haben lediglich eine regulative Funktion für die menschliche Erkenntnis, die Organismen ohne die Annahme von Zwecken nicht begreifen kann. Um ihre Funktionsweise zu verstehen, müssen wir sie so betrachten, als ob sie eine ihnen innewohnende Form hätten und ein immanentes Ziel verfolgen. Deshalb kann man Organismen nicht naturgesetzlich mithilfe des Verstandes erklären, sondern benötigt auch die Vernunft, die etwas aufgrund eines Endzweckes beurteilt. Sie bestimmt nicht nur, wie, sondern wozu etwas geschieht. Deshalb kann man zwar in der Physik, nicht jedoch in der Biologie auf den Begriff des Zweckes verzichten. Ob die Organismen allerdings wirklich einen Selbstzweck haben, kann man nach Kant nicht entscheiden. Im Unterschied zu den antiken und mittelalterlichen Denkern bleiben bei Kant allerdings qualifizierte Wahrnehmungen und Bedürfnisse, die das Verhalten motivieren, unberücksichtigt; er analysiert lediglich, aufgrund welcher Gesetzmäßigkeiten Organismen funktionieren. Im Sinne der modernen Systemtheorie betrachtet er sie als Objekte der Erkenntnis. Damit ändert sich auch der Begriff des Zwecks: Sobald Lebewesen ein Moment der Innerlichkeit, von Subjektivität und Geistigkeit besitzen, beruhen Zwecke auf qualifizierten Perzeptionen und dem Gespür für Bedeutungen, die ein Streben auslösen. Kant dagegen beschränkt sich auf die Beobachtung, dass Rückkoppelungsprozesse die Voraussetzung für die Selbsterhaltung von Organismen sind. Zwecke entspringen keiner Selbstursächlichkeit und beinhalten kein Streben nach Erfüllung und Wohlbefinden, sondern sind funktional zu verstehen. Sie dienen nicht der Entfaltung von Möglichkeiten, sondern der Selbst- und Arterhaltung. Für Kant organisieren sich freilich nicht nur einzelne Organismen selbst, sondern die ganze Natur. Auch in diesem Fall hat das Prinzip des Zweckes als Regel der Erkenntnis keine konstitutive, sondern nur eine regulative Bedeutung. Es beinhaltet keine Aussagen über das Sein der Natur, sondern nur darüber, mit welchen Begriffen ihre Eigendynamik zu beurteilen ist.

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Ebenso wenig wie Spinoza und Leibniz begnügt sich Kant mit einem bloßen Nebeneinander zweier Erklärungsmodalitäten der Natur, der mechanischen und der organismischen. Da die Erkenntnis die verschiedenen Sichtweisen zu einer Einheit verknüpfen muss, um sich nicht selbst zu zerstören, muss die Welt einen Grund haben, in dem die Gegensätze aufgehoben sind. Die Versöhnung der mechanischen und der organismischen Sichtweise ist für Kant nur in einem intelligiblen Sein möglich, das zwar nicht bewiesen werden kann, aber als denknotwendiges Postulat eingeführt werden muss. „Die Möglichkeit einer solchen Vereinigung zweier ganz verschiedener Arten von Kausalität begreift unsere Vernunft nicht; sie liegt im übersinnlichen Substrat der Natur.“189 Auch in ethischer Hinsicht ist Kant vorsichtiger als Descartes: Zwar unterscheidet auch er den Menschen von allen anderen Lebewesen. Nur Menschen können zweckvoll und zielgerichtet handeln, indem sie sich aus Einsicht und freier Entscheidung über die empirische Bedingtheit einer Situation und die eigenen Neigungen erheben und die Maßstäbe ihres Handelns selbst begründen: „Nun haben wir nur eine einzige Art Wesen in der Welt, deren Kausalität teleologisch, d. i. auf Zwecke gerichtet und doch zugleich so beschaffen ist, daß das Gesetz, nach welchem sie sich Zwecke zu bestimmen haben, von ihnen selbst als unbedingt und von Naturbedingungen unabhängig, an sich aber als notwendig, vorgestellt wird.“190 Nur Menschen haben daher einen Eigenwert, sodass sie „keine Pflicht, als bloß gegen den Menschen (sich selbst oder einen anderen)“191 haben. Die vernunftlosen Tiere können sich nicht aus der empirischen Bedingtheit befreien, sodass sie „Sachen [sind], mit denen man nach Belieben schalten und walten kann.“192 Dennoch trägt Kant ihrer Leidensfähigkeit zumindest indirekt Rechnung: Obwohl auch blinde Destruktivität gegen tote Objekte auf die Emotionen des Akteurs zurückwirkt, kann man Dinge nicht quälen. Anders als die blindwütige oder gezielte Zerstörung von Objekten beruht Tierquälerei auf der Lust, einem Wesen, das selbst Schmerz und Leid empfindet, absichtlich weh zu tun. Dadurch verstößt der Mensch gegen die Achtung, die er sich selbst schuldet und schädigt die für ethisches Verhalten förderlichen Emotionen: Er verroht.193 Offensichtlich sind Tiere für Kant lebende Sachen: Sie haben zwar keinen intrinsischen Wert, sodass Menschen sie uneingeschränkt benutzen dürfen; dennoch sollten sie ihrer Empfindsamkeit Rechnung tragen, sodass sie nicht gequält werden. Obwohl Kant eine anthropozentrische Ethik begründet, weist er auf einen von den Befürwortern von Tierversuchen und intensiver Massentierhaltung häufig übergangenen Aspekt hin: Menschen können Tiere nicht unter qualvollen Bedingungen züchten, um Nahrungsmittel, die dem puren Genuss dienen, zu erzeugen oder die wissenschaftliche Neugier zu befriedigen, ohne selbst Schaden zu nehmen. Durch die Bestimmung von Organismen als ‚Naturzweck‘

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weist Kant überdies auf eine die anthropozentrische Ethik überschreitende Dimension hin: Organismen, Pflanzen ebenso wie Tiere, sind zumindest in regulativer Hinsicht nie nur als Mittel für äußere Ziele anzusehen, sondern haben aufgrund ihrer teleologischen Organisation immer auch einen Zweck in sich; dann aber liegt der Schluss nahe, dass man sie auch in ethischer Hinsicht so behandeln muss, als ob sie einen Eigenwert hätten. Auch die Ästhetik der Natur kommt zumindest als regulative Idee zur Geltung: Während der menschliche Geist mit seinen Zielen und Zwecken einer kausal determinierten Körperwelt fremd gegenübersteht, löst die Betrachtung der Natur als eines in sich zusammenstimmenden, zweckhaften Ganzen das Gefühl aus, als vernunftbestimmtes Wesen Teil der Natur zu sein. Es sieht so aus, als ob Mensch und Natur in ein sie übergreifendes Sinngefüge eingebettet sind. Dadurch erscheint auch die Natur nicht nur als funktional nützlich, sondern gewinnt neben dem ethischen einen ästhetischen Wert. Der Mensch achtet die Natur und er liebt sie. Während die Achtung für Kant nicht der bloßen Plicht entspringt, sondern ein Vernunftgefühl ist, ist die Liebe keine blinde Leidenschaft oder vernunftlose Neigung. Sie erwächst aus dem Wissen um die innere Affinität von Mensch und Natur und beinhaltet dadurch, wie die Achtung, den Zusammenklang von Erkenntnis und Gefühl. In der ästhetischen Betrachtung der Natur werden daher nicht nur Verstand und Vernunft, sondern auch Sinne und Gefühl angesprochen. Der Mensch erlebt einen Einklang aller Vermögen, mit denen er sich die Welt erschließt. Er ergreift die Natur nicht unter begrenzten Begriffen und benutzt sie nicht nur für bestimmte Ziele. Er wird in einer zweckfreien Anschauung von ihr angesprochen und fühlt sich darin mit sich selbst eins. „Auch Schönheit der Natur, d. i. ihre Zusammenstimmung mit dem freien Spiele unserer Erkenntnisvermögen in der Auffassung und Beurteilung ihrer Erscheinung, kann auf die Art als objektive Zweckmäßigkeit der Natur in ihrem Ganzen, als System, worin der Mensch ein Glied ist, betrachtet werden; wenn einmal die teleologische Beurteilung derselben durch die Naturzwecke, welche uns die organisierten Wesen an die Hand geben, zu der Idee eines großen Systems der Zwecke uns berechtigt hat. Wir können sie als eine Gunst, die die Natur für uns gehabt hat, betrachten, so dass sie über das Nützliche noch Schönheit und Reize so reichlich austeilete, und sie deshalb lieben, so wie, ihrer Unermesslichkeit wegen, mit Achtung betrachten, und uns selbst in dieser Betrachtung veredelt fühlen: gerade als ob die Natur ganz eigentlich zu dieser Absicht ihre Bühne aufgeschlagen und ausgeschmückt habe.“194 Damit lenkt Kant den Blick wieder auf die Facetten der Natur, die sich einer am Ideal der mathematischen Wissenschaften orientierten Form der Erkenntnis entziehen. Voraussetzung für die Erweiterung des Naturverständnisses ist allerdings, dass auch beim Menschen nicht nur Rationalität, Begriffsvermögen und Sprache, sondern

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auch Sinneswahrnehmungen, Gefühle und ethische Urteilsakte zum Tragen kommen. Mahnke schreibt, indem er das Problem der Ausschaltung der Subjektivität aus dem wissenschaftlichen Naturbegriff thematisiert: „Die menschlichen Empfindungs-, Gemüts- und Willenserlebnisse haben nun einmal in ihrer subjektiven Innerlichkeit keine mathematische Form, und nicht einmal der wahre Charakter der Naturentwicklung, geschweige denn der menschlichen Geistesgeschichte wird durch die darin allerdings nachweisbaren Kausalzusammenhänge erschöpfend beschrieben.“195 Obwohl Kant durch die kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie den Menschen aus einer lebendigen, ontologisch begründeten Beziehung zur Natur herauslöst, gelingt es ihm, den Facettenreichtum von wissenschaftlicher, ethischer und ästhetischer Naturerfahrung als Möglichkeiten des Subjekts zumindest regulativ zu bewahren.

4 Johann G. Herder: ‚Des Menschen ältere Brüder sind die Tiere‘ Der Philosoph und Theologe Johann G. Herder, der in Königsberg Hamann und Kant begegnete und den eine jahrzehntelange Freundschaft mit Goethe in Weimar verband, wählt einen anderen Ausgangspunkt als Leibniz, um das Verhältnis des Menschen zu den Tieren zu erörtern: die Frage nach dem Ursprung der Sprache. Lange Zeit sah man in der Sprachfähigkeit ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen; auch die meisten modernen Sprachtheorien gestehen nur Menschen die Möglichkeit zum sprachlichen Ausdruck zu, da sie Begriffe bilden und sich intentional auf etwas beziehen können. Sollten Tiere also stumm sein? Kommunizieren sie untereinander überhaupt nicht? Herder musste sich noch mit einer anderen Fragestellung auseinandersetzen: Nicht nur Menschen, auch Gott sprach. Durch sein Wort hatte er die Welt geschaffen und teilte sich durch Offenbarungen mit. Hatte also die menschliche Sprache einen göttlichen Ursprung? Schon Herodot berichtet, dass der Pharao Psammetich I. in Ägypten herausfinden wollte, was die Ursprache der Menschen ist. Er gab einem Hirten zwei neugeborene Kinder und befahl, sie aufzuziehen, ohne dass sie je ein gesprochenes Wort hören würden. Nach etwa zwei Jahren streckten die Kinder bittend die Hände aus und sagten „bekos“, was in der Sprache der Phryger ‚Brot‘ bedeutete. Aus diesem Wort schloss der Pharao, dass die Phryger ein noch älteres Volk als die Ägypter sein müssten. Auch Friedrich II., so berichtet Salimbene von Parma, ein Franziskaner, versuchte die Ursprache der Menschen herauszufinden, indem er einer stummen Amme Säuglinge übergab. Jeder Ansprache und emotionalen Zuwendung beraubt, starben sie nach wenigen Wochen. In der Ursprache der Menschen, von der die ‚Genesis‘ berichtet, konnten die Menschen, davon

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waren noch Paracelsus und Jakob Böhme überzeugt, die Kreaturen in ihrem Wesen erkennen. Im 20. Jh. rückte Benjamin, der sich auf Johann G. Hamann, einen Zeitgenossen Herders und die jüdische Mystik berief, noch einmal die Vorstellung von der im schöpferischen Gotteswort gegründeten Ursprache in den Blick, in deren Medium die Tiere unmittelbar erkannt und benannt wurden. Erst mit dem Sündenfall, durch den der Mensch aus der reinen Sprache heraustrat, verlor er die Fähigkeit, die Sprache der Natur zu vernehmen und in seine eigene zu übersetzen. Seither greifen die Menschen willkürlich und blind in die Zusammenhänge der Natur ein und zerreißen sie. Sprachlosigkeit und Leid der Natur ließen sich nur durch die Rückkehr zum Ursprung wieder aufheben. Erst seit etwa 200 Jahren wird die Entstehung der Sprache auch aus dem entgegengesetzten Blickwinkel empirisch erforscht: Die Evolutionslehre lenkte die Aufmerksamkeit auf die Ausdrucks- und Kommunikationsformen der Tiere als Vorformen der menschlichen Sprache; und die vergleichende Sprachwissenschaft analysiert Bau und Wortschatz von Sprachen, um aus ihren Verwandtschaftsverhältnissen Aufschlüsse über die frühesten Formen der Verständigung zu gewinnen. Herder war einer der ersten, der die menschliche Sprache im Horizont der Naturgeschichte betrachtete: Im Jahr 1772 reichte er eine Schrift mit dem Titel ‚Über den Ursprung der Sprache‘ bei der Preußischen Akademie der Wissenschaften ein. In einem Preisausschreiben hatte die Akademie die Frage gestellt: „Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können? Und: Auf welchem Wege hat der Mensch sich am füglichsten Sprache erfinden können und müssen?“196 Fast ein Jahrhundert vor Darwin plädierte Herder für deren natürliche Entstehung mit Argumenten, die noch heute aktuell sind. Wie Leibniz knüpft er an das Motiv der Kette der Wesen an, sodass Menschen und Tiere nicht nur aufgrund ihres anatomischen Aufbaus, sondern auch aufgrund ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen miteinander verwandt sind. „Der Menschen ältere Brüder sind die Tiere. Ehe jene da waren, waren diese.“197 Eine Geschichte des Menschen, die das Verhältnis zu Tieren nicht einbeziehen würde, bliebe daher einseitig. Anhand der Sprache zeigen sich für Herder Gemeinsamkeit und Unterschied von Mensch und Tier. Der Mensch ist den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts unterlegen, da ihm alles fehlt, was wir bei diesen als angeborene Kunstfertigkeit bewundern, die Unbeirrbarkeit der Spinne etwa, die ihr Netz baut oder die erstaunliche Koordination eines Ameisenstaates. Wie im 20. Jh. der Biologe T. v. Uexküll beobachtet Herder, dass jede Art eine fest umrissene Sphäre hat, in die die einzelnen Individuen mit der Geburt eintreten und in der sie während ihres Lebens bleiben. Sie sind mit ihren Fähigkeiten in einen mehr oder weniger begrenzten Weltausschnitt eingepasst. Je spezialisierter die Sinne der Tiere und je sicherer

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ihre Kunstfertigkeiten sind, desto enger ist ihr Lebenskreis. Je vielseitiger dagegen ihre Fähigkeiten sind, je mehr sich ihre Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Gegenstände richten kann, desto mehr zerteilen und schwächen sich ihre Sinne. In dem Maß, in dem sich ihre Umwelt erweitert, nehmen Instinktgebundenheit und Starrheit des Verhaltens ab. Herder begründet den natürlichen Ursprung der menschlichen Sprache mit den Elementen, die Menschen mit Tieren gemeinsam haben: Beide äußern starke körperliche und seelische Empfindungen wie Schreck, Angst, Schmerz und Freude unmittelbar in unterdrückten, klagenden oder wilden Lauten. Zumindest im ersten Augenblick artikulieren sich Gefühle absichtslos in Tönen, die nach einem Echo und nach Sympathie bei anderen Lebewesen rufen. In diesen Tönen, deren Bedeutung nicht nur Artgenossen, sondern auch Menschen verstehen, teilt ein Lebewesen seine Empfindungen mit. „Diese Seufzer, diese Töne sind Sprache: es gibt also eine Sprache der Empfindung. Daß der Mensch sie ursprünglich mit den Tieren gemein habe, bezeugen jetzt freilich mehr gewisse Reste, als volle Ausbrüche; allein auch diese Reste sind unwiedersprechlich. So viel Gattungen von Fühlbarkeit in unsrer Natur schlummern, so viel auch Tonarten.“198 Schon Tiere haben für Herder eine Sprache, die nicht nur dem spontanen Ausdruck der Gefühle dient, sondern auch der Kommunikation mit Artgenossen. Sie ermöglicht ein sinnliches Einverständnis einer Art über die Aufgaben in ihrem Wirkungskreis. Der Ursprung der Sprache, so schließt Herder, ist daher nicht ‚göttlich‘, sondern ‚tierisch‘.199 Dass Herder nicht nur Begriffe, sondern schon den emotionalen Ausdruck als Sprache bezeichnet, hat Folgen für die menschliche Identität: Auch sie stützt sich nicht nur auf Rationalität und Selbstbewusstsein. Durch Emotionen teilen sich Menschen und Tiere in ihrer inneren Befindlichkeit für andere erkennbar mit, sodass sie zueinander in eine Beziehung treten und ihr Verhalten aufeinander abstimmen können. Schon die Artikulation von Emotionen beinhaltet eine Gerichtetheit auf etwas anderes jenseits der eigenen Innerlichkeit. Die Sprache der Empfindung, die beide miteinander teilen, bildet für Herder daher die Grundlage einer artübergreifenden Form der Kommunikation. Dass zumindest höhere Tiere auch die Gefühlsäußerungen von Menschen verstehen und sich auf sie einstellen können, ist inzwischen gut dokumentiert. Auch im zwischenmenschlichen Bereich ist Sprache mehr als sich begrifflich sagen lässt. Vieles teilt sich nur durch die Körpersprache oder den Klang der Stimme mit. Mimik, Blicke und Gesten unterstreichen das Gesagte, verraten Verschwiegenes, offenbaren etwas, was dem Sprecher unbewusst bleibt. Die eigentümliche Klangfarbe der Worte enthüllt den Gefühlszustand des Sprechenden, sie vermittelt Ärger und Freude, Wahrhaftigkeit und Tiefe des Erlebten und spricht auch im Gegenüber Emotionen an. Dasselbe Wort kann, je nach emotionaler Tönung, verletzen oder trösten.

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Dennoch, so betont Herder, lässt sich die Genese der menschlichen Sprache nicht aus immer subtileren Artikulationen von Empfindungen und Gefühlen ableiten. Es gibt keinen graduellen Übergang zwischen emotionaler und propositionaler Sprache, sondern es entsteht etwas qualitativ Neues: Obwohl unerklärlich ist, wie aus der Sprache der Empfindungen plötzlich bedeutungsvolle Worte werden konnten, sind diese für die menschliche Form der Kommunikation entscheidend geworden. Auf diesen Sprung, der heute noch ebenso rätselhaft ist wie im 18. Jh., legt Herder den Finger, wenn er sagt: „Man bilde und verfeinere und organisiere dies Geschrei, wie man wolle; wenn kein Verstand dazu kommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen, so sehe ich nicht, wie je menschliche, willkürliche Sprache werde.“200 Dank verhaltensbiologischer Studien wissen wir, dass Tiere wie Bonobos, Schimpansen und Graupapageien zumindest einige hundert Worte lernen und sinnvoll gebrauchen sowie neue Worte erfinden können.201 Dennoch können sie den Wortschatz eines zwei- bis vierjährigen Kindes nicht überschreiten. Gut dokumentiert ist inzwischen auch, dass bestimmte Laute von Tieren kein ungerichteter Ausdruck von Emotionen sind, sondern sich auf konkrete Objekte in ihrer Umgebung beziehen. Es handelt sich um einfache Kategoriensysteme, durch die die Mitglieder einer Art kommunizieren, um sich gegenseitig auf Gefahren oder Futterquellen aufmerksam zu machen. Auch Tiere anderer Arten können diese Artikulationen einordnen und sich in ihrem Verhalten darauf einstellen. Was allerdings auch noch bei Schimpansen und Graupapageien fehlt, ist eine Syntax, die die Kombination von Zeichen in einem nahezu unbegrenzten Umfang ermöglicht. Erst dadurch können komplexe Zusammenhänge ausgedrückt und abstrakte Theorien entwickelt werden. Dass die Sprachentwicklung bei Schimpansen und Graupapageien der von kleinen Kindern entspricht, legt den Gedanken nahe, dass sie nicht unabhängig von der Entwicklung anderer geistiger Eigenschaften ist. Menschenkinder überschreiten ungefähr im zweiten Lebensjahr die Schwelle zum Selbstbewusstsein, sodass sie fortan sich selbst bezeichnen und über sich sprechen können; das Wissen um sich ist die Voraussetzung, um sich innerlich von Empfindungen und Emotionen distanzieren, auf sie reflektieren und über sie sprechen zu können. Damit verbunden ist die Fähigkeit, sich bewusst in andere hineinversetzen und auch über deren Befinden reden zu können. Die Fähigkeit zum Erfassen abstrakter Zusammenhänge beginnt, glaubt man dem Stufenmodell von Piaget, etwa im Alter von 7 Jahren, die eigentlich theoretische Intelligenz bildet sich erst mit etwa 12 Jahren aus. Auf welche Weise, so fragt Herder, konnte und musste der Mensch Sprache erfinden? Kehren wir noch einmal zu dem Gedanken zurück, dass jedes Lebewesen in eine bestimmte Umwelt eingepasst ist. Als instinktloses Tier betrachtet ist der Mensch das elendste aller Wesen. Er hat keinen angeborenen Trieb, der ihn

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in seinen Wirkungskreis, zu seinem Unterhalt und festumrissenen Tätigkeiten hinzieht. Die Sphäre des Menschen ist nicht so einförmig und eng, dass nur eine Aufgabe auf ihn wartet. Durch die mangelnde Spezialisierung seiner körperlichen Ausstattung hat er für alles schwächere und stumpfere Sinne. Seine Aufmerksamkeit ist nicht auf eine Richtung festgelegt, sondern verbreitet sich über die ganze Welt. Vergleicht man das schwache, unsichere und hilflose Menschenkind mit der Instinktsicherheit vieler Tiere, dann erscheint es als ein ‚verwaistes Kind der Natur‘. Doch anders als für den Anthropologen Gehlen, der an Herders Charakterisierung des Menschen als Mängelwesen anknüpft, machen für Herder Defizite nicht den eigentlichen Charakter des Menschen aus. Was aber ist an die Stelle der Instinktsicherheit der Tiere getreten? In der Antwort auf diese Frage liegt für Herder die Grundrichtung, die für die menschliche Gattung charakteristisch ist. Betrachten wir zunächst die augenscheinlichen Wesenszüge: Durch den aufrechten Gang bekam der Mensch freie Hände, mit denen er gezielt Werkzeuge herstellen und die Umwelt bearbeiten kann. Er wurde zum Schöpfer von Dingen, die er nicht in seiner Umwelt vorfand. Indem er nach neuen und klareren Ideen suchte und seine Vorstellungen und Ziele immer bewusster erfasste, wurde die Hand zum Hilfsmittel der Vernunft. Wäre der Mensch im selben Maß wie Tiere durch Instinkte gebunden, hätte er wie diese keinen offenen, sondern einen geschlossenen Wirkungskreis. In dem Moment, in dem die Instinktgebundenheit wegfiel, entstand ein neues Geschöpf, das nicht nur frei erkennt, wirkt und will, sondern auch darum weiß. Lebenshorizont und Verhaltensspielraum ändern sich schlagartig. Die Vernunft baut nicht einfach wie eine Stufe auf Trieben und Instinkten auf; das gesamte Zusammenspiel von Sinnen, Trieben, Gefühlen und Vernunft gewinnt eine neue Richtung. Wie Leibniz und Kant argumentiert auch Herder, dass sich Lebewesen nicht in Teilfunktionen zerlegen lassen, die man unabhängig voneinander analysieren kann. Sie sind Gestaltganzheiten, sodass sich erst aus dem Zusammenspiel aller Eigenschaften die Grundrichtung des Lebensvollzugs ergibt. Den eigentümlichen Lebensmittelpunkt des Menschen nennt Herder Besonnenheit. Nicht durch einen graduellen Übergang, sondern vom ersten Augenblick seines Lebens ist der Mensch durch die Gesamtrichtung aller Kräfte zur Besonnenheit organisiert. Er wird nicht zum Menschen, sondern ist von Anfang an Mensch, − eine Einsicht, die die moderne Genetik bestätigt. In seinem embryonalen Werdegang durchläuft er nicht noch einmal im Zeitraffertempo die einzelnen Etappen der Evolution; der genetische Code, der nach der Verschmelzung von Samen- und Eizelle zur Entwicklung eines neuen Individuums führt, ist von Anfang an menschlich. Für Herder zeigt sich die Besonnenheit darin, dass der Geist in dem Ozean der Empfindungen, der alle Sinne durchrauscht,

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eine Welle absondern, die Aufmerksamkeit auf sie richten und sich seines Aufmerkens bewusst werden kann. Von den zahlreichen Eigenschaften der Dinge können einige prägnante Merkmale bewusst erfasst und herausgehoben werden. Aber wie erkennt der Mensch die Merkmale der Dinge? Die Töne der Natur erwecken den Geist aus dem dunklen Schlaf des Gefühls. Die Natur selbst wird zur Sprachlehrerin des Menschen. In alten Sprachen ist die Verbindung der Worte mit dem akustischen Eindruck oft noch erkennbar. Noch heute denken wir beim Zorn an das Geräusch des Schnaubens. Aus den sinnlichen Wirkungen der Dinge entziffert die Vernunft ihre Bedeutung. In den Tönen spürt sie allgemeine Merkmale auf, die zu Merkworten werden, zu den Namen der Dinge. Von nun an kann man über sie sprechen, ohne dass sie sinnlich gegenwärtig sind. Durch das Benennen wird die Welt sinnlicher Eindrücke, von Empfindungen und Gefühlen, die schon Tiere haben, in eine Welt abstrakter Vorstellungen und Bedeutungen transformiert. Erst mit der Sprache, so konstatiert Herder, erwacht die Fähigkeit zur Reflexion und zum Urteil, durch die vom unmittelbaren Erleben und der Besonderheit einer Situation abstrahiert werden kann. Um Dinge gezielt als Mittel zu benutzen und über sie mit anderen zu kommunizieren, muss man sich auf gleichbleibende Merkmale in wechselnden Situationen beziehen können. Durch den Namen wird etwas aus dem Fluss der Ereignisse herausgelöst und von etwas anderem aufgrund prägnanter Merkmale unterschieden, sodass nicht nur konkret vorhandene Objekte, sondern auch nicht-vorhandene und sogar nur mögliche bezeichnet werden können. Mit dem Spracherwerb verändert sich auch der körperliche Ausdruck; Mimik und Gestik werden individueller und differenzierter. Die seelisch-geistige Entwicklung spiegelt sich daher auch im körperlichen Erscheinungsbild, wie die Studie über Helen Keller eindrucksvoll belegt.202 Der Mensch, so Herder, „beweist Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht nehmen und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein anderer sei. Dies erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!“203 Mit den Worten, die durch das Auffinden hervorstechender Merkmale geprägt werden, erschließen sich neue Seiten der Wirklichkeit. Wenn sich der Gedanke mit dem Ausdruck paart, schreitet die Erkenntnis Hand in Hand mit der Sprachentwicklung fort. Diese beruht nicht auf einem höheren Grad der tierischen Intelligenz, sondern auf einem spezifischen Typ mentaler Organisation. Gehirn, Sinne und Hand wären unwirksam geblieben ohne eine Triebfeder, die sie in Bewegung setzt. Wir lernen durch die Sprache denken, das Denken motiviert wiederum die Sprachentwicklung und die Erschließung der Welt. Sprache

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ist für Herder kein Werkzeug, sondern das Medium der Gedanken. Der Ursprung der Sprache lässt sich daher rein physiologisch durch besser ausgebildete Sprachwerkzeuge ebenso wenig erklären wie durch die bloße Nachahmung von Geräuschen. Klar formuliert Herder die entscheidende Frage, in der die empirische Forschung bis heute nicht weitergekommen ist: „Was für ein unbegreifliches Band verknüpft eine Idee unserer Seele und einen Schall?“204 Wie ist es möglich, dass Bilder des Auges oder ein Druck der Hand zu bedeutungsvollen Tönen werden, die andere verstehen? Untersucht man einen Laut oder eine Träne rein physikalisch, dann sind sie jeder Bedeutsamkeit entblößt und nichts anderes als ein verwehender Luftstoß oder ein salziger Wassertropfen. Ebenso wenig sind Worte rein geistige Phänomene, sondern an sinnliche Laute gebunden. Obwohl sich nicht jedes Gefühl klar aussprechen lässt, sind Menschen nicht nur durch Empfindungen und gefühlsmäßige Reaktionen bestimmt. Sie sind sprachschöpferisch: Sie erfinden Lautfolgen, die für etwas anderes stehen, das sie bezeichnen. Indem sie Bedeutungen repräsentieren, werden Laute zu Symbolen. Der Mensch ist, wie Cassirer im Sinne Herders ausführt, ein ‚symbolschaffendes Lebewesen‘205. Sogar in vegetativen und triebhaften Reaktionen wie Hunger, Verdauung oder Geschlechtlichkeit können Menschen nicht mehr wie Tiere leben. In dem Augenblick, in dem sie sich ihrer Triebe bewusst werden, hören sie auf, ein Tier zu sein. Gerade als Mängelwesen ist der Mensch für Herder der „erste Freigelassene der Schöpfung“206, dessen Lebensziel die Verwirklichung von Humanität ist. „Das instinktlose elende Geschöpf, das so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblick an das freitätige, vernünftige Geschöpf, das sich selbst helfen sollte und nicht anders, als konnte.“207 Was im Vergleich mit Tieren als Mangel erscheint, ist die Voraussetzung, um sich als Mensch entfalten zu können. Besonnenheit ist keine Entschädigung für die fehlende Instinktsicherheit, sondern bildet den unverwechselbaren Schwerpunkt des menschlichen Lebens. Empirische Forschungen bestätigen die Beobachtung Herders, dass Tiersignale an unmittelbare Stimmungen und konkrete Situationen gebunden sind. Sie eignen sich nicht zur Verständigung über abstrakte Fragen, zeitlich Fernliegendes und den Raum der Möglichkeiten. Dennoch sind nicht alle tierischen Signalsysteme durch Instinkte determiniert. Viele Tiere müssen das artspezifische Artikulationsvermögen ebenso wie die Zuordnung von Laut und Objekt durch Nachahmung und Übung erwerben. Dadurch ist schon bei Tieren die Grenze zwischen erlernter und ererbter Sprache fließend: Viele Vögel, Amseln etwa und Nachtigallen, müssen ihren Gesang lernen und können ihn in gewissem Umfang individuell variieren; bei Menschenaffen kann sogar ein und dasselbe Signal je nach Kontext eine andere Bedeutung erhalten und unterschiedliche Reaktionen auslösen. Doch auch wenn man den scharfen Schnitt, den

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Herder und Cassirer noch zwischen Mensch und Tier ziehen, nicht mehr akzeptiert, bleibt die Grundeinsicht gültig: Nur für Menschen wurde die Sprache zum Medium des Zusammenlebens mit Anderen und der Entwicklung der Kultur. Die Sprache gewinnt ihre eigentliche Bedeutung daher erst, wenn man Menschen, nicht, wie Decartes als Individuen begreift, sondern wie Herder, als soziale Wesen. Wenn Sprache und Vernunft zur Natur des Menschen gehören, dann ist er als Naturwesen auf Gemeinschaft angewiesen. Er ist auf Kommunikation mit anderen angelegt und angewiesen. Nur im Zusammenleben bilden sich die Merkmale aus, die Menschen von Tieren unterscheiden. Mit der Sprache, die zur biologischen Ausstattung gehört, tritt der Mensch in den Horizont von Kultur und Geschichte ein. Bis heute lässt sich die Frage nach dem Alter der Sprache nicht mit Sicherheit beantworten. Dass die Hominiden spätestens seit dem Auftauchen von homo erectus, der als erster unbestritten die Bezeichnung ‚homo‘ verdient, gesprochen haben, kann man aus archäologischen Funden schließen: In ihnen finden sich erste Hinweise auf Behausungen, Bekleidung und organisierte Jagd. Schon technische Fertigkeiten ab einer gewissen Komplexität fordern einen Erfahrungsaustausch, der ohne Sprache undenkbar ist. Die Anfänge einer geistigen Kultur, die die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse überschreitet, machen Sprache vollends unverzichtbar. Durch die Ansammlung von Wissen, Fertigkeiten und Erfahrungen, die durch symbolische Vermittlung tradiert wurden, löste sich der Mensch zunehmend aus dem Tierreich. Die Evolution des Menschen war daher nicht nur ein biologischer, sondern zugleich ein kultureller Prozess. Sprache ist also, wie Herder sagt, tatsächlich so alt wie die Menschheit.

5 Alexander von Humboldt: Der Mensch als Zuschauer und Teilnehmer an der Natur Zu den Stimmen, die für eine umfassende Sicht der Natur argumentieren und empirische und transzendentale Deutungen verknüpfen, gehören auch Alexander v. Humboldt, Johann W. v. Goethe und Friedrich W. J. Schelling. Nur auf den ersten soll an dieser Stelle eingegangen werden, weil er die Einbettung des Menschen in eine Landschaft thematisiert, auf die wir am Ende des Buches noch einmal zurückkommen. Nach der Dezentrierung der Erde und des auf ihr lebenden Menschen sucht Humboldt in seinem Hauptwerk mit dem bezeichnenden Titel ‚Kosmos‘ nach einer zeitgemäßen Antwort auf die Frage nach dem Ort des Menschen im Weltganzen. Ziel des Werkes ist es, die Erscheinungen von Himmel und Erde darzu-

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stellen. Obwohl er sich im Sinne der Naturwissenschaften um allgemeine Erkenntnisse bemüht, unterscheidet er sich von ihnen, da er, anders als Kant, den Menschen mitsamt seiner kulturschöpferischen Ausdrucksformen als Teil der Welt begreift. „Das Irdische darf nur als ein Theil des Ganzen, als diesem untergeordnet erscheinen. Eine physische Weltbeschreibung, ein Weltgemälde beginnt daher nicht mit dem Tellurischen, sie beginnt mit dem, was die Himmelsräume erfüllt.“208 Humboldt ist sich der Grenzen wissenschaftlicher Detailstudien bewusst: Nur wenn sie in eine Gesamtsicht der Natur eingebettet werden, wird ihre Bedeutung erkennbar, sodass das analytische Vorgehen durch eine kontemplative Einstellung, eine „liebevollen Anschauung“209 ergänzt werden muss. Mit großer wissenschaftlicher Sorgfalt skizziert Humboldt zunächst die kosmischen Erscheinungen: die verschiedenen Stadien der Sternentstehung, die Besonderheit der Kometen und die Zusammensetzung der Meteoriten. Zu den irdischen Phänomenen gehören geographische Strukturen und das Leben der Organismen, von Pflanzen, Tieren und Menschen. Er erörtert die Gestalt, Dichte und den Magnetismus der Erde, schildert die Erscheinung des Polarlichts, analysiert Erdbeben, Vulkanismus und die Entstehung von Gebirgen und beschreibt die Gestalt der Kontinente und Ozeane. Das Klima ist für ihn eine Folge der Wechselwirkung von Erde, Meer, Luft und Licht; die Atmosphäre ist ein „Luftmeer, auf dessen niederem Boden oder Untiefen wir leben.“210 Aus den Naturkräften und den Elementen sind die Lebewesen hervorgegangen. Die Pflanze, die unter dem Einfluss des Lichts, von Wasser und Luft ihre Gestalt entwickelt, ist in der Erde verwurzelt. Obwohl Humboldt beobachtet, dass mit der Vegetation der Vorzeit „viele Zwischenglieder organischer Entwicklungsstufen untergegangen sind“211 und er bereits, wie Kant, von einer Entstehung der Planeten und, wie Goethe, von Zwischenformen und Metamorphosen im Reich des Lebendigen ausgeht, finden sich noch keine Aussagen zur Abstammungsgeschichte. Die Tiere leben von den Pflanzen, in denen die vier Elemente zusammenkommen und in gewisser Weise erblühen. Das Anorganische, so wird Schelling schreiben, ‚potenziert‘ sich im Lebendigen, sodass eine einzige Dynamik Unbelebtes und Belebtes verbindet. Auch Humboldt war eine scharfe Trennung zwischen beiden Sphären fremd; in ihnen sind dieselben Kräfte wirksam, beide sind aufeinander verwiesen. „Die Weltbeschreibung darf auch daran mahnen, daß in der anorganischen Erdrinde dieselben Grundstoffe vorhanden sind, welche das Gerüste der Thier- und Pflanzenorgane bilden.“212 Zum Ganzen des Kosmos gehört auch der Mensch mit seiner Lebensweise. Wie Herder geht auch Humboldt von der Einheit des Menschengeschlechts aus, sodass er die Auffassung, es gäbe höhere und niedrigere Rassen, ablehnt. „Es giebt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte, aber

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keine edleren Volksstämme. Alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt.“213 In der Sprachfähigkeit sieht er wie sein Bruder Wilhelm die alle Rassen verbindende Naturanlage, die Menschen zu geistbegabten Wesen macht. Anders als Descartes und Kant vollzieht er keine Trennung zwischen empirisch bedingten, natürlichen Prozessen und zielgeleiteten, geistigen Akten. Der Mensch ist für ihn durch seine Naturanlage ein geistiges, gemeinschaftsbildendes Wesen, sodass man im Sinne von Plessners berühmtem Diktum sagen kann, dass er von ‚Natur aus auf Kultur angelegt ist‘. Da nicht nur die Sprache, auch Mythen, Kunst und Wissenschaft von Naturwesen hervorgebracht werden, sind auch sie ein legitimer Gegenstand der Naturkunde. Schließlich gehört nicht nur die Erde zum Kosmos, sondern auch der Geist zur Natur. Eine allumfassende Betrachtung muss die „Natur in beiden Sphären des Seins, der materiellen und der geistigen“214 berücksichtigen. Als geistbegabtes Wesen bleibt der Mensch in die Natur eingebettet und wird von ihr in seinen Lebensgewohnheiten geprägt. Auch „wenn die Freiheit, mit welcher der Geist in glücklicher Ungebundenheit die selbstgewählten Richtungen, unter ganz verschiedenartigen physischen Einflüssen, stetig verfolgt, ihn der Erdgewalt mächtig zu entziehen strebt, so wird die Entfesselung doch nie ganz vollbracht. Es bleibt etwas von dem, was den Naturanlagen aus Abstammung, dem Klima, der heiteren Himmelsbläue, oder einer trüben Dampfathmosphäre der Inselwelt zugehört.“215 Wie in Platons ‚Timaios‘ ist die Natur keine neutrale Bühne für die Menschheitsgeschichte; diese ist in die Natur eingebettet, aus der sie wesentliche Impulse schöpft. Obwohl der Mensch sprechend und denkend aus ihr heraustritt und sie sich gegenüber stellt, kann er doch, wie alles Irdische, „nur als ein Theil des Ganzen, als diesem untergeordnet“216 existieren. Da „das Geistige in dem Naturganzen enthalten“217 ist, entfällt der Gegensatz zwischen einer kausal determinierten Natur und der von menschlichen Zielen geprägten Kulturgeschichte, der sich vor dem Hintergrund einer mechanistischen Sicht der Natur entwickelt hat. Die Natur hat eine eigene Form der Geschichtlichkeit, die von der des Menschen nicht gänzlich unabhängig ist. Einerseits beeinflusst die Natur die menschlichen Lebensgewohnheiten, andererseits greifen die Menschen mit ihren Zielen in sie ein. Da Geistigkeit ein Moment der Natur ist, ist diese kein Widerpart zur menschlichen Freiheit, sondern deren Grundlage. „Vollkommenes Gedeihen und Freiheit sind unzertrennliche Ideen auch in der Natur.“218 Freiheit ist weder mit Willkür und Bindungslosigkeit zu verwechseln noch auf den Gebrauch des freien Willens im Sinne von Kant beschränkt. Alle Kreaturen brauchen ein gewisses Maß an Freiheit, um ihre Möglichkeiten zu entfalten. Nach dieser Logik wäre ein Tier frei, wenn es sich gemäß seiner Eigenart entwickeln kann. Zu dieser gehören die physischen Bewegungsmöglichkeiten ebenso wie die psychischen Fähigkeiten, die es ihm erlauben, seine

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Umwelt zu erkunden und zu lernen. Humboldt gehört in einer Zeit, in der der Optimismus der Aufklärung und der französischen Revolution die Gemüter beherrschte, zu den wenigen, die, wie später der amerikanische Naturschützer John Muir, erkannten, dass die Gesellschaft keineswegs immer der Garant der Freiheit und die Natur deren Bedrohung ist. In einer geistdurchdrungenen Natur kann sich der Mensch frei fühlen, während politische Systeme und menschliche Ignoranz die Freiheit immer wieder bedrohen.

6 Homo faber und der Ursprung des modernen Nihilismus Werden alle materiellen Prozesse kausalmechanisch erklärt, dann erscheint die Natur nicht wie ein beseelter Organismus, sondern wie eine Maschine, deren Bauelemente wie bei einem Uhrwerk exakt ineinander greifen. Man kann sie in Teile zerlegen und diese unabhängig von anderen Teilen analysieren und ersetzen. Gütekriterium einer Maschine, deren Plan durch den Gebrauch nicht verändert wird, sind Effizienz und Präzision. In ihren Anfängen sind die Naturwissenschaften keineswegs materialistisch eingestellt, sondern stützen sich auf eine theologische Legitimation. An die Stelle der Überzeugung, dass das schöpferische Gotteswort jeglichem Seienden innewohnt, tritt nun jedoch ein Deismus. Für den englischen Chemiker Robert Boyle, der im 17. Jh. lebte, offenbart sich Gott nicht durch Wunder, die sich hier und da völlig unvorhersehbar ereignen, sondern durch die ausgezeichnete Symmetrie der Welt. Gerade dass es keiner weiteren Eingriffe in den Weltenlauf mehr bedarf, galt als untrügliches Indiz für dessen Vollkommenheit. Im Jahr 1719 erklärt der Philosoph Christian Wolff: „Eine Maschine ist ein zusammengesetztes Werck, dessen Bewegungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Die Welt ist gleichsam ein zusammengesetztes Ding, dessen Veränderungen in der Art der Zusammensetzung gegründet sind. Und demnach ist die Welt eine Maschine.“219 Erst im 17. Jh. erklärte Julien Offray de La Mettrie zum ersten Mal alle menschlichen Funktionen mechanisch. Indem er Anthropologie und Kosmologie aus ihrem theologischen Rahmen löste, wurde eine durchgehende materialistische Erklärung der Welt zum Programm erhoben.220 Während in Antike und Mittelalter die Kunstfertigkeit als Nachahmung der schöpferischen Dynamik der Natur galt, wird nun der höchste Inbegriff dessen, was der Mensch selbst herstellen kann, zum Modell der Natur. Die Metapher der Maschine verbirgt die Differenz zwischen Natürlichem und Künstlichem; beide haben dieselbe Seinsstruktur. Als Maschine erzeugt die Welt weder Angst noch Ehrfurcht. Ethische und ästhetische Dimensionen der Natur werden ebenso wie mythisch-religiöse Sinndeutungen als irrational verworfen. Treffend schildert

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Max Frisch in seinem Roman ‚Homo faber‘ die Haltung eines Menschen, der sein Leben an wissenschaftlich-technischen Prinzipien ausrichtet: „Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen. Es ist, wenn einmal das Unwahrscheinliche eintritt, nichts Höheres dabei, keinerlei Wunder oder Derartiges, wie es der Laie so gerne haben möchte. Indem wir vom Wahrscheinlichen sprechen, ist ja das Unwahrscheinliche immer schon inbegriffen und zwar als Grenzfall des Möglichen, und wenn es einmal eintritt, so besteht für unsereinen keinerlei Grund zur Verwunderung, zur Erschütterung, zur Mystifikation. Ich habe mich schon oft gefragt, was die Leute eigentlich meinen, wenn sie von Erlebnis reden. Ich bin Techniker und gewohnt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Ich sehe alles, wovon sie reden, sehr genau; ich bin ja nicht blind. Ich sehe den Mond über der Wüste von Tamaulipas – klarer als je, mag sein, aber eine errechenbare Masse, die um unseren Planeten kreist, eine Sache der Gravitation, interessant, aber wieso ein Erlebnis? Ich sehe die gezackten Felsen, schwarz vor dem Schein des Mondes; sie sehen aus, mag sein, wie die gezackten Rücken von urweltlichen Tieren, aber ich weiß: Es sind Felsen, Gestein, wahrscheinlich vulkanisch, das müßte man nachsehen und feststellen. Wozu soll ich mich fürchten? Es gibt keine urweltlichen Tiere mehr. Ich weigere mich, Angst zu haben aus bloßer Fantasie, beziehungsweise fantastisch zu werden aus bloßer Angst.“221 Bis in die Gegenwart wird das Modell des Maschinenmenschen in immer subtileren Versionen weiterentwickelt. Als einzig wirksame Form der Verursachung gelten Wirkursachen, während Ziele und Zwecke sogar für die Erklärung organischer Prozesse verworfen werden. Im Verhalten von Lebewesen erkennen reduktionistisch verfahrende Naturwissenschaftler keine durch Empfindungen und Bedürfnisse motivierte Zielgeleitetheit, sondern die Manifestation molekularer Programme und neuronaler Mechanismen. Das Streben nach der Entfaltung der wesenseigenen Möglichkeiten und nach Wohlbefinden wird zugunsten der Anpassung an das Lebensumfeld im Dienst des Überlebens preisgegeben. Für etliche Wissenschaftler, die an der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz arbeiten, gehört der Vergleich des Menschen mit einem Computer inzwischen zum Alltag. Auf derselben Hardware können unterschiedliche Programme laufen; in ihr drücken sich keine Gefühle, Absichten und Überzeugungen aus. Inzwischen wird jedoch die Vorstellung, dass der Körper für Prozesse der Informationsverarbeitung irrelevant ist, sogar von maßgeblichen Vertretern der Künstlichen Intelligenz kritisiert. Um in komplexen Situationen agieren zu können, bedarf es einer verkörperten Form der Intelligenz. Die Differenzierung zwischen Körper und beseeltem Leib fehlt allerdings auch hier.222 Durch die Möglichkeit, die Prinzipien der Konstruktion symbolisch, in Zeichnungen, verbalen Beschreibungen und mathematischen Formeln, darzu-

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stellen, hängt der Wissenstransfer nicht mehr von der sinnlichen Anschauung eines Problems und der Nachahmung der Erfahrungen eines bestimmten Individuums ab. Es genügt daher nicht, die Technik nur als eine Ansammlung einer bestimmten Klasse von Objekten zu begreifen. In ihr erschließt sich die Welt unter einer bestimmten Intention: Sie wird „durch das Medium des Wirkens betrachtet.“223 Wie Sprache, Religion, Kunst und Wissenschaft ist deshalb auch „die Technik kein totes Erzeugtes, sondern eine Grundrichtung des Erzeugens.“224 Dennoch entsteht erst durch die Rückkoppelung zwischen Wissenschaft, Technik und sozialen Zielen die Dynamik, die der antiken Technik fremd war: Während Aristoteles im 6. Buch der ‚Nikomachischen Ethik‘ das technische Handeln vom sozialen und wissenschaftlichen unterschieden hatte, wird es seit Cusanus und Bacon ausdrücklich verbunden. Fortan hängt der soziale Fortschritt nicht mehr nur von der Verwirklichung ethischer Werte ab, sondern auch vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Nicht in einer zweckfreien, selbstgenügsamen Betrachtung, sondern in Erfindungen zeigt sich für Bacon die eigentliche Fruchtbarkeit der Wissenschaft.225 Die Gesetze der Natur können gezielt benutzt werden, um technische Geräte zu konstruieren, die immer mehr von einer vorgegebenen Naturordnung befreien. Anders als sein antiker Kollege, der in der Natur das Wirken geistiger Formen sah, stößt der moderne Techniker auf keine Grenzen des Machbaren mehr. Bis heute beruht die rasante technische Entwicklung auf der Hoffnung, dass sie den humanitären Fortschritt unterstützt und immer mehr Unwägbarkeiten ausschaltet. Weltweit werden Vulkanausbrüche und Erdbeben erforscht, um Frühwarnsysteme zu installieren, die satellitengestützte Datenverarbeitung, Computersysteme und eine globale Koordination der Informationen voraussetzen. Pflanzen werden manipuliert, um sie resistenter gegen Schädlinge und geeigneter für die jeweiligen Böden zu machen. Künstliche Befruchtung soll kinderlosen Paaren den Kinderwunsch erfüllen und genetische Selektion Behinderungen und unerwünschte Eigenschaften ausschließen. Die technischen Risiken und Unfälle, durch die Menschen sterben und ganze Landstriche für Jahrzehnte verwüstet werden, werden billigend im Namen eines unaufhaltsamen Fortschritts in Kauf genommen, in dessen Genuss zumindest die Mehrheit der Menschen kommen wird. Ebenso wenig in die Gesamtbilanz von Pro und Contra aufgenommen werden die mit der Entsorgung bestimmter Substanzen verbundenen Kosten, die der Gemeinschaft oder kommenden Generationen aufgebürdet werden. Ausgeblendet bleiben auch Einschränkungen der Lebensqualität, die eine hochtechnisierte, mobile Gesellschaft mit sich bringt: ein ständiger Geräuschpegel, die Luftverschmutzung durch Autos und Flugzeuge sowie zunehmende Zivilisationserkrankungen.

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Da mit der Physikalisierung des Physischen die Dimension von Subjektivität und Geistigkeit aus der Erklärung natürlicher Prozesse ausgeschlossen wurde, entsteht der Eindruck, dass sich auch Lebewesen technisch manipulieren und sogar konstruieren lassen. Bacons Ziel, die Kräfte der Natur zu nutzen, wurde daher inzwischen von einem noch ehrgeizigeren Projekt überholt: dem Versuch, in das Innerste der Materie einzudringen, um ihren Bauplan zu beherrschen und zu verändern. Die neuartige Form der Technik, die diesem Programm entspringt, beruht nicht mehr auf der Ausnutzung spezifischer Materialeigenschaften und physikalischer Kräfte, sondern der Verarbeitung von Informationen. Wenn man weiß, so die Vision der Nanotechnologie, wie man Moleküle anordnen kann, kann man Materialien mit allen nur erdenklichen Eigenschaften erzeugen. Und wenn man, so die Vorstellung zahlreicher Vertreter der Life Sciences, die Steuerungsmechanismen von Organismen, ihren genetischen Code kennt, kann man durch menschliche Ingenieurskunst, durch Genetic Engineering, körperliche Fehlfunktionen ebenso wie geistige Störungen beseitigen, gezielt neue Eigenschaften und sogar neuartige Lebewesen erzeugen, die auch auf anderen Planeten unter völlig anders gearteten Bedingungen lebensfähig wären. Auch dem rasanten Bienensterben, das durch pestizidbelastete Monokulturen, gentechnisch verändertes Saatgut und übermäßigen Stress durch ständigen Ortswechsel ausgelöst wird, versuchen Wissenschaftler in den USA durch genetische Manipulationen Herr zu werden: Hochleistungsbienen, die nur eine Saison leben, sollen die gewöhnlichen Bienen ersetzen. Und im Mai 2010 trat Craig Venture mit der Nachricht an die Öffentlichkeit, dass es ihm gelungen sei, ein einfaches Lebewesen, ein Bakterium, künstlich zu erzeugen. Für die Konstruktion künstlicher Gegenstände ist eine spezifische Form der Intelligenz gefordert. Die Technik setzt − und dies gilt für den Faustkeil ebenso wie für die moderne Hochtechnologie – die Vorstellung von Objekten voraus, die durch den Willen aufgrund einer Idee manipulierbar sind. Gegenstand der Techne, so definierte Aristoteles, ist ein „mit wahrer Vernunft verbundener Habitus des Hervorbringens. Gegenstand jeder Kunst ist das Entstehen, das regelrechte Herstellen und die Überlegung, wie etwas, was sowohl sein als nicht sein kann, und dessen Prinzip im Hervorbringenden, nicht im Hervorgebrachten liegt, zustande kommen mag.“226 Durch die folgerichtige Verknüpfung von Ursachen und Wirkungen können dann sogar zeitlich und räumlich fern liegende Ziele erreicht werden. Dass die Faszination des Machbaren schließlich sogar zu dem Versuch führen wird, menschliche Wesen zu erzeugen, hat bereits Goethe in seinem Drama ‚Faust‘ die Figur des Wagner aussprechen lassen. Dieser führt in seinem Labor systematisch angelegte Experimente durch, um in einem verschlossenen und erhitzten Reagenzglas einen Homunculus, einen kleinen Men-

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schen, zu erzeugen. Das Gelingen des Experimentes ist für ihn ein Beweis dafür, dass der Mensch einen Menschen erzeugen kann. Dann wäre die biblische Vorstellung, dass der Mensch im Bilde Gottes erschaffen wurde, ebenso überholt wie die der Evolutionstheorie, dass er ein Produkt zufälliger Ereignisse ist. Er könnte durch menschliche Ingenieurskunst planvoll gestaltet werden.227 Die Änderung des Verhältnisses von Mensch und Natur hat weit reichende Folgen auch für die Frage, ob Werte und Sinn eine objektive Grundlage haben oder vom menschlichen Geist entworfen werden und damit radikal endlich und kulturrelativ sind. Leben und Geist sind in einem rein physikalisch gedeuteten Kosmos unerklärliche Anomalien, deren Existenz sich aus der materiellen Beschaffenheit der Natur und ihrer Gesetze nicht ableiten lässt. Da sich, wie viele Wissenschaftler unermüdlich betonen, aus der naturwissenschaftlich erklärten Natur kein Sollen ableiten lässt, erscheinen Werte als mentale Konstruktion, deren Aufgabe es ist, Interessen gegeneinander abzuwägen und soziale Pflichten zu begründen. Während die Menschen sich durch Geschichtlichkeit und Kultur definieren, erscheint die Natur als Gegenstand des Gebrauchs, deren Wert sich ökonomisch berechnen lässt. Der Mensch ist nicht mehr in ein sinnvolles Ganzes eingebettet, das auch die Natur umgreift, sondern durch seinen Körper einem sinnleeren mechanischen Kräftespiel ausgesetzt, das für ihn bedrohlich werden kann. Der erste, der beredt die kosmische Einsamkeit des Menschen beklagte, war Pascal, der den Menschen mit einem Schilfrohr verglich, das von den Kräften des Windes jeden Augenblick abgeknickt werden kann. Kein göttlicher Wille, sondern der blinde Zufall und physikalische Gesetze entscheiden über Leben und Tod. Die eigentliche Größe des Menschen ist daher zugleich seine Tragik: Denn anders als ein Stein ist er ein denkendes Wesen, das um seine Ohnmacht weiß.228 Für Pascal kann der Mensch sein Herz zwar noch immer voll Sehnsucht Gott zuwenden, doch in der Welt ist die Spur Gottes erloschen. Gott selbst hat sich verborgen. Glaubt man der neodarwinistischen Evolutionstheorie, die die bislang am meisten verbreitete biologische Theorie ist, dann ist sogar der religiöse Glaube sinnlos. Der Mensch verdankt seine Existenz nur dem Zusammenspiel einer Reihe unerklärlicher Zufälle mit naturgesetzlichen Notwendigkeiten. Der Neodarwinismus, der die Ergebnisse der modernen Populationsgenetik mit dem darwinschen Selektionsprinzip verband und von J. Huxley, G. Simpson, E. Mayr und T. Dobzhansky entwickelt wurde, basiert auf folgenden Prämissen: 229 Alle Lebewesen unterscheiden sich durch das Prinzip der Variation, das auf der Rekombination der Gene der Eltern und zufälligen Mutationen beruht. Durch Vererbung entstehen daher dauernd neue Variationen. Alle Lebewesen erzeugen mehr Nachkommen als zur Reproduktionsreife kommen können. Durch das Prinzip der natürlichen Auslese oder des Überlebens des Tüchtigsten

Homo faber und der Ursprung des modernen Nihilismus

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besitzen die überlebenden Individuen in der Regel erbliche Variationen, die ihre Anpassung an die lokale Umgebung erhöhen. Variationen erfolgen graduell und zielen nicht auf eine möglichst günstige Anpassung an die Umwelt. Die Veränderlichkeit der Arten ist eine Bedingung der Evolution. Die Funktionsfähigkeit einzelner Organe und der Lebewesen insgesamt sind keine Folge eines zielgerichteten Prozesses, sondern Ergebnis der natürlichen Auslese. Die biologische Evolution hat zwar zu einer immer höheren Komplexität der Organismen geführt, diese darf man jedoch nicht als Fortschritt bewerten. Der Verlauf der Evolution ist nicht zielgerichtet und vorhersagbar. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass in der Natur ein höheres Prinzip wirksam ist. Die Rückwirkung des Gebrauchs oder Nicht-Gebrauchs von Organen und damit von geistigen Prozessen auf das Erbgut ist ausgeschlossen; der Genotyp bestimmt den Phänotyp. Die Ursachenfolge, die den Artenwandel auslöst, verläuft nur in eine Richtung: von Zufallsänderungen des Erbgutes über die Auswahl durch die Zufallsbegegnung mit den Milieubedingungen zum Stammbaum der Organismen. Hätte irgendein geringfügiges Ereignis nicht stattgefunden, gäbe es den Menschen als Gattungswesen nicht und damit auch nicht dieses besondere Individuum. Schon Nietzsche ging daher einen entscheidenden Schritt über Pascal hinaus: Für ihn ist die Dezentrierung des Menschen durch Kopernikus die Ursache des Nihilismus des späten 19. und des 20. Jh. Mit dem Verlust des Glaubens an einen übergreifenden Sinn der Existenz, mit dem ‚Tod Gottes‘, der ihn garantiert, ist auch die Überzeugung zusammengebrochen, dass es absolute Werte gibt. Nirgendwo kann der Mensch eine verlässliche ethische Orientierung finden, sodass er seit Kopernikus haltlos ins Nichts stürzt. In klaren, schonungslosen Worten beschreibt Nietzsche die weltanschauliche Erschütterung der Evolutionslehre: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Nach wenigen Athemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Thiere mußten sterben. So könnte Jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt; es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.“230 Wenn das Leben sinnlos ist, dann ist es auch gleichgültig, ob eine bestimmte Art zugrunde geht oder ein Individuum überlebt. Umgekehrt formuliert: Auch das Überleben wäre nur sinnvoll, wenn das Leben insgesamt einen Sinn hätte. Auch Freud konnte die Kopernikanische Wende nur negativ interpretieren. Sie sei die erste von drei narzisstischen Kränkungen: Zum Sturz des Menschen aus dem Mittelpunkt der Welt geselle sich die Erkenntnis seiner Abstammung

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von den Tieren und die Entdeckung der Macht des Unbewussten. Heute fügen viele Neurowissenschaftler eine vierte Kränkung hinzu: Sogar das Gefühl der Freiheit sei eine Illusion, da es das ‚Ich‘ gar nicht gäbe, sondern von kausalgesetzlich funktionierenden neuronalen Prozessen erzeugt werde. Die völlige Sinnlosigkeit physischer Prozesse hat damit den menschlichen Geist eingeholt, der für Descartes und Pascal noch der Ort der Selbstvergewisserung und begründeter Sinnsuche war. In einer gänzlich sinnlosen Natur ist der Einzelne, wie Heidegger und Sartre schreiben, dazu verurteilt, sich selbst zu entwerfen, um seinem Dasein zumindest für kurze Zeit einen Sinn zu verleihen. Doch dieses Bemühen ist nur für ihn selbst von Bedeutung und ohne Aussagekraft über die Struktur des Weltganzen. Ungefragt wurde er in eine sinnleere Welt hineingeworfen, in der er so heimatlos ist wie ‚ein Zigeuner am Rande des Universums‘. Nach seinem Tod wird die Erinnerung an ihn nur noch im Gedächtnis einiger Menschen eine kleine Weile überdauern. Seine Existenz schwebt buchstäblich über dem Abgrund des Nichts, das Lebensgefühl ist geprägt von der Grundstimmung der Angst, der Geworfenheit und Einsamkeit. Moderne Theorien vom Menschen bewegen sich daher wie zwischen Scylla und Charybdis: Entweder halten sie an einem unüberbrückbaren Dualismus von Geist und Natur fest, − oder sie versuchen qualifizierte Perzeptionen, Intentionen und Werte auf neurophysiologische und genetische Prozesse zu reduzieren. Während die existentialistische Sicht übersieht, dass der Mensch durch seinen Leib immer auch ein Teil der Natur ist, vernachlässigen naturalistische Erklärungen die eigenständige Bedeutung seelisch-geistiger Prozesse. Für Jonas ist daher der Bruch zwischen dem nach Sinn suchenden Geist und einer physikalischen Kräften gehorchenden Natur, die jeden Verweis auf Transzendenz ausschließt, der eigentliche Ursprung des modernen Nihilismus. „Der gnostische Mensch ist geworfen in eine widergöttliche und daher widermenschliche Natur; der moderne Mensch in eine gleichgültige. Erst letzteres bedeutet das absolute Vakuum, den wirklich bodenlosen Abgrund. Daß nur der Mensch sich kümmert, in seiner Endlichkeit nichts als den Tod vor sich, allein mit seiner Zufälligkeit und der objektiven Sinnlosigkeit seiner Sinnentwürfe, ist wahrlich eine präzedenzlose Lage.“231 Wenn die Analyse von Jonas stimmt, dann kann die moderne Spielart des Nihilismus nur überwunden werden, wenn sich der Mensch wieder in seiner Vernunftbestimmtheit als Teil der Natur begreifen kann. Wir werden uns daher im Folgenden den Theorien zuwenden, die gegen eine Physikalisierung des Physischen sprechen und deren Implikationen analysieren.

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7 Von der Naturwissenschaft zur Naturphilosophie Eines der großen Probleme für das materialistisch-reduktionistische Paradigma der Naturwissenschaften ist die Frage, wie materielle Prozesse geistige Phänomene erzeugen und diese ihrerseits auf jene einwirken, sodass sie das Verhalten steuern können. Bereits 1949 fasste der Neurophysiologe Charles Sherrington das bis heute ungelöste Dilemma in folgende Worte: „Die Naturwissenschaft führt uns in die Sackgasse: Das Bewußtsein kann von sich aus nicht Klavier spielen − das Bewußtsein kann von sich aus nicht den Finger einer Hand bewegen. Dann geraten wir auf den toten Punkt. Völlige Leere in betreff des ‚Wie‘ der Hebelkraft des Geistes auf die Materie.“232 Weder kann man den Geist auf naturgesetzlich bestimmbare materielle Prozesse reduzieren, ohne die Bedeutung der Perspektive des erlebenden und handelnden Individuums auszublenden noch kann man die körperlichen Funktionen einfach übergehen, indem man sie als kulturelles Konstrukt begreift. Einerseits sind die Ordnung der Natur und die Funktionsfähigkeit des Körpers eine Bedingung dafür, dass Menschen überleben und Begriffe bilden können, mit deren Hilfe sie Erlebtes interpretieren und durch die sie mit anderen kommunizieren können; andererseits verwenden sie immer schon bestimmte Methoden und Begriffe, um natürliche Prozesse zu deuten. Jede Methode und jedes Begriffssystem hat Gültigkeitsgrenzen. In Hinblick auf die Naturwissenschaften und den sich auf sie stützenden Naturalismus beruht eine entscheidende Beschränkung auf dem systematischen Ausschluss aller unmittelbar an Subjektivität gebundenen Modi der Erfahrung, die auch eine Bedingung der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Forschung sind. Doch die Ergänzung der Perspektive der dritten durch die der ersten Person genügt noch nicht, um eine umfassende Sicht der Natur und des Menschen zu formulieren. Auch sie geht noch von einem individualistischen Menschenbild aus, das übersieht, dass Menschen strukturell soziale Wesen sind, die qualifizierte Perzeptionen und Ziele nicht nur im eigenen Inneren erleben, sondern in ihrem Verhalten und ihren Kommunikationsformen ausdrücken. Nur indem sich Sinn im Sinnlichen, in Lauten, Bewegungen oder Blicken manifestiert, können Menschen überhaupt miteinander kommunizieren und gemeinschaftlich agieren. Schon Sprechen und Hören lassen sich nicht auf die Gesetze der Akustik reduzieren, sondern beinhalten qualifizierte Sinneswahrnehmungen und das Verständnis von Bedeutung. Dennoch wäre es falsch, den Begründungszusammenhang umzukehren und Sinn als rein geistiges Phänomen anzusehen. Er lässt sich seinerseits nicht von den physikalisch objektivierbaren Komponenten trennen. Einerseits können Intentionen und Bedeutungen, die für andere verständlich sind, nur vermittels eines physiologisch funktionsfä-

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higen Körpers ausgedrückt werden; andererseits entscheiden nicht physiologische Funktionen, sondern die sich in ihnen manifestierende Bedeutung über die Art und Weise, in der sich das Gegenüber verhält. Die Funktion des Ausdrucks, so betonen Scheler, Plessner, Cassirer und Whitehead übereinstimmend, ist daher ein „Urphänomen“233, das trotz wissenschaftlicher Erklärungen seine Eigenart behauptet und für das Zusammenleben unverzichtbar ist. In allen Formen der Kommunikation werden Leib und Seele als Einheit erlebt, sodass die Frage, wo und wie der Geist auf die Materie einwirkt, falsch gestellt ist. Qualifizierte Perzeptionen und die Kommunikation über Absichten manifestieren sich nicht nur in Handlungen, die für das Überleben und die Lebenswelt entscheidend sind, sondern gehören auch zu den Bedingungen der Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Ohne sie könnten weder Messgeräte abgelesen werden noch ein Dialog über die Fragestellung und Ergebnisse einer Untersuchung stattfinden. Weder die Zielrichtung eines Forschungsprojektes noch die Methode, die zur Erhebung der Daten und die Begriffe, die zu ihrer Deutung verwendet werden, lassen sich vom beobachteten Gegenstand und den neurophysiologischen Prozessen im Gehirn des Forschers kausal ableiten. Sie können jedoch kollektiv vermittelt sein, sodass sie für alle Mitglieder der Scientific Community verpflichtend sind, wenn sie den Anspruch erheben, wissenschaftlich zu argumentieren. Auch Intersubjektivität als eine Bedingung für die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien lässt sich nicht auf die Kenntnisnahme objektivierbarer Daten und deren formale Deutung beschränken. Das Ich des Forschers nimmt den Anderen nicht nur als Körper im Raum unter der Perspektive der dritten Person wahr und kommt dann aufgrund eines Analogieschlusses zu der Hypothese, dass dieser auch eine Innenwelt haben müsse. Zwischenmenschlichkeit beruht nicht auf dem Verhältnis von erster und dritter, sondern auf dem von erster und zweiter Person. Auch der Dialog von Wissenschaftlern ist nur möglich vermittels der leiblich-symbolischen Interaktion zwischen Ich und Du. Jeder Wissenschaftler ist daher zunächst ein Mensch, der in ein soziales Umfeld eingebettet ist, dem er seine biographische Entwicklung und die Möglichkeit zum wissenschaftlichen Austausch verdankt. Die Zirkularität, in die sich das Programm, alles naturalistisch erklären zu wollen, verstrickt, wird deutlich, wenn man nach den Bedingungen fragt, die die Voraussetzung für das Schreiben, Lesen und Beurteilen wissenschaftlicher Artikel sind. Ohne Zweifel sind dazu Sinnesreize, neuronale Prozesse und eine funktionsfähige Physiologie notwendig. Doch durch welche Art von Kausalität kann das Gehirn, das unter einer reduktionistischen Perspektive der Autor der Theorie ist, Bedeutungen erzeugen, die sich sinnlich im Medium von Symbolen, von Sprache und Schrift, anderen vermitteln? Welchen Sinn sollte der An-

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spruch, eine Theorie sei wahr, haben, wenn diese nur ein kausal zu erklärendes Produkt kontingenter Reize der Umwelt und der neuronalen Funktionen eines bestimmten Gehirns ist? Ein anderes Gehirn müsste aufgrund einer mehr oder weniger stark veränderten Konditionierung eine andere Theorie produzieren und andere Aussagen für wahr halten. Damit aber wird der Sinn von Wissenschaft hinfällig, zumindest einige Aspekte der Wirklichkeit zu erkennen und sie für eine technisch-instrumentelle Orientierung in der Welt praktisch zu nutzen. Treffsicher legt Whitehead den Finger auf die Aporie reduktionistischer Ansätze, die zu Forschungsprojekten ganz anderer Art anregen: „Ich finde, Wissenschaftler, deren Lebenszweck in dem Nachweis besteht, daß sie zwecklose Wesen sind, sind ein hochinteressanter Untersuchungsgegenstand.“234 Doch der Leib ist nicht nur Ausdruck der Person und Medium der Kommunikation, sondern auch das Medium, durch das sich die Welt in ihren sinnlichen Qualitäten erschließt. Nicht die objektivierbaren Daten des Stoffwechsels, sondern die Qualität und Bedeutung der Empfindungen beeinflusst das Verhalten. Die erkenntnistheoretische Asymmetrie, die Descartes formuliert hat und die den wissenschaftlichen Diskurs nach wie vor bestimmt, muss daher aufgehoben werden: Geist und Körper müssen unter der Perspektive der dritten und der ersten Person betrachtet werden. Als Ausdruck von Innerlichkeit ist auch der Leib ein Moment der individuellen Biographie. Erst damit ist der Weg frei, das Zusammenspiel von Materie und Geist, Leib und Seele, Kausalität und Finalität jenseits von Dualismus, Monismus und Parallelismus zu bestimmen. Es dreht sich um nichts Geringeres als die Entwicklung eines erkenntnistheoretischen Holismus, der nicht nur die der objektivierenden Einstellung zugänglichen Erkenntnisse, sondern auch die Perspektive der ersten und zweiten Person sowie die durch sie möglichen Beziehungen zur Welt einschließt. Im 20. Jh. erfolgte die Annäherung an eine umfassende Naturphilosophie von zwei Seiten: Physiker wie A. Einstein, W. Heisenberg, E. Schrödinger, C.F. v. Weizsäcker, N. Bohr und W. Pauli betonen die Grenzen der naturwissenschaftlichen Methode. Der Biologe A. Portmann weist auf die Subjektivität von Lebewesen hin, R. Riedl235 und E. Wilson236 lenken den Blick auf symbolische Akte als Grundlage der Kultur. Als Naturwissenschaft könne die Biologie, so schreibt G. Vollmer, prinzipiell keine Antwort auf die Frage geben, ob es einen Sinn und ein Ziel der Evolution gibt.237 Aus dem Sach- und Funktionswissen, das Naturwissenschaft und Technik erschließen, lasse sich, so betont H. Mohr, das Orientierungswissen, das eine Gesellschaft benötigt, nicht ableiten.238 Die Naturwissenschaften, darin sind sich die genannten Autoren einig, beruhen auf einer bestimmten Form des Wissens und können nicht alle Bezüge zur Welt klären. Deshalb müssen sie durch andere Formen der Welterschließung ergänzt werden, zu denen sogar metaphysische Fragen gehören. „Es gibt offenbar Dimensionen

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der Wirklichkeit, die sich unserem rationalen Verständnis entziehen. Dies ist ein Anlaß für Offenheit gegenüber Geistigkeit und Transzendenz.“239 Von der Seite der Philosophie haben sich vor allem H. Plessner, M. Scheler, H. Conrad-Martius, N. Hartmann, E. Cassirer und H. Jonas mit den Ergebnissen von Physik und Biologie auseinandergesetzt und sie durch genuin philosophische Überlegungen erweitert. Da der Mensch, so argumentiert Plessner, als Produkt der Evolution der Schöpfer seiner eigenen Geschichte ist, muss die Anthropologie auch eine Theorie der Natur sein.240 Als ‚animal symbolicum‘ deutet er jedoch seine Existenz im Medium sinnlicher, bedeutungstragender Zeichen, die die Grundlage von Sprache, Mythos, Kunst, Technik, Religion und Wissenschaft und damit für die Genese einer eigenen Lebenssphäre sind: der Kultur. Betrachtet man die Argumente der genannten Autoren genauer, dann kristallisiert sich eine Problemstellung heraus, die Naturwissenschaftler und Philosophen miteinander teilen und die zwei Facetten hat: eine methodologische und eine inhaltliche. Die Naturwissenschaften bedienen sich einer streng definierten Methode der Beweisführung, die bestimmte Fragen und Gegenstandsbereiche ausschließt. In inhaltlicher Hinsicht haben sich seit dem Ende des 19. Jh. die Grundbegriffe von Physik und Biologie tiefgreifend verändert. Bedenkt man, dass die metaphysischen Entwürfe von Aristoteles, Descartes, Leibniz und Kant in Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Naturverständnis entwickelt wurden, dann können auch die aktuellen Erkenntnisse nicht einfach übergangen werden. Doch warum benötigen wir überhaupt eine Naturphilosophie, die die verschiedenen Sichtweisen der Wirklichkeit verbindet? Könnte man es nicht bei einem Nebeneinander verschiedener Aussagesysteme belassen? Für eine Naturphilosophie sprechen vor allem vier Argumente: 1. Unter anthropologischer Perspektive würde der Zusammenhang der menschlichen Erfahrung verlorengehen, bliebe man bei der strikten Trennung von Gegenstandsbereichen, Methoden und Begriffssystemen. Die Menschen würden sich im Denken und Handeln in disparaten Sprachspielen bewegen und unvermittelt von einem zum anderen wechseln, ohne die Möglichkeit, verschiedene Erfahrungen aufeinander beziehen und in einen Deutungszusammenhang integrieren zu können. Es wäre unmöglich, sich als leib-geistige Einheit zu verstehen und sich im Wechsel der Lebensumstände wiederzuerkennen. Die menschliche Identität würde in einzelne Teilfunktionen, in eine Art multiple Persönlichkeit zerfallen, die keine Verantwortung übernehmen könnte. Doch ungeachtet aller Teiltheorien ist der Mensch als Objekt der Erkenntnis immer auch deren Subjekt. Die unterschiedlichen Aussagesysteme konvergieren daher im Menschen selbst, „sie hängen zusammen in der Person, die jeden der Blickpunkte einnehmen kann.“ 241

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2. Unter naturphilosophischer Perspektive beruht das entscheidende Argument darauf, dass kein Lebewesen ohne eine irgendwie geartete Ordnung der Natur überleben könnte. Sie gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit der Existenz und damit auch zu der der Erkenntnis, wie man in freier Abwandlung Kants sagen darf. Unter dieser Perspektive geht das Sein der Natur dem Erkennen voraus.242 Die umgekehrte Perspektive ist freilich ebenso wichtig: Das Erkennen des Seins ist nur möglich aufgrund bestimmter Begriffe und Methoden, die sich im Laufe der Kulturgeschichte herausgebildet haben. Insofern gehen die Bedingungen der Erkenntnis dem erkannten Sein voraus, das nie an sich, sondern immer nur unter begrenzten Perspektiven erschlossen wird. 3. Die Hypothese, dass die Wirklichkeit eine ist, ist schließlich eine Bedingung der Möglichkeit der Kommunikation zwischen Mitgliedern verschiedener Kulturen, Lebewesen verschiedener Arten und sogar verschiedenen Individuen. Auch wenn es unmöglich ist, genau zu wissen, was es für ein Lebewesen bedeutet, dieser Mann, dieses Kind oder diese Katze zu sein, ist doch erkennbar, dass es Angst, Hunger oder Freude fühlt. Eine Katze kann Sympathie für einen Menschen empfinden und spüren, dass diese wahrgenommen und beantwortet wird. Nur aufgrund der wechselseitigen Bezogenheit aufeinander kann der eigene Lebenshorizont überschritten werden. 4. Wenn es ein absolutes Sein gibt, eine Annahme, die wissenschaftlich weder bewiesen noch widerlegt werden kann, dann muss es alle perspektivisch begrenzten Aussagen überschreiten. Als Seinsgrund wäre es, wie Platon im ‚Sonnengleichnis‘ schrieb, der Grund des Erkennbaren und der Erkenntnis. Wenn es nur eine Wirklichkeit gibt, an der Wahrnehmender und Wahrgenommenes partizipieren, dann müssen die unterschiedlichen Sichtweisen in irgendeiner Form aufeinander bezogen sein. Die Aufgabe einer Naturphilosophie ist es daher, eine Sicht der Wirklichkeit zu entwickeln, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse ebenso berücksichtigt wie das, was sich nur aus der Beziehung auf das erlebende Individuum erschließt, qualifizierte sinnliche Perzeptionen, personale Begegnungen mit anderen Menschen, die Kommunikation mit anderen Lebewesen, Werte und Ziele. „Die Einschränkung der subjektiven Qualitäten“, so formuliert Cassirer, „ist kennzeichnend für den allgemeinen Gang der Wissenschaft. Die Wissenschaft begrenzt deren Objektivität, doch sie kann ihre Wirklichkeit nicht abschaffen. Denn jedes Merkmal unserer Erfahrung und unseres Erlebens hat Anspruch auf Wirklichkeit.“243 Eine moderne Naturphilosophie führt keine neuen Prinzipien in die Naturwissenschaften ein, sondern sie erweitert den methodischen Zugang zur Natur, indem sie auch die Perspektive der Lebenswelt, von Ästhetik, Ethik und Religion einbezieht. Es muss, so argumentiert Whitehead, „eines der Motive einer vollständigen Kosmologie sein, ein

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Schema von Ideen zu entwerfen, in dem die ästhetischen, moralischen und religiösen Interessen mit jenen Begriffen von der Welt in Verbindung gebracht werden, die ihren Ursprung in den Naturwissenschaften haben.“244 Dadurch beinhaltet eine Naturphilosophie auch eine Reflexion auf das Verhältnis des Menschen zur Natur und damit auf sich. Eine der umfassendsten Entwürfe einer eigenständigen Naturphilosophie im ersten Drittel des 20. Jh. stammt von Whitehead, der auch biographisch eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften schlägt: Bevor er seine philosophische Kosmologie abgefasst hat, lag der Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit im Bereich von Mathematik und Physik. Sein Werk wird daher exemplarisch vorgestellt, bevor im zweiten Teil die naturphilosophischen Impulse mit aktuellen verhaltensbiologischen und ökologischen Erkenntnissen verbunden werden.

8 Alfred N. Whitehead: Natur als Prozess 8.1 Die Aufgabe einer philosophischen Kosmologie Schon 1920 veröffentlichte Whitehead ein Buch mit dem bezeichnenden Titel ‚Der Begriff der Natur‘. Obwohl es sich um eine epistemologische Interpretation der Theorien der modernen Physik handelt, unterscheidet er bereits die Wissenschaftstheorie, die noch mit der Naturphilosophie identifiziert wird, von der Methodologie und den Inhalten der Metaphysik. Die Naturwissenschaft und die auf ihr beruhende Wissenschaftstheorie nehmen die Natur als gegeben hin; ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen reflektieren sie nur soweit, wie es der Fortgang der Forschung fordert. Das sinnliche Bewusstsein ist „Bewußtsein von etwas“245, Gegenstandsbewusstsein; es richtet sich auf die Dinge, so wie sie erscheinen, wenn der Wahrnehmende von sich absieht und damit von dem, was für ihn Bedeutung hat, was ihn berührt, was er erstrebt oder vermeidet. Die Naturwissenschaften beschreiben nur den kausalen Zusammenhang empirischer Daten, sie sind, wie Thomas Nagel sagt, ein ‚Blick von nirgendwo‘. Dennoch argumentiert Whitehead nicht mit der Wahrheit oder Falschheit naturwissenschaftlicher Theorien, sondern mit deren Gültigkeitsbereich. Nicht die Methode der Naturwissenschaften ist unzureichend; abzuwehren ist lediglich der Anspruch, dass sie alle Phänomene vollständig erklärt. Ein anderer Gegenstandsbereich und eine andere Methode beinhalten andere Fragen, sodass sie immer nur ein „Fragment“246 der Naturerfahrung erschließen. Wenn jedoch, wie Munitz definiert, „Kosmologie das Universum als ein Ganzes“247 thematisieren soll, dann muss sie den Erkennenden und das Erkannte berücksichtigen. Da es sich, wie Whitehead argumentiert, um die besondere

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Aufgabe der Metaphysik handelt, Subjekt und Objekt einzubeziehen, ist ihr Gegenstandsbereich umfassender als der von Naturwissenschaft und Epistemologie: Die „Wissenschaftsphilosophie ist die Philosophie des wahrgenommenen Dinges und sollte nicht mit der Metaphysik verwechselt werden, deren Feld beide, den Wahrnehmenden und das Wahrgenommene, umfaßt.“248 Die Aufgabe einer Metaphysik im Sinne einer philosophischen Kosmologie ist es, die Welt als Gegenstand der Erkenntnis und ihre Beziehung zu dem in ihr lebenden Beobachter darzustellen, eine Aufgabe, der sich Whitehead ausdrücklich in ‚Prozeß und Realität‘ (1929), ‚Die Funktion der Vernunft‘ (1929) und ‚Modes of Thought‘ (1938) widmet. Eine philosophische Kosmologie muss sich sowohl mit den physischen Strukturen des Universums als auch mit den Aspekten der Erfahrung befassen, die sich unmittelbar auf den Menschen als Lebewesen beziehen. Anders als in den Naturwissenschaften können in Ästhetik, Ethik und Religion, so hat Cassirer in der ‚Philosophie der symbolischen Formen‘ gezeigt, Subjekt und Objekt nicht vollständig voneinander getrennt werden. Mit der Überschreitung der objektivierenden Methode ändern sich daher die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis und mit ihnen die Begriffe der Erfahrung und der Wirklichkeit. Dennoch wäre es unzureichend, nur die verschiedenen Modi der Erfahrung zu integrieren; auch die unterschiedlichen Aspekte der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, müssen berücksichtigt werden. Um erfolgreich zu handeln, müssen die begrifflichen Schemata zumindest einige Aspekte der Wirklichkeit adäquat repräsentieren. Es genügt daher nicht, nur die Bedingungen der Erkenntnis und die Strukturen der Subjektivität zu thematisieren und die Natur, den eigenen Körper eingeschlossen, weiterhin naturalistisch zu interpretieren und als empirische Grundlage rationaler Erkenntnis anzusehen. Indem das Verhältnis des leibhaft in der Welt lebenden Beobachters zur Natur thematisiert wird, gewinnt auch diese nicht-objektivierbare Züge. Sinnliche Qualitäten, so argumentiert Whitehead entstehen nicht nur im individuellen Geist; sie beruhen auf der spezifischen Relation zwischen Mensch und Natur und sind daher weder nur innen noch nur außen. Abgesehen davon ist die These, dass sich qualifizierte Perzeptionen nur im Bewusstsein des Beobachters befinden, empirisch nicht überprüfbar, da sie in jedem Beobachtungsakt vorausgesetzt werden. Der Mensch ist mit seinem Erkenntnisvermögen im Prozess der Evolution entstanden; er partizipiert an der Natur und beeinflusst sie durch seine Handlungen, Ziele, Ängste und Hoffnungen, sodass ihm die Position eines extramundanen Beobachters verwehrt ist. „Unser Datum ist die wirkliche Welt, zu der wir selbst gehören; und diese wirkliche Welt bietet sich der Beobachtung in Gestalt des Inhalts unserer unmittelbaren Erfahrung dar.“249 Als integraler Teil des Universums machen Menschen ihre Erfahrungen zur Grundlage einer Theorie

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über das Universum. Das Weltganze zeigt sich nur unter der durch die leibliche Konstitution und die besondere Form des Bewusstseins vermittelten Perspektive. Dennoch ist eine philosophische Kosmologie immer auch Ontologie. Sie bezieht sich auf ein Sein, das nicht von menschlichen Kategorien erzeugt, sondern von diesen mehr oder weniger adäquat erfasst wird. Damit stellt sich auch die Frage nach einem Seinsgrund, sodass die philosophische Kosmologie auch Elemente der philosophischen Theologie beinhaltet. Einen entscheidenden Anstoß zur Entwicklung einer philosophischen Kosmologie gaben die Erkenntnisse von Physik und Biologie. Im Mittelpunkt der inhaltlichen Auseinandersetzung der Physik des 20. Jh. steht der Begriff der Materie, der durch Relativitäts- und Quantentheorie neu bestimmt wurde. Die Newtonsche Physik „beruht ganz und gar auf der Annahme der ‚eindeutigen Lokalisierbarkeit‘ und der ‚Äußerlichkeit‘ aller Beziehungen zwischen Körpern.“250 Newtons Atome haben zu jedem Zeitpunkt einen genau definierten Ort, ihre Bewegungsbahn lässt sich exakt berechnen und sie sind alle aus demselben Stoff gebildet. Die Teilchen können aneinander haften, aber sich nicht durchdringen. Die Vorstellung von der Materie als passivem, geistlosem Material beinhaltet, so haben wir gesehen, die Bifurkation der Natur, eine Aufspaltung in die von den mathematischen Naturwissenschaften beschreibbaren objektiven Eigenschaften und die den Geisteswissenschaften zugänglichen subjektiven Qualitäten wie Farben, Gerüche oder Töne, Ziele und Werte. Die kleinsten Einheiten der modernen Physik sind dagegen wirkende, dynamische Partikel. Ihre Masse ist nicht konstant, sondern eine Funktion der Geschwindigkeit. Die Atomkerne, in denen fast die gesamte Masse versammelt ist, können für langsame Elektronen durchlässig werden, wie der Ramsauer Effekt zeigt. Die Entdeckung von Positronen 1932 durch Anderson bewies, dass Elementarteilchen nicht unwandelbar sind, sondern aus Strahlung entstehen und sich gegenseitig vernichten können. Die Vorstellung einer genau definierten Bewegungsbahn und ihrer eindeutigen Lokalisierbarkeit ist, wie die Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelationen lehren, im Bereich quantenmechanischer Prozesse ungültig. Der Tunneleffekt zeigt, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Elementarteilchens auch jenseits eines Potenzialwalls, den es nach klassischer Vorstellung nicht überwinden kann, nicht Null ist. Vor dem Hintergrund des Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxons stellt sich die Frage, wie ein Elementarteilchen den Zustand eines gleichzeitig mit ihm abgeschickten Teilchens kennen kann, sodass der Spin beider Partikel korreliert bleibt. Und schließlich sind atomare Systeme nicht aus einzelnen Teilchen zusammengesetzt; jedes Elektron verändert die Gesamtwellenfunktion des Systems. Schon der damalige Stand der Wissenschaft führte Whitehead daher zu dem Schluss, dass die Vorstellung der einfachen Lokalisierbarkeit aufgegeben werden muss.

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Durch die Veränderung zentraler Begriffe wie Raum, Zeit und Masse wurden die Gültigkeitsgrenzen von Theorien schon innerhalb der Physik und damit auch die Begrenztheit der auf ihnen beruhenden Sicht der Wirklichkeit deutlich. Die philosophische Frage nach den Gültigkeitsgrenzen physikalischer Begriffe überhaupt und damit nach einem erweiterten Verständnis von Wirklichkeit ist nur eine konsequente Weiterführung dieser Einsicht. In der Biologie führte zunächst die Evolutionstheorie Darwins zu einer Revision der Stellung des Menschen im Kosmos. Prozesse in der Natur gelten nicht mehr als zielgeleitete Ausfaltung vorhandener Möglichkeiten, und sie beruhen auch nicht, wie Leibniz glaubte, auf dem kontinuierlichen Fortgang der Bewegung. Im Werden vollzieht sich die indeterminierte Genese neuer Formen, durch die auch neue Möglichkeiten entstehen. Whitehead konnte daher nicht mehr von einem statischen Universum ausgehen, in dem alle Formen durch einen einmaligen Schöpfungsakt gleichzeitig ins Sein getreten sind. Dem Belebten und sogar dem Unbelebten muss eine Eigendynamik innewohnen, die Strukturbildung ermöglicht. Da sich auch die spezifisch menschliche Form des Bewusstseins aus Vorformen entwickelt hat, wird der Gegensatz von denkendem Ich und mechanisch bewegter Natur im Sinne von Descartes unhaltbar. Abgesehen von den Fragen, die durch die Naturwissenschaften aufgeworfen werden, bietet für Whitehead auch die Lebenswelt ein Bild, das mit der Interpretation der Entitäten als für sich bestehender, quasi-dinghafter Substanzen, die in Raum und Zeit lokalisierbar sind, unvereinbar ist. Durch den Stoffwechsel ebenso wie durch das Verhalten erstreckt sich die Wirksamkeit von Lebewesen über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg auf andere Entitäten und beeinflusst sie. Ohne den dynamischen Bezug zu anderen Kreaturen könnte ein Lebewesen überhaupt nicht überleben. „Meine Argumentation geht dahin, daß es unter den primären Elementen der Natur, wie wir sie in unserer unmittelbaren Erfahrung auffassen, kein einziges gibt, das diese Eigenschaft der einfachen Lokalisierung aufweist.“251 Es ist die besondere Aufgabe der Philosophie, die Annahme isolierbarer und lokalisierbarer Entitäten in allen Bereichen als Abstraktion zu enthüllen und „den Trugschluß der unzutreffenden Konkretheit“252 zu korrigieren. Ausgehend von wissenschaftlichen und lebensweltlichen Konzepten gleichermaßen muss eine Sicht der Wirklichkeit entwickelt werden, in der alle Entitäten durch vielfältige Beziehungen verbunden und füreinander bestimmend sind. Um alle wesentlichen Erfahrungen des Menschen mit der Welt in einen Zusammenhang zu bringen, entwickelt Whitehead in ‚Prozeß und Realität‘ ein Kategoriensystem, dessen Aufgabe es ist, „die vielfältigen Aspekte unserer Erfahrung in eine widerspruchsfreie Relation zu bringen.“253 Es erfasst die möglichen

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Gegenstände der Erfahrung und gibt an, unter welchen Bedingungen Erfahrung möglich ist. Nur auf diesem Weg kann eine Sicht der Wirklichkeit entwickelt werden, die umfassender und adäquater ist als die der Einzeldisziplinen. Einerseits wird durch die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis der erkenntniskritische Impuls der Kantischen Philosophie aufgriffen; andererseits beziehen sich die Begriffe auf die Wirklichkeit, sodass der Subjektivismus und die Anthropozentrik, die mit der Kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie einhergingen, überwunden werden. Das Kategorienschema trägt der Einsicht Rechnung, dass weder der Beobachter weltlos ist noch die Welt ohne den Beobachter. Obwohl die Begriffe keine Abbildung der Wirklichkeit sind, sondern immer deren Interpretation, sind sie keine bloße Konstruktion. Treffend bezeichnet Cassirer Symbole als „Organe der Welterschließung“254: Organe vermitteln zwischen Innen- und Außenwelt. Sie adaptieren das, was auf sie einwirkt und wandeln es in einer spezifischen Weise um, sodass es vom Gesamtorganismus verwertet werden kann. Was die Welt ist, wissen wir immer nur aufgrund dieser Transformation. Aber auch umgekehrt gilt: Die Organe sind in ihrer Funktion auf die Außenwelt angewiesen. Der Mensch lebt in der Welt, die er nur im Medium seiner Interpretationen erfasst. Bei Whitehead sind die Begriffe des Kategorienschemas durch Erfahrung überprüfbar, sodass auch die Metaphysik eine pragmatische Komponente hat. Das Gedankenschema lenkt zwar die Interpretation von Phänomenen, doch diese können ihrerseits zum Korrektiv des Schemas werden. Durch die Rückkopplung zwischen Begriffen und Erfahrungen befruchten und erweitern sich beide gegenseitig. Einerseits sind Denkschemata eine Voraussetzung für die Ordnung der Phänomene; andererseits geben diese den Anstoß zur Anwendung und Entwicklung neuer Denkschemata. Neuartige Phänomene können das bisherige Denkschema durchbrechen; doch deren Bedeutung wird erst vor dem Hintergrund eines Interpretationsschemas erkannt. Indem durch das Wechselspiel von Begriff und Erfahrung auch die metaphysische Erkenntnis zu einem unabschließbaren Prozess wird, werden zwei Gefahren vermieden: der „Denkfehler des Dogmatismus“255, der darin besteht zu glauben, man habe die Wirklichkeit unmittelbar erfasst, − und Skeptizismus und Relativismus, die eine Folge der Erfahrung sind, dass Denkschemata immer wieder abgelöst werden. Bei Whitehead handelt es sich nicht um ein bloßes Nacheinander von Paradigmen. Eine auf Erweiterung ihrer Grundbegriffe angelegte Form der Metaphysik kann neue Einsichten immer wieder mit den Erkenntnissen verknüpfen, die sich innerhalb bestimmter Grenzen bewährt haben. Wirklichkeit ist mehr als im Rahmen eines Schemas erkennbar ist; und sie ist ihrerseits werdend. In der Genese des Neuen sieht Whitehead einen Grundzug der Natur und damit auch der Erkenntnis. Als Gegenstand der Er-

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kenntnis hat die Natur eine unabgeschlossene Geschichte, sodass immer wieder Neues entstehen kann, für das es noch keine Methode und Begriffe gibt. 8.2 Eine Philosophie des Organismus Whitehead gründet seine Naturphilosophie weder auf den Begriff des Geistes noch den der Materie, sondern den des Organismus: „Ich habe eine alternative Wissenschaftsphilosophie umrissen, worin der Organismus die Stelle der Materie einnimmt. Dabei löst sich der Geist, wie er in der materialistischen Theorie enthalten ist, in eine Funktion des Organismus auf.“256 Organismen besitzen, so haben wir bei Kant gesehen, eine Eigendynamik, bei der sich Teil und Ganzes gegenseitig bedingen. Die der Methode der Naturwissenschaften verpflichtete Systemtheorie analysiert das Verhalten nur unter der Perspektive des außen stehenden Beobachters. Selbsterhaltung wird auf interne Rückkoppelungsprozesse zurückgeführt und rein funktional ohne den Begriff des Zieles erklärt. Obwohl die Systemtheorie den Begriff der Ganzheit rehabilitiert, gelingt es ihr nicht, die Ursache für die Genese von Strukturen und das Phänomen des Lebens unter Einschluss der Dimension der Innerlichkeit zu erklären. Zumindest das menschliche Verhalten kann jedoch nicht ohne den Bezug auf Ziele und Zwecke verstanden werden. Man wird ihm nur gerecht, wenn man davon ausgeht, so argumentiert Whitehead, dass es nicht nur durch das zufällige Zusammentreffen kausal wirkender Faktoren bestimmt ist, sondern durch Absichten, bewusste Entscheidungen und Voraussicht. Man arbeitet einen Vortrag aus, um ihn bei einer bestimmten Gelegenheit zu halten; ein Biologe geht mit einer Kameraausrüstung in den Wald, um einen Tierfilm zu drehen. Die Beobachtung, dass qualifizierte Perzeptionen und Intentionen für Handlungen entscheidend sind, ist so breit angelegt, dass sie nicht als subjektive Täuschung abgetan werden kann. Man muss daher, so folgert Whitehead, die Aufmerksamkeit auf das Beobachtungsmaterial lenken, das mit „physiologischen Methoden nicht faßbar ist und von der geltenden wissenschaftlichen Meinung einfach übersehen“257 wird. Indem er die Aktivitäten von Organismen nicht nur durch Kausalität und Funktionalität, sondern auch durch Ziele und Zwecke, mithin durch ein Moment der Subjektivität, erklärt, überschreitet er die begrifflichen und methodischen Grenzen der Systemtheorie. Während jedoch für Kant nur Menschen Zwecke setzen können und alle anderen Lebewesen kausal und funktional determiniert sind, knüpft Whitehead an die Evolutionslehre an und fordert eine zweite Kopernikanische Wende: Trotz der Berechtigung erkenntniskritischer Reflexionen ist auch der Mensch ein Teil der Naturgeschichte. „Für Kant taucht die Welt aus dem Subjekt auf; für die organistische Philosophie taucht das Subjekt aus der Welt auf.“258 Und dann muss man davon ausgehen, dass sich auch die menschliche Form des Bewusstseins

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aus Vorformen entwickelt hat, sodass qualifizierte Perzeptionen und Ziele in analoger Weise schon für das Verhalten nicht-menschlicher Lebewesen bestimmend sind. Schon in den 1920ern dokumentierten die verhaltensbiologischen Versuche von Koehler, dass das Verhalten höherer Tiere nicht nur durch Instinkte und Triebe, sondern auch durch den Vorblick auf Ziele bestimmt wird. Das Erreichen eines Ziels wird von Emotionen begleitet, die Befriedigung ausdrücken; wird es verfehlt, werden dagegen Emotionen artikuliert, die unschwer als Angst, Unruhe, Aggression oder Schmerz erkennbar sind. Unbestreitbar ist auch die Fähigkeit, Probleme ohne vorhergehende Versuche zu lösen und zwischen Alternativen zu wählen. Scheler spricht daher von einer organisch gebundenen, praktischen Intelligenz, die sich darin äußert, dass ein Lebewesen „ohne Probierversuche ein sinngemäßes Verhalten neuen, weder art- noch individualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhaft bestimmte Aufgabe zu lösen.“259 Auch nicht-menschliche Lebewesen sind keine Maschinen, die wie Automaten durch Programme oder interne Regelprozesse gesteuert werden, sondern, wie Jonas formuliert, „in Graden Träger jener Innerlichkeit, deren sich der Mensch in sich selbst bewußt ist.“260 Ziele werden nicht nur rational-begrifflich erfasst, sondern auch durch Emotionen, Bedürfnisse und Empfindungen motiviert. Je größer die Verwandtschaft von Lebewesen ist, so betont auch die Evolutionstheorie, desto deutlicher kann man eine gewisse Ähnlichkeit im Verhalten, im Bauplan und in der biochemischen Zusammensetzung beobachten. Um das zielgeleitete Verhalten nicht-menschlicher Lebewesen zu erklären, greift Whitehead jedoch nicht auf das Schema des materialistischen Reduktionismus zurück, sondern argumentiert genau umgekehrt: Daraus, dass Menschen qualifizierte Perzeptionen und Ziele erleben, kann man schließen, dass schon andere Lebewesen bis zu einem gewissen Grad durch Subjektivität bestimmt sind. Wer vom Erleben des Menschen auf Tiere und noch einfachere Lebewesen schließt, setzt sich dem Vorwurf aus, dass er übersieht, dass die Evolution mit unbelebten Stoffen begonnen hat, dass also die komplexeren Lebensformen die einfacheren voraussetzen, sodass sich deren Eigenschaften aus denen ihrer Komponenten ableiten lassen müssen. Die erkenntnistheoretische Berechtigung für die Umkehr der Perspektive beruht darauf, dass wir, wie Jonas bemerkt, vom Belebten überhaupt nur sprechen können, weil wir aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, lebendig zu sein. Nur aufgrund unserer Subjektivität können wir die Subjektivität anderer Lebensformen erkennen. Wie es ist, ein Stein zu sein, wissen wir dagegen nicht. Und da Zwecke nicht nur im eigenen Inneren erlebt, sondern auch für das Verhalten bestimmend sind, sind sie nicht nur ein Phänomen der je eigenen Innenwelt; sie gehören nicht einer anderen Ordnung des Seins

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oder der Erkenntnis an als Wirkursachen. „Eine wirklich befriedigende Theorie des Kosmos“, so folgert Whitehead, muss „erklären, auf welche Weise Wirk- und Zweckursachen miteinander verwoben sind.“261 Berücksichtigt man nicht nur zufällige Mutationen und Reaktionen auf Reize, sondern auch die subjektive Seite des Erlebens, die Eigenaktivitäten motiviert, dann muss die Evolutionstheorie ergänzt werden. Lebewesen, so Whitehead, passen sich nicht nur quasi-mechanisch unter dem Druck der Umstände an die Umwelt an, sondern greifen ihrerseits aufgrund ihrer Bedürfnisse in die Umwelt ein. Bei einfachen Organismen ist die Zielgeleitetheit des Verhaltens für den Beobachter nur schwer wahrnehmbar; je komplexer jedoch die Verhaltensweisen werden, desto unverkennbarer ist, dass Lebewesen auch gegen äußere Widerstände und über längere Zeiträume hinweg beharrlich Ziele verfolgen. „Tatsächlich hat sich im Laufe der Aufwärtsentwicklung mehr und mehr ein entgegengesetztes Verhältnis zur Umwelt ergeben, mathematisch ausgedrückt: die zur Anpassung inverse Relation. Die höheren Lebewesen haben sich immer stärker der Aufgabe zugewandt, die Umwelt ihren Bedürfnissen anzupassen. Und im Falle des Menschen ist dieser aktive Angriff auf die Umwelt der bemerkenswerteste Zug seiner Existenz.“262 Motiviert vom Streben zu überleben und Bedürfnisse zu befriedigen, wohnt allen Lebewesen die Tendenz inne, ihre Lebensbedingungen zu überschreiten. Das Sein wird dem Nicht-Sein, das Wohlbefinden dem Schmerz vorgezogen. Die Befriedigung, die sich mit der Erfüllung der Bedürfnisse einstellt, wirkt wieder auf den Organismus zurück und verstärkt die jeweilige Lebensstrategie. Alles, was geschieht, hat eine Bedeutung für das Befinden, das wiederum das Verhalten lenkt. Die Umwelt erscheint daher nicht als wertneutrale Abfolge von Ereignissen, sondern als ein Verweisungszusammenhang von Zeichen, von Duftmarken, Gerüchen und Geräuschen, die in ihrer Bedeutung entschlüsselt werden. Erschöpft sich, so fragt Whitehead, das Leben also tatsächlich im Kampf ums Überleben, um Selbsterhaltung und Reproduktion? Sind alle Verhaltensweisen rein funktional zu interpretieren? Käme es, so wendet Whitehead ein, tatsächlich nur auf das Überdauern an, dann wären anorganische Strukturen organischen weit überlegen. Einfach strukturierte Lebewesen sind oft weniger anfällig für Veränderungen ihrer Umgebung und damit weniger vom Aussterben bedroht als komplexere. Die Entstehung von Gefühlen und Bewusstsein wäre vollends überflüssig. Außerdem können Tiere und Menschen sogar unter extrem reduzierten Bedingungen, in Slums, in Lagern und unter den Bedingungen der intensiven Massentierhaltung überleben; Aussehen und Verhalten zeigen jedoch, dass sie darunter leiden. Je differenzierter die Wahrnehmungsfähigkeit und je komplexer das Verhaltensrepertoire ist, desto deutlicher zeigt sich auch, dass Lebewesen versuchen,

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die Umwelt zu finden, die ihnen die Erfüllung ihrer Bedürfnisse gewährt. Durch die Modifikation des Lebensraumes und die Suche nach neuen Lebensmöglichkeiten wird das Lebensminimum überschritten. Überleben und Fortpflanzung sind nicht das Ziel, sondern nur die unabdingbare Voraussetzung für ein Streben nach Schutz, Wärme, schmackhafter Nahrung und Sozialkontakten. „Meine These ist nun, daß sich dieser aktive Angriff auf die Umwelt durch ein dreifaches Bestreben erklärt: erstens, überhaupt zu leben, zweitens, gut zu leben, und drittens, noch besser zu leben.“263 Das Streben gut und besser zu leben lässt sich nicht rein reaktiv erklären, und es ist nicht völlig blind und richtungslos. Es ist motiviert von dem Streben nach der Möglichkeit, die eigenen Fähigkeiten zum Ausdruck zu bringen und Befriedigung zu erlangen. Nicht Selbsterhaltung, sondern Selbstüberschreitung ist der Impuls, der die Evolution vorantreibt. Mit wachsender psycho-physischer Komplexität erweitert sich der Spielraum des Verhaltens. In dem Maß, in dem die Lernfähigkeit und das Vermögen, Probleme zu lösen und Neues zu entdecken, zunehmen, wächst die Unabhängigkeit von den Determinanten der Umwelt. Immer weniger lässt sich das Verhalten als stereotype Reaktion auf Reize und Folge der Vorgeschichte erklären. „Leben“, so formuliert Whitehead, „ist ein Bemühen um Freiheit.“264 Um den Begriff der Freiheit nicht auf seinen anthropomorphen Sinn einzuschränken, muss er im Sinne des in ‚Prozeß und Realität‘ entwickelten Kategorienschemas so weit gefasst werden, dass das allen Entitäten Gemeinsame sichtbar wird. Als Kategorie, die alle Seinsbereiche übergreift, hat sie die Funktion, die aus Wirkursachen unableitbare Eigendynamik zu beschreiben. Freiheit beinhaltet die Möglichkeit, angesichts der Determinanten der Umwelt, von Reizen und Gewohnheiten das Verhalten bis zu einem gewissen Grad selbst zu verursachen, spontan zu agieren. Ein wirkliches Einzelwesen, so definiert Whitehead, erfüllt „Spinozas Definition der Substanz, die causa sui ist. Causa sui zu sein bedeutet, daß der Konkretisierungsprozeß seine eigene Grundlage für die Entscheidung über die qualitative Ausstattung der Empfindungen ist. Die im Universum inhärente Freiheit beruht auf diesem Element der Selbst-Verursachung.“265 Freiheit beinhaltet ein Moment der Unbedingtheit, die Fähigkeit, aus innerem Antrieb zwischen den Möglichkeiten, die eine Situation in sich birgt, zu wählen und eine von ihnen zu konkretisieren. Aufgrund der aus den äußeren Umständen unableitbaren Eigendynamik ist ein Organismus nie nur natura naturata, sondern auch natura naturans. Versteht man im Sinne der antiken Tradition Leben als Fähigkeit zur Selbstbewegung, dann ist „ein Organismus ‚lebendig‘, wenn seine Reaktionen in gewissem Maß durch keine Tradition rein physischer Vererbung erklärbar sind.“266 Tot ist dagegen das, was durch äußere Faktoren und vergangene Ereignisse determiniert wird. Da sich jede Entität in einer konkreten Situation befindet, ist nicht alles zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich. Einerseits ist jedes Seiende durch die äu-

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ßeren Umstände und die Vergangenheit bestimmt; andererseits kann es sich nur entfalten, weil es schon auf Strukturen zurückgreifen kann, die eine gewisse Organisiertheit aufweisen. Die Umgebung hat daher eine zweifache Funktion: Sie beschränkt den Spielraum des Möglichen und sie bildet ein unverzichtbares Potenzial für das Werden eines Organismus. Nur dadurch führt das Werden nicht zu einem unablässigen Wechsel von Ereignissen, sondern einem stufenweisen Aufbau von Komplexität in der Natur und der Kultur. Die Selektion zwischen Möglichkeiten und die Integration der ausgewählten Daten in den sich konstituierenden Organismus vollzieht sich durch dessen Eigendynamik. Die Bindung an die Vergangenheit und an einen bestimmten Kontext schränkt die Originalität der Synthese zwar ein, hebt sie jedoch nicht vollständig auf. Die Dynamik, die die Bildung immer wieder neuer Einheiten ermöglicht, bezeichnet Whitehead als Kreativität. Sie ist „das Prinzip des Neuen“267, das die Verknüpfung der unterschiedlichen Daten ermöglicht. Kreativität ist die den Einzelwesen innewohnende Fähigkeit zur Selbstverursachung, durch die sie neue Herausforderungen annehmen und mit der Vergangenheit und den gefühlten Bedürfnissen so verknüpfen können, dass sie sich in einem sich wandelnden Umfeld selbst konstituieren. „Das elementare metaphysische Prinzip ist das Fortschreiten von der Getrenntheit zur Verbundenheit, wobei ein neues Einzelwesen erschaffen wird.“268 Durch die Auswahl einer bestimmten Möglichkeit werden Alternativen ausgeschlossen, die bis zu diesem Zeitpunkt bestanden haben. Dadurch verändert sich nicht nur das, was faktisch vorhanden ist, sondern auch der Raum der Möglichkeiten. Da ein Organismus keine unabhängig von der Umwelt existierende Entität ist, wirkt nicht nur jede Veränderung der Umwelt auf ihn ein, sondern auch sein Verhalten auf die Umwelt. Dass die Evolution gerichtet ist, ohne determiniert zu sein, lässt sich für Whitehead daher nur durch die Interaktion von drei verschiedenen Momenten erklären: von kausalmechanisch wirkenden Impulsen, der Eigenaktivität von Organismen und dem Spielraum an Möglichkeiten. Mit dem Begriff des Organismus gibt Whitehead zwar die Vorstellung abgetrennter zeitlos-invarianter, substanzieller Entitäten auf; dennoch muss es etwas geben, das im Wandel dauert, denn sonst gäbe es nur ein strukturloses Fließen und keinen Aufbau komplexer Strukturen. Das Werden lässt sich nur begreifen, wenn es diskrete Entitäten gibt, die zumindest für eine gewisse Zeit bestehen. Im Sinne von Leibniz unterscheidet Whitehead die Einheit eines Aggregates, dessen Teile durch äußere Krafteinwirkungen zusammengehalten werden, von der inneren Einheit eines Organismus, der nicht in Teile zerlegbar ist. Um das Werden in der Natur zu verstehen, muss man nicht nur den Zusammenschluss von Elementarteilchen, sondern auch deren Genese begreifen. Die zufällige In-

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teraktion kausal-determinierend wirkender Impulse kann nicht erklären, dass sich immer wieder kohärente Strukturen bilden, ohne die kein Organismus überlebensfähig wäre. Die unterschiedlichen Teilfunktionen müssen so miteinander verbunden sein, dass sie nicht neben- oder gar gegeneinander wirken, sondern zusammenspielen. Damit legt Whitehead den Finger auf einen bis heute in der Evolutionstheorie nicht geklärten Punkt: Welche Faktoren dafür verantwortlich sind, dass, verglichen mit der Anzahl der naturgesetzlich möglichen Systeme, nur eine begrenzte Anzahl lebender Systeme entsteht, ist naturwissenschaftlich ungeklärt. Für Whitehead muss es Prinzipien geben, die die Bildung diskreter, kohärenter Entitäten ermöglichen. Ohne zeitlos dauernde Formen gäbe es nur vereinzelte Ereignisse. Es gäbe keine Ordnung, die auf der verlässlichen Wiederholung ähnlicher Ereignisse beruht und das Überleben, die Erkenntnis der Natur und verantwortliches Handeln ermöglicht. Die Formen müssen also einen vom Werden des Einzelwesens und den kausal wirkenden Randbedingungen unterschiedenen Status haben. Sie überschreiten die Einzelwesen nicht nur aufgrund ihrer Allgemeinheit, sondern auch in zeitlicher Hinsicht. Sie sind zeitlos dauernd und unveränderlich. Zeitlose Gegenstände sind für Whitehead mögliche Strukturen für konkrete Ereignisse. Im Unterschied zu den platonischen Ideen sind sie allerdings die „reinen Potentiale des Universums“269, die nur verwirklicht werden, indem sie in ein konkretes Ereignis eingehen. Wie aber kann aus dem Angebot von Möglichkeiten und der Fülle kausal und unkoordiniert wirkender Impulse ein kohärentes, dauerndes Einzelwesen werden? Da es keine zugrunde liegende Substanz gibt, die die Form aus sich heraus entfaltet oder in die sich, wie in eine Wachstafel, die Einflüsse der Umwelt einprägen, beruht das Ergreifen der Möglichkeiten auf der Eigendynamik des sich bildenden Einzelwesens. Die zeitlosen Möglichkeiten sind auf das ein Moment der Selbstverursachung angewiesen, das schon die einfachsten Entitäten besitzen. Möglichkeiten werden ergriffen und untereinander verbunden, sodass eine neue, kohärente Ganzheit entsteht. Dadurch unterscheidet sich das werdende Einzelwesen vom Gewesenen und erwirkt seine eigene Bestimmtheit. Die Abgegrenztheit einer organismischen Entität beruht darauf, dass in der Vielzahl einzelner Aspekte, die ein Geschehnis im Lauf seiner Lebensgeschichte zeigt, immer dasselbe Muster wirksam ist und einem Organismus seine eigentümliche Bestimmtheit verleiht. Als ein System von Elementarereignissen ist zwar jedes wirkliche Einzelwesen eine einmalige Synthese; als ein Muster von Eigenschaften überdauert es jedoch aufgrund der gleichförmigen „Wiederholung (reiteration)“270 oder präziser, Neuaktualisierung eines Musters. Die zeitlosen Gegenstände ermöglichen das Andauern von Eigenschaftsmustern durch den permanenten Wiedereintritt derselben Eigenschaften in aufeinanderfol-

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gende Ereigniszusammenhänge. „Eine nicht-materialistische Naturphilosophie wird einen primären Organismus als das Auftauchen eines besonderen Musters identifizieren, wie es in die Einheit eines realen Geschehnisses hineingezogen wird.“271 Alle Prozesse, ob das Andauern oder die Veränderung von etwas, müssen als Gleichbleiben oder Wechsel der Aktualisierung von Eigenschaften beschrieben werden. Auch die Dinge der Lebenswelt, Steine, Tische oder Häuser, die anscheinend über längere Zeit unverändert bleiben, zeigen sich bei näherem Hinsehen als komplexes Zusammenspiel von Einzelprozessen. Die scheinbar gleichförmige Identität makroskopischer Objekte beruht nicht auf starrer, dinghafter Unbewegtheit, sondern auf einem Muster, das sich für eine gewisse Zeit wiederholt. Eine ‚strukturierte Gesellschaft‘ überdauert solange, wie die Ordnungsrelationen immer wieder neu auf dieselbe Weise zusammengeschlossen werden. Anders als bei der Ontologie von Ding und Eigenschaft beruht die Dauer organismischer Strukturen auf gleichbleibenden Relationen zwischen Elementarereignissen. „In der organistischen Philosophie gilt nicht die ‚Substanz‘ als beständig, sondern die ‚Form‘. Formen unterliegen sich ändernden Relationen.“272 Eine gleichbleibende Form kann in unterschiedliche Zusammenhänge eintreten, durch die erst die Variationsbreite ihrer Möglichkeiten sichtbar wird. Obwohl die Form dieselbe ist, wird sie in ihrer Funktionsweise durch den jeweiligen Kontext, in den sie eintritt, mitbestimmt. Da sich das Werden eines wirklichen Einzelwesens nur unter konkreten Randbedingungen und aufgrund einer bestimmten Vorgeschichte vollzieht, die das beschränken, was zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist, können nie alle zeitlosen Gegenstände gleichzeitig konkretisiert werden. Unter der Vielfalt von Möglichkeiten können immer nur einige wenige in einer bestimmten Situation ergriffen werden. Wird eine dieser Möglichkeiten konkretisiert, ändert sich mit der werdenden Entität und ihrem Umfeld auch das Spektrum der zur Verfügung stehenden zeitlosen Gegenstände. Jedes Einzelwesen ist daher auf einzigartige Weise mit seiner Umwelt und den zeitlosen Gegenständen verbunden. Zu dem Spielraum an Möglichkeiten, der durch die Vergangenheit und die zeitlosen Formen abgesteckt wird, tritt die Fähigkeit hinzu, Daten zu erfassen und sie zu einer kohärenten Einheit zu verknüpfen. Dadurch enthält jedes Einzelwesen die „erfaßten Informationen“273 seiner Umwelt in sich; das Äußere ist in transformierter Form im Inneren gegenwärtig. Auf diese Weise verbindet sich das Moment der Selbstursächlichkeit mit den kausal wirkenden Faktoren der Umgebung und der Sphäre reiner Möglichkeiten. Auf die kausal wirkenden Impulse und das Angebot an Möglichkeiten erfolgt eine selbsttätige Reaktion des sich erschaffenden Einzelwesens. Es gestaltet sich, indem es unterschiedliche Einflüsse in eine kohärente, einheitliche Organisation überführt. Dadurch greifen in jedem Prozess Kausalität und Finalität ineinander.

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Prehension, Erfassung ist der noch den unbelebten Bereich einschließende Begriff, den Whitehead verwendet, um den Prozess der Bestimmung eines wirklichen Einzelwesens zu einer abgegrenzten, unterschiedenen Einheit zu beschreiben. Der Begriff der Prehension kann in enger Analogie zu Leibniz‘ Begriff der Perzeption wie zur Informationstheorie verstanden werden. Nach H. Sachsse ist „Information, wörtlich Hineinformung, übermittelte Form, die wir auch als übermittelte Ordnung bezeichnen können.“274 Im Begriff der Information drücken sich die subjektive Weise des Erfassens und das Erfassen eines Objektes gleichzeitig aus. Doch weder die Sphäre der Möglichkeiten noch die Randbedingungen noch der bloße Akt des Erfassens genügen, um die besondere Bestimmtheit einer Entität zu erklären. Informationen werden nicht unmittelbar aufgenommen, sondern gefiltert durch eine Grundrichtung, einen „Vektor-Charakter“275. Die spezifische Prägung der erfassten Informationen, die Art und Weise, durch die sie zu einer kohärenten Funktionsganzheit zusammengeschlossen werden, beruht auf subjektiven Formen. Zu ihnen zählen Gefühle, Wertungen, Zwecksetzungen, Zuneigung, Abneigung und Bewusstsein. Indem ein wirkliches Einzelwesen unter den Alternativen auswählt, verleiht es ihnen eine bestimmte Relevanz in Hinblick auf sein eigenes Werden. Durch die subjektive Form gewinnt das Moment der Selbstverursachung, das ein allgemeiner Grundzug aller Entitäten ist, eine für ein Individuum spezifische Ausrichtung. Die subjektive Form bestimmt, welche Informationen aufgegriffen und welche ausgeschieden werden, sodass Whitehead positive und negative Erfassungen unterscheidet. Durch negatives Erfassen wird verhindert, dass bestimmte Faktoren aufgegriffen werden. Doch auch der Ausschluss von Daten und Möglichkeiten bestimmt die Identität der werdenden Entität mit, da er sie in spezifischer Weise von der Umwelt abgrenzt. Durch positives Erfassen wird etwas zu einem integralen Bestandteil einer organismischen Entität, die sich dadurch verändert. Integriert werden können nur Informationen, die mit schon erfassten Daten verträglich sind. Unterschiede sind nur soweit tragbar, als sie die innere Einheit nicht zerstören. Sind die Inkonsistenzen zu groß, wird die Einheit eines Organismus zerstört; bei Lebewesen sind Stress und Leid die Folge. Ein Mangel an Kontrasten wiederum reduziert Komplexität und Lebensintensität. Whitehead unterscheidet daher Widersprüche von Kontrasten: „Ein Kontrast bringt Tiefe hervor, und wenn es an musterförmigem Kontrast mangelt, ist nur seichte Erfahrung möglich.“276 Durch positives und negatives Erfassen, durch Integration und Eliminierung, entstehen die Relationen, die ein wirklichen Einzelwesens mit jeder „Einzelheit des Universums“277 verbinden. Indem es sich im Prozess der Selektion und Integration der Daten aufgrund seiner Eigendynamik als eigenständige Entität

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konstituiert, erwirkt es gleichzeitig die besondere Form der Einbindung in die Umwelt. Dadurch lassen sich die Einzelwesen nicht als voneinander isolierbare, für sich bestehende Entitäten begreifen. Sie sind aufgrund ihrer inneren Konstitution mit der Umwelt, die ihrerseits aus einer Vielzahl anderer Einzelwesen besteht, in besonderer Weise verbunden. Die subjektive Form verleiht dem Integrationsprozess auch eine zeitliche Ausrichtung, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Während die Vergangenheit kausal wirkt, gehen von der Zukunft noch keine wirkursächlichen Einflüsse aus. Erst durch die subjektive Form entsteht ein gewisser Vorgriff auf die Zukunft. Nur durch ein antizipatorisches Moment gewinnen die nacheinander erfolgenden Akte des Erfassens eine Tendenz zur Kohärenz. Auch die Systemtheorie hat erkannt, dass Organismen sich nur durch die Antizipation eines Leistungszieles erhalten können; bei Whitehead ist dieses weder einfach vorhanden noch kann es durch das Zusammenspiel von Zufall und naturgesetzlicher Notwendigkeit entstehen: Es konstituiert sich durch das Moment der Selbstverursachung, das jeder Entität innewohnt. Zielgeleitetheit beinhaltet eine Ausrichtung auf die Erfüllung dessen, was aufgrund der besonderen Randbedingungen, des Spielraums an Möglichkeiten und des subjektiven Ziels konkretisiert werden kann. Dadurch werden die Ziele nicht von außen an die Seienden herangetragen, sondern sind ihrer Dynamik immanent. Sie treiben den Prozess der Konkreszens, des Zusammenwachsens zu einer inneren Einheit, voran. Nur dadurch gewinnt der Prozess der Selbsterschaffung eine gewisse Stetigkeit und ändert nicht unter dem Einfluss wechselnder Impulse ständig seine Richtung. Die Erfüllung der Form beinhaltet den Abschluss des Prozesses. Eine in sich gegliederte, kohärente Einheit, die sich von anderen Entitäten durch innere und äußere Relationen unterscheidet, ist entstanden. Strukturganzheiten können sich eine gewisse Zeit erhalten; organische Wesen können sich fortpflanzen und die Art erhalten. Im Prozess der Selbsterschaffung bildet sich aus vielen, inkohärenten und zerstreuten Informationen „ein Einzelwesen“ und nicht „eine bloße Ansammlung von Teilen oder Zusätzen.“278 Einheit bedeutet weder Uniformität noch eine bloße Bündelung von Impulsen. Erfassen ist immer eine Verbundenheit „der Vielen in Einem.“279 Die Vielheit von Entitäten gibt es nur durch deren einheitsbildende Aktivität; diese ist ihrerseits auf Vielheit angewiesen. Mit den Termini Einheit und Vielheit greift Whitehead eines der wichtigsten Begriffspaare der traditionellen Metaphysik auf. Einheit ist die Voraussetzung dafür, dass sich eine Entität von anderen unterscheidet. Der Reduktionismus der modernen Naturwissenschaft, der Versuch, Geist aus geistlosem Stoff abzuleiten, beruht für Whitehead daher darauf, dass die Form übersehen wurde, die

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die Abgrenzung von der Umwelt und die Entwicklung kohärenter Einheiten ermöglicht. Die Wirklichkeit ist nicht statisch. Sie besteht in dem unablässigen Übergang der faktisch vorhandenen Vielheit zu einer neuen Einheit. Jede Einheit geht durch den Prozess der Einigung über das faktisch Gegebene hinaus und wird seinerseits zu einem Moment in einer sich ständig verwandelnden Vielheit. Indem eine organismische Entität unter mehreren Möglichkeiten einige auswählt und integriert, verändern sich die Relationen, die sie mit der Umgebung und mit den zeitlosen Gegenständen verbinden und damit auch die Möglichkeiten für künftiges Werden. Immer verändern sich der Organismus und seine Umgebung gleichzeitig, sodass nicht noch einmal dieselben Bedingungen vorhanden sein werden. Relationen sind keine abstrakten Bestimmungen, sondern immer konkret. Die Umwelt, in die ein Organismus eingebettet ist, wird durch die Interaktion einer Vielzahl organismischer Entitäten und deren Beziehungen gebildet, die sich ihrerseits aufgrund von Erfassungen verändern. Dadurch sind auch die Relationen, die einen Organismus mit seiner Umwelt verbinden, nicht statisch; sie sind nicht unabhängig von der Aktivität der Organismen vorhanden. „Nature is a theatre for the interrelations of activities. All things change, the activities and their interrelations.“280 Die unterschiedlichen Organismen und ihre Umwelt sind durch einen Prozess der Koevolution miteinander verbunden. „Die Umgebung entwickelt sich automatisch mit der Spezies und diese mit der Umgebung.“281 Obwohl die zeitlosen Gegenstände allgemein sind, sind die konkreten Relationen, zu denen sie im Akt des Erfassens verknüpft werden, einzigartig. Die verschiedenen Entitäten unterscheiden sich daher nicht nur durch ihre unterschiedliche Bedingtheit durch die wirkliche Welt, sondern auch durch die Art und Weise, in der die in den zeitlosen Gegenständen angelegten Alternativen verwirklicht werden. Der Akt der Synthese ist unwiederholbar. Sowohl durch innere wie äußere Relationen ist „jedes wirkliche Einzelwesen etwas Individuelles.“282 Alle organismischen Entitäten, insbesondere alle belebten, sind selbstzentrierte, einzigartige Individuen, die rein quantitativ nicht ersetzbar sind. Durch den unablässigen Prozess der Integration nimmt die psycho-physische Komplexität im Universum zu. Dadurch beruht die Evolution auf einem Prozess der Individuation. Ein Ereignis dauert nur während des Aktes der Synthesis, sodass es in dem Moment, in dem dieser abgeschlossen ist, nicht mehr im selben Sinne seiend ist. Doch obwohl die Eigendynamik erlischt, verschwindet eine Entität nicht einfach aus der Welt. Sie ist noch als kausal wirksamer Faktor vorhanden, ohne selbsttätig Relationen zu anderen Entitäten aufrecht zu erhalten. Sie existiert weiter als Grundlage für das Werden neuer Einzelwesen, in die sie als vorgege-

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benes Datum, als Möglichkeit für deren Prozess, eingeht. „Es liegt also“, so Whitehead, „in der Natur eines ‚Seienden‘, daß es ein Potential für jedes ‚Werdende‘ ist.“283 Das, was entstanden ist, wird durch Erfassungen mit anderen Elementen zu einer neuen, kohärenten Einheit verbunden. Alles, was ist, wird zur Grundlage dessen, was wird. In diesem Sinne ist nicht nur die Zukunft indeterminiert, sondern auch die Vergangenheit unabgeschlossen. Sie gewinnt für die werdenden Entitäten immer wieder eine andere Bedeutung und beeinflusst so die Zukunft. In der ganzen Natur greifen Werden und Vergehen ineinander. Das Vergehen ist immer schon der Beginn neuen Werdens. Whitehead unterscheidet somit mehrere Formen, von Ursache zu sprechen: Wirk- und Zweckursachen werden unterschieden vom Bereich reiner Möglichkeiten. Dass sich der Aspekt der Selbstverursachung als Zweckursache manifestiert, beinhaltet keine bewusste Zielsetzung, sondern lediglich die Eigendynamik, die zur Entwicklung einer kohärenten Entität führt. Wirkursachen sind dagegen die Randbedingungen, die den Ausgangspunkt für das Werden determinieren und zugleich das Material, das die werdende Entität benötigt, um sich zu bestimmen. Zu dem Spielraum an Möglichkeiten, der durch die Vergangenheit und die zeitlosen Formen abgesteckt wird, tritt das subjektive Ziel hinzu, das die Auswahl und Bewertung vollzieht und den Prozess der Konkreszenz, des Zusammenwachsens der verschiedenen Informationen zu einer neuen Einheit, lenkt. Whitehead bezeichnet schon die kleinsten materiellen Entitäten als organismisch. Elementarteilchen sind keine Partikel mit einer bestimmten räumlichen Ausdehnung, sondern Schwingungsmuster, die sich so miteinander verbinden können, dass sie, obwohl sie unterschiedene Entitäten bleiben, neue Eigenschaften gewinnen. Ein H-Atom hat eine andere Gesamtwellenfunktion in der Verbindung mit zwei Sauerstoffatomen zu H2O als in der Verbindung mit einem Chloratom zu HCL und demgemäß auch andere Eigenschaften. Lebewesen sind durch den Stoffwechsel und ihr Verhalten, physisch und psychisch, ein integraler Teil ihrer Umwelt, zu der eine Vielzahl anderer Lebewesen gehört, die in ihren Bedürfnissen und ihrem Verhalten aufeinander abgestimmt sind. Nicht nur räumlich, auch in zeitlicher Hinsicht sind Organismen daher keine punktförmig zu lokalisierenden Entitäten. Es gehört zum Prozess des Lebens, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft körperlich durch den Stoffwechsel und psychisch durch Erfahrungen verbunden werden. Die Vergangenheit ist das Entschiedene, die Zukunft das Unentschiedene; in der Gegenwart vollzieht sich der Akt des Erfassens von Alternativen. Durch ihn grenzt sich ein Organismus von der Umwelt ab und ist gerade dadurch mit anderen Entitäten nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich verbunden; in ihm spiegeln sich vergangene Geschehnisse ebenso wie zukünftige Tendenzen unter einer einzigartigen Perspektive. Zeit ist daher kein Parameter, der dem Werden äußerlich bliebe. Cassirer

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kommentiert: „Bei der Beschäftigung mit dem Problem des organischen Lebens müssen wir uns zuerst und vor allem von dem freimachen, was Whitehead das Vorurteil der ‚einfachen Lokalisierung‘ genannt hat. Der Organismus ist niemals in einem einzigen Augenblick lokalisiert. In seinem Dasein bilden die drei Modi der Zeit − Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft − ein Ganzes, das nicht in einzelne Elemente aufgespalten werden kann. Wir können den jeweiligen Augenblickszustand eines Organismus nicht beschreiben, ohne seine Geschichte zu beachten und ohne auf einen künftigen Zustand zu verweisen, angesichts dessen der gegenwärtige Zustand nur ein Durchgangstadium ist.“284 Ohne Zweifel müssen Lebewesen um ihr Überleben kämpfen, wenn Ressourcen knapp sind; dennoch wäre es einseitig, wenn man das Leben als einen unablässigen Kampf ‚mit Zähnen und Klauen, die rot vor Blut sind‘ begreifen würde. Da jeder Organismus von der Aktivität einer Vielzahl von Mitgeschöpfen abhängt, ist Kooperation oft viel wichtiger als Konkurrenz – eine Einsicht, die die moderne Ökologie bestätigt. Sieht man Lebewesen als Teil einer Gemeinschaft oder, modern gesprochen eines Ökosystems, dann ist Identität relational bestimmt; sie beruht im Sinne des platonischen Sophistes auf der Beziehung zu dem, was ein Lebewesen nicht ist. Die Relationen sind dem Lebewesen nicht äußerlich, und sie sind nicht statisch; sie werden aktiv durch den Lebensprozess geknüpft. Schon um sich zu erhalten, muss sich ein Organismus zu der Umwelt, in der er sich befindet, überschreiten. Aufgrund seiner Bedürfnisse tritt er in eine Beziehung zu anderen Entitäten, die ihrerseits dasselbe tun. Mit jeder Prehension vollzieht sich daher der Übergang von der öffentlichen Sphäre zur privaten Struktur, von der äußeren Welt in die Dimension der Innerlichkeit. Dadurch sind nicht nur äußere, sondern auch innere Relationen für eine organismische Entität konstitutiv. „Jede Beziehung geht in das Wesen des Geschehnisses ein; ohne diese Beziehung wäre das Geschehnis nicht es selbst. Genau das ist mit dem Begriff der inneren Relationen gemeint.“285 Durch die inneren Relationen hat eine Entität einen privilegierten Zugang zu den erfassten Daten, die bei Lebewesen zu bedeutsamen Empfindungen und Erlebnisinhalten werden. Nur die den Schmerz erfahrende Person weiß, wie sich dieser anfühlt. Im Licht der inneren Relationen gestalten sich wieder die Ausgriffe auf die Umwelt. Auch die inneren Relationen sind daher keine statischen, gleichbleibenden Verknüpfungen. Sie wandeln sich in dem Maß, in dem neue Elemente integriert und mit den schon ergriffenen Daten verknüpft werden. Im Unterschied zu den Monaden von Leibniz werden daher innere und äußere Relationen durch die Interaktion eines Seienden mit der Umgebung modifiziert. „Das, was die Einzelwesen an sich sind, [unterliegt] der Modifikation durch ihre Umgebung.“286 Gäbe es nur kausal wirkende Impulse, würde keine innere Einheit entstehen; wären die Relationen nur äußerlich und akzidentell, wären sie für die Entwick-

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lung eines Organismus nicht konstitutiv. Aufgrund seiner Eigendynamik hat ein Organismus eine innere Realität, aufgrund seiner teilweisen Determiniertheit durch andere Geschehnisse auch eine äußere. Mithilfe der Theorie der Erfassungen lässt sich die Abhängigkeit der Organismen von ihrer Umgebung und deren Eingriffe in diese darstellen; mithilfe der subjektiven Formen, die Empfindungen, Gefühle oder Bewusstsein beinhalten können, wird die intrinsische Motivation berücksichtigt, sich in unterschiedlicher Weise auf die Umwelt zu beziehen. Wieder ist es entscheidend, die inneren Relationen nicht im Sinne der Systemtheorie nur als Rückkoppelungsprozess zu deuten. Da an dem Prozess der Selektion und Integration durch das Moment der Selbstverursachung und durch die subjektive Form immer auch ein Moment der Subjektivität beteiligt ist, sind alle Entitäten auf materieller und geistiger Ebene aufeinander bezogen. Bei Lebewesen werden Empfindungen und Gefühle nicht nur aus der Perspektive des Erlebenden wahrgenommen; sie bleiben nicht auf den Raum des inneren Erlebens beschränkt. Es ist für jedes Lebewesen wesentlich, sich in seinem Befinden mehr oder weniger deutlich durch Bewegungen, Gesten, Stimme oder Blick auszudrücken. „Expression is essentially individual. Expression is the diffusion, in the environment, of something initially entertained in the experience of the expressor. No conscious determination is necessarily involved; only the impulse to diffuse. This urge is one of the simplest characteristics of animal nature.“287 Am Ausdruck lässt sich daher erkennen, ob etwas lebendig ist und was in einem Organismus vorgeht. „Wherever there is a region of nature which is itself the primary field of expressions issuing from each of its parts, that region is alive.“288 Lebendigkeit manifestiert sich dadurch, dass Innerlichkeit zum Ausdruck kommt. Die physische Erscheinung eines Organismus wird zum Träger von Bedeutung, die von anderen emotional oder sogar mental verstanden und durch ihr Verhalten beantwortet werden kann. Die Fähigkeit, sich in seiner Befindlichkeit auszudrücken, ist die notwendige Voraussetzung für die Kommunikation zwischen verschiedenen Individuen derselben Spezies oder sogar zwischen den Mitgliedern verschiedener Arten. Die Sprache ist nur eine sehr spezielle, an Symbole gebundene Form des Ausdrucks. Auch in dieser Hinsicht muss der Begriff der einfachen Lokalisierung aufgegeben werden. Wie die Monaden von Leibniz nehmen Whiteheads Einzelwesen alle Relationen des Universums aus ihrer spezifischen raum-zeitlichen und von ihrer subjektiven Form geprägten Perspektive auf und vollziehen in jedem Augenblick eine neue Synthese des ganzen Universums. Da ein Organismus aufgrund von Erfassungen mit anderen Organismen verbunden ist, spiegeln sich in ihm vergangene Geschehnisse ebenso wie zukünftige Tendenzen unter einer einzigartigen Perspektive. „Daher umfaßt jedes wirkliche Einzelwesen das Universum

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aufgrund seiner bestimmten Haltung gegenüber jedem Element im Universum.“289 Durch den fortdauernden Prozess von Selektion und Integration entsteht mit der Einheit eines Individuums zugleich die „connexity of the world“290. Die Welt ist nichts anderes als dieser Prozess des Zusammenwachsens einer unübersehbaren Vielzahl von Einzelwesen, von denen jedes eine einzigartige Perspektive des Universums, der Vergangenheit, der zeitlosen Gegenstände und der subjektiven Form hat. Die Philosophie des Organismus beruht somit auf einer relationalen Ontologie, in der alle Elemente der Welt miteinander verbunden sind. Jede Entität ist in eine spezifische Umgebung eingebettet, hängt von ihr ab und transformiert sie. Während in der aristotelischen Ontologie die Relationen nur unselbstständig an den Substanzen auftreten und für Leibniz die Monaden Spiegel prästabilierter Relationen sind, stellt bei Whitehead jedes Seiende durch Erfassungen die Beziehungen zu anderen Seienden in einem Prozess der Selektion und Integration her. Dadurch wird der Ereignishorizont auf unvorhersehbare Weise transformiert. Da die Umwelt und die Sphäre der zeitlosen Gegenstände in jedem Augenblick verschiedene Möglichkeiten enthalten, unter denen die sich konstituierende Entität einige auswählt und konkretisiert, muss die Welt nicht so sein, wie sie es zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Sie ist kein abgeschlossenes Ganzes, das die Zeit nur zur Ausfaltung bereits angelegter Potenziale benötigt. Die Geschichte des Universums ist indeterminiert und unabgeschlossen. Aufgrund der Verschränkung kausal-mechanischer Determinanten und der Zielgeleitetheit von Organismen ist jede Entität bipolar. Durch seinen physischen Pol ist sie auf die Determinanten der Umgebung und der Vergangenheit bezogen, durch den geistigen Pol, das Moment der Selbstverursachung, kann sie Möglichkeiten ergreifen. Da mentaler und physischer Pol − wie bei Leibniz − in jedem Prozess und auf allen Ebenen der Natur miteinander verschränkt sind und sich gegenseitig beeinflussen, wird Geist weder im Sinne von Descartes als Substanz noch im Sinne des Materialismus als Epiphänomen der Materie gedeutet, sondern als Funktion des ganzen Organismus. Erst aus dem Zusammenwirken aller Teilfunktionen eines Organismus, zu denen die körperliche Verfassung ebenso wie der Geisteszustand gehören, Reaktionen ebenso wie zielgelenkte Strebungen, erklären sich die fundamentalen Eigenschaften und das Spektrum des Verhaltens. Der Geist lässt sich weder aus der materiellen Organisation ableiten noch ist er völlig von dieser losgelöst. Durch die Integration unterschiedlicher Teilfunktionen bildet ein Organismus eine psycho-physische Einheit. „Beim Tier gehen die Geisteszustände in den Plan des gesamten Organismus ein und modifizieren dadurch die Pläne der aufeinanderfolgenden untergeordneten Organismen bis hin zu den letzten kleinsten Organismen wie etwa Elektronen. Ein Elektron innerhalb eines lebenden Körpers unterscheidet

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sich daher aufgrund des Körperplanes von einem Elektron außerhalb. Das Elektron hastet entweder innerhalb oder außerhalb des Körpers blind dahin; aber innerhalb des Körpers hastet es in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Körperplan, und zu diesem Plan gehört der Geisteszustand. Diese Lehre [bedeutet] einen Abschied vom traditionellen wissenschaftlichen Materialismus, an dessen Stelle eine Lehre vom Organismus tritt.“291 Die Identität des Körpers erhält sich im Auf- und Abbau der Zellen und in den Prozessen des Stoffwechsels. Die einzelnen Organe funktionieren nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Gleichzeitig ist der Körper auch ein Teil der Umwelt, mit der er in ständigem Energieaustausch steht. Während bei einer Maschine die Teile durch den Zusammenschluss nicht verändert werden, ist es für einen Organismus kennzeichnend, dass die ihn konstituierenden Prozesse als unterscheidbare Funktionseinheiten erkennbar bleiben, aber in ihrer Funktionsweise durch den Kontext und den Plan des Ganzen modifiziert werden. 8.3 Natur als Prozess Whitehead ist einer der ersten Denker, der nicht nur die Evolution des Lebens, sondern die des Universums, die 1922 durch Fridmann vor dem Hintergrund der allgemeinen Relativitätstheorie bewiesen wurde, in die Naturphilosophie einbezieht. Im Lauf der Jahrmilliarden sind immer wieder neue Lebensformen entstanden, die in Stufen wachsender Komplexität aufeinander aufbauen. Elementarteilchen schließen sich zu Atomen zusammen, diese zu Molekülen und diese schließlich zu Zellen. Die einfacheren Strukturen sind in modifizierter Form noch in den komplexeren gegenwärtig. Die Atome etwa, aus denen die Erde und der menschliche Körper gebildet sind, stammen aus den Schmelzöfen der Sterne. Im Wechsel der Lebensformen zeigt sich bei aller Diskontinuität eine gewisse Kontinuität: Obwohl die komplexeren Lebensformen Eigenschaften gewinnen, die vom Standpunkt der einfacheren unvorhersehbar sind, gibt es die komplexeren nur aufgrund der einfacheren. Auch eine reduktionistisch eingestellte Biologie, die sich jeder Bewertung der Organismen als höher oder niedriger enthält, leugnet nicht, dass die Funktionen, die Lebewesen ausüben können, immer vielfältiger werden. Ein Wachstum an Komplexität vollzieht sich, indem einfacher strukturierte Einzelwesen in eine neue, umfassendere Funktionsganzheit integriert werden. Je mehr Funktionen koordiniert sind, desto kontrastreicher ist ein Einzelwesen. Kontrastreichtum ist ein Maß für Komplexität. „Ein wirkliches Einzelwesen ist nicht bloß eines; es ist auch definitiv komplex. Aber definitiv komplex zu sein bedeutet, auf eindeutige Weise verschiedene, abgegrenzte Elemente einzuschließen.“292 Heute kann der Aufbau von Strukturen zweifellos viel präziser physikalisch erklärt werden als um 1930. Trotzdem stellt sich auch im Anorganischen weiter-

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hin die Frage, ob sich die Tendenz zu wachsender Komplexität tatsächlich rein physikalisch erklären lässt. Wäre das der Fall, wäre ein Dualismus von Unbelebtem und Belebtem unvermeidlich. Whitehead selbst steht Emergenztheorien nahe, wenn er die jeweils komplexere Organisationsstufe als eine Seinsweise begreift, die sich nicht in Bestandteile zerlegen und aus den Eigenschaften der niedrigeren Stufen aufbauen lässt. Doch anders als naturwissenschaftlich begründete Emergenztheorien geht er davon aus, dass schon atomaren Strukturen ein Moment der Selbstverursachung innewohnt. Obwohl sie ohne Bewusstsein, Gefühle und Empfindungen sind, besitzen sie eine ihnen innewohnende Tendenz, eine diskrete Form auszubilden, die die Relationen zur Umwelt und ihre Eigenschaften bestimmt. „Die unterste Stufe“, so Whitehead, „ist ein blindes Streben nach einer in diesem Akt zu verwirklichenden Form.“293 Auch für die moderne Physik sind Elementarteilchen zwar nicht unzerstörbar, aber unteilbar: Sie treten nur als Ganze auf. Nur weil schon atomare Strukturen bipolar sind, wird eine Zweiteilung der Natur in belebt und unbelebt, mechanisch und organisch vermieden. Die Frage, ob mit dem Übergang zum Belebten neue Prinzipien eingeführt werden, stellt sich für Whitehead ebenso wenig wie für Leibniz, sodass eine materialistische Ontologie schon für den unbelebten Bereich verabschiedet wird. Dadurch kann man erklären, dass intentionale Akte, die durch emergente Prozesse bei komplexeren Lebensformen auftreten, noch auf die einfachsten materiellen Strukturen einwirken. Geist greift nicht in geistlose Materie ein, sondern komplexere Formen organismischer Strukturen beeinflussen aufgrund der Integration zu einem Ganzen die einfacheren. Dennoch gewinnt das Moment der Selbstverursachung auf jeder Seinsstufe eine andere Funktion. Materie und Geist, Kausal- und Zweckursachen wirken in unterschiedlicher Komplexität zusammen. Der Gedanke eines Stufenbaus der Natur, der die Verwiesenheit der niedrigeren Seinsstufen auf höhere und die Teilhabe der höheren an niedrigeren beinhaltet, lag auch dem Motiv von der Kette der Wesen zugrunde. Neu ist jedoch zum einen die Erklärung, wie sich im Lauf der Zeit auf indeterminierte Weise immer komplexere Strukturen bilden, und zum anderen, dass die Seinsstufen nicht wie die Glieder einer Kette aufeinander aufbauen, sondern vielfältige Verzweigungen bilden. Dennoch reicht Geist in unterschiedlichen Graden und Ausdrucksformen von den einfachsten materiellen Konfigurationen bis zum Menschen und sogar bis zum göttlichen Sein. „Die organistische Philosophie gibt den unabhängigen Geist auf. Geistestätigkeit ist nur eine Weise des Empfindens, die in gewissem Maße allen wirklichen Einzelwesen zugehört, aber nur bei einigen bis zu bewußter Intellektualität gelangt.“294 Durch Integration und Selektion von Daten vollzieht sich allmählich der Übergang vom bloß reaktiven

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Weiterleiten zu einfachen Wahrnehmungen und dumpfen Empfindungen, zu Gefühlen und schließlich zu der Fähigkeit, sich und anderes bewusst zu erkennen. Gleichzeitig nimmt der Spielraum des Verhaltens zu. Erst ab einer gewissen Komplexität wird das Moment der Selbstverursachung zur Antizipation eines Zieles und einem Vorgriff auf die Zukunft; erst auf einem sehr hohen Niveau wird eine bewusste Wahl zwischen Zielen möglich; und erst Menschen haben die Freiheit zu bewusster Selbstbestimmung und die Fähigkeit zur Eigenverantwortung. Während die Bewegung eines Steins kausal durch die Wirkung der Gravitationskraft erklärt werden kann, bewegt sich die menschliche Hand absichtlich aufgrund von Emotionen und Zielen und kann eine komplexe symbolische Bedeutung in einer einzigen Geste ausdrücken. Jede Seinsstufe hat ihre spezifischen Ziele; sie reichen von der bloßen Tendenz zu einer kohärenten Form bis zum Streben nach Werten und Erkenntnis. Nur diese Differenzierung schützt vor einer anthropomorphen Missdeutung der Begriffe Freiheit und Zweck. Whitehead unterscheidet sechs hierarchisch ineinander geschachtelte Stufen: die menschliche Existenzform, tierisches und pflanzliches Leben, einzelne lebendige Zellen, große anorganische Aggregate und atomare Ereignisse. Trotz der Kontinuität in den grundlegenden Prozessen erweitert sich der Horizont des Erkennens und Handelns im Übergang zum Menschen qualitativ: Nur sie sind zum rationalen Verstehen, symbolischen Ausdruck und Erfassen ethischer und ästhetischer Werte fähig. „The distinction between men and animals is in one sense only a difference in degree. But the extent of the degree makes all the difference.“295 Die Evolution komplexerer Entitäten beinhaltet nicht, dass die einfacheren aussterben. Im Gegenteil: Diese haben die Funktionen der einfacheren Entitäten integriert und hängen auch äußerlich von ihrer Aktivität in der Umwelt ab. „All these functionings of Nature influence each other, require each other, and lead on to each other.“296 Trotz wachsender Komplexität verbietet die universelle Relationalität eine streng hierarchische Bewertung der Bedeutung der Organismen für die Natur insgesamt. Obwohl Menschen auf diesem Planeten die höchste Form des Bewusstseins haben, hängt auch ihr Leben von den rastlosen Aktivitäten einer Vielzahl völlig unscheinbarer Organismen ab. Körperlich und geistig sind die Menschen ein Teil im Netz des Lebens, das durch eine Vielzahl unterschiedlicher Organismen gebildet wird, die bipolar sind. Mit diesen Gedanken erfüllt sich Whiteheads Forderung nach einer neuen kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie. Der kritische Realismus, den er entwickelt, stellt eine Synthese der erkenntniskritischen Reflexionen Kants und des platonischen Gedankens dar, dass der Mensch ein Glied des Kosmos ist, in dem alle Entitäten bipolar sind. Dadurch bleibt die menschliche Ver-

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nunft mit den elementaren Akten eines völlig bewusstlosen Erfassens ebenso verbunden wie mit Empfindungen und Emotionen. Als leib-geistige Einheit können Menschen ihre Identität nur inmitten einer komplexen, hochgradig organisierten Umwelt, die durch die Aktivität zahlloser anderer Entitäten gebildet wird, entwickeln. „Wir befinden uns in einer summenden Welt, inmitten einer Demokratie von Mitgeschöpfen; wohingegen die orthodoxe Philosophie uns nur zwischen einsame Substanzen stellen kann, die alle scheinhafte Erfahrungen machen.“297 Obwohl Whitehead auf den Begriff des Organismus zurückgreift, der die Naturphilosophie von Platon bis Leibniz bestimmt hat, nimmt er eine entscheidende Veränderung vor: Anders als bei Platon ist die Welt kein Abbild einer zeitlosen, idealen Ordnung, die einen höheren Seinsgehalt hat als die endlichen Entitäten; und im Unterschied zu Leibniz werden nicht nur prästabilierte Strukturen entfaltet. Bei Whitehead liegt die Natur nicht nur faktisch, sondern auch der Möglichkeit nach nie als abgeschlossene Totalität vor. Die Typen von Organismen, die die Natur bevölkern, sind nicht unveränderlich; durch ihre Eigenaktivität, den Prozess der Selektion zwischen Möglichkeiten und der Integration von Daten, entstehen auf indeterminierte Weise immer wieder neue Formen, die für eine gewisse Zeit in eine bestimmte Umgebung passen. „Das ist das kreative Fortschreiten der Natur.“298 Mit jedem Ereignis verändert sich nicht nur die wirkliche Welt, sondern auch der Bereich der Möglichkeiten. Der Prozess des Werdens ist nicht nur indeterminiert, sondern auch irreversibel und unabgeschlossen. Die Natur ist nichts anderes als der unaufhörliche Prozess des Übergangs von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft, in dem durch die Eigendynamik organismischer Entitäten immer wieder neue, untereinander vernetzte Lebensformen entstehen. Sie ist ein „Komplex von erfassenden Vereinigungen“ oder „eine Struktur von Evolutionsprozessen.“299 Sogar ohne menschlichen Einfluss kann sie nicht in ein und demselben Zustand bleiben. „It is nonsense to conceive of Nature as a static fact, even for an instant devoid of duration. There is no Nature apart from transition, and there is no transition apart from temporal duration.“300 Durch die Integration des Gewordenen in das Werdende entsteht die Tendenz zu wachsender Komplexität. Schon der Versuch, dieselben Bedingungen zu erhalten, würde beinhalten, dass das Leben abstirbt und der Evolutionsprozess zum Erliegen kommt. Bewahrung der Natur kann nur bedeuten, die Fähigkeit zur Selbsterschaffung vielfältiger, komplexer Entitäten zu erhalten. Wenn, wie Whitehead und die moderne Ökologie argumentieren, jeder Organismus mit einer Vielzahl anderer Entitäten verbunden ist, schwächt die Auslöschung zu vieler Arten in kurzer Zeit den bereits erreichten Komplexitätsgrad. Nicht nur die einzelnen Organismen verschwinden aus der Umwelt, sondern auch die Relationen, die sie mit anderen Entitäten verbun-

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den haben. Obwohl der Prozess der Selbsterschaffung weiter geht, nimmt die Zahl der Möglichkeiten, die in der Umwelt als Potenziale des Werdens, für Regeneration und Selbsterschaffung vorhanden sind, ab. Durch ein weniger komplexes Umfeld können auch bestimmte zeitlose Objekte nicht ergriffen werden. Ursprünglich war jede Form des Lebens in der Natur und der Kultur eine schöpferische Antwort auf Herausforderungen der Umwelt. Da sich mit jeder neuen Lebensstrategie auch die Relationen zu anderen Entitäten und zum Bereich der Möglichkeiten ändern, entstehen unweigerlich immer wieder neue Herausforderungen. Keine Lebensstrategie kann sich dauerhaft einnisten; jede durchläuft verschiedene Phasen. Nachdem sie sich erfolgreich etabliert hat, differenziert sie sich aus und wird auf immer mehr Gebiete übertragen. Doch irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem sie auf die Herausforderungen der Umwelt keine angemessene Antwort mehr ist. Wird die Diskrepanz zwischen der Lebensstrategie und den zu bewältigenden Anforderungen zu groß, muss sich eine Spezies zwischen verschiedenen Verhaltensweisen entscheiden. „Sie kann sich entweder in den Grenzen dieser Methode stabil einrichten und ins bloße Weiterleben verfallen, oder sie kann sie abschütteln und sich auf das Abenteuer des Strebens nach dem besseren Leben einlassen. Im letzteren Falle wird sie sich eine der neuen Methoden zu eigen machen, die in Ansätzen in dem Wirbel von Erfahrungen erkennbar sind, die jenseits der Grenzen der herrschenden alten Lebensmethode liegen. Wenn diese Wahl glücklich war, hat die Evolution einen Schritt nach oben getan; wenn sie unglücklich war, wird der Strom der Zeit nach und nach die letzten Spuren einer untergegangenen Art wegspülen und in Vergessenheit geraten lassen.“301 Das Auftreten von etwas Neuem genügt jedoch noch nicht, um eine Steigerung von Lebensintensität und Komplexität zu bewirken. Es kann nützlich oder schädlich sein, zum falschen Zeitpunkt in der falschen Umgebung erscheinen und einfach wieder zugrunde gehen. Durch neue Herausforderungen werden zunächst nur eingespielte Wiederholungen des Lebensvollzugs und die damit verbundene Ermüdung durchbrochen. Sie beinhalten „ein gewisses Ordnung auflösendes, anarchisches Moment.“302 Bloße Anarchie würde jedoch, genauso wie die gewohnheitsmäßige Wiederholung etablierter Verhaltensweisen, in eine Zerstörung von Strukturen umschlagen. Nicht nur die vollständige Einordnung aller Elemente würde das Komplexitätswachstum verhindern, sondern auch die Auflösung aller gleichförmigen Relationen, die unweigerlich ins Chaos mündet. Wären alle Elemente in ein Ordnungsgefüge eingebunden, würde die notwendige Instabilität fehlen, die zum Übergang zu neuen Ordnungsformen anregt; ohne jede Ordnung wiederum gibt es nichts, das integriert werden könnte. Fruchtbar werden Herausforderungen nur, wenn eine gewisse Balance zwischen Chaos und Ordnung besteht. „Es ist Ordnung, die das

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Neue durchdringt; so daß die Massivität der Ordnung nicht in bloße Wiederholung degeneriert; und so, daß das Neue immer auf einem systematischen Hintergrund reflektiert wird.“303 Chaotische Elemente, Elemente also, die sich in keine Ordnung einfügen lassen, fördern die Tendenz zu wachsender Komplexität, indem sie gleichförmige Wiederholungen vereiteln und zu einer neuen Synthese anregen; doch nur wenn die verschiedenen Elemente in bestehende Strukturen integriert werden und diese transformieren, kann eine auf veränderte Lebensumstände abgestimmte neue Lebensstrategie entstehen, die komplexer ist als die vorangehende. Obwohl es nicht notwendig ist, dass gerade diese Ordnung entsteht, muss es ein gewisses Maß an Organisiertheit geben, damit sich neue Strukturen bilden können. Nur wenn ein Organismus die Impulse aus der Umwelt aufgreift und mit seinem bisherigen Verhaltensrepertoire verbindet, kann der Verhaltensspielraum wachsen. Das Entstehen des Neuen beinhaltet daher nicht die Verwerfung des Gewordenen, sondern dessen selektive Integration. Nur dann kann in der Natur wie der Kultur das Spektrum an Lebensformen reicher und vielfältiger werden. Ein bloßer Wechsel des Lebensstils, von Paradigmen und Theorien, ermöglicht kein Wachstum. Für Whitehead vollzieht sich mit der Evolution der Lebensformen auch eine der Vernunft. Das Moment der Eigenaktivität und rudimentärer Zielgeleitetheit, über das schon einfache Organismen verfügen, verstärkt sich durch erfolgreiche Lebensstrategien. Die größere Zielgeleitetheit geht einher mit der wachsenden Fähigkeit, Probleme zu erfassen und zu lösen. Unter dem Druck, Antworten auf Herausforderungen zu entwickeln, vollzieht sich in vielen einzelnen Schritten die Evolution der Vernunft. Sie „ist das Organ, das das Neue hervorhebt.“304 Die Befriedigung über eine erfolgreiche Methode motiviert wiederum zum Gebrauch der Vernunft, durch die die Eigenständigkeit des Ausgriffs auf die Welt wächst. Nicht theoretische Interessen, sondern die Notwendigkeit, andrängende Probleme zu lösen, war der entscheidende Impuls für die Höherentwicklung der Vernunft. Erst spät in der Evolution des Geistes tauchen die Fähigkeit und das Bedürfnis auf, die Welt einfach nur zu verstehen. Die zweite Verhaltensmöglichkeit gegenüber Unbekanntem besteht darin, neue Anforderungen auszublenden. „Vielfalt und Frische der Antriebe gehen verloren, und die Spezies läßt sich von den blinden Trieben altgewordener Gewohnheiten leiten.“305 Mit der Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen verliert eine Spezies auch die Fähigkeit, Strategien zu entwickeln, die eine angemessene Antwort auf sich verändernde Umweltbedingungen wären. Sie verharrt in der gleichförmigen Wiederholung bekannter Verhaltensweisen, die nicht nur ermüdend, sondern zunehmend auch erfolglos sind. Wird die Diskrepanz zwischen eingespielten Strategien und den Herausforderungen der Umwelt zu groß, kollabiert eine Lebensform. Das Streben nach Stabilität und Erhaltung des Beste-

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henden ist daher ebenso destruktiv wie der unablässige Wechsel von Lebensformen. Eingespielte Gewohnheiten fordern keine Aufmerksamkeit mehr, sodass die Wachheit für die Umgebung immer mehr verloren geht. Lebensintensität und Bewusstheit sinken auf ein niedrigeres Niveau herab. Durch einen zu raschen Wechsel kurzlebiger Strategien können die in der Vergangenheit erworbenen Erfahrungen nicht weitergegeben werden. Sie gehen verloren und müssen irgendwann in mühsamer Weise noch einmal erworben werden. Wendet man diesen Gedanken auf die Dynamik von Kultur und Geschichte an, dann schließt ein starres Festhalten an Traditionen die Anpassung an neue Herausforderungen aus; umgekehrt führt die Jagd nach Neuem, die glaubt, alles historische Wissen sei nur Ballast, zum Verlust von Erfahrungswissen und von Kriterien, die es erlauben, wirklich Neues von schon Dagewesenem zu unterscheiden. Alle Erfahrungen und Gedanken müssen noch einmal durchlaufen, das Rad buchstäblich immer wieder neu erfunden werden. Mit diesen Überlegungen hält Whitehead unserer eigenen Epoche einen Spiegel vor: Einerseits wird Neuheit regelrecht als Ausweis von Fortschritt angesehen, der mit dem Anspruch des Verpflichtenden auftritt; andererseits wird die Stabilität von Lebensformen beschworen, um die inzwischen unübersehbaren ökologischen und ökonomischen Probleme zu managen. Traditionen treten mit dem Anspruch auf Wahrheit auf, nur weil sie alt sind und sich irgendwann einmal bewährt haben. 8.4 Vom Eigenwert und der Schönheit der Natur Werden, wie beim Naturalismus, körperliche Funktionen vollständig physikalisch erklärt, dann werden auch ethische und ästhetische Werte letztlich von molekularen Prozessen, von den Genen und neuronalen Mechanismen, erzeugt. Sie haben kein ontologisches Fundament, sondern werden auf ihren Nutzen für das Überleben, an dem allerdings nicht die Individuen, sondern nur die Gene selbst ein ‚Interesse‘ haben, beschränkt. „This is the grand doctrine of Nature as a self-sufficient, meaningless complex of facts. It is the doctrine of the autonomy of physical science. It is the doctrine which in these lectures I am denying.“306 Die Trennung von Sein und Sollen kann nur überwunden werden, wenn auch die subjektive Dimension des Lebens und, im Unbelebten, das Moment der Selbstverursachung, berücksichtigt werden, sodass das Sein der Organismen ein intrinsisches Ziel beinhaltet. Da es aufgrund der relationalen Ontologie, die Whitehead entwirft, nur durch die Bezogenheit zu anderen Entitäten erreicht werden kann, beinhalten Werte drei verschiedene Aspekte: Erstens strebt jede Entität nach Selbsterhaltung und Selbsterfüllung. „It is the essence of life that it exists for its own sake, as the intrinsic reaping of value.“307 Zweitens ist jeder Organismus die Grundlage für die Selbsterschaffung anderer

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Organismen. Trotz seines intrinsischen Wertes hat er auch eine Funktion für diese, sodass das eigene Wohlbefinden letztlich nur angestrebt werden kann, wenn das einer Vielzahl anderer Organismen einbezogen wird. Nur in einer intakten Umwelt kann ein Organismus überleben und seine Möglichkeiten entfalten. Je komplexer die Umwelt ist, desto größer ist das Angebot an Möglichkeiten und umso höher ist der Grad der Intensität, den ein Organismus erreichen kann. „We are, each of us, one among others.“308 Drittens hat jeder Organismus einen Wert für die gesamte Natur, die durch Akte des Erfassens auch eine Voraussetzung der eigenen Identität ist. „All of us are embraced in the unity of the whole.“309Die Natur wird daher aus Organismen gebildet, die einen intrinsischen und einen funktionalen Wert haben, die also immer zugleich Zweck in sich und Mittel für andere sind. Dadurch hat auch die Natur insgesamt einen intrinsischen und einen funktionalen Wert. Jeder Organismus ist auf die Biosphäre angewiesen, und diese hängt ihrerseits von der Interaktion jedes Organismus mit dem größeren Ganzen ab. Die Relationalität aller Entitäten ist daher nicht mit der Relativität der Bezugssysteme zu verwechseln. Wenn die Identität eines Organismus auf der Beziehung zu dem gründet, was er nicht ist, dann ist der Eigenwert anderer Organismen ein Moment des Selbstwertes. Jeder Organismus schuldet das, was er ist, der Aktivität zahlloser anderer Lebewesen. Umgekehrt formuliert: Die Vernichtung eines Organismus in seiner Eigenwertigkeit berührt immer auch die Identität desjenigen, der einen anderen Organismus auslöscht. Der Begriff des Organismus beinhaltet daher den der Gemeinschaftlichkeit aller Entitäten, die ‚Solidarität des Universums‘. Der Kampf ums Dasein, dessen Ziel die Selbsterhaltung ist, muss − und dies bestätigt die heutige Ökologie – durch die wechselseitige Verwiesenheit von Organismen und die vielfältigen Formen der Kooperation ergänzt werden. „Diejenigen Organismen sind erfolgreich, die ihre Umgebung so verändern, daß sie einander beistehen.“310 Obwohl die Werte der Natur inhärent sind, hängt ihre Realisierung von der Komplexität einer Entität ab. Der Hauptunterschied zwischen Tieren und Menschen beruht auf dem Grad, in dem Werte erkannt und bewusst praktiziert werden können. „In animal experience there supervenes a process of keen discrimination of quality. With the rise of clear sensations relating themselves to the universe of value-feeling, the world of human experience is defined.“311 Das menschliche Leben ist nicht mehr auf den Kampf ums Dasein beschränkt; die wachsende Freiheit von physischen und emotionalen Reaktionen befähigt dazu, bewusst nach Werten zu streben. Nur Menschen wissen, dass ihre Identität die Geschichte des Universums voraussetzt und ihre gegenwärtigen Handlungen die Bedingungen der Zukunft mitgestalten. Ihre Verantwortung erstreckt sich daher auch auf die Lebensmöglichkeiten der kommenden Generationen.

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Durch diesen Standpunkt ändert sich die Grundlage für die ethische Argumentation nicht nur in Bezug auf die Mitmenschen, sondern auch in Bezug auf die Natur. Diese hat einen intrinsischen Wert, der von Menschen respektiert werden muss, die ihn bewusst erkennen und anerkennen können; dennoch ist die Natur immer auch ein Mittel, um Überleben und Wohlbefinden zu sichern. In einer freien Abwandlung von Kants berühmtem Diktum kann man sagen: Die Natur sollte nie nur Mittel für menschliche Ziele sein, sondern immer auch um ihrer selbst willen respektiert werden. Intrinsische und funktionale Werte überschreiten den Horizont menschlicher Interessen; sie basieren nicht nur auf rationalen Gründen und Prozeduren der Konsensfindung. Sie haben einen relationalen Aspekt, der auf der Beziehung zu anderen Organismen beruht und vom Kontext mitbestimmt wird; dennoch sind sie durch den Eigenwert einer Entität und ihrer Beziehungen zu anderen Entitäten nie nur relativ, sondern haben ein ontologisches Fundament. Die Deutung der Natur als Prozess der Interaktion organismischer Entitäten schließt die Orientierung am Ideal reibungslosen Funktionierens, vollständiger Berechenbarkeit und unbeschränkter Verfügbarkeit aus. Sie fordert ein behutsames Handeln, das das labile Gleichgewicht, das vernetzte Zusammenspiel und die gegenseitige Rückwirkung aller Prozesse und die Eigendynamik der Individuen auch beim Verfolgen ihrer Interessen berücksichtigt und respektiert. Vor dem Hintergrund der modernen Umweltbewegung beziehen sich daher einige Autoren ausdrücklich auf Whiteheads Kosmologie als einer wichtigen Quelle für eine ökologische Ethik. R.F. Nash schreibt: „Whitehead has made it possible to think of nature as having intrinsic value and being an appropriate object of love; Cobb, one of the modern Whiteheadians, demonstrated the potential of integrating Whitehead and traditional Christianity to build an environmental ethic.“312 Seine Lebendigkeit verdankt ein Organismus dem Prozess, durch den er Einflüsse der Umwelt aufgreift und zu einer Einheit verknüpft. Doch Einheit bedeutet nicht Uniformität. Im Prozess des Zusammenwachsens entsteht eine komplexe, dynamische Synthese einer Vielfalt einzelner Momente. Obwohl jeder Teil eine Funktion für das Ganze hat, kann dieses nicht in Teile zerlegt werden; es ist, wie ein berühmter Satz sagt, mehr als die Summe seiner Teile. Die Funktionsfähigkeit eines Organismus ist nur dann gewährleistet, wenn die Teile genau an dem Platz sind, an den sie gehören. Dadurch erscheint ein Organismus als ein zweckhaftes Ganzes. „The whole precedes the details.“313 Weder Ethik noch Ästhetik lassen sich daher von der Funktionalität eines Organismus trennen. Im Facettenreichtum der Natur, der Vielfalt und dem Zusammenspiel der Formen, ihren sinnlichen Qualitäten und ihrer Lebendigkeit manifestieren sich die Stabilität und die Funktionalität von Organismen in einem doppelten Sinn: in Hinblick auf die Konstitution des einzelnen Organis-

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mus und in Bezug auf die äußeren Relationen, die ihn mit anderen Organismen verbinden. Die Schönheit eines einzelnen Organismus kommt erst dann zur Geltung, wenn er in ein ihm entsprechendes Umfeld eingebettet ist. Nur in ihm kann er sich entfalten, kann die ihm mögliche Lebensqualität und Selbsterfüllung erlangen. „The aesthetic experience is another mode of the enjoyment of self-evidence.“314 Da Whitehead durch seine relationale Ontologie die Bifurkation der Natur auflöst, die sinnliche Qualitäten nur als Erzeugnisse des Bewusstseins begreift, beruht die Ästhetik der Natur nicht nur auf abstrakten, mathematisierbaren Strukturen, sondern auch auf ihrer sinnlichen Erscheinung. Wie die Natur selbst ist auch ihre Schönheit nicht statisch. Sie entsteht in einem fortdauernden Prozess der Selbsterschaffung von Organismen und verschwindet, wenn diese zugrunde gehen. Doch die Schönheit ist nicht an den einzelnen Organismus gebunden. Das Streben nach ästhetischer Vollkommenheit gehört zu dem fortdauernden Prozess der Integration, auf dem die Ordnung der Natur beruht und der den Prozess der Evolution weitertreibt. Man kann „die Natur nicht von ihren ästhetischen Werten trennen.“315 Wie bei Plotin beruht auch bei Whitehead Schönheit nicht auf den sinnlich-sichtbaren Formen, sondern auf der Dynamik, die sie erzeugt. Wie Werte hat daher auch die ästhetische Dimension einen subjektiven und einen objektiven Aspekt. Weder die Sensitivität für Bedeutung und Wert noch die für die ästhetische Dimension hängen von der menschlichen Form des Bewusstseins ab. Doch nur durch sie können Menschen den ihr zugrundeliegenden Prozess erkennen und aktiv an der Erschaffung des Schönen mitwirken. Ethische und ästhetische Werte haben, so haben wir gesehen, einen funktionalen und einen intrinsischen Aspekt, der das kurzsichtige Streben nach einem Vorteil im Kampf ums Überleben und für das tägliche Wohlbefinden überschreitet. Der intrinsische Wert eines Organismus beruht auf der Fähigkeit, sich aufgrund seiner Eigendynamik zu konstituieren, nach Erhaltung und Erfüllung zu streben. Die Fähigkeit zur Selbstverursachung als Moment des Unbedingten gründet jedoch weder in den einzelnen Entitäten noch im Zusammenspiel aller Entitäten, sondern auf der Immanenz des Unendlichen in den endlichen Wesen. Zumindest für Menschen werden ethische Werte und ästhetische Dimensionen der Natur daher zu einem sichtbaren Zeichen für den unerschöpflichen Prozess der Selbsterschaffung, in dem alle endlichen Entitäten sich auf das Unendliche hin überschreiten. Indem die gegenseitige Ausschließung von Unvereinbarkeiten im Universum durch den immer wieder neu erfolgenden Übergang von einer Vielheit getrennter Einzelwesen zu einer neuen Synthese sukzessive überwunden wird, werden die Begrenzungen des Endlichen allmählich überschritten. Der Prozess des Universums tendiert zur Konkretisie-

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rung aller Möglichkeiten, die für Whitehead in der Urnatur Gottes angelegt sind. Dadurch gewinnt die Natur nun auch noch eine religiöse Dimension. Ihre Betrachtung lenkt den Blick auf den Grund des Seins und der Kreativität. „There is a unity in the universe, enjoying value and (by its immanence) sharing value. For example, take the subtle beauty of a flower in some isolated glade of a primeval forest. No animal has ever had the subtlety of experience to enjoy its full beauty. And yet this beauty is a grand fact in the universe. When we survey nature and think however flitting and superficial has been the animal enjoyment of its wonders, and when we realize how incapable the separate cells and pulsations of each flower are of enjoying the total effect – then our sense of value of the details for the totality dawns upon our consciousness. This is the intuition of holiness, the intuition of sacred, which is at the foundation of all religion.“316 In seiner Urnatur begründet Gott die Möglichkeit zum Werden der Welt. Dass und wie es sich vollzieht wird von ihm jedoch nicht determiniert. Ob und wie die in der Urnatur Gottes angelegten Möglichkeiten konkretisiert werden, hängt von der Eigenaktivität zahlloser endlicher Wesen ab. Indem sie die zeitlosen Möglichkeiten ergreifen, ist Gott nicht nur der Uranfang des Werdens; durch Akte des Erfassens ist er den vielen Einzelwesen immanent. Sobald man Lebewesen nicht, wie der Deismus, als kleine Automaten begreift, sondern als perzipierende, empfindsame Wesen, die sich selbst entfalten, ändert sich auch die Vorstellung von Gott. Er ist kein autoritärer Herrscher, der der Weltmaschine eherne Gesetze auferlegt, und er ist kein moralischer Rigorist, der belohnt und straft und Selige und Verdammte voneinander scheidet. Er spielt nicht die Rolle eines unbewegten Bewegers oder eines Uhrmachers, sondern ist der Gott einer lebendigen Welt, der den Einzelwesen einen Freiheitsspielraum für ihre Entwicklung lässt. Nur behutsam kann der göttliche Geist den Weltprozess durch ein Angebot von Möglichkeiten und die Begründung ihrer Kreativität seiner Erfüllung entgegenführen. „Es gibt im galiläischen Ursprung des Christentums noch eine andere Anregung, die zu keinem der drei Hauptstränge des Denkens so richtig paßt. Sie hält fest an den zarten Elementen der Welt, die langsam und in aller Stille durch Liebe wirken; und sie findet ihren Zweck in der gegenwärtigen Unmittelbarkeit eines Reiches, das nicht von dieser Welt ist. Liebe herrscht weder, noch ist sie unbewegt; auch ist sie ein wenig nachlässig gegenüber der Moral. Sie findet ihre eigene Belohnung in der unmittelbaren Gegenwart.“317 Zusammenfassend kann man sagen: Von ‚Der Begriff der Natur‘ bis zu ‚Modes of Thought‘ kreist Whiteheads Denken um die Ergänzung naturwissenschaftlicher, lebensweltlicher, ethischer, ästhetischer und religiöser Erfahrungen. Indem er das Moment der Selbsterschaffung und der Subjektivität in die

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ganze Natur integriert, verändert sich der Begriff des Seins: Da sich alle Entitäten durch Erfassungen selbst konstituieren, sind sie auf Möglichkeiten in ihrem Umfeld angewiesen und durch innere und äußere Relationen bestimmt. Deshalb haben nicht nur die einzelnen Organismen, sondern auch die Relationen, die sie mit anderen Entitäten verbinden, einen ethischen und ästhetischen Wert. Die Natur ist keine bloße Ressource für menschliche Interessen, sondern ihrerseits die Grundlage für die Entwicklung eines ethischen und ästhetischen Bewusstseins und damit auch der Kultur. Besonders für die moderne Ökologie ist es wichtig, dass der funktionale Aspekt der Natur nicht von ihren intrinsischen und ästhetischen Werten getrennt wird. Dadurch kann man die Schönheit eines Ökosystems als Ausdruck des komplexen Zusammenspiels einer Vielzahl von Organismen begreifen. Selbstverursachung kann jedoch nicht in endlichen Entitäten begründet werden, sondern nur in der Immanenz des Unendlichen.

Teil II: Die Wiederentdeckung der Eigendynamik der Natur

1 Symptome der ökologischen Krise Tornados in Deutschland, Wüstenbildung in Spanien, das Abtauen der Gletscher und die weltweite Überfischung der Meere sind Symptome für ein zutiefst gestörtes Verhältnis der Menschen zur Umwelt. Der Klimawandel hat eine globale Dimension, sodass jede Nation in irgendeiner Form von ihm betroffen sein wird. Doch technische Lösungen allein sind unzureichend, um die Krise zu bewältigen.318 Nur wenn sich die Grundeinstellung zur Natur ändert, die die letzten drei Jahrhunderte dominant war, sodass sie nicht mehr nur als Ressource benutzt wird, kann das Handeln eine andere Ausrichtung gewinnen und zu entsprechenden ökonomischen, technologischen und rechtlichen Schritten führen.319 Nach wie vor gelten die unablässige Erzeugung neuer Bedürfnisse und wachsender Konsum als Grundpfeiler einer florierenden Ökonomie und sicherer Arbeitsplätze. Das in einer Volkswirtschaft steigende Bruttoinlandsprodukt gilt als Spiegel eines sich erhöhenden Lebensstandards. Unter der von den Menschenrechten verbürgten Gleichheit aller Menschen verstehen viele weniger die der Würde als die des Lebensstandards. Konsum gilt, wie Jonas schon in den 1970ern beobachtet hat, regelrecht als eine Art sozialer Pflicht. „‚Völlerei‘ im weitesten Sinne der Konsumtüchtigkeit [wird] nicht nur durch üppigsten, allzugänglichen Güterreichtum begünstigt, sondern [ist] auch als fleißiges omnivores Konsumieren des dazu erzeugten Sozialproduktes geradezu ein notwendiges und verdienstliches Mitwirken am Laufen der modernen Industriegesellschaft geworden, die ihren Mitgliedern zugleich das Einkommen dazu verschafft. Alles ist auf diesen Erzeugungs- und Verzehrkreislauf eingestellt, unaufhörlich wird in der Reklame jeder zum Verzehren ermahnt, angestachelt, verlockt. ‚Völlerei‘ als sozialökonomische Tugend, ja Pflicht – das ist wahrlich ein geschichtlich Neues im jetzigen Augenblick der westlichen Welt.“320 Dass der Anspruch an materiellen Gütern, an Bequemlichkeit, Luxus, Mobilität und Effizienz ständig wächst, gilt als Lebensmodell weltweit, obwohl bekannt ist, dass ein ökologischer Kollaps die Folge wäre, wenn alle Länder so viele Ressourcen verbrauchen würden wie die USA, Europa und China. Die Diskrepanz zwischen ökonomischen Modellen und individuellen Ansprüchen auf der einen Seite und dem, was ökologisch vertretbar ist, ist ein Kennzeichen des Realitätsverlusts, der für Arendt ein Signum der Moderne ist. Durch die anthropologische Orientierung am Modell des homo laborans und des homo oeconomicus werden die Menschen in ihre Bedürfnisse eingeschlossen; sie verlieren den Bezug zur Welt und zur Vielfalt möglicher Erfahrungen und orientieren sich nur noch an eigenen Interessen und Wünschen. Inzwischen lastet auf vielen Ländern ein gigantischer Schuldenberg, der in der Erwartung steten Wirtschaftswachstums aufgetürmt wurde, sodass eine

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Teil II: Die Wiederentdeckung der Eigendynamik der Natur

sinnvolle Reduktion des Verbrauchs durch eine Vereinfachung des Lebensstils auf ein mit ökologischen Prozessen verträgliches Maß einen Kollaps der Staatshaushalte herbeiführen könnte. Die einzige Antwort auf die ökologische Krise scheint daher in einer weiteren Ankurbelung des Wirtschaftswachstums durch die Entwicklung effizienterer Technologien zu bestehen. Doch sogar wenn diese während ihrer Laufzeit weniger Energie verbrauchen und mit erneuerbaren Energien arbeiten, werden durch ihre Produktion und Entsorgung kostbare Ressourcen verbraucht, Urwälder zum Gewinn von Agrokraftstoff abgeholzt und Flächen, die dem Anbau von Nahrungsmitteln dienen könnten, in pestizidbelastete Monokulturen zum Betreiben von Biogasanlagen umgewandelt. Durch die Konzentration auf die Reduktion von CO2 geraten andere umweltschädigende Eingriffe aus dem Blick oder werden sogar als ökologisch notwendig angepriesen. Die Entwicklung alternativer Technologien ist daher nur sinnvoll, wenn sie komplexe ökologische Zusammenhänge berücksichtigt und sich mit einem maßvollen Lebensstil verbindet. Wächst dagegen die Zahl technischer Hilfsmittel weiter, dann wird sich der ökologische Fußabdruck nicht verkleinern, obwohl die Effizienz einzelner Geräte, von Autos, Waschmaschinen und Kühlschränken, erhöht wird. Ohne Zweifel müssen Menschen, um zu überleben, die Natur benutzen. Sie brauchen Nahrung, eine Unterkunft zum Schutz vor den Unbilden der Witterung und Rohstoffe zur Herstellung von Werkzeugen. Durch die Fähigkeit, gezielt komplexe Technologien zu entwickeln, können sie ihre Bedürfnisse ungleich wirksamer befriedigen als Tiere. Auch die Technik ist, wie Cassirer betont, ein integraler Teil der menschlichen Kultur.321 Seit homo sapiens vor etwa 50 000 Jahren Europa besiedelte, hat sich der Radius des Handelns immer schneller erweitert. Vor allem durch die Verbesserung der Produktionsbedingungen infolge der Industrialisierung wurde das, was einmal etwas Besonderes war, das sich nur eine kleine Schicht leisten konnte, für immer mehr Menschen erreichbar. Luxusgüter wurden zu Konsumgütern, deren Erzeugung immer mehr Ressourcen verbraucht. Dass Menschen die Umwelt und mit ihr ihre Lebensgrundlage zerstören, ist daher nicht neu. Als die Römer vor zweitausend Jahren die dichten Wälder der iberischen Halbinsel abholzten, um Schiffe zu bauen und Bäder zu heizen, wurde diese zu einer unfruchtbaren Karstlandschaft. Auch Island war einst bewaldet, bis die Wikinger die Bäume fällten und Schafe importierten, die durch Überweidung die Grasnarbe zerstörten. Ohne Schutz vor Wind und Regen wurde die Erde abgetragen, sodass nur unfruchtbare Asche und nackte Felsen zurückblieben. Auch in anderen Kulturen finden sich Beispiele von Naturzerstörung, deren Folgen sich bis in die Gegenwart erstrecken. Ursprünglich waren auch die Osterinseln im Pazifik bewaldet. Lange vor der Ankunft der Weißen fällten die Bewohner den letzten Baum, um die Sta-

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tuen zu errichten, für die sie heute berühmt sind. Die Folge war, dass sie keine Schiffe mehr bauen konnten, um fischen zu gehen und die Insel zu verlassen. Viele von ihnen verhungerten. Im Südwesten der USA zerstörten die AnaszasiIndianer ihr Lebensumfeld, weil sie in allzu kurzer Zeit zu viele Bäume für die Errichtung ihrer Pueblos fällten, sodass sie sich, als noch eine Trockenzeit hinzukam, sogar zum Kannibalismus gezwungen sahen. Die letzten Überlebenden wurden in andere Stämme integriert. Unwissen über ökologische Zusammenhänge, schiere Not, motiviert durch den Willen zu überleben, aber auch blinde Gier nach Macht, Geld, Prestige und Wohlstand führten schon vor Jahrhunderten zur irreparablen Zerstörung von Ökosystemen. Doch zumindest in räumlicher Hinsicht blieben die der Umwelt zugefügten Schäden begrenzt. Erst durch die modernen Technologien haben Menschen die Macht, in sehr kurzer Zeit Schäden von globaler Reichweite zu erzeugen. Je mehr Menschen auf diesem Planeten leben und je höher ihre materiellen Ansprüche sind, desto weniger Raum bleibt für die Natur und andere Lebewesen. Unabhängig von der Frage, ob Menschen überhaupt das Recht haben, allen anderen Lebewesen ihren Lebensraum streitig zu machen, kann die Menschheit selbst nicht ohne eine intakte Natur überleben. Würde die Naturzerstörung im selben Ausmaß weiter gehen wie in den letzten fünfzig Jahren, wäre sie, so betont Diamond, bald in einer ähnlichen Situation wie die Bewohner der Osterinseln: „Durch Globalisierung, internationalen Handel, Flugverkehr und Internet teilen sich heute alle Staaten der Erde die Ressourcen, und alle beeinflussen einander. Die Osterinsel war im Pazifik ebenso isoliert wie die Erde im Weltraum. Wenn die Bewohner in Schwierigkeiten gerieten, konnten sie nirgendwohin flüchten, und sie konnten niemanden um Hilfe bitten; ebenso können wir modernen Erdbewohner nirgendwo Unterschlupf finden, wenn unsere Probleme zunehmen.“322 Doch trotz augenfälliger Parallelen hat sich das Verhältnis der Menschen zur Natur mehrfach verändert. Erst vor etwa 300 000 Jahren, weniger als einem Viertel der Existenzzeit unserer Gattung, wurde die aktive Jagd entwickelt. Bis heute sehen viele Sammler- und Jägervölker in Tieren weniger Objekte als vielmehr Wesen mit eigener Persönlichkeit, die Achtung und Wertschätzung verdienen und Teil einer umfassenden Lebensgemeinschaft sind. Als Totem-Tiere werden sie zum Symbol für menschliche Eigenschaften. „Daher lädt der Jäger durch Töten von Tieren Schuld auf sich und benötigt angemessene Jagd- und Entschuldungsrituale, um die Geister der Toten (Mensch und Tier) zu versöhnen und damit Unheil von den Lebenden abzuwenden.“323 Mit dem Übergang zum Ackerbau, der sich je nach Weltgegend vor etwa 15 000–4 000 Jahren vollzog, wurde eine neue Phase eingeleitet: Pflanzen und Tiere wurden systematisch genutzt und gezüchtet. Am Anfang stand vermutlich

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Teil II: Die Wiederentdeckung der Eigendynamik der Natur

die Domestikation von Wölfen, die Hirtennomaden beim Hüten von Tieren und bei der Jagd halfen. Noch im Alten Testament wurde der ‚gute Hirte‘ zum Vorbild für Könige und später für die Gestalt Jesu. Buchstäblich ‚im Schweiße ihres Angesichts‘ rodeten die Menschen undurchdringliche Wälder, zogen Wassergräben und pflügten die Erde. Sie kultivierten das Land und begannen, es gegen die Wildnis zu verteidigen, die es immer wieder zu überwuchern und zu verschlingen drohte. In diesem Prozess wurden Nutzpflanzen von ‚Unkräutern‘, und Nutztiere von ihren wilden Artgenossen unterschieden und ihre Eigenschaften durch Züchtung gezielt verbessert. Bis heute werden viele Tierarten ausgerottet, weil sie nach menschlichen Maßstäben als nutzlos, unbequem oder gefährlich gelten. Aus einer noch unüberschaubar weiten, unerschlossenen Natur wurde der Raum der Kultur ausgegliedert. Die Überlegenheit des Menschen zeigte sich in seiner Fähigkeit, die Natur planvoll zu verwenden und zu gestalten. Ein Gegensatz entstand, der mit einer Wertung einhergeht, die Denken, Fühlen und Handeln bis heute beherrscht. Nash formuliert: „For the first time humans saw themselves distinct from and, they reasoned, better than the rest of nature. It was tempting to think of themselves as masters and not as members of the life community. The conceit even extended to the idea that they ‚owned‘ it. The intellectual consequence was the application of the concept of ‚wild‘ to those parts of nature not subject to human control. Wilderness became the unknown, the disordered, the dangerous.“324 Doch trotz dieser Unterscheidung verstanden sich die Menschen in Antike und Mittelalter, so haben wir bei Platon und Hildegard gesehen, noch als Teil des Kosmos, dessen Ordnung in einem göttlichen Sein gründete und aus dem Zusammenwirken aller Lebewesen entstand. Das der Wildnis abgerungene Land war noch kein Gegensatz zur Natur, sondern eine bestimmte Weise, sie zu gestalten. Erst seit dem 17. Jh. setzte sich die Vorstellung durch, dass man alle Prozesse in der Natur kausalgesetzlich erklären kann. In der Vielfalt ihrer Formen wurde die Natur zu einer leblosen Sache, deren einziger Sinn darin besteht, der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu dienen. Der menschliche Geist nimmt nicht mehr an der Natur teil, sondern tritt ihr wie ein außenstehender Beobachter und planender Konstrukteur gegenüber. Seit Kant erscheint vielen die Ordnung der Natur sogar nur noch als begriffliche Konstruktion, in der der Mensch letztlich nur sich selbst begegnet. „Erst in unserer Zeit geriet all das, was ganz normale Lebensäußerungen aller Lebewesen ist, nämlich die Umwelt zu nutzen, so gut es geht, und sich zu vermehren, soweit das möglich ist, aus dem Rahmen des Erträglichen. Übernutzung der Natur ist zum größten Problem für die Menschheit geworden. Nutzung geriet zur Ausbeutung.“325 Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts schwingt das Pendel allmählich wieder in die andere Richtung: Erstmals dokumentierten wissenschaftliche Studien

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in den 1960ern, dass menschliche Handlungen, kulturelle Werte und ökonomische Ziele natürliche Prozesse in globalem Ausmaß verändern. Fluorkohlenwasserstoffe erzeugen ein Ozonloch; der Anstieg von Kohlendioxid in der Atmosphäre bewirkt eine Erderwärmung und einen Klimawandel. Nicht durch weise Einsicht, sondern unter dem Druck der Fakten bahnt sich ein neues Naturverständnis an, das weltweit nicht nur zu einer Neubewertung der Rolle der Technik, sondern auch der Kategorie der wilden Natur führt. Deutlicher als in früheren Jahrhunderten zeigt sich heute, dass die Biosphäre mit ihrer Eigendynamik die notwendige Bedingung kultureller Aktivitäten ist, von Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Kunst und Ethik. Als Biosphäre wird die relativ dünne Hülle der Erde bezeichnet, in der sämtliche irdischen Organismen, alle lebenden organischen Substanzen, Pflanzen, Tiere, Mikroorganismen und Menschen, vorkommen und in der sie untereinander und mit der unbelebten Umwelt wechselwirken. Sie reicht von etwa 60 km über bis 5 km unter die Erdoberfläche. Dennoch argumentieren die meisten Philosophen der analytischen wie der hermeneutischen Tradition nach wie vor, dass der gesamte Bereich des Seienden nur durch zwei Kategorien bestimmbar ist: durch Objekte, die in der RaumZeit lokalisierbar sind, und durch Personen, die mit Rationalität, Selbst- und Zeitbewusstsein und mit Sprache ausgestattet sind. Ein prominentes Beispiel für diese Position ist das Werk des französischen Philosophen Paul Ricoeur, dessen Anliegen es ist zu zeigen, dass die menschliche Identität strukturell auf der Beziehung zur Andersheit beruht: zum Leib, zum Gewissen und zu den Mitmenschen. Und Ricoeur wäre unzufrieden, wenn diese Relation rein funktional verstanden würde. Sie beruht auf der ethischen Orientierung am guten und gerechten Leben. Ricoeur beginnt in seinem Werk ‚Das Selbst als ein Anderer‘ seine Argumentation mit der Position der analytischen Tradition: Für den außen stehenden Beobachter erscheinen Menschen als Objekte, die in der Raum-Zeit lokalisierbar sind und in keinem Austausch mit der Umgebung stehen.326 Folgt man der Tradition des Empirismus, die in der Bioethik dominiert, dann kann man den gesamten Bereich körperlich existierender Entitäten naturwissenschaftlich interpretieren. Die biologische Identität, die durch physikalische, genetische und neuronale Gesetze bestimmt wird, wird von der Biographie der Person getrennt, die auf mentalen Akten beruht und erzählt werden kann. Unter dieser Voraussetzung ist es „unmöglich, das mentale Innenleben eines anderen Menschen von außen direkt wahrzunehmen. Meine Gedanken, Gefühle und Stimmungen sind in diesem Sinne privat. Öffentlich sind hingegen alle beobachtbaren körperlichen Zustände einer anderen Person.“327 Weder der leibliche Ausdruck eines inneren Zustandes oder einer Absicht in einer Handlung noch die Beziehung zwischen Ich und Du werden erwähnt. Mithilfe des Begriffs der

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Handlung entwickelt Ricoeur Schritt für Schritt die Perspektive der ersten Person und unterscheidet den Körper in seinen physiologischen Funktionen vom erlebten Leib als Ausdruck der Person.328 Dennoch wird noch am Ende dieser äußerst detaillierten Analyse die Identität nur auf Selbstbewusstsein und Sprache gegründet, die Menschen strukturell miteinander verbinden. Aber zu welcher Kategorie gehören Pflanzen und Tiere, Babies und demente Menschen? Sie sind nach dieser Definition weder Objekte noch Personen. Wie sollte sich überdies bei der Entwicklung des Embryos der Übergang von einer Sache zur Person vollziehen? Und wie sollen Menschen als leibgebundene Wesen ohne Bezug zur Natur überhaupt überleben? Offensichtlich fehlt in Ricoeurs Philosophie der Begriff des Lebens, der zwischen Personen und Sachen vermittelt und Lebewesen in eine dynamische, von ihnen selbst erzeugte Relation zur Natur einbindet, die nicht nur die Summe unserer Praktiken, mithin ein ‚Zeugzusammenhang‘ ist, der sprachlich interpretiert und erschlossen wird. Obwohl Ricoeur ausdrücklich Descartes kritisiert, bleibt er in der Bifurkation der Natur gefangen. Sie ist für ihn ein wertneutraler Gegenstand wissenschaftlich-technischer Forschung und Grundlage des ethisch-kulturellen Fortschritts. Innerhalb seines begrifflichen Rahmens können sich Menschen nicht gleichzeitig als Lebewesen, die in die Natur eingebettet sind und als rationale, selbstbewusste und ethisch handelnde Wesen verstehen. Die folgende Bemerkung von Whitehead kann man daher als einen Kommentar zu dem Problem lesen, mit dem noch Ricoeur kämpft: „At the beginning of the modern period Descartes expresses this dualism with the utmost distinctness. For him, there are material substances with spatial relations, and mental substances. The mental substances are external to the material substances. In truth, this formulation of the problem in terms of minds and matter is unfortunate. It omits the lower forms of life, such as vegetation and the lower animal types. These forms touch upon human mentality at their highest, and upon inorganic nature as their lowest. The effect of this sharp division between nature and life has poisoned all subsequent philosophy.“329 Auch für Rawls, der derzeit einer der bekanntesten Theoretiker der Gerechtigkeit ist, bleibt die Natur eine Ressource für soziale und ökonomische Ziele; sie hat keinen Eigenwert, sodass die Menschen die Freiheit haben, ihr eine Funktion zuzuweisen.330 In seiner Kritik am Utilitarismus entwickelt er ein Modell zur Errichtung gesellschaftlicher Institutionen, die den Ausgleich materieller Güter innerhalb einer Gesellschaft aufgrund von zwei grundlegenden Prinzipien bewerkstelligen sollen: „Jede Person, die mit einer Institution zu tun hat oder von ihr beeinflusst wird, hat ein gleiches Recht auf die größtmögliche Freiheit, die mit derselben Freiheit für alle vereinbar ist; und zweitens sind Ungleichheiten, sowie sie von der institutionellen Struktur festgelegt oder von ihr

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gefördert werden, willkürlich, wenn nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, daß sie sich zu jedermanns Vorteil auswirken, und wenn nicht vorausgesetzt werden kann, daß die Positionen und Ämter, mit welchen diese Ungleichheiten zusammenhängen und durch welche sie sich ergeben, allen offenstehen. Diese Aspekte regeln die Verteilungsaspekte von Institutionen, indem sie die Festsetzung von Rechten und Pflichten für die gesamte Gesellschaftsstruktur kontrollieren.“331 Die Forderung nach Gerechtigkeit bezieht sich für Rawls nur auf das Verhältnis zwischen Menschen, da nur sie rechtsfähige Subjekte sind, die eine Vorstellung von ihrem Wohl im Sinne eines vernünftigen Lebensplanes haben und einen Sinn für Gerechtigkeit besitzen.332 Weitsichtig plädiert er für ein ‚Sparprinzip‘, das jede Generation dazu verpflichtet, Rücklagen für die kommende Generation zu bilden. „Jeder gibt nachfolgenden Generationen und erhält von seinen Vorfahren.“333 Obwohl Rawls die ökonomische Verantwortung der jeweils lebenden Generation für die nachfolgenden in den Blick rückt, thematisiert er nicht die Debatten um die fatalen Folgen des Einsatzes von Pestiziden zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität, die schon seit den 1960ern einer breiteren Öffentlichkeit bekannt waren.334 Doch angesichts des rasanten Verbrauchs natürlicher Ressourcen wie Wasser, Öl und Holz und der von Pestiziden beeinflussten Lebens- und Arbeitsbedingungen vieler Menschen lässt sich die soziale Gerechtigkeit nur verwirklichen, wenn man auch den Umgang mit der natürlichen Lebensgrundlage einbezieht. Dass Menschen bei der Produktion von Tee, Bananen oder Blumen unheilbar erkranken, nur damit die Güter auf dem heimischen Markt möglichst billig und jederzeit verfügbar sind, ist mit der Orientierung an der Idee der Gerechtigkeit nicht zu vereinbaren.335 Das Prinzip der Fairness336 als Grundlage für den Ausgleich von Leistungen und Gütern, auf das sich Rawls beruft, muss sich auch auf den physischen Schutz der Menschen vor umweltschädigenden Einflüssen erstrecken. Anders als Rawls, der sich vor allem auf innergesellschaftliche Verteilungsprozesse bezieht, hat Amartya Sen die globalen Dimensionen von Ökonomie und Identitätsbildung im Blick. Doch auch er thematisiert die Auswirkung sozial-ökonomischer Ziele auf die Natur und damit auf die Lebensbedingungen nicht. Nur indirekt lässt sich aus seinen Konzepten eine nachhaltige Wirtschaftsweise ableiten, bei der die Natur weiterhin unter einer rein funktionalen Perspektive erscheint.337 Etwas weiter geht Mohammed Yunus, wie Sen Ökonom und Nobelpreisträger, der durch die Vergabe von Mikrokrediten die Armut bekämpft. Auch er wendet sich von einer einseitig am Modell des homo oeconomicus orientierten Anthropologie ab, um das ganze Spektrum menschlicher Grundbedürfnisse zu berücksichtigen. Zu ihnen gehört neben befriedigenden zwischenmenschlichen Beziehungen auch das körperliche Wohlergehen, das nicht nur von der Gesund-

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heitsversorgung, sondern auch von einer intakten Umwelt, sauberem Trinkwasser und der Luftqualität abhängt. Sozialunternehmen müssen daher auch ökologisch verträglich wirtschaften. Würde die Steigerung des Lebensstandards zu Lasten der Umwelt gehen, würde gerade in armen Ländern das Ziel verfehlt, befriedigende Lebensbedingungen zu schaffen. Damit wendet sich Yunus gegen die verbreitete Ansicht, dass Umweltschutz eine Aufgabe wohlhabender Länder sei. Soziales Wohlergehen, eine Form der Ökonomie, die nicht nach Gewinnmaximierung, sondern nur nach moderaten Gewinnen für notwendige Neuinvestitionen strebt und die Erhaltung der natürlichen Lebensbedingungen fordern sich gegenseitig.338 Dennoch vertritt auch Yunus eine anthropozentrische Perspektive: Die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage ist die Voraussetzung eines qualitativ guten Lebens. Auch die modernsten Theorien der Gerechtigkeit berücksichtigen somit die Einbettung des Menschen in die Natur nur in Hinblick auf vitale und soziale Grundbedürfnisse. Die Natur selbst bleibt ein wertneutraler Funktionszusammenhang, der menschlichen Zielen dient. Mit der Kategorie des Lebendigen fehlt philosophischen wie sozial-ökonomischen Theorien die Vorstellung, dass Menschen als leibgeistige Wesen an der Natur partizipieren.339 Nur wenn sich das Verhältnis des Menschen zur Natur über eine anthropozentrische Perspektive hinaus erweitert, wird ein Handeln im Einklang mit der Dynamik der Biosphäre möglich, das auch anderen Lebewesen ihren artspezifischen Lebensraum gewährt.

2 Die Sphäre des Lebendigen als Vermittlung zwischen Sachen und Personen Seit dem 19. Jh. entdeckte man immer mehr Fossilien von Lebewesen, die längst von der Erdoberfläche verschwunden waren. Offensichtlich waren Arten ausgestorben und neue entstanden. Die Grundbegriffe zur Interpretation der Mechanismen der Evolution entnahm Darwin den sozialen Modellen seiner Zeit und der Pflanzen- und Tierzucht. Der Existenzkampf der verarmten Schichten wurde zum Paradigma für die Interpretation des Verhältnisses der Lebewesen zur Umwelt und zu anderen Arten. Um den langfristigen Fortpflanzungserfolg zu sichern, erzeugt jedes Lebewesen möglichst viele Nachkommen. Da durch das unvermeidliche Wachstum einer Population mehr Individuen entstehen, als in einem Gebiet mit begrenzten Ressourcen überleben können, ist ein Kampf um Nahrung und Lebensraum unvermeidlich. Darwin und etliche seiner modernen Interpreten deuten die Natur nicht mehr im Bild einer kosmischen Mutter, die das Leben hervorbringt und wieder

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vernichtet, um es in einem endlosen Prozess neu zu erzeugen, sondern in den Metaphern des Kampfes und Krieges. Angesichts der globalen Überbevölkerung und der mit ihr einhergehenden Ressourcenknappheit trifft dieses Erklärungsmodell zweifellos eine Seite des menschlichen Verhaltens. Ausgelöst wurde der Bevölkerungsdruck allerdings vor allem durch die moderne Medizin, die die Kinder- und Müttersterblichkeit drastisch gesenkt und die allgemeine Lebenserwartung erhöht hat, ohne gleichzeitig die Geburtenrate zu verringern und die sozialen Sicherungssysteme anzupassen. Die Bewertung der Zahl und des Geschlechts der Kinder hängt entscheidend von der Religion, der Bildung und den Berufsmöglichkeiten der Frau sowie den politischen Zielen einer Gesellschaft ab. Hinzu kommt die Verbindung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts mit der Erwartung eines sich unablässig erhöhenden materiellen Lebensstandards, die zu einer bisher noch nie dagewesenen Vernichtung des Lebensraums anderer Arten führt. Da die derzeit leitenden Ziele der Weltgesellschaft erst durch die Verknüpfung von Technik, Wissenschaft und sozialem Fortschritt in der Renaissance entstanden sind, sind sie historisch geworden und damit, anders als Naturgesetze, auch veränderbar. Auch in Hinblick auf nicht-menschliche Lebensformen muss Darwins Sicht um einen entscheidenden Faktor ergänzt werden: Lebewesen sind nicht unabhängig voneinander in einen einsamen Überlebenskampf gegeneinander verstrickt. Durch biologische Anpassung sind sie in ein Ökosystem eingebettet. Der Begriff des Ökosystems wurde 1935 von dem britischen Biologen und Geobotaniker Arthur G. Tansley in die Ökologie eingeführt. Es umfasst die Gesamtheit der Lebewesen und ihre unbelebte Umwelt, den Lebensraum, das Biotop, in seinen Wechselbeziehungen. Ein Ökosystem ist ein Wirkungsgefüge, an dem die unterschiedlichen Arten ebenso wie Stoffströme beteiligt sind. Die Grenzen eines Ökosystems werden oft pragmatisch durch erkennbare Diskontinuitäten zu einem angrenzenden Lebensraum bestimmt. Letztlich lassen sie sich jedoch nicht eindeutig bestimmen, da sich jedes Ökosystem in immer größere Systemzusammenhänge einordnet. Das umfassendste Ökosystem auf diesem Planeten ist die Biosphäre, die die Erde umspannt. In einem intakten Ökosystem ist die Anzahl der Arten und der Individuen einer Art über lange Zeiträume hinweg weitgehend stabil. Klimatische Bedingungen, die Qualität der Nahrung, andere Arten und sogar die Zahl der Nachkommen einer Art führen zu einer Geburtenregulation. Auch das Verhältnis zwischen Arten ist keineswegs nur durch Konkurrenz, sondern mindestens ebenso durch Strategien zu deren Vermeidung bestimmt. Sie reichen von Spezialisierung über Symbiosen bis zur Kooperation. Weniger der Kampf ums Dasein, als vielmehr das Zusammenspiel verschiedener Lebensformen ist die Grundlage der Biodiversität. „Die Notwendigkeit, Partnerschaften und koope-

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rative Vereinigungen zu bilden,“ so kommentiert der Biologe Lewis Thomas, „ist die vielleicht älteste, stärkste und grundlegendste Kraft der Natur. Es gibt keine einzeln und frei lebenden Kreaturen, denn jede Lebensform hängt von anderen Formen ab.“340 Für Darwin wird die Evolution nur durch äußere Ursachen in Gang gehalten, durch zufällige Mutationen und den Zwang zur Anpassung an eine sich ständig verändernde Umwelt. Die Funktionalität der Struktur eines Organismus erscheint als Ergebnis der natürlichen Auslese und damit kausal-mechanisch wirkender Faktoren. Die Lebewesen selbst sind nur insoweit aktiv, als sie sich mit mehr oder weniger Geschick an vorgegebene Umstände anpassen. Dass ein bestimmtes Ereignis eine Mutation ausgelöst hat, durch die eine neue Art entsteht, erscheint als ebenso richtungslos wie das Aussterben einer Art. Die Voraussetzung für die Evolution des Lebens war die ‚Erfindung‘ der Natur, Erbinformationen speichern und verdoppeln zu können. Die unüberschaubare Vielfalt der Arten ist, so zeigt die Molekularbiologie durch die Analyse des Erbgutes, eine Folge der genetischen Abstammung aller Lebewesen von den einfachsten Organismen, den Einzellern. Von ihnen stammen Pflanzen und Tiere gleichermaßen ab, obwohl sie sich unabhängig voneinander weiterentwickelt haben. Die Geschichte des Lebens entfaltet sich aufgrund der zunehmenden Vielfalt in horizontaler und aufgrund wachsender Komplexität der Organismen in vertikaler Richtung. „Von oben, also von unserer Gegenwart ausgehend, nach unten in die Vergangenheit gerichtet, führen die unterschiedlichsten Spuren und Zweige des Lebens zurück zu einer Wurzel, zum Ursprung.“341 Die gemeinsame Abstammung ist vermutlich die Ursache dafür, dass auch Pflanzen über zelluläre Reaktionsweisen verfügen, die sich im tierischen Zweig des Lebens bis zum Menschen zeigen.342 Etwa 70% der Gene teilen Menschen mit Mäusen, und ungefähr 98% mit den höheren Primaten. „Die in den großen östlichen Religionen und Philosophien betonte Einheit alles Lebendigen musste mühsam in jüngster Zeit über die Forschungen am Erbgut der Organismen und der daraus entstandenen Molekulargenetik wissenschaftlich abgeleitet und bewiesen werden.“343 Die Auffassung, man könne andere Lebensformen durch Pestizide vernichten, die für Menschen unschädlich sind, ist daher aufgrund der Übereinstimmung in grundlegenden biologischen Strukturen unhaltbar. Obwohl die klassische Evolutionstheorie nur die Einwirkung des Genotyps auf den Phänotyp berücksichtigt, ist die Evolution für Darwin nicht völlig richtungslos. Durch die Selektion von Merkmalen, die sich in einer bestimmten Umwelt bewähren, werden die Fähigkeiten zur Ausnutzung der Ressourcen optimiert. Entscheidend für das Überleben ist für Darwin nicht nur die physische Stärke, sondern auch die Intelligenz. Sie befähigt dazu, knappe Ressourcen besser auszunutzen und sich flexibler an neue Herausforderungen anzupassen. Das

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Empfinden von Schmerz und Lust, Gefühle und Bewusstsein vermitteln eine Orientierung über das, was für das Überleben unter wechselnden Umweltbedingungen schädlich oder nützlich ist. Hand in Hand mit der wachsenden physischen Komplexität hat sich auch eine Entwicklung der Innenwelt vollzogen. Zu den biologischen Bestimmungen von Leben durch Stoffwechsel, Reproduktionsfähigkeit und Mutagenität muss daher eine weitere hinzugefügt werden: Affizierbarkeit. Schon einzellige Lebewesen wie Amöben können durch die Fähigkeit zur Signalperzeption, die man einem Kristall noch nicht zuschreiben kann, auf unterschiedliche Reize mit verschiedenen Strategien reagieren. Reizbar ist eine Entität erst, wenn Einflüsse nicht mehr durch physikalische Krafteinwirkung weitergeleitet, sondern durch Sensorien rezipiert werden und zur Auseinandersetzung mit der Umwelt anregen. Die Sensitivität für Reize ist ein Indiz für eine erste Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Fremdem und Eigenem. Auch die menschliche Form des Bewusstseins, die uns aus eigener Erfahrung unmittelbar vertraut ist, ist nicht in einem unvermittelten Sprung aus toter Materie entstanden, sondern hat sich aus Vorformen entwickelt. Der entscheidende Unterschied zwischen Tieren und Menschen beruht für Darwin nur auf dem Selbstbewusstsein und der damit verbundenen Reflexionsfähigkeit über den Tod. „The mind of man has been developed from a mind as low as that possessed by the lowest animal.“344 Schon für die klassische Evolutionstheorie gibt es folglich kein Lebewesen, das nicht zumindest eine rudimentäre Sensitivität für qualitative Unterschiede in der Umwelt und für die eigene Zuständlichkeit hat. Dadurch gewinnt das Verhalten eine Richtung, die sich als ‚Hin-zu‘ oder ‚Weg-von‘, als ‚Strebennach‘ oder ‚Vermeiden-von‘ auch dem außenstehenden Beobachter zeigt. Anders als Dinge besitzen alle Lebewesen, wie Scheler betont, „ein Fürsichund Innesein, in dem sie sich selber inne werden.“345 Da Verwandtschaft immer ein zweiseitiges Verhältnis ist, ist nicht nur der Mensch mit den Tieren, sondern sind auch diese mit ihm verwandt. Und dann, so die logische Folgerung, haben schon einfache Lebewesen Anteil an den Empfindungen und Verhaltensmöglichkeiten, die Menschen von sich selbst kennen. Sie sind nicht nur genetisch, sondern auch aufgrund ihres inneren Erlebens bis zu einem gewissen Grad mit allen anderen Kreaturen verwandt. „Das Prinzip qualitativer Kontinuität,“ so betont Jonas, „das unendlich viele Abstufungen von Dunkelheit und Klarheit der ‚Perzeption‘ zuläßt, ist durch den Evolutionismus ein logisches Komplement zur wissenschaftlichen Genealogie des Lebens geworden. An welchem Punkte dann in der enormen Spanne dieser Reihe läßt sich mit gutem Grund ein Strich ziehen, mit einem ‚Null‘ an Innerlichkeit auf der uns abgekehrten Seite und dem beginnenden ‚Eins‘ auf der uns zugekehrten? Wo anders als am Anfang des Lebens kann der Anfang der Innerlichkeit angesetzt werden?“346

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Schon Pflanzen sind keine einfachen Reiz-Reaktions-Automaten, sondern reagieren auf unterschiedliche Formen der Bedrohung mit verschiedenen Strategien, sodass die Diskussion, wie sie ohne Nervensystem qualifizierte Perzeptionen unterscheiden können, neu entbrannt ist. Erst ab einer gewissen psycho-physischen Komplexität treten Sinneswahrnehmungen wie Sehen, Hören oder Schmecken, Körperwahrnehmungen wie Jucken, Schmerz oder Lust, Emotionen wie Wut, Eifersucht oder Freude und die Fähigkeit, langfristig Ziele zu verfolgen, auf. Die Evolution des Bewusstseins hat zu einer ungeheuren Bandbreite von im weitesten Sinne geistigen Aktivitäten geführt, sodass die pauschale Rede von den Fähigkeiten ‚der‘ Tiere zu kurz greift. Obwohl Blattläuse, Regenwürmer und Bienen ‚Tiere‘ sind, unterscheiden sie sich im Grad ihrer Bewusstheit und der Komplexität ihres Verhaltens stark von Rabenvögeln, Elefanten und Menschenaffen. Wie alle Eigenschaften werden unter der Perspektive der Evolutionstheorie auch Intelligenz und Bewusstheit funktional gedeutet. Anders als in Antike und Mittelalter sind sie nicht das Lebensziel, sondern Mittel für das biologische Überleben. Die Fähigkeit zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und das Interesse an existenziell-religiösen Fragen gelten als letztlich nicht mehr zu erklärender Überschuss, der durch den zufälligen Zusammenschluss verschiedener Gehirnzentren erzeugt wurde. Die Erklärung der Genese bestimmter mentaler Funktionen sagt freilich nichts darüber aus, ob auch die Fragen, die sie ermöglicht, sinnlos und die Antworten falsch sind. Für das Überleben ist nicht die Überschreitung auf ein dem Organismus immanentes oder gar transzendentes Ziel entscheidend, sondern die Erhaltung eines labilen und immer wieder gefährdeten Gleichgewichts zwischen den Bedingungen der Umwelt und den eigenen Möglichkeiten. Der Grad der Vollkommenheit eines Lebewesens ist nur eine relative Bestimmung, die sich auf den Grad seiner biologischen Angepasstheit an eine spezifische Umwelt bezieht. Aufgrund dieses Kriteriums können unterschiedliche Arten denselben Grad an Vollkommenheit haben. Läuse und Ratten können an ihre Umwelt sogar besser angepasst sein als Menschen. Dadurch beinhaltet die wachsende psycho-physische Komplexität keine Aussage mehr über den Seinsrang eines Lebewesens in Bezug auf seine Nähe oder Ferne zum göttlichen Urgrund als universaler Bewusstheit. Durch die Evolutionstheorie tritt zwar viel konkreter als bei Hildegard und Leibniz die Bedeutung der Umwelt für den Lebensprozess in den Blick, doch gleichzeitig wird dieser auf die biologische Selbsterhaltung reduziert.

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3 Grenzen der naturwissenschaftlichen Methode: Der Ausdruck von Innerlichkeit Wird in die Bestimmung der Lebewesen Subjektivität im weitesten Sinne des Wortes einbezogen, stellt sich ein schwerwiegendes erkenntnistheoretisches Problem: Qualifizierte Perzeptionen, Ziele und Bedeutungen sind der empirisch-wissenschaftlichen Methode unzugänglich. Die physikalischen und chemischen Prozesse, die experimentell beobachtbar und quantifizierbar sind, erklären nicht die Qualität und Bedeutung von Empfindungen, die Fähigkeit, sie wahrzunehmen und die Motive und Ziele, die das Verhalten bestimmen. Strenggenommen, so lautet ein weit verbreitetes Argument, wissen wir nur von uns selbst, aus der Perspektive der ersten Person, was es heißt, Schmerz und Freude zu erleben und Interessen zu verfolgen. Schon bei anderen Menschen kann man die Qualität ihrer Empfindungen und ihre Absichten nicht unmittelbar erkennen. Geht man von der Normativität der naturwissenschaftlichen Methode aus, dann kann man weder erklären, wie qualifizierte Perzeptionen und Ziele entstehen noch wie sie sich physisch in Verhaltensweisen ausdrücken, die bereits zur Sicherung des Überlebens unverzichtbar sind. Der Versuch, Subjektivität mit den Kategorien zu erfassen, die für Objekte gelten, führt daher unweigerlich dazu, dass man deren Eigentümlichkeit verfehlt. Sie kann, so betont Schrödinger, „von einem rein naturwissenschaftlichen Standpunkt aus überhaupt nicht organisch eingebaut werden. Denn alles, was man in dieses Weltmodell eingehen läßt, nimmt stets die Form einer naturwissenschaftlichen Aussage an, ob man will oder nicht; als solche aber wird es falsch.“347 Ähnlich äußert sich der Arzt Viktor v. Weizsäcker: „Wir erkennen jetzt, daß die naturwissenschaftlichen Daten alle richtig sein, d. h. in Berührung mit der Realität gewonnen sein können, und daß das naturwissenschaftliche Bild des Menschen doch falsch ist.“348 Solange, so das entscheidende Argument, Lebewesen in einem begrifflichen Rahmen interpretiert werden, der für Unbelebtes entwickelt wurde, sodass sie nur als Objekte der Beobachtung, nicht als Subjekte des Verhaltens erscheinen, werden nur kausal-mechanisch wirkende Faktoren berücksichtigt. Doch auch die Naturwissenschaften, so weiß man spätestens seit Kant, bilden die Wirklichkeit nicht unmittelbar ab, sondern analysieren sie unter einer bestimmten Fragestellung und innerhalb eines methodischen und begrifflichen Rahmens, der eine historische Dimension hat. Obwohl naturwissenschaftliche Theorien keine bloße Konstruktion sind, sondern sich empirisch bewähren müssen, verfahren sie selektiv. Um die methodisch ausgeschlossenen Elemente des Verhaltens einzubeziehen, müssen, so haben wir bereits bei Whitehead gesehen, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis erweitert werden. Denn wenn „Innerlichkeit koextensiv mit dem Leben ist, dann kann“, so folgert Jonas,

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„eine rein mechanistische Interpretation des Lebens, d. h. eine Interpretation in bloßen Begriffen der Äußerlichkeit, nicht genügen.“349 Innerlichkeit ist die Sphäre, in der ein Lebewesen kein Gegenstand für einen außenstehenden Beobachter ist, sondern in qualifizierter Weise sich und das, von dem es berührt wird, empfindet. Es fühlt sich, wie Nagel sagt, ‚irgendwie an zu sein.‘ Obwohl nahezu alle uns bekannten nicht-menschlichen Lebewesen kein Selbstbewusstsein haben und damit keine Personen sind, sind sie dennoch keine Sachen, sondern, stellen, wie Scheler betont, „eine letzte Art kategorialer Einheiten dar.“350 Um Lebewesen methodisch in ihrer psycho-physischen Ganzheit mitsamt ihren Beziehungen zur Umwelt gerecht zu werden, benötigt man nicht nur die Perspektive des außenstehenden Beobachters, sondern auch die des empfindenden Individuums, das mit anderen Lebewesen kommuniziert. Die Methode der empirisch-objektivierenden Wissenschaften muss daher durch eine Naturphilosophie überschritten werden, die qualifizierte Perzeptionen und Ziele, unterschiedliche Formen der Kommunikation und physiologische Funktionen zugleich thematisiert. Berücksichtigt man die biologische Verwandtschaft aller Lebewesen mit dem Menschen, dann ist die Erweiterung der erkenntnistheoretischen Prämissen nicht nur legitim, sondern notwendig und muss von der Seite des Beobachteten und des Beobachters erfolgen: Dass wir selbst Unbelebtes und Belebtes unterscheiden können, setzt voraus, dass wir aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt zu leben und leben zu wollen. Die Selbsterfahrung muss eingesetzt werden, um fremde Innenwelten zu erschließen. „Der Beobachter des Lebens“, so Jonas, „muß vorbereitet sein durch das Leben.“351 Ähnlich argumentieren inzwischen auch einige Vertreter der Verhaltensbiologie: Statt Tiere wie Gegenstände von außen zu betrachten, gilt es, sich in ihre Situation einzufühlen, um ihr Verhalten zu verstehen. Diese neue Generation von Feldforschern verstößt „systematisch gegen das Verbot der Anthropomorphisierung. Sie erklären es im Gegenteil sogar für ‚gesunden Menschenverstand‘, sich in die betreffende Art hineinzuversetzen, deren Denkprozesse ein Forscher verstehen möchte. Bewußtsein sei keine Sonderentwicklung der Evolution, kein Extra, das nur wir Menschen oder nur ganz bestimmte Arten besäßen. ‚Bewußtes Denken ist, was Gehirne tun − auch tierische Gehirne.‘ Also ist es sinnvoll, das eigene Bewußtsein einzusetzen, um fremde Bewußtseinsformen zu erkunden.“352 Im Anschluss an die Studien von Konrad Lorenz werden die Objekte der Forschung zu Subjekten, die ihre Interessen und Bedürfnisse mit der ihnen eigenen Intelligenz verfolgen. Für den Zoologen Donald Griffin, den Begründer der kognitiven Ethologie, gibt es daher zwei Wege, das Bewusstsein von Tieren zu erschließen: durch die Untersuchung von komplexem, flexiblem und neuartigem Verhalten in einem artgemäßen Umfeld und der Kommunikation zwischen

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Tieren. „Intentionale Zustände“, so die Überzeugung, können „zur wissenschaftlichen Erklärung und Vorhersage von Tierverhalten dienen.“353 Die Subjektivität von Beobachter und Beobachtetem einzubeziehen beinhaltet eine Abkehr vom strengen Ideal der Reproduzierbarkeit. Zum einen spielt die Persönlichkeit des Forschers, seine Art, mit Tieren umzugehen, mit. Nicht jeder Verhaltensforscher kann mit jeder Tierart gleich gut umgehen. Vor allem bei höheren Tieren sind Emotionen wie Sympathie und Vertrauen zwischen den Partnern unerlässlich. Sie können sich nur entwickeln, wenn beide genügend Zeit haben, um sich aufeinander einzustellen. Die Individualität und die Erfahrungen von Tier und Mensch beeinflussen die Form der Interaktion. In ihrer Subjektivität ausdrücken können sich Lebewesen nur, wenn man sie nicht zu einem Versuch zwingt, sondern sie freiwillig mitmachen. Außerdem zeigen Tiere in unterschiedlichen Kontexten andere Verhaltensweisen, sodass die Beobachtungen in Gefangenschaft oder gar unter Laborbedingungen nie die des natürlichen Verhaltens ersetzen können. Da kein Lebewesen unabhängig von seiner Umwelt existieren kann, muss auch diese in ihrer Komplexität in die Beobachtung einbezogen werden. Deshalb sollten Einzelereignisse, die von einem geschulten Beobachter bezeugt werden, eine exemplarische Bedeutung haben.354 Durch das Einbeziehen der Subjektivität von Beobachtetem und Beobachter ändern sich die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis: Um Lebewesen in ihrer Subjektivität zu erforschen, muss man die Gegenüberstellung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt aufgeben; stattdessen partizipiert der Erkennende bis zu einem gewissen Grad am Erkannten – in seelisch-geistiger wie körperlich-leiblicher Hinsicht. ‚Mitwissenschaft‘, so betont MeyerAbich, will die Natur so erkennen, wie sie ist, wenn wir uns als ihr zugehörig begreifen. „Ist das Mitsein die Gegenwart der gemeinsamen naturgeschichtlichen Gewordenheit, so ist nur ein teilnehmendes Erkennen dem Umgang miteinander angemessen, nicht aber der interplanetarische Blick des außerirdischen Betrachters.“355 Nicht nur das Beobachtete erschließt sich in seinen Eigenschaften und Fähigkeiten nur aus seinem Umfeld; auch der Beobachter muss das gesamte Spektrum seiner Erfahrungen einsetzen, um sich anderen Kreaturen und den Beziehungen, die sie mit ihrem Umfeld verbinden, zu nähern und sich die Welt zu erschließen. Innerhalb der menschlichen Spezies ist es noch vergleichsweise leicht, sich in das Erleben Anderer einzufühlen. Das Nervensystem, der Aufbau des Gehirns und Grundmuster der Erfahrung sind sich so ähnlich, dass man mit guten Gründen auf eine große Ähnlichkeit des inneren Erlebens schließen kann. Außerdem können Menschen sprachlich kommunizieren und beschreiben, was in ihnen vorgeht. Und schließlich sind auch der mimische und gestische Ausdruck

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aufgrund angeborener Mechanismen und kulturell erworbener Verhaltensweisen vertraut. Dennoch wäre die Überzeugung irreführend, dass wir nur aufgrund eines Analogieschlusses davon ausgehen, dass auch unsere Mitmenschen mit Bewusstsein begabt und zu qualifizierten Perzeptionen fähig sind. Niemand kann vollkommen isoliert aufwachsen; aufgrund ihrer psycho-physischen Konstitution sind Menschen strukturell soziale Wesen. Das Zusammenleben mit anderen ist eine notwendige Voraussetzung, um die genuin menschlichen Möglichkeiten zu entwickeln und mit ihrer Hilfe zu überleben und eine individuelle Identität zu entfalten. Nicht nur Rationalität und Sprache, auch Empathie, Sympathie, Freundschaft und Liebe sind für eine gelingende soziale Kommunikation unverzichtbar. Die Entdeckung der Spiegelneuronen ist ein Indiz dafür, dass Menschen und viele Tiere aufgrund ihrer Physiologie in der Lage sind, das Verhalten anderer wahrzunehmen und so von ihnen zu lernen. Ein Forscherteam an der Universität von Parma in Italien hatte beobachtet, dass bei Tieraffen spezielle Gehirnzellen nicht nur dann aktiv werden, wenn sie selbst mit der Hand nach einem Objekt greifen, sondern auch, wenn sie zusehen, wie ein anderer dies tut. Die Spiegelneuronen, die die Imitation von Handlungen ermöglichen und dazu befähigen, die Absichten anderer zu erkennen, sind vermutlich die anatomische Basis für das soziale Lernen.356 Dennoch beinhaltet die Fähigkeit zur Empathie nicht, dass man genau weiß, was ein anderes Lebewesen fühlt. Im Gegenteil: Es ist das Hauptmerkmal der Perspektive der ersten und der zweiten Person, dass sie nicht objektivierbar sind. Nicht was andere Lebewesen genau empfinden ist entscheidend, sondern dass sie etwas empfinden, was für ihr Leben bedeutungsvoll ist und dass sie es in einer Form mitteilen, die zumindest innerhalb bestimmter Grenzen artübergreifend verständlich ist. Wahrgenommen werden kann das innere Befinden jedoch nur, weil es nicht in der Innenwelt eingeschlossen ist, sondern physisch in Bewegungen, Lauten und Blicken ausgedrückt wird. Damit das innere Erleben im Sinne der Evolutionstheorie zumindest überlebensdienlich sein kann, muss es in einem zweifachen Sinn überschritten werden: durch qualifizierte Perzeptionen der Umwelt und das ihnen entsprechende Verhalten. Die Umwelt wird nicht wie ein Ding an sich wahrgenommen, sondern, so erkannte J. v. Uexküll, vermittelt durch die psycho-physische Ausstattung einer Art, unter besonderen sensorischen, emotionalen und kognitiven Bedingungen. Alles, was geschieht, hat für ein Lebewesen, das überleben will, eine spezifische Bedeutung, die wiederum sein Verhalten motiviert. Die Kontinuität zwischen Tieren und Menschen beruht daher nicht nur auf den Genen und bestimmten Bedürfnissen, sondern auch auf Ausdrucks- und Kommunikationsformen, dem emotionalen, moralischen und kognitiven Ver-

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halten. Als stammesgeschichtlich alte Grundemotionen, die ihre Entsprechung in Hirnfunktionen haben, die bereits am Beginn der Wirbeltierevolution vor etwa 400–600 Millionen Jahren angelegt wurden, gelten Interesse, Furcht, Zorn, Lust, Fürsorge, Panik und Spiel. Die Ausschaltung des Schmerzverhaltens wird bei Menschen und Säugetieren durch ähnliche Betäubungsmittel erreicht. Vergleichbar sind auch das Fluchtverhalten und Lernprozesse in Hinblick auf das, was es zu vermeiden gilt.357 Je ähnlicher sich Menschen und Tiere in den physiologischen Prozessen sind, desto größer ist die Übereinstimmung bei Schmerzreaktionen und vermutlich auch im Schmerzempfinden. Der Rückschluss vom Verhalten auf die innere Befindlichkeit gelingt umso besser, je genauer man mit dem artspezifischen Ausdruck von Emotionen durch Mimik und Körpersprache vertraut ist. Nur durch den körperlich vermittelten Ausdruck von Gefühlen und Absichten können Lebewesen überhaupt kommunizieren. Indem sie die Bedeutung von Bewegungen, Gerüchen, Lauten oder Blicken erfassen, können sie ihre Aktivitäten aufeinander abstimmen. Bei sozial lebenden Tieren sind Mimik und Körpersprache ebenso wie die Fähigkeit, durch die Beobachtung des Verhaltens von Gruppenmitgliedern zu lernen, besonders ausgeprägt. Zumindest bei höheren Tieren sind diese Ausdrucksformen nicht angeboren, sondern müssen in den ersten Lebenswochen oder -jahren erlernt werden. „Individuen kommen mit der Neigung zur Welt, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Vorbilder zu konzentrieren. So erlernen Individuen angemessenes Verhalten gegenüber anderen. Ebenso wird ihre Bindungs- und Vertrauensfähigkeit während dieser frühen Sozialisationsphase geformt.“358 Wird Tieren die Möglichkeit, ein angemessenes Sozialverhalten zu erwerben, vorenthalten, entwickeln sie sich oft zu relativ aggressiven Erwachsenen. Bestimmte Formen der Intelligenz, vor allem Nachahmung und Empathie, die die Abstimmung auf das Verhalten anderer, das Lernen von ihnen und die Einordnung in einen Sozialverband ermöglichen, wurden vermutlich durch das Leben in Gruppen oder lebenslangen Partnerschaften, die bei Vögeln mit einer primatenähnliche Intelligenz häufig vorkommen, besonders gefördert. Bei ihren Studien zur Sprachfähigkeit von Graupapageien ging Irene Pepperberg davon aus, dass der Spracherwerb auf einem sozialen Prozess beruht. Besonders erfolgreich war dieses Verfahren bei Graupapagei Alex, der lernte, über 100 Worte sinnvoll zu verwenden.359 Ein Grundmerkmal von Kommunikationsprozessen ist, dass sie auf Gegenseitigkeit beruhen: Soweit es sich nicht um einen unmittelbaren Emotionsausdruck handelt, etwa eine Schmerz- oder Schreckreaktion, sollen die Ausdrucksformen, so hatte schon Herder erkannt, verstanden und beantwortet zu werden. Sie sind keineswegs auf die Interaktion innerhalb eines Sozialverbandes oder einer Art beschränkt. Warnungen etwa werden auch von Mitgliedern anderer

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Arten verstanden. „Es trifft nicht zu,“ so schreibt Meyer-Abich, „daß immer nur wir Menschen die Wahrnehmenden sind und die übrige Welt das Wahrgenommene oder Wahrzunehmende, sondern die ganze Natur ist voller Kommunikations-Zusammenhänge. In erster Linie sind dies die Verständigungsprozesse zwischen den Geschlechtern, ebenso aber die zur Organisation eines Schwarms oder Rudels oder die zwischen Rivalen und Rivalinnen um einen weiblichen oder männlichen Artgenossen, um Nahrungsmittel etc. Es gibt auch Verständigungsprozesse zwischen verschiedenen Arten, z. B. zwischen Pflanzen und Insekten durch Blumen. Dabei ist die Kommunikation immer gegenseitig gemeint. Der Verständigung dienen Laute, Düfte, Farben, Gesten, Mimik und Tänze, das Sträuben des Fells oder das Spreizen der Flügel etc.“360 Auch Menschen können daher in ein nicht-objektivierendes, auf Partizipation beruhendes Verhältnis zu nicht-menschlichen Lebewesen treten, sodass zumindest mit höheren Tieren eine, wenngleich eingeschränkte, Form der Kommunikation möglich ist. Seit Jahrtausenden sind bestimmte Tiere Spielgefährten und Wegbegleiter des Menschen. Offensichtlich spüren sie, was in Menschen vorgeht und können ihnen vertrauen oder auch misstrauen. Umgekehrt können Menschen innerhalb bestimmter Grenzen die Sprache der Tiere deuten und sich in ihrem Verhalten auf sie einstellen. Jeder, der mit wilden Tieren im Zoo, im Zirkus oder in freier Wildbahn zu tun hat, weiß, dass diese Fähigkeit lebensrettend sein kann. Mit der Überschreitung der anthropozentrischen Perspektive eröffnen sich daher Möglichkeiten der Begegnung mit anderen Kreaturen, die eine emotionale und kognitive Erweiterung des Lebenshorizontes beinhalten. In literarischer Form hat Thomas Mann in der autobiographischen Darstellung der Eigenarten seines Lieblingshundes Bauschan die Erfahrung von Nähe und Ferne, Vertrautheit und unaufhebbarer Fremdheit geschildert: „Gern, wenn ich, auf meinem Stuhl in der Mauerecke des Gartens oder draußen an einen bevorzugten Baum angelehnt, in einem Buche lese, unterbreche ich mich in meiner geistigen Beschäftigung, um etwas mit Bauschan zu sprechen und zu spielen. Was ich denn zu ihm spreche? Meist sage ich ihm seinen Namen vor, den Laut, der ihn unter allen am meisten angeht, weil er ihn selbst bezeichnet, und der darum auf sein ganzes Wesen elektrisierend wirkt – stachle und befeure sein Ichgefühl, indem ich ihm mit verschiedener Betonung versichere und recht zu bedenken gebe, daß er Bauschan heißt und ist; und wenn ich dies eine Weile fortsetze, kann ich ihn dadurch in eine wahre Verzückung, eine Art von Identitätsrausch versetzen, so daß er anfängt, sich um sich selber zu drehen und aus der stolzen Bedrängnis seiner Brust laut und jubelnd gen Himmel zu bellen. Oder wir unterhalten uns, indem ich ihm auf die Nase schlage, und er nach meiner Hand schnappt wie nach einer Fliege. Dies bringt uns beide zum Lachen – ja, auch Bauschan muß lachen, und das ist für mich, der ebenfalls

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lacht, der wunderlichste und rührendste Anblick von der Welt. Es ist ergreifend zu sehen, wie es unter dem Reiz der Neckerei um seine Mundwinkel, in seiner tierisch hageren Wange zuckt und rückt, wie in der schwärzlichen Miene der Kreatur der physiognomische Ausdruck des menschlichen Lachens oder doch ein trüber, unbeholfener und melancholischer Abglanz davon erscheint, wieder verschwindet, um den Merkmalen der Erschrockenheit und Verlegenheit Platz zu machen, und abermals zerrend hervortritt.“361 Der Ausdruck von Innerlichkeit umfasst, wie Cassirer hervorgehoben hat, mehr als sich sprachlich, im Medium des Begriffs und formal-logisch, ausdrücken lässt. Die Grenze der Welt und die Grenze dessen, was verstanden werden kann, ist nicht die der Sprache. Wie kleine Kinder, die den Ausdruck eines Gesichtes oder einer Stimme begreifen, lange bevor sie kausale Zusammenhänge erfassen oder gesprochene Worte verstehen, haben auch höhere Tiere die Fähigkeit, den Sinn einer Geste oder den Klang einer Stimme in ihrer emotionalen Bedeutung zu erfassen und sich entsprechend zu verhalten. Menschenaffen können in den Augen ihres Gegenübers bereits genauso lesen wie wir. Dass die Deutung von Stimmungen und Absichten nicht nur von subjektiver Relevanz ist, zeigt sich am Verhalten: Es kann adäquat oder inadäquat sein und wird ein entsprechendes Verhalten des Gegenübers nach sich ziehen. Zwischen dem wissenschaftstheoretisch immer wieder diskutierten Gegensatz von erster und dritter Person-Perspektive vermittelt auch in Hinblick auf nicht-menschliche Kreaturen die Perspektive der zweiten Person, des Individuums also, das sich angesprochen fühlt und durch sein Verhalten darauf antwortet. Die Kategorie des Verstehens, die aus der Hermeneutik vertraut ist, lässt sich daher nicht auf geschriebene Texte und den sprachlichen Dialog zwischen Menschen beschränken. Sie umfasst auch das Verstehen des Ausdrucks von Absichten, Interessen, Gefühlen und Empfindungen, durch die nicht-menschliche Lebewesen bekunden, welche Bedeutung bestimmte Situationen für sie haben. Würde man die mathematischen Wissenschaften zur Norm machen und nur mit den für sie geltenden Kategorien die Wirklichkeit erfassen, würden alle Brücken zur Ausdruckswelt abgebrochen, da sich die Kategorie des Ausdrucks im Rahmen der der Dritten-Person-Perspektive verpflichten Wissenschaften nicht definieren lässt. Sie setzt Qualitäten des Empfindens, Absichten und Interessen voraus, die von anderen Lebewesen in ihrer Bedeutung verstanden werden. In seinen physiologischen Funktionen ist der Körper immer auch der qualifiziert erlebte Leib als Medium des Ausdrucks von Innerlichkeit, von Gefühlen und Absichten.362 Nur dadurch erscheint ein Organismus nicht als leblose Sache, die für menschliche Ziele benutzt werden kann. Als Leib ist der Körper die sichtbare Erscheinung von Innerlichkeit und damit eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation.

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Da im Bereich des Lebendigen das Physische nicht mit dem Physikalisierbaren identisch ist, erscheint die belebte Natur nicht als naturgesetzlich zu beschreibender Funktionszusammenhang, sondern als ein Feld von Ausdrucksgestalten, in denen sich mehr oder weniger deutlich die Qualitäten und Bedeutungen manifestieren, die Ereignisse für andere Lebewesen haben. Der cartesische Dualismus muss daher ebenso überwunden werden wie eine naturalistische Interpretation lebendiger Prozesse, die auf der Annahme basiert, dass Bewusstheit durch neuronale Prozesse kausal erzeugt und nur der eigenen Innenwelt zugänglich sind. Da Menschen nicht nur physiologisch, sondern auch aufgrund ihres inneren Erlebens und der Formen der Kommunikation mit der belebten Natur verbunden sind, ist diese nicht das ganz Andere, Fremde, das ihnen vermittlungslos gegenüber steht.

4 Die Eigendynamik des Lebendigen: Kausalursachen, Funktionalität und Zielgeleitetheit Sind Lebewesen also tatsächlich nur insofern aktiv, als sie sich an zufällig wechselnde Lebensumstände anpassen – oder wählen sie diese selbst aus, sodass ihr Verhalten die Weitergabe der Gene und den Gang der Evolution beeinflusst? Kommen wir noch einmal auf die naturwissenschaftliche Bestimmung des Lebendigen zurück. Vor dem Hintergrund der modernen Systemtheorie bestimmen Smith und Szasmáry „Lebewesen als hochkomplexe Systeme, zusammengesetzt aus Teilen, die so funktionieren, daß das Überleben und die Fortpflanzung des Ganzen sichergestellt sind.“363 Um die Tätigkeit einzelner Organe zu erklären, genügt die Analyse kausal wirkender Faktoren nicht; erst durch die Antizipation des Leistungszieles wird eine Sukzession von Einzelereignissen übergriffen und zu einer Wirkeinheit verbunden. Lebewesen sind Funktionsganzheiten, die sich nicht in einzelne Bausteine zerlegen lassen, sodass man ihre Eigenschaften nicht auf einzelne Gensequenzen, chemische Prozesse und physikalische Gesetze reduzieren kann. Erst der Integration der Teilfunktionen verdankt ein Organismus seine Funktions- und Überlebensfähigkeit. Die Komplexität eines Systems wird daher nicht durch die Zahl der Bausteine, der Atome, Moleküle und Zellen, bestimmt, sondern durch deren strukturelle und funktionelle Integration.364 Aus biologischer Perspektive dient das Zusammenspiel der Teile der Selbsterhaltung, dem Überleben und der Fortpflanzung. Nach der Zerstörung eines Organismus hören die Organe auf zu bestehen und damit auch die Zellen, aus denen sie gebildet waren. Die relative Geschlossenheit eines lebenden Systems beruht daher nicht nur auf der Anpassung an die Umwelt, sondern auch auf dem internen Zusammen-

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spiel der Teilfunktionen. Durch die selbstreferentielle Struktur kehrt ein System immer wieder in denselben Zustand zurück, sodass die Dynamik lebender Systeme durch einen kreisförmig sich wiederholenden, zyklischen Verlauf gekennzeichnet ist. Die Umwelt kann die Entwicklung eines Systems nicht lenken, sondern nur unterstützen oder behindern. Durch diese aus den äußeren Bedingungen unableitbare Eigendynamik ist es nicht nur ein Produkt der äußeren Umstände, sondern kann seinen inneren Zustand auch bei geringfügig schwankenden äußeren Umständen aufrechterhalten. Es gewinnt eine gewisse Unabhängigkeit von den kausalen Einwirkungen der Umwelt, eine Autonomie im buchstäblichen Sinne.365 Zahlreiche biologische Rhythmen, der Hormonspiegel etwa und die Körpertemperatur, werden vom Organismus gesteuert. Lediglich ihre Koordination beruht bis zu einem gewissen Grad auf der Interaktion mit Prozessen in der Umwelt, vor allem auf dem Wechsel von Tag und Nacht. Obwohl sich ein Organismus durch den Rückkoppelungsprozess zwischen Teilen und Ganzem von der Umwelt abgrenzt, ist er nicht unabhängig von ihr, sondern durch den Stoffwechsel auf sie angewiesen. Stoffe, die er in der Umwelt vorfindet, werden auf spezifische Weise verarbeitet und in den Organismus integriert; Abfallstoffe werden wieder an die Umgebung abgegeben. Da das Zusammenspiel der verschiedenen Teilfunktionen den Stoffwechsel übergreift, ist das Verhältnis des Organismus zum Stoff zwiespältig: Einerseits muss ein Organismus, um zu überleben, ständig Material aus der Umwelt aufnehmen; andererseits wird dieses durch den Organismus in spezifischer Weise umgewandelt und integriert. Die formende Kraft des Organismus wäre ohne den Stoff, den er aus der Umwelt aufnimmt, funktionslos; doch dieser wird erst aufgrund der Eigendynamik des Organismus verarbeitet. Obwohl er auf die Umwelt angewiesen ist, ist er nicht vollständig durch sie determiniert. Während bei einer Maschine die Energie, die sie antreibt, nicht in das Material, aus dem sie gebildet ist, integriert wird, ist der lebende Organismus das Erzeugnis seiner eigenen Tätigkeit.366 Die die Zeit überdauernde Einheit eines Organismus beruht daher nicht auf gleich bleibenden Elementen oder einer zugrunde liegenden Substanz; Leben ist kein Zustand, sondern ein unablässiger Prozess der Aufnahme, Transformation und Integration von Stoffen aus der Umgebung. Sobald dieser Prozess aufhört, stirbt ein Lebewesen. Leben gibt es deshalb nur fern vom thermodynamischen Gleichgewicht. Nicht alle physikalischen, aber alle lebenden Systeme sind offene Systeme, die strukturell auf Selbstüberschreitung angelegt sind. Schon die biologische Identität beruht auf der Beziehung zur Andersheit. Wäre jedoch die Bestimmung von Lebewesen als offene Systeme bereits vollständig, wäre die Fähigkeit zu qualifizierten Perzeptionen, die sich im Lauf der Evolution immer deutlicher herausgebildet hat, nur ein Epiphänomen materiel-

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ler Prozesse und könnte das Verhalten nicht beeinflussen. Die Dynamik eines Systems wird zwar durch Funktionalursachen, die der Perspektive des außenstehenden Beobachters zugänglich sind, nicht jedoch durch Absichten und Ziele gelenkt. Seit Descartes und Kant wurde der Begriff des Zwecks mit der Fähigkeit verbunden, selbstständig und rational zu urteilen und auf vernunftbestimmte Wesen beschränkt. Nur sie gelten als frei, ungeachtet ihrer Neigungen und Interessen auf Ziele zu reflektieren und sie zu begründen; die außermenschliche Natur gilt dagegen als kausal und funktional bedingt und damit als unfrei. Wenn sich jedoch die menschliche Form des Bewusstseins aus sehr viel einfacheren Formen entwickelt hat, dann gilt dies auch für zielorientiertes Verhalten. Allein die Geschichte der Hominiden kann mindestens vier Millionen Jahre zurückverfolgt werden. Hatte schon der Neandertaler Selbstbewusstsein oder war er sich nur seiner Gefühle bewusst, ohne auf sie reflektieren zu können? Und über welche Form der Bewusstheit verfügte homo erectus, der unmittelbare Vorläufer des homo sapiens? Und was ist mit jenen Wesen, die vor etwa vier Millionen Jahren durch den Vulkanstaub in Afrika wanderten und ihre Spuren hinterließen oder mit jenen, die vor etwa sieben Millionen Jahren die gemeinsamen Urahnen der heute lebenden Affen und der Hominiden waren? Bei welcher Spezies könnte man einen eindeutigen Schnitt ziehen zwischen einem Verhalten, das noch ein Moment von Intentionalität erkennen lässt und einem, das ausschließlich kausal und funktional erklärbar ist? Berücksichtigt man die Kontinuität zwischen Menschen und Tieren, dann muss zumindest das Verhalten der höheren Tiere vom Vorblick auf Ziele gelenkt und vom Streben nach Bedürfnisbefriedigung motiviert sein.367 Alle höheren Lebewesen reagieren nicht nur auf die ständig wechselnden Reize der Umwelt, sondern verfolgen über lange Zeit und große Widerstände hinweg aus innerem Antrieb ein Ziel. Wird es erreicht, ändern sich auch die Emotionen, die das Verhalten motiviert haben. Erst wenn eine Bewegungsfolge eine Um-Zu-Struktur aufweist, wird sie zum Verhalten oder zu einer Handlung. Rein funktional gesteuerte Prozesse müssen daher von Aktivitäten unterschieden werden, die einem zumindest rudimentären Streben, einer ersten Form von Zielgeleitetheit, entspringen. Sie kommt in dem Moment ins Spiel, in dem ein Organismus die Fähigkeit zu qualifizierten Perzeptionen und eine damit verbundene Sensitivität für die eigene Zuständlichkeit hat, sodass Ereignisse in der Umwelt für sie bedeutsam werden. Während ein Programm oder ein in sich rückgekoppeltes System, wie es auch ein Heizungssystem darstellt, gleichgültig gegenüber seiner Existenz ist, haben schon einfache Organismen eine Sensitivität für den Unterschied zwischen der Befriedigung und der Vereitelung ihrer Bedürfnisse. Das äußere Geschehen löst eine irgendwie geartete qualifizierte Rückmeldung im Inneren aus,

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die bestimmend für das Verhalten wird. Das innere Leben zeigt sich als Reizempfindlichkeit, die zu einem Streben nach oder einer Abwehr von etwas führt. Schon im Kampf ums Überleben und der Anpassung an die Umwelt manifestieren sich nicht nur die Funktionen eines Systems, sondern das vitale Interesse eines Organismus, sein Lebenswille. Nur dadurch kann er auf die andrängende Wirklichkeit so reagieren, dass sein Verhalten seinen Interessen förderlich zu sein scheint. Es gewinnt eine Richtung, es ist gelenkt vom Streben nach Selbsterhaltung. Oft wird das Leben durch den Einsatz aller Kräfte dem Tod vorgezogen. Schon im Verhalten einfacher Organismen drückt sich daher eine erste, noch völlig bewusstlose Bewertung aus: Zu sein ist besser als nicht zu sein, und lebendig zu sein ist besser als unbelebt zu sein. Obwohl es sich noch nicht um rational begründete Werte handelt, ist das Leben bereits für einfache Organismen keine wertneutrale Tatsache. Zumindest ihr eigenes Sein ist ihnen nicht gleichgültig. Andernfalls gäbe es keine Motivation, um Ressourcen und Geschlechtspartner zu konkurrieren, und zu Überleben wäre um nichts besser als zugrunde zu gehen. Erst durch das Streben nach Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung erklärt sich die Bedeutung, die Ereignisse in der Umwelt für einen Organismus haben und die Selektion zwischen verschiedenen Möglichkeiten. Im Streben nach Selbsterhaltung greifen Organismen nicht nur räumlich über sich hinaus; Leben ist ein Prozess, der auch eine zeitliche Ausrichtung hat, die sich von der Vergangenheit in die Zukunft erstreckt. Obwohl das Verhalten eines Organismus durch seine Erfahrungen mitbestimmt wird, überschreitet er diese durch das Streben nach der Erfüllung seiner Bedürfnisse, wie Whitehead beobachtet: „The emotion transcends the present in two ways: It issues from, and it issues forward. It is received, it is enjoyed, and it is passed along, from moment to moment. It is the conjunction of transcendence and immanence.“368 Der Begriff der Ursache muss daher differenziert werden: Während sich dem physikalischen Blick nur die kausale Abfolge von Ursachen und Wirkungen erschließt, erklären Funktionalursachen, wozu eine Bewegung im Systemganzen dient; doch erst wenn man auch die Sensitivität für qualifizierte Unterschiede, mithin ein Moment von Subjektivität, einbezieht, kann man von einer Zielorientierung sprechen, die das Verhalten motiviert. Während systemische Rückkoppelungsprozesse auch in anorganischen Strukturen vorkommen, ist die Sensitivität für Qualitätsunterschiede ein Kennzeichen des Lebendigen. Zielgeleitetheit ist daher nicht nur an Rationalität und Sprache gebunden, sondern drückt sich bereits in Empfindungen und Emotionen aus, die dem Verhalten eine Richtung verleihen. Es handelt sich nicht um eine unreflektierte Übertragung menschlicher Schemata auf andere Kreaturen, solange man um den Unterschied weiß, der auf der Möglichkeit beruht, auf Ziele auch zu reflektieren. Alle Organismen sind, mit

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Whitehead gesprochen, bipolar, eine Einheit psycho-physischer Prozesse, in der Kausalität, Funktionalursachen und Zielgeleitetheit zusammenwirken.

5 Die Evolution des Bewusstseins als Korrelat wachsender Freiheit Hand in Hand mit der physiologischen Komplexität hat sich das Bewusstsein aus kaum wahrnehmbaren Anfängen entwickelt.369 Die differenzierte Reaktionsfähigkeit von Pflanzen ist inzwischen durch empirische Studien gut dokumentiert. Wilder Tabak, der im Südwesten der USA wächst, reagiert auf unterschiedliche Fressfeinde mit verschiedenen Strategien. Zur Abwehr einer Heuschrecke produziert er große Mengen an Nikotin, die das Tier lähmen, sodass es vom Blatt fällt. Gegen eine bestimmte Raupe hilft jedoch Nikotin nicht, sodass die Pflanze Duftstoffe erzeugt, die den Feind ihres Feindes anlocken, eine Wespe, die die Raupe tötet und verspeist. Der Tabak muss ‚merken‘, wer an ihm knabbert. Mimosen, die unter eine Glasglocke gesetzt werden, kann man mit Äther betäuben, durch den auch Menschen bewusstlos werden. Trennt man Teile ihrer Blätter ab, reagieren sie nicht mehr. Dass Pflanzen bei einer Sonnenfinsternis ihre Blütenkelche unterschiedlich schnell schließen, wäre schon für Aristoteles ein Beleg dafür gewesen, dass sie in unterschiedlichem Grad lebendig sind. Außerdem verfügen sie offensichtlich schon über Sensorien, die nicht nur der Reproduktion dienen: Die künstliche Bestäubung durch Pinsel ist längst nicht so effektiv wie die durch Insekten, obwohl der Mechanismus, wenn man ihn isoliert betrachtet, derselbe ist; die Fruchtbarkeit von Pflanzen, deren Blüten noch nach der Befruchtung von Insekten angeflogen und ‚bekrabbelt‘ wurden, ist höher. Die Bewegung der Selbstüberschreitung als Bedingung der Selbsterhaltung ist zweiseitig: Indem ein Organismus durch etwas berührt wird, empfindet er seine eigene Zuständlichkeit; gleichzeitig wird durch den Reiz hindurch die Umgebung gespürt. Die Umwelt wird im Licht des eigenen Befindens erschlossen; dieses klärt sich wiederum in der Auseinandersetzung mit der Umwelt. Jeder Organismus ist daher tätig und leidend zugleich. „In der Affektion durch ein Fremdes fühlt das Affizierte sich selbst; seine Selbstheit wird erregt und gleichsam beleuchtet gegen die Andersheit des Draußen und hebt sich so in ihrer Vereinzelung ab.“370 Durch die Sensitivität für die eigene Zuständlichkeit ist die äußere Welt in der inneren als Datum für Bedürfnisse und Ziele gegenwärtig; qualifizierte Empfindungen lösen wiederum bestimmte Verhaltensweisen aus, die die Umwelt beeinflussen. Dadurch sind für Organismen, so haben wir bei Cusanus, Leibniz und Whitehead gesehen, innere wie äußere Relationen konstitutiv.

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Die aus kausal und funktional wirkenden Faktoren unableitbare Fähigkeit, aufgrund qualifizierter Perzeptionen das Verhalten zu lenken, bezeichnen Jonas und Whitehead als „Freiheit“371. Wie alle Formen des bewussten Lebens hat auch sie eine Vorgeschichte, die bis in die Anfänge des Lebens zurückreicht. Die Eigendynamik von Organismen gewinnt allerdings in den verschiedenen Seinsstufen eine je andere Funktion, mit der sich der Verhaltensspielraum qualitativ verändert. Auf der niedrigsten Ebene besteht sie nur darin, dem auf Selbsterhaltung ausgerichteten Vollzug der vitalen Lebensfunktionen aufgrund qualifizierter Perzeptionen eine Richtung zu verleihen. Jonas spricht von einem „Verhältnis bedürftiger Freiheit“372 zu den Stoffen, die ein Organismus benötigt. Doch schon um zu überleben, muss er zwischen verschiedenen Möglichkeiten in seinem Umfeld unterscheiden und sich einer von ihnen zuwenden. Nur wenn sich die Sensitivität nicht auf alle erreichbaren Objekte zerstreut, sondern sich auf den Gegenstand fokussiert, der die größte Relevanz hat, lassen sich Schädliches und Nützliches unterscheiden. Eine erste Form von Aufmerksamkeit ist die Grundlage für die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Reizen auszuwählen. Diese wirken nicht kausal, sondern aufgrund ihrer Bedeutung für den Lebensvollzug. „Concentrated attention“, so bemerkt Whitehead, „means disregard of irrelevancies; and such disregard can only be sustained by some sense of importance. Thus the sense of importance (or interest) is embedded in the very being of animal experience.“373 Indem sich die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt richtet, gewinnt es klarere Konturen. Dadurch wächst die Unabhängigkeit vom Einfluss anderer Reize, die wirkungslos bleiben. Auf diese Weise entsteht ein Rückkoppelungsprozess: Mit der Freiheit vom Einfluss anderer Reize wächst die Fähigkeit, sich etwas Bestimmtem zuzuwenden, sich mit einer ersten Form der Neugier in einen Gegenstand zu vertiefen, ihn spielerisch zu erkunden. Durch Lernprozesse nimmt wiederum die Fähigkeit, sich Unbekanntem zuzuwenden, zu. In dem Maß, in dem die anfänglich völlig diffuse Sensitivität für Reize strukturierter und differenzierter wird, entwickeln sich auch empfindlichere Sinnesorgane; das Nervensystem konzentriert sich in einem zentralen Organ, dem Gehirn, das die unterschiedlichen Erfahrungen integriert; das Empfinden von Schmerz und Lust wird intensiver; die Selbstwahrnehmung wächst mit der Erweiterung des Lebenshorizontes. Hand in Hand mit der Evolution des Bewusstseins nimmt die Eigenständigkeit der Reaktion auf die Umwelt, die Freiheit, aus innerer Motivation Ziele zu verfolgen, zu. „Die Entwicklung und Steigerung dieser Selbständigkeit oder Freiheit“, so Jonas, ist „das Prinzip allen Fortschritts in der Entwicklungsgeschichte des Lebens, das in seinem Verlauf weitere Revolutionen zeitigt, jede ein neuer Schritt in der eingeschlagenen Richtung, d. h. die Öffnung eines neuen Horizontes der Freiheit.“374

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Auch bei Menschen ist, trotz einer biologisch bedingten Grunddisposition, die Fähigkeit, sich auf etwas zu konzentrieren, nicht einfach vorhanden; sie muss in der Kindheit erlernt und zeitlebens immer wieder eingeübt werden. Wie lange Menschen die Aufmerksamkeit auf etwas richten und buchstäblich bei der Sache bleiben können, hängt maßgeblich vom Lebensstil ab. Je besser man sich in etwas vertiefen kann, desto mehr treten andere Reize in den Hintergrund und werden kaum noch wahrgenommen. Die Unfähigkeit zur Konzentration dagegen führt zu dem Gefühl, Einflüssen hilflos ausgesetzt zu sein, von Reizen überflutet und ständig überfordert zu sein. Die Gefahr, tatenlos zu verharren und manipuliert zu werden, wächst.375 Jeder Organismus vollzieht den Prozess von Selektion und Integration unter einmaligen Bedingungen. Mit ihm verändern sich nicht nur die Erfahrungen, die ein Organismus macht, sondern auch die Beziehungen, die ihn mit dem Umfeld verbinden. Nicht nur die faktisch vorhandenen Relationen, sondern auch der Spielraum an Möglichkeiten, dessen, was noch werden kann, verändern sich. Lernprozesse, die schon bei einfachen Organismen wie Regenwürmern beobachtbar sind, führen zu Verhaltensänderungen, die sich auch auf die Umwelt auswirken.376 Durch die Eigenaktivität von Organismen, die mit ihren Bedürfnissen und Präferenzen ein Moment der Naturgeschichte sind, ist der Weltenlauf, anders als Laplace dachte, nicht berechenbar. Durch ihre psychophysische Konstitution und das mit ihr verbundene Verhältnis zu komplexen Umwelten mit sich ändernden Möglichkeiten unterscheiden sich alle Kreaturen voneinander. Ungeachtet eines artspezifisch bedingten Rahmens von Verhaltensmöglichkeiten ist jedes Lebewesen, wie Leibniz und Whitehead betont hatten, einzigartig; es ist eine „selbstzentrierte Individualität, für sich seiend und in Gegenstellung gegen die übrige Welt, mit einer wesentlichen Grenze zwischen Innen und Außen.“377 Je differenzierter das Verhalten ist, desto deutlicher prägt sich der individuelle Charakter auch für andere erkennbar aus. Alle höheren Tiere, so betont Portmann, „zeigen Individualität im Verhalten, Auslese, Abneigung und Bevorzugung im Leben unter Artgenossen.“378 Sogar eineiige Zwillinge, die dieselben Gensequenzen besitzen, unterscheiden sich schon biologisch durch die Aktivierungsmuster ihrer Gene zumindest geringfügig voneinander. Mit dem Tod sterben die individuellen genetischen Kombinationen wieder aus. Lediglich die erworbenen Erfahrungen können tradiert werden. Der Versuch, Hunde, Katzen oder gar Kinder zu klonen, ist daher sinnlos: Trotz genetischer Identität werden sie eine andere Lebensgeschichte haben als ihr Vorgänger, dessen Kopie sie sein sollen. Dass die Eigenaktivität von Lebewesen evolutionäre Veränderungen auslösen kann, wird als Baldwin-Effekt379 bezeichnet. Einerseits selektiert die Umwelt bestimmte Individuen, andererseits wählen diese aktiv die Lebensbedingungen

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aus, die ihren Bedürfnissen entgegenkommen. Zumindest bei höheren Lebewesen sind Neugier und das Streben nach Wohlbefinden entscheidend für die Erschließung ihrer Umwelt. In einer neuen Nische kann eine andere Gruppe von Genen aktiviert werden und zum Überleben beitragen. Viele Arten sind Zivilisationsfolger: Sie nutzen die von Menschen angelegten Lebensräume, um ihre Bedürfnisse leichter und besser zu befriedigen. Auch die Menschen greifen schon seit mehreren Jahrtausenden mit ihren Zielen in den Evolutionsprozess ein, indem sie aus Gräsern Getreide und Nutz- und Haustiere aus ihren wilden Vorfahren gezüchtet haben. Der genetische Code ist kein Programm, das unabhängig von der Lebensweise und der Interaktion mit der Umwelt abläuft. Er steuert nur den strukturellen Aufbau eines Lebewesens, ob es sich zu einer Nachtigall oder Amsel entwickelt und bestimmt so den Rahmen von Eigenschaften und Fähigkeiten. Epigenetische Faktoren, zu denen das chemische Milieu im Mutterleib, Stress und der kulturell und individuell geprägte Lebensstil gehören, bestimmen, welche Gensequenzen in welcher Weise aktiviert werden. Nachgewiesen wurde inzwischen, dass sogar die Wahl bestimmter Nahrungsmittel die Aktivierungsmuster der Gene beeinflusst und über Gesundheit und Krankheit mit entscheidet. „Fehlt PTEN [eine Erbanlage, die als Tumor-Suppressorgen bekannt ist, R. K.] oder ist es ausgeschaltet, kann dies Prostatakrebs auslösen und den Fortschritt der Tumorerkrankung fördern. Bei krebsanfälligen Zellen ohne PTEN führt das Senföl jedoch zu Veränderungen der Genaktivität, die für den nahenden Zelltod charakteristisch sind. Der Vergleich mit Mäusen und menschlichem Prostatagewebe legt nahe, dass ähnliche Veränderungen bei Menschen durch brokkolireiche Ernährung ausgelöst werden könnten.“380 Zwillingsstudien deuten darauf hin, dass die Chance auf ein langes Leben nur zu etwa 25 Prozent durch die genetische Ausstattung beeinflusst ist. „Ausschlaggebend für den stetigen Anstieg der Lebenserwartung in der Vergangenheit seien sicher nicht genetische Faktoren, sondern ein allgemeiner Anstieg im Lebensstandard.“381 Nicht nur chemische Substanzen, sondern auch Ziele und Werte beeinflussen die Aktivierungsmuster der Gene. Inzwischen deutet vieles darauf hin, dass diese sogar vererbt werden können und sich damit auf die physische Konstitution der nächsten Generationen auswirken. Dadurch wird die einsinnige Richtung der Beeinflussung von den Genen zum Phänotyp durch die umgekehrte Richtung ergänzt und ein materialistischer Reduktionismus ausgeschlossen. Obwohl die Organismen die Evolution nicht bewusst vorantreiben, bestimmen sie durch ihr Verhalten, ihre Präferenzen und Erfahrungen die Richtung des evolutionären Wandels mit. Lebensgewohnheiten werden zwar nicht, wie Lamarck glaubte, unmittelbar vererbt; dennoch können Verhaltensweisen zu erblichen physiologischen Veränderungen führen.

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Jeder Organismus ist in seiner Aktivität einerseits bedingt durch die äußeren Umstände und die Vergangenheit, die den Rahmen des Möglichen einschränken; − andererseits muss er, um sich zu erhalten, Stoffe und Informationen selektiv aus der Umgebung aufnehmen und integrieren. Betrachtet man einen Organismus nur unter der Perspektive der dritten Person, dann treten nur die bedingenden Faktoren in den Blick; berücksichtigt man jedoch auch die Fähigkeit zu qualifizierten Perzeptionen, erscheint das Verhalten als zielgeleitet. Um Lebewesen zu beschreiben, muss man daher die Reaktionen auf die Herausforderungen der Umwelt ebenso wie Aktionen, die durch Bedürfnisse motiviert werden, berücksichtigen. Einerseits passen sich Lebewesen unter dem Druck der Umstände an die Umgebung an; andererseits folgen sie Zielen und verändern die Umwelt so, dass sie zu ihren Bedürfnissen passt und ihnen Sicherheit und Befriedigung gewährt. Die Evolution lässt sich daher nur durch die Interaktion von Kausal-, Funktional- und Finalursachen verstehen. Nur in seiner Struktur genetisch festgelegt ist auch der Aufbau des Gehirns. Es gleicht keinem Schaltkasten mit einem festgelegten Set an Leitungen, sondern ist ein plastisches Organ, das sich durch den unablässigen Austausch mit dem Umfeld zeitlebens entwickelt und verändert. Unter dem Einfluss wechselnder Anforderungen bilden sich neue neuronale Verknüpfungen, andere werden bei Nichtgebrauch wieder abgebaut. Offensichtlich können sich sogar noch neue Neuronen bilden. Dadurch ist schon das Verhalten von vergleichsweise einfachen Lebewesen nicht vollständig genetisch determiniert, sondern auch an Erfahrungen gebunden. Ab einer gewissen Komplexität müssen sie durch Nachahmung an Jungtiere weitergegeben werden, damit diese die notwendigen Überlebensstrategien erwerben. Bei Menschen kommt zum Lernen durch Erfahrung und Nachahmung noch die symbolische Vermittlung von Wissen hinzu. Durch die Weitergabe von Erfahrungen, die an Individuen gebunden sind, entwickeln sich Traditionen, die nur für eine bestimmte Gruppe einer Art kennzeichnend sind. In dem Maß, in dem die biologische Determination des Verhaltens abnimmt, gewinnt die Tradierung individuell erworbenen Wissens an Bedeutung. Immer stärker müssen die Individuen sich selbst orientieren, Informationen auswählen und Kompetenzen erwerben. Die bei einfachen Organismen noch völlig bewusstlose Unterscheidung zwischen dem, was für das eigene Leben förderlich ist und dem, was es vernichten könnte, trägt den Keim zu einem erweiterten Verständnis von Freiheit in sich. Mit der Fähigkeit, sich selbstständig im Raum zu bewegen und die Umgebung sinnlich wahrzunehmen, erweitert sich der Spielraum des Verhaltens gegenüber Pflanzen entscheidend. Die einfachste Form tierischer Verhaltenssteuerung beruht auf instinktivem Verhalten; es muss, so definiert Scheler, „erstens sinnmäßig sein, d. h. so sein, daß es für das Ganze des Lebensträgers selbst, seine Ernäh-

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rung sowie Fortpflanzung, oder das Ganze anderer Lebensträger teleoklin ist. Und es muß zweitens nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen.“382 Der Instinkt dient dem Überleben der Art und ist angeboren; er wird nicht erlernt, sondern stereotyp bei allen Individuen einer Art durch bestimmte Reize ausgelöst. Durch Dressur und Lernprozesse lässt er sich höchstens verfeinern, nicht jedoch in seiner Verlaufsstruktur modifizieren. Er bildet keinen Gegensatz zu Gefühlen und Bewusstsein, sondern formt und prägt sie. Da jedoch komplexe ökologische und soziale Umwelten die Leistungsfähigkeit präformierter Instinktlösungen schnell überfordern, begegnet man fast nirgendwo ausschließlich angeborenen Verhaltensmustern. Sobald die Instinktgebundenheit aufgebrochen wird, tritt ein Lebewesen aus der Artgebundenheit heraus und gewinnt individuelle Züge. Eine erste Form des Gedächtnisses entsteht, indem sich zwischen Empfindungen eine assoziative Verknüpfung bildet. Es beruht auf dem von Pawlow so benannten bedingten Reflex: Ein Hund sondert nicht nur Magensäfte ab, wenn er frisst; es genügt, dass er die Geräusche oder Gerüche wahrnimmt, die gewöhnlich auftreten, wenn er Futter erhält. Regelmäßig zusammen auftretende Ereignisse werden so verkettet, dass eine Gewohnheit entsteht, die sich nur schwer verändern lässt. Ähnliche Situationen werden so lange quasi-mechanisch immer wieder dasselbe Verhaltensmuster auslösen, bis es durch neue, stärkere Erfahrungen überlagert wird. Nicht nur genetische Programme, sondern die Qualität gefühlter Bedürfnisse, Erfahrungen, Intelligenz und individuelle Geschicklichkeit beeinflussen zunehmend die Beziehungen zur Umwelt. Durch Versuch und Irrtum werden neue Verhaltensmuster erprobt, die die Erfüllung der Bedürfnisse wahrscheinlicher machen. Vitale Bedürfnisse wie Hunger und Durst, aber auch Emotionen wie Angst, Wut oder Sehnsucht überbrücken den zeitlichen Abstand zwischen Gegenwart und Zukunft. Sie bilden das Motiv, ein Ziel über längere Zeit und große Entfernungen hinweg zu verfolgen. Manchmal werden leicht zugängliche Ziele zugunsten von schwerer erreichbaren, aber attraktiveren Zielen übergangen. Die Wahrnehmung des eigenen Zustandes, die jeweilige Stimmung, bestimmt das Verhältnis zur Umwelt und damit auch die Reaktion anderer Lebewesen. Hat ein Löwe Hunger, wird er versuchen, eine Beute zu finden; ist er satt, kann eine Antilopenherde unbehelligt in nächster Nähe grasen. Dem Verlust an Unmittelbarkeit im Bezug zur Umwelt entspricht die Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit und des Verhaltensspielraums. „Die Kluft zwischen Subjekt und Objekt,“ so beobachtet Jonas, „die Fernwahrnehmung und weiter Bewegungsradius aufrissen und die sich in der Schärfe von Begierde und Angst, von Befriedigung und Enttäuschung, von Genuß und Schmerz widerspiegelt, sollte sich nie wieder schließen. Aber in ihrer wachsenden Weite fand die Freiheit des Lebens Raum für alle jene Weisen der Beziehung − wahrnehmende, tätige und

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fühlende −, welche die Kluft im Überspannen rechtfertigen und auf Umwegen die verlorene Einheit wiedergewinnen.“383 Je höher der Grad an Bewusstheit ist, desto leichter werden neue Gewohnheiten gebildet und Verhaltensweisen von Artgenossen oder sogar Mitgliedern anderer Arten imitiert. Der Gegensatz zwischen Angeborenem und Erlerntem hat sich daher inzwischen nicht nur in Hinblick auf den Menschen als überholt erwiesen.384 Auch bei höheren Tieren entwickeln sich biologisch angelegte Strukturen nicht automatisch durch Umweltreize. Fertigkeiten müssen auf dem Weg des Zeigens an den Nachwuchs weitergegeben und eingeübt werden. In ihren Studien über die Kommunikationsformen frei lebender Grüner Meerkatzen fanden Robert Seyfarth und Dorothy Cheney heraus, dass die Jungtiere lernen müssen, welche Rufe auf Feinde wie Leoparden, Adler und Schlangen anzuwenden sind. Sie müssen eine Art Kategoriensystem erwerben. Zunächst wenden junge Meerkatzen den Adlerruf auf alles an, das fliegt. Da die älteren Meerkatzen nur dann auf die Rufe reagieren, wenn sie sich auf einen Raubvogel beziehen, lernen die jungen Meerkatzen, dem Alarmruf eine bestimmte Bedeutung zu verleihen. Erst durch die Interaktion mit dem sozialen Umfeld wird der Ruf mit einem bestimmten Inhalt verknüpft und gewinnt eine intentionale, auf ein bestimmtes Objekt verweisende, Struktur. Das Verhalten der anderen Gruppenmitglieder zeigt, dass sie seine Bedeutung verstehen. Das „soziale Lernen [bezeichnet] eine Verhaltensänderung, die das Resultat der Interaktion mit Gruppenmitgliedern ist. Solche Verhaltensänderungen können an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Das bedeutet, dass sich bei Tieren nicht nur ein genetisches System der Vererbung findet, sondern auch ein nicht-genetisches Vererbungssystem für Verhaltensmuster.“385 Je größer das Verhaltensspektrum eines Lebewesens ist, desto weniger lernt es nur unter dem Druck der Umstände. Indem es die eigenen Möglichkeiten und die der Umgebung neugierig und spielerisch erkundet, entdeckt es neue Lebensmöglichkeiten, die von Artgenossen imitiert werden können. Nicht nur junge Tiere üben spielerisch Bewegungsabläufe ein, die sie später brauchen, um zu überleben, auch erwachsene Tiere, Bären etwa und Affen, untersuchen fremdartige Gegenstände in ihrer Umgebung und erproben systematisch, was man mit ihnen machen kann. Haustiere wie Hunde und Katzen zeigen Erkundungs- und Neugierverhalten, sobald sich ihre vertraute Umgebung verändert. „Unter Neugierverhalten wird das gerichtete und zielstrebige Aufsuchen von Unbekanntem verstanden, das mit vorsichtigem Annähern, Untersuchen und Ausprobieren neuer Orte, Objekte, Situationen oder Partner verbunden ist. Neugierverhalten kann aus Erkundungsverhalten hervorgehen und fließend in Spielverhalten übergehen. Der Informationsgewinn ist beim Neugierverhalten, anders als beim bloßen Erkundungsverhalten, mit Manipulationen verbunden,

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was sich im Beriechen, Berühren, Belecken oder Beknabbern von Objekten, Scharren in Erde oder Schnee und Wühlen im Boden oder in der Einstreu äußern kann. Tiere, die in sozialen Gruppen leben, erkunden ein neues Objekt oder eine neue Umgebung gemeinsam, wobei der Individualabstand geringer als üblich ist.“386 Auch Menschenkinder lernen vieles zunächst spielerisch: Sie trainieren ihre körperliche Geschicklichkeit, die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, üben bestimmte Handlungsabläufe und soziale Rollen ein. Das Spiel, so betont Piaget, ist eine elementare Form des Denkens, in dem die Wirklichkeit an das Ich assimiliert wird. Dadurch wird es zu einer Brücke zwischen der Vorstellung von einer Handlung und deren unmittelbarem Vollzug, zwischen den Anforderungen einer Situation und den Auswirkungen des eigenen Tuns und erleichtert so die Entscheidung, ob man sich auf eine Handlung einlassen will. Motiviert werden Neugier und Spieltrieb durch Emotionen, die als Ausdruck von Lebensfreude und Unbeschwertheit erscheinen. In der Funktionalität des Spiels äußert sich ein Überschuss an Ausdrucksverhalten, der sich nur mit Mühe rein funktional durch biologische Nützlichkeit erklären lässt, sondern auch um seiner selbst willen erstrebt wird. Sobald die Wahrnehmung der Welt und das Selbstempfinden eine gewisse Klarheit erreicht haben, beruht das Verhalten auf einer echten Wahl zwischen Alternativen. Die Bewältigung neu auftretender Anforderungen ohne vorangehende Erfahrungen und Imitation fordert bereits das Erfassen von Zusammenhängen. Wahlfreiheit erscheint als Mittel, um innerlich gefühlte vitale und emotionale Bedürfnisse und äußere Lebensumstände ohne Probierversuche aufeinander abzustimmen. Menschenaffen, die vor einem Labyrinth sitzen, in dem eine begehrte Süßigkeit liegt, probieren nicht wahllos verschiedene Wege aus; nachdem sie das Labyrinth eine Weile betrachtet haben, entscheiden sie sich für den Weg, der die Süßigkeit zielsicher zum Ausgang leitet. Da die Situation neu ist, kann man das Verhalten nicht mehr durch Instinkte, Dressur und Nachahmung erklären. Es beruht auf einem aus der Anschauung folgenden Verständnis der Situation, gepaart mit einem emotionalen Anreiz. Schon Tiere, so beobachtete Aristoteles, handeln freiwillig, aus innerem Antrieb und ungezwungen durch die äußeren Umstände. Höher entwickelte Tiere sind bereits zu einer gewissen Abstraktion fähig, sodass sie Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Objekten erkennen, sich unterschiedliche Lösungen eines anschaulich gegebenen Problems vorstellen und anschließend die Methode auf ähnlich gelagerte Probleme übertragen können. Mit der wachsenden „schöpferischen Freiheit“387 nimmt allerdings auch die Möglichkeit des Irrtums zu, weil komplexe Zusammenhänge ohne instinktive Sicherung und eingespielte Routinen bewältigt werden müssen. Schon die Lebenssicherung fordert

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daher „Wachheit und Bemühung, während pflanzliches Leben schlummern kann.“388 Noch werden Probleme allerdings nicht aus theoretischem Interesse gelöst, sondern um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dazu verwenden und erfinden höhere Tiere bereits einfache Werkzeuge. Schimpansen etwa benutzen Steine und Äste zum Aufbrechen von Nüssen; in Gefangenschaft kann man ihnen beibringen, Feuersteinsplitter herzustellen. Die Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch wird − wie bei einem ein- bis zweijährigen Kind − durch die erforschende Manipulation eines Gegenstandes erworben, ohne dass jedoch die Gesetze verstanden werden, aufgrund derer ein Werkzeug funktioniert. Im Gefolge der cartesischen Tradition wurde Intentionalität auf die Beziehung zwischen Denken und Gedachtem beschränkt. Auch Propositionen sind begrifflich strukturiert und setzen die Beziehung eines Sprechers, der zur Selbstreferenz fähig ist, auf ein Objekt voraus. Doch schon höhere Tiere können ein Objekt so erfassen, dass sie sinnvoll und zielgeleitet mit ihm umgehen können. „So können Tiere assoziativ lernen oder kausale Schlüsse ziehen, solange es sich darum handelt, dass sie selbst die Dinge in der Welt manipulieren, sie können aber nicht durch Beobachtung an anderen (d. h. allozentrisch) lernen, Kausalreaktionen zu erkennen.“389 Auch das Verhalten von Kleinkindern im vorsprachlichen Alter dokumentiert, dass es Formen des Erkennens, der Willensbekundung und des intentionalen Verhaltens gibt, die nicht an begriffliches Denken und Sprechen gebunden sind. Auch sie verfügen bereits über Vorstellungen, die es ihnen erlauben, sich auf ein Objekt zu beziehen, um etwas Bestimmtes mit seiner Hilfe zu erreichen. Sind die Vorstellungen inadäquat, werden die Emotionen und das von ihnen motivierte Verhalten das Ziel verfehlen. Fehleinschätzungen bewirken eine Korrektur des Verhaltens und der ihm zugrunde liegenden Vorstellung. Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch die kognitive Archäologie, die anhand fossiler Funde auf geistige Prozesse der Vorfahren von homo sapiens schließt, „die sich zwar Gedanken gemacht, aber nicht viele Worte verloren haben dürften.“390 Würde man Zielgeleitetheit an Rationalität, Begriffsvermögen, Selbst- und Zeitbewusstsein binden, bliebe nicht nur die intentionale Struktur von Emotionen unberücksichtigt, sondern auch die Kommunikation zwischen Tieren und zwischen Tieren und Menschen, in der sie sich auf ein Gegenüber beziehen und ihm etwas mitteilen. Schon Hunde verstehen Zeigegesten und versuchen ihrerseits, ihre Besitzer durch Laute, Scharren oder Hin-und Herlaufen auf etwas aufmerksam zu machen. Schimpansen und Kolkraben folgen der Blickrichtung; sie merken, wenn sie imitiert werden und spüren die Absicht ihres Gegenübers. Doch weder die genetische Abstammung, die homo sapiens in die unmittelbare Nähe der Menschenaffen rückt, noch die Struktur des Gehirns genügen,

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um die Entwicklung geistiger Fähigkeiten zu erklären. Nahezu dieselben kognitiven Fähigkeiten können mithilfe unterschiedlicher Gehirne und in weit auseinander liegenden genetischen Abstammungslinien auftreten. Lange Zeit hielt man Vögel für dumm, weil sie ein völlig anders geartetes Gehirn haben als die großen Menschenaffen und die Hominiden und uns genetisch längst nicht so nahe stehen wie diese. Inzwischen weiß man jedoch, dass vor allem Rabenvögel fast dieselbe Intelligenz besitzen wie die großen Menschenaffen. Die neukaledonischen Krähen stellen Werkzeuge her, um nach Maden in der Baumrinde zu angeln und übermitteln den Jungtieren diese Fertigkeiten, die sie einüben müssen. Kolkraben können sich in die Perspektive eines Gegenübers versetzen und sich in ihrem Verhalten darauf einstellen. Es gibt jedoch noch keinen Newton unter ihnen: Sie interessieren sich dafür, wie man es erreicht, dass Nüsse von Bäumen fallen und wie man sie öffnen kann, nicht jedoch dafür, warum das so ist. Offensichtlich verfügen sie noch nicht über ein abstraktes Verständnis von Ursache und Wirkung, das die Grundlage theoretischer Abstraktion, der Einsicht in Gesetze, Prinzipien und Regeln ist. Mit der spezifisch menschlichen Form des Bewusstseins ändert sich daher die Bedeutung von ‚Freiheit‘ noch einmal: Der Geist, so schreibt Wilson, der in der ganzen Natur gegenwärtig ist, wendet sich beim Menschen auf sich selbst zurück. „Das Leben [ist] durch den Geist des Menschen zur Selbsterkenntnis gelangt.“391 Menschen haben, so betonte schon Leibniz, nicht nur Bewusstsein, sondern auch Selbstbewusstsein. Zwar zeigen neuere Studien, dass schon die großen Menschenaffen die Schwelle zum Selbstbewusstsein überschreiten. Der Bewusstseinszustand von Schimpansen entspricht jedoch nur dem eines zweibis vierjährigen Kindes. Das, was sie wollen, fühlen und tun, ihr eigenes Innenleben also, können sie offensichtlich noch nicht aus einer inneren Distanz betrachten und, wie mündige Menschen, aus Einsicht in Gründe kritisieren und korrigieren. Erwachsene Menschen können sich bewusst an das erinnern, was sie getan haben und sich Ziele vorstellen, die sie erreichen wollen. Und sie können sich in andere hineinversetzen, deren Motive und Gefühle verstehen und im Medium von Symbolen darüber kommunizieren. Durch die Fähigkeit, sich vom eigenen Erleben zu distanzieren, können Menschen die Welt auch unabhängig von ihren Bedürfnissen und Emotionen zum Gegenstand des Erkennens und Handelns machen. Sie sind, wie Plessner schreibt, exzentrisch organisiert, oder, wie Scheler formuliert, weltoffen. Ein Blick auf die Genese von homo sapiens enthüllt eine interessante Konvergenz paläontologischer und philosophischer Überlegungen: Seit homo sapiens vor etwa 50 000 Jahren nach Europa kam, dokumentieren die Funde eine neue Dynamik in der Erzeugung von Artefakten. Die Menschen erlebten nicht einfach die Welt und ihre Bedürfnisse, sondern schufen symbolische Formen, in

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denen sie ihr Erleben interpretieren und in seinen prägnanten Merkmalen für andere erkennbar darstellen konnten. Sie bemalten Höhlen, stellten Skulpturen, Flöten und Schmuck her, entwickelten Riten, um die Toten zu bestatten und erfanden komplizierte Werkzeuge. In relativ kurzer Zeit entstand ein ganzer Komplex neuer Ausdrucksformen, der das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt grundlegend verändert hat. „Unsere Kreativität“, so formuliert der Paläontologe Ian Tattersall, „beruht darauf, daß wir mentale Symbole zu schaffen vermögen. Erst die Kombination symbolischer Inhalte nämlich ermöglicht Fragen wie: ‚Was ist, wenn . . .?‘“392 Die Frage, was ein Gegenstand ist, welche Folgen eine Handlung haben wird und wozu man etwas tun sollte, setzt voraus, dass etwas in seinen allgemeinen Zügen erkannt und in einen kausalen, raum-zeitlichen Zusammenhang eingeordnet werden kann. Durch das Reflexionsvermögen können Menschen ihre Motive und Handlungen im Licht von Zielen, rationalen Argumenten und ethischen Prinzipien beurteilen. „Wir können sagen“, so schreibt Cassirer, „daß allein der Mensch eine neue Form der Intelligenz ausgebildet hat: eine symbolische Phantasie und eine symbolische Intelligenz.“393 Sie wird zur Grundlage für die Genese einer eigenen Lebenssphäre: der Kultur. Als ‚animal symbolicum‘ erzeugt der Mensch die Kultur als das Medium, in dem er lebt. Es wäre jedoch falsch, Natur und Kultur als zwei voneinander unabhängige Lebensbereiche anzusehen: Weder sind die Natur und der menschliche Körper die durch Naturgesetze bestimmte invariante Basis der kulturellen Entwicklung noch sind sie bloß eine kulturelle Konstruktion. Schon als biologisches Wesen ist der Mensch Teil der Kultur; und nur aufgrund seiner biologischen Ausstattung kann er die Kultur entwickeln. Einerseits ist die Form, in der biologische Bedürfnisse, etwa Hunger, Sexualität und Schutz, befriedigt werden, kulturell vermittelt. Überall auf der Welt sind Geburt, Heirat und Tod in symbolische Formen eingebettet; sie werden nicht nur erlebt, sondern in ihrer Bedeutung interpretiert. Auch die körperliche Erscheinung wird schon seit Jahrtausenden durch den Lebensstil beeinflusst. Andererseits haben geistige Fähigkeiten eine biologische Grundlage. Biologische, kulturelle und individuelle Dimensionen des Lebens greifen ineinander. Nur aufgrund seiner genetischen Ausstattung kann ein Menschenkind sprechen lernen. Das biologische Potenzial wird jedoch nur aktiviert, indem es in den ersten Lebensjahren in eine konkrete Sprachgemeinschaft hineinwächst, angesprochen wird und antworten kann. Dass sich der Spracherwerb nicht auf die Vermittlung von Informationen reduzieren lässt und durch Computerprogramme eingeübt werden kann, zeigt sich daran, dass Kinder schneller und besser sprechen lernen, wenn man mit ihnen redet und ihnen etwas vorliest. Dabei ist es weniger entscheidend, ob sie die Bedeutung der Worte schon verstehen, als

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vielmehr, dass man in vollständigen Sätzen und klar artikuliert mit ihnen spricht. Wird ein Kind in den ersten Jahren nicht angesprochen, verliert es die Fähigkeit, überhaupt noch richtig sprechen zu lernen. Das zeitliche Fenster, in dem die Sprachentwicklung möglich ist, wird durch ein genetisches Programm gesteuert. Ist es geschlossen, dann kann ein Mensch aus biologischen Gründen nicht mehr sprechen lernen. Trotz unterschiedlicher Muttersprachen verfügen alle Kinder am Anfang über eine Universalsensibilität für Sprachlaute und eine Art Universalgrammatik. Obwohl sie offensichtlich schon im Mutterleib die Klangfarbe der Sprache der Mutter aufnehmen und später wiedererkennen, erfolgt die Spezialisierung auf eine Sprache erst im elften Monat. Die konkrete Sprache, die sie nun lernen, ist weder genetisch determiniert noch kann die Bedeutung der Worte von den Dingen abgeleitet werden. Sie beruht auf der kulturell vermittelten Intention, unter der etwas betrachtet und gedeutet wird. Die Worte repräsentieren die Vorstellungen, die Menschen von einem Objekt haben. Doch nur wenn ein Kind sich die Worte selbstständig aneignet und mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten experimentiert, wird es irgendwann eine Sprache so beherrschen, dass es sich differenziert in ihr ausdrücken und in zahllosen Kontexten mit anderen kommunizieren kann. Dabei vollzieht sich immer wieder eine geringfügige Transformation des Bedeutungsgehaltes. Indem sich in der Sprache die Erfahrungen einer Kultur verdichten, gewinnt sie eine historische Dimension, die durch die Individuen zum Leben erweckt und modifiziert wird. Sprache, so hat W. v. Humboldt gesagt, ist ergon und energeia, überlieferte Form und Ausdruck von Tätigkeit zugleich. Nicht nur bei der Sprache greifen genetisch Vererbtes, kulturell Erworbenes und individuell Praktiziertes ineinander, sondern auch bei sozialen Verhaltensmustern und Erkenntnisstrukturen. Viele kognitive Strukturen reifen nach einem genetisch festgelegten zeitlichen Programm; damit es dazu kommt, sind sie jedoch in einer sensiblen Phase auf Anregungen aus der Umwelt angewiesen, ohne die sie verkümmern würden. Ohne die biologische Konstitution wäre die Entwicklung der Kultur unmöglich und doch lässt sich ihre Dynamik nicht aus der der Natur ableiten. Einerseits wird sie von Menschen durch symbolische Akte erzeugt; andererseits ist sie das Medium, in dem sich die genuin menschlichen Fähigkeiten erst entwickeln. Fast scheint es, als könnte man im Sinne der Systemtheorie von einem Rückkopplungsprozess sprechen. Doch auch in diesem Fall ist der Begriff der Intention unverzichtbar: Erst durch sie gewinnen Ereignisse eine Bedeutung, die sich aus ihrem bloßen Vorhandensein nicht ableiten lässt. Wasser erscheint dem Chemiker unter einer völlig anderen Perspektive als dem Verdurstenden oder dem Künstler, der seine ästhetische Wirkung darstellt. Nicht physikalische Effekte oder funktionale Rückkoppelungspro-

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zesse, sondern die Bedeutung bestimmt, wie etwas intellektuell, emotional und sinnlich erfahren wird und entscheidet damit auch über die Art und Weise zu handeln. Obwohl die Begriffe der Intentionalität und des symbolischen Ausdrucks nicht im Sinne der naturwissenschaftlichen Methode objektivierbar sind, kann man ohne sie die Beziehung der Menschen zur Welt nicht verstehen. Ändert sich die Blickrichtung, die die einzelnen Akte der Symbolisierung zu einem kohärenten Interpretationszusammenhang verknüpft, dann ändern sich auch die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Auf diese Weise, so hat Cassirer gezeigt, entstehen verschiedene Grundformen, in denen das Erlebte interpretiert wird, die nicht aufeinander reduzierbar sind: Mythos, Kunst, Sprache, Religion, Technik, Naturwissenschaft und Ethik. Einerseits wird das, was frühere Generationen gedacht und getan haben, dank der symbolischen Übermittlung unabhängig von den Trägern des Wissens an die nächsten Generationen tradiert; andererseits fordern Erfahrungen, Ideen und Probleme immer wieder zu neuen Deutungen heraus, die in den bestehenden Verständnishorizont integriert werden müssen. Anders als biologische Prozesse, die in ihrer zyklischen Struktur auf Selbsterhaltung angelegt sind, hat die Kultur daher einen offenen Horizont. In ihrer Dynamik spiegelt sich der letztlich unabschließbare Prozess der Auseinandersetzung der Menschen mit sich und der Welt. Immer wieder entstehen neue Fragen und Bedürfnisse, die weit über das hinausgehen, was zur Sicherung des Überlebens notwendig wäre. Nicht Selbsterhaltung und die Reproduktion konstanter Bedingungen, sondern Geschichtlichkeit ist das Merkmal des Menschen als Kulturwesen. Als Gattungswesen und als Individuum ist er durch einen sich ständig erweiternden Lebenshorizont gekennzeichnet. Erst das Zusammenspiel von kausal bedingten Reaktionen, funktionalen physiologischen Prozessen und intentionalen Akten ermöglicht die Kultur als genuin menschlicher Lebensform. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion ist kein Ordnungsschema, das das Gehirn zur Klassifikation bestimmter Erfahrungen anlegt, sondern die Voraussetzung für einen neuen Typ von Beziehung zu sich und zur Welt. Menschen können sich Gedanken über Gedanken machen und dadurch abstrakte Theorien entwickeln und komplexe Artefakte erfinden; indem sie sich als Ausgangspunkt ihrer Handlungen erkennen, können sie Verantwortung für ihre Taten und Verpflichtungen für die Zukunft übernehmen. Sie können jemandem etwas versprechen oder ihm verzeihen und so neue Möglichkeiten in den Lauf der Dinge einführen, die sich aus dem, was geschehen ist, nicht kausal herleiten lassen. Jeder Mensch, so schreibt Arendt, ist ein „initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt, der Neues in Bewegung setzen kann.“394 Wenn man weiß, was man fühlt und will, kann man sein Handeln auch begründen. Während die sozialen Bedingungen in kausaler Weise wirken, bewe-

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gen Gründe, indem sie eine Handlung als sinnvoll und gerechtfertigt erscheinen lassen. Sie zeigen Gesichtspunkte auf, warum sie ausgeführt werden sollte und geben ein Ziel vor, das es zu erreichen gilt. Dadurch entsteht eine Diskrepanz zwischen dem faktisch Vorhandenen und dem, was möglich ist, was sein kann und sein soll. Aus der Erziehung und dem Lebensumfeld lässt sich zwar erklären, wie sich ein Mensch entwickelt hat; trotzdem könnte er sich durch die Einsicht in Gründe für oder gegen etwas entscheiden und seinem Leben eine neue Richtung geben. Die Möglichkeit, zwischen Alternativen zu wählen und seinen Interessen zu folgen ist nur eine Voraussetzung für die Freiheit zum ethischen Urteil. Interessen sind nicht per se gut, sie müssen ethisch beurteilt werden. Auch die Berufung auf Sachzwänge und Traditionen verleiht einer Entscheidung keine ethische Legitimität. Freie und spontane Handlungen sind gerade keine willkürlichen Einzelaktionen, kein Ausdruck von Launen, Stimmungen und unreflektierten Interessen; sie beruhen auf der Fähigkeit, sich aus Einsicht an etwas zu binden, was im Licht prinzipieller Erwägungen als gut beurteilt wird. Aufgrund der Fähigkeit, sich aus innerer Freiheit die ethischen Gesetze des Handelns selbst zu geben, solle man, so fordert der kategorische Imperativ, so handeln, dass man einen Menschen ‚jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel‘ gebraucht. Nicht wegen ihrer sozialen Funktion, besonderer Leistungen oder des Nutzens für die Gesellschaft, sondern aufgrund der Freiheit, sich bewusst für ethische Zwecke entscheiden zu können, haben Menschen einen Eigenwert, eine Würde. Die Idee der Würde sollte wie ein Kompass die Richtung des Handelns gerade angesichts wechselnder Umstände, äußerer Zwänge und persönlicher Interessen bestimmen. Da sich, zumindest prinzipiell, alle Menschen an Gründen orientieren könnten, haben sie jenseits der unterschiedlichen Einschätzung einer Situation und unabhängig vom kulturellen Kontext etwas miteinander gemeinsam. Durch die Vernunft, so betonten die stoischen Philosophen ebenso wie Kant, ist der Einzelne ein Glied der Menschheit. Das Recht auf Selbstbestimmung beinhaltet deshalb auch die Pflicht, die Freiheit anderer als Träger der Würde zu achten. Der Preis der Freiheit ist freilich die Möglichkeit, sie zu missbrauchen. Erst mit der Fähigkeit zum ethischen Urteil ist die Möglichkeit zum moralisch Bösen gegeben. Menschen können deshalb nie wie Tiere handeln; sie sind im Guten wie im Bösen zu Handlungen fähig, die kein Wesen, das nicht auf sich reflektieren kann, begehen kann. Die reduktionistische These, dass Menschen durch genetische und neuronale Prozesse determiniert und Freiheit nur ein Gefühl ohne Einfluss auf das Handeln ist, steht daher im Widerspruch zu der in der Evolution zunehmenden Bedeutung von Bewusstheit und Individualität.395 Bei allen Lebewesen vereiteln Lernprozesse, die Verbindung schon erworbener Erfahrungen mit den gegenwärti-

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gen, physische und emotionale Bedürfnisse, Neugier und Interesse die Rückkehr in denselben Zustand. Die gegenwartslose Dauer toter Gegenstände wird aufgebrochen. Sogar in der gleichförmigen Wiederholung von Lebenszyklen, dem Wechsel von Hunger und Sättigung, Wachen und Schlafen, verändert die durchlebte Vergangenheit den gegenwärtigen Augenblick qualitativ. Die Zeitlichkeit von Lebewesen beschränkt sich daher nicht auf die zyklische Struktur biologischer Prozesse; durch Lernprozesse, aufgrund diffuser Erinnerungen und Erwartungen entsteht bereits eine Art biographisches Gedächtnis, das die Rückkehr in den vergangenen Zustand ausschließt. Auch Erfahrungen, die nicht bewusst reflektiert werden, bestimmen die Bedeutung von Ereignissen im Umfeld eines Lebewesens und damit seine Emotionen und Verhaltensweisen. Das Gedächtnis von Elefanten ist sprichwörtlich geworden; aber auch viele andere Tierarten wie Katzen und Hunde verfügen über ein emotionales Gedächtnis, das sie aufgrund ihrer Erfahrungen zu zutraulichen, ängstlichen oder aggressiven Individuen macht. Nicht Selbsterhaltung, sondern „Selbstüberschreitung“396 ist daher ein entscheidendes Merkmal von Wesen, die mit Innerlichkeit ausgestattet sind. Im Kontext eines system- bzw. gestalttheoretischen Ansatzes können Kontinuität und Diskontinuität der Lebensformen zugleich gedacht werden. Da Organismen Funktionsganzheiten sind, führt die Integration nur einer einzigen neuen Fähigkeit zu einer Neuorganisation aller Fähigkeiten. Obwohl nahezu alle Elemente der einfacheren Lebensformen in den komplexeren noch vorhanden sind, erweitert sich der Verhaltensspielraum nicht graduell, sondern sprunghaft. Die Formen des Bewusstseins und der Freiheit und mit ihnen das Ausdrucksvermögen, die Sozialstrukturen und das Zeitbewusstsein verändern sich nicht nur quantitativ, sondern qualitativ. Obwohl die großen Menschenaffen und homo sapiens etwa 98% der Gene miteinander teilen, genügt ein vergleichsweise kleiner genetischer Unterschied, um zu einer anderen Gehirnentwicklung, anderen Sozialstrukturen, einem veränderten Sprachvermögen, Selbst- und Zeitbewusstsein zu führen.397

6 Vom Überleben zum qualitativ guten Leben Wenn alle Lebewesen zu qualifizierten Perzeptionen fähig sind, ist dann tatsächlich das biologische Überleben, die bloße Selbsterhaltung, das Lebensziel? Könnte es nicht umgekehrt sein, dass die Überlebensstrategien die notwendige Grundlage für ein Streben nach psycho-physischem Wohlbefinden und Entfaltung der artspezifischen Möglichkeiten sind? Die Kehrseite der Freiheit, die durch die Abgrenzung von der Umwelt gewonnen wurde, ist die Gefahr, vernichtet zu werden. Der Tod ist regelrecht eine

Vom Überleben zum qualitativ guten Leben

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Erfindung der Evolution: Ein Stein zerfällt, ein Tier verendet und der Mensch weiß lange vor seinem Tod um seine Sterblichkeit. Einerseits können Organismen mit wachsender Komplexität immer differenzierter und vielseitiger auf die Umwelt reagieren; andererseits spüren sie Gefahren und Schmerzen immer intensiver. Mit der Fähigkeit, Wohlbehagen, Lust und Freude zu empfinden, nimmt auch die Fähigkeit Schmerz, Leid, Angst und Panik zu erleben zu. Das Spektrum der Emotionen erweitert sich zu beiden Seiten. Obwohl Schmerz und Lust als Indikatoren für geeignete oder ungeeignete Lebensbedingungen nützlich sind und die Suche nach Auswegen motivieren, steuern sie das Verhalten auch in Situationen, die nicht überlebensrelevant sind. Viele hoch entwickelte Lebewesen füllen die Momente, in denen sie vom Druck des Lebensnotwendigen entlastet sind, mit Aktivitäten, in denen sich ein Überschuss an Lebensfreude manifestiert: Kolkraben, die in Städten leben, in denen sie auch im Winter genügend Futter finden, verbringen Zeit mit Luftakrobatik; der Genuss, den ein warmer Sonnenfleck einer Katze bereitet oder der erwachende Frühling, der Bären zu Purzelbäumen anregt, erscheinen als unmittelbarer Ausdruck von Wohlbefinden. Gut dokumentiert ist inzwischen auch der Austausch von Liebkosungen bei höheren Primaten, Rabenvögeln und Aras; die Freude von Hunden, wenn ihr Besitzer nach längerer Abwesenheit wiederkommt, ist allgemein bekannt. Viele Aktivitäten dienen nicht nur dem physischen, sondern auch dem psychischen Wohlbefinden. Hierzu zählt auch das Bedürfnis, sich im Zoo oder Zirkus mit artfremden Tieren anzufreunden, um Gesellschaft zu haben. Umgekehrt formuliert: Psychische Entgleisungen aufgrund von Lebensbedingungen, die keine artgemäßen Verhaltensweisen zulassen, zeigen, dass das Wohlbefinden beeinträchtigt ist, obwohl für das Überleben gesorgt ist.398 Portmann resümiert: „Wir erfahren bei sorgsamer Beobachtung höherer Tiere von Zuständen, in denen das Handeln weniger streng gebunden erscheint, wo ein begierdefreies Verhalten vorkommt, das mancher Nuancen fähig ist. So hören wir bei Vögeln etwa ein spielerisch freies Singen oder sehen sie spielend sich jagen, wenn in optimalen Lebensumständen keine Notdurft der Nahrungssuche oder des Geschlechtsdranges die Tiere gefangen hält. Auch diese neuen Möglichkeiten des freieren Verhaltens sind Eigenschaften eines komplexen Systems. Es erscheint nicht von punktförmigem Ursprung, nicht als eine einzige neue Eigenschaft, die sich dann isoliert weiterentwickelt, sondern es erscheinen an vielen Stellen des komplexen Gefüges zugleich korrespondierende Eigenschaften: Merkmale nervöser Organisation, solche des Wachstumsablaufs sowohl in gestaltlicher als zeitlicher Beziehung und besondere Merkmale der Gestalt und des Verhaltens, die nur in Zuordnung zu dieser veränderten Entwicklungsweise Sinn haben.“399 Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle und Beweglichkeit, Spieltrieb und Neugier erschöpfen sich nicht

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in ihrer Funktion für die Lebenserhaltung; sie sind Qualitäten, die in der Erhaltung des Lebens, der sie dienen, mit gewollt sind. Sie sind nicht nur Mittel für das Überleben, sondern werden auch um ihrer selbst willen erstrebt. „Es war so sichtbar,“ schrieb Hölderlin, „wie alles Lebendige mehr, denn tägliche Speise, begehrt, wie auch der Vogel sein Fest hat und das Tier.“400 Die These, dass alle Verhaltensweisen letztlich nur der Selbsterhaltung dienen, ist empirisch nicht beweisbar und kann oft nur mit intellektueller Gewaltsamkeit begründet werden. Je komplexer Lebewesen sind, desto offensichtlicher werden der Drang nach einem guten Leben und das Bemühen, die Lebensbedingungen zu verbessern. Bei Menschen finden wir die stärkste Dynamik dieser Art von Selbstüberschreitung. Wie einfach könnten sie leben, wenn sie sich auf das Lebensnotwendige, auf die Befriedigung vitaler Grundbedürfnisse im Dienst der Reproduktion, beschränken würden! Stattdessen schmieden sie unablässig Pläne, um einen immer höheren Grad an sinnlichem Genuss zu erreichen, ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen, durch Literatur und Wissenschaft ihren Horizont zu erweitern; sie orientieren sich gegen große Widerstände und unter Lebensgefahr an ethischen Werten und suchen nach einer Antwort auf die Frage nach dem Lebenssinn. Vor allem das Bewusstsein selbst wird als ein Wert erlebt, als Grundlage von Lebensqualität und Voraussetzung eines selbstbestimmten Lebens, die es zu erhalten oder sogar zu steigern gilt. Der drohende Verlust des Bewusstseins durch Unfälle, Krankheit und Demenz erzeugt bei vielen die Angst vor hilflosem Siechtum und der Abhängigkeit von anderen. In den letzten Jahrzehnten wurde sogar die Bestimmung des Todeszeitpunktes an das irreversible Erlöschen bestimmter Gehirnfunktionen gebunden. Obwohl der Körper physiologisch noch funktionsfähig ist, gelten diese Menschen nicht mehr als Personen, sodass ihrem Körper Organe entnommen werden können. Die Evolution des Bewusstseins, darin stimmen so unterschiedliche Denker wie der Physiker E. Schrödinger401, der Paläontologe und Theologe P. Teilhard de Chardin402, der Mathematiker und Philosoph A. N. Whitehead403, der Philosoph M. Scheler404 und die Biologen E. Wilson und J. Huxley überein, ist eines der markantesten Merkmale der Evolution: „Bei einer Gesamtbetrachtung der biologischen Entwicklung (spielen) die Fortschritte in der Organisation des Geistigen bei weitem die wichtigste Rolle, oder, wie wir es in anderen Worten ausdrücken können, die zunehmende Fähigkeit zur Bewußtheit.“405 Dann aber ist zumindest die Sphäre des Lebendigen kein rein naturgesetzlich zu beschreibender Zusammenhang faktisch vorhandener und kausal aufeinander einwirkender Objekte. Für Wesen, die nach Selbsterhaltung und Wohlbefinden streben, besteht auch die Umwelt nicht aus einer Ansammlung wertneutraler Dinge, sondern aus Ereignissen, die hilfreich, neutral oder gefährlich sind. In ihrem Verhalten spiegeln sich mehr oder weniger deutlich die Qualität und die Bedeu-

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tung, die Ereignisse für sie haben. Die Rede von der ‚Sprache der Natur‘ ist daher weder eine bloße Metapher noch ein Anthropomorphismus. Sie beruht auf der Anerkenntnis der von Darwin betonten Einsicht, dass sich mit der Evolution des Lebens auch eine der Innenwelt vollzogen hat. Zumindest innerhalb bestimmter Grenzen können Menschen ihre Ausdrucksformen verstehen und buchstäblich im ‚Buch der Natur‘ lesen.

7 Lebewesen als integraler Teil der Biosphäre Die Bestimmung von Lebewesen als offenen Systemen und mit Innerlichkeit begabten Organismen beinhaltet eine Abgrenzung von und eine Beziehung zur Umwelt. Während makroskopische Objekte durch ihre Bahn in der Raum-Zeit identifiziert werden können, erhält sich ein Organismus durch seine eigene Tätigkeit. Schon durch den Stoffwechsel, so haben wir gesehen, muss er sich selbst überschreiten. „Mit der Transzendenz des Lebens meinen wir, daß es einen Horizont jenseits seiner punktuellen Identität unterhält.“406 Alle Lebewesen müssen ihr Lebensumfeld zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nutzen und verändern damit unweigerlich die Lebensbedingungen durch ihren Metabolismus, ihre Präferenzen und ihr Verhalten. Anders als für leblose Körper sind die Relationen, die sie mit der Umwelt verbinden, nicht unbewegt und starr, sondern beruhen auf einem unablässigen Austausch von Stoffen, Informationen, Gefühlen und Ideen. Ein Fels ist der Luft und dem Wasser ausgesetzt und wird im Laufe der Zeit abgetragen. In die Erde, die daraus entsteht, können Pflanzen ihre Wurzeln versenken, um die nötigen Nährstoffe aufzunehmen. Die Pflanzen dienen wiederum als Nahrungs- und Heilmittel für die Bedürfnisse von Tieren und Menschen; umgekehrt sind viele Pflanzen auf Tiere angewiesen, die ihre Blüten befruchten und ihre Samen verbreiten. Alle höheren Lebewesen lernen voneinander; sie kommunizieren und beeinflussen sich in ihrem Verhalten. Irgendein Ereignis wird zum Anreiz, sich mit ihm auseinanderzusetzen; das, was notwendig oder brauchbar ist, wird in die eigene Lebensweise integriert, anderes wird ignoriert oder einfach vergessen. Die Umwelt ist aufgrund von Perzeptionen im Inneren gegenwärtig; indem sie das Verhalten bestimmen, verbinden sie das Lebewesen wiederum mit der Umwelt. Es ist durch innere und äußere Relationen mit der Umwelt verbunden, die es durch seine Eigenaktivität aufrecht erhalten. Dadurch steht es der Umwelt nicht gegenüber, sondern ist ein integraler Teil von ihr. Sie wäre anders ohne es; und es könnte sich ohne die dynamische Interaktion mit ihr nicht erhalten. Seine Identität, so haben wir bereits bei Platon, Cusanus, Leibniz und Whitehead gesehen, beruht auf der dynamischen Beziehung zu dem, was es nicht ist.

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Die Verschränkung der Blickrichtung − von den Zwängen der Umwelt auf die Lebewesen und von deren Bedürfnissen auf die Umwelt − führt zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Lebewesen und Umwelt: Diese stellt die Möglichkeiten für das Werden der Organismen bereit; diese bilden ihrerseits zusammen mit einer Vielzahl anorganischer Stoffe die Umgebung für andere Organismen. Lebewesen und die Beziehungen, die sie zu ihrer Umwelt unterhalten, verändern sich gegenseitig in einem Prozess der Ko-Evolution. Sogar wenn ein Organismus stirbt und seine Eigendynamik zum Erliegen kommt, sodass er die Relationen zu seiner Umwelt nicht mehr aktiv aufrecht erhält, bleibt er ein Teil des Ökosystems: Dessen Regeneration hängt von der Zersetzung von Stoffen ab, die wiederum die Lebensgrundlage für eine Vielzahl anderer Lebewesen bilden. Die Stämme toter Bäume etwa sind der Lebensraum zahlreicher Insekten und Pilze, die wiederum die Lebensgrundlage so unterschiedlicher Arten wie Vögel und Bären bilden. „So sind die Arten von Pflanzen und Tieren ganz offensichtlich nicht einfach ein bunter Haufen mehr oder weniger zufällig an einem Ort versammelter Lebewesen. Die Natur, gleichgültig, ob sie sich in einem ziemlich natürlichen Zustand oder in einem (stark) vom Menschen veränderten befindet, hat ‚Struktur‘. Die Pflanzen, die an Ort und Stelle wachsen, können das nur, wenn die örtlichen Verhältnisse ihren Lebensansprüchen genügen. Kurz: Die nahezu unüberschaubare Fülle von Beziehungen der Lebewesen untereinander beweist, dass die Artengemeinschaften keine bloße (und beliebig austauschbare) Ansammlung von Pflanzen, Pilzen und Tieren darstellen.“407 Organismen können nur in der Umgebung überleben, an die sie physiologisch und aufgrund ihrer Fähigkeiten angepasst sind. Sie sind auf ein immer wieder neu zu erlangendes Gleichgewicht mit der Umwelt angewiesen, sodass diese sich nicht zu schnell und zu stark verändern darf. Nur wenn Lebewesen die Eigenschaften toter Objekte hätten, die man in jede Umgebung hineinstellen kann, könnten sie, wie Ricoeur und viele Vertreter der analytischen Philosophie glauben, durch einfache Lokalisierbarkeit in der Raum-Zeit gekennzeichnet werden. Verschiedene Arten teilen sich eine ökologische Nische, indem sie unterschiedliche Ressourcen nutzen; sie brauchen andere Nahrungsquellen, besiedeln verschiedene Lebensräume und haben unterschiedliche Zeiten der Aktivität. Durch Spezialisierung wird Konkurrenz ebenso vermieden wie durch zahlreiche Formen der Kooperation, die von der Symbiose über den Parasitismus bis zum Mutualismus reichen. Weniger der Kampf ums Dasein mit ‚Zähnen und Klauen, die rot sind vor Blut‘, als vielmehr ein strukturiertes Zusammenspiel verschiedener Lebensformen ist die Grundlage der Biodiversität. Ergänzend stellt daher Whitehead die ‚Solidarität der Lebewesen‘ dem ‚Kampf ums Überleben‘ an die Seite.408 Die Lebewesen, die ihre Umwelt und deren Viel-

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falt zerstören, zerstören ihre eigenen Lebensmöglichkeiten. „Alle Lebewesen“, so argumentiert auch der Biologe Reichholf, „brauchen Artgenossen, um zu überleben.“409 Es genügt daher nicht, nur einzelne Individuen oder Arten zu schützen. Sollten die Bienen aussterben, werden nicht nur für Menschen wichtige Nahrungsquellen wegbrechen; auch die Vögel werden kaum noch Beeren und Eichhörnchen und Bären keine Nüsse mehr finden. Eine durch die Aktivität von Organismen modifizierte Nische hat wiederum Rückwirkungen auf die sie besetzende Art und damit auch auf die Bedingungen der Evolution. Neue Herausforderungen, die zu einer Anpassung an sich verändernde Verhältnisse zwingen, können Chancen für Organismen beinhalten, die bisher keine Lebensgrundlage gefunden haben; andere Arten sterben aus. Die äußeren Bedingungen, so hatte bereits Whitehead betont, sind zwiespältig: Sie bilden die Voraussetzung dafür, dass bestimmte Organismen sich überhaupt entwickeln können; und sie beschränken den Spielraum dessen, was möglich ist. „Dass es in der Natur so viel Veränderung, so viel Dynamik gibt, liegt daher keineswegs allein an den nichtlebendigen Kräften, wie Witterung und Klima, Wasserverfügbarkeit und anderen Faktoren, sondern auch an den Lebewesen selbst. Sie sind Teil der Dynamik und Verursacher zugleich.“410 Auf diese Weise hat sich die Zusammensetzung der Atmosphäre im Lauf der Erdgeschichte durch die Entstehung von Pflanzen irreversibel verändert; erst dadurch entstand die Voraussetzung für die Evolution sauerstoffatmender Lebewesen, zu denen auch die Menschen gehören. Je spezialisierter ein Organismus ist, desto empfindlicher reagiert er auf Veränderungen bis ein Zeitpunkt erreicht ist, an dem er sich nicht mehr anpassen kann und zugrunde geht. Wird eine Population so groß, sodass die Aufnahmefähigkeit der Umwelt überschritten und diese übernutzt wird, erfolgt eine Neustrukturierung auf einem weniger komplexen, artenärmeren Niveau. Biologische Informationen, die über Jahrmillionen genetisch gespeichert wurden, gehen unwiederbringlich verloren, sodass die Regenerationsfähigkeit der Natur abnimmt.411 Aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit der Arten vermittelt die rein quantitative Angabe der Anzahl von Arten, die in einem bestimmten Zeitraum ausstirbt, nur ein verkürztes Bild. Wie bei einem Netz verlieren immer mehrere Fäden gleichzeitig den Halt, wenn ein einziger Knoten zerstört wird. Bestimmte Arten gelten als Schlüsselpopulationen, weil sie für besonders viele Arten wichtig sind. Der Biber etwa erzeugt durch seine Leidenschaft für den Bau von Dämmen große Wasserflächen, die die Lebensgrundlage für so unterschiedliche Tiere wie Insekten, viele Vogelarten und Elche sind; verschwindet er, dann verschwinden auch sie. „Nature consists of so many species, connected to each other in such complex ways, that it’s virtually impossible to foresee where the ripple effects from the extinction of any particular species may lead.“412

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Aufgrund der Eigendynamik von Organismen verdankt ein Ökosystem seine relative Stabilität nicht nur der räumlichen, sondern auch der zeitlichen Koordination von Lebenszyklen und der Dynamik anorganischer Prozesse. Die Stabilität beruht weniger auf der quantitativ bestimmbaren Zeitdauer einzelner Prozesse, als vielmehr auf der Vernetzung unterschiedlicher Eigenzeiten, die sich in komplexen Zeithierarchien überlagern, die von einzelnen Zellen über Organismen bis zu Ökosystemen und der Biosphäre reichen. Rhythmische Prozesse, so haben wir bereits bei Platon gesehen, kehren nach einer gewissen Zeitspanne, die innerhalb eines bestimmten Rahmens variieren kann, in den Ausgangszustand zurück. Dadurch können Organismen flexibel auf sich verändernde Umweltbedingungen reagieren. Die Jahreszeiten etwa können etwas länger oder kürzer ausfallen, etwas früher oder später kommen; entscheidend ist, dass sie nicht völlig ausfallen oder sich ihre Reihenfolge verkehrt, da sie mit unterschiedlichen Formen der Aktivität, die wiederum miteinander korreliert sind, verbunden sind. Die zeitliche Ordnung natürlicher Prozesse beruht daher nicht auf einer mentalen oder kulturellen Konstruktion, sondern ist die Voraussetzung für die Stabilität der Biosphäre als der umfassendsten Lebensgrundlage auf diesem Planeten. Die einzelnen Lebewesen sind auf die Biosphäre angewiesen, jene wird erst durch die dynamische Interaktion einer Vielzahl von Lebensformen gebildet, die in ihrer Lebensweise und ihren zeitlichen Rhythmen aufeinander abgestimmt sind. Vielfalt und dynamische Interaktion, nicht Uniformität und mechanische Reaktionen, ermöglichen die Ordnung der Natur. Solange die Dynamik ökologischer Systeme unberücksichtigt bleibt, greift daher der Versuch, die Menge natürlicher Ressourcen wie Wasser, Mineralien, Kohle, Erdöl, Sauerstoff und Kohlendioxid rein quantitativ abzuschätzen, zu kurz. Der Auf- und Abbau von Stoffen ist in der Biosphäre so ausbalanciert, dass die Bestandteile wieder verwertet werden.413 Dennoch gilt auch hier der zweite Hauptsatz der Thermodynamik: Es gibt kein perpetuum mobile. Jedes Ökosystem, auch die Biosphäre, ist auf die Zufuhr von Energie angewiesen, um sich zu erhalten; und die Fähigkeit der Sonne, Energie durch atomare Umwandlungsprozesse zu erzeugen, ist endlich. Da sich in der Biosphäre durch die dynamische Interaktion aller Komponenten im Laufe der Jahrmillionen immer wieder neue Gleichgewichtszustände einpendeln, kann man die Natur nicht mehr, wie im 18. Jh., im Bild einer Maschine interpretieren, die aus voneinander unabhängigen Teilen konstruiert wird und deren struktureller Aufbau unveränderlich ist. Auch ohne menschlichen Einfluss sind Ökosysteme immer nur für begrenzte Zeit stabil. Der Versuch, konstante Bedingungen zu erhalten, würde geradezu die Zerstörung des Lebens beinhalten. Die Natur ist daher kein gleich bleibendes Gegenüber des Erkennens und Handelns; sie ist ein Prozess, in dem durch strukturelle Verände-

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rungen immer wieder Neues entsteht. Zu diesem Prozess gehört auch, dass Arten aussterben. Die Natur kann nur bewahrt werden, wenn man ihre Fähigkeit zur Regeneration und Erzeugung neuer Lebensformen und Ordnungszustände erhält. Eine Ethik der Natur kann deshalb nicht bedeuten, dass jeglicher Wandel unterbunden werden sollte. Sie beinhaltet freilich auch nicht den Schluss, dass Menschen keine Verantwortung hätten für die Veränderungen, die sie selbst auslösen.

8 Der Mensch als integraler Teil der Biosphäre: Die Natur als Grundlage der Kultur Auch Menschen sind leibgebundene Wesen, die aufgrund ihrer Physiologie an bestimmte Umweltbedingungen angepasst sind. Nur mit hohem technischem Aufwand können sie in lebensfeindlichen Umwelten, etwa dem Weltraum, unter Wasser oder über 8000m Höhe für eine gewisse Zeit überleben. Ohne qualifizierte Sinneswahrnehmungen wären die Kommunikation mit anderen und die symbolische Interpretation von Ereignissen, die die Grundlage der Kultur bildet, unmöglich. Auch die Einteilung der Zeit durch Kalender, Uhren und Festtage ist auf die Eigenzeiten der Natur verwiesen: auf die Sonne, den Mond oder die Schwingungsfrequenzen von Atomen. Zahlreiche physiologische Prozesse des Körpers müssen durch rhythmische Prozesse in der Natur angeregt und koordiniert werden. Ihre Störung beeinträchtigt nicht nur die körperliche Leistungsfähigkeit, sondern, so lehrt die Chronobiologie, auch das psychische Befinden und die sozialen Beziehungen. Schon unter biologischer Perspektive kann der Körper daher nicht als ein in der Raum-Zeit lokalisierbares Objekt begriffen werden; durch den Stoffwechsel, qualifizierte Perzeptionen, den leiblichen Ausdruck und intentionale Akte überschreitet er sich ständig zur Umwelt. „Our bodies lie beyond our individual existence. And yet they are part of it. Thus we arrive at this definition of our bodies: The human body is that region of the world which is the primary field of human expression.“414 Auch die menschliche Identität hängt daher von der unablässigen Interaktion mit der Umwelt, von Natur und Kultur, ab. Um zu überleben, müssen Menschen handeln; damit Handlungen erfolgreich sind, müssen zumindest bestimmte Züge der Wirklichkeit adäquat erfasst werden. Eine falsche Einschätzung der Gegebenheiten kann Folgen haben, die tödlich sind; sie entscheidet über Sein oder Nicht-Sein. Die Welt lässt sich daher nicht im Sinne eines radikalen Konstruktivismus in einen Verweisungszusammenhang von Zeichen oder einen Text, der beliebig interpretiert werden kann, auflösen. Handlungen werden zu einem Korrektiv für die Interpretation der

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Wirklichkeit und zum Anreiz für neue Sichtweisen. „Unsere Vorstellungen“, so schreibt Merleau-Ponty, sind, „so begrenzt sie auch sein mögen, der Wahrheit fähig, indem sie immer unsere Begegnung mit dem Seienden und mit der Kultur ausdrücken, vorausgesetzt, dass wir sie gegenüber dem Bereich der Natur und der Kultur offen halten, die sie ausdrücken sollen.“415 Die Menschen sind jedoch nicht nur von der Natur abhängig; schon seit vielen Jahrtausenden waren sie ihrerseits als Selektionsfaktor wirksam. Nicht nur, dass sie vermutlich schon vor 10 000 Jahren viele Großtiere ausgerottet haben, auch Kulturpflanzen und Nutztiere wie Schweine, Pferde, Hunde, Katzen, Schafe und Ziegen sind weder der Kategorie Natur noch der der Kultur eindeutig zuzuordnen. Obwohl sie erst durch menschliche Züchtungen entstanden sind, sind sie ein Teil der Natur. Eine vom Menschen völlig unberührte Natur gibt es daher zumindest seit etlichen Jahrzehntausenden nicht. Umgekehrt formuliert: Die Biosphäre, wie wir sie kennen, gibt es nur mitsamt der menschlichen Spezies und ihren Einwirkungen. Doch erst durch die moderne Technik können Menschen die hochkomplexe Dynamik der Biosphäre in sehr kurzer Zeit großräumig verändern. Kulturell vermittelte Ziele wie Mobilität, Bequemlichkeit, Luxus, Effizienz, globale Vernetzung oder Komplexitätsreduktion, Einfachheit, Respekt vor anderen Lebewesen, sinnliches Wohlbefinden oder ästhetischer Ausdruck bestimmen, welche Technologien entwickelt werden, sodass die Definition von Technik als angewandter Naturwissenschaft zu kurz greift. „Technology“, so heißt es in der ‚Encyclopedia of Science and Religion‘, „understood as practical implementation of intelligence, is a matter of know-how expressing values.“416 „Technisches Schaffen“, so formuliert auch Cassirer, „bindet sich niemals an das gegebene Gesicht der Gegenstände, sondern es steht unter dem Gesetz einer reinen Vorwegnahme, einer vorausschauenden Sicht, die in die Zukunft vorgreift, eine neue Zukunft heraufführt.“417 Menschen können sich dafür entscheiden, Nahrung mit traditionellen Methoden zu erzeugen, um die Artenvielfalt zu schützen; oder sie können genetisch veränderte Pflanzen und Tiere, chemische Düngemittel und Pestizide verwenden und riesige Monokulturen anlegen, die zu einer Artenreduktion führen. Obwohl genetische Variation ein natürlicher Prozess ist, unterscheidet sich die genetische Manipulation von Pflanzen und Tieren zumindest in einer Hinsicht davon: Einzelne Eigenschaften werden aufgrund menschlicher Ziele ausgewählt und in großer Menge in kurzer Zeit in ein Ökosystem eingeführt. Die anderen Arten haben keine Zeit, sich in einem Prozess der Ko-Evolution an die neuen Mitglieder anzupassen. Dadurch kann, ähnlich wie durch invasive Arten, das Gleichgewicht eines Ökosystems empfindlich gestört werden und seine Fähigkeit zur Regeneration verlorengehen. Überdies verringert die einseitige Züchtung spezieller Eigenschaften die Widerstandsfähig-

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keit von Organismen. Hochleistungsrinder, -hühner oder -bienen sind für Krankheiten viel anfälliger als ihre an komplexe Lebensbedingungen angepassten Verwandten. Die genetische Verwandtschaft aller Lebewesen wirft außerdem die Frage auf, ob und wie man die Menschen selbst vor technischen Manipulationen schützen kann, die man bei Tieren und Pflanzen aus ökonomischen oder wissenschaftlichen Interessen bislang für selbstverständlich hält. Da durch eine rein naturgesetzliche Erklärung physischer Prozesse die Vorstellung, dass Lebewesen ein intrinsisches Ziel haben, verworfen wurde, gibt es keine prinzipiellen Grenzen für genetische Manipulationen, nichts, was als ‚widernatürlich‘ zu brandmarken wäre. Ein Rückkoppelungsprozess entsteht, der auch das menschliche Selbstverständnis sukzessive verändert: Die natürlichen Bedingungen erscheinen immer mehr als Zwang, den es im Namen einer immer weiter reichenden Selbstbestimmung zu beseitigen gilt. Die Unwägbarkeiten, die mit dem Akt der Zeugung verbunden sind, werden durch Präimplantationsdiagnostik minimiert; die Schönheitschirurgie tilgt die Spuren des natürlichen Alterungsprozesses; durch aktive Sterbehilfe soll ein selbstbestimmtes Lebensende möglich werden. Programmatisch verkünden Vertreter des Transhumanismus, dass man in ferner Zukunft in der Lage sein werde, vollkommen künstliche Umwelten zu schaffen, die von der Einbettung in die Unwägbarkeiten der Natur befreie. Dann wäre das Leben, wie Sartre postulierte, vollständig ein Entwurf des Menschen. Als ‚Herr des Universums‘ würde er die Welt nach seinem Bilde konstruieren. Ein Wesen, das sich völlig von seinen biologischen Grundlagen und damit auch von seiner evolutionären Vorgeschichte gelöst hätte, wäre freilich kein Mensch mehr. Als leibgebundenes Wesen kann der Mensch jedoch aus der Biosphäre nicht heraustreten, um sie wie ein Werkzeug, das man jederzeit beiseitelegen kann, zur Befriedigung seiner Interessen zu benutzen. Die Lebensqualität hängt von der oft völlig unscheinbaren Aktivität einer Vielzahl anderer Lebewesen ab, die den Sauerstoff erzeugen, den wir atmen, das Kohlendioxid aufnehmen, das wir abgeben, unsere Abfälle zersetzen, als Nahrung dienen, die Fruchtbarkeit der Böden erhalten und uns mit Holz und Papier versorgen. Alle Eingriffe in die Biosphäre wirken daher wieder auf ihren Verursacher zurück und verändern die Bedingungen, unter denen er in Zukunft leben wird. Damit wird auch unter globaler Perspektive die Gegenüberstellung von Natur und Kultur als zwei in ihrer Dynamik voneinander unabhängigen Bereichen hinfällig; sie setzen sich gegenseitig voraus und beeinflussen sich. Erdbeben und Vulkanausbrüche wirken sich auf politische und soziale Entscheidungen aus; die Ziele und Werte der Gesellschaft greifen in ökologische Kreisläufe ein. Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, die sich im Gefolge des cartesischen Wissenschaftsbegriffs entwickelt und bis zur Quantentheorie die erkenntnistheoretische Grund-

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annahme von Naturwissenschaft und Technik gebildet hat, muss daher revidiert werden. Die Menschen sind nicht in der Rolle eines Technikers, der die Natur wie ein von ihm unabhängiges Objekt manipulieren kann. Als Subjekte des Handelns sind sie ein wirkender Faktor im globalen Ökosystem, das aufgrund seiner Komplexität eine unkontrollierbare Eigendynamik hat.418 Wenn die Relation zur und die Partizipation an der Natur ein Moment der Identität bildet, dann beinhaltet das weltweite Artensterben nicht nur eine Verarmung der Natur, sondern bedroht unmittelbar auch den Menschen. Zum einen nimmt die Ausbreitung von Krankheiten zu. Unter der Überschrift ‚Artensterben macht krank‘ konnte man in der Zeitschrift ‚Forschung und Lehre‘ vom Januar 2011 lesen: „Der weltweite Verlust der Artenvielfalt bedroht direkt die Gesundheit der Menschen. Mit dem Verschwinden von Tier- und Pflanzenarten können sich Infektionskrankheiten besser ausbreiten. Wie USamerikanische Wissenschaftler berichten, verschwänden in vielen bedrohten Ökosystemen ausgerechnet jene Arten zuerst, die die Übertragung von Infektionskrankheiten eindämmten. Zurück blieben jene, die Krankheitserreger besonders gut verbreiteten.“419 Zum anderen vollzieht sich auch eine kulturgeschichtliche Verarmung, da eine Vielzahl von Tieren und Pflanzen, die über Jahrtausende in Literatur, Malerei und Musik präsent waren, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden. „In der Bibel werden etwa 110 Pflanzen- und 130 Tiernamen aufgeführt. Im alten Ägypten hatten Tiere durch den das ganze irdische und jenseitige Leben beherrschenden Tierkult eine zentrale Bedeutung für die faszinierende Eigenart dieser Hochkultur. Wir verbinden den Storch, den Raben, den Hasen, den Wolf und den Bären mit vielerlei spontanen Assoziationen, die sich aus dem kollektiven Geistesgut überlieferter Mythen, Märchen und Sprechweisen nähren.“420 Verschwinden Pflanzen und Tiere aus der Lebenswelt, gehen auch das Wissen über sie und die mit ihnen verbundenen Bilder und Symbole verloren. Die Ordnung der Natur ist aufgrund ihrer biologischen Funktion wie durch ihre kulturgeschichtlichen Deutungen eine Bedingung der Möglichkeit von Kultur und damit der genuin menschlichen Lebensweise. Weitsichtig schrieb Scheler schon 1912, dass ‚die Lebenswerte einen positiven, wenn auch nicht höheren, sondern niedrigeren, gleichwohl aber notwendig fundierenden Wert gegenüber den geistigen Kulturwerten‘421 besitzen. Die Menschen sind ein Teil im Netz des Lebens, sie sind, wie Goethe konstatiert, Zuschauer und Mitwirkende zugleich.422 Aus dem Wissen um diese Rückkopplung erwächst die menschliche Verantwortung für die eigene Geschichte, zu der auch die der Natur gehört.

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9 Zur Evolution von Empathie und Ethik Nach wie vor wird die These vertreten, dass es in der Natur keine Moral, sondern nur ein ‚Fressen-und-Gefressen-Werden‘ gibt, dass, wie Dawkins behauptet, ein genetischer Egoismus die treibende Kraft der Evolution ist. Kooperation, Hilfsbereitschaft, Freundschaft und Liebe gelten nur als Strategien, die dazu dienen, die Weitergabe der Gene zu verbessern. Alle Verhaltensweisen, die diesem Ziel nützen, sind berechtigt, List und Lüge ebenso wie Ehrlichkeit und das Bemühen um Gerechtigkeit. Eine Ethik dagegen, die allen Menschen, Freunden und Feinden, Gesunden und Kranken, Starken und Schwachen die gleiche Würde zugesteht, habe kein genetisches Fundament; sie widerspricht, davon ist Mohr überzeugt, dem Selektionsprinzip und kann bestenfalls ein relativ schwaches, rationales Postulat sein. „Die natürliche Selektion bestraft selbstloses Verhalten gegenüber Fremden. Auch beim Menschen gibt es in praxi keinen ethischen Kosmopolitismus; die potentiell friedfertige, altruistische Moral der Kleingruppe ist eine Binnenmoral.“423 Wenn jede Form des Verhaltens im Kern egoistisch ist, kann es, wie Hobbes sagte, eine friedliche Koexistenz nur geben, wenn die Angst, beraubt und getötet zu werden, größer ist, als der Vorteil, den man sich selbst von Raub und Mord erhofft. Menschliche Anständigkeit wäre dann tatsächlich, wie Freud dachte, nur eine dünne Kruste, die die Aggressivität verbirgt. Während seit Descartes der Mensch von vielen Denkern als autonomes Individuum gesehen wurde, das erst durch Vertragsschluss eine soziale Gemeinschaft konstituiert, wurde in der Biologie vor allem das Verhalten männlicher Schimpansen, die manchmal Jungtiere ihrer eigenen Gruppe töten und gegen andere Gruppen aggressive Kriege führen, leitend für das Verständnis menschlicher Eigenarten. Ein drittes Modell, das zur Erklärung von Verhaltensweisen diente, war das des homo oeconomicus, der sich am Eigennutz und an seinen Bedürfnissen orientiert. Doch dieses Menschenbild greift in mehrfacher Hinsicht zu kurz: Zum einen haben, wie de Waal und Goodall betonen, auch Schimpansen sanfte Seiten; zum anderen stehen Menschen genetisch den sehr viel friedfertigeren Bonobos genauso nahe wie Schimpansen. Beide Arten besitzen die Fähigkeit zum Mitgefühl und effiziente soziale Kontrollmechanismen gegenüber denen, die nur auf Vorteile bedacht sind. Bei allen hochentwickelten Tieren finden sich Sympathie, Hilfsbereitschaft und Freundschaft, die sogar Artgrenzen überschreiten können. „Warum“, so fragt S. J. Gould mit Recht, „sollte unsere Bösartigkeit das Gepäck einer äffischen Vergangenheit und unsere Gutartigkeit etwas exklusiv Menschliches sein? Warum sollten wir nicht auch hinsichtlich unserer ‚edlen‘ Eigenschaften nach Kontinuität mit anderen Tieren suchen?“424 Auch Darwin war da-

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von überzeugt, dass sich die menschliche Moral aus den sozialen Instinkten der Tiere entwickelt hat, sodass der Gegensatz zwischen amoralischem, natürlichem und kulturell geprägtem, sozial-ethischem Verhalten zu kurz greift. Und schließlich ist auch ein Menschenbild, das nur das sich selbst behauptende Individuum im Blick hat, falsch. „Wir sind zutiefst soziale Wesen, die sich aufeinander verlassen und Interaktionen mit anderen Menschen regelrecht brauchen, um gesund und glücklich zu leben.“425 Anders als Hobbes und Rousseau dachten, haben Menschen immer in kleinen Verbänden und Gruppen gelebt, bevor sie sich zu größeren Gemeinschaften zusammengeschlossen haben. Für viele Jahrzehntausende kam der Ausschluss aus der Gemeinschaft einem Todesurteil gleich. Der Neandertaler hat Verletzte viele Jahre versorgt und Gastfreundschaft wurde gerade dem Fremden gewährt, den man nie wieder sehen würde und mit dem einen nichts außer dem Mitgefühl mit seiner Not und dem Wunsch, etwas über andere Weltgegenden zu erfahren, verband. In allen Lebensphasen, nicht nur am Lebensanfang und -ende, sind Menschen auf Hilfsbereitschaft und Fürsorge angewiesen. Nur durch das Leben in der Gemeinschaft führen Schwäche und Krankheit nicht automatisch zum Tod. Aber auch das genuin menschliche Potenzial entwickelt sich nur durch soziale Interaktion. Menschenkinder, die in der Wildnis ausgesetzt wurden und überlebt haben, weil sie von Tieren adoptiert wurden, konnten, nachdem man sie gefunden und in eine menschliche Gemeinschaft aufgenommen hatte, nicht mehr sprechen lernen. Kinder, die zu wenig Zuwendung erfahren, sind, obwohl ihre physischen Bedürfnisse befriedigt werden, nicht nur seelisch, sondern auch körperlich unterentwickelt. Empirische Beobachtungen wie philosophische Reflexionen legen den Schluss nahe, dass Menschen strukturell soziale Wesen sind. Mit Aristoteles gesprochen sind sie mit Sprache und Vernunft begabte Gemeinschaftswesen, die, wie Buber und Jaspers formulieren, erst am Du zum Ich werden. List und Lüge, in der manche Biologen noch immer den Motor für die Entwicklung der Intelligenz sehen, können bestenfalls begrenzte Strategien in besonderen Situationen sein. Denn demjenigen, der immer wieder um des eigenen Vorteils willen lügt, wird man misstrauen; man wird nicht mehr mit ihm kooperieren, keine Geschäfte mit ihm abschließen und ihm keine Hilfe gewähren. Schon bei sozial lebenden Tieren führt ein hohes Maß an sozialer Instabilität zu Stressreaktionen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die oft mit einer Verkürzung des Lebens bezahlt werden. Sobald Tiere ein Gedächtnis haben und sich über längere Zeit an Konflikte mit Artgenossen erinnern, wie es bei Elefanten, Hyänen, Wölfen, Kolkraben, Pavianen und Primaten der Fall ist, benötigen sie Strategien, um sich wieder zu versöhnen. „Sie müssen trotz gelegentlicher Unstimmigkeiten gut miteinander auskommen.“426 Zumindest bei Primaten ist

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die Fähigkeit zur Versöhnung nicht angeboren, sondern wird durch Konflikte, die bei der Entwöhnung von der Mutter auftreten, erlernt. Mindestens ebenso wichtig wie die Fähigkeit, sich gegen andere zu behaupten, ist daher die Bereitschaft zur Einordnung in die Gruppe, zu Austausch und Kooperation. Diejenigen, die nur ihre Interessen befriedigen, werden von der Gruppe abgestraft. Umgekehrt werden die Schwachen keineswegs automatisch von den Starken verdrängt, sondern finden oft Artgenossen, die sie beschützen. „Soziale Säugetiere“, so betont de Waal, „kennen Vertrauen, Loyalität und Solidarität.“427 Mit wachsender psycho-physischer Komplexität werden daher die Kommunikationsformen und soziale Strukturen differenzierter. Auch die Emotionen, die zum sozialen Verhalten motivieren, wie die Fähigkeit zu Empathie, Sympathie, Vertrauen, Fürsorglichkeit, Hilfsbereitschaft und Gegenseitigkeit durchlaufen verschiedene Grade der Komplexität. Kooperation etwa beruht auf einem Sinn für Reziprozität, einem Ausgleich zwischen Geben und Nehmen, der, wie Aristoteles in der ‚Nikomachischen Ethik‘ formuliert, die Grundlage von sozialer Gerechtigkeit ist. Je nachdem, was einer der Beteiligten einbringt oder erhält, kann man verschiedene Typen von Kooperation unterscheiden: Verhaltensweisen, die sich unmittelbar auszahlen, einen reziproken Altruismus, der erst etwas kostet, bevor man etwas zurückerhält und, bei Menschen, eine bewusste Orientierung an ethischen Prinzipien, die die individuellen Interessen überschreiten. Hilfsbereitschaft und Kooperation beruhen weder auf einem bloßen KostenNutzen-Kalkül noch allein auf rational begründeten ethischen Prinzipien, sondern auch auf Emotionen, die eine lange Vorgeschichte haben. „Statt ein Oberflächenphänomen unseres erweiterten Neokortex zu sein, greift die moralische Entscheidungsfindung offensichtlich auf Millionen Jahre sozialer Evolution zurück.“428 Der Sinn für Gerechtigkeit könnte sich aus dem Groll darüber, dass man zu wenig erhält und der Sorge, wie andere reagieren, wenn man zu viel erhält, entstanden sein. „Genauso wäre es möglich, daß die Rache über Zwischenschritte zur Gerechtigkeit geführt hat. Die Auge-um-Auge-Mentalität der Primaten dient ‚Erziehungszwecken‘, indem unerwünschten Verhaltensweisen Kosten zugeordnet werden.“429 Besonders wichtig für das Zusammenleben ist Empathie, die Fähigkeit, die Befindlichkeit eines anderen Lebewesens zu erspüren und sich ihm zuzuwenden. Sie ist entscheidend für „die Regulation sozialer Interaktionen, für koordinierte Aktivitäten und für gemeinsame zielgerichtete Kooperation.“430 Viele Tiere, so glaubte bereits Darwin, empfinden das Leid und die Angst anderer Lebewesen. Haustiere wie Hunde und Katzen reagieren wie kleine Kinder: Sie schleichen herum, legen den Kopf in den Schoß der leidenden Person und lassen so etwas wie Besorgnis und Unruhe erkennen. Für die Tierverhaltensforschung besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass sich auch bei Menschen die

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Fähigkeit zur Empathie lange vor der Sprache und dem begrifflichen Denken entwickelt. Wie alle sozialen Fähigkeiten durchläuft auch sie verschiedene Stufen der Komplexität: Sie reicht von einfachen Resonanzphänomenen, die schon durch Körperbewegungen ausgelöst werden, über ein emotionales Mitschwingen bis zur bewussten Perspektivenübernahme, die sich nur bei Lebewesen findet, die sich im Spiegel erkennen. Im einfachsten Fall reagiert ein Individuum auf eine Bewegung oder Empfindung eines anderen Lebewesens, die es unmittelbar als eigene spürt. Es unterscheidet nicht zwischen dem eigenen Zustand und dem eines anderen Lebewesens, sondern gerät in eine Art Resonanz. Ein erschreckter Vogel kann einen ganzen Schwarm auffliegen lassen. Bei der mitschwingenden Betroffenheit verbindet sich die emotionale Ansteckung bereits mit einer auf Erfahrung und Lernen zurückgehenden Bewertung. Sie lässt sich bei Kleinkindern und Tieren beobachten, die durch das Leiden von Lebewesen motiviert werden, sogar über Artgrenzen hinweg zu helfen. Tiere sind zwar nicht zur Reflexion auf ihre Motive und ethische Prinzipien fähig, aber zu einem von Emotionen motivierten moralanalogen Verhalten, einem Verhalten also, das so ist, wie es im Licht ethischer Prinzipien sein sollte. Eine noch weiter entwickelte Form der Empathie beruht auf der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme. Zur Resonanz und zum emotionalen Mitschwingen treten kognitive Prozesse hinzu, durch die eigene und fremde Empfindungen unterschieden werden können, sodass eine Vorstellung vom Leiden des Gegenübers entsteht, die es erlaubt, so zu agieren, als wäre man an seiner Stelle. Ein anderes Lebewesen zu verstehen bedeutet, etwas von dem nachzuvollziehen, was in ihm vorgeht, was für sein Leben bedeutungsvoll ist und was es beabsichtigt. Möglich ist die Perspektivenübernahme nur bei Lebewesen, die die Schwelle zum Selbstbewusstsein überschreiten und sich bis zu einem gewissen Grad vom eigenen Erleben distanzieren können. Dadurch sind sie in der Lage, das Erleben eines anderen Wesens unabhängig vom eigenen zu erfassen. Die Differenz von Tieren, die zur Perspektivenübernahme in der Lage sind, zu erwachsenen Menschen beruht darauf, dass letztere auch noch auf ethische Prinzipien reflektieren und sich nicht nur durch Emotionen, sondern auch durch Pflichten leiten lassen können. Empathie darf allerdings noch nicht mit Mitgefühl und Mitleid verwechselt werden, obwohl sie deren Voraussetzung ist. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme kann auch eingesetzt werden, um anderen gezielt zu schaden oder ihnen aus Spaß Schmerz zuzufügen, weil man ihre Schwachstellen kennt. Sowohl gezielte Hilfsbereitschaft wie Grausamkeit beruhen auf dem Vermögen sich vorzustellen, wie sich das eigene Verhalten auf andere auswirkt. Dadurch erweitert sich das Spektrum des Verhaltens zum Guten wie zum Bösen. Schon

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die höheren Primaten können andere trösten und deren Schwächen gezielt für den eigenen Vorteil ausnutzen. „Das Bewusstsein seiner selbst bedingt, wie man mit anderen umgeht. Ungefähr zu der Zeit, da sich Kinder in einem Spiegel erstmals selbst erkennen – im Alter von 18 bis 24 Monaten −, bildet sich bei ihnen auch das auf die Bedürfnisse anderer gerichtete Helfen aus. Um zugunsten eines anderen handeln zu können, muß man die eigenen Emotionen und die eigenen Befindlichkeiten von denen des anderen unterscheiden.“431 Mögliche Kandidaten für eine Perspektivenübernahme sind auch Elefanten, Delphine und einige Rabenvögel. In physiologischer Hinsicht wurzelt die Fähigkeit zu empathischen Reaktionen in Gehirnbereichen, die bis zu den Reptilien zurückreichen. Als neuronale Korrelat gelten wiederum die Spiegelneuronen, die bei allen komplexeren Formen der Empathie durch soziale Lernprozesse aktiviert und ausgebildet werden müssen. Empathie muss durch konkrete Interaktionen mit Artgenossen oder artübergreifend durch den Umgang von Menschen mit Tieren entwickelt und eingeübt werden.432 Auch die Kommunikation zwischen Menschen und Tieren beruht darauf, dass sich beide aufeinander einstellen können. Mit schier unerschöpflicher Geduld begleiten Hunde ihr blindes Herrchen und helfen einem Rollstuhlfahrer im Haushalt. Sie reagieren auf die menschliche Mimik, viele Gesten und den Tonfall; nicht die begrifflich-verbale Sprache, sondern der Sinn des leiblichemotionalen Ausdrucks wird verstanden. Pferde stellen ihre Bewegungen auf körperlich und geistig Behinderte ein, und Delphine helfen durch die Art ihrer Zuwendung autistischen Kindern.433 Nicht gezwungen oder aus Not, sondern freiwillig, aus Neugier, Sympathie und Vertrauen suchen sogar wilde Tiere wie Wölfe oder Raben die Gemeinschaft von Menschen. In Freilandstudien machen Verhaltensbiologen immer wieder die Erfahrung, dass sie Tiere nur dann beobachten können, wenn diese sich beobachten lassen. Die Zuwendung eines Tieres kann nicht erzwungen werden; die Initiative muss von ihm ausgehen, und dazu wird es vorher das menschliche Gegenüber einschätzen. Beispielhaft schildert der Biologe Farley Mowat in seinem Buch ‚Never Cry Wolf‘434 den Wechsel von der wissenschaftlich-objektivierenden Perspektive, die er im Studium erworben hatte, zu einer auf Kommunikation angelegten, teilnehmenden Perspektive im Umgang mit wilden Wölfen im Norden Kanadas. Eindrucksvoll beschreibt er seine Verwirrung, als er plötzlich spürt, dass er selbst seit geraumer Zeit von einem Wolfspaar beobachtet wird. Erst indem er in seiner mehr als sechs Monate währenden Feldstudie lernt, Wölfe als Lebewesen mit eigenen Ausdrucksformen zu sehen, erschließen sich ihm ihre unterschiedlichen Verhaltensweisen, die sich in ihren Spielen, ihrem Liebes- und Familienleben und ihrem Jagdverhalten zeigen. Indem er sich auf ihre Aus-

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drucksformen einstellt, entstehen subtile Formen artübergreifender Kommunikation. Von ähnlichen Erfahrungen berichten J. Goodall435, die sich Schimpansen zugewandt und D. Fossey436, die Berggorillas erforscht hat. Tiere sind, so hat Plessner geschrieben, zentrisch organisiert, sie agieren aus ihrer Mitte heraus. Wie menschliche Individuen drücken sie sich in ihren Empfindungen und Gefühlen durch Laute, Bewegungen und Blicke aus. Sobald die Zentriertheit einen gewissen Grad erreicht, der sich in seiner unverwechselbaren Individualität bekundet, ist ein Tier ansprechbar und zur Gegenseitigkeit fähig. Es erfährt sich als gemeint. Ausdrücklich übertrug T. Geiger das 1922 von K. Bühler entwickelte Konzept der Du-Evidenz auf die Mensch-Tier-Beziehung.437 Ähnlich hatte auch Buber in seinem 1923 publizierten Werk ‚Ich und Du‘, geschrieben, dass man andere Kreaturen als ein Du ansprechen könne, obwohl noch keine volle Wechselseitigkeit möglich sei.438 Doch obwohl die Grundelemente von Mimik und Gestik angeboren sind, muss die Fähigkeit, sie zu entschlüsseln, in der Kindheit erlernt werden. Ist das Zeitfenster verpasst, kann der mimische Ausdruck im späteren Leben weder richtig eingesetzt noch interpretiert werden. Kinder, die mit einem Tier aufwachsen, erfassen nonverbal ausgedrückte Emotionen besser als andere. Da Tiere im menschlichen Gegenüber nicht das Sprach- und Begriffsvermögen, sondern die Emotionen ansprechen, unterstützen sie die Entwicklung von Empathie, die auch für das zwischenmenschliche Sozialverhalten unverzichtbar ist. „Analoge oder nonverbale Kommunikation ist die Sprache der Beziehungen, die unsere Mutter schon mit uns gesprochen hat, bevor wir die ersten Worte verstehen konnten. Analog kommunizieren Menschen nach wie vor in existenziell wichtigen Situationen – im Kampf, der Wut, in der Liebe, im Trauern – und wir sind evolutionär nicht nur vorbereitet, bestimmte nonverbale Signale zu senden, wir sind auch vorbereitet, sie zu empfangen und richtig zu decodieren.“439 Die anthropologische Voraussetzung von analoger Kommunikation ist freilich, dass sich die Identität nicht nur auf Selbst- und Zeitbewusstsein, auf Rationalität, Sprache und die bewusst erinnerte Biographie stützt. Die Fähigkeit zu denken wurde nicht auf einen rein physiologisch zu erklärenden Körperbau und funktional zu bestimmende Trieb- und Gefühlsreaktionen aufgesetzt. Wie alle anderen Lebewesen sind Menschen eine Gestaltganzheit, sodass sich die höheren geistigen Fähigkeiten, die die Entwicklung der Kultur ermöglichen, nicht von ihren biologisch-vitalen und emotionalen Ursprüngen abtrennen lassen. Deshalb, so betonen Scheler und Cassirer, erschließen sich Menschen die Welt durch eine Vielfalt intentionaler Akte, zu denen die Vernunft ebenso gehört wie Akte des Fühlens, verschiedene Formen der Sympathie, des Urteilens und Wollens sowie das Leibbewusstsein. Eine Person, so schreibt Scheler, ist „die

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konkrete Einheit von Akten verschiedenartigen Wesens“440. Die Weite des Lebenshorizontes hängt daher vom Umfang ab, in dem das Spektrum intentionaler Akte konkretisiert wird. Auf ihm beruht die Möglichkeit, auch mit nichtmenschlichen Lebewesen zu kommunizieren, sie in ihren non-verbalen Ausdrucksformen zu verstehen und sich auf sie einzustellen. Im Spiegel anderer Kreaturen erfahren Menschen Aspekte ihres eigenen Gefühlslebens, das wiederum die Grundlage für differenzierte zwischenmenschliche Beziehungen, für Freundschaft und Liebe, oder einfach nur für Kollegialität, Hilfsbereitschaft und Kooperation ist. Das Bedürfnis nach vielfältigen Formen der Partizipation, von Kommunikation und Bindung ist daher kein Zeichen von Unreife, sondern geradezu ein Indiz für eine gesunde, komplexe Psyche. Anthropologisch gesehen spiegeln sich in der Unfähigkeit zum einfühlenden Verstehen artfremder Lebewesen Defizite der menschlichen Person. Es ist wiederum Scheler, der schreibt: „Die vollphänomenologisch gegebene Natur bleibt trotz dieses notwendigen, aber künstlichen Verhaltens der Wissenschaft ein ungeheures Ganzes von Ausdrucksfeldern kosmovitaler Akte, innerhalb dessen alle Erscheinungen einen durch die universelle Mimik, Pantomimik und Grammatik des Ausdrucks verständlichen über- und amechanischen Sinnzusammenhang besitzen. Mit wesensgesetzlicher Notwendigkeit muß die Rückbildung der kosmisch-vitalen Einsfühlung schließlich auch die Menschenliebe und das Mitgefühl mit den Menschen als Menschen schädigen.“441 Die Auffassung Schelers findet ihre Entsprechung in evolutionsgeschichtlichen Überlegungen. „Jede Lebensform trägt Wesenheiten von altertümlichen Lebensformen in sich, aus denen sie hervorging, aber umgekehrt tragen die altertümlichen Lebensformen die später entwickelten Wesenheiten nicht prospektiv in sich.“442 Höhere und evolutionär später entstandene Prozesse bauen auf niedrigeren auf, während diese ohne jene ablaufen können. Deshalb können sich Menschen auf die Bedürfnisse und Artikulationsformen einfacherer Lebewesen einstellen, während diese ihrerseits immer nur bestimmte Aspekte der menschlichen Psyche ansprechen können. Den weitaus größten Teil ihrer Geschichte haben Menschen eng verbunden mit Tieren und Pflanzen gelebt. Sie waren auf sie zum Schutz und zur Beschaffung von Kleidung und Nahrung angewiesen und haben sie in ihre künstlerischen, mythischen und religiösen Ausdrucksformen aufgenommen. Wenn sich neuronale Muster erst durch die Interaktion mit der Umwelt entwickeln, dann, so schließt Wilson, haben sich das Nervensystem und fundamentale Verhaltensmuster in einer biokulturellen Evolution mit nicht-menschlichen Lebewesen gebildet. In einer Koevolution von Menschen und Tieren, die auf einem Zusammenspiel genetischer und sozio-kultureller Faktoren beruht, hat sich eine „Biophilie“443, eine Affinität des Menschen zu anderen Lebewesen entwickelt, sodass

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anderer Kreaturen intuitiv, vor jeder begrifflichen Analyse, nicht als Sachen angesehen werden. Die Fähigkeit, für andere Lebewesen Sympathie und Mitgefühl zu empfinden, sich für die Natur zu interessieren und sich zu bestimmten Habitaten und Ökosystemen hingezogen zu fühlen, gehört daher für Wilson zur evolutionären Grundausstattung. Während es sich bei der Biophilie selbst um ein kulturübergreifendes Merkmal aller Menschen handelt, unterliegt ihre konkrete Ausprägung kulturspezifischen und individuellen Variationen. Für die Biophilie-These spricht auch, dass ein enger Kontakt mit Pflanzen und Tieren die Gesundheit und die Lebensqualität von Menschen fördert. Die Natur vor einem Klinikfenster, Luft und Sonne, die Farben der Blumen und der Gesang der Vögel regen bei kranken Menschen den Lebenswillen an und fördern den Genesungsprozess auf der physischen und psychischen Ebene. Auch in Altenheimen führt der Einsatz von Tieren zu einer Steigerung des Wohlbefindens; er unterstützt die Eigeninitiative und die Strukturierung des Tagesablaufs und weckt noch bei Menschen, die auf der kognitiven Ebene kaum noch ansprechbar sind, Emotionen wie Fürsorglichkeit und Zärtlichkeit. Auch bei hirngeschädigten Patienten im Wachkoma wirkt sich der Kontakt zu Tieren positiv auf die Herzfrequenz aus. „Die Ziele, die mit Hilfe des Tieres [in der Medizin, R. K.] erreicht werden sollen, sind: Minderung von Einsamkeitsgefühlen, Verbesserung der Kommunikation, Förderung des Vertrauens, Reduktion des Medikamentenbedarfs, Verbesserung kognitiver Funktionen, Verbesserung der Lebensqualität sowie körperlicher Funktionen, Abbau von Stress und Angst, Verbesserung von Vitalparametern (Atmung, Puls, Blutdruck) und Verbesserung der Motivation des Patienten für die weitere Behandlung. Vor allem aber scheinen sie Nebenwirkungen der Krebserkrankung und der Behandlung zu mildern, in dem Angst, Depressivität, Hoffnungslosigkeit sowie Störungen des Körperbildes positiv beeinflusst werden.“444 Aufgrund der gemeinsamen evolutionären Vorgeschichte wurzelt die Fähigkeit, Empfindungen, Gefühle und Bedürfnisse anderer Lebewesen zu verstehen und mit ihnen zu kommunizieren in der psycho-physischen Konstitution des Menschen. Ihn als Einheit in der Vielfalt unterschiedlicher Akte zu begreifen ermöglicht es, die differentia specifica ebenso wie die Gemeinsamkeit mit anderen Lebewesen zu berücksichtigen. Dass Menschen zu anderen Kreaturen auf vielfältige Weise in Beziehung treten können, trägt zur Entwicklung der eigenen psycho-physischen Ganzheit und einer Erweiterung des Lebenshorizontes bei.

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10 Ethische Schlussfolgerungen aus der Verwandtschaft der Lebewesen Obwohl Menschen den Lebenswillen mit anderen Kreaturen teilen, können nur sie auf ihn reflektieren und Leben gezielt vernichten oder schützen. Heute sind die Anlässe, über eine Ethik der Natur nachzudenken, vielfältig: Sie reichen von theoretischen Erkenntnissen über den Evolutionsprozess bis zu den drängenden Problemen des Klimawandels und der Biotechnologie. Dadurch hat sich im Vergleich zur Antike die Basis der Argumentation verschoben: Sokrates konnte noch schreiben, dass es besser ist, ethisch gut zu leben als bloß zu überleben, und für Kant sollte die Ethik nur zwischenmenschliche Beziehungen regeln. Das Lebensziel bestand in der Verwirklichung gerade der Fähigkeiten, die Menschen nicht mit Tieren teilen: biologische Bedürfnisse und vitale Interessen sollten durch die Orientierung an ethischen Werten überschritten werden. Heute wird durch die moderne Technik die Natur in einem noch nie dagewesenen Ausmaß ausgebeutet; auch die Auswirkungen zahlloser für sich genommen geringfügiger Aktivitäten summieren sich durch die große Zahl der Menschen, sodass sie in räumlicher Hinsicht eine globale Dimension erreichen und sich in zeitlicher Hinsicht auf hunderte von Generationen erstrecken: Pestizide können Böden und Wasser für Jahrhunderte, Radioaktivität kann ganze Landstriche sogar für Jahrtausende verseuchen; die Abholzung der Urwälder in Brasilien und Indonesien verändert das Klima weltweit. Mit ihren Wünschen, Zielen und Werten verursachen die Menschen weitreichende Effekte im globalen Ökosystem, das eine komplexe Eigendynamik hat. Obwohl sie durch technische Erfindungen eine viel größere Unabhängigkeit von den Umweltbedingungen haben als alle anderen Kreaturen, geben diese nach wie vor den Lebensrahmen vor. Das Existenzminimum beruht nicht auf kulturspezifischen Gewohnheiten, sondern auf der physischen Konstitution des Gattungswesen Mensch, die nur innerhalb enger Grenzen überformt werden kann. Die Lufttemperatur kann nicht beliebig über- oder unterschritten werden, eine bestimmte Menge an Sauerstoff, Nahrung und Wasser ist unverzichtbar, ab einer gewissen Intensität wirkt radioaktive Strahlung letal. Anders als in früheren Jahrhunderten steht daher nicht nur das Überleben des Individuums auf dem Spiel, sondern das der Menschheit und aller anderen Kreaturen. Würden die Bedingungen des Überlebens zerstört, wäre auch ein ethisch gutes Leben unmöglich. Durch Evolutionstheorie und Ökologie hat sich seit dem 19. Jh. eine Aufwertung der vitalen Sphäre vollzogen. Doch als der naturwissenschaftlichen Methode verpflichtete Disziplinen können sie nicht begründen, warum das Leben überhaupt erhaltenswert ist und an welchen Zielen sich das Handeln orientieren sollte. Dazu bedarf es der Ethik, die Werte thematisiert und begründet. Sie

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muss Wissenschaft und Technik ergänzen, ihre Macht begrenzen und ihnen eine Ausrichtung auf ein gutes Leben verleihen. Doch durch die weitreichenden Folgen des modernen Lebensstils kann sich die Ethik, anders als die von Aristoteles und Kant, nicht auf die Beurteilung der Handlungsmotive und die sozialen Beziehungen beschränken; sie muss auch die möglichen Folgen des Handelns und ihre Auswirkungen auf die Biosphäre einbeziehen. Sieht man im Überleben nicht nur des Individuums, sondern der Menschheit und möglicherweise auch anderer Kreaturen einen ethischen Wert, dann entspringt daraus die Pflicht, die Lebensbedingungen, soweit es in der Hand der Menschen liegt, zu erhalten. „Keine frühere Ethik“, so betont Jonas, „hatte die globale Bedingung menschlichen Lebens und die ferne Zukunft, ja Existenz der Gattung zu berücksichtigen. Daß eben sie heute im Spiele sind, verlangt, mit einem Wort, eine neue Auffassung von Rechten und Pflichten, für die keine frühere Ethik auch nur die Prinzipien bietet.“445 Zumindest indirekt setzt jede Ethik eine Anthropologie voraus, die den Rahmen für das Verhältnis zur Natur und für das, was ethisch legitim ist, vorgibt. Da das derzeit vorherrschende Menschenbild auf der Überzeugung beruht, dass nur die Erfüllung der eigenen Interessen Grundlage eines selbstbestimmten Lebens sein kann und die Ethik nur die Aufgabe hat, mithilfe rational begründbarer Prozeduren einen Konsens zwischen divergierenden Präferenzen zu ermöglichen, entsteht durch die ökologische Krise eine grundsätzliche Herausforderung: Wie können die durch die Eigendynamik der Biosphäre gesetzten Grenzen und die Ansprüche anderer Kreaturen wieder berücksichtigt werden? Denn nur wenn es gelingt, die Grenzen der Machbarkeit wieder in den individuellen Lebensentwurf zu integrieren, werden das Überleben und ein ethisch gutes Leben möglich sein, wie Spaemann beobachtet: „Der Prozess der naturwüchsigen Naturbeherrschung ist an einem Punkt angelangt, wo er sich gegen den Menschen selbst wendet. Erstmals kommt zu Bewusstsein, dass die Ressourcen der Natur hinsichtlich dessen, was die Lebensbedingungen der menschlichen Gattung ausmacht, endlich sind. Das Überleben der Gattung ist damit geknüpft an die Bedingung, dass die technische und industrielle Expansion sowie die durch die moderne Medizin herbeigeführte Bevölkerungsexplosion beendet wird zu Gunsten eines neuen längerfristigen Gleichgewichtszustandes, einer neuen Symbiose, die nun nicht mehr durch die menschliche Ohnmacht stabilisiert wird, sondern durch bewusste Erinnerung der natürlichen Voraussetzungen menschlicher Existenz.“446 Eine Ethik ist allerdings nur möglich und zugleich nötig aufgrund der Asymmetrie zwischen vernunftbegabten Wesen und anderen Kreaturen. Durch die Fähigkeit, sich vom eigenen Erleben zu distanzieren, können Menschen auch gegen ihre Neigungen und Wünsche Pflichten und Verantwortung überneh-

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men; sie können ihre Macht allerdings auch absichtlich zur Durchsetzung von Interessen missbrauchen. Die ethischen Argumente, die im folgenden skizziert werden, reichen von utilitaristischen Erwägungen, die am Nutzen des Individuums, der Gesellschaft und bestenfalls noch der Gattung orientiert sind, über anthropozentrische, patho- und biozentrische bis hin zu holistischen Argumenten, die die Biosphäre mitsamt den anorganischen Stoffströmen einbeziehen. Wie die Häute einer Zwiebel umgreifen die ethischen Argumente immer mehr Lebens- und Seinsformen und machen sichtbar, dass das Akzeptieren der Grenzen des Machbaren zwei Seiten hat: Negativ verstanden entspringt die Bereitschaft zur Beschränkung der Machtfülle, die mit der modernen Technik und Ökonomie einhergeht, der Einsicht, dass der Preis, der dafür zu zahlen ist, zu hoch ist; positiv verstanden ist die Beschränkung der Macht über die Natur die Voraussetzung für eine qualitative Bereicherung des Lebens und eine emotionale und kognitive Erweiterung des Lebenshorizontes. 10.1 Utilitaristische und anthropozentrische Ethik Nach wie vor beruhen die meisten Ethiken auf einer anthropozentrischen Perspektive, obwohl die Bedeutung der Natur als Grundlage des Überlebens und eines qualitativ guten Lebens längst erkannt wurde. Sie beschränken sich darauf, das Verhältnis der Menschen untereinander zu regeln und stützen sich im Anschluss an Kant auf die Prinzipien der Vernunft oder auf Diskursverfahren und Konsens wie Habermas und Rawls. Zwar können utilitaristische Ethiken wie die von Singer und Birnbacher durch die Orientierung an der Minimierung von Leid und der Erfüllung von Präferenzen höhere Tiere einbeziehen, doch auch sie berücksichtigen weder deren intrinsischen Wert noch die Ordnung der Natur als Grundlage ethischer Normen. In ihnen spiegelt sich die mit dem Naturbegriff der Naturwissenschaften verbundene Trennung des Seins vom Sollen, sodass Werte entweder nur von der Vernunft gesetzt und begründet werden oder in ‚tiefen Gefühlen‘ wie der Leidensfähigkeit verankert sind. Dennoch kommt schon unter utilitaristischer Perspektive die Auffassung der Natur als Ressource durch die durch diese Einstellung ausgelösten ökologischen Veränderungen an ihre Grenze. Eine Verringerung der Stabilität, Komplexität und Regenerationsfähigkeit der Biosphäre vermindert unweigerlich die Lebensqualität und wird zu einer Bedrohung für die soziale Ordnung und das Überleben vieler Menschen. Dadurch entsteht Leid, das es zu vermeiden gilt. „Die wichtigste Erkenntnis, die von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft gegenwärtig geteilt wird, lautet, dass unser ressourcenschweres westliches Wohlstandsmodell (heute gültig für eine Milliarde Menschen) nicht auf weitere fünf oder bis zum Jahr 2050 sogar auf acht Milliarden Menschen übertragbar ist. Das würde alle biophysikalischen Grenzen unseres Systems Erde sprengen.“ 447 Nicht nur der

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an wachsendem Konsum orientierte westliche Lebensstil, der derzeit auch von Schwellen- und Entwicklungsländern angestrebt wird, sondern seine Verbindung mit einem rapiden Bevölkerungswachstum, das sich vor allem in den ärmeren Ländern der Erde vollzieht, sind entscheidend für die Ausbeutung der Natur. Das Argument, jeder dürfe selbst entscheiden, wie viele Kinder er zeugt, verliert seine Gültigkeit, wenn dadurch andere Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren. Wenn das Recht auf ein selbstbestimmtes, menschenwürdiges Leben den Respekt vor der Freiheit des Anderen beinhaltet, dann muss der Ressourcenverbrauch ebenso wie die Kinderzahl mit den Lebensmöglichkeiten aller Menschen vereinbar sein. Die Verantwortung für die Reduktion von Umweltbelastung und Naturzerstörung liegt daher nicht nur bei den reichen Ländern mit ihrem exzessiven Lebensstil, sondern auch bei den Ländern mit zu hohen Geburtenraten, die für andere Sozialstrukturen und eine Neubewertung der Geschlechterrollen Sorge tragen müssen. Doch die drohenden Folgen des Klimawandels beinhalten auch die Chance zu einem ethischen und politischen Fortschritt: Da die Biosphäre die Lebensgrundlage aller Menschen, in Europa und Afrika ebenso wie in Asien und Amerika ist, sitzen alle aufgrund ihrer psycho-physischen Konstitution buchstäblich in einem Boot. Nimmt man das Bedürfnis zu überleben und qualitativ gut zu leben als Minimal-Kriterium eines kulturübergreifenden ethischen Konsenses, dann dürfen die Eingriffe das globale System zumindest nicht großräumig und langfristig stören. „Natur“, so argumentiert Spaemann, „ist jene basale Normalität, die − im Unterschied zu der kulturspezifischen − nicht nur faktisch, sondern prinzipiell der diskursiven Problematisierung entzogen ist. Das bezieht sich heute vor allem auf die ökologischen Erhaltungsbedingungen der Menschheit. Der gesellschaftliche und politische Konsens muß sich bei Strafe des Untergangs mit diesen von ihm unabhängigen Größen in Übereinstimmung bringen.“448 Bereits rein utilitaristische und anthropozentrische Gründe machen demnach eine auf Konventionen und Traditionen, rationalem Konsens und Interessenabwägung beruhende Ethik genauso unmöglich wie einen Relativismus kultureller Sprachspiele. Nicht abstrakte Ideen, sondern die Möglichkeiten der modernen Technik und ihr Gefahrenpotenzial lassen die Menschheit zusammenwachsen. Die Einsicht, dass man die Natur nicht beherrschen kann wie eine Maschine, verändert das menschliche Selbstverständnis an seinen Wurzeln. Die Eigendynamik der Biosphäre begrenzt den Spielraum des individuellen Lebensstils, politischer Entscheidungen und ökonomischer Strategien. Im Handeln setzen sich Menschen mit ihren Bedürfnissen und Zielen in ein Verhältnis zu etwas, das sie weder erzeugt haben noch kontrollieren können. Durch den Willen, zu überleben, gewinnt die Natur nicht nur eine ethische, sondern auch eine existenzielle Bedeutung. Trotz der Ungleichzeitigkeit verschiedener Kultu-

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ren müssen zumindest einige Werte formuliert werden, die universale Geltung haben. Die Erhaltung der Natur, so Reichholf, „muss Teil einer globalen Partnerschaft werden.“449 Erste, zögerliche Schritte in diese Richtung wurden auf dem Umweltgipfel 1992 in Rio de Janeiro und allen nachfolgenden Klimakonferenzen unternommen: Die Erhaltung der Biodiversität zusammen mit einer nachhaltigen Entwicklung sei, so die Erklärung, eines der Hauptziele der Staatengemeinschaft der Erde. Auch die Bundesregierung hat sich bei der Konferenz von Rio verpflichtet, nachhaltige Wirtschaftsformen zu unterstützten. Nur dann kann die Politik ihrem Auftrag gerecht werden, das physische, psychische und soziale Wohlergehen der Bevölkerung und der kommenden Generationen zu sichern. 2007 veröffentlichte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung folgende Verlautbarung: „Wohlstand und Lebensqualität für heutige und künftige Generationen zu sichern sind zentrale Aufgaben der Politik. Sie folgt dabei dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung: jede Generation muss ihre Aufgaben lösen und darf sie nicht den nachkommenden Generationen aufbürden. 1992 haben sich die Vereinten Nationen zum Leitbild der nachhaltigen Entwicklung bekannt, indem sie in Rio de Janeiro ein globales Aktionsprogramm verabschiedeten. Mit der „Agenda 21“ erklärte sich jeder der über 170 Unterzeichnerstaaten − auch Deutschland − bereit, das Leitbild national in allen Politikbereichen unter Beteiligung von Gesellschaft und Wirtschaft umzusetzen.“ Weder die gigantische Staatsverschuldung noch die Erzeugung und Lagerung von atomarem Müll, der noch etliche Jahrtausende strahlen wird, ist mit der Erklärung, dass die gegenwärtig lebende Generation ihre Probleme nicht den kommenden Generationen aufbürden dürfe, zu vereinbaren. Inzwischen ist der Begriff der Nachhaltigkeit allerdings zu einer Art Joker geworden, der überall da eingesetzt wird, wo es sich um langfristige Interessen dreht, sodass der Bezug zur Ökologie oft völlig verloren gegangen ist. Ursprünglich stammt der Begriff, der 1713 von Hans C. v. Carolowitz geprägt wurde, aus der Forstwirtschaft. Er diente zur Charakterisierung der Bewirtschaftungsweise eines Waldes, bei der nicht mehr Holz entnommen werden darf wie nachwachsen kann. Würde der Wald vollständig abgeholzt, würden auch die in der Holzwirtschaft tätigen Unternehmen ihre Existenzgrundlage verlieren. Kurzfristiges Denken, so erkannte man, musste in den wirtschaftlichen Ruin führen. Nachwachsen können Bäume freilich nur, wenn man auch ihre Wachstumsbedingungen erhält, zu denen vor allem Böden und Wasser gehören, und die Zeitskalen beachtet, die bestimmte Baumarten für ihr Wachstum benötigen. Weder die Umweltbedingungen noch die zeitlichen Maßstäbe können von Menschen festgelegt werden. Zunächst ging man jedoch davon aus, dass es genügt, den Baumbestand rein quantitativ zu erhalten, sodass an die Stelle von Mischwäldern Mo-

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nokulturen traten, die das Kriterium der Nachhaltigkeit zu erfüllen schienen. Erst in den letzten Jahrzehnten erkannte man, dass diese für Krankheiten und Windbruch sehr anfällig sind und sich die Fruchtbarkeit der Böden schnell erschöpft. Nicht allein die Quantität der Bäume, sondern auch ihre Zusammensetzung ist daher für eine nachhaltige Waldwirtschaft entscheidend. Der heute maßgebliche Begriff der nachhaltigen Entwicklung wurde 1987 von der Brundtland-Kommission definiert. Er beinhaltet „eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstandard zu wählen.“ Nachhaltiges Wirtschaften fordert die Orientierung an den zeitlichen Dimensionen, die bestimmte Ressourcen wie Wasser, Böden, Wälder und Tiere zur Regeneration benötigen. Deren Zeitskalen, und nicht menschliche Interessen, legen fest, in welchem Umfang sie benutzt werden dürfen. Die jeweils lebende Generation hat die ethische Verpflichtung, den Planeten so zu hinterlassen, dass auch künftige Generationen überleben und ein qualitativ gutes Leben führen können. Was allerdings unter ‚Bedürfnissen‘ zu verstehen ist, ist interpretationsbedürftig, und ob ein nachhaltiger Lebensstil tatsächlich mit einer freien Wahl des Lebensstandards verträglich ist, erscheint fragwürdig. Entscheidend ist jedoch der Impuls, dass die gegenwärtige Generation die Ressourcen nicht soweit aufbrauchen darf, dass die kommenden Generationen keinen Spielraum für ihre Lebensgestaltung mehr haben. Das Glück der gegenwärtigen Generation darf nicht, so hat Jonas bereits 1979 in seinem Werk ‚Das Prinzip Verantwortung‘ gefordert, mit dem Unglück oder gar der Vernichtung späterer Generationen erkauft werden. Da durch die Folgen maßlosen Handelns grundlegende Werte vernichtet werden, verliert die ohnehin typologisch zugespitzte Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik ihre Funktion, sodass sich der Radius ethischer Pflichten in zeitlicher Hinsicht erweitert. Die Menschen sollten zudem nicht nur überleben, sondern ihre körperlichen und geistigen Möglichkeiten, zu denen auch ethische Pflichten gehören, entfalten können. Die Sicherung des Lebensstandards kann hierfür nur ein begrenztes Mittel sein. Jonas erweitert daher den kategorischen Imperativ Kants um das Postulat, die Bedingungen für den unbegrenzten ‚Fortbestand der Menschheit auf Erden‘ zu erhalten. Zu ihnen gehören eine soziale Ordnung, die die Würde der Menschen schützt, der genetische Code als biologischer Basis und die Ordnung der Natur als Lebensgrundlage. „‘Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden‘; oder, negativ ausgedrückt: ‚Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens‘; oder, wieder positiv gewendet: ‚Schließe in deine ge-

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genwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein‘.“450 Um die gegenwärtigen Lebensbedingungen zu erhalten, genügt es nicht, die Auswirkungen von Eingriffen nur lokal und in Hinblick auf kurzzeitige Reichweiten abzuschätzen. Auch die möglichen Fernwirkungen des Handelns und die Überlagerung verschiedener Effekte müssen berücksichtigt werden. Die Zukunft gehört daher zur „unabgeschlossenen Dimension unserer Verantwortlichkeit.“451 Verantwortung ist ein Korrelat zur Macht. Je umfassender diese ist, desto weiter reicht jene – räumlich wie zeitlich. Zumindest bei einigen regenerierbaren Ressourcen gibt es erste Ansätze zu einer Institutionalisierung der Kontrolle nachhaltigen Wirtschaftens: Der Forest Stewardship Council (FSC), eine internationale, gemeinnützige Organisation, hat die Verpflichtung übernommen, die Regeneration der Wälder zu überwachen. Die Motive der Holzkonzerne, nachhaltig zu wirtschaften, sind auch heute in der Regel ökonomischer Natur. Ähnlich dramatische Folgen wie die Abholzung der Wälder für die Interessen der Unternehmer hat inzwischen die Überfischung der Meere. Die Missachtung der Zeitskalen, die die Fischbestände zu ihrer Regeneration benötigen, bedroht und vernichtet die Existenzgrundlage zahlloser Fischer weltweit. Wie der FSC ist der Marine Stewardship Council daher bestrebt, Fische, die nachhaltig gefangen wurden, für den Verkauf zu kennzeichnen. „Die Kriterien, die das MSC an die Fischerei anlegt, wurden in Gesprächen von Fischern, Fischereimanagern, Fischverarbeitern, Einzelhändlern, Fischereiwissenschaftlern und Umweltgruppen festgelegt. Am wichtigsten ist, dass die Gesundheit der Bestände (einschließlich ihrer Geschlechts− und Altersverteilung sowie ihrer genetischen Vielfalt) auf unbegrenzte Zeit erhalten bleibt; die Fischerei soll eine nachhaltige Nutzung anstreben, die Ökosysteme unversehrt lassen, die Auswirkungen auf Lebensräume und unerwünschte Arten (Beifang) so gering wie möglich halten, Regeln und Verfahren zur Bewirtschaftung der Bestände und zur Verringerung der Beeinträchtigungen aufstellen.“452 Unter diesen Voraussetzungen erweist sich die viel zitierte Aussage von Brecht, dass erst das Fressen komme und dann die Moral, als irreführend. Zwar entsteht erst, wenn das Überleben gesichert ist, die Freiheit, sich höheren ethischen Werten zuzuwenden. Doch das häufig vertretene Argument, dass Menschen zuerst für ihre vitalen Bedürfnisse sorgen müssen und sich erst dann am Prinzip der Nachhaltigkeit orientieren können, dass also Umweltschutz eine Sache wohlhabender Länder sei, ist jenseits der drängenden ökologischen Probleme anthropologisch falsch. Schon um zu überleben müssen auch Handlungen, die der Befriedigung biologischer Grundbedürfnisse dienen, an natürliche Prozesse angepasst und an ethischen Prinzipien orientiert sein. Zumindest in Hinblick auf eine für die Erhaltung der Gattung notwendige biologische Funktion ist dieser Gedanke seit langem vertraut: In allen Kulturen

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ist die Sexualität in soziale Traditionen und ethische Wertungen eingebettet. Auch die Herstellung von Nahrung und Wohnraum erfolgte in vielen Stammeskulturen in Übereinstimmung mit mythischen Schilderungen über die Erschaffung der Welt oder göttlichen Geboten. Sie gaben vor, welche Nahrungsmittel benutzt werden durften und an welchen Orten Dörfer errichtet werden sollten. Zumindest der Kern des Gedankens gilt uneingeschränkt noch unter den Bedingungen der modernen Welt: Schon in der Befriedigung biologischer Bedürfnisse, in der Erzeugung von Nahrung, der Anlage von Städten und der Wahl von Fortbewegungsmitteln müssen Grenzen akzeptiert werden. Nur wenn die Natur in ihrer Komplexität, ihren zeitlichen Rhythmen und ihrer Eigendynamik respektiert wird, können sich Ressourcen zumindest für eine relativ lange Zeit regenerieren, sodass das Überleben und ein qualitativ gutes Leben möglich sind. Verantwortung erstreckt sich daher nicht nur auf den Menschen als Vernunft- und Kulturwesen, sondern auch auf seine vitalen Funktionen und die Mittel, die zu ihrer Befriedigung gewählt werden. Die Sorge um das eigene psycho-physische Befinden beinhaltet die für die Umwelt. Ein selbst-bestimmtes, menschenwürdiges Leben beruht gerade nicht auf der Freiheit, jederzeit alles tun zu können, was man will, sondern auf einem im ursprünglichen Sinn des Wortes maßvollen, Proportionen wahrenden Handeln. Die Erfahrung, dass der Wille, die Welt nach dem eigenen Bilde zu gestalten, an Grenzen stößt, sollte jedoch nicht den Beigeschmack von bitterem Verzicht, strenger Askese, Frustration oder Resignation beinhalten. Die Konfrontation mit den Grenzen des Machbaren beinhaltet die Chance, ein neues Leitbild von Ökonomie und Technik zu entwickeln, das sich von dem der Antike ebenso unterscheidet wie von dem der Neuzeit. Angesichts der wachsenden Zahl von Menschen auf diesem Planeten wäre eine Rückkehr zum einfachen Handwerk aussichtslos, sodass die Alternative entweder Hochtechnologie oder Rückkehr zur Natur, die die Menschen noch immer in zwei unversöhnliche Lager spaltet, überholt ist. Nur moderne Formen der Hochtechnologie, wie sie sich in der Gewinnung von Solarenergie und der Tröpfchenbewässerung abzeichnen, können das Überleben sichern. Sie beruhen nicht mehr auf der Ausbeutung und Veränderung der Natur, sondern auf der Arbeit mit ihren Kräften. Mit guten Gründen gelten diese Technologien daher heute als Schlüsseltechnologien. Dennoch sind rein technische Lösungen unzureichend, da sie der Vorstellung verhaftet bleiben, dass der bisherige Lebensstil mithilfe technischer Lösungen ungebrochen weitergeführt werden kann. Eine noch stärkere Ökonomisierung und Entsinnlichung aller Lebensbereiche wäre die Folge. Die technische Entwicklung muss daher von einer Neubestimmung der Vorstellungen von Lebensqualität und Fortschritt geleitet werden, die nur unzureichend durch materielle Kategorien wie die Steigerung des Prokopfeinkommens bestimmbar sind.

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Solange die Minimalbasis der Handlungsorientierung Überleben und Eigennutz sind, haben Werte nur einen funktionalen Charakter; sie sind nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung für ein menschenwürdiges Leben, das Menschen im Sinne des kategorischen Imperativs von Kant, des Artikels 1 des deutschen Grundgesetzes und der Menschenrechtserklärung immer auch um ihrer selbst willen respektiert. Mit der Evolution des Menschen ist jedoch auch ein neues soziales und ethisches Verhaltensspektrum entstanden, zu dem Freundschaft und Liebe ebenso wie das Bemühen um gerechte Sozialstrukturen, die Suche nach gewaltfreien Konfliktlösungen, die Fähigkeit zu verantwortungsbewusstem Verhalten, der Respekt vor der Menschenwürde und das existenzielle Streben nach Sinn und Wahrheit gehören. Auch das sinnlich-ästhetische Erleben der Natur, auf das wir noch eingehen werden, braucht einen angemessenen Raum. Mit Maslow gesprochen sollten Menschen nicht nur Mangel-, sondern auch Wachstumsmotivationen entfalten können.453 Um die raum-zeitlichen Folgen von Eingriffen abzuschätzen, sind neben ethischem Urteilsvermögen auch Sachkenntnisse gefordert. Aufgrund der Komplexität und der Prozessualität der Welt werden jedoch nie alle Tatsachen bekannt sein und alle Hypothesen empirisch getestet werden können. Deshalb sollte nicht nur das, was man weiß, sondern auch das, was man nicht weiß, in eine Entscheidung mit einfließen. Außerdem würde die Asymmetrie von Vergangenheit und Zukunft verfehlt, wenn man nur die Folgen berücksichtigen würde, die aufgrund der bisherigen Kenntnisse prognostizierbar sind. In der mehr oder weniger fernen Zukunft können durch die nicht vorhersehbare Verkettung von Ereignissen völlig neuartige Probleme auftreten. Wirkungen breiten sich nicht linear aus, und sie lassen sich nicht unabhängig von der Interaktion mit anderen Prozessen analysieren; durch die Überlagerung mit anderen Effekten können sie sich verstärken oder abschwächen. Aus Modellen über die Auswirkungen des Klimawandels weiß man, wie sehr sich Zukunftsszenarien ändern, wenn man nur eine einzige Komponente anders gewichtet oder ignoriert. Technologien, deren Einsatz schwerwiegende Folgen haben, dürfen nicht mit der Begründung, dass man irgendwann technische Lösungen finden werde, zur Anwendung kommen. Nicht allein, dass es unethisch ist, kommenden Generationen ökonomische und ökologische Altlasten für das eigene Wohlleben aufzubürden; auch die Folgen könnten durch die Verkettung mit anderen Effekten akkumulieren, wie gerade die Unfälle der letzten Monate lehren: die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko 2010 und der Reaktorunfall von Fukushima in Japan 2011. Gedankenexperimente und Modelle, die mithilfe von Computersimulationen durchgespielt werden, müssen durch die Einfühlung in die existenzielle Bedeutung ergänzt werden, die Ereignisse für die Betroffenen haben würden. Erst

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dadurch gewinnt der funktional kalkulierbare Aspekt eine genuin humane Dimension. Nicht jedes Risiko kann oder sollte ausgeschlossen werden; und doch sollte man bei Entscheidungen, die die Zukunft von Menschen betreffen, nicht weniger sorgfältig verfahren wie ein guter Bergsteiger, der eine Expedition in unbekanntes Gelände plant und sich auf absehbare und mögliche Risiken einstellt, um dann Ereignissen gewachsen zu sein, die er nicht vorhersehen konnte. Im Zweifelsfall, so argumentiert Jonas, solle man sich von einer Heuristik der Furcht leiten lassen. Anders als G. Anders sieht Jonas in der Technik kein prinzipielles Verhängnis oder, wie Heidegger ein Gestell, das den Zugang zum Sein verwehrt. Dennoch kann die technische Entwicklung nicht das Lebensziel sein; schließlich ist nicht der Mensch für die Technik, sondern diese für den Menschen gemacht. Erst wenn sie in eine Hierarchie von Werten, die das menschliche Leben insgesamt bestimmen, eingeordnet wird, kann sie ihre eigentliche Funktion erfüllen. Es besteht kein Zweifel, so betont Cassirer, „daß all die Mängel und Schäden der modernen technischen Kultur nicht aus ihr selbst, als vielmehr aus ihrer Verbindung mit einer bestimmten Wirtschaftsform und Wirtschaftsordnung zu verstehen sind − und daß demnach jeder Versuch der Besserung an dieser Stelle den Hebel anzusetzen hat. In diesem Aufbau der Grundgesinnung, auf der alle sittliche Gemeinschaft ruht, kann die Technik immer nur Dienerin, nicht Führerin sein. Sie kann die Ziele nicht von sich aus stellen, wenngleich sie an ihrer Verrichtung mitarbeiten kann und soll; sie versteht ihren eigenen Sinn und ihr eigenes Telos am besten, wenn sie sich dahin bescheidet, daß sie niemals Selbstzweck sein kann, sondern sich einem andern ‚Reich der Zwecke‘ einzuordnen hat. In diesem Sinne bildet die Ethisierung der Technik eines der Zentralprobleme unserer gegenwärtigen Kultur.“454 Die Dynamik der Weltgesellschaft kann nur dann auf die der Biosphäre abgestimmt werden, wenn man auch die unterschiedlichen Zeitskalen, die für Natur und Kultur von Bedeutung sind, berücksichtigt. Die Quantifizierung der Zeit ist eines der Fundamente der modernen Gesellschaft und Ökonomie. Um den ständigen Austausch von Information, Gütern und sogar Menschen zu koordinieren, muss die Zeitskala weltweit dieselbe sein. Messbar, so wusste bereits Aristoteles, ist die Zeit nur, wenn man sie in homogene Abschnitte einteilt, die in einer Linie aufeinander folgen, ohne dass ihr innerer Zusammenhang und ihre Bedeutung sichtbar werden. Dadurch scheint alles zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich zu sein. Handlungen können geplant werden, weil die Zukunft als Verlängerung der Gegenwart erscheint. Durch die Unabhängigkeit von den Rhythmen der Natur erweitert sich der Handlungsspielraum nahezu unbegrenzt. Im Unterschied zur gemessenen Zeit ist die Dynamik ökologischer und biologischer Systeme durch zyklisch-wiederkehrende Prozesse bestimmt. Nicht

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nur die Stabilität eines einzelnen Organismus, auch die von Ökosystemen beruht, so haben wir gesehen, auf der Korrelation der Eigenzeiten von Lebewesen. Werden diese aus ihrem Zusammenspiel gelöst, verlieren die Organismen ihre Lebensgrundlage und ein Ökosystem seine Stabilität. Die Anpassung ökologischer Prozesse an die lineare Zeit ist deshalb nur innerhalb enger Grenzen möglich, sodass ein Konflikt zwischen der ständigen Beschleunigung des modernen Lebens und der vergleichsweise langsamen Regeneration natürlicher Ressourcen und der wechselseitigen Abhängigkeit vieler Prozesse voneinander unvermeidbar ist. Auch die Regenration anorganischer Stoffe wie Wasser und Boden hängen nicht nur von chemischen Prozessen, sondern auch von den Aktivitäten zahlloser Organismen ab. Anders als in Antike und Mittelalter, in denen die Einordnung des menschlichen Lebensstils in die natürlichen Rhythmen dominierte, stellt sich in hoch technisierten Gesellschaften die Aufgabe, die Dynamik von Ökosystemen, das soziale Handeln und die individuelle Lebensgestaltung bewusst aufeinander abzustimmen. Aufgrund der Interaktion zahlloser Prozesse entscheidet nicht nur die Stärke eines Eingriffs über dessen Wirkung, sondern auch der Zeitpunkt der Intervention. Er ist bestimmt, ob sich geringfügige Effekte durch Überlagerungen aufschaukeln oder starke Störungen gedämpft werden. Je großräumiger und komplexer ein System ist, desto länger dauert es, bis Störungen wieder abgeklungen sind. Der Umfang, die Geschwindigkeiten und die Zeitpunkte von Eingriffen müssen daher auf die Eigen- und Systemzeiten ökologischer Prozesse abgestimmt sein. Ein nachhaltiger Umgang mit der Natur, so heißt es in einer Broschüre des Deutschen Bundestages, ist nur gegeben, wenn „das Zeitmaß menschlicher Eingriffe in die Umwelt in einem ausgewogenen Verhältnis zum Zeitmaß der Reaktionsvermögen der natürlichen Stoffe steht.“455 Mit einer Ethik, die nicht nur auf Konsens beruht, ist auch in anthropologischer Hinsicht ein verändertes Selbstverständnis gefordert: Identität kann nicht nur auf der bewussten Identifikation mit Interessen oder, wie Sartre glaubte, auf dem eigenen Lebensentwurf beruhen. Sie gründet nicht nur beiläufig, sondern wesentlich auf der durch den Leib vermittelten Beziehung zur Natur. Das Akzeptieren von etwas, das sich der Verfügbarkeit entzieht, erscheint als Bedingung der Möglichkeit eines selbstbestimmten und ethisch verantwortlichen Lebens. Wenn sich Identität erst aus der Beziehung zu anderem konstituiert, dann gewinnt auch die Freiheit, wie Jaspers betont, ihren Sinn erst gegenüber einer Bindung, die die Form von Herausforderung, Anerkenntnis oder Verantwortung annehmen kann.456

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10.2 Pathozentrische Ethik Erst im 20. Jh. kam ein Prozess zum Abschluss, der in der Aufklärung begonnen hatte. Alle Menschen, so hatte Kant argumentiert, haben eine Würde, weil sie ihre Handlungen nach ethischen Prinzipien beurteilen können. Doch nur allmählich wurden auch Frauen, Schwarze und Indianer als gleichwertig respektiert. 1948 wurde durch die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen die Menschenwürde von vielen Nationen als kulturübergreifende Norm anerkannt. Dessen ungeachtet dauerte es noch bis in die 1990er-Jahre, bis die Schwarzen in Südafrika und die Aborigines in Australien als Bürger mit gleichen Rechten akzeptiert wurden. Die Dynamik, durch die sich in den letzten Jahrhunderten der Kreis ethischer Pflichten erweitert hat, ist allerdings nach wie vor nicht abgeschlossen. In den letzten vier Jahrzehnten haben verhaltensbiologische Studien über die Fähigkeiten vieler Tiere, Berichte über intensive Massentierzucht und Tierversuche und die erschreckenden Ausmaße des Artensterbens zu intensiven Diskussionen über den moralischen Status von Tieren geführt.457 Sollte man nicht zumindest leidensfähigen Wesen eine artgerechte Haltung zugestehen? Haben sie keinen Eigenwert, den es zu respektieren gilt? Haben also Menschen ihnen gegenüber keine Pflichten? Häufig ist die Argumentation zum Schutz der Tiere anthropozentrisch: Man fürchtet negative Auswirkungen auf den Menschen, wenn er Tiere misshandelt. Er verliert, so argumentierte bereits Thomas Morus in seinem Werk ‚Utopia‘, die Fähigkeit zum Mitleid, wenn er sich an das Schlachten gewöhnt. Aus einem ähnlichen Motiv wandte sich Kant gegen Tierquälerei.458 Erst durch die Wendung gegen die einseitige Vernunftbetonung der Philosophie der Aufklärung trat im 19. Jh. bei J. Bentham, J. S. Mill und A. Schopenhauer die Leidensfähigkeit als moralisch bedeutsam in den Blick. Da Menschen aus eigener Erfahrung wissen, was es heißt, zu leiden, können sie, so argumentiert Schopenhauer, mitleiden. Im Mitleid empfindet man den Schmerz eines anderen Wesens fast so, als ob man ihn selbst erleben würde. Es führt, so kommentiert Schrödinger, „zu einem Schmerz von völlig anderer Art, in extremsten Fällen sogar bis zur grausamsten Qual.“459 Im Mitleiden wird die Barriere durchbrochen, die gewöhnlich das in egoistische Strebungen verstrickte Ich von anderen trennt und die tiefe Einheit allen Seins erfahren. Wie im Buddhismus wird daher auch für Schopenhauer das Mitleid mit allen fühlenden Wesen zum Motiv des Handelns: „Die vermeinte Rechtlosigkeit der Thiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen Thiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Roheit und Barbarei des Occidents. Mitleid mit Thieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Thiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein. Auch zeigt dieses

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Mitleid sich als aus derselben Quelle mit der gegen Menschen zu übenden Tugend entsprungen.“460 Auch der Utilitarismus geht von der Leidensfähigkeit aus. Sein Ziel ist allerdings nicht die Aufhebung von Egoismus und Eigenwillen, sondern die Maximierung der Summe an Glück in der Welt und die Realisierung der eigenen Präferenzen. Ausschlaggebend für die Beurteilung von Handlungen sind die Folgen, die sich in Hinblick auf dieses Ziel ergeben. Um die Summe an Wohlbefinden zu erhöhen, muss man alle Formen von Leid, auch das von Tieren, vermeiden. Einer der prominentesten Tierethiker, der dem Präferenzutilitarismus verpflichtet ist, ist P. Singer. Ausdrücklich wendet er sich in seinem Werk ‚Animal Liberation‘ gegen alle Praktiken, die Tieren Leid zufügen: gegen die intensive Massentierhaltung, gegen Schlachtungen, die Panik erzeugen und gegen Tierversuche. Da Singer einen Speziezismus verwirft, der ethische Verpflichtungen auf zwischenmenschliche Verhältnisse beschränkt, wird der Begriff der Person auf alle Lebewesen angewandt, die aufgrund von Zeitempfinden und Rationalität ein Interesse an ihrer Zukunft haben. Wird ihnen diese genommen, indem man sie tötet, entsteht Leid. In Konfliktsituationen müssen daher für Singer auch die Interessen der betroffenen Tiere in die Abwägung einbezogen werden.461 Da Singer empirisch vorgeht, erkennt er jedoch nur die Fähigkeiten an, die ein Lebewesen aktuell hat, sodass sein Potenzial und gattungsspezifische Merkmale unberücksichtigt bleiben. Dadurch beinhaltet die Aufwertung der meisten Tiere eine Abwertung geistig behinderter Menschen und von Säuglingen, die (noch) kein Bewusstsein von sich und keine Vorstellung von ihrer Zukunft besitzen. Im Unterschied zu hoch entwickelten Säugetieren sind sie für Singer keine Personen, sodass kein Leid entsteht, wenn sie schmerzfrei getötet werden. Allerdings ist die nur an aktuell vorhandenen Fähigkeiten orientierte Definition der Person auch für Tiere problematisch: Auch sie haben keinen Eigenwert, sodass sie nur dann nicht getötet werden sollten, wenn Schmerz und Leid unvermeidlich sind. Obwohl Hühner und Schweine nach dem bisherigen Wissensstand kein Selbstbewusstsein haben, sie also im Sinne von Singer keine Personen sind, empfinden sie Stress und Panik, wenn sie getötet werden. Auch ohne Wissen um ihre Zukunft sollten sie, so argumentiert Singer, nicht leiden. Während sich Singer um ihren Schutz unbestreitbare Verdienste erworben hat, ist es befremdlich, dass er davon ausgeht, dass man Embryonen und Säuglinge, anders als Schweine, Rinder und Hühner, schmerz- und leidfrei töten kann. Unberücksichtigt bleibt außerdem, dass auch Tiere Entwicklungsphasen durchlaufen, in denen bestimmte Merkmale noch nicht ausgebildet sind. Nur bei wenigen Tierarten erreichen die erwachsenen Exemplare eine Form des Bewusstseins, die Singers Persondefinition erfüllt. Bei der in den meisten Ethiken vollzogenen Beschränkung auf die Regelung intersubjektiver Verhältnisse bleibt die evolutionäre Verwandtschaft der Lebe-

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wesen und damit die Vorgeschichte kognitiver, emotionaler und moralischer Fähigkeiten unberücksichtigt, aus der sich schon für Darwin eine Ausweitung der Ethik ergab: Auch beim Menschen, so Darwin, erklären sich viele soziale Verhaltensweisen zunächst aus dem Nutzen für das Überleben. Für den Zusammenhalt der Gruppe und ihre Auseinandersetzung mit der Umwelt ist es vorteilhaft, wenn die Individuen intelligent, mutig, loyal und hilfsbereit sind. In dem Maß, in dem sich die Moral auf immer größere Gruppen erstreckte, verwandelte sich auch das Motiv des Handelns: Empathie, Einsicht und Pflichtgefühl gewannen an Bedeutung. Die folgende Überzeugung Darwins klingt fast wie eine Vorwegnahme des Stufenschemas, das Kohlberg für die moralische Entwicklung des Individuums entworfen hat: „Schließlich entsteht unser moralisches Gefühl, oder unser Gewissen; ein äußerst kompliziertes Empfinden, entsprungen den sozialen Instinkten, geleitet von der Anerkennung unserer Mitmenschen, geregelt von Verstand, Eigennutz und, in späteren Zeiten, von tiefen religiösen Gefühlen, und befestigt durch Erziehung und Gewohnheit. Es darf nicht übersehen werden, daß, wenn auch ein hoher Grad von Sittlichkeit jedem einzelnen Mann mit seinen Kindern nur ein geringes Übergewicht über die anderen Menschen desselben Stammes gibt, eine Vermehrung der Zahl gutbegabter Menschen und ein Fortschritt der Sittlichkeit doch dem ganzen Stamm eine ungeheure Überlegenheit über alle anderen Stämme verleiht. Wenn ein Stamm viele Mitglieder besitzt, die aus Patriotismus, Treue, Gehorsam, Mut und Sympathie stets bereitwillig anderen helfen und sich für das allgemeine Wohl opfern, so wird er über andere Völker den Sieg davontragen; dies würde natürliche Zuchtwahl sein. Da die Sittlichkeit ein wichtiges Mittel zu ihrem (der Stämme, R.K.) Erfolg ist, wird der Grad der Sittlichkeit und die Zahl gutbefähigter Menschen überall höher und größer werden.“462 Der Überzeugung, dass es auch eine Evolution der Moral gibt, liegt anthropologisch die Beobachtung zugrunde, dass Menschen als reine Egoisten nicht überleben könnten. Dadurch hängt der Erfolg einer Gruppe auch von den Werten ab, die die Individuen miteinander teilen. Das Verhalten lässt sich daher nicht nur durch Schemata erklären, die in der Vorzeit einmal nützlich waren. Es gewinnt eine Ausrichtung auf die Zukunft, die vom Verstand unterstützt wird. Durch sie wird nicht nur die genetische Verwandtschaft, sondern auch die Binnenmoral der Kleingruppe überschritten. „Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleine Stämme zu größeren Gemeinwesen sich vereinigen, so führt die einfachste Überlegung jeden Einzelnen schließlich zu der Überzeugung, daß er seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle, also auch auf die ihm persönlich unbekannten Glieder desselben Volkes auszudehnen habe. Wenn er einmal an diesem Punkte angekommen ist, kann ihn nur noch eine künstliche Schranke daran hindern, seine Sympathien auf die Menschen aller Nationen

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und Rassen auszudehnen.“463 Für Darwin ist demnach die Idee eines ethischen Kosmopolitismus, wie ihn die stoische Philosophie erstmals entwickelt hatte, nicht nur mit der Evolution vereinbar, sondern folgt geradezu aus ihr. Nicht nur Handlungen, sondern sogar die diese motivierenden Gedanken und Gefühle würden auf der „höchstmöglichen Stufe moralischer Kultur kontrollierbar sein.“464 Für viele moderne Evolutionstheoretiker ist dagegen ein genetisch bedingter Egoismus die eigentliche Triebkraft des Handelns, die sich auch noch hinter scheinbar altruistischen Taten verbirgt. Die Maximierung des eigenen Vorteils ist das Ziel, das über die Wahl der Mittel entscheidet. Zweifellos werden heute durch Überbevölkerung und Globalisierung einerseits Konkurrenz und der Kampf um knappe Ressourcen gesteigert; auch die technischen Mittel der Destruktion sind so groß wie noch nie.465 Doch andererseits erstrecken sich bei Naturkatastrophen, die dank der modernen Medien in Minuten rund um den Globus bekannt werden, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft auf alle Betroffenen, unabhängig von ihrer religiösen, ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit. Die Orientierung an ethischen Werten ist nicht nur eine Frage des Überlebens, sondern auch von Mitgefühl motiviert. Im Sinne von Darwin schreibt de Waal: „Die Moral auch jenseits solcher Grenzen [der Gemeinschaft, R. K.] anzuwenden ist die große Aufgabe unserer Zeit. Wenn wir universelle Menschenrechte formulieren – die selbst für unsere Feinde gelten sollen, wie es die Genfer Konvention verlangt − wenden wir ein System, das sich aus gruppeninternen Gründen entwickelt hat, außerhalb der Gruppe an.“466 Während sich für viele moderne Evolutionstheoretiker die Menschen nur aus schierem Überlebensinteresse für die Erhaltung der Biosphäre einsetzen, ging Darwin auch in dieser Hinsicht einen entscheidenden Schritt weiter. Aus der Ausweitung des Gefühls der Sympathie würde schließlich sogar eine artübergreifende Ethik erwachsen. „Die Idee der Humanität scheint sich bei zunehmender Verfeinerung und Erweiterung unseres Wohlwollens nebenher zu entwickeln, bis sie mit der Ausdehnung desselben auf alle empfindenden Wesen ihren Höhepunkt erreicht.“467 Nicht eine Sympathie mit einzelnen Arten oder Individuen, die man besonders mag, sondern die Leidensfähigkeit nichtmenschlicher Kreaturen und die Fähigkeit zum Mitleiden werden zur Grundlage einer Ethik, die mit der Schopenhauers und des Buddhismus konvergiert. Im Buddhismus gelten Mitgefühl, Freundlichkeit und Wahrhaftigkeit als Tugenden, die zur Verminderung des Leids in der Welt und zur Erlösung von ihr beitragen, indem sie die Befreiung von der Fixierung auf die eigenen Bedürfnisse unterstützen. Dabei sollte sich das Mitgefühl nicht nur auf andere Menschen erstrecken. Zu den grundlegendsten Richtlinien des Verhaltens gehört es, keine Form des Lebens sinn- und gedankenlos zu zerstören. Keinem fühlenden

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Wesen sollte man Schaden zufügen, allen sollte man Glück wünschen, − und zwar unabhängig von deren Verhalten. Denn, so die Begründung, auch deren Essenz ist die Buddhanatur selbst, sodass alle fühlenden Wesen im Kern miteinander verbunden sind und alles Leben heilig ist. Die Einübung in das richtige Handeln, Fühlen und Denken fordert allerdings eine lebenslange Disziplin. Die zunehmende Ausweitung des Bewusstseins geht einher mit dem Gefühl einer universellen Verantwortung. Neben der utilitaristischen und am Mitleid orientierten Form der Ethik gibt es noch eine dritte Argumentationsrichtung, die den Eigenwert von Tieren ins Zentrum rückt: Konsequent forderte Schweitzer am Beginn des 20. Jh. eine artübergreifende Ethik, die, anders als die Schopenhauers und des Buddhismus, von einer grundsätzlichen Lebensbejahung ausgeht. Alle Kreaturen von den Einzellern bis zum Menschen, so argumentiert Schweitzer, teilen den Willen zum Leben miteinander. Unter dieser Perspektive gibt es keine Hierarchie der Lebensformen, sodass die Menschen ‚Leben inmitten von Leben sind, das leben will‘468. Der Versuch, Lebensformen als höher oder niedriger, wertvoller oder weniger wertvoll zu klassifizieren, beruht für Schweitzer auf einer anthropozentrischen Sicht, die Lebewesen danach beurteilt, ob sie uns gefühlsmäßig näher oder ferner stehen. Doch kein Mensch kann wissen, welche Bedeutung ein Lebewesen im Weltganzen hat. Obwohl Schweitzer strenggenommen eine biozentrische Ethik vertritt, werden seine Gedanken aus systematischen Gründen bereits hier vorgestellt. Die Beschränkung der Ethik auf zwischenmenschliche Verhältnisse übergeht nicht nur andere Kreaturen, sondern verfehlt auch die genuin menschlichen Möglichkeiten. Vor allem die Fähigkeit zum bewussten Mitempfinden, zu Mitfreude und Mitleiden, zeichnet die Menschen vor anderen Kreaturen aus. Tiere leiden, aber sie können nicht mitleiden, da sie die Perspektive eines anderen Lebewesens noch nicht unabhängig von der eigenen erfassen. Deshalb ist ihnen auch die Achtung vor dem Leben anderer noch fremd. Bei einem Beutetier wird nicht unterschieden, wie alt es ist, ob es gerade Junge hat oder in seinem Lebensraum zu den bedrohten Arten gehört. Menschen dagegen können den Lebenswillen über Artgrenzen hinweg wahrnehmen und sich in ihrem Handeln darauf einstellen, sodass sie auch Tiere, die ihrem Empfinden fernstehen wie Ratten, Spinnen oder Schlangen, schützen können. Die Unfähigkeit, die Qual eines Lebewesens mitzuempfinden, ist für Schweitzer bereits eine Folge innerer Abstumpfung oder von Abwehr. Im Mitleiden muss man den Schmerz eines Lebewesens mit ertragen, während durch die Mitfreude eine vertiefte Teilnahme entsteht. Wie für Scheler ist daher auch für Schweitzer die Begründung der menschlichen Identität durch Rationalität, Sprache und Selbstbewusstsein verkürzt; sie umfasst auch Emotionen, durch die Menschen am Leben anderer

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Kreaturen Anteil nehmen können. Durch Mitleid und Mitfreude wird die Bezogenheit des Menschen auf sich und Seinesgleichen durchbrochen, sodass sich der Lebenshorizont erweitert, bis schließlich sogar die innere Einheit alles Lebendigen erfahrbar wird. „Die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben ist ethische Mystik. Sie läßt das Einswerden mit dem Unendlichen durch ethische Tat verwirklicht werden.“469 Dennoch darf man die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben nicht harmonistisch missverstehen. Da jedes Lebewesen leben will, gehören auch Kampf, Verdrängung und Konkurrenz zur Natur. Es ist unvermeidbar, dass ein Lebewesen auf Kosten anderer Lebewesen lebt, die es töten muss, um sich zu erhalten. Auch der Mensch kann dieser ‚Selbstentzweiung des Lebens‘ nicht entrinnen. Baut er ein Haus oder legt einen Garten an, betreibt er Landwirtschaft oder liebt ein so harmloses Vergnügen wie einen Spaziergang: Immer werden unzählige Lebewesen getötet. Da auch er sein eigenes Leben erhalten muss, muss er andere Lebewesen benutzen. Doch im Unterschied zu anderen Lebewesen kann er durch die Fähigkeit zur Selbstreflexion den Konflikt zwischen der Notwendigkeit, Leben zu vernichten und dem ethisch motivierten Wunsch, nicht zu töten, bewusst erleben.470 Gerade auf dem Tag für Tag neu erlebten Zwiespalt beruht für Schweitzer die Möglichkeit zu einer ethisch reflektierten Lebensführung. Indem die Vernichtung anderer Kreaturen seine Selbstverständlichkeit verliert, kann sie minimiert werden, sodass der Mensch sein Verhalten nicht mehr mit dem der Tiere rechtfertigen kann. Er solle, so schreibt auch Rilke, „aufhören, sich auf die Grausamkeit der Natur zu berufen, um damit die eigene zu entschuldigen.“471 Nicht auf dem Lebenswillen, sondern nur auf der Fähigkeit zum ethischen Verhalten beruht für Schweitzer die Differenz zu anderen Kreaturen. Da jede Situation einmalig ist, muss jeder Mensch selbst abwägen, welches Leben er jeweils opfert und welches er erhält. Da alle Kreaturen durch ihren Lebenswillen ein intrinsisches Ziel haben, können sie nie nur Mittel für menschliche Ziele sein. Um diesem Gedanken Ausdruck zu verleihen, wählt der Theologe K. Barth in der ‚Kirchlichen Dogmatik‘ den Begriff der Würde der Kreatur, der 1992 in die Schweizer Bundesverfassung aufgenommen wurde. „Ihre Ehre ist die Verborgenheit ihres Seins mit Gott nicht weniger als unsere Ehre das Offenbarsein ist. Denn was wissen wir schließlich, welches die größere Ehre ist? Was wissen wir, ob es sich wirklich so verhält, daß der äußere Kreis der anderen Geschöpfe nur um des inneren, nur um des Menschen willen da ist? Was wissen wir, ob es sich nicht gerade umgekehrt verhält? Was wissen wir, ob nicht beide Kreise, der äußere und der innere, je ihre eigene Selbständigkeit und Würde, je ihre besondere Art des Seins mit Gott haben? Was besagt ihre Verschiedenheit gegenüber der Tatsache, daß der Mensch Jesus als geschöpfliches Wesen beider Kreise Mittelpunkt ist?“472 Auch

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außerhalb eines theologischen Kontextes mehren sich die Stimmen derer, die für einen intrinsischen Wert von Tieren plädieren, weil sie, so argumentiert F. Ricken, zu qualifizierten Perzeptionen fähig und sich in subjektiver Unmittelbarkeit gegenwärtig sind und, so betont G. Ferré, ihr Leben aus innerem Antrieb und aufgrund eigener Ziele vollziehen.473 Tötet man ein Wesen, das einen Eigenwert hat, wird ein moralischer Wert vernichtet. Für T. Regan haben Tiere deshalb nicht nur schutzwürdige Interessen und ein Existenzrecht, sondern sind sogar Subjekte mit durchsetzbaren Rechten. Lange vor der bewussten Reflexion auf Werte werden Bedeutungen, die dem Lebensvollzug eine Orientierung geben, empfunden. Nicht nur das Sprachvermögen und die Fähigkeit zur Empathie tauchen nicht unvermittelt mit dem menschlichen Geist auf; auch der Sinn für Wert und Bedeutung erstreckt sich in Vorformen und unterschiedlichen Graden auf alles Lebendige. Vor allem höher entwickelte Tiere haben durch ihre Leidensfähigkeit ein intrinsisches Ziel, sodass sie nicht nur als Mittel für ökonomische, medizinische und wissenschaftliche Interessen, für Luxus oder Amusement benutzt werden sollten. Da Menschen um den Eigenwert von Tieren wissen, haben sie ihnen gegenüber Pflichten. Dennoch bleibt eine unaufhebbare Asymmetrie bestehen: Sieht man in Rechten Korrelate zu Pflichten, die die Fähigkeit voraussetzen, aus Einsicht in Gründe auch gegen Neigungen handeln zu können, dann können Tiere keine Rechtssubjekte sein. Sie können weder gegenüber ihresgleichen noch gegenüber Mitgliedern anderer Arten Pflichten übernehmen. Menschen dagegen können die Interessen von Tieren in analoger Weise wie bei kleinen Kindern und geistig Behinderten stellvertretend wahrnehmen. Im Unterschied zu Tieren ist es ein Strukturmerkmal des Menschen als Gattungswesen, dass er Verantwortung übernehmen kann, auch wenn einige Individuen in bestimmten Lebensphasen oder aufgrund von Behinderungen dazu nicht fähig sind. Außerdem bedeutet die Anerkenntnis eines Eigenwertes nicht, dass Tiere überhaupt nicht benutzt werden dürfen. Auch das menschliche Zusammenleben, Freundschaft und Ehe eingeschlossen, basiert darauf, dass Menschen sich gegenseitig brauchen; sie sollten, so die Formulierung des kategorischen Imperativs, lediglich nie nur zum Mittel werden. Überträgt man diesen Gedanken auf den Respekt gegenüber Tieren, dann haben Menschen die Pflicht, sie so zu nutzen, dass ihnen genügend Raum für ein artgemäßes Leben bleibt. Im Konfliktfall sollten nicht einfach die eigenen Interessen und Güter vorgezogen, „sondern die Interessen und Güter des Anderen fair in die Güterabwägung“474 einbezogen werden. Da auch Menschen ihr Leben der Aktivität zahlloser anderer Kreaturen verdanken, sind sie verpflichtet, für das, was sie erhalten, etwas zurückzugeben. Fairness oder ein gerechter Ausgleich von Geben und Nehmen bedeutet jedoch

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nicht, dass jeder das Gleiche erhält, sondern das Seine, das also, was angemessen ist. Tiere sollten in einer Umwelt leben können, die es ihnen ermöglicht, ihre vitalen, emotionalen und sozialen Bedürfnisse ihrer Art entsprechend zu befriedigen. „In der angewandten Ethologie [hat sich] eine Einteilung des Gesamtverhaltens einer Tierart in die Funktionskreise Ernährung, Ausscheiden, Ruhen, Komfort, Bewegungen, Erkunden, Spielen und Sozialverhalten bewährt.“475 Die Verantwortung von Menschen, die Tiere in ihre Obhut nehmen, um sie für die Freizeit, ihre Ernährung oder aus wissenschaftlichen Interessen zu nutzen, endet außerdem nicht in dem Moment, in dem sie nicht mehr nützlich sind und ‚entsorgt‘ werden. Das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten beweist darin mehr Sensibilität als unsere Zeit, indem es für ein Gnadenbrot für die Tiere plädiert, die dem Menschen ihr ganzes Leben lang treu gedient haben. 1972 wurde in Deutschland ein Tierschutzgesetz erlassen mit dem Ziel, „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Mit der Bezeichnung von Tieren als Mitgeschöpfen trägt das Gesetz der Verwandtschaft von Mensch und Tier und dem Moment der Unverfügbarkeit Rechnung: Tiere lassen sich nicht technisch herstellen. Außerdem werden Tiere als psycho-physische Einheit begriffen, denen man nicht nur körperliche Schmerzen, sondern auch psychisches Leid zufügen kann. Was ‚ein vernünftiger Grund‘ ist, der dazu berechtigt, ihr Wohlbefinden einzuschränken, wird aufgrund einer Abwägung von Interessen und Werten entschieden. Derartige Konflikte entstehen zum Beispiel bei der Frage, ob der Tierschutz oder religiöse Praktiken wie das Schächten höherwertig sind, ob Tiere zu Forschungszwecken in Wissenschaft und Medizin verwendet und wie sie landwirtschaftlich genutzt werden dürfen. In der Version von 2006 betont das Tierschutzgesetz ausdrücklich die Pflichten des Menschen gegenüber Tieren: Er muss ein Tier „1. seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen, 2. darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden, 3. muss über die für eine angemessene Ernährung, Pflege und verhaltensgerechte Unterbringung des Tieres erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen.“ Doch obwohl die Tiere im Tierschutzgesetz als Mitgeschöpfe bezeichnet werden, dauerte es noch bis 1990, bis im Bürgerlichen Gesetzbuch in Art. 1, Punkt 2, § 90a ausdrücklich festgestellt wurde: „Tiere sind keine Sachen. Sie werden durch besondere Gesetze geschützt.“ Und erst seit dem 26. Juli 2002 ist der Tierschutz nach Art. 20a GG als Staatsziel im Grundgesetz verankert, sodass seither der Staat verpflichtet ist, Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ord-

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nung zu schützen: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ Bemerkenswert an dieser Formulierung ist, dass der Schutz der Tiere mit dem der natürlichen Lebensgrundlage und der Verantwortung für künftige Generationen verbunden wird. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlage und der Tiere erfolgt jedoch nicht nur in Hinblick auf kommende Generationen, sondern ‚auch‘ um ihretwillen, sodass nicht nur die anthropozentrische, sondern auch die pathozentrische Perspektive überschritten wird und eine holistische Sicht in den Blick gerät, da zur natürlichen Lebensgrundlage auch anorganische Stoffe, Böden, Wasser und Luft gehören. Entscheidend wurde diese Argumentation am 24. November 2010, als das Bundesverfassungsgericht feststellte, dass der gesetzliche Schutz der herkömmlichen Landwirtschaft vor gentechnisch veränderten Pflanzen rechtmäßig sei. Der Gesetzgeber müsse den im Grundgesetz enthaltenen Auftrag beachten, „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen.“ Die Gentechnik verändere das Erbgut von Pflanzen und greife damit „in die elementaren Strukturen des Lebens ein.“ Die Folgen solcher Eingriffe ließen sich, wenn überhaupt, nur schwer wieder rückgängig machen. Auch die Ausbreitung einmal in die Umwelt eingebrachten gentechnisch veränderten Materials sei nur schwer oder sogar gar nicht zu begrenzen. Deshalb habe der Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht zu beachten. Obwohl der Tierschutz inzwischen in fast allen modernen Nationen gesetzlich geregelt ist, ist er in Mitteleuropa nur in deutschsprachigen Ländern und Slowenien auf der obersten Verfassungsebene angesiedelt und gilt als ein wichtiges ‚Gemeinschaftsgut‘. Auch in der Europäischen Union gibt es Bestrebungen, den Tierschutz zu integrieren. Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon enthält in Titel II, Art. 13 folgende Formulierung: „Bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union in den Bereichen Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Binnenmarkt, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt tragen die Union und die Mitgliedstaaten den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung.“ Am längsten wird Tieren in der Schweiz der Verfassungsschutz gewährt. Schon 1893 wurde das Schächtverbot, das Schlachten von Tieren ohne vorherige Betäubung, zum Verfassungsprinzip erklärt. 1973 wurde dieser Artikel als Art. 80 in die Bundesverfassung aufgenommen und der Tierschutz zu einer Angelegenheit des Staates. Seit 1992 wird der Tierschutzartikel ergänzt durch den Art. 120, Abs. 2 der Bundesverfassung, durch den die Schweiz als bislang einziges Land weltweit den Schutz der Würde der Kreatur, von Tieren und Pflanzen,

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auf der Verfassungsebene verankert und zum Staatsziel erklärt: „Der Bund trägt der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.“476 Wie die deutschen Gesetzgeber gehen auch ihre Kollegen in der Schweiz davon aus, dass man Menschen, Tiere und Umwelt nur gleichzeitig schützen kann. Zunächst gilt es die kreatürliche Würde im Bereich gentechnologischer Forschung zu respektieren. Da es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen dem genetischen Code von Menschen und dem anderer Kreaturen gibt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Praktiken, die man bei diesen erprobt hat, auf Menschen übertragen werden. Jenseits des anthropozentrischen Argumentes haben jedoch alle Kreaturen ein inhärentes Ziel, sodass sie auch um ihrer selbst willen geschützt werden sollten. Da jedes Lebewesen auf eine spezifische Umwelt angewiesen ist, kann man es nur schützen, wenn man auch seine Lebenswelt erhält. Aufgrund der ihnen eigenen Würde haben daher alle Kreaturen einen Anspruch auf den Schutz ihrer Lebensgrundlage. Der Schutz der Würde der Kreatur beschränkt sich jedoch nicht auf den Bereich der Gentechnik, sondern umfasst die gesamte rechtliche Dimension der Mensch-Tier-Beziehung und erstreckt sich damit auch auf Gebiete wie das Patent-, Fischerei- und Jagdrecht und die Tierhaltung. Der Begriff der Würde wird als „Eigenwert des Tieres, der im Umgang mit ihm zu achten ist“, definiert. Da Tiere als psycho-physische Einheit gelten, wird ihre Würde verletzt, wenn man ihnen unbegründet Schmerzen, Leiden oder Ängste zufügt und sie demütigt. Doch die Achtung der Tierwürde beinhaltet nicht nur das Verbot ungerechtfertigter Schädigung, sondern auch die Verpflichtung, ihre Integrität zu schützen und ihnen die Möglichkeit zur artgemäßen Entfaltung einzuräumen. Beispiele für eine Missachtung der Tierwürde sind tiefgreifende Eingriffe in das Erscheinungsbild und grundlegende Fähigkeiten, Erniedrigungen und übermäßige Instrumentalisierung. Darunter fallen Extremformen der Tierzucht, die nur der Befriedigung wirtschaftlicher, wissenschaftlicher oder ästhetischer Interessen dienen, die Vermenschlichung von Tieren durch Zurschaustellung in alberner Verkleidung, das Einfärben des Tierfelles oder das Antrainieren widernatürlicher Kunststücke zur allgemeinen Belustigung. Projekte, die Tiere wie eine Ware verbrauchen, sie nur aus Experimentierfreude entstellen oder als Luxusartikel behandeln, sollten unterbunden werden. Auch als Nutztiere in der Landwirtschaft und privaten Haushalten sollten sie ihrer Art gemäß leben können. Anders als die Menschenwürde gilt der Schutz der Tierwürde jedoch nicht absolut, sondern nur relativ: Sie kann gegen höherrangige Werte abgewogen werden. Als überwiegende Interessen gelten Nahrungsbeschaffung, die Gesundheit von Mensch und Tier und wissenschaftliche Motive. Falls derselbe Zweck nicht mit alternativen Maßnahmen erreichbar ist, können Tierversuche für die

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Erforschung neuer Medikamente eine Verletzung der tierlichen Würde rechtfertigen – ein Gedanke, dem auch Schweitzer zugestimmt hätte. Zwar sollten Nutztiere artgerecht gehalten werden, sie dürfen jedoch zur Nahrungsbeschaffung getötet werden. Dennoch dürfen Tiere und Pflanzen nicht mehr fraglos und konfliktfrei verwendet werden. Ihre Interessen müssen im Einzelfall gegen die von Menschen abgewogen werden. Ein Eingriff in die Tierwürde ist umso strenger zu bewerten, je schwerwiegender er für das betroffene Tier und je belangloser er für Menschen ist. Je komplexer die psychischen Funktionen eines Lebewesens sind, desto gravierender können Eingriffe sein. Gefühle und Bewusstheit gelten als Werte, die eine Hierarchisierung der Lebewesen rechtfertigen. Wissenschaftliche Neugier und technischer Erfindungsreichtum werden dadurch nicht unterbunden, sondern in neue Bahnen gelenkt: Ihre Aufgabe ist es, Alternativen zu entwickeln, die im Idealfall Menschen und Tieren gerecht werden. Analog zur Menschenwürde, die einen Rahmen beinhaltet, der vorgibt, was mit Menschen nicht geschehen sollte und worauf sie einen Anspruch haben, gibt auch die Würde der Kreatur ein Sollen vor, das aus dem Sein ableitbar ist, aus den Fähigkeiten und Eigenschaften von Lebewesen. Dadurch wird auch die Unterscheidung von ‚natürlich‘ und ‚widernatürlich‘, die vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Seinsbegriffs getilgt worden war, wieder aufgegriffen. Dennoch haben Tiere in Ländern wie Deutschland, Schweiz und Österreich keine einklagbaren Rechte. Sie bleiben in erster Linie Rechtsobjekte, die der menschlichen Verfügungsgewalt unterstellt sind, sodass man sie besitzen, kaufen und verkaufen und sogar töten kann. Nur in Neuseeland wurden bisher den großen Menschenaffen menschenrechtsähnliche Freiheitsrechte eingeräumt. Das Recht sichert allerdings nur einen ethischen Minimalstandard, der für das Zusammenleben unverzichtbar ist. Die Ethik geht darüber hinaus und stellt Normen auf, die auf das menschliche Glück und das Wohlbefinden anderer Kreaturen zielen. Während die kontinental-europäische Tradition sich im Anschluss an die Idee der Würde auf den Eigenwert der Kreaturen beruft, folgt die angelsächsische Tierschutzbewegung, die die älteste der Welt ist, dem empiristischen Paradigma von Locke und Hume. Obwohl sich ihr dadurch die Dimension der Subjektivität und des mit ihr verknüpften inhärenten Wertes entzieht, argumentiert auch sie für eine Ausweitung des Radius ethischer Pflichten. Unter Berufung auf die empirisch nachweisbare Leidensfähigkeit und im Anschluss an die Vertragstheorie von Locke, nach der alle Mitglieder einer Gemeinschaft ein Recht auf den Schutz ihres Lebens haben, kämpft sie für Tiergerechtigkeit. Schließlich sind nicht nur Menschen, sondern alle Kreaturen Mitglieder der planetaren Gemeinschaft. Deshalb haben auch sie einen Anspruch auf den Schutz ihrer Lebensmöglichkeiten.

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Anfang der 1970er-Jahre fand in den USA ein exemplarischer Prozess statt: Gegen die Bemühungen des Walt-Disney-Unternehmens ein an den SequoiaNationalpark in Kalifornien angrenzendes Gebiet mit dem Namen Mineral King als Skigebiet zu erschließen, schrieb Christopher D. Stone, ein Jura-Professor an der Universität von Südkalifornien, einen Traktat mit dem Titel: „Sollten Bäume ein Klagerecht haben?“ Da der Sierra Club, der sich für den Schutz des Tales engagierte, selbst nicht von den Plänen betroffen war, hatte man seine Klage abgewiesen. Dennoch, so argumentierte Stone, gab es jemanden, der geschädigt würde: Die Bäume, und das Gericht, so forderte er, sollte ihre Bedürfnisse schützen. Stone benutzte ein präzedenzloses Argument: Unter Berufung auf den Southern Californian Law Review verlangte er, „legal rights to forests, oceans, rivers and so-called ‚natural objects‘ in the environment – indeed to the environment as a whole“477 zu geben. Nach langwierigen Prozessen, die schließlich bis vor den obersten Gerichtshof in Washington D.C. getragen wurden, wurde Mineral King 1978 zu einem Teil des Sequoia-Nationalparks. Die in diesem Prozess vorgetragenen Argumente wurden in den USA zum entscheidenden Anstoß für die Debatte um Rechte der Natur. Unter Berufung auf die ‚Landethik‘ von Aldo Leopold sollten nicht nur einzelne Arten, sondern deren gesamtes Lebensumfeld, „the entire ecological community“478, geschützt werden. „What made Stone’s 1972 proposal remarkable in American environmental and intellectual history was that it defined ‚injury‘ not merely in human terms but with regard to nature. Stone argued in all seriousness that trout and herons and cottonwood trees should be thought of as the injured parties in a water-pollution case. Fines would be assessed and collected (by guardians) on behalf of these creatures and used to restore their habitat or create an alternative to the one destroyed. Environmental damage as to be considered ‚irreparable‘ would be completely prohibited. In effect this gave natural objects absolute rights comparable to those inalienable ones used to justify the American Revolution.“479 10.3 Biozentrische Ethik Nicht nur Tiere, auch Pflanzen sind Lebewesen. Wie alle Kreaturen brauchen auch sie eine intakte Umwelt und sind ihrerseits für das Überleben von Tieren und Menschen unverzichtbar. Als bislang einzige Verfassung der Welt hat die Schweizer Bundesverfassung auch Pflanzen einen Eigenwert zugestanden. Doch aufgrund welcher Kriterien kann man den Anspruch auf den Schutz ihrer Integrität begründen? Die Eidgenössische Ethikkommission für Biotechnologie im Außerhumanbereich zählt drei Schutzkonzepte auf, die sich nicht voneinander trennen lassen: „den Schutz der Biodiversität, den Schutz der Art und die Verpflichtung im Umgang mit Pflanzen der Würde der Kreatur Rechnung zu

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tragen.“480 Auch Pflanzen wird nur ein relativer Eigenwert zugestanden, der gegen höherrangige Werte abgewogen werden darf. Voraussetzung einer Güterabwägung ist freilich, dass sie bereits „eigene Interessen“481 haben, die man verletzen kann und die es zu respektieren gilt. Unterschieden werden drei Wertkonzepte: Pflanzen haben einen instrumentellen Wert, da sie für andere Lebewesen oder ein Ökosystem nützlich sind; sie haben durch bestimmte Eigenschaften, etwa ihre Ästhetik, einen relationalen Wert in Hinblick auf einen Betrachter; und sie haben einen Eigenwert, sodass sie um ihrer selbst willen zu schützen sind. In keinem Fall sollten Pflanzen willkürlich, aus purer Gedankenlosigkeit, bloßem Vergnügen oder blinder Aggressivität, vernichtet werden. Doch haben Pflanzen als Art, als Kollektiv oder als Individuum einen Eigenwert? Obwohl sie kein Nervensystem haben, zeigen sie bereits ein erstaunlich differenziertes Reaktionsvermögen auf Reize. Wieweit man jedoch aufgrund der empirisch sichtbaren Verhaltensweisen auf qualifizierte Empfindungen schließen darf, wird bislang kontrovers diskutiert. Möglicherweise gibt es, wie bei Tieren, unterschiedliche Grade der Komplexität, sodass die Frage, ob Pflanzen als Individuen oder als Art zu schützen sind, unterschiedlich beantwortet werden muss. Während bei einem Gänseblümchen keine ausgeprägte Individualität erkennbar ist, scheinen alte Bäume, eine Eiche oder eine Sequoia, bereits eine eigene Geschichte zu verkörpern. Unwillkürlich wecken viele alte Bäume im Betrachter ein Gefühl der Ehrfurcht und das Bewusstsein, dass sie als Individuen unersetzbar sind. Zumindest die belebte Natur ist demnach kein wertindifferenter Funktionszusammenhang, der sich rein naturwissenschaftlich erklären lässt. Aufgrund einer zumindest rudimentären Sensitivität für Reize, eines Moments von Innerlichkeit also, beinhaltet ihr Sein normative Vorgaben über das, was man mit ihr tun oder nicht tun sollte. Indem dem „Gesamtreich des Lebens etwas von der Würde zurückgegeben“482 wird, die es durch eine mechanistische Interpretation verloren hatte, wird die Freiheit des Menschen nicht nur durch die der Mitmenschen, sondern auch durch das „sittliche Eigenrecht“483 der Natur begrenzt. Menschen können daher ihrer eigenen Würde nur gerecht werden, wenn sie auch die der Kreaturen achten und ihnen die Freiheit zu einer artgemäßen Entfaltung zugestehen. Der Erweiterung des Radius ethischer Pflichten korrespondiert eine Anthropologie, die auf einer Vielfalt intentionaler Akte beruht. Nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch Sinneswahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle können Menschen mit anderen Kreaturen in eine Beziehung treten. Sie stehen ihnen nicht nur durch rationale und sprachliche Akte gegenüber, sondern sind mit ihnen vermittels ihrer Leiblichkeit, durch vitale Bedürfnisse und ästhetische Wahrnehmungen, durch die Fähigkeit zu Empathie und Sympathie

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verbunden. Ein rein instrumenteller Umgang mit ihnen und die Unfähigkeit zur sympathetischen „Einsfühlung“484 ist, so argumentieren Schweitzer und Scheler, ein untrügliches Indiz dafür, dass eine Person hinter ihren Ausdrucksmöglichkeiten zurück bleibt. Der Facettenreichtum der Natur, so betont auch A. Naess, ein Mitbegründer der ganzheitlich ausgerichteten Tiefenökologie, erschließt sich nur, wenn man auch die Vielschichtigkeit des menschlichen Selbst berücksichtigt. „A process of identification is created by the very fact of your feeling something of yourself in something else. Not that it need resemble yourself, but there is something about it that you recognize in yourself. Whatever it is, it is something that becomes a part of yourself, or more correctly of ‚the great Self‘.“485 Aufgrund der Komplexität des eigenen Selbst können Menschen in anderen Lebewesen etwas wahrnehmen, was sie von sich kennen, etwas, das sie mit ihnen gemeinsam haben. Nicht nur das Wissen, auch das viel weiter reichende Gespür für die Verbundenheit mit ihnen schützt davor, sie wie Sachen zu gebrauchen. „One aim in nature conservancy in general is to spread a view of human beings that makes it natural to regard other living creatures as genuine fellow creatures with a need for self-development.“486 Unter diesen Prämissen kann sich der Mensch als leib-geistige Einheit als Teil der komplexen Dynamik der Biosphäre begreifen, zu der eine Vielzahl von Organismen gehören, die ebenfalls psycho-physische Ganzheiten sind. Die Zuständlichkeit von Pflanzen, die sich in ihrem Erscheinungsbild als ‚matt, kraftvoll, üppig oder arm‘487 ausdrückt, erschließt sich durch Sinne und Empfindungsvermögen; dank der arteigenen Zeichensprache der Affekte kann man das Verhalten höherer Tiere deuten. Da jedoch niemand zu allen Lebewesen gleichermaßen Zugang hat, ist es die Aufgabe der Vernunft, Sinneseindrücke, Empfindungen und Gefühle zu analysieren und durch Vorstellungskraft, Wissen und ethische Reflexion zu ergänzen. Die Vernunft erzeugt die nötige Distanz zu gefühlsmäßigen Reaktionen auf bestimmte Arten und weitet den Blick für das umfassende Zusammenspiel der Lebensformen, das für den Artenschutz und den Erhalt der Biodiversität unverzichtbar ist. Empathie, Sympathie oder auch Antipathie müssen durch Gründe ergänzt werden, die es erlauben, Regeln und Normen zu formulieren, die unabhängig von individuellen Reaktionen Gültigkeit beanspruchen. Ethisches Verhalten beruht weder nur auf Mitgefühl noch nur auf rational begründeten Pflichten. Im Idealfall ergänzen sich Emotionen und Vernunft und ermöglichen aus dem Erleben der Partizipation ein verantwortungsbewusstes Handeln auch gegenüber den Lebensformen, die einem nicht nahe stehen. Wie alle geistigen Vermögen ist auch die Fähigkeit zur Empathie nicht angeboren, sondern muss eingeübt werden, damit es nicht bei flüchtigen, episodisch auftretenden Einfühlungsakten bleibt. Erst durch die wiederholte Interaktion mit anderen Lebewesen, durch ein Vertrautsein mit ihnen, wird aus spontaner

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Sympathie eine verlässliche Haltung, ein habitus. Aus dem Gefühl der Nähe und Verbundenheit wird ein Motiv für begründbare Handlungen. „Die Umsetzung der Sympathie schafft eine Disposition zur Sorge und Hilfsbereitschaft.“488 10.4 Holistische Ethik Noch immer haben wir nicht die ganze Natur in den Kreis der Verantwortung einbezogen. Eine der bemerkenswertesten ethischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jh. besteht in der Erkenntnis, dass die Menschen nicht das Recht haben, den gesamten Planeten für sich zu beanspruchen, sondern dass auch andere Kreaturen aufgrund ihres intrinsischen Wertes einen Anspruch auf den Schutz ihres Lebensraumes haben. Klimatische Bedingungen und Landschaftsformationen, die Zusammensetzung der Atmosphäre, die Menge an Wasser und die Beschaffenheit des Bodens bestimmen, welche Arten in einem bestimmten Lebensraum vorkommen können. Es wäre jedoch falsch zu glauben, dass Boden, Luft und Wasser eine von Lebewesen unabhängige Lebensgrundlage bilden, auf der sie sich entwickeln. Da sich viele anorganische Substanzen nur durch die Aktivität von Organismen bilden und regenerieren, sind auch die Stoffströme ein integraler Teil der Dynamik eines Ökosystems. Mit jeder Art, die ausstirbt, gehen auch die Beziehungen verloren, die sie mit anderen Organismen und anorganischen Stoffen verbunden haben. Arterhaltung beinhaltet daher immer den Schutz von Ökosystemen als Garanten der Regenerationsfähigkeit der Natur. Weitsichtig forderte daher Leopold, amerikanischer Forstwissenschaftler und Ökologe, bereits in den 1940ern eine ‚Landethik‘. Sie „erweitert die Grenzen des Gemeinwesens und schließt Böden, Gewässer, Pflanzen und Tiere, also – zusammengefasst – das Land, ein. Eine Landethik wandelt die Rolle des homo sapiens vom Eroberer der Landgemeinschaft zu einem einfachen Mitglied und Bürger in ihr. Das verlangt seine Achtung vor dem Mitmenschen und auch Achtung vor der Gemeinschaft als solcher.“489 Für eine physiozentrische, holistische Sicht spricht auch, dass der Prozess der Evolution bereits mit anorganischen Strukturen begonnen hat. Ungeachtet der Mechanismen der Evolution vermeidet sie, wie wir sie schon bei Humboldt gesehen haben, die Aufspaltung der Natur in tote Stoffe und Lebewesen. „Im physiozentrischen Menschenbild“, so betont Meyer-Abich, „weiß ich, daß auch die Menschheit keine geschlossene Gesellschaft, sondern nur in der Allgemeinheit der Natur sie selber ist, d. h. im Mitsein mit der natürlichen Mitwelt insgesamt. Bloß für mich bin ich nicht Ich, und bloß für uns sind wir nicht Wir. Wir sind es nur in der Gemeinschaft der Natur.“490 Die Aufhebung der cartesischen Trennung von Geist und Natur verändert die Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Erfahrung: Die Welt erscheint als eine vielschichtige Ordnung, zu der wir selbst in unserer leib-geistigen Konstitution gehören.

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Der zweifachen Form der Bezogenheit eines Lebewesens auf sich und die Umwelt entsprechen, so hatte Whitehead argumentiert, drei verschiedene Formen der Wertigkeit: Jedes Lebewesen hat einen Eigen- und einen Nutzwert für andere und das Systemganze. Es ist immer zugleich Zweck in sich und Mittel für andere. Beides lässt sich nicht voneinander trennen: Wenn die Identität eines Organismus auf der Beziehung zu dem gründet, was er nicht ist, dann ist der Eigenwert anderer Organismen immer auch ein Moment des Eigenwertes. Durch die relationale Bestimmung der psycho-physischen Identität sind die Beziehungen zu anderen nie nur ein Mittel zur Selbsterhaltung, sondern ein Moment der eigenen Identität. Umgekehrt formuliert: Die Vernichtung eines anderen Lebewesens in seiner Eigenwertigkeit berührt immer auch das Selbstsein. Werte haben einen relationalen Aspekt, der auf der Beziehung zu anderen Lebewesen beruht und von ihr abhängt; dennoch sind sie durch den intrinsischen Wert der Lebewesen nie nur relativ, sondern haben ein ontologisches Fundament. Menschen werden anderen Kreaturen in ihrer Eigenart und Bedeutung nicht gerecht, wenn sie sie nur nach menschlichen Kriterien beurteilen; sie müssen sie, soweit möglich, immer auch so behandeln, wie es ihre Eigenart und das Ökosystem, in dem sie leben, erfordert. Da sie selbst nur aufgrund der Beziehung zur Natur Mensch sein können, werden sie ihren eigenen Möglichkeiten nur gerecht, wenn sie auch die der Natur respektieren. Diese ist ein Gut, das die unterschiedlichen Interpretationen von Individuen und Kulturen überschreitet und die menschliche Willkür begrenzt. „‚Wirklich‘ der-Mühe-wert muß bedeuten,“ so konstatiert Jonas, „daß der Gegenstand der Mühe gut ist, unabhängig vom Befinden meiner Neigungen. Eben dies macht ihn zur Quelle eines Sollens, mit dem er das Subjekt anruft in der Situation, in der die Verwirklichung oder Erhaltung dieses Guten durch dieses Subjekt konkret in Frage steht. Es kann den freien Willen nicht zwingen, es zu seinem Zweck zu machen, aber es kann ihm die Anerkennung abnötigen, daß dies seine Pflicht wäre.“491 Trotz der Variation kulturell und kontextuell bedingter Wertungen ist ein Rahmen vorgegeben, an dem Handlungen immer wieder neu ausgerichtet werden sollten. Wenn es, wie Kant beobachtet hat, Handlungen gibt, die der Würde des Menschen widersprechen, dann gibt es auch Handlungen, die mit dem Eigenwert nicht-menschlicher Kreaturen und der Biosphäre nicht zu vereinbaren sind. Nur wenn Menschen den Anspruch anderer Kreaturen auf ihr Selbstsein akzeptieren, können sie selbst ein Leben in Würde führen. „Nur eine Ethik“, so schreibt wiederum Jonas, „die in der Breite des Seins und nicht lediglich in der Einzigkeit oder Absonderlichkeit des Menschen begründet ist, kann Bedeutung im All der Dinge haben.“492 Im Unterschied zu Kant wird jedoch die eigene Freiheit nicht nur durch die Freiheit des Anderen begrenzt. Da auch die menschliche Identität relational be-

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stimmt ist, beruht auch sie auf einem Prozess der Selbstüberschreitung zu einem Gegenüber, zum mitmenschlichen Du, zu anderen Kreaturen und zur Natur insgesamt. Deren Freiheit ist die Voraussetzung um Beziehungen einzugehen, die die Entfaltung des genuin menschlichen Potenzials ermöglichen. Nur indem Menschen etwas akzeptieren, das unabhängig von ihren Vorstellungen und Interessen existiert, können sie ihren begrenzten Lebenshorizont überschreiten. Der Verzicht auf die Beherrschung der Natur ist die Voraussetzung für die Partizipation an ihr. Die Natur als Mitwelt wahrzunehmen bedeutet, dass ein Füreinanderdasein an die Stelle des einseitigen Benutzens tritt. Gegenseitigkeit kann freilich nur entstehen, wenn sich Menschen nicht nur als Akteure, sondern auch als Empfangende begreifen und sich zu einer Gegengabe, zu Dankbarkeit, Behutsamkeit und Achtung verpflichtet sehen.493 Jonas formuliert: „Jetzt beansprucht die gesamte Biosphäre des Planeten mit all ihrer Fülle von Arten, in ihrer neu enthüllten Verletzlichkeit gegenüber den exzessiven Eingriffen des Menschen, ihren Anteil an der Achtung, die allem gebührt, das seinen Zweck in sich selbst trägt – d. h. allem Lebendigen. Es ist das Übermaß an Macht, das dem Menschen diese Pflicht auferlegt: So kommt es, dass die Technik den Menschen in eine Rolle einsetzt, die nur die Religion ihm manchmal zugesprochen hatte: die eines Verwalters und Wächters der Schöpfung.“494 Um der Ausbeutung der Natur entgegenzuwirken, ist, wie Jonas betont, die Wiederbelebung der Tugend des Maßes als einer „Facette der Ethik der Zukunftsverantwortung“495 gefordert. Es wäre jedoch falsch, würde man darunter nur die Zügelung der Begierden und Verzicht verstehen. Sie beinhaltet das Einhalten von Proportionen, der Verhältnisse zwischen Entitäten. Das Maß wird eingehalten, wenn Menschen sich zu ihrer lokalen Umwelt, die immer ein Teil der Biosphäre ist, derart in Beziehung setzen, dass sie ihre Bedürfnisse auf deren Möglichkeiten abstimmen. Wenn die Relation zur Natur konstitutiv für die eigene Identität ist, können Befriedigung und Glück nicht durch das Leiden und die Vernichtung anderer Kreaturen erkauft werden. Die eigene Erfüllung beinhaltet immer auch das Bemühen um das Wohlbefinden und die Integrität anderer Wesen. Schon in der Befriedigung sinnlich-vitaler Bedürfnisse, der Art der Nahrungsproduktion etwa, müssen Werte konkretisiert werden, die die Schonung der Natur im Blick haben. Doch nicht nur gegenüber der Natur ist die Identifizierung des Lebensstandards mit Lebensqualität und Glück verfehlt. Will man der Vielschichtigkeit menschlicher Bedürfnisse und Ausdrucksmöglichkeiten gerecht werden, muss die Orientierung am Modell des homo oeconomicus aufgegeben werden. Die Reduktion des zeitlichen und finanziellen Aufwandes, der zur Beschaffung, Erhaltung und unablässigen Steigerung des Lebensstandards erforderlich ist, erzeugt den Freiraum für eine Vielzahl anderer, sinnstiftender Aktivitäten. Auch in der modernen Variante der Mäßigung, die

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nicht mehr in einem theologischen Kontext steht, ist der Verzicht nicht das Ziel, sondern nur ein Mittel zu einem verantwortungsbewussten Leben, einer Steigerung der Lebensqualität in Hinblick auf das sinnlich-ästhetische Erleben der Natur und die vielfältigen Möglichkeiten zu Partizipation und Kommunikation. Bei einem maßvollen Handeln müssen auch die Zeitskalen berücksichtigt werden, die für die Eigendynamik von Ökosystemen charakteristisch sind: Obwohl sich vor dem Hintergrund der modernen Ökonomie die für den Alltag bestimmenden Zeitmaßstäbe immer weiter verkürzt haben, sodass immer mehr in immer kürzerer Zeit erreichbar ist, haben viele Menschen noch immer eine gewisse Übung darin, sich ihre eigene Lebensspanne und Ereignisse vorzustellen, die ihre Kinder betreffen könnten. Über viele Jahrhunderte galt es als ein zentraler Aspekt der Zukunftsverantwortung, Kindern materielle oder ideelle Güter zu vererben, die ihnen ein besseres Leben ermöglichen würden. Bei Rawls taucht dieser Gedanke als ‚Sparprinzip‘ wieder auf. Heute muss man die Frage, was man seinen Kindern und Kindeskindern vererben wird, auch auf die natürliche Lebensgrundlage beziehen. Unterstellt man den Umgang mit Ressourcen dem Kriterium der Nachhaltigkeit, muss man bereits mehrere Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte im Blick haben. Noch längere Zeitskalen kommen ins Spiel, wenn man an geologische und evolutionäre Prozesse denkt, in denen sich Ressourcen wie Böden und Grundwasser bilden und neue Arten entstehen. Wenn das Ziel des ökonomischen Handelns und technischer Erfindungen ein nachhaltiger Umgang mit der Natur und die Steigerung des psycho-physischen Wohlbefindens ist, dann müssen sich auch technische Hilfsmittel in die größere Ordnung der Natur einfügen und anderen Lebensformen Raum für ihre Entwicklung geben. Auch die Technologien, die erneuerbare Energien nutzen, Windräder, Staudämme und Solarkraftwerke, sollten sich in das Landschaftsbild einfügen und mit der Lebensweise wilder Tiere verträglich sein, die nahezu ausgerottet wurden und nur zögerlich in ihre angestammten Habitate zurückkehren. Die Einbettung der menschlichen Kultur in die größere Ordnung der Natur, so formuliert Nash, „permits humans to fulfill their evolutionary potential while not comprising or eliminating the chances of other species fulfilling theirs. Just as with John Locke’s social contract, humans give up some options out of respect for the existence rights of other members of the larger natural community. I think of this as an ecological contract: natural rights extended to the rights of nature. We need to learn how to live responsibly in the larger neighborhood called the ecosystem, and the first requirement is to respect our neighbor’s lives. This kind of ecocentrism is not ‚against‘ humans; it transcends them und subsumes their interest in that of the larger whole.“496

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11 Laboratorien für einen Perspektivenwechsel: Naturverständnis und Ethik von Nationalparks und Wildnisgebieten Die Einsicht, dass die Natur sich nicht rein naturgesetzlich beschreiben lässt, sondern in ihren ethischen und ästhetischen Werten geachtet werden soll, ist schon längst kein bloßes Postulat mehr, das nur in akademischen Kreisen diskutiert wird. Weltweit wurden Nationalparks und Wildnisgebiete zu einer Art Laboratorium, in dem jedes Jahr zahllose Menschen ein neues Verhältnis zur Natur erproben. Während in Antike und Mittelalter die kultivierte Landschaft mühsam der Wildnis abgerungen wurde, sind inzwischen die letzten Refugien der Wildnis durch die Zivilisation bedroht. Schon am Ende des 19. Jh. führte die rasant fortschreitende Erschließung Amerikas durch Eisenbahnen und die rücksichtslose Ausbeutung von Rohstoffen wie Gold, Silber, Holz und Erdöl einige weitsichtige Persönlichkeiten zu der Überzeugung, dass man die einzigartige und verletzliche Ästhetik bestimmter Landschaften vor Eingriffen schützen müsse, dass diese sie zwar zerstören, aber in keiner Weise verbessern können. Naturschutz war von Anfang an ein interdisziplinäres Unterfangen, in dem die Impulse von Künstlern, Wissenschaftlern und vom amerikanischen Transzendentalismus inspirierten Naturforschern zusammenwirkten. Mit seinen Gemälden, die die faszinierende Landschaft von Yellowstone oder Yosemite dokumentieren und die in der National Gallery of Art in Washington D.C. zu bewundern sind, warb der Maler Thomas Moran (1837−1926)497 für den Erhalt dieser Gebiete. Auch der Photograph Ansel Adams (1902–1984)498, der in den 1930er-Jahren dazu beitrug, dass die Photographie als Kunst anerkannt wurde, lenkte den Blick auf die einzigartige Ästhetik der Natur. Seine Stärke lag darin, die Strukturen einer Landschaft, eines Felsens oder von Bäumen, sichtbar zu machen. John Muir (1838−1914), der viele Jahrzehnte die Sierra Nevada und Alaska bereiste und als einer der Wegbereiter der modernen Ökologie gilt, beschrieb mit viel Liebe zum Detail die Lebensart verschiedener Tiere und Pflanzen und unterschiedliche Landschaftsformationen. Obwohl Muir ein begabter Schriftsteller waren, war er kein Schreibtischgelehrter. Schließlich sollte man auch die Weitsicht einiger Politiker, etwa von Präsident Theodore Roosevelt, nicht vergessen, die in enger Kooperation mit den sg. Naturalisten entschieden, große Gebiete zum Nationalpark zu erklären und vor ökonomischer Nutzung zu schützen.499 1872 wurde der erste Nationalpark der Welt gegründet: der Yellowstone Nationalpark im Nordwesten der USA, der bis heute als Prototyp gilt und in dem ‚viele die beste Idee sehen, die Amerika je hatte‘.500 Schon 1890 folgten der Sequoia- und der Yosemite Nationalpark in Kalifornien, 1909 wurde in Schweden

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der erste Nationalpark Europas und 1970 im Bayerischen Wald der erste Nationalpark Deutschlands gegründet. Mittlerweile sind weltweit über 2000 Nationalparks entstanden, die dem Schutz der Pflanzen- und Tierwelt und besonderer geologischer Formationen verpflichtet sind. In den Roosevelt-Bogen am Nordausgang des Yellowstone-Nationalparks, der 1903 errichtet und nach dem amerikanischen Präsidenten benannt wurde, ist die ursprüngliche Idee eingemeißelt, die den Naturschutz motivierte: Er sei ‚zum Nutzen und zur Freude der Menschen‘ errichtet. Der Gedanke, dass die Natur für alle Menschen erhalten werden soll, ist zunächst rein anthropozentrisch formuliert. Dennoch sollten die Gebiete nicht nur für die gegenwärtig lebenden Menschen bewahrt werden; in einer Vorwegnahme von Jonas erweitertem kategorischem Imperativ wurde vermutlich zum ersten Mal der Gedanke formuliert, dass die gegenwärtige Generation die Verpflichtung hat, die Natur unverändert für die kommenden Generationen zu erhalten, sodass auch diese sich noch daran erfreuen können. Erst in den folgenden Jahrzehnten wurde die Ethik durch die biozentrische und holistische Perspektive erweitert. Ein Nationalpark ist ein großräumiges Gebiet, in dem die Natur möglichst vollständig vor Eingriffen, kommerziellen Interessen und technischen Veränderungen geschützt ist. Die ersten Verfechter dieser Idee entschieden sich bewusst gegen die in den europäischen Alpen praktizierte Erschließung der Natur für den Massentourismus durch Hütten, Straßen und Seilbahnen und damit gegen die Umwandlung weiter Teile der Natur in eine von menschlichen Interessen geprägte Kulturlandschaft. Die Natur wurde als das höhere Gut angesehen, das dem menschlichen Interesse, einfach, gefahrlos und bequem die Natur zu besichtigen, nicht geopfert werden durfte. Das gleiche Recht aller Menschen, einen Nationalpark zu besuchen, darf daher nicht mit dem Anspruch verwechselt werden, dies ohne eine entsprechende innere Einstellungen und bestimmter Fähigkeiten tun zu können. Zu ihnen gehören die Bereitschaft, auf Komfort und Luxus zu verzichten und sich auf wilde Tiere einzustellen, die Übung, auf windungsreichen Straßen Auto zu fahren, körperliche Belastbarkeit, topographisches Orientierungsvermögen und Sorgfalt und Erfahrung beim Wandern in abgelegenen Gebieten. Obwohl es in vielen Nationalparks zumindest eine gewisse Infrastruktur an Straßen, Wegen, Schildern, Telefonen, Campingplätzen und Geschäften, an Vorträgen, Führungen und eigens für Behinderte angelegten Wegen gibt, sind weite Teile unerschlossen geblieben. Nach einer wechselvollen Geschichte und bis in die Gegenwart andauernden Kämpfen zwischen den Verfechtern eines utilitaristischen Naturschutzkonzepts und den Vertretern eines Eigenwerts der Natur sind in der Regel der Abbau von Ressourcen wie Öl, Gas oder Holz ebenso verboten wie die Jagd, bei der Menschen ohne Not aus purem Vergnügen Tiere töten. Lediglich der indigenen Be-

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völkerung, die seit vielen Jahrhunderten in einem bestimmten Gebiet ihren Lebensunterhalt erwirtschaftet, wird in eng begrenztem Rahmen gestattet, ihre traditionelle Lebensweise weiter zu praktizieren. Verglichen mit einem National Monument, einem Naturpark oder einem Staatsforst (National Forest), der ein Nutzwald ist, genießt die Natur eine ungleich höhere Stufe des Schutzes. Damit ein Gebiet als Nationalpark bezeichnet werden darf, müssen international anerkannte Kriterien des IUCN (the International Union for Conservation of Nature) erfüllt sein. In einem Nationalpark (Kategorie II) müssen mindestens 75% der Fläche sich selbst überlassen und ungenutzt bleiben; und sie müssen groß genug sein, um Vernetzungen der Arten und einen repräsentativen Ausschnitt gebietstypischer Biotope zu enthalten. In diesem Sinne heißt es im deutschen Bundesnaturschutzgesetz § 24 (2): „Nationalparke haben zum Ziel, im überwiegenden Teil ihres Gebiets den möglichst ungestörten Ablauf der Naturvorgänge in ihrer natürlichen Dynamik zu gewährleisten.“ Während ein Nationalpark der Verantwortlichkeit des Staates unterstellt ist, kann die Unesco ein Schutzgebiet außerdem als Weltnaturerbe oder Biosphärenreservat in einen globalen Kontext einbetten. Die Natur wird als Prozess verstanden, der seiner eigenen Dynamik folgt. Auch nach Schäden durch Sturm, Wasser, Brände oder Insektenbefall sollte sie sich ohne oder nur mit geringfügigen Eingriffen regenerieren. So wurde nach einem durch Blitzschlag ausgelösten großflächigen Brand im Yellowstone-Nationalpark im Jahr 1988 keine Wiederaufforstung betrieben. Erst durch den Verzicht auf diese Maßnahmen erkannte man, wie wichtig Feuer für die Verjüngung eines Waldes sein kann, da sich manche Samen nur unter der Einwirkung großer Hitze öffnen. In ähnlicher Weise verfährt man im Kerngebiet des vom Borkenkäfer befallenen Nationalparks Bayerischer Wald. Nachdem die vorangehende Bewirtschaftung Monokulturen gefördert hatte, verjüngt sich der Wald und wird wieder artenreicher. Da sich jedoch die Regeneration über etliche Jahrzehnte hinzieht, folgt sie einer Dynamik, in die sich der Mensch mit seinen an ökonomischen oder touristischen Interessen orientierten Zeitskalen nur einordnen kann. Die Abkehr von einem statischen Naturverständnis beinhaltet auch, dass nicht wieder genau derselbe Zustand entsteht. Trotz langfristiger Zyklen, in denen sich eine bestimmte Ordnung erhält, gibt es immer wieder Veränderungen im Detail. Wiesen entstehen, wo Wälder waren, und Flüsse verlagern ihr Bett. Aufgrund der anthropozentrischen Begründung der Nationalpark-Idee im 19. Jh. unterschied man zunächst zwischen ‚guten‘ und ‚bösen‘ Tieren, sodass man in Yellowstone Wölfe und Pumas ausrottete, Rehe und Wapitis schützte und attraktive Tiere wie Bären systematisch fütterte. Eine Folge war, dass der Bestand an Rotwild ohne natürliche Feinde viel zu hoch war, sodass in regelmä-

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ßigen Abständen tausende von Wapitis zum Abschuss freigegeben wurden, um den Verbiss des Waldes zu verhindern. Außerdem kam es zunehmend zu gefährlichen Kollisionen mit Grizzlies, die an menschliche Nahrung gewöhnt waren und aggressiv reagierten, wenn sie ihnen verweigert wurde. Erst in den 1970ern korrigierte man die anthropozentrische Sicht mithilfe des Konzeptes des Ökosystems. Seine Stabilität beruht auf der Interaktion aller Arten, sodass jede Art auf ihre Weise zum Erhalt des Ganzen beiträgt. Nur wenn Beutegreifer vorhanden sind, die Überpopulationen anderer Arten verhindern, reguliert es sich selbst. Deshalb bemühte man sich, das gesamte Ökosystem wieder herzustellen, indem man die Wölfe wieder ansiedelte und Pumas, die von selbst zurückkehrten, duldete.501 Auch im Nationalpark Bayerischer Wald wurde in den letzten Jahren die Jagd ausgesetzt; auch hier ist die Rückkehr von Wolf und Luchs eine Voraussetzung dafür, dass Rot- und Schwarzwild nicht überhand nehmen. Ob der Wolf und vielleicht noch der Braunbär wieder über die grüne Grenze aus Osteuropa und Österreich einwandern dürfen, hängt davon ab, ob die ansässige Bevölkerung und die Touristen bereit sind, sich in ihrem Verhalten auf sie einzustellen. Damit die Natur sich in ihrer Eigendynamik entwickeln kann, sollte der weitaus größte Teil eines Nationalparks ‚wilderness‘, Wildnis bleiben. Wer sie kennenlernen will, muss sie sich zu Fuß mit Rucksack und Zelt auf einigen wenigen gebahnten Pfaden erschließen. So führt keine Straße in die unmittelbare Nähe des Mount Whitney, der mit ca. 4400m der höchste Berg der unteren 48 Staaten der USA und in dieser Hinsicht mit dem Matterhorn oder dem Mont Blanc vergleichbar ist. Es gibt keine Seilbahn auf seinen Gipfel, keinen Kiosk, kein Restaurant und keine Hütte. Die Menschen müssen nicht nur das, was sie brauchen, mitnehmen, sondern auch jeglichen Müll, den sie produzieren, wieder einpacken. In den USA sind etwa 4,7% der Gesamtfläche als Wildnis ausgewiesen. Auch die deutsche Bundesregierung hat sich 2007 in der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt das Ziel gesetzt, den Anteil der Gebiete, in denen sich die Natur nach eigenen Gesetzen entwickeln darf, bis 2020 von derzeit 0,5% auf 2% der Fläche Deutschlands zu erhöhen. Vor allem das Kerngebiet des Nationalparks Bayerischer Wald soll wieder Wildnis werden. Dass viele Nationalparks oft bis zu mehr als 90% Wildnis geblieben sind, verdankt sich einer weiteren Bewegung, die in den USA ihren Ursprung hat und mit der Begründung des ersten Wildnis-Gebiets 1924 durch Leopold einsetzte und 1964 durch das Wildnis-Gesetz, das Präsident Johnson unterzeichnete, formal besiegelt wurde. Wie die Idee des Nationalparks wurde auch das Gesetz zum Schutz der Wildnis zu einem Modell für viele Länder der Erde.502 Stärker als in Europa, das auf eine mehr als zwei Jahrtausende währende Stadtkultur und die Umwandlung der Natur in eine Kulturlandschaft zurückblicken kann,

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ist für das amerikanische Bewusstsein die Wildnis im historischen Gedächtnis geblieben. Doch ungeachtet aller kulturhistorischen Unterschiede hat erst die Zivilisation die Wildnis geschaffen. Als das Unbekannte, Ungeordnete, Gefährliche und Unkultivierte, das sich der menschlichen Kontrolle entzog, wurde sie zum Gegenspieler der Zivilisation. Der ‚Outdoor Recreation Resources Review Commission’s Bericht‘ von 1962 definiert Wildnis als ein Gebiet größer als 100 000 Morgen, das keine Straßen enthält, die von der Öffentlichkeit benutzt werden können. Das Land sollte außerdem keine signifikanten ökologischen Störungen durch menschliche Aktivitäten zeigen, obwohl unter bestimmten Bedingungen das Weiden von Nutztieren und Anzeichen früheren Holzschlags geduldet werden.503 Der Text fordert weiter, dass eine Wildnis „retains its primeval character [and] appears to have been affected primarily by the forces of nature.“504 Aufgrund dieser Definition können auch Gebiete, die erschlossen wurden, renaturiert werden. Durch den Verzicht auf menschliche Eingriffe kann sich ein Ökosystem nach eigenen Gesetzen und Zeitskalen entwickeln. Vor allem unter dem Einfluss von Leopold entstand das Bewusstsein, dass der Schutz der Natur alle Komponenten eines Gebiets, Belebtes und Unbelebtes, einschließen muss. Aufgrund ihrer Eigendynamik sind die noch verbleibenden Refugien der Wildnis natürliche Laboratorien, durch die Wissenschaftler grundlegende Erkenntnisse über ökologische und evolutionäre Prozesse gewinnen können. In der Definition von Wildnis, die die Autoren des Gesetzes von 1964 vorlegten, wird auch die Rolle der Menschen bestimmt: „A wilderness in contrast with those areas where man and his own works dominate the landscape, is hereby recognized as an area where the earth and the community of life are untrammeled by man, where man himself is a visitor who does not remain.“505 Mario Broggi, der Leiter der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) hat eine von der Größe unabhängige Definition verfasst, die derzeit als kleinster, gemeinsamer Nenner gilt: „Unter Wildnis wird jener Raum verstanden, im dem wir jede Nutzung und Gestaltung bewusst unterlassen, im dem natürliche Prozesse ablaufen können, ohne dass der Mensch denkt und lenkt, im dem sich Ungeplantes und Unvorhergesehenes entwickeln kann.“506 Die Bedeutung der Biosphäre erschöpft sich nicht in ihrem ökonomischen Wert; sie ist ihrerseits die Bedingung der Möglichkeit von Kultur. „Wilderness“, so Leopold, „is the raw material out of which man has hammered the artifact called civilization.“507 Mit der Einsicht, dass die Wildnis die Grundlage der Kultur ist, vollzieht sich eine Umkehr der gewohnten Perspektive, eine, wie Leopold formuliert, „Absage an die Arroganz des Menschen“508, der sich als Mittelpunkt der Welt sehen möchte. Howard Zahniser, der das Wildnis-Gesetz in den USA maßgeblich mit formuliert hat, schrieb: „We are part of the wilderness of the

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universe. Out of the wilderness has come the substance of our culture, and with a living wilderness we shall have also a vibrant culture.“509 Auch H. Weinzierl, der ehemalige Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), plädiert für den Erhalt der Wildnis. „Wollen wir eine Momentaufnahme menschengemachter Landschaft für immer konservieren oder wollen wir die Natur an sich schützen? Wir sollten wieder viel mehr den Mut zur Wildnis beweisen und uns nicht mit ein paar ‚Biotopen‘, als Landschaftsalmosen sozusagen, abspeisen lassen. Vielmehr sollten die Naturschutzgebiete als Perlen eingebettet sein in eine Landschaft, mit der wir insgesamt anständiger umgehen. Wir brauchen wieder einen Hauch von Wildnis in unserem Lande, damit wir uns nicht ganz von der Natur entfernen.“510 Als Gast sollte sich der Mensch in seinem Verhalten in die Ordnung der Natur einfügen. ‚Leave no trace‘ – ‚hinterlass keine Spuren‘ ist die leitende ethische Maxime. Mit der Einsicht, dass der Mensch nicht Herr der Natur ist, sondern ihr Erzeugnis, kehrt sich das Verhältnis von Natur und Kultur um, das die letzten Jahrhunderte dominiert hat. Hinlänglich bekannt ist inzwischen, dass die Zivilisation auch zerstörerische Seiten hat, Gefahren und Abgründe in sich birgt. Alkoholismus, Drogenkonsum, Kriminalität und soziale Verwahrlosung nehmen weltweit vor allem in Ballungsgebieten zu. Sie sind eine Reaktion auf die Rastlosigkeit und Sinnleere des modernen Lebens und die Flucht in virtuelle Welten, in denen auf völlig unverbindliche Weise alles möglich zu sein scheint. Kein Wunder also, dass viele nach Orten suchen, an denen sie zumindest für eine begrenzte Zeit abgekoppelt von der Allgegenwart moderner Kommunikationstechnologien, sozialer Verpflichtungen und politischer Einflussnahme mit sich allein sein können. Die Möglichkeit und die Fähigkeit, zur Ruhe zu kommen und Stille zu erleben, werden zur Quelle der Regeneration. Die Erkenntnis, dass die Beherrschung der Natur weder möglich noch wünschenswert ist, lässt die Einschränkung manipulativer Techniken zu einem Gewinn an Freiheit und Lebensqualität werden – in sinnlicher wie geistiger Hinsicht.511 Dadurch wird die Natur zu einem Schlüssel zur geistigen, emotionalen und kulturellen Entwicklung, − einem Reifungsprozess des Individuums und der Gattung. Solange sich die Menschen gegen die Wildnis behaupten mussten, um eine eigene Lebenssphäre zu begründen, wurde sie vor allem negativ bewertet; Schon Humboldt hatte jedoch, ähnlich wie Jacob und Wilhelm Grimm, die Natur als Grundlage menschlicher Freiheit gesehen: „On the one hand it is inhospitable, alien, mysterious, and threatening; on the other, beautiful, friendly, and capable of elevating and delighting the beholder. Involved, too, in this second conception is the value of wild country as a sanctuary in which those in need of consolation can find respite from the pressures of civilization.“512 Weder wird die Natur idealisiert noch auf ein Fressen-und-Gefressen-Werden reduziert. Es gilt

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beide Seiten der Natur, ihre Bedrohlichkeit und ihre Schönheit, ihre chaotischen Elemente und ihre schöpferische Dynamik, zu erkennen. Vor allem in den USA und vielen westlich geprägten Ländern sind Nationalparks und Wildnisgebiete eine Art Experimentierfeld, in dem ein anderes Verhältnis zur Natur für eine begrenzte Zeit erprobt werden kann. Es zielt auf eine neue Synthese biologischer, geologischer, ökologischer und klimatischer Analysen mit ästhetischen Erfahrungen, ethischen Urteilen und sogar spirituellen Dimensionen. Die Regeln, die dem Besucher mit auf den Weg gegeben werden, erzeugen den Freiraum für qualitativ neue Formen der Erfahrung jenseits der technisch vermittelten Alltagswelt. In Informationsveranstaltungen werden die Besucher zu eigenen Beobachtungen und zur sinnlich-ästhetischen Wahrnehmung, zu einem Erleben mit allen Sinnen, angeregt: zum Betasten einer bestimmten Gesteinsart, dem Riechen einer Pflanze, dem Abschätzen räumlicher Dimensionen durch körperliche Bewegungen und der Wahrnehmung von Farbqualitäten. In ethischer Hinsicht wird die Verantwortung für die Natur betont. Die Aufgeschlossenheit für einen übergreifenden Sinnhorizont entsteht durch das Staunen über ihre Schönheit und die sich im Laufe der Erdgeschichte immer wieder neu einstellende Ordnung. Die Natur verdankt ihren Wert nicht menschlichen Kriterien; die Menschen werden ihrerseits von diesem angesprochen und können auf ihn antworten. Eine weitgehend friedliche Koexistenz zwischen Menschen und wilden Tieren ist allerdings nur möglich, „wenn der Mensch lernt, von seinen angemaßten Nutzungsrechten Abstriche zu machen.“513 Damit sich Menschen in ihrem Verhalten auf die Eigenschaften der Tiere einstellen, genügt der gute Wille allein nicht; notwendig sind auch Grundkenntnisse über die Eigenarten und Vorlieben einzelner Arten. So muss man in Gegenden, in denen es Schwarz- und Braunbären gibt, alle für sie attraktiv riechenden Substanzen für sie unzugänglich aufbewahren. Dadurch schützt man das Leben der Tiere und das eigene. Die geistige Überlegenheit des Menschen zeigt sich gerade nicht in der Herrschaft über die Natur, sondern in der Fähigkeit, sich auf andere Lebensformen einzustellen, um mit ihnen zu koexistieren. Mit der Überschreitung der anthropozentrischen Perspektive eröffnen sich neuartige Möglichkeiten der Begegnung mit anderen Lebensformen, die viele als emotionale Bereicherung und Erweiterung ihres Lebenshorizontes erleben. Die letzten Refugien der Wildnis sind daher kein Luxus oder ein unverbindlicher Spielplatz reicher Gesellschaften; als Quelle existenzieller Erfahrungen entspringt ihr Erhalt einem grundlegenden menschlichen Bedürfnis. In seinem Buch ‚Desert Solitaire‘ schreibt der amerikanische Schriftsteller Edward Abbey: „Wilderness is not a luxury but a necessity of the human spirit, and as vital to our lives as water and good bread. A civilization which destroys what little re-

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mains of the wild, the spare, the original, is cutting itself off from its origins and betraying the principle of civilization itself.“514 In der Begegnung mit der nichtmenschlichen Natur lernen Menschen sich selbst noch einmal von einer neuen Seite kennen. Anders als die soziale Welt ist die Ordnung der Natur kein Geschöpf ihrer eigenen Pläne, sodass sie lernen, sich in ihren Möglichkeiten und Grenzen besser einzuschätzen. Die Begegnung mit der Natur wird zu einer Begegnung mit sich selbst, durch die psychische Integration und innere Autonomie zunehmen können. Nur wo die Natur sich frei entfalten kann, gewinnt, so betont Naess, auch der Mensch die Freiheit, zu sich zu kommen. „It is in untouched Nature that life can develop freely, and where I myself feel free.“515 In dem weltweit wachsenden Interesse am Erhalt von Wildnis zeigt sich eine allmähliche Verschiebung des dominanten sozialen Paradigmas: Weg von der einseitigen Orientierung an einem unbegrenzten ökonomischen Wachstum und dem Gebrauch der Natur zur Befriedigung immer neuer Bedürfnisse, hin zur Anerkennung des unersetzbaren Eigenwertes ökologischer Zusammenhänge. Nicht Objektivierung und Beherrschung, sondern Partizipation ist die Einstellung derer es bedarf, um ihre ethische und ästhetische Dimension zu erfassen. Der Mensch sollte sich in diesem Kontext nicht als Gärtner, sondern als Wächter der Natur verstehen, nicht als ‚gardener‘, sondern als ‚guardian‘516.

12 Eine Landschaft als Ausdruckseinheit: Die Ästhetik der Natur 12.1 Ein Erleben mit allen Sinnen Der Leib bindet den Menschen nicht nur durch die Befriedigung vitaler Bedürfnisse in die Natur ein; als Vermittlung zur Außenwelt ist er das Medium von Kommunikation und sinnlich-ästhetischen Erfahrungen. Farben und Formen, Gerüche und Töne erschließen sich nicht als objektivierbare, quantifizierbare Größen, sondern in ihren Qualitäten und Bedeutungen, die eine ästhetische Dimension besitzen, die durch die Kategorien von schön und hässlich beurteilt wird. Doch auch die Fähigkeit zu qualifizierten sinnlichen Perzeptionen ist nicht einfach vorhanden, sondern muss in der Kindheit entwickelt werden. Obwohl schon in der embryonalen Phase die Anfänge für die Sinnesentwicklung im Rückenmark und Hirnstamm gelegt werden, entsteht eine Steuerung durch die äußere Hirnrinde erst nach der Geburt. Werden die Sinne nicht gefördert, verkümmern die entsprechenden Neuronen und die Bahnen, die sie verbinden. Rückbildungen lassen sich nur noch in Ansätzen wieder korrigieren. Der Tastsinn ist bei der Geburt am besten ausgebildet. Dennoch kann auch er sich nur weiter entwickeln, wenn Kinder nach der Geburt berührt werden und selbst Dinge berühren können. Nur wenn Babys strampeln und nach Dingen

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greifen, entwickeln sie ein Gefühl für die Bewegungsmöglichkeiten, Kraft und Proportionen ihres Körpers. Die Entwicklung von Körper- und Raumschema, von Tast- und Augensinn, Sprach- und Bewegungsvermögen stimulieren sich gegenseitig. Im wörtlichen wie übertragenen Sinne begreifen Babies die Dinge und dabei sich selbst. Ausgebildet werden müssen auch die Geschmacks- und Geruchsnerven sowie der Sinn für Farben und Formen. Nur auf dieser Grundlage kann die sinnliche Wahrnehmungsfähigkeit lebenslang durch neue Erfahrungen weiter differenziert werden. Damit es zu einer Wahrnehmung der Natur mit allen Sinnen kommt, müssen verschiedene Sinne synästhetisch zusammenwirken. Wird etwa durch übermäßigen Medienkonsum vor allem der Sehsinn angesprochen oder durch Dauerbeschallung der Hörsinn, verkümmern die anderen Sinne und ihr Zusammenspiel, sodass die Fähigkeit, etwas plastisch in seinen Materialeigenschaften wahrzunehmen und sich im Raum zu bewegen, eingeschränkt wird. Umfragen, was einer bestimmten Anzahl von Menschen schmeckt, liefern daher nur einen statistischen Wert über den gegenwärtigen Zustand der befragten Personen, nicht jedoch über das Spektrum an Geschmacksoder Geruchsqualitäten, die bei einer vollen Entfaltung der Sinne wahrgenommen werden könnten. Natur und Kultur greifen auch hier ineinander. Bisher war das Naturverständnis in bäuerlichen Verhältnissen von der Arbeit und in bürgerlichen Kreisen vom Wunsch nach Erholung geprägt, eine Auffassung, die sich noch in der ästhetischen Theorie Adornos findet, der Natur als das Andere der Gesellschaft bestimmte. Die ökologische Naturästhetik versucht dagegen, den Menschen aufgrund seiner Leibgebundenheit als Teil der Natur zu begreifen. Der Kontakt zur Umwelt beruht nicht nur darauf, dass die Sinne Daten als Grundlage des ästhetischen Urteils aufnehmen.517 Vermittels des Leibes ist der Mensch ein integraler Teil der Natur, an der er aufgrund sinnlicher Perzeptionen partizipiert, sodass die Welt nicht als wertindifferenter Zusammenhang physikalisch bewegter Körper und instrumentell manipulierbarer Objekte erscheint. Im Unterschied zum homogenen Raum der Physik ist der erlebte Raum durch qualitative Unterschiede, durch Farben und Gerüche, durch Himmelsrichtungen, durch Licht und Dunkel und das Empfinden von Schmerz und Wohlbefinden gegliedert. Er gewinnt in Relation zum Leib ein Zentrum, um das herum er als qualitativ erlebtes und bedeutungsvolles Ganzes aufgebaut wird. Geräusche, die von hinten kommen, haben eine andere Qualität und wirken sich anders auf die emotionale Verfassung und das Verhalten aus, als wenn man ihre Quelle vor sich sieht. Der Raum kann als weit oder beengend empfunden werden, er vermittelt Geborgenheit oder kann die Luft zum Atmen nehmen. Seine Atmosphäre entsteht aus dem Zusammenspiel von Gerüchen, Farben, Tönen und Formen mit der individuellen Lebenserfahrung. Indem sich der Raum sinnlich vermittels des Leibes erschließt, gewinnt alles eine vitale,

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emotionale oder kognitive Bedeutung. Ein Mensch steht nie nur wie ein neutraler Beobachter außerhalb der Welt, sondern findet sich immer leibhaft in der Mitte der Verhältnisse vor, die ihn umgeben, die seine Sicht ermöglichen oder begrenzen und sein Handeln mitbestimmen. „Neben dem zwischen mir und allen Dingen bestehenden physischen und geometrischen Abstand“, so MerleauPonty, „verbindet ein erlebter Abstand mich mit den Dingen, die für mich zählen und existieren, und verbindet sie untereinander. Dieser Abstand ist von Augenblick zu Augenblick das Maß und die ‚Weite‘ meines Lebens. Bald ist zwischen mir und dem Geschehen ein Spielraum, der mir Freiheit gewährt, ohne daß das Geschehen mich zu berühren aufhörte; bald wieder ist der erlebte Abstand zugleich zu gering und zu groß: die Mehrzahl der Ereignisse hört auf, für mich noch zu zählen, indessen die nächsten mich bedrängen.“518 Nicht nur die sinnlichen Perzeptionen und die mit ihnen verbundenen Bedeutungen, auch die Proportionen des Körpers gliedern den umgebenden Raum. Das Maß wird nicht äußerlich an die Dinge herangetragen; und es beruht nicht auf bloßen Konventionen. Indem ein Mensch durch seinen Leib in ein Verhältnis zu den Dingen tritt, lernt er seine eigenen Proportionen im Verhältnis zu ihnen einzuschätzen. Um zu verstehen, was ein Baum ist, genügt es nicht zu wissen, wie Chlorophyll entsteht und welche Standortbedingungen er braucht. Man muss seinen Stamm umschreiten, die Farbe seiner Blätter sehen und die Luft unter seinen Zweigen riechen. Große und alte Bäume erzählen dem aufmerksamen Betrachter durch ihr Aussehen ihre Lebensgeschichte und lösen unweigerlich auch ein ethisch relevantes Gefühl aus, das zu der Frage motiviert, ob und unter welchen Voraussetzungen man ein solches Lebewesen kurzfristigen Interessen opfern darf. Was etwa sind die durchschnittlich 80 Lebensjahre eines Menschen verglichen mit den etwa 2600 Jahren von ‚Grizzly Giant‘ im Yosemite Nationalpark in den USA! Dieser Baum mit einer Höhe von 64m und einem Umfang von 30m stand schon da, als Platon lebte, dessen Texte für uns aus einer fernen Zeit zu kommen scheinen, zu der wir keine unmittelbare Verbindung mehr haben. Dadurch wird der Baum zu einem lebendigen Bindeglied zwischen der Gegenwart und der fernen Vergangenheit. Aus der leibhaften Beziehung zu ihnen gewinnen die Dinge eine Bedeutung, die keine willkürliche Setzung oder bloß subjektiv ist. Indem sich ein Mensch in eine Relation zu anderem setzt, überschreitet er die Befangenheit in seinen eigenen Lebenshorizont und findet ein Maß für sein Handeln, das in raum-zeitlicher Hinsicht auf seine Umgebung abgestimmt ist. Die Frage, ob die sinnlichen Qualitäten nur im Bewusstsein oder auch in der Natur sind, ist unter dieser Perspektive falsch gestellt. Sieht man in dem die Welt erlebenden Beobachter einen integralen Teil der Natur, dann entstehen sie aufgrund der spezifischen Relation zwischen beiden. In jeder Situation sind mehrere Bedeutungen

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verborgen, die sich dem Betrachter anbieten, von denen jedoch nur die ausgewählt werden, die von besonderem Interesse sind. Da jeder Mensch einzigartig ist, erscheint auch die Welt unter einer unverwechselbaren Perspektive. Dieser Welten-Raum wird unablässig durch die physische Konstitution und die individuelle Biographie, durch Stimmungen, den Grad der Aufmerksamkeit, Vorwissen, Absichten und Werte konstituiert. „Insofern ich einen Leib habe und durch ihn hindurch in der Welt handle, sind Raum und Zeit für mich nicht Summen aneinander gereihter Punkte, noch auch übrigens eine Unendlichkeit von Beziehungen, deren Synthese mein Bewußtsein vollzöge, meinen Leib in sie einbeziehend; ich bin nicht im Raum und in der Zeit, ich denke nicht Raum und Zeit; ich bin vielmehr zum Raum und zur Zeit, mein Leib heftet sich ihnen an und umfängt sie. Die Weite dieses Unterfangens ist die Weite meiner Existenz; aber nie vermag sie eine totale zu sein: Der Raum und die Zeit, denen ich einwohne, sind stets umgeben von unbestimmten Horizonten, die andere Gesichtspunkte offenlassen.“519 Als reines Bewusstsein hätten Menschen nur eine abstrakte Vorstellung von der Welt; ihre Begriffe wären, wie Kant betonte, ohne sinnliche Anschauung leer. Ihre Freiheit wäre, obzwar grenzenlos, ohne Wirklichkeit und Wirksamkeit. Würde sich ihr Wissen nur aus der Position eines extramundanen Beobachters oder virtueller Imagination speisen, würden mit der Erfahrungsfähigkeit und dem Gefühl für die eigene Existenz auch der Bezug zur Realität in ihrer existenziellen Bedeutung und das Gespür für Maßstäbe verloren gehen. Nur durch die durch den Leib auferlegten Grenzen ist der Mensch mit der Welt durch ein Netz von Bedeutungen verbunden. Der Leib ist nicht das Mittel, sondern das Medium, durch das er eine Verankerung in der Welt hat. „Ohne ihn hätten wir keine Welt, keine Gesamtheit von Dingen, die aus dem Formlosen emportauchen, indem sie sich unserem Leib darbieten als ‚zu berühren‘, ‚zu nehmen‘, ‚zu bezwingen‘, wir hätten nie das Bewußtsein, uns den Dingen anzupassen und sie daselbst zu erreichen, wo sie sind, jenseits unserer selbst. Es gibt einen autochthonen Sinn der Welt, der sich im Umgang unseres inkarnierten Daseins mit ihr konstituiert und für jegliche Sinngebung vom Charakter einer Entscheidung erst den Boden hergibt.“520 Zu handeln ist keine bloße Reaktion auf Reize, sondern eine strukturierte Antwort auf eine als bedeutungsvoll erlebte Situation. Der Leib bildet das Scharnier, an dem die Anforderungen der Umwelt in auf sie abgestimmte Handlungen umgesetzt werden, die eine sinnlich-vitale, kognitive und existenzielle Bedeutung haben. 12.2 Natur als Kunst – Kunst als Natur Mindestens ebenso bedeutsam für den Wunsch, Refugien der Wildnis zu erhalten, ist, neben biologischen Interessen, ökonomischen Erfordernissen, ethi-

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schen Pflichten und wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Freude an ihrer Schönheit. Die ästhetische Wirkung der wilden Natur, die zahllose Menschen jenseits kultureller Grenzen in ihren Bann schlägt, wurde nicht von Menschen und für sie gemacht; in ihr drücken sich keine menschlichen Ideen aus. Unwillkürlich erinnert das Zusammenspiel von Felsformationen, Teichen, Bächen oder Wiesen an vielen Stellen an einen Zengarten. Um die Ästhetik der wilden Natur und ihre Wirkung besser zu verstehen, lohnt sich deshalb ein Blick auf die ihm zugrunde liegende Idee. Ein Zengarten ist genau dann gelungen, wenn man nicht den Eindruck hat, dass er einem äußerlichen Zweck dient oder nur die Sicht eines bestimmten Künstlers oder einer bestimmten Zeitströmung ausdrückt. Darin unterscheidet er sich von einer französischen Gartenanlage, einem Park, einem Nutz- oder Ziergarten. Ein Zengarten sollte, obwohl künstlich, vollkommen natürlich wirken. Alle Teile sollten so aussehen, als ob sie sich mit innerer Notwendigkeit genau an dem Ort befinden, an den sie gehören; und sie sollten den Raum einnehmen können, der es ihnen ermöglicht, sich so zu präsentieren, dass ihre Gestalt optimal zum Ausdruck kommt. Alle Teile sind so zusammengefügt, dass aus ihrem Zusammenspiel ein Ganzes entsteht. Man könnte nicht das kleinste Element herausnehmen oder seine Position oder Größe verändern, ohne die Gesamtwirkung zu verändern oder gar zu zerstören. Alle Aspekte des Gartens, obgleich klar unterscheidbar, gehören zusammen. Im Einzelnen zeigt sich das Ganze. Gusty Herrigel, die in Japan die Kunst des Blumenweges erlernte, schreibt: „Für den Japaner bedeutet alles Leben eine ununterbrochene Einheit, aus gemeinsamer Wurzel stammend. Wenn er auch Pflanze vom Tier und beide vom Menschen unterscheidet, so glaubt er doch nicht, an die Begrenzung von Wertunterschieden. Es könnte sein, daß eine Blume oder ein Blütenzweig die Gestalt des Lebens reiner widerspiegelt als irgendein Mensch. Wer also glaubt, es genüge zur Erlernung der Blumenkunst, sich Blumen gegenüber als feinfühlig, Tieren gegenüber einigermaßen verträglich und umgänglich zu erweisen, ist ebenso schlecht beraten wie der, welcher alle Betonung auf den Umgang mit Menschen legt, Blumen und Tiere dagegen als mehr oder weniger willkommene Begleiterscheinungen – eben nur ‚auch‘ daseiend – ansieht. Nach seiner Meinung könnten diese sogar fehlen, ohne daß der Bereich des menschlichen Daseins irgendwelche Einbuße erlitte! Blumen als wohltuend empfundener Schmuck, Tiere im Zoo, diese gelegentlichen Begegnungen genügen ihm, der so viel Wichtigeres zu tun hat! In Wirklichkeit aber ist die Beobachtung von Blumen ebenso wichtig wie die des Lebens und seiner Fülle überhaupt, der Kontakt im Umgang mit Menschen und Tieren ebenso wichtig wie der mit Blumen. Der angehende Blumenkünstler ist also kein Spezialist, der alles andere, was nicht Blume heißt, vernachlässigen darf, sondern er gliedert sich allumfassend ein.“521

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Einen Zengarten anzulegen gleicht daher nicht dem planenden Gestalten eines Landschaftsarchitekten; er entsteht nicht durch das sorgfältige Abwägen unterschiedlicher Interessen, die es bei der Gestaltung zu berücksichtigen gilt. Der Künstler will dem Material nicht seine Ideen aufprägen, indem er es nach seinen Zielen arrangiert. Er versteht sich auch nicht als jemand, der durch schöpferische Genialität hervorsticht oder von den Mächten des Unbewussten getrieben wird. Im Gegenteil: Nur indem er sich selbst losgelassen hat, wird er fähig, aus einem tieferen Grund zu schaffen, der ihn und die Dinge gleichermaßen trägt. Der Mensch ist weder ein absichtsvoll Handelnder noch verharrt er in bloßer Passivität. Nur aus der ‚coincidentia oppositorum‘, dem ‚Ineinsfall der Gegensätze‘ von Aktion und Passion, wird ein Werk geboren. Indem der Künstler, so betont Herrigel, in seiner Mitte ruht, erschließt sich ihm auch das zu gestaltende Objekt in seiner Tiefenstruktur: „Von seiner Wesensmitte und inneren Besinnlichkeit geht der Weg in gerader, harmonischer Linie zur Außenwelt. Die Augen werden von dem Wunder der Schönheit der vor ihm liegenden Pflanze erfüllt. Verbunden mit dem alleinigenden Sein, aufgenommen im Gesamt des Kosmos, kann er vom Zentrum seines Menschseins gestalten.“522 Das, was dargestellt wird, wird nicht vom Künstler kreiert; es wird lediglich in seinem Sein in unterschiedlichen Medien zum Ausdruck gebracht. Um dazu fähig zu sein, muss er von sich absehen und auf die Sprache der Dinge hören. Andernfalls steht er sich selbst im Weg. Er schafft daher weder aus der Gegenüberstellung zum Objekt noch aus der Identifikation mit ihm, sondern aus der Teilhabe an ihm. Um ein Blumengesteck, einen Steingarten oder einen Garten mit Bäumen so zu arrangieren, dass sie vollkommen natürlich wirken, fordert es eine lebenslange Disziplin. Sie ist die Voraussetzung für ein Schaffen, in dem der Künstler mit seinem Eigenwillen zurücktritt, um den Dingen den Raum zu geben sich darzustellen. „Sich ganz hingeben in Selbstverleugnung und Geduld, sich nicht wichtig nehmen, sondern einordnen, gütig, unaufdringlich.“523 Durch vollkommene geistige Präsenz und die technische Beherrschung seiner Disziplin wird der Zenmeister zu einer Art Geburtshelfer, der in immer wieder neuen Medien die innere Einheit des Lebens sichtbar macht, die in der Geschäftigkeit des Alltags verborgen bleibt. Er wird zu einer Vermittlung zwischen einer unsichtbaren Ordnung und der sinnlich wahrnehmbaren. Das unablässige Streben nach der Vollkommenheit des Arrangements von Pflanzen oder Steinen ist die Voraussetzung dafür, dass die unsichtbare Kraft, die alles trägt, in einem winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit und in jedem einzelnen Teil zur Erscheinung kommt. Geistiges ist im Sinnlichen gegenwärtig. Dadurch kann nun seinerseits das Sinnliche die Menschen in ihrer Geistigkeit ansprechen. Es entsteht eine Beziehung zwischen Mensch und Natur, die Sinnliches und Geistiges umgreift. „Dem vollendeten Künstler des Blumenstellens“, so Herrigel, „wird es da-

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rauf ankommen, Werke zu schaffen, die wie Schöpfungen der Natur selbst aussehen. Ist nun ein solches Blumenstück ein Gebilde der Natur oder der Kunst? Eine eindeutige Antwort hierauf ist außerordentlich schwierig. Denn für den Japaner bilden Leben und Kunst, Natur und Geist eine unlösbare ungeschiedene Einheit. Er erlebt die Natur gar nicht anders als unmittelbar beseelt, den Geist nicht anders als naturhaft, absichtslos. Für ihn ist die Natur weder tot noch geistlos, noch bloßes Symbol und Gleichnis. Das Ewige selbst ist in ihrer lebendigen Schönheit unmittelbar gegenwärtig.“524 Anders als eine Maschine, die zwar faszinierend, aber kalt wirkt, wirkt ein Zengarten sogar dann anziehend, wenn er nur aus Steinen besteht. Er vermittelt dem Betrachter das Gefühl, für einen Augenblick einen Einblick in die Ordnung der Dinge zu gewinnen. Doch ebenso wenig wie der Künstler darf der Betrachter in sich selbst gefangen sein. Nur wenn er in seiner Mitte ruht, entsteht das Gespür für etwas, das menschliche Zwecke ebenso übersteigt wie rationale Begriffe. Der Garten erscheint dem Betrachter nicht wie irgendein künstlerisches Objekt, das er bewundert oder mit wissenschaftlicher Distanz begutachtet. Die sich in ihm manifestierende Ordnung geht ihn selbst unmittelbar an, weil sie auch ihn trägt. Ein Zengarten hat keinen weiteren Nutzen als den, den Einklang des menschlichen Lebens mit dem universalen Sein in einem begrenzten Medium zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht verdankt er gerade dieser Intention seine kulturübergreifende Wirkung. Zumindest unausgesprochen gewinnt die Natur eine ethische Dimension: Man kann nicht aufgrund menschlicher Pläne in sie eingreifen, ohne die innere Harmonie der Elemente zu stören. Damit wird eine anthropozentrische Perspektive überwunden. Die Natur ist kein Mittel der Selbsterhaltung, keine Ressource für Erholung und Entspannung. Die Menschen sind ihrerseits ein Teil der Natur, die sie trägt. Ein nicht gestaltetes Sein ist der schöpferische Urgrund allen Werdens. Es wird zur unerschöpflichen Quelle der Erneuerung und damit eines immer wieder neuen künstlerischen Ausdrucks, ohne doch mit einer der begrenzten Gestalten identisch zu sein. Wir benennen es, um darüber zu sprechen, obwohl es durch keinen Namen angemessen bezeichnet werden kann, wie es im ‚Tao Te King‘ heißt.525 Kommen wir nach diesem Exkurs zur Ästhetik der wilden Natur zurück. Wie kommt es, dass sie in frappierender Weise der Ästhetik eines Zengartens gleicht, – obwohl es keinen Zenmeister gibt, der sie gestaltet hat? Und wieso finden sich diese Flecken nicht nur hier und da vereinzelt und scheinbar zufällig, sondern immer wieder? Und warum vermag ihre Ästhetik zahllose Menschen anzusprechen und im Innersten zu berühren? Naturwissenschaftlich betrachtet könnte das ganze Arrangement von Steinen, Felsbrocken, Wasserläufen, Seen, Gräsern und Blumen auf der schlichten

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Verbindung von Naturgesetzen mit zufälligen Ereignissen beruhen. Ein Stein könnte in diesem Teich liegen, weil er bei starkem Frost von einer Felswand abgesprengt wurde und an diesem Punkt einfach nicht mehr genügend kinetische Energie hatte, um weiter zu rollen; ein Grasbüschel wächst zufällig neben ihm, weil der Wind seinen Samen dorthin getragen hat und die notwendigen Bedingungen für sein Wachstum gegeben waren; rund um den Stein und das Gras hat sich ein kleiner Teich gebildet, weil die geologischen Formationen vor vielen Jahrhunderttausenden eine Gesteinsschicht hinterlassen haben, die leichter erodiert als das umliegende Gelände und damit tiefer ausgehöhlt wurde, sodass sich Wasser ansammeln konnte; auch die Wirkung des Sonnenlichts, das den Grashalm zum Leuchten bringt und sich im Wasser bricht, verdankt sich der chemischen Zusammensetzung der Biosphäre und der Sonne. Dass der Grashalm in leuchtendem Grün erscheint, beruht wiederum auf den Gesetzen der Lichtbrechung. Alle Details könnten sich also kausal erklären lassen und ihre Harmonie würde lediglich durch das zufällige Zusammentreffen voneinander unabhängiger Kausalreihen entstehen. Das Empfinden von Schönheit entstünde nur im Blick des Betrachters und wäre rein subjektiv. Dennoch wirkt das Arrangement so, als ob alles zusammenpasst, als ob die Teile sinnvoll zusammengefügt worden wären. Als ob also alles so sein sollte. Aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl unterschiedlicher Elemente entsteht ein in sich stimmiges Ganzes. Das Wasser bringt die Form des Steines zur Geltung; dieser hebt durch sein lichtes Grau das sonnendurchstrahlte Grün der Gräser hervor. Wie bei einem Zengarten könnte man keinen Teil wegnehmen, ohne die Wirkung des Ganzen zu verändern. So wie es ist, erscheint es als vollkommen. Dass Schönheit aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl einzelner Elemente entsteht, ist ein Strukturmerkmal der von Menschen unberührten Natur. Bei aller Liebe zum Detail muss man jedoch, darin waren sich Humboldt und Muir einig, immer die ganze Landschaft im Blick behalten. Einer der wenigen, der dies bereits 1912 erkannt hat, ist wiederum Scheler: „Wo immer die Bewegung der kosmischen Einsfühlung wieder lebendig geworden ist, werden sich von selbst bestimmte praktische Bewegungen z. B. des Tierschutzes, der Antivivisektionsbewegung, des Pflanzenschutzes, der Erhaltung von Wäldern und Schutzes der ‚Landschaften‘ (d. h. gewisser Ausdruckseinheiten der Natur), anschließen.“526 Als Ausdruckseinheit lässt sich eine Landschaft nicht aus einzelnen, äußerlich zusammengefügten Elementen aufbauen. In Hinblick auf den Menschen ermöglicht die hochgradige Koordination unterschiedlicher Elemente nicht nur das physische Überleben, sondern auch ein in sinnlicher und geistiger Hinsicht reiches Leben; in Hinblick auf die Natur ist sie ein Indikator für die Integrität eines Ökosystems, für die Vernetzung von Lebensformen und die durch sie entstehende Komplexität, der es seine Stabilität verdankt. Weder in

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ästhetischer noch funktionaler Hinsicht lassen sich einzelne Elemente herauslösen, ohne ihre eigentümliche Wirksamkeit einzubüßen. Die Teile sind nicht äußerlich zusammengefügt, sondern werden durch die Aktivität zahlloser Lebewesen verbunden. Erst durch die Integration aller Prozesse gewinnt ein Ökosystem seine Lebendigkeit. Der Grad der inneren Vernetztheit entscheidet auch über die Qualität seiner ästhetischen Erscheinung. Seinen ästhetischen Ausdruck verdankt es der ihm immanenten Dynamik. Nicht nur bei Plotin, auch in der modernen Ökologie findet sich daher die Einsicht, dass sich Funktionalität, Stabilität und Regenerationsfähigkeit als Schönheit zeigen und einen Wert für alle Lebewesen haben. „Die schöne Natur“, so schreibt der Biologe A. Weber, „ist fast immer die – mehr oder weniger – heile Natur, und oft sprechen Ökosysteme umso stärker unseren Sinn für Ästhetik an, je ursprünglicher sie sind und je vielfältiger ihre Verflechtungen sich entwickelt haben.“527 Dass aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl von Elementen immer wieder aufs Neue eine harmonische Ordnung entsteht, ist ein Strukturmerkmal der von Menschen unberührten Natur. Die Schönheit der wilden Natur lässt sich daher nicht auf ein bloß subjektives Empfinden, auf das Zusammenspiel unserer Vermögen, wie Kant glaubte, beschränken. Dennoch erscheint sie im Sinne von Kant wie ein Kunstwerk, das durch seinen Anblick erfreut und im Betrachter kein Interesse weckt, umgestaltend einzugreifen. Eine technische Erschließung durch Straßen oder Seilbahnen könnte diese Art der Ästhetik in keiner Weise verbessern. Sie beruht, wie Naess betont, auf dem objektiven Zusammenspiel einer Vielzahl von Elementen und der menschlichen Fähigkeit, dieses zu erleben: „To be full of joy is to take pleasure in the world as it appears to you at the moment. You experience a joyful ‚world‘, and therefore something that (ontologically speaking) is joyful, not something only inside you. The world and you cannot be completely separated from each other. The flower itself is joyful. We ourselves, the flower as we spontaneously appreciate it, and the pleasure itself together form an indestructible whole. Technically it may be called a gestalt; an entity that cannot be arbitrarily separated into subject, object, and medium.“528 Der Begriff der Ausdruckseinheit, den Scheler wählt, ist daher umfassender als der des Ökosystems, da er die Lebewesen einbezieht, die ihren Befindlichkeiten Ausdruck verleihen, untereinander kommunizieren und durch ihre Eigenaktivität vielfältige Verflechtungen erzeugen. Dadurch gewinnt eine Landschaft ihre charakteristische Atmosphäre, durch die sie auch den Menschen in seiner Subjektivität anzusprechen vermag. Wird eine Landschaft vollständig nach menschlichen Plänen geformt, wie es etwa unter dem kommunistischen Regime der Sowjetunion am Aral-See der Fall war, kann ihre Funktionsfähigkeit oft nur mit hohem technischem Aufwand und für begrenzte Zeit aufrecht erhalten werden. In dem Maß, in dem na-

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türliche Rhythmen entkoppelt werden, nimmt die Anfälligkeit eines Ökosystems für Störungen zu. Zu viele Skipisten in einem Gebiet führen zu Hangrutschen; begradigte Flüsse treten bei starkem Regen unkontrollierbar schnell über die Ufer. Charakteristikum einer zerstörten Landschaft ist, dass nichts mehr zueinander passt, dass sie wie in Einzelteile zerrissen wirkt. Obwohl diese teilweise noch funktionsfähig sind, ist ihr Zusammenspiel zutiefst gestört. Über kurz oder lang werden auch sie zusammenbrechen. Hässlich, so kann man in diesem Kontext sagen, ist der Verlust des Zusammenspiels unterschiedlicher Elemente, ihrer Integration. Dadurch wirkt eine Landschaft nicht mehr lebendig, sondern tot. Im Betrachter kann eine zerstörte Landschaft daher ein fast schmerzhaftes Empfinden auslösen. Eine Landschaft, die einmal verwüstet wurde, kann mit technischen Mitteln allein nicht renaturiert werden. Alle unterstützenden Maßnahmen bleiben angewiesen auf die Eigendynamik der Natur. Sie kann sich nur aus eigener Kraft regenerieren, und sie wird es immer da tun, wo man ihr die Möglichkeit dazu gibt. Schon in der Befriedigung biologischer Bedürfnisse, in der Beschaffung von Nahrung, der Anlage von Städten und Straßen müssen daher Grenzen menschlicher Konstruktionen akzeptiert werden. Nur aus dem Zusammenspiel menschlicher Interessen mit der Eigendynamik ökologischer Systeme kann eine Kulturlandschaft entstehen, die zumindest über einen langen Zeitraum ein qualitativ gutes Leben ermöglicht. Doch keineswegs jeder sieht die Schönheit der Natur. Diejenigen, die in der Umtriebigkeit des Alltags gefangen sind, sind blind für sie. Verborgen bleibt die Schönheit der Natur auch für denjenigen, der sie nur als Mittel für sportliche Aktivitäten benutzt. Wie Herrigel so betont auch Muir, dass sich die Schönheit der Natur nur dem erschließt, der zu innerer Stille fähig ist, der sich auf eine Form der Erfahrung einlässt, die das menschliche Wesen in seinem Facettenreichtum anspricht. Nur dann gewinnt er die nötige Sammlung, um die Natur zu betrachten, ohne sie experimentell, erkennend oder handelnd zum Objekt zu machen. Nur durch einen Wechsel der erkenntnistheoretischen Einstellung von der Objektivierung zur Partizipation zeigen sich ihm die Seiten der Natur, die die empirische Wahrnehmung überschreiten. Die Vollkommenheit einer Landschaft ist keineswegs statisch. In der Natur vollzieht sich ein ständiges Werden und Vergehen. Berge werden gebildet und durch Erosion wieder abgetragen. Doch genau in diesem Prozess entsteht immer wieder für kurze Zeit eine vollkommene Ordnung, mit neuen Elementen, an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Für viele sind daher nicht nur die Evolution des Lebens, sondern auch die ästhetische Wirkung der Natur Indizien für die Immanenz des Geistes. Betrachtet man, so Muir, die Natur in ihrer Komplexität, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine naturge-

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setzliche Erklärung zu kurz greift. Sogar im Tosen von Wasserfällen, in der unbändigen Gewalt von Schneestürmen und der zerstörenden Wucht von Erdbeben sah Muir eine ordnende, Gestalt verleihende Dynamik. Unmittelbar nach einem schweren Erdbeben in Yosemite-Valley schrieb er: „Storms of every sort, torrents, earthquakes, cataclysms, ‚convulsions of nature,‘ etc., however mysterious and lawless at first sight they may seem, are only harmonious notes in the song of creation, varied expressions of God’s love.“529 ‚Erhaben‘, so formulierte Kant, ‚ist die Natur in derjenigen ihrer Erscheinungen, deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt.‘ Kant denkt an ‚tiefe Schlünde‘ und die ‚tobende See‘, die durch ihre Dimensionen ‚jeden Maßstab der Sinne übertreffen‘. Indem die Erfahrung des Erhabenen die Sicherheit des Weltgefühls erschüttert, wird sie zu einer ‚schmerzlich-schönen Grenzerfahrung‘, durch die der Mensch auf das Unendliche verwiesen wird.530 Eine Erschütterung von völlig anderer Art löst die Schönheit der Natur aus. Für die Verfasser der Psalmen ebenso wie für Plotin, für Franz von Assisi und Bonaventura, für Einstein und Muir ist die sichtbare Natur die Erscheinung einer der menschlichen Vernunft unermesslich überlegenen göttlichen Vernunft. Unter dieser Perspektive erscheint die Natur nicht als kalter, toter Mechanismus; sie flößt Vertrauen ein und ihre Schönheit erweckt, wie Simplikios formuliert hatte, ein Gefühl von Achtung und Demut. Erst durch die Einsicht, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist, gewinnt er, so argumentiert Einstein, seine ihm eigentümliche Würde. Keine Vernichtung, sondern die Befreiung des Individuums aus der Befangenheit in seine kurzsichtigen Wünsche und Sorgen ist die Folge. Im Sinne Spinozas formuliert Naess: „We are participants in the creative process, a part of natura naturans. Since individual beings are the only expression of God in the finite world, love of God cannot manifest itself in any other way than in relation to these individual beings. Living creatures other than human beings can also become more perfect and realize their nature as a part of God’s being.“531 Unter diesen Prämissen ist der Mensch nicht, wie Pascal, Heidegger und Sartre glaubten, in eine sinnleere Natur hineingeworfen. Sie ist nicht das ganz Andere, Fremde, nicht nur tote, physikalisch zu beschreibende Materie, aus der der Mensch mit seinem nach Sinn suchenden Geist übergangslos auftaucht. Er kann das Potenzial zu dem, was ihn als geistiges Wesen möglich gemacht hat, schon in der belebten und unbelebten Natur erkennen und sich als leib-geistige Einheit in ihr beheimatet fühlen. In der kontemplativen Betrachtung der Natur, in der ‚Einsfühlung‘, wie Scheler schrieb, gewinnt er – im Sinne der platonischen Philosophie – Anteil an etwas, das seine Konzepte und Ziele übersteigt und zu dem er doch gehört. Anders als Pascal, der die Natur als mathematischen Funktionszusammenhang betrachtete, fand Muir im Gefolge des ameri-

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kanischen Transzendentalismus von Emerson und Thoreau in ihr innere Ruhe und geistige Klarheit. „Going to the mountains is like going home.“532 Mit Jaspers gesprochen erscheint die Natur als ‚Chiffre der Transzendenz‘, die den Blick auf den Grund des Seins und der schöpferischen Dynamik lenkt. „No Sierra landscape that I have seen holds anything truly dead or dull, or any trace of what in manufactories is called rubbish or waste; everything is perfectly clean and pure and full of divine lessons. When we try to pick out anything by itself, we find it hitched to everything else in the universe. Nature as a poet, an enthusiastic workingman, becomes more and more visible the farther and higher we go; for the mountains are fountains – beginning places, however related to sources beyond mortal ken.“533 Sinn und Wert, die nicht auf menschlichen Setzungen beruhen, überdauern die Endlichkeit des menschlichen Lebens. Eine Naturphilosophie, die die Immanenz des Geistes thematisiert, ist daher nicht nur die Voraussetzung für eine Neubegründung der Ethik, sondern, wie Jonas geschrieben hatte, auch für die Überwindung des modernen Nihilismus. Durch eine derart umfassende Sicht der Natur wird in Ländern wie den USA und Australien auch eine Annäherung zwischen modernen Formen des Naturerlebens und der sakralen Bedeutung, die einzelne Orte für die indigene Bevölkerung haben, möglich. Wie die Aborigines kannten auch die Indianer im Westen der USA heilige Berge. Die stark protestantisch geprägten weißen Siedler sahen jedoch zunächst keinen Sinn darin, bestimmte Orte aus der allgemeinen Erschließung und Nutzung der Natur für ökonomische Interessen auszunehmen. Der Wert der Natur bemaß sich an dem Preis, den man für bestimmte Landstriche, für die Landwirtschaft oder durch Rohstoffe, erzielen konnte. Erst die am Ende des 19. Jh. einsetzende Naturschutzbewegung führte allmählich zu einer Veränderung der Perspektive. Zwar erscheinen modernen Naturliebhabern Berge nicht mehr als Sitz von Göttern; dennoch begegnen sich die unterschiedlichen Kulturen darin, dass bestimmte Landschaftsformationen eine Art sakraler Aura gewinnen, sodass man ihnen mit Respekt und Behutsamkeit, mit Demut und Ehrfurcht vor dem, was Menschen nicht gemacht haben, begegnen muss. „Another vital aspect of the deep ecology attitude is the feeling for a place. In the past, people have had, and many still have, strong positive feelings for the place where they feel that they belong. This is called bioregionalism.“534 Als Ergebnis dieser Untersuchung, in der versucht wurden, philosophische Reflexionen, empirische Beobachtungen und ästhetische Erfahrungen zusammenzuführen, kann man festhalten: Die entscheidende erkenntnistheoretische Voraussetzung für die Überschreitung der naturwissenschaftlichen Perspektive ist, dass die Einstellung der Objektivierung durch die der Partizipation ergänzt wird. Menschen sind in sinnlich-vitaler, emotionaler, geistiger Hinsicht in die Natur einbezogen, in deren schöpferischer Dynamik und Lebendigkeit sich in

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unterschiedlichen Graden Formen von Geistigkeit manifestieren. Mit der Veränderung der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis ändern sich auch die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und der Begriff der Wirklichkeit. Ein weiterer Gedanke hat sich von Platon bis zur modernen Ökologie immer wieder herauskristallisiert: Die Natur besteht nicht aus voneinander unabhängigen Entitäten, die in der Raum-Zeit lokalisierbar sind. Schon um zu überleben müssen Lebewesen sich überschreiten – durch den Stoffwechsel ebenso wie durch qualifizierte Perzeptionen, Empfindungen und Gefühle, um zu lernen und zu kommunizieren. Aufgrund qualifizierter Perzeptionen sind sie durch innere, aufgrund physischer Prozesse und ihr Verhalten durch äußere Relationen mit dem Umfeld verbunden, das seinerseits durch die Korrelation der Aktivität zahlloser Organismen und der Dynamik anorganischer Prozesse gebildet wird. Da die Ordnung der Natur nicht statisch ist, kann man nur ihre Regenerationskraft erhalten, die Fähigkeit, neue Lebensformen und Ordnungszustände zu erzeugen. Im Sinne der antik-mittelalterlichen Terminologie ist die Natur nie nur das Gesamt vorhandener Formen; sie ist nie nur natura naturata, sondern aufgrund ihrer Eigendynamik auch natura naturans. Geht man im Sinne der Evolutionslehre davon aus, dass sich die menschliche Form des Bewusstseins aus Vorformen entwickelt hat, dann haben nicht nur Menschen, sondern alle Organismen ein intrinsisches Ziel. Da die Beziehung zur Andersheit konstitutiv für die Identität eines Organismus ist, lassen sich Eigen- und Funktionswert nicht voneinander trennen. Die Vernichtung anderer Kreaturen tangiert immer auch das eigene Sein. Nicht nur einzelne Organismen und Arten, sondern auch Ökosysteme sind daher ein Gut, das es zu bewahren gilt – unter anthropozentrischer Perspektive, damit es auch in Zukunft noch Menschen auf diesem Planeten geben kann und aufgrund des Eigenwertes der Kreaturen, die auf eine intakte Umwelt angewiesen sind, die sie selbst mit erzeugen. Jenseits ethischer Pflichten werden in der Begegnung mit der Natur die Fähigkeit zu differenzierten Formen der Kommunikation und die Sensibilität für ästhetische Dimensionen erweckt. Dadurch treten Lebensqualitäten in den Blick, die dazu motivieren, einen einseitig an Konsumsteigerung orientierten Lebensstil zu überwinden und die technische Dynamik in einen umgreifenden Werthorizont einzubinden. In Zukunft werden sich Gesellschaften auch daran messen lassen müssen, wieweit es ihnen gelingt, die Natur in ihrer Regenerationsfähigkeit für die Mitgeschöpfe und ‚zum Nutzen und zur Freude der Menschen‘ zu erhalten.

Anmerkungen Teil I: Von der Natur als Organismus zur Weltmaschine 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

Vgl. Huyssteen (2006). Hesiod (19832) 45. – Vgl. Audretsch/Mainzer (1989). Heraklit (1968) 139: Frgm. 67. Genesis 1,1–2, in: Die Bibel (19856). Hildegard von Bingen (1965) 205. Zit. in: Gasparro (1994) 221. 2. Makk. 7,28. Augustinus (19804) XII, 6,6. Augustinus (19804) XII 7,7. Platon (1970–1983): Tim. 48d. Platon (1970–1983): Tim. 28b. Platon (1970–1983): Tim. 49a. Platon (1970–1983): Tim. 50c. Platon (1970–1983): Tim. 49d-e; 52a-b. Plotin (1956–1967): Enn. II, 4,10,31–32. Platon (1970–1983): Tim. 52e. Platon (1970–1983): Tim. 53a. Platon (1970–1983): Tim. 37d. Platon (1970–1983): Tim. 48a. Platon (1970–1983): Tim. 53b; − auch: 29e. Platon (1970–1983): Tim. 53b. Platon (1970–1983): Tim. 32c; − auch: 69c. Platon (1970–1983): Tim. 38b-c. − Vgl. Böhme (1974) 17–158. Aristoteles (1987): Physik 219b. Platon (1970–1983): Tim. 37d-38a. Platon (1970–1983): Tim 38a. Platon (1970–1983): Tim. 30c. Platon (1970–1983): Tim. 30d. Platon (1970–1983): Sophistes 256d-257b. Platon (1970–1983): Phaidon 98c-99a.

254 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68

Anmerkungen

Platon (1970–1983): Tim. 41e. Platon (1970–1983): Kritias 111b-111d. − Vgl. Treptow (2001) 57f. Platon (1970–1983): Kritias, 111d-112e. Platon (1970–1983): Tim. 64a-67c. Platon (1970–1983): Politeia 509b. – Plotin (1956–1967): Enn. V, 3,13,128–14,129. – Zu Plotin vgl. Hadot (19732). Plotin (1956–1967): Enn. III, 8,10,70–72. Bhagavadgita (1980) 85f. Plotin (1956–1967): Enn. V, 3,16,151. Plotin (1956–1967): Enn. III, 8,2,6. Plotin (1956–1967): Enn. III, 8,5,30. Plotin (1956–1967): Enn. III, 8,4,18–20. Plotin (1956–1967): Enn. III, 8,7,47. Plotin (1956–1967): Enn. I, 7,1,1. Plotin (1956–1967): Enn. I, 7,1,1. Plotin (1956–1967): Enn. I, 4,3,21. Plotin (1956–1967): Enn. I, 4,1,1. Plotin (1956–1967): Enn. I, 4,1,2. Plotin (1956–1967): Enn. I, 4,1,6–7. Plotin (1956–1967): Enn. I, 4,2,8. Iamblichos (19852) 115. Genesis 1,29–1,31, in: Die Bibel (19856). Genesis 9,16, in: Die Bibel (19856). Einstein (1981) 90. Schellenberger (2005) 190f. Plotin (1956–1967): Enn. V, 8,2,15–16. Platon (1970–1983): Politeia 518b. Platon (1970–1983): Symposion 206b-212b. − Vgl.: Krüger (19835) 146–283. Platon (1970–1983): Symposion 210b. Platon (1970–1983): Symposion 210c. Plotin (1956–1967): Enn. V, 8,13,88. Plotin (1956–1967): Enn. I, 6,2,11–12. Plotin (1956–1967): Enn. II, 4,10,35. Plotin (1956–1967): Enn. VI, 7,30,234. Plotin (1956–1967): Enn. VI, 9,8,56. Platon (1970–1983): Symposion 210e. Vgl. Flasch (1965). − Male (1986). Simson (1982) 329; − vgl. auch: 291–295; 300–302. Simplikios: In phys. 4,17–5,21, zit. in: Sambursky (1981) 110f.

Anmerkungen

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Hildegard (1965) 173. Hildegard (1965) 151. Hildegard (1965) 202. Hildegard (1965) 171. Vgl. Sudbrack (1995) 81f. Hildegard (1965) 233. Hildegard (1965) 231. – Vgl. zum mittelalterlichen Naturverständnis: Economou (2002). Hildegard (1965) 53. Hildegard (19723) 45. Hildegard (19723) 131. Hildegard (19723) 34. Hildegard (1965) 44f. Hildegard (1965) 201f. Hildegard (1965) 234. Hildegard (1965) 223. Hildegard (1965) 284. Hildegard (1965) 172. Hildegard (1965) 45. Vgl. Cassirer (1990) 116–170; − ders. (1978) Bd. II. – Vgl. Kather (2001). Hildegard (1965) 67. Hildegard (1965) 135. Scheler (19544) 396. Hildegard (1965) 181. Hildegard (1965) 183. Hildegard (1965) 26. Hildegard (1965) 167. Hildegard (1965) 80. Hildegard (1965) 114. Plessner (1982) 50. Hildegard (1965) 90. Hildegard (1965) 100. Hildegard (1965) 174. Hildegard (1965) 152. Hildegard (1965) 236. Hildegard (1965) 236f. Hildegard (1965) 234. – Vgl. zum Thema: Hagencord (2005); Ders.: (2008). Hildegard (19723) 181. Hildegard (1965) 37.

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Anmerkungen

Hildegard (1965) 52. Hildegard (1965) 57. Hildegard (1965) 30. – Vgl. Spaemann (1987) 77–106. Hildegard (1965) 74. Hildegard (1965) 49. Hildegard (19723) 148. Hildegard (1965) 177. Hildegard (1965) 177. Zit in: Jankrift (2003) 22. − Zur Bedeutung der vegetarischen Lebensweise unter gesundheitlicher, tierethischer und ökologischer Perspektive vgl.: Leitzmann/Keller (20102). Schipperges (1987) in: Führkötter (1987) 9. Zit. in: Schipperges (1995) 59. Vgl. Diamond (20053). Sartre (1962) 712. Hildegard (19723) 164. Hildegard (19723) 133. Hildegard (19723) 146f. Hildegard (1965) 65. − Vgl.: Schipperges (1995) 61. Hildegard (1965) 55. Nash (1989) 87–120. Hildegard (1965) 152. Hildegard (1965) 279. Schipperges (1987), zit. in: Führkötter (1987) 7. Schipperges (1987), zit. in: Führkötter (1987) 61. Nik. v. Kues (1982) Bd. II: De Non-Aliud, 459. Nik. v. Kues (1982) Bd. III: De visione Dei, 133. Nik. v. Kues (1982) Bd. III: De Visione Dei, 127. Nik. v. Kues (1982) Bd. III: De Visione Dei, 95. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II.1, 317. Nik. v. Kues (1982) Bd. III: De Visione Dei, 121. Nik. v. Kues (1982) Bd. II: De Non-Aliud, 483. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II.6, 353. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 389. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 395. – Vgl. Kather: (2006)(a). Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 397. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia XI, 391. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 399. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 401. Nik. v. Kues (1982) Bd. II: De conjecturis XI, 31.

Anmerkungen

145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181

257

Nik. v. Kues (1982) Bd. II: De conjecturis X, 35. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 397. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 393. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 405–407. Nik. v. Kues (1982) Bd. I: De docta ignorantia II, 409 Kippenhahn (1987) 322; 326. Nik. v. Kues (1982) Bd. III: Der Laie, 631. Newton (1988) 10. Vgl. Cassirer (1989) 33–80. Platon (1970–1983): Symposion 186a. v.Weizsäcker (19646) 126. Descartes (19657) Prinz.II 23 [52/41]. Newton (1988) Principia 170. Newton (1988) Principia 53. Newton (1988) Principia 53. Newton (1988) Principia 54. Schrödinger (1989) 126. Whitehead (1990) 27. Cassirer: zit. in: Leibniz (19663) Bd. I, 107. Brüntrup (19963) 17f. Descartes (1960) Med. 6 [78/70]. Spinoza: Ethik I, Def.2. Descartes (1960) Med. 2 [26/22]. Leibniz/Clarke (1990): 5. Brief, 18. 8. 1716, 101. Leibniz (19663) Bd. II: Briefwechsel: Leibniz an Arnauld (März 1690) 256. Leibniz (1985–1992) Bd. I: Monadologie § 56, 465. Leibniz (1985–1992) Bd. I: Neues System, 257. Leibniz (1985–1992) Bd. I: Monadologie § 56, 465. Leibniz (1985–1992) Bd. IV: Betrachtungen über die Prinzipien des Lebens, 335. Vgl. Kather (2007) 36–40. Leibniz (1985–1992) Bd. I: Neues System 283. Leibniz (1985–1992) Bd. I: Prinzipien der Natur und Gnade § 13, 433. Leibniz (19663) Bd. I: Über das Kontinuitätsprinzip, 77. Leibniz (1985–1992) Bd. I: Prinzipien der Natur und der Gnade § 4, 419–421. Leibniz (1985–1992) Bd. I: Neues System, 287. Leibniz (1985–1992) Bd. III/2: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Buch III, 6,13, 89–91. Kant (19804) Bd. V: Prolegomena § 38, 189ff.

258

Anmerkungen

182 Kant (19804) Bd. III: KrV B46, 47/ A31, 78. 183 Kant (19804) Bd. IX: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft AX. – Vgl. Cassirer (1973/74) Bd. II, 671. 184 Kant (19804) Bd. X: KdU B293/ A289, 322. 185 Kant (19804) Bd. X: KdU A286, 320. 186 Kant (19804) Bd. X: KdU A292, 324. 187 Kant (19804) Bd. X: KdU A282, 318. 188 Kant (19804) Bd. X: KdU A288, 321f. 189 Kant (19804) Bd. X: KdU A370, 378. 190 Kant (19804) Bd. X: KdU A394, 394. 191 Kant (19804) Bd. VIII: Metaphysik der Sitten A106, 577. 192 Kant (19804) Bd. XII: Anthropologie § 1, BA3, 407. 193 Kant (19804) Bd. VIII: Metaphysik der Sitten A108, 578f. 194 Kant (19804) Bd. X: KdU § 67, A299–300, 329f. 195 Mahnke (1917) 86f. 196 Herder (1960) 3; 56. − Vgl. auch: Kuckenburg (19902). 197 Herder (1989) 67. 198 Herder (1960) 4f. 199 Herder (1960) 11. 200 Herder (1960) 12. 201 Diamond (2006) 141–167. 202 Vgl. zur Schilderung des Spracherwerbs bei H. Keller: Cassirer (1990) 60f. 203 Herder (1960) 24. 204 Herder (1960) XXX. 205 Cassirer (1990) 181. 206 Herder (1960) 164. 207 Herder (1960) 58. 208 A. v. Humboldt (2004): I 85, 40. 209 A. v. Humboldt (2004): II 30, 202. 210 A. v. Humboldt (2004): I 332, 162. 211 A. v. Humboldt (2004): I 294, 146. 212 A. v. Humboldt (2004): I 367f., 179. 213 A. v. Humboldt (2004): I 385, 187. 214 A. v. Humboldt (2004): I 32, 23. 215 A. v. Humboldt (2004): I 384f., 187. 216 A. v. Humboldt (2004): I 85, 40. 217 A. v. Humboldt (2004): I 69, 36. 218 A. v. Humboldt (2004): II 98, 236; − auch: I 4, 9. 219 C. Wolff, zit. in: La Mettrie (1990) XVf. 220 La Mettrie (1990) 119; 121.

Anmerkungen

221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244 245 246 247 248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258 259

259

Frisch (1957) 22–25. Vgl. Foerst (2008). Cassirer (1985) 62. Cassirer (1985) 49. Bacon (1990) 26; 60. Aristoteles: Nikomachische Ethik 1140a. Goethe (198613) Bd. 3: Dramen: Faust, 210. Vgl. Pascal (o. J.): Pensées: Frg. 128, 61. Vgl. Wilson (1995) 99–105; 116–120. Nietzsche (1967–1977): Nachgelassene Schriften 1870–1873, III2, 369. – Vgl. auch: Nietzsche (1979) Bd. III: Zur Genealogie der Moral, 339. Jonas (1994) 371. Zit. in: Schrödinger (1989) 65. Cassirer (19909) 116–118. Whitehead (1982) 16. Vgl. Riedl (1990). Vgl. Wilson (19982). Vgl. Vollmer (1995) 33–58. Mohr (1999) 7–13. Mohr (1999) 89. Plessner (19753) 6. Drieschner (1997) 349. Vgl. zum Entwurf einer modernen Naturphilosophie: Grange (1997). Cassirer (1990) 124. Whitehead (19842) 22. Whitehead (1990) 25. Whitehead (1934) 16; − auch: (1938) 154; (1982) 45f. Munitz (1967) 243. Whitehead (1990) 25. Whitehead (19842) 33. Whitehead (1971) 302. Whitehead (1984) 74. Whitehead (1984) 74. Whitehead (19842) 21. Cassirer (19948) 79. Whitehead (1971) 283f. Whitehead (1984) 224f. Whitehead (1982) 13. Whitehead (19842) 175. Scheler (198310) 32.

260 260 261 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 295 296 297 298 299

Anmerkungen

Jonas (1992) 17. Whitehead (1982) 26. Whitehead (1982) 8f. Whitehead (1982) 9. Whitehead (19842) 203. Whitehead (19842) 175. Whitehead (19842) 203. Whitehead (19842) 62. Whitehead (19842) 62f. Whitehead (19842) 280; − auch: (1984) 185f. Whitehead (1984) 126. Whitehead (1984) 125. Whitehead (19842) 76. Whitehead (19842) 58. Sachsse (19872) 130. Whitehead (19842) 59; − auch: (19842) 423f.; 436. Whitehead (19842) 221. Whitehead (19842) 94. Whitehead (1984) 90. Whitehead (1971) 413. Whitehead (1934) 35f. Whitehead (1984) 133. Whitehead (19842) 175. Whitehead (19842) 65. Cassirer (1990) 83f. Whitehead (1984) 148. Whitehead (1984) 129. Whitehead (1968) 21. Whitehead (1968) 22. Whitehead (19842) 101. Whitehead (1968) 165. Whitehead (1984) 98. Whitehead (19842) 416. Whitehead (1982) 30. Whitehead (19842) 121. Whitehead (1968) 27. Whitehead (1934) 72. Whitehead (19842) 109. Whitehead (19842) 523. Whitehead (1984) 90.

Anmerkungen

300 301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314 315 316 317

Whitehead (1934) 60f. Whitehead (1982) 19. Whitehead (1982) 31. Whitehead (19842) 607. Whitehead (1982) 20. Whitehead (1982) 19. Whitehead (1934) 18. Whitehead (1934) 24. Whitehead (1968) 110. Whitehead (1968) 110. Whitehead (1984) 239. Whitehead (1968) 111. – Vgl. Rolston III (1999). Nash (1989) 107. Whitehead (1968) 61. – Vgl. zu einer detaillierten Analyse: Henning (2005). Whitehead (1968) 60. Whitehead (1984) 107. Whitehead (1968) 119f. Whitehead (19842) 612f. – Vgl. Faber (2004).

Teil II: Die Wiederentdeckung der Eigendynamik Natur 318 319 320 321 322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334

Hösle (1991) insb. 43–95. Garvey (2010). Jonas (1987) 68. Cassirer (1985) 39–91. Diamond (20053) 153. Kotrschal (2009) 64. Nash (20014) XIf. Reichholf (2008) 22. Ricoeur (20052), insb. 39–139. Brüntrup (19963) 15. Ricoeur (20052) 72. Whitehead (1934) 56. Rawls (19905) 94. Rawls (2002) 359. Rawls (19905) 547f. Rawls (2002) 376. Carson (2007).

261

262 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366 367 368 369 370 371 372

Anmerkungen

Diefenbacher (2001). Rawls (19905) 19ff.; 105ff.; 283ff., 378ff. Scholtes (2007). Yunus (2008). Einige deutschsprachige Beiträge: Meadows (1992); Weizsäcker (1997); Radermacher (2002). Thomas (1980) 1. Reichholf (2008) 103. Huxley (1964) 23. Reichholf (2008) 195. Darwin/Huxley (1983) 54. Scheler (198310) 11f. Jonas (1992) 17. Schrödinger (1989) 96. Weizsäcker (1987) 228. Jonas (1992) 17. Scheler (19544) 106. Jonas (1992) 23. Henschel (1996) 32. Wild (2008) 60. Waal (2009) 250. Meyer-Abich (1997) 41. Bauer (20054); − vgl. Kather (2008)(a). – Waal (2009) 244. Bohnet (2009) 32f. Kotrschal (2009) 61f.; − vgl. Diamond (1993) 141–167. Pepperberg (2008). Meyer-Abich (1997) 56. Mann (20083) 53–56; − auch: 11f.; 47f. Vgl. Cassirer (19948) 220; − Ders.: (19909) 108–121. Smith/Szathmáry (1996) 1. Uexküll (1953) 187f. − Vgl. auch: Vollmer (1995) 26f. Aschoff (1989) 139. Jonas (1992) 21. Uexküll (1953) 214. Whitehead (1934) 93. Plotin (1956–1967): Enn. I, 4,1,6–7. – Vgl. Koechlin (2005); Dies. (2009); − Stöcklin (2007). Jonas (1992) 26. Whitehead (19842) 203. Jonas (1992) 21.

Anmerkungen

373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401 402 403 404 405 406 407 408 409 410 411

263

Whitehead (1968) 9. Jonas (1992) 22. Vgl. Spitzer (2009) 141–156; − Ders. (20096) 51–92. Falkner/Falkner/Priewasser (2006); Falkner/Falkner/Plaetzer/Thomas (2005). Jonas (1992) 20. Portmann (1967) 149–156. Barbour (2010) 109f. Mithen (2010). Vaupel (2010). – Müller (2010); Bauer (20054). Scheler (198310) 18f. Jonas (1992) 33. Hassenstein (1988) 124–131. Wild (2008) 161. Bohnet (2009) 38. Whitehead (19842) 314. Jonas (1992) 32. Wild (2008) 79. Wild (2008) 80. Wilson (1995) 420. Tattersall (2000) 47. Cassirer (1990) 60. Arendt (19816) 165f. Waal (2009) 304. Jonas (1994) 161. Koltermann (1994) 236. Portmann (2000) 260f. Portmann (2000) 19. – Vgl. auch: Goodall (19992). – Waal/Lanting (1998). Hölderlin (1982): Hyperion, Bd. II.1, 673. Schrödinger (1989) 9–54. Teilhard de Chardin (1961). Whitehead (1982) 6–9. Scheler (198310) 42–49. Huxley (1964) 40f. Jonas (1992) 27. – Vgl. auch: Reichholf (2008) 81. – Wilson (1995) 120. Reichholf (2008) 79f. Whitehead (1984) 240. – Vgl. auch: Wilson (1995) 120. Reichholf (2008) 84. Reichholf (2008) 88f. Wilson (1989) 93.

264 412 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433 434 435 436 437 438 439 440 441 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451

Anmerkungen

Diamond (2006) 359f. Reichholf (2998) 23. Whitehead (1968) 21f. Merleau-Ponty (2003) 42. Ferré (2003). Cassirer (1985) 82. Kather (2008)(b). Keesing (2010). – Vgl. auch: Klimentidis (2010). Streit (2010) 656. Scheler (1985) 114. Goethe (19829) Bd. 14: Fragment über die Natur, 45–47. Mohr (1999) 108f. S. J. Gould, zit. in: Waal (2009) 233. Waal (2009) 15. Waal (2009) 199. Waal (2009) 315. Waal (2009) 50. Waal (2009) 288. Waal (2008) 283. Waal (2009) 255. Kotrschal (2009) 105f. Vgl. Bercovitch (20008). Mowat (2001). Goodall (1999). Fossey (2000). Bühler (1931). – Auch: Olbrich (2009) 114. Buber (1979) 10. – Vgl. Bernhart (1987) 99. Olbrich (2009) 118f. Scheler (19544) 383. – Vgl. auch: Meier-Seethaler (20013). Scheler (1985) 112; 114. Böttger (2009) 80f. Wilson, zit. in: Burton (2002) 287. Prothmann (2009) 190; 196. Jonas (19823) 28f. Spaemann (2010) 32f. Reichholf (2008) 14. Spaemann (2001) 142. Reichholf (2008) 210. Jonas (19823) 37. Jonas (19823) 38.

Anmerkungen

452 453 454 455 456 457 458 459 460

461 462 463 464 465 466 467 468 469 470 471 472 473 474 475 476 477 478 479 480 481 482 483 484 485

265

Diamond (20053) 594. Maslow (1985) 37ff. – Vgl. auch: Reichholf (2008) 16f. Cassirer (1985) 88f. Enquête-Kommission ‚Schutz des Menschen und der Umwelt‘ (1994). – Vgl. Kümmerer (1995). Jaspers (19734) 191–195. Vgl. Foer (20103). Kant (19804) Bd. VIII: Metaphysik der Sitten, A108, 578f. Schrödinger (1984) 331. Schopenhauer: Über die Grundlagen der Moral. Bestätigungen des dargelegten Fundaments der Moral, Ziffer 7, in: Ders.: (Leipzig, o. J.) Bd. 3: 634; 637. Singer (19942) 146–176. Darwin (1993) 46f. Darwin (1993) 41f.; − auch: 44; 47. Darwin (1993) 42. Auf diese Seite weist zu Recht Wuketits (1999) hin. Waal (2009) 292f. Darwin (1993) 42. Schweitzer (1995) 138. Schweitzer (19916) 159. Schweitzer (1995) 140. Rilke, zit. in: Teutsch (1987) 163. Barth (1959) 165. Ricken (1987) 8. Rosenberger (2009) 378. − Vgl. auch: Meyer-Abich (1997) 43. Bohnet (2009) 35. Vgl. Goetschel (2009); − Ders.: (2002). − Auch: Balzer/Rippe/Schaber (19992). – Baranzke (2002). Zit. in: Nash (1989) 128. W. O. Douglas, zit. in: Nash (1989) 131. Nash (1989) 129. Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) (2008) 3. Eidgenössische Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) (2008) 5. Jonas (1992) 17. Jonas (19823) 29. Scheler (1985) 114. Naess (2002) 113f.

266 486 487 488 489 490 491 492 493 494 495 496 497 498 499 500 501 502 503 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514 515 516 517 518 519 520 521 522 523 524

Anmerkungen

Naess (2002) 115. Scheler (198310) 15. Wolf (2009) 352. Leopold (1992) 151. – Vgl. Grober (2002). Meyer-Abich (1997) 67. Jonas (19823) 161. Jonas (1994) 403. Meyer-Abich (1997) 42. Jonas (1987) 46f. Jonas (1987) 68. − Vgl. Michaels (2004). Nash (20014) 382; 387. Anderson (1997). – Zum deutschen Kontext vgl. exemplarisch: Richter (2009). Adams (1994). Vgl. Fox (1981). Vgl. Duncan/Burns 2009. Vgl. zum deutschen Kontext: Reichholf (2007). – Hofrichter (2005). Scott (2004) 142f. – Vgl. auch: WWF Deutschland (1995). Vgl. Scott (2004) 127. Nash (20014) 5. Nash (20014) 5. Bauer/Hunziker (2004). Leopold, zit. in: Scott (2004) 12. – Vgl. zu Leopold: Meine (1988). Leopold, zit. in: Decker (2000). H. Zahinser, zit. in: Scott (2004) 23. H. Weinzierl, zit. in: Decker (2000). Vgl. Abbey (1968) 162f. – Vgl. auch: Abram (1996). Zit. in: Nash (20014) 4. Hofrichter (2005) 89. Abbey (1968) 211. − Vgl. auch: Schweikle (2007). Naess (2002) 111. Scott (2004) 126. Vgl. Böhme (1989). Merleau-Ponty, zit. in: Danzer (2003) 128. – Kather (2007) 124–181. Merleau-Ponty, zit. in: Danzer (2003) 126. Merleau-Ponty, zit. in: Danzer (2003) 163. Herrigel (19894) 55. Herrigel (19894) 58. Herrigel (19894) 62. – Vgl. auch: E. Herrigel (197919) 55; 58. Herrigel (19894) 68.

Anmerkungen

525 526 527 528 529 530 531 532

267

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