Ästhetik im Zeichen des Menschen: Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst 9783787318575, 9783787320721

Die Bedeutung der Ästhetik für die Symbolphilosophie Ernst Cassirers ist kaum zu überschätzen. Indem Cassirer den Ort de

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German Pages 344 [338] Year 2007

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Ästhetik im Zeichen des Menschen: Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst
 9783787318575, 9783787320721

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M A R ION LAUSCH K E

Ästhetik im Zeichen des Menschen Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers und die symbolische Form der Kunst

Sonderheft 10 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Bislang erschienen im Felix Meiner Verlag folgende Sonderhefte der »ZÄK«: 1 2 3 4 5 6 7 8 9

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Ursula Franke (Hg.): Kants Schlüssel zur Kritik des Geschmacks ( Jg. 2000) Rudolf Behrens (Hg.): Ordnungen des Imaginären ( Jg. 2002) Ursula Franke / Josef Früchtl (Hg.): Kunst und Demokratie ( Jg. 2003) Gert Mattenklott (Hg.): Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste ( Jg. 2004) · Ursula Franke / A. Gethmann-Siefert (Hg.): Kulturpolitik und Kunstgeschichte ( Jg. 2005) · Georg Braungart / Bernhard Greiner (Hg.): Schillers Natur ( Jg. 2005) · Wolfgang Krohn (Hg.): Ästhetik in der Wissenschaft · J. Früchtl / M. Moog-Grünewald (Hg.): Ästhetik in metaphysikkritischen Zeiten · G. Gamm / A. Nordmann / E. Schürmann (Hg.): Philosophie im Spiegel der Literatur

Bibliografi sche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.d-nb.de › abruf bar.

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 10 · ISBN 978-3-7873-1857-5 · ISSN 1439-5886 Felix Meiner Verlag 2007. Alle Rechte vorbehalten. Dies betriff t auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfa hren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Plat ten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

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INH A LT Vorbemerkung ...............................................................................................

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Einleitung ................................................................................................

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TEIL I: Die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie Ernst Cassirers Kapitel 1: Zur Entwicklung der »Grammatik der symbolischen Formen«. Cassirers Rezeption von Leibnizens Methodenlehre und Monadologie ... a) Einleitung ...................................................................................... b) Die Begriffe der symbolischen und der intuitiven Vorstellung bei Leibniz und ihre Rezeption durch Cassirer .............................. c) Die Funktion von Symbolen für das Denken und die scientia generalis ................................................................................ d) Das Symbol in der Leibnizschen Ästhetik und seine Bedeutung für die Entwicklung einer »Grammatik der symbolischen Formen« e) Leibnizens Ästhetik in der Diskussion ............................................ f ) Uratome und Gegenstände höherer Ordnung: Eine gestaltpsychologische Bestätigung des monadologischen Formbegriff s ............... Kapitel 2: Auf der Suche nach der ästhetischen Form. Cassirers ästhetische Reflexionen in Freiheit und Form ............................ a) Einleitung ...................................................................................... b) Der offene Begriff der Form ............................................................ c) Cassirers Baumgartenrezeption ....................................................... d) Der Begriff des Stils als »forma formans« und »forma formata« ....... e) Der Begriff der Anschauung ........................................................... f ) Goethes poetischer Bildungstrieb und die Symbolisierung der Urpfl anze ................................................................................. g) Gefühl und Anschauung in Goethes Dichtung ............................... h) Schillers »lebendige Gestalt«: der Prototyp der symbolischen Form Kapitel 3: Die Bedeutung der ästhetischen Urteilskraft Kants für die Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen – Kants Leben und Lehre ............................................................................. a) Einleitung ...................................................................................... b) Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie: Ästhetik als Paradigma ...................................................................

25 25 27 35 37 44 50 56 56 59 64 70 76 82 88 92

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VI

inhalt

c) Von der »wahrhaften Einheit« der Erkenntnis zur Einheit der ästhetischen Gestalt ........................................................................ d) Cassirers Interpretation der ästhetischen Urteilskraft Kants ............ Kapitel 4: Die »ästhetische Seite« der Ideen. Cassirers Aufsätze zu Idee und Gestalt ..................................................................................... a) Einleitung ...................................................................................... b) Rettung der Sinnlichkeit durch einen polyglotten Geistbegriff ...... c) Kulturphilosophie in nuce ............................................................. d) Goethes Welt des Auges ................................................................. e) »Confl icte der Denkkraft mit dem Anschauen« bei Schiller, Hölderlin und Kleist ......................................................................

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TEIL II: Zur Kunstphilosophie Ernst Cassirers Kapitel 1: Die Philosophie der symbolischen Formen .......................... a) Einleitung ...................................................................................... b) Erscheinungen prägnant wahrnehmen, um sie als Erfahrungen lesen zu können ............................................................................. c) Begriff und Funktion der symbolischen Form ................................ d) »Ur-teilungen« und Modalitäten der Synthesis von Raum, Zeit und Zahl ................................................................................ e) Positionalitäten: Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung ........ f ) Zum Verhältnis von Präsenz und Repräsentation in der Philosophie der symbolischen Formen ...........................................

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Kapitel 2: Kunst als symbolische Form? ............................................... a) Einleitung ..................................................................................... b) Die Einheit symbolischer Formen als Handlungszusammenhang ... c) Der Begriff der ästhetischen Erfahrung im Essay on Man ............... d) Das Schöne als symbolische Form? ................................................ e) Das Integral der Kunst: Werk, Stil, Gattung oder Kunst als symbolische Form? ........................................................................ f ) Das Kunstwerk als Ort der Vermittlung von Gefühl und Struktur g) »Ur-teilung« und Funktionen der Kunst ........................................ h) Die intuitive Symbolik der Kunst .................................................. i) Gestaltung von Raum, Zeit und Zahl durch Kunst ....................... k) Der Begriff des Werks ................................................................... l) Kunst als selbstreflexive Darstellung von Ausdruck ....................... m) Kunst zwischen Präsenz und Repräsentation .................................

182 182 191 196 201 207 218 223 239 251 282 291 299

Resümee: Ästhetik im Zeichen des Menschen ............................................... Literaturverzeichnis .......................................................................................

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VOR BEM ER KU NG Die Rückbesinnung auf das Werk Ernst Cassirers setzte in Deutschland spät – in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts – ein, verstärkte sich im Rahmen der ausgeprägten medien- und kulturwissenschaftlichen Orientierung der geisteswissenschaftlichen Forschung und konzentrierte sich auf das Hauptwerk, die Philosophie der symbolischen Formen. Während die allgemeine Theorie symbolischer Formung sowie Sprache und Wissenschaft, aber auch Mythos als spezielle symbolische Formen inzwischen gut erforscht sind, gehören die Ästhetik und Kunstphilosophie Cassirers trotz vereinzelter Hinweise auf die für die Symbolphilosophie paradigmatische Bedeutung der Kunst zu den vernachlässigten Problemkomplexen der Cassirerforschung. Diese Lücke versucht die Studie Ästhetik im Zeichen des Menschen zu schließen, indem sie zum einen die ästhetische Vorgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen rekonstruiert und zum anderen die im Gesamtwerk Cassirers verstreuten kunstphilosophischen Ansätze systematisiert, an den für symbolische Formen entwickelten Kriterien überprüft und im Kontext gegenwärtiger ästhetischer und kunstphilosophischer Ansätze diskutiert. Es wird gezeigt, daß die Bedeutung der Ästhetik im weitesten und durch Baumgarten geprägten Sinne des Begriff s für die Symbolphilosophie Cassirers kaum zu überschätzen ist; und es wird gezeigt, daß sich die Kunst trotz zahlreicher, im polymorphen ästhetischen Phänomen begründeter Probleme, die im Verlauf der Arbeit thematisiert werden, nicht nur in das Konzept der Philosophie der symbolischen Formen integrieren läßt, sondern daß der anthropologisch fundierte kunstphilosophische Ansatz Cassirers das Potential hat, der etwas aus der Mode geratenen Frage »Was ist Kunst?« neue Impulse zu geben. Für Ernst Cassirer lassen sich Kunstphilosophie und Ästhetik nicht trennen, und so bauen der erste, stärker werkgenetisch sowie wahrnehmungstheoretisch orientierte Teil und der zweite, symbol- und kunstphilosophisch perspektivierte Teil aufeinander auf. Dennoch können beide Teile auch unabhängig voneinander gelesen werden, denn auf diejenigen Passagen des ersten Teils, die für das Verständnis des zweiten unverzichtbar sind, wird durch Rückverweise Bezug genommen. Zur Orientierung im Vorfeld und zur Verstärkung des roten Fadens sind jedem Teil und jedem Kapitel Einleitungen vorangestellt, in denen die behandelten Themen und Fragestellungen komprimiert dargestellt werden. Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2007 von der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen worden.

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vorbemerkung

Mein herzlicher Dank gilt Christian Bermes für seine Unterstützung und die stetige Mahnung, Ordnung im Ideenzoo zu halten, Klaus Briegleb für seine Geduld und die Bereitschaft, sich einer Dissertation anzunehmen, deren literaturwissenschaftlicher Ursprung nicht ganz so offensichtlich ist – und doch in der Frage nach der »literarischen Referenz« liegt, um deren Beantwortung wir in den Celan-Seminaren in Hamburg gerungen haben, John Michael Krois und Oswald Schwemmer für ihre spontane und großzügige Bereitschaft, die Betreuung und Begutachtung zu übernehmen, Katharina Salomon-Meiner und Manfred Meiner für ihre einzigartige Gastfreundschaft, durch die die Zeit der Schlußredaktion zum Erholungsurlaub wurde, Josef Früchtl und Maria Moog-Grünewald für ihre Bereitschaft, die Arbeit unter die Sonderhefte der »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft« aufzunehmen, und Jens-Sören Mann für einen wie immer perfekten Einsatz im Namen der »symbolischen Form« der Buchkunst.

EIN LEITU NG Gegenstand der Arbeit »Solltest Du vielleicht aus allgemein menschlichem Interesse zu erfahren wünschen, was ich eigentlich hier treibe, so vernimm mit Andacht, daß ich augenblicklich mit einer größeren Arbeit beschäftigt bin über die Lustspieltechnik Gellerts […], vorher hatte ich die angenehme Aufgabe eine Analyse von 38 deutschen Ritterdramen des 18ten Jahrhunderts durchzulesen und darüber zu referieren.«1 Von der Sinnhaftigkeit seines Tuns scheint der 19jährige Ernst Cassirer, der in seinem dritten Studiensemester bereits einmal die Fakultät, zweimal den Studienort gewechselt hat, nicht ganz überzeugt zu sein. Mit leisem Spott berichtet er seinem Cousin Bruno Cassirer im Juli 1893 aus Heidelberg über seine Seminararbeiten. Cassirer begann sein Studium im Sommersemester 1892 auf Wunsch seines Vaters an der juristischen Fakultät der Berliner Universität 2 und ging bereits im Wintersemester 1892/93 nach Leipzig, wo er hauptsächlich Lehrveranstaltungen in Germanistik besuchte. Im Sommersemester 1893 wechselte er nach Heidelberg und setzte dort seine germanistischen Studien fort. Auch in Heidelberg blieb Cassirer nur ein Semester. Erneut wechselte er den Studienort und kehrte zurück nach Berlin, wo er für drei Semester an der philosophischen Fakultät eingeschrieben war. Auch während dieser Zeit besuchte er hauptsächlich Lehrveranstaltungen zur Germanistik,3 bis er 1896, angeregt durch eine Kant-Vorlesung Georg Simmels, zu Hermann Cohen nach Marburg ging und sich der Philosophie verschrieb. Literaturwissenschaft im engeren – und zu seinen Studentenzeiten sehr engen Sinne – hat Cassirer nicht mehr betrieben, freilich ohne seine Leidenschaft für Kunst und Literatur zu verlieren. Erst 1940 hält Cassirer im schwedischen Exil eine Vorlesung über einen seiner liebsten Gegenstände: über Goethe. »Einmal einen Zyklus von Goethe-Vorträgen halten zu dürfen –«, berichtet er in der ersten Ernst Cassirer in einem Brief an seinen Cousin Bruno Cassirer vom 10. Juli 1893. Der Brief befi ndet sich in der Beinecke Bibliothek der Yale University und wird hier zitiert nach Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von K. Ch. Köhnke, J. M. Krois und O. Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (im folgenden zitiert als ECN + Bandnummer, zur Übersicht über die bislang erschienenen Bände siehe das Literaturverzeichnis), Band 11, Goethe-Vorlesungen (1940–1941), hg. von J. M. Krois, Hamburg 2003, S. 390. 2 Vgl. D. Gawronsky, »Ernst Cassirer: His Life and His Work«, in: P. A. Schilpp (Hg.), The Philosophy of Ernst Cassirer, (Library of Living Philosophers 6), Evanston 1949, S. 4. 3 Vgl. ECN 11, S. S. 391. Krois weist anhand der Studienbücher Cassirers nach, welche Seminare er besucht hat. 1

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einleitung

Sitzung seiner Vorlesung »Der junge Goethe« am 2.10.1940, »das gehörte immer zu meinen akademischen Lieblingsplänen. Aber dieser Plan kam nie zur Ausführung. Seit fast 50 Jahren habe ich nun wieder und wieder Goethe gelesen; ich habe vieles über ihn gelesen; ich habe Manches über ihn geschrieben und veröffentlicht; bei verschiedenen Gelegenheiten, u. a. auch hier in G[öteborg] Goethe-Vorträge gehalten – aber ein eigentliches Goethe-Kolleg habe ich nie gehalten. Dem standen feste akademische Gebräuche entgegen, die ich nicht durchbrechen wollte – ich war an mein Fachgebiet, an die Philosophie gebunden und durfte mich nicht in ein fremdes Gebiet begeben. Jetzt erst, nachdem meine akademische Tätigkeit zum Abschluss gelangt ist, darf ich einen solchen Übergriff wagen, ohne daß man ihn als einen Verstoß gegen akademische Sitte empfi nden wird.«4 Respektvoll, aber nicht unkritisch äußert er sich über die philologische Forschung, der er, wenngleich er in ihr nicht heimisch geworden ist, sein Hochzeitsgeschenk verdankte – die Weimarer Goetheausgabe: »Die Wissenschaft, die sich Goethe-Philologie nennt […] habe ich in meiner eigenen Studienzeit noch gründlich kennen gelernt. Denn zu dieser Zeit beherrschte sie noch die gesamte Litterarhistorische Forschung und den gesamten Unterricht der Litteraturgesch[ichte] an den deutschen Universitäten. Es galt fast als ein Dogma, daß Keiner berufen sei, wissenschaftlich über Goethe zu sprechen, der sich nicht alle Ergebnisse der Goethe-Philologie vollständig angeeignet hätte und der nicht über alle ihre Methoden verfügte. Seither ist dies gründlich anders geworden: die Goethe[-]Philologie hat ihren alten Glanz und Ruhm verloren; ja es war eine Zeit lang üblich, über sie zu spotten und auf all das, was sie erarbeitet hatte, mit Geringschätzung herabzusehen. Wenn ich mir in dieser Frage ein Urteil erlauben darf, so scheint mir, daß weder zu der früheren kritiklosen Bewunderung der Goethe[-]Philologie, noch zu dieser Geringschätzung ein Grund besteht. Gewiss hat die Goethe-Philologie durch den Übereifer, mit dem sie sich in jedes noch so belanglose Detail von Goethes Leben vertiefte und durch die Art, wie sie jedes Motiv seiner Dichtung auf eine fremde Quelle zurückzuführen suchte, oft zum Spott herausgefordert. Aber sie hat auch eine grosse wissenschaftliche Leistung vollbracht, die man ihr nicht vergessen darf. Sie allein war im Stande, den Schatz zu heben, der über 50 Jahre nach Goethes Tode noch im Goethehaus in Weimar verschlossen ruhte.« 5 Im Laufe der Göteborger Vorlesung wird er sich konkreter über die Methoden äußern, die ihn seinem zuerst gewählten Studienfach entfremdet haben: »Man forderte von G[oethes] Dichtung nicht nur eine unmittelbare Nähe zur Wirklichkeit, sondern auch eine sozusagen photographische Treue. Nichts in ihr, oder so wenig als möglich, sollte Produktion, alles sollte Reproduktion sein. Aber selbst wenn diese methodische Maxime sich in der Weise durchführen liesse, wie es die ältere Goethe-Philologie und ihre geistigen Führer versucht haben – Vieles von 4 5

»Der junge Goethe«, in: ECN 11, S. 5. Ebd., S. 6 f.

Gegenstand der Arbeit

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den Entdeckungen, die damals gemacht wurden und die eine Zeit lang als ›der Weisheit letzter Schluss‹ erschienen, ist heute vergessen – auch in diesem Falle wäre für das tiefere Verständnis von G[oethe]’s Dichtung nur wenig gewonnen. Denn das blosse ›Was‹, der Inhalt des Erlebnisses als solcher, macht nie seinen poetischen Gehalt aus. Diesen Gehalt, seinen künstlerischen Wert erhält dies alles erst durch die Umbildung, durch die Form, die es in der dichterischen Phantasie gewinnt. […] Die litterarhistorische Motiv-Forschung hat sich, meiner Meinung nach, oft viel zu sehr um das ›Was‹ des einzelnen Kunstwerks, um den Stoff und die Herkunft des Stoffes, bemüht – und dabei das Wie, seine innere Form, auf der doch allein die aesthetische, die künstlerische Wirkung beruht, bisweilen fast ganz aus dem Auge verloren[.]« 6 Die wissenschaftlichen Methoden der Goethe-Philologie, die in seiner »ersten Studienzeit […] ihren Höhepunkt erreicht«7 hatte, bezeichnet er in für den konzilianten Cassirer ungewöhnlich scharfen Worten als »Modell- und Motivjägerei« 8. Mit ihnen konnte er offenkundig keine Antworten auf die Fragen fi nden, die ihn bewegten. Bereits seine ersten Seminararbeiten lassen in nuce erkennen, wohin die Reise gehen sollte: »Die Untersuchung der Technik eines Dichters«, schreibt er im Referat »Über Gellerts Lustspieltechnik« aus dem Sommer 1893, von dem er seinem Cousin berichtet hat, »muß ausgehn von der Untersuchung seines künstlerischen Wesens überhaupt. Erst wenn man erkannt hat, wie der Dichter sieht, kann man untersuchen, wie er das Geseh[e]ne darstellt, erst wenn man über die Natur des Darstellenden klar ist, kann man über seine Art der Darstellung urteilen.« 9 Wie sieht der Dichter? Als Antwort auf diese Frage, die, verstanden als diejenige nach einer »Weltanschauung«, in »ein gefährliches und schlüpfriges Gebiet«10 führt, wahrnehmungstheoretisch betrachtet und »kopernikanisch gewendet« jedoch zur Philosophie überleitet, hat Cassirer – so meine These – seine Symbolphilosophie entwickelt. Noch in seinen späten Arbeiten zur »Logik der Kulturwissenschaften« klingt ein Echo dieser ursprünglichen Fragestellung nach: »Wir forschen«, schreibt Cassirer, »nach der Art und Richtung des Vorstellens, des Fühlens, der Phantasie und des Glaubens, auf denen die Kunst, der Mythos, die Religion beruhen.«11

»Der junge Goethe II«, in: ECN 11, S. 135 ff. »Goethes geistige Leistung«, in: ECN 11, S. 236. 8 »Der junge Goethe II«, in: ECN 11, S. 132 f. 9 »Über Gellerts Lustspieltechnik«, in: ECN 11, S. 358. 10 S. Mayer, »Cassirers Analyse von Schillers philosophischer Weltansicht«, in: E. Rudolph/ B.-O. Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, (Cassirer-Forschungen 1), Hamburg 1995, S. 283. Mayer zitiert aus dem bislang unveröffentlichten Manuskript einer Schiller-Vorlesung Cassirers aus dem Wintersemester 1920/21 in Hamburg. 11 »Formproblem und Kausalproblem«, in: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien (Göteborg 1942), Nachdruck Darmstadt 1994 (6. Aufl age), im folgenden zitiert als LK, S. 98. 6 7

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einleitung

Durch die Veröffentlichung der studentischen Referate sowie der Goethe-Vorlesungen im Band 11 der Nachlaßausgabe wurde eine Keimzelle der Cassirerschen Symbolphilosophie sichtbar. Ich greife das durch Heinz Bluhm kolportierte Bekenntnis auf, Cassirer sei aus Not zur Philosophie gekommen,12 und spanne einen Faden von den literaturwissenschaftlichen Anfängen des jungen Cassirer bis zur Ausarbeitung der Philosophie der symbolischen Formen. In werkgenetischer Perspektive versuche ich zu zeigen, wie Cassirer auf dem Weg über Studien unter anderem zu Leibniz, Goethe und Kant zu der Auffassung verschiedener Kulturgebiete als »Weltsichten« gelangt. Die ästhetische Prägung des Cassirerschen Formverständnisses wird auf diese Weise sichtbar: Die Kunst (insbesondere die Literatur) war es, die die Weiterentwicklung der Erkenntnistheorie, der das erste, vierbändige Hauptwerk zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit gewidmet ist, zur Kulturphilosophie motiviert hat. Der erste Teil der Arbeit erzählt somit die ästhetische Vorgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen.13 1923-1929 hat Ernst Cassirer die dreibändige Philosophie der symbolischen Formen veröffentlicht, die jeweils in einem Band die symbolische Form der Sprache und des Mythos darstellt und in einem dritten diejenige der Wissenschaft erläutert sowie die Fundamente des gesamten Projekts sichert. Obwohl Cassirer von Beginn an von vier symbolischen Formen spricht: der Sprache, dem Mythos, der Wissenschaft und der Kunst (später kommen weitere hinzu), hat er keinen Band zur Kunst als symbolischer Form verfaßt. In einem Brief vom 13. Mai 1942 an Paul Arthur Schilpp schreibt er: »Schon im ersten Entwurf der Phil. d. s. F. war ein besonderer Band über Kunst vorgesehen – die Ungunst der Zeiten hat aber seine Ausarbeitung immer wieder hinausgeschoben«14. Im zweiten Teil der Arbeit wird daher ver-

J. M. Krois verweist in den editorischen Hinweisen zu ECN 11, S. 391, auf Heinz Bluhm, ein Mitglied des German Department der Yale University, an der Cassirer eine dreijährige Gastprofessur hatte. Bluhm veröffentlicht kurz nach Cassirers Tod seine Gedenkworte unter dem Titel »Ernst Cassirer und die deutsche Philologie«. Er schreibt: »skeptisch über Erich Schmidts deutsche Philologie wie Nietzsche einst über Friedrich Wilhelm Ritschls klassische Philologie wandte sich der junge Cassirer zur Philosophie, ohne doch der Philologie, seiner ersten Liebe, wesentlich untreu zu werden. […] Ganz abgesehen davon, daß die führenden Germanisten dem Goethezeitalter in seinen zum tieferen Verständnis unerläßlichen philosophischen Grundlagen ziemlich fremd gegenüberstanden, verwandten sie im großen und ganzen ihre Energie zu häufi g auf nebensächliche, bestenfalls anzillarische Dinge, die sie zu oft in einer Art behandelten, als ob sie Eigenwert besäßen […]« Siehe Heinz Bluhm, »Ernst Cassirer und die deutsche Philologie«, in: Monatshefte für Deutschen Unterricht. A Journal devoted to the Interests of the Teachers of German in the Schools and Colleges of America 37, Nr. 7, (November, 1945), S. 466–474. Zitate auf S. 468 und 472. 13 Naturgemäß kommen unter dieser Perspektive nicht alle historischen Abhängigkeiten des letzten Universalgelehrten des 20. Jahrhunderts zur Sprache: Es lassen sich, darauf ist in der Forschung bereits hingewiesen worden, auch sprachphilosophische oder relativitätstheoretische Vorgeschichten schreiben. 14 Der Brief ist archiviert in »The special collections section of Southern Illinois University 12

Zur textgrundlage

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sucht, die Möglichkeit einer von Cassirer zwar geplanten, aber nicht geschriebenen ›Philosophie der Kunst als symbolischer Form‹ auszuloten. Da Cassirer keine umfangreichere Abhandlung zur Kunstphilosophie verfaßt hat, ist jede Beschäftigung mit dieser Thematik auf die in seinem Gesamtwerk verstreuten Äußerungen zu Kunst und Ästhetik verwiesen. Die bis zu seiner ersten Monographie über Leibniz’ System zurückverfolgte »ästhetischen Vorgeschichte« der Philosophie der symbolischen Formen hat über die werkgeschichtlich orientierte Fragestellung hinaus propädeutische Bedeutung für den zweiten Teil dieser Studie. Sie erarbeitet Elemente seiner (in geschlossener Form nicht verfaßten) Ästhetik, auf die im Fortgang zurückgegriffen werden kann. Im Zentrum des ersten Kapitels des zweiten Teils steht die Philosophie der symbolischen Formen. Zunächst werden die allgemeine Theorie der symbolischen Formung sowie ihrer Differenzierung dargestellt. Im zweiten Kapitel wird der Fundus kunstphilosophischer Ansätze Cassirers, der im ersten Teil erarbeitet wurde, durch die Lektüre von Aufsätzen, die nach oder während der Abfassung der Philosophie der symbolischen Formen entstanden sind, des Essay on Man, der ein Kapitel zur Kunst enthält, sowie durch Bezug auf Nachlaßtexte ergänzt und an den für symbolische Formen geltenden Kriterien überprüft. Unter Berücksichtigung gegenwärtiger ästhetischer und literaturtheoretischer Diskussionen versuche ich zu zeigen, daß es dem aus der Berufsphilologie exilierten Cassirer mit der Revision epistemologischer Grundlagen sowie der Bestimmung der Kunst als symbolische Form gelungen ist, Antworten auf Fragen zu geben, die auch für eine an philosophischen Grundlagen interessierte Literatur- und Kulturwissenschaft von Bedeutung sind.

Zur Textgrundlage Zunächst ist es Goethe und seine »Art des Sehens«, die Cassirer seit seiner Schulzeit fasziniert und ihm möglicherweise den Blick für die Vielfalt der Symbolwelten geöff net hat. Daß er zu Goethe intensiv geforscht hat, belegen 22 Schriften15, die inzwischen in den beiden Ausgaben Ernst Cassirer. Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1998 ff. [im folgenden zitiert als ECW + Bd.-Nr.], und Ernst Cassirer. Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. vollständig vorliegen. Cassirer hat sich Zeit seines Lebens mit Problemen der Kunstphilosophie und der Ästhetik beschäftigt und eine große Anzahl an Aufsätzen und Vorträgen zu Library«, Carbondale, Illinois, und wird hier zitiert nach J. M. Krois, »Introduction. L’art, une forme symbolique«, in: F. Capeillères (Hg.), Écrits sur l’art, Paris 1995, S. 7. 15 Eine Aufl istung dieser Texte fi ndet sich bei J. M. Krois, »Urworte: Cassirer als GoetheInterpret«, in: E. Rudolph/B.-O. Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, S. 324 f.

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einleitung

diesen Themenbereichen verfaßt.16 Auch in seinen nicht vorrangig der »ästhetischen Formwelt« gewidmeten Monographien spielt die Kunst als Bereich der schöpferischen Aktivität des Menschen par excellence häufig eine Rolle. Bereits seine erste Publikation zu Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen widmet der Ästhetik einen eigenen (wenn auch nur wenige Seiten umfassenden) Abschnitt. Der erste Band seines vierbändigen Werkes Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit thematisiert das Menschenbild der Renaissance als ein ästhetisches.17 Mit der Abfassung der 1916 veröffentlichten Schrift Freiheit und Form, deren »erste[…] Entwürfe und Vorstudien« jedoch, wie Cassirer in dem Vorwort zur ersten Aufl age schreibt, »viele Jahre zurück[liegen]«,18 tritt die Ästhetik in das Zentrum seines Interesses und bildet ein Komplement zur Orientierung der frühen Phase seines Schaffens an der Geschichte des Erkenntnisproblems und der Begriff stheorie. Bereits während der Arbeit an den in Freiheit und Form zusammengefaßten »Studien zur deutschen Geistesgeschichte« entsteht seine Kantmonographie Kants Leben und Lehre,19 in der er sich ausführlich mit der Ästhetik Kants beschäftigt. 1918 und 1919 entstehen Aufsätze über Goethe, Hölderlin und Kleist. Sie werden gemeinsam mit zwei weiteren Aufsätzen über Goethe und Schiller 1921 zu der Schriftensammlung Idee und Gestalt zusammengefaßt, die, so Cassirer, der Verbindung zwischen »der Welt der philosophischen Ideen« und der »der dichterischen Gestaltung« nachgeht. Cassirer begreift Idee und Gestalt als Ergänzung zu Freiheit und Form.20 1922 erscheint die Aufsatzfassung eines Vortrags über »Goethe und Platon«, den Cassirer 1920 in Berlin gehalten hat.21 Er vergleicht den Idealismus Goethes mit demjenigen Platons. 1923, 1925 und 1929 erscheinen die drei Teile der Philosophie der symbolischen Formen.22 In allen drei Bänden, ebenso wie in dem Aufsatz von 1922 »Die Begriffsform im mythischen Denken«, in dem Cassirer erstmalig den »Gesamtplan« einer Philosophie der symbolischen Formen erwähnt, wird die Kunst als symbolische Form gefaßt, wenn auch nicht ausführlich entwickelt. 1923 erscheint der Aufsatz

Vgl. auch F. Capeillères, »Postface«, in: Écrits sur l’art, S. 193–202. Vgl. J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 11: »L’homme, qui produit les œuvres de la culture, est en son essence un artiste. Cet aspect de la philosophie de la Renaissance trouve un echo dans toute la théorie cassirerienne de la culture.« 18 ECW 7, S. 388. 19 Zuerst erschienen 1918, im folgenden zitiert nach ECW 8. In Freiheit und Form weist Cassirer auf die Parallelität der Arbeit an Freiheit und Form und Kants Leben und Lehre hin. Vgl. ECW 7, S. 179, Anm. 38. 20 Vgl. das Vorwort zur ersten Aufl age von Idee und Gestalt, im folgenden zitiert nach ECW 9, S. 619. 21 Die zwischen 1922 und 1926 erschienenen Aufsätze und Vorträge werden nach ECW 16 zitiert. 22 Im folgenden zitiert nach ECW 11–13. 16

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Zur textgrundlage

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»Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«. Cassirer würdigt die Kunst hier als »Erfüllung dessen, was in anderen Gebieten des Geistes, in anderen Richtungen symbolischer Formung als Forderung enthalten ist«.23 1924 erscheint »Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen«. Cassirer weist auf das paradoxe Phänomen hin, daß von der Platonischen Lehre umfassende Wirkungen auf die Ästhetik ausgegangen seien, obwohl es innerhalb der Ideenlehre keinen Raum für eine Wissenschaft der Kunst gebe, denn für Platon seien die Werke der Kunst bloße Nachahmungen, die zu den Ideen in größter Entfernung stehen. Bei Platon selbst sei jedoch eine ambivalente Haltung zum Problem des Schönen festzustellen, denn trotz seiner ablehnenden Haltung wisse er nicht nur um die Kraft ästhetischer Wirkungen, sondern er bediene sich ihrer auch in seinen Schriften. Aus dieser Ambivalenz schlägt Cassirer Profit und formuliert eine Lösung auf theoretischer Ebene, indem er die Angewiesenheit auch der Ideenlehre auf Worte, d. h. auf sinnliche Zeichen, belegt und somit Mimesis im Zentrum der Dialektik aufzeigt: »Die Tragik, ein Letztes und Unbedingtes zu suchen und doch, in der Darstellung ebendieses Unbedingten, an die unauf hebliche Bedingtheit des mittelbaren Ausdrucks gebunden zu sein – diese Tragik triff t daher jetzt den Dialektiker, wie sie den Künstler triff t. Auch er gelangt, sofern er seine letzten Erkenntnisse sprachlich zu formulieren unternimmt, über das Gebiet der Mittelbarkeit, also über das Gebiet der µíµησις, wenn man diesen Begriff in seinem weitesten Sinne nimmt, nicht hinaus.« 24 Diese »resignative« Einsicht in die menschliche, symbolvermittelte Dimension der Erkenntnis dient in der Folge zur Rehabilitierung der Kunst, denn die uneingeschränkte Notwendigkeit, ideelle Gehalte in sinnlichen Zeichen und Bildern zur Darstellung zu bringen, hat eine veränderte Bewertung von Darstellungen überhaupt zur Folge. Darstellungen sind nun nicht mehr als »Nachbildung[en] der gestalteten Welt« 25, sondern als selbständige Formen der gestaltenden Tätigkeit oder des schaffenden Eros zu begreifen. 1925 erscheint der Aufsatz »Sprache und Mythos«, in dem Cassirer sich u. a. mit der poetischen Sprache auseinandersetzt. Das Aby Warburg gewidmete, 1927 veröffentlichte Buch Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, aus dem Cassirer 1926 bereits einen Auszug vorgetragen hat, thematisiert unter anderem die ästhetischen Grundmotive des Florentiner Platonismus, abermals das ästhetische Menschenbild der Renaissance, den Begriff des Genies, die Eros-Lehre im Zusammenhang mit der Ästhetik, den Wahrheitsbegriff Leonardos, das Verhältnis zwischen Mathematik und Kunsttheorie und die neue Stellung der Sinnlichkeit in der Renaissance.26 Der ebenfalls 1927 veröffentlichte 23 24 25 26

ECW 16, S. 94. ECW 16, S. 161. Ebd., S. 163. Im folgenden zitiert nach ECW 14.

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Vortrag »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, den Cassirer auf dem III. Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft gehalten hat, thematisiert die Kunst als symbolische Form und die Wurzeln des Symbolbegriff s in der Ästhetik.27 Das auf ca. 1928 datierte Konvolut 184a des Nachlasses (veröffentlicht in ECN 1), das Vorarbeiten zu einem vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen enthält, thematisiert die Kunst im Verhältnis zum Mythos sowie hinsichtlich der Ausdrucks- und Darstellungsfunktion unter besonderer Berücksichtigung der kunstphilosophischen Schriften Konrad Fiedlers, ferner die Sprache der Dichtung. Im ebenfalls auf 1928 datierten Konvolut 184b »Zur Metaphysik der symbolischen Formen« kommt abermals die Kunsttheorie Fiedlers und seine Forderung, »das System der Aesthetik auf einem erkenntniskritischen Fundament aufzubauen« 28 , zur Sprache. 1929 erscheint der Nachruf auf den Kunstwissenschaftler Aby Warburg. Der Aufsatz »Form und Technik« wurde als einleitende Abhandlung des von Leo Kestenberg herausgegebenen Sammelbandes Kunst und Technik 1930 zuerst publiziert. Cassirer thematisiert hier humanistische Begründungen des Wertes und der Bedeutung des Ästhetischen sowie des künstlerischen Schaffens im allgemeinen. Die Kunst wird gegenüber der Technik als eine Form bestimmt, die »immer zugleich Zeugnis einer individuellen Lebensform« 29 bleibt. Der auf dem IV. Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft gehaltene Eröff nungsvortrag »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« behandelt die verschiedenen Gestaltungsmodi des Raums in Mythos, Kunst und Wissenschaft. 1932 erscheint Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, dessen Schlußkapitel über Shaftesbury das Problem der ästhetischen Form als »allumfassend[…], grundwichtig[…] und grundlegend[…]« 30 begreift. Sowohl den Begriff des Genies als auch den des interesselosen Wohlgefallens führt Cassirer auf Shaftesbury zurück. Der (nicht nur) für Goethe wichtige Begriff der »inneren Form« geht auch auf Shaftesbury zurück. Ebenfalls 1932 wird die Monographie Die Philosophie der Aufklärung publiziert, die im VII. Kapitel die in Freiheit und Form begonnene Studie zur »ästhetischen Formwelt« fortsetzt und hier auch die Entwicklungen der Ästhetik der Auf klärungszeit in England und Frankreich aufnimmt. »Goethe und die geschichtliche Welt« hat unter anderem Goethes »gegenständliche Anschauung« und seine »dichterische Intuition« zum Thema, »Goethe und das 18. Jahrhundert« ist wiederum der Entwicklung der ästhetischen Formwelt gewidmet. Beide Texte erscheinen 1932. 27 Die Aufsätze und Vorträge aus dem Zeitraum von 1927–1931 werden nach ECW 17 zitiert. 28 ECN 1, S. 75–82, S. 79. 29 ECW 17, S. 179. 30 ECW 14, S. 351.

Zur textgrundlage

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1935 wird ein Vortrag über »Schiller und Shaftesbury« veröffentlicht. 1936 und 1937 entstehen in Band 2 der Nachlaßausgabe veröffentlichte Texte, die unter dem Titel Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis die historisch orientierten Bände des Erkenntnisproblems in systematischer Hinsicht ergänzen sollten. Das erste Kapitel »Die drei Grundrichtungen der Wirklichkeitserkenntnis« thematisiert »[d]rei Grundtypen geistiger Verhaltungsweisen«, die Cassirer mit Goethe als »Urphaenomene« begreift. Insbesondere das Phänomen der Objektivierung zum Werk ist unter kunstphilosophischer Perspektive von Bedeutung. Das dritte Kapitel »Invarianten der Wahrnehmung des Begriff s« ist unter wahrnehmungstheoretischen Aspekten der Ästhetik interessant, das vierte Kapitel »Kulturwissenschaft und Geschichtswissenschaft« betrachtet die Kulturwissenschaften als »Lehre von den Formen« und fragt nach dem logischen Gehalt dieser Formen, die mit dem Gesetzesbegriff der Naturwissenschaft nicht zu erfassen sind. Die Defi nition der kulturwissenschaftlichen Aufgabe, »ein Ganzes immer reicher und immer feiner differenzierter Form- und Stilbegriffe zu gewinnen« 31, zeugt von der kunstphilosophischen Relevanz auch dieses Kapitels. Von 1940 datiert der Text »Über Basisphänomene« (veröffentlicht in Band 1 der Nachlaßausgabe), der ebenfalls den Werkcharakter der Kunst thematisiert. 1940 und 1941 hielt Cassirer die im Nachlaßband ECN 11 veröffentlichten Goethe-Vorlesungen »Der junge Goethe« und »Goethes geistige Leistung«. ECN 11 enthält darüber hinaus die bereits erwähnten Referate des Germanistikstudenten Ernst Cassirer. Weitere kleinere Schriften zu Goethe sind im Nachlaßband 10 veröffentlicht. Ebenfalls bereits publiziert sind die in englischer Sprache gehaltenen Vorträge »Language and Art I« sowie »Language and Art II« von 1942. Der Text »The Educational Value of Art« datiert von 1943.32 1944 erscheint An Essay on Man mit einem umfangreichen Kapitel über die Kunst als symbolische Form.33 Der Band ECN 5 enthält das Manuskript des Essay on Man (1942/43), auf das ich gelegentlich zurückgreifen werde. Der späteste veröffentlichte Text Cassirers zu ästhetischen Fragen ist »Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über ›Lotte in Weimar‹«. Weitere Notizen, insbesondere aus dem Umfeld eines 1942-1943 in Yale durchgeführten Seminars zur Ästhetik, sowie Artikel zur Kunst sind laut Capeillères im Nachlaß zu fi nden.34 Die in Vorbereitung befi ndlichen Bände 7 und 12 der Nachlaßausgabe zu Mythos,

ECN 2, S. 160 f. und 165. Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe von D. Ph. Verene (Hg.), Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, New Haven/London 1979. 33 Zitiert wird im folgenden nach ECW 23 und nach der Übersetzung Versuch über den Menschen, Frankfurt/Main 1990. 34 Vgl. F. Capeillères, »Postface«, S. 198. 31

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Sprache und Kunst sowie zu Schiller dürften unter ästhetischen Gesichtspunkten interessante Texte enthalten.

Zum Stand der Forschung Im Rahmen der ausgeprägten medien- und kulturwissenschaftlichen Orientierung der geisteswissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahren stand die Philosophie der symbolischen Formen im Zentrum des Interesses an Cassirer. Trotz des umfangreichen Cassirerschen Schrifttums zu ästhetischen Themen und trotz prominenter Weiterentwicklung zentraler Theoreme der Philosophie Cassirers in der Ästhetik und Kunstphilosophie anglo-amerikanischer Provenienz durch Susanne K. Langer und Nelson Goodman 35 gehört die Kunst als symbolische Form zu den wenig erforschten Problemkomplexen seines Werkes. Der 1949 von Paul A. Schilpp herausgegebene Band The Philosophy of Ernst Cassirer enthielt drei Aufsätze zu kunstphilosophischen Themen, doch in den folgenden Jahrzehnten erschienen nur wenige versprengte Aufsätze zu Cassirers Ästhetik.36 Das erste Kapitel von Goodmans Ways of Worldmaking (1978) war ursprünglich als Vortrag konzipiert, den er anläßlich des 100. Geburtstags von Cassirer 1974 in Hamburg gehalten hat. Goodman geht von der Komplementarität verschiedener Weisen der Welterschließung aus und weiß sich trotz einiger Differenzen in den Fußstapfen Cassirers. Gottfried Gabriel weist in einem dem Gedenken Goodmans gewidmeten Heft der Zeitschrift Erkenntnis darauf hin, daß der zentrale Begriff der Ästhetik Goodmanns – der Begriff der Exemplifi kation – »sich als treffl iches Werkzeug erweist, seine kontinentalen Entsprechungen analytisch auszubuchstabieren«. (Siehe G. Gabriel, »Kontinentales Erbe und analytische Methode«, in: Erkenntnis, Heft 52, Nr. 2, 2000). D. D. Colson, »Goodmann, Cassirer, and the world«, in: Kinesis. Graduate Journal in Philosophy, 1981, 1, S. 1–15, S. 1, wiederum versucht »to examine Goodman’s position in the light of some similar work by Cassirer«. Während Goodman in der aktuellen Ästhetikdiskussion sehr präsent ist, ist Langer, die ihrerseits Goodmann beeinflußt hat, inzwischen in den Hintergrund geraten. Die Habilitationsschrift von R. Lachmann, Susanne K. Langer. Die lebendige Form menschlichen Fühlens und Verstehens, München 2000, stellt eine Ausnahme dar. Zum Verhältnis zwischen Langer und Cassirer vgl. auch den bereits 1984 erschienenen Aufsatz von St. Morawski, »Art as Semblance«, in: The Journal of Philosophy LXXXI, Nr. 11, 1984, S. 654–663. 36 In dem Band von Schilpp sind enthalten: K. Gilbert, »Cassirer›s Placement of Art«, K. Reichardt, »Ernst Cassirer›s Contribution to Literary Criticism«, und H. Slochower, »Ernst Cassirer›s Functional Approach to Art and Literature«. In den darauf folgenden Jahren erschienen: H. Adams, »Thinking Cassirer«, in: Criticism: A Quarterly for Literature and the Arts 25/3, 1983, S. 181–195; A. Boboc, »Ernst Cassirer und die semiotische Ästhetik«, in: Revue Roumaine de Philosophie et Logique 17, 1973, S. 157–161; B. Bolognini, »Il problema estetico nella prospettiva di Cassirer«, in: Il pensiero 18, 1973, S. 268–298; Th. A. Buesch , »The Literary Genre as Symbolic Form«, in: Journal of Aesthetic and Art Criticism 31, 1973, S. 525–530; der bereits erwähnte Aufsatz von D. D. Colson, »Goodmann, Cassirer, and the World«; T. Comito, »Notes on Panofsky, Cassirer, and the ›medium of the movies‹«, in: Philosophy 35

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Erst in den 90er Jahren verstärkten sich die diesbezüglichen Forschungsaktivitäten.37 1995 erschienen in der von Fabien Capeillères herausgegebenen französischsprachigen Textsammlung Écrits sur l’art als Einleitung und Nachwort konzipierte Aufsätze von John M. Krois und Fabien Cappeillères, die erstmals systematisch nach der symbolischen Form der Kunst fragen und auch heute noch wegweisend sind. Der im selben Jahr von Enno Rudolph und Bernd-Olaf Küppers herausgegebene Band Kulturkritik nach Ernst Cassirer enthält u. a. Aufsätze mit ästhetischer Ausrichtung. Barbara Naumann beschäftigt sich in ihrer 1998 erschienenen Habilitationsschrift Philosophie und Poetik des Symbols unter poetologischen Gesichtspunkten mit der Symbolphilosophie Cassirers. Noch 2003 bedauert Giovanni Matteucci in seinem Aufsatz »Ipotesi di una estetica della ›forma formans‹«, den er der italienischsprachigen Textsammlung Ernst Cassirer. Tre studi sulla forma formans. Tecnica – Spazio – Linguaggio voranstellt, daß die Ästhetik auch in den besten Gesamtbetrachtungen der Philosophie Cassirers vernachlässigt werde.38 Tatsächlich fi ndet sich unter den von ihm genannten

and Literature, Dearborn 1980/4, S. 229–241; W. F. Eggers, Jr., »From Language to the Art of Language: Cassirer’s Aesthetic«, in: Hardison, O. B., Jr. (Hg.), The Quest for Imagination: Essays in Twentieth-Century Aesthetic Criticism, Cleveland and London 1971, S. 87–112; E. E. George, »Ernst Cassirer and Neo-Kantian Aesthetics: A Holistic Approach to the Problem of Language and Art«, in: The Sign: Semiotics around the World, Michigan Slavic Publication, Ann Arbor, 21980, S. 132–145; F. W. Kearney, »On Cassirer’s Conception of Art and History«, in: Laval Théologique et Philosophique 1, 1945, S. 131–153; E. Pinto, »Cassirer et Warburg. De l’histoire de l’art à la philosophie de la culture«, in: J. Seidengart (Hg.), Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, Paris 1990, S. 261–276; E. Schaper, »The Art Symbol«, in: British Journal of Aesthetics 4, 1964, S. 228–239, und N. Woltersdorf, »Art in an Idealist Perspective«, in: Idealistic Studies 15, 1985, S. 87–99, sowie 1996: U. Kösser, »Der Diskurs um das analogon rationis. Ästhetik auf dem Weg zu Cassirer«, in: Kulturwissenschaftliche Studien 4, Leipzig 1996, Heft 1, S. 32–50. 37 Die Studie von Silvia Ferreti, Il demone della memoria. Simbolo e tempo storico in Warburg, Cassirer, Panofsky, Casale Monferrato 1984 (1989 unter dem etwas irreführenden Titel Cassirer, Panofsky, and Warburg. Symbol, Art, and History, New Haven/London 1989, ins Englische übersetzt), beschäftigt sich nicht mit der Kunstphilosophie Cassirers. Sie untersucht die unterschiedlichen Rekonstruktionen historischer Epochen bei den drei Autoren sowie das geschichtlichen Werden des Symbolischen. Martin Jesinghausen-Lauster widmet sich in seiner Arbeit Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985, der Bedeutung Cassirers für den Warburg-Kreis. Auch er beschäftigt sich nicht mit Cassirers Kunstphilosophie, sondern (auf relativ schmaler Textbasis) mit dem – in Jesinghausen-Lausters Interpretation – aporetischen Verhältnis zwischen Systematizität und Historizität der symbolischen Formen. 38 »Ipotesi di una estetica della ›forma formans‹«, in: Ernst Cassirer. Tre studi sulla forma formans. Tecnica – Spazio – Linguaggio, hg. von G. Matteucci, Bologna 2003, S. 7. Matteucci nennt die Arbeiten von J. M. Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/London 1987, H. Paetzold, Ernst Cassirer – Von Marburg nach New York, Darmstadt 1995, M. Ferrari, Ernst Cassirer. Dalla scuola di Marburgo alla fi losofi a della cultura, Firenze 1996 (inzwischen auch auf dt. erschienen als Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Bibliographie, aus dem Ital. von M. Lauschke, Hamburg 2003), E. W. Orth, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Stu-

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Werken nur in der Aufsatzsammlung Orths eine Abhandlung, die sich mit der Orientierungsleistung der Literatur beschäftigt. Oswald Schwemmer behandelt zwar das Urphänomens des »Werkes« ausführlich, jedoch ohne kunstphilosophische Zuspitzung. In den Darstellungen der letzten drei Jahre ist die Kunst ein wenig stärker berücksichtigt worden.39 Das von Hans Jörg Sandkühler und Detlev Pätzold herausgegebene Cassirer-Handbuch enthält einen Aufsatz über die Kunst als vierte symbolische Form von Barend van Heusden. In Birgit Reckis Einführung in die Philosophie der symbolischen Formen fi ndet sich die überarbeitete Fassung des Aufsatzes »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie«.40 Enno Rudolph widmet der Kunst jedoch nur wenige Seiten seines Buches Cassirer im Kontext. Die Dissertationen von Michaela Hinsch, Die kunstästhetische Perspektive in Ernst Cassirers Kulturphilosophie, Würzburg 2001, Andreas Küker, Transformation, Refl exion und Heterogenität. Eine Untersuchung zu den Deutungsperspektiven der Kunst in der Philosophie Ernst Cassirers, Darmstadt 2002, und Susanne Nordhofen, Literatur und symbolische Form. Der Beitrag der Cassirer-Tradition zur ästhetischen Erziehung und Literaturdidaktik, Hannover 2003, sind in systematischer Hinsicht wenig einschlägig. Die paradigmatische Bedeutung von Kunst und ästhetischer Theorie für die Ausbildung der Philosophie der symbolischen Formen ist des öfteren konstatiert worden. Dennoch gibt es keine Arbeit, die die Entwicklungsgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen unter diesem Gesichtspunkt untersucht und die Veröffentlichungen bis 1923 systematisch auswertet. Barbara Naumann schreibt: »In the contemplation of literary and aesthetic texts and their negotiations with Kant’s critical philosophy, Cassirer gains for himself a critical foundation, from which he can simultaneously situate historically and actualize the fundamental forms of reflection.«41 Auch andere Interpreten betrachten insbesondere die Goetherezeption Cassirers als ausschlaggebend für die Entwicklung seiner Symbolphilosophie. Yoshihito Mori sieht einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Bedürfnis Cassirers, den »eigentlichen Blickpunkt Goethes« zu bestimmen und zu würdigen,

dien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996, O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997. Die Studie von A. Graeser, Ernst Cassirer, München 1994, die sich – wenn auch kritisch – mit Kunst als symbolischer Form beschäftigt, sowie S. G. Lofts, Ernst Cassirer. A »Repetition« of Modernity, New York/Albany 2000, das ein Kapitel über Kunst enthält, erwähnt Matteucci nicht. 39 H. J. Sandkühler und D. Pätzold (Hg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers, Stuttgart/Weimar 2003, E. Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext, Tübingen 2003, B. Recki, Kultur als Praxis: Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004. 40 Erstveröffentlicht in B. Naumann/ B. Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002. 41 »Talking Symbols: Ernst Cassirer’s Repetition of Goethe«, in: E. Rudolph/B.-O. Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, S. 358.

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und seiner Erweiterung der allgemeinen Erkenntnistheorie.42 Nach John M. Krois erweckte »Goethes Denken […] in Cassirer das Bedürfnis nach einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹«: »Vielleicht kam Cassirer der Gedanke zu seiner Philosophie auch dadurch: daß er die Kluft zwischen Natur- und Kulturwissenschaften durch den Symbolbegriff überbrückt fand, als er an Freiheit und Form arbeitete. Es dürfte jedoch feststehen, daß Cassirer diese Überbrückung in Goethes Werk sah.«43 Auch Fabien Capeillères weist Freiheit und Form eine besondere Rolle innerhalb der Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen zu. Im Versuch der Standortbestimmung, von dem aus Cassirer in Freiheit und Form die Themen der Ethik und Ästhetik betrachtet, kommt er zu dem Schluß: »Liberté et forme appartient au travail de défrichage des sites classiques et systématiques de l’objectivation et c’est la complémentarité de ce travail avec celui effectué précédement (lequel touchait au théorique) qui conduit Cassirer, guidé par la problématique de l’unité, à produire le système des formes symboliques.«44 Nach Giovanni Matteucci betreibt Cassirer im Ausgang und am Beispiel von Phänomenen der Kunst eine »Revision der transzendentalen Ästhetik«; auch Christiane Schmitz-Rigal bescheinigt der Kunst »eine herausragende Stellung für die Epistemologie Cassirers«. »Die Selbstgesetzlichkeit des Kunstwerkes erscheint […] als Folge und Ausdruck der fundamentalen ›Selbstgesetzlichkeit des Geistes‹, die sich in den Gebilden der Kunst unverstellter als auf anderen Gebieten des Geistigen zeigen kann.«45 Cassirers Symbolbegriff sei aus der »Untrennbarkeit von sinnlicher Einzelerscheinung und allgemeinem Sinn, die für das Kunstwerk charakteristisch ist«,46 abgeleitet. Schmitz-Rigal beschäftigt sich jedoch nicht mit der Kunst im engeren, sondern mit der Kreativität des Menschen, seiner Fähigkeit zur schöpferischen Gestaltung im weiteren Sinne. In der Bezeichnung »Kunst des Wissens« ist in ihrem Buch »von Kunst nicht als einer spezifi schen Symbolischen Form unter anderen die Rede«47. Im Zentrum ihres Interesses steht das »offen-dynamische Wissensmodell Cassirers«48, zu dessen Entwicklung ihn zentrale Momente der Kantischen Ästhetik inspiriert haben. Auch für Enno Rudolph hat die Kunst als »Symbol der Symbole«49 im Werk Cassirers in mehrfacher Hinsicht paradigmatischen Wert. Zum einen stelle Cassirer in Auseinandersetzung mit den klassischen Mimesistheorien fest, daß Kunst nicht nachbilde, sondern entdecke: »Genau be42 Y. Mori, »Goethe und die mathematische Physik. Zur Tragweite der Cassirerschen Kulturphilosophie«, in: E. Rudolph/B.-O. Küppers (Hg.): Kulturkritik nach Ernst Cassirer, S. 401. 43 J. M. Krois, »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, S. 309 f. 44 F. Capeillères, »Postface«, S. 206. 45 Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst off enen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik, (Cassirer-Forschungen 7), Hamburg 2002, S. 40. 46 Ebd., S. XIX. 47 Ebd., S. XV. 48 Ebd., S. XVIII. 49 E. Rudolph, Cassirer im Kontext, S. 163.

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sehen hat Cassirer damit zugleich einen Beitrag zur Klärung seines Verständnisses vom Begriff der symbolischen Form im allgemeinen geleistet.«50 Kunst bringe die Wahrheit nicht nur angemessen zur Darstellung, sondern verwirkliche sie ausschließlich in der Form der Darstellung: »Die Kunst wird […] dazu privilegiert, die schlechthin angemessene Weise der Darstellung von Welt durch Schaff ung von Welt zu sein.«51 Zum anderen sah Cassirer nach Rudolph in der Form der künstlerischen Tätigkeit die »maximale und optimale Intensität symbolschöpferischer Freiheit«.52 Schließlich sei die Kunst das »Paradigma moralischer und politischer Praxis«53. Die von Krois54 und Ferrari 55 beklagte Situation, daß die Cassirerforschung »Goethes Werk als Organon zur Deutung von Cassirers Philosophie [bisher] ignoriert« habe bzw. daß es »trotz der verbreiteten Anerkennung« der komplexen Beziehung zwischen Cassirer und Goethe »kaum bedeutende Arbeite« zu diesem Thema gebe, hat sich durch die Publikation des von Barbara Naumann und Birgit Recki 2002 herausgegebenen Tagungsbandes Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft inzwischen etwas verändert.

Probleme und Zielsetzungen Über die Gründe, warum die kunstphilosophischen und im weitesten Sinne ästhetischen Perspektiven des Werks Ernst Cassirers von der Forschung bislang vernachlässigt worden sind, kann nur (und muß) spekuliert werden. 1. Cassirer hat keine geschlossene Abhandlung zur Kunstphilosophie verfaßt. Seine Aufsätze und Vorträge waren, bis sie in der Hamburger Ausgabe zusammengeführt worden sind, oft nur in schwer zugänglichen Erstdrucken erhalten, was gelegentliche Fehleinschätzungen hinsichtlich des Textkorpus (z. B. durch Andreas Graeser, nach dem die Kunst erst im Essay on Man zum Thema geworden sei) begründen könnte.56 Dieser Irrtum ist durch Fabien Capeillères und Michaela Hinsch korrigiert worden. Zur (Re-)Konstruktion einer symbolischen Form der Kunst ist Grundlagenarbeit an den im gesamten Werk verstreuten Äußerungen zu Problemen der Kunst nötig.

Ebd., S. 215 und 91 ff. Ebd., S. 217. 52 Ebd., S. 9. 53 Ebd., S. 198. 54 J. M. Krois, »Urworte. Cassirer als Goethe-Interpret«, S. 298. 55 M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 60. 56 A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 86. Vgl. dagegen K. Gilbert, »Cassirer›s Placement of Art«, nach deren Ansicht Cassirers ästhetische Untersuchungen in seinen verschiedenen Werken einen eigenen Band über die Kunst ersetzen. 50 51

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2. Eine sorgf ältige Lektüre der relevanten Schriften muß zeigen, wie Cassirer auch in der Auseinandersetzung mit historischen Positionen der Ästhetik und Kunstphilosophie Aspekte profi liert, die für seinen Kunstbegriff bestimmend werden. Damit ist ein Problem bezeichnet, das in der Forschung bereits des öfteren konstatiert worden ist. Cassirer entwickelt eigene Standpunkte in enger Anbindung an die Geschichte der Philosophie. Er kommentiert subtil, seine Kunst der Paraphrase verrät Könnerschaft, und die erotische Kraft der Zusammenschau 57 tritt nicht nur an Lieblingsthemen wie Goethe zutage. Selten äußert er Widerspruch unverdeckt. Um so aufmerksamer muß der Leser für die feinen Variationen sein, durch die historische Vorlagen in seiner Philosophie produktiv werden.58 Er muß ein waches Auge für die Schreibweise Cassirers haben, der beim Erzählen von Philosophie- und Geistesgeschichte manchen Strang einfärbt und so seine Sichtweise akzentuiert. 3. Cassirer verzichtet zumeist auf terminologische Festschreibungen.59 Dieses Vermeidungsverhalten hat Methode. Die Flexibilität von Begriffen bedeutet für ihn keinen Mangel an defi nitorischer Präzision, sondern ist Teil seiner literarischen Strategie, die er zum einen dazu einsetzt, die historische Tiefendimension der Vgl. die Vorlesung »Goethes geistige Leistung«, in: ECN 11, S. 238. Nach B. Naumann formuliert Cassirer sein eigenes Denken »stets aus der Perspektive des Kommentars«. Darin zeige sich »seine konsequente Weigerung, anders als im Durchgang durch historisch erarbeitete Positionen des Denkens zu argumentieren«. (»Umschreibungen des Symbolischen«, in: B. Naumann/B. Recki (Hg.), Cassirer und Goethe, S. 22). E. W. Orth weist in seinem Aufsatz »Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: H.-J. Braun/H. Holzhey/E. W. Orth (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main 1988, S. 50 f. darauf hin, daß Cassirer seine Positionen häufi g »in das geistreiche Referat anderer Positionen einwickelt« und »die objektive Einschätzung einer historischen Position oft durch eigene Gedankenformen modifi ziert«. Die Cassirersche Verwendung von Zitaten nennt er »operativ«, um zu kennzeichnen, daß »in dem Zitat scheinbar Bekanntes aufgeboten wird, um ganz neue Verständnisdimensionen zu eröff nen«. Nach R. Konersmann entwickelt Cassirer eigene Standpunkte »indirekt« und erweckt dadurch »den Eindruck der Unauff älligkeit, um nicht zu sagen: der Pointenarmut. Man sollte sich dadurch nicht täuschen lassen. Die materialen Eingriffe und Interpretationen, die der Weimarer Kulturphilosoph sich bei der Profi lierung seines eigenen Denkens gestattet, sind ebenso umfassend wie weitreichend. Sie kommen einfach nur auf Taubenfüßen daher.« Siehe ders., Komödien des Geistes. Historische Semantik als philosophische Bedeutungsgeschichte, Frankfurt/Main 1999, S. 41. 59 E. Rudolph schreibt in seinem Aufsatz »Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Platonismus«, in: B. Naumann/B. Recki (Hg.), Cassirer und Goethe, S. 101: »Texte, in denen Cassirer hinreichend präzise darüber Auskunft gibt, was er exakt unter einem ›Symbol‹ versteht, sind bekanntlich rarer gesät, als es die Buchtitel seiner Hauptwerke und das Kernprogramm seiner Philosophie der symbolischen Formen zu versprechen scheinen«. J. M. Krois merkt in seinem Aufsatz »Die Goetheschen Elemente in Cassirers Philosophie« in demselben Sammelband, S. 167, an: »Cassirers philosophische Interpreten haben immer Schwierigkeiten gehabt, seine Theorie der symbolischen Formen einzuordnen, weil sie schwer fi xierbar ist. Das Hauptproblem ist m. E., daß Cassirer den wichtigsten Terminus [gemeint ist der Terminus »Form«, M. L.] der Philosophie der symbolischen Formen nicht erklärt.« 57

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philosophischen Problemkomplexe in ihrer begriffl ichen Ausprägung zu bewahren und zu nutzen.60 Im Vorwort zur Erstausgabe von Freiheit und Form geht er ausführlich darauf ein (siehe dazu unten, Teil I, Kapitel 2, Abschnitt b)). Zum anderen dient sie dazu, der Kontextabhängigkeit von Phänomenen Rechnung zu tragen. Das Beispiel der Bestimmung von Pfl anzen bzw. der Variabilität der Bedingungen, unter denen scheinbar Identisches betrachtet werden kann, illustriert seinen Umgang mit Begriffen und insbesondere den »Begriff« der symbolischen Form: »Die Pfl anze ist, was sie ist nur unter bestimmten Bedingungen: so kann auch der Begriff, der ihr Sein zum Ausdruck bringen soll, von der Mannigfaltigkeit u[nd] Verschiedenheit dieser Bedingungen nicht absehen. Da aber diese Bedingungen variabel sind, so muß der Begriff selbst eine bestimmte Variabilität in sich aufnehmen. Eine Grundgestalt wird gesetzt, aber sie bleibt nicht starr, sondern erfährt eine Veränderung bestimmter Momente u[nd] stellt sich damit erst als wahrhafte Totalität dar.« 61 In dieser Arbeit lasse ich mich von der Cassirerschen Methode leiten, bestimme die »Grundgestalt« der »symbolischen Form« und suche sie in ihren ästhetischen Kontexten auf. 4. Die Einschätzungen in der Forschung hinsichtlich des systematischen Stellenwertes der Kunst innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen variieren. Entgegen Cassirers eigener Stellungnahme, der kontingente Ursachen für das Fehlen eines Bandes über Kunst nennt, ist dieser Mangel nach Andrea Poma »auf strukturelle und immanente Ursachen im System Cassirers zurückzuführen«. Der Kunst sei ebenso wie der Religion keine »spezifi sche Stelle im System zugeordnet«.62 Als mögliche Motive für die Beschränkung der Philosophie der symbolischen Formen auf drei Bände konstatiert Capeillères, daß die beiden Bände über Sprache und Mythos notwendige Schritte zur Konzeption der Erkenntnis als symbolischer Form waren, was für die Kunst nicht zutreffe, und daß dies bereits einen entscheidenden Fortschritt gegenüber der Philosophie seiner Epoche und insbesondere derjenigen der Marburger Schule bedeutet habe. Doch beide Erklärungsversuche können

E. W. Orth hat dieses Verfahren in seinem Aufsatz, »Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen« kommentiert. Nach seiner Ansicht ist die »operative Begriffl ichkeit« Cassirers »nicht nur eine persönliche Stileigenschaft; vielmehr hänge sie mit sachlichen Erfordernissen seiner Philosophie selbst zusammen«. Cassirer Begriffl ichkeit sei wortfeldhaft orientiert und müsse über das Gesamtwerk hin untersucht werden. Die Bezeichnung »operativer Begriff« entlehnt Orth von Eugen Fink, der sie für Begriffe verwendet, die »nicht zu einer gegenständlichen Fixierung« gebracht werden, sondern als »mediale Denkbahnen« fungieren (S. 48). 61 »Über Linné und die ungewöhnliche Art, Botanik zu behandeln«, in: ECN 10, S. 146 f. 62 A. Poma, »Ernst Cassirer. Von der Kulturphilosophie zur Phänomenologie der Erkenntnis«, in: H.-J. Braun/H. Holzhey/E. W. Orth (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 94 und S. 107, Anm. 17. Nach H. Slochower, »Ernst Cassirer’s Functional Approach to Art and Literature«, hingegen ist die Kunst wesentlicher Bestandteil von Cassirers Philosophie und bestens geeignet, seine Methode zu illustrieren. 60

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nicht überzeugen, da der zweite ein theorieexternes Motiv bemüht, der erste die Philosophie der symbolischen Formen in den Dienst der Erkenntnistheorie zurückstellt, aus dem sie sich jedoch durch eine (wenn auch nicht immer durchgehaltene) Enthierarchisierung der einzelnen Formen befreit hat. Es soll gezeigt werden, daß Cassirer in die Philosophie der symbolischen Formen zwar eine teleologische Entwicklungslinie einwebt, die vom Mythos über die Sprache zur Wissenschaft führt, diese jedoch mit einer zweiten Linie, die die Kunst einbindet, durchkreuzt. 5. Nach Andreas Graeser könne es nicht erstaunen, daß Cassirer den geplanten Band über die Kunst als symbolische Form nicht geschrieben habe, denn das Thema Kunst bedeute »eine Herausforderung besonderer Art« 63 und sei mit dem Ansatz der Philosophie der symbolischen Formen nicht kompatibel. Die Schwierigkeit der Behandlung der Kunst als symbolische Form liege darin begründet, »daß das, was erklärt werden soll, klar« 64 sein müsse. Diese Forderung sei im Fall der Kunst unerfüllbar. Das zugrundeliegende »Datum« als Bereich eigener Gesetzlichkeit sei problematisch, die »Wesensaussage« werde in Cassirers Texten nicht geklärt. Cassirer selbst beklagt den Mangel, daß kunstästhetische Phänomene in den zeitgenössischen Theorien nicht umfassend begriffen werden. In seiner Philosophie wird der »Wesensaussagen« treffende »Substanzbegriff« jedoch durch einen »Funktionsbegriff« abgelöst. Ich versuche daher mit Cassirer das geschichtlich veränderliche »Faktum« der Kunst über ihre Grundfunktionen zu bestimmen. 6. Zwar bezeugt Toni Cassirer in ihrer Biographie das Interesse Cassirers an zeitgenössischer Literatur65, und auch Krois weist über die beiden Cousins Paul und Bruno Cassirer auf Kontakte zur internationalen Kunstszene hin.66 Im Werk Cassirers ist jedoch, bis auf den Aufsatz über Thomas Manns Roman Lotte in Weimar, keine Auseinandersetzung mit moderner Kunst dokumentiert. Auch dies könnte ein Grund für die fehlende kunstphilosophische und literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm sein, die ich durch den Nachweis fördern möchte, daß seine Positionen auch für die Diskussion aktueller Probleme fruchtbar sind.67

A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 38 und 86. Ebd., S. 86. 65 Vgl., T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hamburg 2003, S. 70 ff . 66 Vgl. J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 9. 67 Ansätze dazu fi nden sich bei B. Naumann und G. Matteucci. Naumann konstatiert dieses Problem in ihrem Aufsatz »Umschreibungen des Symbolischen. Ernst Cassirers Goethe« und versucht in einem »Gedankenexperiment« (S. 19–22) mit Cassirer Texte von Henry James und James Joyce zu lesen. Matteucci steht mit Überlegungen zum Begriff der Darstellung bzw. Repräsentation bei Cassirer in »Ipotesi di una estetica della ›forma formans‹« im Kontext aktueller Probleme der Literaturtheorie. 63

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7. Möglicherweise wirkt in der fehlenden Rezeption Cassirers durch die gegenwärtige, in Teilen immer noch stark durch Heidegger geprägte Literaturtheorie auch die mangelnde Verständigung zwischen Cassirer und Heidegger und das scheinbare (bzw., was die Wirkungsgeschichte betriff t, historisch reale) Unterliegen Cassirers nach – das Stichwort »Davos« sei genannt.68 Gleichwohl ist mit Enno Rudolph zu fragen, warum eine »konstruktive und konsequent antinihilistische« Philosophie wie diejenige Cassirer an dem »destruktiven« Typ Philosophie wie derjenigen Heideggers scheitern mußte.69 Bislang sei ungeklärt, »wie es möglich war, daß der Philosophenkönig der ersten Stunde des deutschen Faschismus, Martin Heidegger, Cassirers Davoser Counterpart, auch der Philosophenkönig der ersten Stunde des nachfaschistischen Deutschland blieb«.70 Neben der allgemeinen »Ghettoisierung« des neukantianischen Paradigmas71 in der Nachkriegszeit, die Rudolph anführt, sind dafür möglicherweise auch religiöse Motivierungen bzw. erlösungstheologische Bedürfnisse verantwortlich, die Cassirer als Vertreter eines radikal säkularen Verständnisses des Symbolischen nicht bedient hat. »The pathos of […] metaphysical experience – the fountain-head of all religious feeling – is conspicuously absent in Cassirer’s work« 72 ; er schreibt, so Hazard Adams, kein »Präludium für eine negative Theologie«.73 Während Heidegger auf die erlösende Kraft des Göttlichen hoff t 74, vertraut Cassirer auf die Tätigkeit des kultivierten bzw. kultivierenden Menschen. Seine Philosophie, das wurde bereits wenige Jahre nach Kriegsende beklagt, »suffers from too much light« 75. Ernst Cassirer war ein leidenschaftlicher Auf klärer, und Auf klärung kostet bekanntlich das Paradies.76 8. Trotz seiner in kantischer Tradition stehenden metaphysikkritischen Einstellung ist Ernst Cassirer kein Dogmatiker der Differenz – was ihn per se ins Abseits der Postmoderne stellt. Metaphysisch sind für ihn all jene Theorien, die (wie z. B. bestimmte lebensphilosophische oder physikalistische Theorien) die Vielschichtigkeit der Erfahrung aus dem Blick verlieren und einzelne Elemente des geistigen Lebens: das Sein, das Werden, die Einheit, die Vielheit, die Natur, Gott, die Seele oder den Geist absolut setzen. Die Suche nach Einheit, Ganzheit, Totalität ist Ausdruck seiner Persönlichkeit, die Toni Cassirer durch »Glaube[n] an den Wert der menschlichen Persönlichkeit, die Sehnsucht nach Formung und Harmonie, die Abwehr gegen 68 Vgl. J. M. Krois, »Auf klärung und Metaphysik. Zur Philosophie Cassirers und der Davoser Debatte mit Heidegger«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1992/2. 69 E. Rudolph, Cassirer im Kontext, S. IX. 70 Ebd. S. 2. 71 Ebd. S. 3 f. 72 F. Kaufmann, »Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology«, S. 837. 73 H. Adams, »Thinking Cassirer«, S. 192. 74 Spiegel-Interview mit Martin Heidegger: »Nur noch ein Gott kann uns retten«, in: Der Spiegel, 31. Mai 1976. 75 F. Kaufmann, »Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology«, S. 841. 76 Vgl. H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/Main 31991, S. 97.

probleme und zielsetzungen

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gewalttätige Zerstörung«77 beschreibt. Er ist ein konzilianter Schriftsteller, hat aber durchaus Sinn für Spannungen; statt der Verzweiflung neigt er eher dem Humor zu. Sein Optimismus hat praktische Funktion, aber keine ideologische Grundlage: »Der Abbruch der Glückseligkeit kann den Wert des Daseins nicht herabmindern; denn dieser besteht nicht in dem, was der Persönlichkeit widerfährt, sondern in dem, was sie tut. Unsere Tat, nicht unser äußerliches Schicksal gibt unserem Leben einen Sinn. Dieser Sinn ist nach Kant durch kein Leben anzutasten, und er kann durch keine pessimistische Beweisführung beeinträchtigt werden.«78 Wie bei Kant wird auch bei Cassirer der zum »Kulturbegriff« transformierte »Weltbegriff« als Einheit der symbolischen Formungen nicht verabschiedet, sondern als Problem bewahrt und gesucht. Der funktionale Begriff des »animal symbolicum«, mit dem er es zu lösen versucht, dürfte – subjektphilosophisch mißverstanden – in denjenigen Diskursen, die den »Autor« eliminiert haben, auf Skepsis stoßen. Gegen einen postmodernen Antimetaphysikreflex möchte ich den Cassirerschen Begriff der Einheit nachdrücklich verteidigen, der, so Ralf Konersmann »die Absage an den Gottesgesichtspunkt der alten Systembauten mit einer Erneuerung des Übersichtsgebots« 79 verbindet. Mit dem Verzicht auf die Frage nach der Einheit (eines Kunstwerkes oder der Welt) sowie dem Dogma der Differenz und des Fragmentarischen wird Entscheidendes aufgegeben: es geht, mit einem modernen Lyriker gesprochen, der »ernste Verantwortungswille« 80 verloren. Vor der Vielfalt der Formen, in die das »animal symbolicum« seine transformatorischen Fähigkeiten investiert, resigniert Cassirer nicht. Die »postmoderne« Kritik an dem vermeintlichen Repräsentationsdenken »traditioneller« Philosophie, die sich nach Stephan Otto »als Fluchtpunkt […] ›das Undarstellbare‹ erkor« und, so möchte ich ergänzen, sich gelegentlich darin eingerichtet hat und träge geworden ist, könnte gerade in Cassirer eine »neue Ressource der Reflexion« entdecken.81 T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 88. Der 1945 zuerst auf englisch erschienene Text »Kant und Rousseau« wird zitiert nach: Ernst Cassirer. Rousseau, Kant, Goethe, hg. von Rainer A. Bast, Hamburg 1991, S. 41. 79 R. Konersmann, »Beim lieben Gott in der Königsloge. Skizzen zu einer Pathosgeschichte der philosophischen Bergsteigerei«, in: Neue Zürcher Zeitung, 15./16. Mai 2004, S. 67 f. 80 P. Celan in einem Briefentwurf an M. Heidegger, zitiert nach R. André, Gespräche von Text zu Text. Celan – Heidegger – Hölderlin, Hamburg 2001. Robert André kommentiert: »Je weiter ein Denken oder eine Dichtung sich vorwagt, je mehr Willen sie zeigt, die ganze Wirklichkeit repräsentieren und gestalten zu wollen, desto größer wird die Verantwortung.« (S. 226). 81 St. Otto, »Die Augen und das Herz. Der philosophische Gedanke und seine sprachliche Darstellung in Giordano Brunos Heroische Leidenschaften«, in: Scientia Poetica, Band 4/2000, S. 26. Als Ressource begreift Otto hier freilich Bruno, nicht Cassirer. Die »Metaphysik« Cassirers möchte ich, wiederum mit einer Formulierung, die Otto für Bruno verwendet, als »Metaphysik eines ›unendlichen Universums‹« bezeichnen, »dessen Grenzenlosigkeit das Bewußtsein des Menschen in eine ›metaphysische Bewegung‹ zwingt, die einen ›unendlichen Mittelpunkt‹ umkreist« (ebd. S. 15). 77 78

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Daß hinter der fehlenden Rezeption Cassirers in der Ästhetik und Literaturtheorie 82 ein solcher Metaphysikverdacht steht, ist Spekulation. »Antimodernismus« ist ihm jedoch von Karl Robert Mandelkow vorgeworfen worden. »Cassirers Rückgriff auf Goethe« sei »die Gegenposition und zugleich die Rehabilitation des von der Moderne in Frage gestellten Formbegriffs«. Eine philosophische Auseinandersetzung mit dem Cassirerschen Formbegriff führt er freilich nicht. Zur Erläuterung des »Formbegriff s der Moderne«, durch welchen er den Cassirerschen Formbegriff zu disqualifi zieren sucht, führt er eine durch den Dichter Hugo von Hofmannsthal »auf den Punkt gebrachte« »Zeitdiagnose« bzw. »Zeiterfahrung« (daß er die Begriffe synonym verwendet, ist signifi kant) an, die in der Philosophie Georg Simmels 83 und Henri Bergsons ihren prägnantesten Ausdruck fi nde.84 Da Cassirer sich mit Simmel und Bergson intensiv auseinandergesetzt hat, wäre die Diskussion um die »Modernität« seines Formbegriff s vor diesem Hintergrund zu führen; der Versuch, Cassirers Symbolphilosophie in die ästhetische Diskussion einzuführen, muß von der Darstellung seiner zentralen Begriffe und ihrer Genese: der Form, des Symbols, der Einheit, der Gestalt, der Anschauung oder Intuition ihren Ausgang nehmen. 9. Die Tatsache, daß die ästhetische Diskussion größtenteils ohne Cassirer geführt wird, könnte auch Anlaß dazu geben, die Blickrichtung einmal umzukehren, um nach dem Zustand der gegenwärtigen Ästhetik zu fragen. Christoph Menke bemerkt in seinem Essay »Wozu Ästhetik?« »eine unübersehbare akademische Ermattung der Ästhetik, die in den letzten 10 Jahren eingetreten« sei,85 und stellt fest, daß sie die übrigen Teildisziplinen weder beeinflusse noch von ihnen beeinflußt werde. Dieses Phänomen führt er auf eine mit dem Versuch der Selbstversicherung einhergehende Beschränkung auf im engeren Sinne kunstphilosophische Probleme zurück und fordert eine Rückbesinnung der Disziplin auf die Baumgartensche

Das Buch B. Naumanns bildet die Ausnahme. Georg Simmel war einer der akademischen Lehrer Cassirers. Sein Formbegriff reflektiert die Dialektik zwischen individueller Besonderheit und allgemeiner Gesetzlichkeit. Zum Verhältnis zwischen Simmel und Cassirer vgl. W. Geßner, Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur, Weilerswist 2003. Geßner konstatiert, daß die philosophische Konzeption Cassirers in »eminenter Weise mit derjenigen Simmels verknüpft« sei (S. 21). »Die ›Formung‹ als terminus technicus zur Bezeichnung jener ›Abstraktion‹, durch die aus der Fülle der Phänomene die einzelnen Kulturgebiete entstehen, ist neben der Verkörperung bzw. Symbolisierung eine […] fundamentale Bestimmung, die Simmels Philosophie der Kultur mit derjenigen Cassirers teilt.« (S. 108). Zur unterschiedlichen Zeiterfahrung und vor allem Wertung von Cassirer und Simmel siehe G. Peters, »Prometheus und die »Tragödie der Kultur. Goethe – Simmel – Cassirer«, in: B. Naumann/B. Recki (Hg.), Cassirer und Goethe, der die tragische Auff assung des Kulturprozesses Simmels einer dezidiert nicht-tragischen Cassirers gegenüberstellt. 84 K. R. Mandelkow, »Bemerkungen zum Goethebild Cassirers«, in: B. Naumann/B. Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. 85 Ch. Menke, »Wozu Ästhetik?«, in: Information Philosophie 2003/3, S. 5. 82

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Defi nition der Ästhetik, die in einem Unternehmen »Kunsttheorie und Epistemologie« zusammengeführt habe. Beide Teile seien nicht voneinander zu trennen, da das »Verständnis der besonderen, ›kunstvollen‹ Weisen sinnlichen Erfassens« ein besseres Verständnis davon ermögliche, »was sinnliches Erfassen überhaupt und in seiner gewöhnlichen Form ist«. Die ästhetische Reflexion zeige u. a., daß »sinnliches Erfassen sich nicht nur als ein kausales Geschehen, sondern als ein Vollzug eigener Normativität analysieren« lasse und erzwinge somit eine »Umstellung der philosophischen Grundbegriffe«. Wie weitreichend diese Konsequenzen seien, lasse sich z. B. an Cassirers Philosophie zeigen.86 Reflexionen darüber, was sinnliches Erfassen im allgemeinen ausmacht, werden jedoch trotz Ermüdungserscheinungen der philosophischen Ästhetik weiterhin angestellt. Die umfangreiche Bibliographie allein zum Thema »Sehen«, die Ralf Konersmanns Kritik des Sehens 87 im Anhang bietet, ist beachtlich. Nur tragen solche Diskussionen gegenwärtig nicht den Titel Ästhetik, sondern heißen eben Kritik des Sehens, Bildkritik oder Philosophie der Wahrnehmung. Die von Menke beschriebenen Zusammenhänge von Epistemologie und Kunsttheorie drohen über die Parzellierung der Disziplinen jedoch verlorenzugehen. Aktuelle Diskussionen bspw. über das Verhältnis zwischen »Text« und »Bild« oder die seit Jahrtausenden problematische Beziehung zwischen Philosophie und Literatur auf der Höhe (oder in der Tiefe) der von der Tradition bereits erarbeiteten epistemologischen Zusammenhänge werden dadurch zumindest erschwert. Eine Betrachtung der Ästhetik Cassirers muß vor dem Hintergrund der Begriffstransformation stattfi nden, die er in der Wahrnehmungstheorie und Epistemologie vornimmt, da sie nur in diesem Kontext ihre Bedeutung entfalten kann. Es läßt sich zeigen, daß Cassirers Grundlegung eines avancierten Begriffs von Kunstwerken sowie seine Hermeneutik kultureller Gegenstände eine Alternative bietet zu der Aufspaltung der Ästhetik einerseits in eine subjektivistische Untersuchung ästhetischer »Erfahrung« und andererseits in eine durch szientifi sche Tendenzen gekennzeichnete Literatur- bzw. Kulturwissenschaft, die »Praktiken« aber keine »geistigen Gegenstände« untersucht und sich vom Menschen, der »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« 88 verschwinde, abwendet. Cassirers Ästhetik ist eine Ästhetik im Zeichen des Menschen.

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Ebd. S. 6. R. Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig 21999. M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt/Main 81989, S. 462.

TEIL I: DI E ÄSTH ETISCH E VORGESCHICHTE DER SYM BOLPHILOSOPHI E ER NST CASSIR ERS

Kapitel 1 Zur Entwicklung der »Grammatik der symbolischen Formen«. Cassirers Rezeption von Leibnizens Methodenlehre und Monadologie a) Einleitung Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen sowie der vierbändigen von Ernst Cassirer herausgegebenen LeibnizAusgabe. Es zeigt, wie Cassirer unter Bezugnahme auf die Methodenlehre und die metaphysisch geprägte Ästhetik Leibnizens erste Schritte in Richtung auf eine Diversifi zierung von geistigen (später: symbolischen) Formen unternimmt. Der monadologische Formbegriff Leibnizens, den Cassirer für die Qualifi zierung der Kunst als von der Logik unterschiedene Verknüpfungsweise geistiger »Elemente« aufnimmt, erhält eine empirische Bestätigung durch die Gestaltpsychologie, die er während der Abfassung von Substanzbegriff und Funktionsbegriff rezipiert. Parallel zu dem entstehenden polymorphen Formbegriff entwickelt er ein diesem Formbegriff adäquates Verständnis von Wahrnehmung. Die »ästhetische«, nicht begriffl ich zergliedernde, sondern Gestalten erfassende Wahrnehmung hat dabei paradigmatischen Charakter. Die Bedeutung der Leibnizrezeption für Ernst Cassirers Symbolphilosophie ist in der Forschung unumstritten. Die Anknüpfungen Cassirers an den Symbolbegriff Leibnizens bedürfen jedoch weiterer Auf klärung, denn es ist nicht der buchstäblich auf der Hand liegende Begriff der »symbolischen Erkenntnis« aus Leibnizens Methodenlehre, auf den Cassirer sich in der Konzeption der symbolischen Formen bezieht. Dieser logisch-instrumentelle Begriff, der demjenigen der »intuitiven Erkenntnis« (wenn auch nicht unvermittelt) gegenübersteht, ist mit der Bedeutung, die das Symbol für Cassirer hat, nicht kompatibel: Bei Leibniz ist die »symbolische Erkenntnis« tendenziell negativ konnotiert; Symbole haben für ihn in diesem Kontext ausschließlich die provisorische Funktion von »Rechenmarken«. In Abschnitt b) des ersten Kapitels ist somit die Leibnizsche Differenzierung von dunklen und klaren, distinkten und verworrenen, inadäquaten und adäquaten sowie symbolischen und intuitiven Formen der Erkenntnis und ihre Rezeption durch Cassirer thematisch. Dem Leibnizschen Projekt einer scientia generalis, in dessen Dienst die Methodenlehre steht, ist das Cassirersche Anliegen, eine »allgemeine Formwissenschaft« zu begründen, verwandt. Die scientia generalis Leibnizens kann ihrem enzyklopädi-

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Teil I · Kapitel 1

schen Anspruch nach Cassirer jedoch wegen des zugrundeliegenden eingeschränkten Formverständnisses nicht genügen, denn die Relationen, die zwischen Denkinhalten bestehen können, sind nicht sämtlich durch die logische Begriffsform zu erfassen. Cassirers Versuch der Erweiterung der Erkenntnistheorie, die sich auf die mathematische Erkenntnisform bezieht, auf die Produkte aller kreativen Kräfte des Bewußtseins geht zwar von der Leibnizschen These der grundsätzlichen Angewiesenheit des Denkens auf sinnliche Zeichen aus. Der Begriff des Zeichens, den Cassirer verwendet, ist jedoch nicht mit dem des »Symbols« der »symbolischen Erkenntnis« Leibnizens identisch, denn der ›ästhetische‹ – sinnlich wahrnehmbare – Ausdruck ist für Cassirer eine conditio sine qua non des Denkens. Er erforscht die ästhetische Seite der Anschauung, die auch für Kant als Pendant zum Begriff für das Denken unverzichtbar, jedoch in ihrem sinnlichen Charakter nicht thematisch geworden ist. Der Abschnitt c) erläutert die Cassirersche Aufnahme der Leibnizschen These von der Zeichenhaftigkeit des Denkens und zeichnet erste Schritte des Weges nach, auf dem er die Mängel der scientia generalis entdeckt und zu überwinden versucht. Cassirer reagiert auf diese Unzulänglichkeiten durch eine Erweiterung des Formbegriff s, für die er durch Leibniz selbst wesentliche Anregungen erhält. Die in der Monadenlehre konzipierte und in der Ästhetik exemplifi zierte Form der Harmonie ist von derjenigen der Logik unterschieden. Dem Geschmacksurteil, das sich auf derartig verknüpfte Komplexe bezieht, geht es nicht – wie dem Erkenntnisurteil – um den Aufweis widerspruchsfreier Begriffe durch Analyse, sondern um das Auffassen und die Beurteilung eines individuellen Ganzen. Kunstwerke stellen Komplexe dar, deren besondere ästhetische Qualität durch Zergliederung nicht erfaßt wird. Abschnitt d) zeigt, wie Cassirer unter Bezugnahme auf die Leibnizsche Metaphysik die Kunst als erste, von der mathematisch-logischen Begriffsform unterschiedene (symbolische) Form entdeckt und diese Entdeckung für die Entwicklung einer »Grammatik der symbolischen Formen« fruchtbar macht. Entgegen der verbreiteten Meinung kann begründet werden, daß die ästhetischen Phänomene im weiteren Sinne bei Leibniz nicht vollständig in der Sphäre der Logischen aufgelöst werden, sondern einen Eigenwert für sich reklamieren. Leibniz differenziert zwischen dem Schönen als einem Phänomen, das den Menschen in seiner Sinnlichkeit affiziert, und seiner rationalen Erklärbarkeit. In Abschnitt e) werden verschiedene Positionen der Forschung bezüglich der Autonomie des Ästhetischen bei Leibniz diskutiert. Es wird gezeigt, daß die Leibnizschen Analysen von Wahrnehmungsphänomenen in einem sehr viel stärkeren Maße für das Projekt einer Philosophie der symbolischen Formen in Anspruch genommen werden können, als es durch Cassirer, der sich der Leibnizschen Ästhetik vorrangig über die Metaphysik genähert hat, geschehen ist. Die systematische Beschäftigung mit der logischen Begriffsform in seiner Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff führt Cassirer zunächst von den Ergebnissen weg, zu denen er in der Beschäftigung mit der Leibnizschen Metaphysik gelangt ist. Von

Zur Entwicklung der »Grammatik der symbolischen Formen«

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seiten der Gestalttheorie erhält er jedoch überraschend eine Bestätigung der in der Leibnizrezeption entwickelten Annahme, daß es »psychische Gegenstände« gibt, die als komplexe Gestalten wirken. Beispiele für solche »Gegenstände höherer Ordnung« lassen sich in der Kunst fi nden. Abschnitt f ) thematisiert Cassirers Problematisierung des traditionellen Materie-Form-Verhältnisses in Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Im Zentrum steht seine Rezeption der Wahrnehmungstheorie. In einem Exkurs wird die thematisch ähnlich gelagerte Symbolphilosophie Susanne K. Langers zur Vertiefung herangezogen.

b) Die Begriffe der symbolischen und der intuitiven Vorstellung bei Leibniz und ihre Rezeption durch Cassirer Leibniz träumt von einer scientia generalis. Er hat das leidenschaftliche Bedürfnis, in dem Gemischtwarenladen der Erkenntnis aufzuräumen, »der mit Waren aller Art vollkommen versehen ist, in dem aber keine Ordnung herrscht und kein Verzeichnis vorhanden ist«.1 Von der richtigen Anwendung der beiden Methoden Analysis und Synthesis hänge es ab, daß die vielfältigen Beobachtungen vergangener Zeiten nutzbringend eingesetzt werden können. Dazu sei ein »Alphabet des Denkens« vonnöten, welches es ermögliche, »die sinnliche Vielfalt der Bewußtseinsinhalte« in eine »bestimmte Anzahl einfacher Elemente« aufzulösen, sie zu bezeichnen, zu sortieren und durch Synthese oder Kombination rechnerisch zusammenzusetzen.2 Um die Notwendigkeit der Verwendung von Zeichen zu erläutern, unterscheidet er verschiedene Formen der menschlichen Erkenntnis bzw. Vorstellung. Er unterteilt sie in dunkle (obscure) und klare (claire), die klaren wiederum in deutliche bzw. distinkte (distincte) und verworrene (confuse), in adäquate und inadäquate und schließlich in symbolische und intuitive Formen.3 »De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et judicandi«, in den von Artur Buchenau übersetzten und mit Anmerkungen und Einleitungen von Ernst Cassirer herausgegebenen Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie I, Erstaufl age Leipzig 1904, hier zitiert nach der Neuausgabe Hamburg 1996 als HS I, S. 31. Zu den vielf ältigen konkreten Absichten, die Leibniz mit der scientia generalis verfolgte, vgl. H. Busche, Leibniz’ Weg ins perspektivische Universum. Eine Harmonie im Zeitalter der Berechnung, Hamburg 1997, S. 130–135. 2 Buchenau übersetzt »Alphabetum cogitandi« mit »Alphabet des Denkens«, Cassirer spricht in seiner Einleitung zu den Hauptschriften bzw. in seiner 1902 erschienenen Monographie Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (ECW 1) von einem »Alphabet der Gedanken«. Bei Kant kehrt die Metapher von der »Alphabetisierung« der Vorstellungen wieder. Bei ihm sind die Verstandesbegriffe dazu da, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können« (Prolegomena, § 30, vgl. auch KrV B 370 f.). Cassirer zitiert diese Stelle wiederholt – wenn auch in produktiver Fehllektüre. Siehe dazu unten, Teil II, Kapitel 1, Abschnitt b). 3 Vgl. »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: HS I, S. 9, aber auch »Metaphysische Abhandlung«, in: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übersetzt von Artur Buchenau, mit Einleitungen und Anmerkungen herausgegeben von Ernst Cassirer, Leipzig 1904, 1

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Teil I · Kapitel 1

Die gebräuchliche Ausdrucksweise ›daran erinnere ich mich nur dunkel‹ spiegelt etwas davon wieder, was Leibniz unter »obscure« verstanden haben mag. Die Vorstellung einer Pfl anze, die Alexander der Große im Traum gesehen habe und an die er sich nach dem Aufwachen nicht hinreichend habe erinnern können, um sie wiederzuerkennen, nennt Leibniz dunkel.4 Auch eine »Idee«, der die »ursprüngliche Genauigkeit fehlt« oder die »durch die Zeit matt und welk« geworden ist, bezeichnet er als dunkel.5 Darüber hinaus nehme man »sinnliche Dinge« häufig nur dunkel wahr: »Es gibt Farben, die einander so nahe stehen, daß man sie nicht voneinander unterscheiden kann« 6. Sinnliche Qualitäten nennt Leibniz daher auch dunkle oder »verborgene Qualitäten«.7 Leibniz geht davon aus, daß es in der Seele keine absolute Ruhe, sondern »daß es in jedem Augenblick in unsrem Innern eine unendliche Menge von Perzeptionen gibt, die aber nicht von Apperzeption und Reflexion begleitet sind, sondern lediglich Veränderungen in der Seele selbst darstellen, deren wir uns nicht bewußt werden«.8 Er nennt sie »petites perceptiones«. Sie sind durch Dunkelheit gekennzeichnet, da sie dem »Vorstellenden« nicht bekannt werden, somit »unmerklich« bleiben.9 Als Gründe dafür, daß diese Perzeptionen nicht ins Bewußtsein gelangen, gibt Leibniz an, daß sie »zu schwach und zu zahlreich oder zu gleichförmig«10 sind, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen.11 im folgenden zitiert nach der Neuausgabe von 1996 als HS II, § 24, und Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Ernst Cassirer, Leipzig 1915, im folgenden zitiert nach der Neuausgabe Hamburg 1996, § 29. 4 Neue Abhandlungen, S. 247. Vgl. auch »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: HS I, S. 9. 5 Neue Abhandlungen, S. 244 f. 6 Ebd., S. 245. 7 Vgl. den Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen (1702) »Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt« (Lettre touchant ce qui est indépendant des sens et de la matière), in: HS II, S. 580 f. 8 Neue Abhandlungen, S. 10. 9 Ebd., S. 9–15. 10 Ebd., S. 10; vgl. auch »Metaphysische Abhandlung«, in: HS II, S. 383. 11 Leibniz spricht an anderer Stelle von »einer Art Echo« der Perzeptionen, das bei den unmerklichen Perzeptionen ausbleibt. Vgl. »Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade«, in: HS II, S. 594. Hubertus Busche formuliert diesen Sachverhalt in Leibniz’ Weg, S. 255, treffend: »Leibniz hat die unmerklichen Empfi ndungen […] genau deshalb »petites perceptiones« genannt, weil ihr geringes Intensitätsquantum den Trägheitswiderstand der Reizschwelle nicht zu überschreiten vermag.« Busche spricht von einer Skala der »Grade obskurer und klarer Erlebnisse« (S. 118 f.). Auch die Beschreibung der Bewußtwerdung durch Friedrich Gaede ist hilfreich für das Verständnis des Verhältnisses von Perzeption und Bewußtsein: »Für Leibniz macht nicht nur der ununterbrochene Strom unbewußter oder ›unmerklicher‹ Perzeptionen die Aktivität der menschlichen Seele aus, sondern aus diesem Strom entstehen stufenweise die bewußten Vorstellungen des Menschen. Es ist die Funktion des Bewußtseins, durch Bestimmen, Unterscheiden oder Selektieren das bislang Unbewußte sowie Ungeschiedene und darum Dunkle an das Licht des Tages zu holen, als endliches Wissen wirklich werden zu lassen.« Siehe

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Während man sich an dunkle Vorstellungen nicht oder nur schwach erinnern kann, läßt sich in klarer Vorstellung Repräsentiertes wiedererkennen. Klarheit ist somit das Kennzeichen einer Vorstellung, die die Schwelle zum Bewußtsein überschritten hat, d. h. der Apperzeption und der genauen Erinnerung zugänglich (geworden oder geblieben) ist. 12 Klare Vorstellungen können distinkt bzw. deutlich oder verworren bzw. undeutlich sein: »Kann ich eine Sache unter andren gleichartigen erkennen, ohne imstande zu sein, zu sagen, worin ihre Unterschiede oder ihre Eigentümlichkeiten bestehen, so ist diese Erkenntnis verworren.«13 »[U]nsere unbestimmten Eindrücke, unser Geschmack, unsere Wahrnehmungsbilder der sinnlichen Qualitäten [sind] alle in ihrem Zusammensein klar, jedoch ihren einzelnen Teilen nach verworren«.14 Dabei gibt es zum einen verworrene Vorstellungen, die wir aufgrund der »Unvollkommenheit unserer Natur«15 nicht auflösen können, die also zu der spezifi schen conditio humana gehören. Solche Vorstellungen sind nach Leibniz z. B. Gerüche und Geschmäcke. Eine verworrene Vorstellung, deren Auf klärung jedoch

F. Gaede, »Leibniz’ Begriff der Möglichkeit und literarische Antizipation«, in: F. Gaede/C. Peres, Antizipation in Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinäres Erkenntnisproblem und seine Begründung bei Leibniz, Tübingen/Basel 1997, S. 88. Leibniz wendet sich mit der Konzeption der »petites perceptiones«, d. h. mit der Behauptung einer Seelenaktivität unterhalb der Bewußtseinsschwelle als »Wissens- und Werdegrund« der Erkenntnis, gegen Descartes. Vgl. seine »Monadologie«, § 14, und Neue Abhandlungen, S. 9. 12 Wolfram Hogrebe nennt die »cognitio clara« den Bereich »wahrheitsf ähiger und auf Reidentifi kation gründender Erkenntnis«. Siehe Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt/Main 1992, S. 67. Klaus Erich Kaehler beschreibt den Vorgang der Bewußtwerdung von Perzeptionen als den Schritt, in dem die Monade »ihr Vorgestelltes auch von sich unterscheidet, d. h. indem ihre Perzeption die Stufe der Klarheit erreicht […] Klarheit bedeutet Unterscheidung eines Gegenstandes von anderen kopräsenten Gegenständen und Gegebenheiten überhaupt. Erst in solcher Unterscheidung ist ein Gegenstand bestimmt, und damit wiederum überhaupt erst ein Gegenstand.« Siehe K. E. Kaehler, »Leibniz’ metaphysische Begründung der Möglichkeit rationaler und ästhetischer Antizipation«, in: F. Gaede/C. Peres, Antizipation in Kunst und Wissenschaft, S. 45. Über die Wiedererkennbarkeit hinaus hat Leibniz das Merkmal »Klarheit« nicht defi niert. 13 »Metaphysische Abhandlung«, in: HS II, S. 371. 14 Siehe Neue Abhandlungen, S. 11. Vgl. auch S. 246. Busche gibt eine aus der Leibnizschen Physiologie abgeleitete Erklärung für die Verschwommenheit der Sinneswahrnehmungen. Vgl. Busche, Leibniz’ Weg, S. 66 f. Nach seiner Interpretation können Sinneswahrnehmungen mit Ausnahme der optischen nicht distinkt sein. »Sie bringen nur ein nescio quid zum Erlebnis, das allenfalls ›klar‹, d. h. ohne Angebbarkeit von Kriterien wiedererkennbar ist. Weil sie keine fi gurierte Mannigfaltigkeit vorstellig machen, bleiben sie undeutlich oder inexplikabel«. Hinsichtlich der Qualifi zierung der Sinneswahrnehmungen ist Leibniz nicht eindeutig. Während er sie in den Neuen Abhandlungen als klar bezeichnet, stellen sie in dem oben erwähnten Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen »dunkle Qualitäten« dar. 15 Neue Abhandlungen, S. 246. Leibniz schließt allerdings eine langfristige Verbesserung der Sinnesorgane durch Übung nicht aus.

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Teil I · Kapitel 1

in unserer Macht steht, da geeignete Analysemethoden zur Verfügung stehen, ist z. B. die Verwechslung falschen Goldes mit echtem. Wiederholt gibt Leibniz für eine der spezifisch menschlichen Sinneswahrnehmung geschuldete klare, aber konfuse Vorstellung das Beispiel des Meeresrauschens, das als Ganzes klar erkannt wird, dessen Zusammensetzung aus den Geräuschen einer Vielzahl von Wellen jedoch nicht in sich differenziert werden kann: »Ähnlich kommt ja auch das verworrene, dumpfe Rauschen, das man bei Annäherung an den Meeresstrand vernimmt, von der Anhäufung der Geräusche, die durch das Zurückprallen unzähliger Wellen entstehen. Wenn es nun unter mehreren Perzeptionen – die sich nicht zu einer einzigen vereinigen – keine gibt, die über die andren herausragt, wenn also der Eindruck von ihnen allen gleich stark ist und die Aufmerksamkeit der Seele in gleicher Weise auf sich zieht, dann kann die Seele dieselben nur auf verworrene Weise wahrnehmen.«16 Eine Wahrnehmung kann somit für die Sinne klar sein und für den Verstand dennoch undeutlich bleiben.17 Für die deutliche oder distinkte Vorstellung ist kennzeichnend, daß sich in der Analyse der Vorstellung verschiedene Merkmale differenzieren lassen, so daß sie auch von der Vorstellung ähnlicher Gegenstände unterscheidbar ist. Das logische Kriterium der begriffl ichen Klarheit ist somit die Analysierbarkeit und Definierbarkeit einer Vorstellung. Können nun alle Merkmale unterschieden werden, ist die Vorstellung adäquat. Jedoch gesteht Leibniz ein, daß diese vollständige Zerlegung einer Vorstellung in Merkmale dem Menschen vielleicht nicht möglich sei.18 Die Menge der einzelnen vorzustellenden Merkmale kann das Fassungsvermögen des menschlichen Geistes überschreiten. Die distinkte Erkenntnis hat somit »Grade«, »denn für gewöhnlich hätten die in die Defi nition eingehenden Begriffe selbst eine Defi nition nötig und werden nur verworren erkannt«.19 Da wir sehr komplexe Sachverhalte nicht auf einmal überschauen können, verwenden wir in der Analyse Zeichen (Charaktere, Symbole), die es uns erlauben, die Analyse voranzutreiben, ohne ständig auf die Bedeutung der Zeichen rekur-

»Metaphysische Abhandlung«, in: HS II, S. 383, und Neue Abhandlungen, S. 10 f., sowie »Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade«, in: HS II, S. 599. Dieses Beispiel eines Höreindrucks, das zur Erläuterung der Verworrenheit sinnlicher Wahrnehmungen dient, wird auch zur Erklärung der »petites perceptions«, d. h. der dunklen Perzeptionen verwendet. 17 Vgl. U. Franke, Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander von Baumgarten, Wiesbaden 1972, S. 45 f. Perzeptionen können »confuse par rapport à l’entendement«, jedoch »claire aux senses« sein. In ihnen liegt, so Heimsoeth, »eine anschauliche Erkenntnis, die ›unbezweifelbar‹ und innerhalb dieses Gebietes letztlich ist«. Bei »klaren Perzeptionen« und »distinkten Begriffen«, faßt Heimsoeth treffend zusammen, handelt es sich »um heterogene Erkenntnissphären«. Siehe H. Heimsoeth, Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz, Gießen 1912/14, S. 256. 18 Vgl. »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: HS I, S. 11. 19 »Metaphysische Abhandlung«, in: HS II, S. 371. 16

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rieren zu müssen. Es genügt, daß wir sie bei Bedarf erklären könnten.20 So ist es möglich, bestimmte Objekte zu denken bzw. mit Vorstellungen von Objekten zu operieren, deren Merkmale wir aufgrund ihrer Vielzahl nicht zugleich präsent haben können.21 Leibniz gibt das Beispiel eines Tausendecks: Wir wissen, was ein Tausendeck ist, weil wir wissen, was eine Seite ist, was gleiche Seiten sind und daß die Zahl tausend dasselbe ist wie 10 mal 10 mal 10. Da wir Vorstellungen von diesen Bestandteilen der Vorstellung »Tausendeck« haben und die Vorstellung »Tausendeck« aus diesen Bestandteilen zusammensetzen können, dürfen wir davon ausgehen, daß der Begriff des Tausendecks widerspruchsfrei denkbar ist, ohne daß wir uns 1000 Seiten vorstellen müssen.22 Eine solche klare und deutliche Erkenntnis, die durch Analyse und unter Zuhilfenahme von überschaubaren Vorstellungen (oder durch »Einschaltung vermittelnder Glieder« 23) zustande kommt, nennt Leibniz symbolisch.24 Er bezeichnet sie auch als »blind« 25, da wir keine korrespondierende Anschauung des Sachverhaltes haben, von dem wir dennoch eine Vorstellung besitzen.26 Symbole sind Abbreviaturen;

20 Cassirer erklärt die Funktion der Zeichen bei Leibniz folgendermaßen: »Charaktere sind Dinge […] deren Behandlung indessen leichter als die der Objekte selbst ist. So entspricht jeder Operation in den Charakteren irgendeine Aussage in den Objekten, und wir können die Behandlung der Gegenstände selbst oft bis zum Ende des Verfahrens aufschieben.« Siehe Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 2 (ECW 3), S. 139 f. – Cassirer zitiert hier Leibnizens, »Characteristica geometrica« (10. August 1679), in: Leibnizens Mathematische Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Halle/Saale 1855–1863, Bd. V, S. 141: »Characteres sunt res quaedam […] quarum facilior est quam illarum tractatio. Itaque omni operationi, quae fit in characteribus, respondet enuntiatio quaedam in rebus: et possumus saepe ipsarum rerum considerationem differe usque ad exitum tractationis.« 21 Cassirer nennt diese Vorstellungen (frz. images) »Bilder« und stellt ihnen, denen als »Geschöpfen der Einbildungskraft« nicht der »Charakter der Gewißheit« eigne, die »distinkten Ideen« gegenüber, »deren Inhalt sich in einer allgemeingültigen Defi nition« festhalten lasse. Vgl. ECW 3, S. 121. 22 Vgl. »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: HS I, S. 11, oder auch die »Metaphysische Abhandlung«, in: HS II, S. 372 f., in der Leibniz ebenfalls auf dieses Beispiel eingeht. 23 Siehe E. Cassirer, Freiheit und Form. Studien zu deutschen Geistesgeschichte, Erstausgabe Berlin 1916, im folgenden zitiert nach der Hamburger Ausgabe als ECW 7, S. 27. 24 In der »Metaphysischen Abhandlung«, in: HS II, S. 371, spricht er nicht von »symbolischer«, sondern von »suppositiver« Vorstellung und akzentuiert damit, daß diese Vorstellungen Voraussetzungen enthalten, die wir nicht deutlich erkennen. Im folgenden Abschnitt führt er aus, daß wir bei solchen Vorstellungen gelegentlich nur voraussetzen, etwas zu erkennen. 25 »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: HS I, S. 11. 26 Vgl. zu der Bezeichnung »blind« für die symbolische Erkenntnis auch F. Gaede, »Dichtungen als Monaden der Geschichte. Zu einer Frage Manfred Eigens«, in: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, Vorträge II. Teil, Hannover 18. – 23. Juli 1994, S. 134–145, hier S. 139 f. Bei Kant fi ndet sich diese Metapher wieder, er dreht sie jedoch um. Nicht Vorstellungen, die wir uns nicht anschaulich machen können, sind für ihn blind, sondern Anschauungen,

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sie ersetzen »auseinandergefaltete Anschauungen«.27 Da Leibniz diese cogitationes caecas an anderer Stelle auch »taub« nennt, wird deutlich, daß er ganz allgemein das Fehlen von sinnlicher Prägnanz meint: »Blinde« oder »taube« Gedanken sind »leer von Anschauung und Empfi ndung und [bestehen] in der bloßen Anwendung von Zeichen«. »Man denkt oft in Worten, fast ohne den Gegenstand selbst im Geiste zu haben.« 28 Leibniz kennt jedoch auch eine andere Erkenntnis als die symbolische. Zwar sei das Denken der zusammengesetzten Vorstellungen »für gewöhnlich nur symbolisch« 29, doch schließt er die Möglichkeit einer Vorstellung, in der wir ihre einzelnen Elemente nicht isoliert betrachten, nicht aus. Er schränkt ein, daß wir, »wenn eine Vorstellung sehr zusammengesetzt ist, nicht alle in sie eingehenden Merkmale zugleich denken« können 30, und fügt hinzu, daß er, »wo dies dennoch möglich ist, und in dem Maße wie es möglich ist« 31, diese Erkenntnis intuitiv nennt: »[W]enn mein Geist wie mit einem Blick und in distinkter Weise alle ursprünglichen Bestandteile eines Begriffes erfaßt, dann besitzt er eine intuitive Erkenntnis desselben, die indes sehr selten ist, da die meisten menschlichen Erkenntnisse nur verworren sind, d. h. bestimmte, nicht weiter zerlegte Voraussetzungen enthalten (la pluspart des connoissances humaines n’estant que confuses ou bien suppositives).« 32 Der symbolischen, sukzessiven Erkenntnis setzt Leibniz also das Zugleichdenken der Elemente einer komplexen Vorstellung oder das Zugleichdenken eines (komplexen) Teils einer komplexen Vorstellung entgegen. Die Formulierung »in dem Maße wie es möglich ist« weist darauf hin, daß es auch ›Mischformen‹ geben kann, d. h. komplexe Vorstellungen, von denen einige Merkmale bereits unterschieden sind, andere nicht.33 Die vollkommene Vorstellung ist für Leibniz die intuitive und distinkte Vorstellung, d. h. diejenige Vorstellung, in der alle Merkmale zugleich und dennoch differenziert vorgestellt werden können. Die symbolische Erkenntnis ist für Leibniz, gemessen am Ideal der intuitiven, eine mangelhafte. Symbole stellen nur Hilfsmittel dar, auf die bei einfach strukturierten bzw. aus wenigen Merkmalen bestehenden Vorstellungen verzichtet werden kann,

denen kein Begriff korrespondiert (vgl. KrV B 75 und A 112). Kant nennt auch die Einbildungskraft sowie ihre »rohen und verworrenen« Produkte »blind« (vgl. KrV B 103). 27 H. Busche, Leibniz’ Weg, S. 151 f. 28 Neue Abhandlungen, S. 164. Für Leibniz sind solche Gedanken auch »schwach«. Für eine starke Wirkung bedürfe es einer »lebendigen Anschauung«. 29 »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: HS I, S. 11. 30 Ebd., Hervorh. M. L. 31 Ebd. 32 »Metaphysische Abhandlung«, in: HS II, S. 371. 33 Als Beispiel läßt sich die Lektüre eines schwierigen Gedichtes vorstellen, die zwar einige Strukturen, Bezüge, Wortfelder etc. bereits identifi ziert hat, das Gedicht als Ganzes jedoch noch nicht erschlossen hat.

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und erfahren somit trotz ihrer erläuterten Notwendigkeit und Nützlichkeit durch Leibniz nicht die emphatische Würdigung, die Cassirer ihnen später in seiner Symbolphilosophie angedeihen läßt. Cassirer ist sich dieses Stellenwertes der Symbole bei Leibniz bewußt und schreibt: »[I]nnerhalb dieses Entwurfs [der characteristica] bleibt das Symbol, wie wir sahen, darauf beschränkt, das Zeichen und die abgekürzte Wiederholung eines Inhalts darzustellen. Es bildet daher nur ein technisches Mittel, das wir innerhalb des Verfahrens der Begriff srechnung festhalten, das wir jedoch im fertigen Ergebnis wiederum durch die zugehörige sachliche Grundbedeutung ersetzen. Das endgültige Ziel des Denkens ist nicht auf die Bewahrung, sondern auf die Auf hebung des figürlichen Inhalts gerichtet.«34 Leibnizens »symbolische Vorstellung« in ihrer besonderen Bedeutung für die »Begriff srechnung« hat somit nicht Pate gestanden für den später von Cassirer entwickelten komplexeren Begriff der symbolischen Form.35 Die Bedeutung der Zeichen geht in der Cassirerschen Konzeption über die eines »technischen Hilfsmittels« weit hinaus, und so wendet er sich zunächst gegen Leibnizens Konzeption intuitiver Vorstellungen. Im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen vertritt Cassirer die Ansicht, daß »die ›intuitive Erkenntnis‹ von der bloß ›symbolischen‹« in Leibnizens Methodenlehre »durch einen scharfen Schnitt getrennt« sei.36 Gegenüber der Intuition »als der reinen Schau, als der eigentlichen ›Sicht‹ der Idee« sinke selbst für Leibniz, stellt Cassirer bedauernd fest, »den Urheber des Gedankens der ›allgemeinen Charakteristik‹, alle Erkenntnis durch bloße Symbole auf die Stufe der ›blinden Erkenntnis‹ (cogitatio caeca) herab«.37 Es ist jedoch Cassirer, nicht Leibniz, der diese radikale Trennung vollzieht. Für Leibniz existieren, wie gezeigt, auch Mischformen. Der symbolischen Erkenntnis steht bei ihm nicht »das Ideal des vollkommenen, des urbildlichen und göttlichen Verstandes gegenüber« 38 , sondern es sind für ihn verschiedene Formen menschlicher Erkenntnis. Die intuitive Erkenntnis kann sogar als eine Voraussetzung der symbolischen betrachtet werden. Wir müssen irgendeine Vorstellung von einer komplexen Einheit haben, bevor wir sie analysieren können. Leibniz konstatiert, »daß wir, um die Ideen von solchen Inhalten zu haben, die wir distinkt erkennen, notwendig des intuitiven Wissens bedürfen«.39 Möglicherweise hat Cassirer sich zu diesem »scharfen Schnitt« zwischen der

ECW 1, S. 418 Vgl. hingegen D. Pätzold, der in »Cassirers leibnizianische Begriff slehre als Grundlage seiner kulturhistorischen Symboltheorie«, in: Dialektik 1995/1, S. 97–108, auf die Leibnizsche »cognitia symbolica« eingeht. Er wertet den Begriff als »entscheidendes Stichwort« für Cassirer (S. 101). 36 E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache, (ECW 11), S. 47. 37 Ebd., S. 47 f. 38 Ebd., S. 48. 39 »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, S. 11. 34 35

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symbolischen und der intuitiven Erkenntnis, den er Leibniz zuschreibt, veranlaßt gesehen, um einer (in seiner Sicht) »Degradierung« der Symbole zu reinen technischen Hilfsmitteln entgegenzuwirken. Zu Beginn der Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen muß er das Feld seiner Kulturphilosophie abstecken, die alle Äußerungsformen des menschlichen Geistes umfassen und sie als unauflöslich gebunden an Symbole zeigen soll.40 Es gibt für ihn keine Manifestation des Denkens ohne Symbole. Doch ist die Defi nition der »symbolischen Vorstellung« nicht das einzige, was Leibniz zur Bedeutung von Zeichen für das menschliche Denken sagt, und auch die Cassirersche These von der strikten Opposition von intuitiver und symbolisch vermittelter Erkenntnis bei Leibniz transformiert sich im Laufe der Zeit. Wenige Jahre nach dieser Formulierung im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen fi ndet sich im dritten Band folgende Bemerkung: »Für Leibniz ist das Gebiet der intuitiven Erkenntnis, die sich auf die objektive Verknüpfung der Ideen bezieht, vom Gebiet der symbolischen Erkenntnis, in dem wir es, statt mit den Ideen selber, mit deren stellvertretenden Zeichen zu tun haben, gesondert: Aber die Intuition, auf die er zurückgeht, bildet keine Gegeninstanz zum Logischen, sondern schließt vielmehr das Logische wie das Mathematische als besondere Formen in sich.«41 Die strikte Entgegensetzung hat sich in einer anderen Formulierung sogar in ihr Gegenteil verkehrt: »Denn ebendas, was in der reinen Intuition seiner Bedeutung nach erfaßt ist, muß durch den Prozeß der Formalisierung festgehalten und auf bewahrt, muß als stets verfügbarer Besitz dem Denken einverleibt werden. In diesem Sinne hat schon Leibniz, einer der konsequentesten Vertreter des streng formalistischen Standpunkts, die ›intuitive‹ und die ›symbolische‹ Erkenntnis nicht voneinander getrennt, sondern beide unlöslich miteinander verknüpft.«42 Eine Funktion der intuitiven Erkenntnis erkennt Cassirer nun an: diejenige innerhalb der Dialektik von intuitiver Erkenntnis und symbolischer Erkenntnis.43 Den Begriff der Intuition werden wir darüber hinaus an zentraler Stelle seiner Philosophie der symbolischen Formen – in der Erläuterung des Begriff s der »symbolischen Prägnanz« – wiederfi nden.44 Vgl. ECW 11, S. 49. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil Phänomenologie der Erkenntnis, (ECW 13), S. 418. 42 Ebd., S. 444. Hervorh. M. L. 43 Vgl. ECW 13, S. 415: »Das Intuitive bleibt hierbei immer das ›dem Wesen nach‹ erste, das πρóτερον τ φúσει; aber das Symbolische erweist sich andererseits insofern als unentbehrlich, als es das ›für uns erste‹, das πρóτερον πρòς µς, darstellt. Unser endlicher Verstand ist und bleibt ein der Bilder bedürftiger Verstand: Er würde sich unfehlbar im Labyrinth des Denkbaren verlieren, wenn ihm nicht durch die allgemeine Charakteristik ein Ariadnefaden in die Hand gegeben würde. So bildet in der rein logischen Ordnung, in der Ordnung der ›Gegenstände‹, das Intuitive immer das eigentliche Fundament; aber wir können von uns aus nicht anders zu dieser Basis zurückdringen als dadurch, daß wir unsern Weg durch das Medium der Sinnlichkeit, durch die mittlere Schicht des Symbolischen nehmen.« 44 Vgl. ebd., S. 277, und unten, Teil II, Kapitel 1, S. 141 f. 40 41

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c) Die Funktion von Symbolen für das Denken und der Anspruch der scientia generalis Trotz buchstäblicher Nähe ist es weniger die operative Funktion der Charaktere für die »symbolische Erkenntnis« (an denen der Mangel haftet, bloßes Hilfsmittel zu sein, um die beschränkte Fassungskraft des menschlichen Geistes auszugleichen), ihre Qualität, komplexe Vorstellungen zu zerlegen und zu substituieren, die Cassirers Aufmerksamkeit auf sich zieht, sondern der grundsätzlich zeichenhafte Charakter des Denkens, durch deren Entdeckung Leibniz sich einen herausragenden Platz in der Geschichte der Sprachphilosophie gesichert hat.45 Im »Dialogus« konstatiert Leibniz die allgemeine Angewiesenheit des Denkens auf Zeichen, wenn er feststellt, daß wir, »wenn es keine Zeichen gäbe, niemals etwas deutlich denken oder schließen« würden, und folgert: »Irgendwelcher Charaktere allerdings bedarf man wohl stets zum Denken«.46 Die Zeichen haben somit nicht nur eine temporäre Bedeutung im Erkenntnisprozeß. Sie ermöglichen es, verschiedene Vorstellungen voneinander zu unterscheiden, zu fi xieren und wiedererkennbar zu machen. Das Zeichen vertritt nun nicht mehr die Stelle einer Vorstellung; ohne das Zeichen gäbe es keinen Platz im Geiste, der zu halten wäre: Das Zeichen schaff t diesen Platz erst. »Jedes menschliche Denken vollzieht sich mittels bestimmter Zeichen oder Charaktere«47, die in dieser allgemeinen Theorie der Zeichenhaftigkeit des Denkens am Ende des Denkprozesses nicht – wie beim Rechnen mit Variablen – durch ›eigentliche‹ Inhalte ersetzt werden. Es ist diese Bedeutung der Zeichen, die Cassirer in seiner Symbolphilosophie aufnimmt. Cassirer geht mit Leibniz über Kant in der Hinsicht hinaus, daß er nicht bei der Kantischen These von der prinzipiellen Angewiesenheit des Denkens auf die Anschauung stehenbleibt. Kant konstatiert zwar, daß die Anschauungen sinnlich sind, über die Materialität dieser Sinnlichkeit hat er jedoch nicht reflektiert, zumal Anschauungen ebenso wie Begriffe für ihn »Vorstellungen« sind.48 Cassirer hebt nun nicht auf die prinzipielle Anschaulichkeit eines Gedankens ab, sondern auf die sinnliche Form jedes geistigen Gehaltes. Den enzyklopädischen Anspruch der Leibnizschen scientia generalis nicht nur in der Mathematik, sondern in allen anderen Bereichen des Wissens und des prak45 Wie Massimo Ferrari bemerkt, tritt dieser Aspekt der Leibnizschen Philosophie noch nicht in Leibniz’ System, sondern erst im Erkenntnisproblem in das Zentrum des Cassirerschen Interesses. Vgl. ders., Ernst Cassirer. Dalla scuola di Marburgo alle fi losofi a della cultura, Firenze 1996, zitiert im folgenden nach meiner deutschen Übersetzung Ernst Cassirer. Stationen einer philosophischen Biographie, Hamburg 2003, S. 168. 46 »Dialogus«, in: HS I, S. 6 f. 47 »Vorarbeiten zur allgemeinen Charakteristik«, in: G. W. Leibniz, hg. von C. I. Gerhardt, Die Philosophischen Schriften, Bd. VII, Berlin 1890, zitiert nach dem Nachdruck Hildesheim 1978, S. 204. 48 Vgl. KrV B 93.

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tischen Lebens mit einfachen Elementen nach formalen Gesetzen »rechnen« zu können und sogar »Sätze der Moral und Metaphysik […] nach einem unfehlbaren Rechenverfahren zu beherrschen«49, erklärt Cassirer aufgrund des eingeschränkten Symbolbegriff s der Leibnizschen Methodenlehre jedoch für gescheitert: »Die Beziehungen zwischen den elementaren Grundlagen, die in ihrer Durchdringung die Gesamtheit der möglichen Relationen zwischen Denkinhalten wiedergeben sollen, lassen sich – wie sich alsbald zeigen muß – nicht in einem derart einfachen, gleichförmigen Typus darstellen und festhalten. Die Elemente der Begriffe stehen nicht – wie es der Vergleich mit der Multiplikation und deren kommutativem Gesetz erfordern würde – im Verhältnis der einfachen Nebenordnung, sondern es walten zwischen ihnen sehr verschiedenartige Formen der Verknüpfung und Abhängigkeit, von denen jede ihre gesonderte Betrachtung und ihre selbständige Bestimmung verlangt.« 50 Die Möglichkeit einer »allgemeinen Formwissenschaft« 51 zieht Cassirer jedoch nicht in Zweifel. Den »allgemeinen Formen des Denkens« 52 gilt das Interesse des Philosophen der symbolischen Formen bereits in der Einleitung zu den von ihm herausgegebenen Hauptschriften Leibnizens. Es ist das mathematische Verfahren, das den »sehr verschiedenen Formen und Verknüpfungen« nicht gerecht werden kann: Die characteristica universalis war im wesentlichen »der Versuch eines umfassenden Kategoriensystems, in dem die Grundrelationen zwischen Erkenntnisinhalten, insbesondere die mathematischen Verknüpfungs- und Beziehungsformen wissenschaftlich isoliert und dargestellt werden sollten«.53 Während die Gründe, die Cassirer für das Scheitern des Anspruches der scientia generalis in der Einleitung der Hauptschriften gibt, noch sehr vage formuliert waren, läßt sich in Freiheit und Form bereits ein sehr viel deutlicher artikuliertes Forschungsinteresse und ein Fingerzeig, wie er das Problem zu lösen gedenkt, erkennen: »Seine [Leibnizens] allgemeine Charakteristik ist im wesentlichen eine systematische Lehre von den Denkformen geblieben: Und erst der weiteren Entwicklung war es vorbehalten, die Forderung, die hier für die Erkenntnis gestellt worden war, auf die Gesamtheit aller schöpferischen Kräfte des Bewußtseins auszudehnen.« 54 Cassirer wird auf diese Forderung zum einen durch eine Problematisierung und Ausweitung des Formbegriff s reagieren. Dieses weitere Formverständnis zielt darauf ab, die »Mannigfaltigkeit der gegenständlichen Struktur«55 und – später, in »Characteristica universalis«, in: HS I, S. 20. Siehe Cassirers Einleitung zu den Hauptschriften in: HS I, S. XVII. Hervorh. M. L. 51 HS I, S. XXI. 52 HS I, S. XXXVIII. 53 ECW 1, S. 491. 54 ECW 7, S. 65. Hervorh. M. L. 55 Vgl. »Zur Theorie des Begriff s. Bemerkungen zu dem Aufsatz Georg Heymanns«, in der Hamburger Ausgabe, Band 17, zitiert als ECW 17, S. 86. 49

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den Vorarbeiten zum vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen – auch die nicht-gegenständlichen Symbolisierungen der Kunst begreifen zu können.56 Des weiteren widmet er sich dem Prozeß der Formgebung, und insofern mußte der Blick von der »Verknüpfungsform« auch auf die Elemente der Verknüpfung sowie auf das Entstehen dieser Elemente fallen. »Es zeigt sich alsdann, daß die »mythische« und »theoretische« Welt sich keineswegs darin allein unterscheiden, daß sie verschiedenen Verknüpfungsgesetzen gehorchen: derart, daß ein übrigens gleichartiges, an sich amorphes Material in jeder von ihnen zu anderen Verbindungen zusammengenommen würde. Der Charakter der mythischen wie der der theoretischen ›Synthesis‹ offenbart sich vielmehr, statt in solcher nachträglichen Zusammenfassung, schon in der Besonderheit und Eigenart der Elemente selbst.« 57

d) Das Symbol in der Leibnizschen Ästhetik und seine Bedeutung für die Ausbildung einer »Grammatik der symbolischen Formen« Bereits in Leibniz’ System macht Cassirer neben der allgemeinen Bedeutung für das Denken und der besonderen Funktion als Rechenmarke auf eine andere Konnotation des Symbolbegriffs innerhalb der Leibnizschen Philosophie aufmerksam, die sich im Bereich der Ästhetik fi ndet. Leibniz habe zwar keine selbständige Theorie der Kunst entwickelt, doch seine Monadenlehre enthalte »systematische Spuren«, die zu einem von der Logik unterschiedenen Bereich »selbständiger Wahrheit und Objektivität« 58 führen. In dem knappen, sehr thesenhaften und durch große

Vgl. »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, in: ECN 1, S. 264 sowie unten, Teil II, Kap. 2, Abschnitt g). 57 »Zur Theorie des Begriff s«, in: ECW 17, S. 90 f. Cassirer reagiert mit dem Text, der 1928 in den Kant-Studien erschienen ist, auf einen ebenfalls 1928 am selben Ort erschienenen Aufsatz Georg Heymanns »Zur Cassirerschen Reform der Begriff slehre«. Heymann bezieht sich auf das 18 Jahre zuvor erschienene Buch Cassirers Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Cassirer verortet in seiner Replik (kurz vor Abschluß des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen) die Theorie der logisch-wissenschaftlichen Begriff sbildung innerhalb der »Region« der »Sinngebung«(S. 84). Ihm geht es anstelle einer formalen Begründung des Begriff s um eine »objektive«, die die oben erwähnten mannigfaltigen gegenständlichen Strukturen aufnimmt. Er hält fest, daß sich die »kritische Frage« der »Ur- und Unterschicht« der logischen Begriff sbildung zuwenden (S. 89 f.) und dabei die »Setzung und Bestimmung von Merkmalen« selbst, die in ihrer Verknüpfung die Begriff ausmachen, in den Blick nehmen muß. Eine Untersuchung der »Merkmalsbildung« geht also über eine Theorie der Verknüpfungsformen und -gesetze hinaus. Zu diesem Text, der von der Philosophie der symbolischen Formen aus auf Substanzbegriff und Funktionsbegriff zurückblickt und somit Aufschluß über die Genese des Cassirerschen Begriff s der symbolischen Formen gibt, vgl. D. Pätzold, »Cassirer und das Problem der morphé. Kommentar zu Martina Plümacher«, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Philosophie und Wissenschaften. Formen und Prozesse ihrer Interaktion, Frankfurt a. Main/Berlin/Bern etc. 1997. 58 ECW 1, S. 411. Die Begründung, die Cassirer für das Fehlen einer ausgearbeiteten Äs56

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Sprünge gekennzeichneten Abschnitt zur Ästhetik in Leibniz’ System umreißt Cassirer eine ganze Reihe von Vorformen ästhetischer Theoreme bei Leibniz, die später, in entwickelter Form, in der Kantischen Kritik der Urteilskraft wieder begegnen. Er begreift die Leibnizsche Ästhetik insgesamt als eine »Symbolik des Gefühls«.59 Sowohl die über die Vorstellung vermittelte Bindung des Gefühls an eine sinnliche Gestalt, durch die das Gefühl erst allgemein mitteilbar werde, als auch die interesselose Kontemplation und die Bestimmung des Geschmacks als Organ zur Beurteilung des Schönen fi nden sich bereits bei Leibniz. Obzwar der Begriff sich durchhält, verändert sich die Funktion des Symbols in den metaphysischen Schriften Leibnizens, in denen Cassirer die ästhetischen Implikationen aufweist, gegenüber derjenigen, die es in den methodologischen Schriften innehatte, radikal. Auch der Gegenstandsbereich, dessen Symbolisierung nun verhandelt wird, ist ein anderer. Das Symbol hat in der Ästhetik einen Gehalt zum Ausdruck zu bringen, der sich der analytischen Kalkulation entzieht und durch Fragmentierung nicht begreifen läßt: »Wenn wir somit, um ein äußeres Geschehen zu beschreiben, allenfalls atomistisch Teil an Teil setzen können, so entzieht sich die Gestaltung inneren Lebens von Anfang an jedem derartigen Versuch. Hier gilt jenes Grundverhältnis, daß das Ganze nicht in den Teilen besteht und nicht aus ihrer Gesamtheit hervorgeht, sondern daß es ›früher als die Teile‹ ist« 60, schreibt Cassirer in Freiheit und Form. Die Leibnizsche Monadenlehre, die den Gedanken dieses »Grundverhältnisses« entwickelt und in deren Kommentierung Cassirer zum ersten Mal den Begriff der »symbolischen Form« erwähnt,61 kann hier nicht ausführlich nachgezeichnet werden. Im folgenden soll es vorrangig um die besondere Form oder Gestalt dieses Ganzen, das die Monade beispielhaft symbolisiert, im Unterschied zur Form des mathematisierbaren Gedankens gehen. Nach Cassirer zielt die gesamte Monadenlehre auf die Entwicklung eines Begriff s des Ichs, der im Selbstgefühl repräsentiert wird. Monaden sind keine Gegenstände, keine Elemente »äußeren Geschehens«, sondern der Ausdruck für die Einheit einer Mannigfaltigkeit von Zuständen, Vorstellungen, Gefühlen etc. eines

thetik bei Leibniz gibt, ist jedoch fragwürdig: Es habe zu Leibnizens Zeiten eine »künstlerische Kultur« gefehlt, die einen Hinweis auf eine eigene Gesetzlichkeit des Bewußtseins habe geben können. Interessant ist, daß der Zugang zur Kunst hier über eine entsprechende »Kultur« gesucht wird. Der Blick auf die Phänomene ist so ein vermittelter. Cassirer orientiert sich, seiner neukantischen Herkunft entsprechend, zumeist an den entsprechenden Wissenschaften der Phänomene, die er untersuchen will, ohne die Phänomene selbst in den Blick zu nehmen (so auch in der Philosophie der symbolischen Formen). Vgl. hierzu A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 86 f. 59 Ebd., S. 419. 60 ECW 7, S. 47. Hervorh. M. L. 61 Vgl. hierzu M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 163–182.

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Subjektes, die in einem Verhältnis der »Harmonie« zueinander stehen.62 Der »extensiven Vielfalt der Dinge« ist sie »qualitativ unvergleichlich«.63 Mit dem Problem des Selbstbewußtseins bzw. des Selbstgefühls, durch das die Einheit des Ichs gesetzt wird, tritt eine neue, nicht rechnerisch kalkulierbare Verknüpfungsform hervor. Die Gewißheit der Einheit des Ichs im Selbstgefühl ist der Ursprung einer Erfahrung, ein Modell, das Leibniz mit dem Begriff der Monade bezeichnet hat und auf das Cassirer später immer wieder zurückkommt. Doch geht es an dieser Stelle und mit Bezug auf den Abschnitt zur Ästhetik von Leibniz’ System nicht direkt um die Bedeutung der Begriffe des Ichs und des Selbst 64, sondern um eine besondere »Verknüpfungsform«, für die das Ich den Prototyp abgibt. An der Erfahrung des Schönen läßt sich diese Verknüpfungsform exemplarisch studieren, denn die Gegenstände der Kunst sind Symbolisierungen dieses Zusammenstimmens, dieser Harmonie. In ihnen – und in dem Austausch über sie – wird ein Gefühl mitteilbar.65 Die Ästhetik ist es, die Cassirer, auf dem Weg, eine »Charakteristik« für alle Formen des schöpferischen Bewußtseins zu entwickeln, mit Leibniz zunächst gegen die begriffl iche Erkenntnis abgrenzt und deren »Formgesetz« er untersucht: »Die Eigenart des ästhetischen Inhalts muß zunächst der Logik gegenüber gesichert werden, die besonders im Entwurf der ›allgemeinen Charakteristik‹ den Anspruch erhebt, das ganze Gebiet der Bewußtseinsvorgänge auszumessen und in seine Einzelmomente und Voraussetzungen zu zerlegen. Dieser Forderung der Begriff sanalyse war nun schon im Gebiet der Erfahrungslehre in den ›zufälligen Wahrheiten‹ eine Schranke entstanden. Es galt als die Eigentümlichkeit der ›Tatsache‹, daß sie sich mit der Forderung durchgängiger Bestimmtheit, die sie vertritt, niemals vollständig in letzte notwendige Prinzipien und Elemente auflösen läßt.

62 In der Schrift »Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade«, S. 592, hebt Leibniz hervor, daß »Monas« das griechische Wort für »Einheit« ist. 63 ECW 1, S. 417. 64 Zur Bestimmung des Begriff s des Selbst bei Cassirer vgl. vor allem Ch. Hackenesch, Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer, (Cassirer-Forschungen 6), Hamburg 2001. Hackenesch versucht zu zeigen, daß Cassirer das Erbe der Hegelschen Metaphysik des Selbst antrete, sie aber grundlegend umwandle und neu bestimme. Ein wesentliches Merkmal in der Bestimmung des Selbst, das für Cassirers gesamte Philosophie eminent wichtig ist, ist die Auff assung des Selbst als eines Tuns bzw. als die Quelle einer Tätigkeit. 65 Für Cassirer gilt unumstößlich, daß alles Wissen »uns immer nur in bestimmten Formen gegeben und nur durch diese zugänglich ist« (»Zur Logik des Symbolbegriff s« von 1938, in der Hamburger Ausgabe, Bd. 22 (ECW 22), S. 118). Die Einheit des Ichs als »ursprüngliche Einheit« wird jedoch in der ästhetischen Stimmung erfahrbar. In ihr wird etwas »seiner Totalität nach in einem unteilbaren Akte vorgestellt und vorgestaltet« (ebd., S. 417). Das Symbolisierungsverhältnis ist im Bereich der Ästhetik jedoch ein doppeltes: Die Kunst wird zur »reinen Symbolik des Gefühls«, und zwar zum einen in der »ästhetischen Stimmung«, die »Ausdruck des Selbstgefühls der Persönlichkeit« ist (ECW 1, S. 416), und zum anderen im Prozeß des künstlerischen Schaffens, in dem das Gefühl Gestalt erhält (vgl. ECW 1, S. 414).

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Dieser problematische Grundcharakter, der ihr bei allem Fortschritt des Wissens verbleiben muß, wurde durch den Begriff der ›dunklen‹ Erkenntnis bezeichnet. Während die distinkte Einsicht sich als Synthese aus ursprünglichen allgemeinen Defi nitionen und aus dem Satz der Identität als leitendem Prinzip der Schlußfolgerung gewinnen ließ, vertrat ihr logisches Gegenstück die Behauptung des Individuums als unerschöpfl icher Aufgabe. An dieses Moment des ›Unerschöpfl ichen‹ werden wir zunächst erinnert, wenn das Geschmacksurteil nunmehr ebenfalls der reinen rationalen Erkenntnis entgegengesetzt wird. In Begriffen und Defi nitionen läßt sich die Schönheit nicht fassen und festhalten.« 66 Während bislang von Symbolen als Stellvertretern einzelner Merkmale komplexer Vorstellungen und von der Notwendigkeit von Zeichen für deutliches Denken im allgemeinen die Rede war, geht es im Bereich der Ästhetik um die Symbolisierung »verworrener« Vorstellungen.67 »Maler oder Künstler« können »ganz vortrefflich erkennen, was richtig und was fehlerhaft gemacht ist«, sind »häufig aber nicht imstande […] von ihrem Urteil Rechenschaft zu geben«.68 Sie haben keine deutliche Vorstellung von der Sache, die sie beurteilen, und erkennen doch »vortrefflich«. Auf ihre Erkenntnis triff t die Begriff skombination »klar« und »verworren« zu.69 Das »je ne sçay quoy«, d. h. das Moment des Nicht-Rechenschaft-Geben-Könnens, das u. a. in der Schrift »Meditationes de cognitione, veritate et ideis« thematisch ist, aus der Cassirer für seine Leibnizausgabe einen Auszug ausgewählt hat, ist bereits

ECW 1, S. 411. Die Differenzierung der Gegensatzpaare »dunkel« und »klar« bzw. »deutlich« und »verworren« hält auch Cassirer nicht durch. Er spricht von der Vorstellung, die Leibniz »confuse« genannt hat, als »dunkel«, obwohl die (schlechte) deutsche Übersetzung traditionell »verworren« ist. (Vgl. ECW 1, S. 412). – U. Franke hat in Anlehnung an die Herausgeber K. Aschenbrenner und W. Holther der englischen Ausgabe der Baumgartenschen Schrift Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, (University of California Press 1994, S. 21) darauf hingewiesen, daß »confuse« von »fusion«: »miteinander verbunden« abgeleitet werden müßte und nicht von »confusion«. Vgl. U. Franke, Kunst als Erkenntnis, S. 48. F. Gaede schreibt in »Leibniz’ Begriff der Möglichkeit«, in: F. Gaede/C. Peres, Antizipation in Kunst und Wissenschaft, S. 93, Anm. 35: »›konfus‹ ist abgeleitet von confundere-zusammengießen und in diesem Sinne von Leibniz gebraucht; das Wort »ungetrennt« triff t darum heute den gemeinten Sachverhalt besser.« »[…] Confusio im ursprünglichen Sinne des Wortes bedeutet: das »Zusammengeflossene« im Sinne des noch Ungetrennten und damit die Alternative zum begriffl ich Zerlegten und analytisch Festgelegten: […] der vorlogische Zustand der Ganzheit« (ebd., S. 95). Dieser Hinweis auf andere Übersetzungsmöglichkeiten soll die Assoziation auf die Verbindung der Elemente in der Bezeichnung »konfus« lenken, die ich aufgrund ihrer Verwendung durch Cassirer dennoch beibehalte. 68 »Meditationes de cognitione, veritate et ideis«, in: HS I, S. 10. 69 Vgl. dazu U. Franke, Kunst als Erkenntnis, S. 45: »Ein für den Verstand wegen der Unauflöslichkeit seiner Merkmale undeutlich bleibender, weil der Analyse nicht f ähiger, Begriff ist ungeachtet der Vermengung der Merkmale, die er in sich enthält, für die Sinne klar insofern, als er hinreicht, um Etwas von einem Andern zu unterscheiden und somit auch, um es wiederzuerkennen.« 66 67

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aus Leibniz’ System bekannt und zwar als Kennzeichen des Geschmacksurteils. Cassirer zitiert Leibnizens Bemerkungen zu Shaftesbury: »Le gout distingué de l’entendement consiste dans les perceptions confuses dont on ne sauroit assés rendre raison.« 70 Zur Beurteilung steht im Geschmacksurteil wie im Falle der Erkenntnis des oben beschriebenen Tausendecks etwas Komplexes. Das Ziel ist jedoch nicht die rationale Zergliederung zum Zwecke des Beweises einer widerspruchsfreien Vorstellung, sondern die Beurteilung einer »Einheit der Mannigfaltigkeit«.71 Dem Begriff, dessen Analyse das Ziel der dargestellten wissenschaftlichen Erkenntnis war und der mit Hilfe von anderen Begriffen defi niert wurde, steht nun eine komplexe Vorstellung gegenüber, die nicht durch Defi nition erklärt werden kann, sondern durch Zerlegen zerstört werden würde.72 Es ist die »ästhetische Harmonie« 73, das Verhältnis der einzelnen Elemente zueinander, das beurteilt wird. Das Geschmacksurteil bringt das Gefühl des begriffl ich nicht faßbaren Verhältnisses der Elemente einer individuellen Konstellation zum Ausdruck. Durch dieses Ausdrucksverhältnis wird das Problem der Symbolisierung abermals erweitert und vertieft. Es ist nicht mehr das Verhältnis einer »mathematischen Proportion« oder »analogischen Entsprechung logischer Grundverhältnisse« 74, das zweifelsohne innerhalb der Geschichte des Erkenntnisproblems bereits einen Fortschritt gegenüber der Auffassung von Erkenntnissen als simplen Abbildungsverhältnissen darstellt, sondern es ist eine neue Konnotation, die der Begriff der Symbolisierung auf dem Gebiet der Ästhetik erhält: »Die Forderung [der analogischen Entsprechung] muß aufgegeben werden, wenn es sich darum handelt, den tieferen Sinn der Repräsentation des Mannigfaltigen zu erfassen, der uns in der Tätigkeit des Bewußtseins und im besonderen in der ästhetischen Harmonie erschlossen ist.«75 Die Annahme, daß »dieselbe logisch-mathematische Struktur die Gesamtheit des Universums und jeden seiner Teile beherrscht« 76 , bedarf der modifi zierenden Ergänzung durch einen ästhetischen Strukturentwurf. Das Verhältnis der »Repräsentation« erlaubt es, eine Brücke zwischen dem Bereich der Methodenlehre und den fragmentarischen Äußerungen zur Ästhetik aus dem Umfeld der Metaphysik zu schlagen. Das unterscheidende Moment zwischen

70 ECW 1, S. 412. Leibniz wird hier zitiert nach Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Bd. III, S. 430 f. 71 ECW 1, S. 413. 72 Es soll hier nicht behauptet werden, daß der Gegenstand eines Geschmacksurteils nicht analysiert werden könnte – dies würde die Unmöglichkeit einer jeden Kunstwissenschaft bedeuten –, sondern nur, daß das Geschmacksurteil sich auf die komplexe Einheit bezieht. Vgl. auch unten, S. 49 f., den Leibnizschen Hinweis auf die Differenz zwischen einem sinnlich wahrnehmbaren Phänomen und seiner wissenschaftlichen Erklärung. 73 ECW 1, S. 416. 74 Ebd., S. 423. 75 Ebd., S. 417. 76 ECW 7, S. 131.

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der logischen und der ästhetischen Symbolisierung sind die bereits erwähnten »sehr verschiedenartige[n] Formen der Verknüpfung und Abhängigkeit«77. Diese unterschiedlichen Verknüpfungsformen sind es, die Cassirer, wie oben gezeigt, für das Scheitern der Anwendung der mathematischen Erkenntnisweise auf alle Gebiete geistiger Produktivität verantwortlich macht. Dem logischen Gesetz bzw. den Rechenregeln steht nun die Harmonie gegenüber. Das Symbol ersetzt nicht – wie in der Mathematik – einzelne Merkmale einer Vorstellung, die zu komplex ist, als daß wir eine Anschauung davon haben könnten, sondern es repräsentiert in der Kunst eine Totalität, die nur »intuitiv« gefaßt – gefühlt – werden kann. Dem »analytischen Begreifen« steht ein »synthetisches« gegenüber.78 Den ersten Schritt Cassirers zur Entwicklung der Vielfältigkeit symbolischer Form stellt somit die Isolierung des Gebietes der Kunst dar, deren Symbolisierungen andere Verknüpfungsformen aufweisen als die der Logik. Auf den Grundlagen, die Leibnizens Metaphysik dafür geschaffen hat, baut er im folgenden auf. Zu Beginn des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen weist Cassirer auf die Parallelität seiner projektierten »Grammatik der symbolischen Formen« mit der Leibnizschen »characteristica universalis« hin: »Gelänge es, einen Überblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks [des geistigen Gehalts in sinnlichen Zeichen] zu gewinnen – gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal der ›allgemeinen Charakteristik‹, wie Leibniz es für die Erkenntnis aufstellte, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt. Wir besäßen alsdann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.« 79 Cassirer nimmt einen Gedanken auf, den er bereits in Leibniz’ System geäußert hat: »Der Plan einer ›figürlichen‹ Charakteristik ist der Entwurf einer allgemeinen Symbolik, die zwischen den Einzelgebieten und Richtungen des Denkens vermitteln […] soll.« 80 Durch das »Alphabet des menschlichen Gedankens«, das Leibniz entwickeln wollte, sollte sich »alles […] entdecken und beurteilen lassen« 81 – sogar die »Sätze der Moral und Metaphysik«,

Siehe oben, S. 36. ECW 7, S. 126. 79 ECW 11, S. 16 f. In einer Formulierung, die der eben zitierten vorangeht, kommt ein Zweifel zum Ausdruck, ob die verschiedenen »geistigen Bildungen« denn durch diese »strukturalistische« Betrachtungsweise ganz erfaßt wären: »Die Sprache scheint sich vollständig als ein System von Lautzeichen defi nieren und denken zu lassen« – für den Mythos und die Kunst nimmt er diesen systembildenden Aspekt ganz zurück und spricht von einer »Welt der besonderen, sinnlich faßbaren Gestalten« (ECW 11, S. 16). 80 ECW 1, S. 418. 81 »Zur Characteristica universalis«, in: HS I, S. 18. 77 78

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da sich mit seiner Hilfe »alle Fragen insgesamt auf Zahlen reduzieren« 82 lassen. Für ihn ist »die kombinatorische Kunst speziell diejenige Wissenschaft – oder auch, wie man sie allgemein nennen könnte, – diejenige Charakteristik oder Bezeichnungskunst, die die Formen oder Formeln der Dinge überhaupt, d. h. ihre Qualität im allgemeinen oder das Verhältnis des Ähnlichen und Unähnlichen an ihnen behandelt«.83 Die Wissenschaft von den »Formen und Formeln der Dinge«, wie Leibniz die »Kombinatorik«, »Charakteristik« oder »Bezeichnungskunst« nennt, kommt der Philosophie der symbolischen Formen als Wissenschaft von den Formen begrifflich sehr nahe, wenngleich Cassirer seine Symbolphilosophie nicht bezüglich der Formen von Dingen, sondern im Hinblick auf »Weltanschauungen«, »Formwelten« oder »schöpferischen Energie« (die Zahl der synonymen Vorläufer der »symbolischen Form« ist beträchtlich) entwickelt. Für ihn ist Philosophie eine allgemeine und umfassende Theorie geistiger Formen.84 An Leibniz’ System ließ sich zeigen, daß der erste Bereich geistiger Produktivität, den Cassirer den Strukturgesetzen der dominierenden mathematisch-logischen Begriffsform entzog, die Ästhetik war. In der ideengeschichtlich orientierten Schrift Freiheit und Form wird er fortsetzen, was er in Leibniz’ System begonnen hat: die Bestimmung der durch Leibnizens Monadenlehre geprägten Ästhetik als einen eigenen geistigen Bereich und die Entgegensetzung von Ästhetik und Logik als unterschiedliche »Formwelten«. Er hält fest: »Die Monadenlehre hat zum ersten Male in der Geschichte der neueren Philosophie die Kategorien der seelisch-geistigen Wirklichkeit allgemein bestimmt und von den Kategorien der mathematischen Naturerkenntnis geschieden.« 85 Der Wirkungsgeschichte der Monadenlehre widmet Cassirer sich ausführlicher: Nicht die im Schulsinne an Leibniz anschließende Wolff sche Philosophie habe die Impulse, die er der Philosophie für die Erforschung der geistigen Realität gegeben hat, aufgenommen. Ihren Einfluß habe die Leibnizsche Monadenlehre, wie Cassirer ausführt, zunächst in der Ästhetik und im Bereich der literarischen Produktion selbst entfaltet. In dem Kapitel »Die Entstehung der ästhetischen Formwelt« von Freiheit und Form, das an das abermals Leibniz gewidmete erste Kapitel anschließt, erläutert er, daß alle Entwicklungsstufen, die die Ästhetik bis zur Entwicklung

Ebd., S. 20. »De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et judicandi«, in: HS I, S. 32. 84 Vgl. »Goethe und die mathematische Welt«, in: ECW 9, S. 304. 85 ECW 7, S. 43. Hervorh. M. L. Wenige Seiten später spricht er noch einmal von »Kategorien der geistigen Wirklichkeit«, die den »Kategorien der objektiven Naturerkenntnis« gegenüberstehen. (S. 52). In dieser frühen Phase verwendet Cassirer noch den Begriff der Kategorie, der später mit Form abwechselt – Cassirer macht bspw. keinen Unterschied zwischen Anschauungsformen und Kategorien – und spricht dann später ausschließlich von »Form«. Siehe hierzu unten, Teil II, Kapitel 1, Abschnitt d). 82

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des Formbegriff s der klassischen deutschen Ästhetik zu nehmen hatte, an Leibniz zurückgebunden werden können und müssen. Der Bereich des Schönen und der Kunst ist jedoch nicht nur die erste Formwelt, an der Cassirer im Ausgang von und mit Leibniz eigene, von den logischen Gesetzen abweichende Konstitutionsprinzipien erkennt. Die ästhetische Reflexion und die Entdeckung der »künstlerischen Formwelt« sind darüber hinaus von entscheidender Bedeutung für die Weiterentwicklung der »allgemeinen Probleme des geistigen Lebens«.86 Die Ästhetik zeichnet sich durch die Erforschung der Art und Weise des Wahrnehmens und Darstellens mit besonderer Berücksichtigung der Darstellungsmittel aus. Sie betreibt die Formreflexion, in der die Anerkennung der Bedeutung sinnlicher Wahrnehmungs- und Ausdrucksformen exemplarisch für alle symbolischen Formen erstritten wird. Die an Cassirers Leibnizrezeption entwickelte und im folgenden Kapitel durch eine Betrachtung seiner ästhetischen Reflexionen in Freiheit und Form gestützte These des paradigmatischen bzw. prototypischen Charakters der Ästhetik vertritt auch Enno Rudolph in bezug auf die Schrift Eidos und Eidolon, in der Cassirer sich stellvertretend für alle symbolischen Formen aus der Perspektive der Kunst mit der Mimesistheorie auseinandersetzt. Aufgrund ihres professionellen Formbewußtseins geraten Formprinzipien, die für alle Bereiche menschlicher Kreativität gelten, in der Ästhetik deutlich in den Blick.87

e) Leibnizens Ästhetik in der Diskussion Innerhalb der umfangreichen Literatur zu Leibniz sind Arbeiten zur Ästhetik selten. Sie divergieren darüber hinaus in der Frage des Stellenwertes des Ästhetischen bei Leibniz beträchtlich. Die Tatsache, daß Cassirer diesem Aspekt des Leibnizschen Werkes dennoch seine Aufmerksamkeit widmet, betrachtet Guido De Ruggierro, der die Monadologie ins Italienische übersetzt hat, beispielsweise als sinnlose Mühe.88 Sicherlich läßt sich bei Leibniz nicht von einer ausformulierten Ästhetik sprechen, und ebenso gewiß entspricht der metaphysischen Konzeption der Monade und der Harmonie keine ausgearbeitete Theorie einer eigenständigen holistischen Erkenntnisweise. Die Leibnizsche Erkenntnistheorie zielt vorrangig auf die rationale Erkenntnis. In gewisser Hinsicht hat Leibniz die Anschauung als das bloße »Noch-nicht des Gedankens« angesehen, die Schönheit als einen »Vorgeschmack« einer höheren Ordnung betrachtet.89 Daß seine Analysen ästhetischer ECW 7, S. 69. Vgl. E. Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext. 88 Vgl. R. Galeffi , »À propos de l’actualité de Leibniz en Esthetique«, in: Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses, Hannover, 17.-22. Juli 1972, Bd. IIII, Wiesbaden 1975, S. 217. 89 Vgl. U. Franke, »Von der Metaphysik zur Ästhetik. Der Schritt von Leibniz zu Baum86 87

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Phänomene jedoch für den Cassirerschen Ansatz einer Symbolphilosophie, die alle kreativen, kulturschaffenden Kräfte des Menschen thematisiert, fruchtbar gemacht werden kann, soll in der folgenden Diskussion exemplarischer Positionen der Forschungsliteratur gezeigt werden. Nach Christoph Menke ist es »eine ästhetische Reflexion in nuce«, durch die Leibniz zu der »grundlegend neuen Einsicht« gelange, daß sinnliches Erfassen »sich nicht nur als ein kausales Geschehen, sondern als ein Vollzug eigener Normativität« begreifen lasse. Er bezieht sich auf die bereits zitierte Stelle aus den Meditationes de cognitione, veritate et ideis, in der es heißt, »daß Maler und andere Künstler ganz vortreffl ich erkennen, was richtig und was fehlerhaft gemacht ist, häufig aber nicht imstande sind, von ihrem Urteil Rechenschaft zu geben«.90 In diesem Text sei häufig der »Keim für die spätere Ausbildung der Ästhetik« gesehen worden.91 »Der Grad, in dem Leibniz dem Ästhetischen eine selbständige Art des Erkennens einräumt«, läßt sich, darin ist Clifford Brown zuzustimmen, jedoch »nur schwer einschätzen.« Dennoch seien die Begründer der modernen Ästhetik – Baumgarten und Kant – in ihren zentralen Thesen stark von Leibniz beeinflußt worden.92 Die Beantwortung der Frage, ob man bei Leibniz von Ansätzen zu einer autonomen Ästhetik sprechen kann, hängt davon ab, ob das Phänomen des Ästhetischen bzw. der Aisthesis gänzlich in der Sphäre des Logischen aufgeht oder sich gegen den Panlogismus behaupten und einen Eigenwert für sich reklamieren kann. Nach Cassirer stellt die Schönheit bei Leibniz nur eine Probe, den »Vorgeschmack« einer höheren intellektuellen Ordnung dar und markiert damit einen untergeordneten Bereich. Sie sei lediglich ein Anzeichen für eine gesetzliche Ordnung der Welt, deren begriffl iche Erkenntnis das Ziel sei. »Die metaphysische Erklärung des Schönen enthält den Keim seiner Auflösung in sich.« 93 Mit Ursula Franke läßt sich festhalten, daß es Baumgarten gewesen ist, der die Kriterien der klaren, verworrenen Vorstellung, d. h. der sinnlich klaren Vorstellung, zuerst positiv bestimmt und die sinnliche Erkenntnis als komplementär zur logischen betrachtet hat. Baumgarten

garten«, ebenfalls in den Akten des II. Internationalen Leibniz-Kongresses, Bd. IIII, S. 232, und siehe unten, Anm. 93. 90 »Meditationes de cognitione, veriatate et ideis«, in: HS I, S. 10. 91 Ch. Menke, »Wozu Ästhetik?«, in: Information Philosophie, 2003/2, S. 6. 92 C. Brown, »Leibniz und die Ästhetik«, in: Akten des Internationalen Leibniz-Kongresses, Hannover, 14.-19. November 1966, Wiesbaden 1969, S. 123 u. 128. 93 Vgl. ECW 7, S. 68 und 55 f. Dieser Verweisungszusammenhang fi ndet sich auch bei Kant, für den das Schöne zwar den Geltungsbereich eines eigenen Vernunftvermögens markiert, aber auch dadurch Bedeutung erhält, daß es den Keim einer Hoff nung nährt, daß die Welt insgesamt erkennbar, also gesetzlich strukturiert sei: »Die Schöne Dinge zeigen an, daß der Mensch in die Welt passe und selbst seine Anschauung der Dinge mit den Gesetzen seiner Anschauung stimme.« (Reflexion 1820 a, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 3, Bd. 3 (= Bd. XVI), Leipzig und Berlin 1924, S. 127.

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habe die Leibnizsche Gnoseologie durch eine differenzierte Betrachtung der sinnlichen Erkenntnis modifi ziert 94 – die jedoch, wie ich im folgenden zeigen möchte, auch bei Leibniz nicht unbeachtet geblieben ist. Innerhalb des Leibnizschen Werkes führt die sinnliche Wahrnehmung ein Doppelleben. Einerseits ist sie Teil des gesamten menschlichen »Erkenntniskontinuums« und als intuitive, noch nicht analysierte Wahrnehmung Vorstufe und Vorgriff des Erkenntnisurteils. Doch auch hier hat sie aufgrund besonderer Qualitäten einen irreduziblen Wert: »Der menschliche Geist übersieht viel auf einmal, und man hemmt ihn, wenn man ihn zwingen willen, bei jedem Schritt den er tut, anzuhalten und alles war er denkt, zum Ausdruck zu bringen.« 95 Von der Analyse bestimmter geistreicher Gedanken sollte abgesehen werden, »man muß sie nicht mit allzugroßer Ängstlichkeit zerlegen, wie man auch ein Gemälde nicht allzu nahe betrachten darf« 96. Andererseits gibt es prinzipiell unauflösliche, d. h. verworrene Vorstellungen, die ihren Sinn und ihre Funktion für den Menschen haben. Leibniz spricht von »Wahrnehmungsbildern« (images) 97 und meint grundsätzlich nicht in einzelne Merkmale zerlegbare Sinneswahrnehmungen. Als ästhetischer Eindruck verschaffen sie einen Genuß, der auf eine andere Weise nicht zu erhalten ist. Auf die Leibnizschen Bestimmungen der verworrenen Vorstellung sei hier noch einmal ausführlicher eingegangen, da ihr holistischer, anschaulicher bzw. bildlicher Charakter einen herausragenden Platz in der Cassirerschen Ästhetik einnehmen wird. In den Neuen Abhandlungen differenziert Leibniz zwischen einem »Bild« und einer »Idee«. Die klare, aber verworrene Vorstellung ist ein »klares Bild« (image claire), aber eine »verworrene Idee« (idée confuse).98 Das Ziel der Erkenntnis ist jedoch eine klare und distinkte Vorstellung und somit die Auflösung des klaren Bildes in eine klare Idee. In dieser Hinsicht gibt es somit keinen qualitativen Unterschied zwischen Bild und Idee. Kein Übergang geht für Leibniz sprungweise vor sich.99 Nach Sartre läuft bei Leibniz »die ganze das Bild betreffende Bemühung darauf hinaus, eine Kontinuität zwischen jenen zwei Erkenntnismodi herzustellen: Bild und Denken; bei ihm wird das Bild mit Intellektualität durchdrungen«. Die Unterscheidung zwischen »der Welt der Bilder, oder verschwommenen Ideen und der Welt der Vernunft« laufe »auf eine rein mathematische Differenz« hinaus: »[D]as Bild hat die Opazität des Unendlichen, die Idee hat die Klarheit der endlichen und analysierbaren Quantität«. Leibniz versuche »im Bild wieder einen Vgl. U. Franke, Kunst als Erkenntnis, S. 44, 46 u. 100. Neue Abhandlungen, S. 451. 96 Ebd., S. 111. 97 Ebd., S. 11. 98 Ebd., S. 253. 99 Vgl. Leibniz’ Brief an de Volder vom 24. März 1699, in: HS II, S. 472. H. Busche spricht von einem »ästhetisch logischen Schema zur Gradualisierung des Bewußtseins«. Siehe Leibniz’ Weg, S. 119. 94 95

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Sinn zu fi nden, der es mit dem Denken verbindet, und läßt das Bild als solches verschwinden«.100 Horst Bredekamp vertritt dagegen die These, daß Leibniz den Bildern »eine semantische Schwerkraft [zuspricht], die das Denken auf eigenwillige Weise ermöglicht und konditioniert«.101 Bilder können »gleichsam spielend und wie in einem blick, ohne umbschweiff der worthe, durch das gesicht dem gemüth vorgebildet und kräff tiger eingedrücket werden«.102 Bredekamp hebt die Schnelligkeit und Simultaneität der Verbindung von Elementen zu einem Ganzen hervor, die das Sehen von Bildern für Leibniz kennzeichne. Die »Blindheit«, die Leibniz der symbolischen Erkenntnis zuschreibt,103 deutet Bredekamp als Eingeständnis, »daß das Zeichen, das keine unmittelbare Präsenz der Sachen selbst intendiert, durch deren Anschaulichkeit überragt wird«.104 Die bereits erwähnte Urteilsf ähigkeit der Künstler, angemessen erkennen zu können, was richtig und was fehlerhaft gemacht ist, ohne den Grund ihres Urteils angeben zu können105, kompensiere nach Bredekamp diesen Mangel. Er betont, daß es sich in Leibnizens Augen bei der bildlichen, d. h. klar-verworrenen Vorstellung, ebenfalls um eine angemessene Erkenntnis handele, die Künstler somit ein zentrales Anliegen der ars characteristica erfüllen, ohne über Begriffe zu verfügen. »Die begriff slose Urteilsf ähigkeit der Künstler wird zum Zerrspiegel der Kalkülisierung defi nierter und kombinierter Zeichen, welche die Klarheit der göttlichen Erkenntnis einzuholen versucht, von Beginn an aber weiß, daß sie mit jedem Entwicklungsschritt die Distanz zum intuitiven Vermögen vergrößert. Die unbegreifl iche Urteilsfähigkeit der Künstler dagegen bewahrt die Simultaneität der qualitativen Erkenntnis. Das algebraische Kalkül ist klar, aber antiintuitiv, weil es Schritt für Schritt vorgehen muß und niemals alle Beziehungen insgesamt zu begreifen vermag. Die künstlerische Wahrnehmung dagegen verfügt über kein Kalkül, vermag aber treffende Urteile auf intuitive Weise zu geben. Beide Vermögen kompensieren die Defi zite des Gegenübers. Dieses Bedingungsgeflecht durchdacht zu haben, gehört zu den größten

J.-P. Sartre, Die Imagination, in: Gesammelte Werke. Philosophische Schriften I, Hamburg 1994, S. 105–107. 101 H. Bredekamp, Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin 2004, S. 7. 102 G. W. Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Preußischen, später Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1923 ff., Reihe IV, Band 3, Nr. 116, S. 785, Z. 5–7. 103 Vgl. oben, S. 31 f. 104 H. Bredekamp, Die Fenster der Monade, S. 109. 105 Bredekamp übersetzt »probe« mit »angemessen«, Buchenau mit »ganz vortreffl ich«. (Gerh. IV, 423: »Similiter videmus pictores aliosque artifices probe cognoscere, quid recte, quid vitiose factum sit, at judicii sui rationem reddere saepe non posse, et quaerenti dicere, se in re quae disciplinet desiderare nescio quid.) Aus der »Angemessenheit« leitet Bredekamp die Komplementarität der beiden Erkenntnisweisen ab. 100

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Leistungen von Leibniz’ Erkenntnistheorie, weil es die Bedingungen der Denkfähigkeit in einen weiteren und komplexeren Rahmen stellt, als es sein eigenes Bild von der ›fensterlosen Monade‹ suggeriert.«106 Bredekamp stellt die Überlegungen zur Kompensierung der jeweiligen Defi zite der symbolischen und der intuitiven Erkenntnis nicht in den weiteren Rahmen der Symbolphilosophie Cassirers. Dennoch läßt sich die Komplementarität von Begrifflichkeit und Anschaulichkeit gut in die von Cassirer entworfene Ökologie der symbolischen Formen einfügen, und Leibniz könnte in Anlehnung an die Interpretation Bredekamps in einem größeren Ausmaß als Gewährsmann für die These von der Medialität der Erkenntnis in Anspruch genommen werden, als durch Cassirer erfolgt. Die Gleichrangigkeit von »visuellem« und »begriffl ichem« Paradigma ist in der Symbolphilosophie Cassirers angelegt, wenn auch nicht in diesen Termini expliziert.107 Auch Romano Galeffi gelingt es, die These Ruggieros zu korrigieren, daß sich der Versuch einer Rekonstruktion der Leibnizschen Ästhetik nicht lohnen würde. Er macht auf diverse Passagen innerhalb des Leibnizschen Werkes aufmerksam, die belegen, daß der sinnlichen Wahrnehmung eine relative Autonomie zukommt, und es schwer machen, das Bild von Leibniz als Anästheten aufrecht zu erhalten. Galeffi hat das Leibnizbuch Cassirers rezipiert und verteidigt den Abschnitt zur Ästhetik ausdrücklich gegen Ruggiero. Sein Versuch, die Ästhetik Leibnizens »comme point de départ de l’admission d’une sphère d’experience relativement autonome tant en rapport à la connaissance rationelle, quant en relation à la simple connaissance sensible« auszuweisen, ist in dem Zusammenhang dieser Arbeit besonders interessant, da er einen »qualitativen Sprung« zwischen der »ratio logica«, der »ratio aesthetica«, der »ratio ethica« und der »ratio oeconomica« ausmacht, zwischen denen eine »corrélation dialectique« oder eine »collaboration dynamique« bestehe, »desquelles se déroule toute la trame de la vie spirituelle«.108 Die Ästhetik bleibe im Bereich des Rationalen, doch es seien eine andere Rationalität und andere Strukturelemente, durch die sie bestimmt werde. Neben der lebendigen Wirkung sinnlicher Wahrnehmungen, die aufgrund der Verfaßtheit unserer Organe nicht deutlich werden können, weist Leibniz an verschiedenen Stellen der Neuen Abhandlungen auf die besonderen Qualitäten der verworrenen Erkenntnis hin: Die nicht deutlich voneinander unterschiedenen Perzeptionen bezeichnet er als den besten Teil unserer Seele,109 da sie in der Lage sind, Vergnügen zu bereiten. Freilich geht Leibniz davon aus, daß der Schönheit letztlich ein Zahlenverhältnis zugrunde liegt: »Die Musik entzückt uns, obgleich ihre Schönheit nur in der Entsprechung von Zahlen besteht und in der unbewußten Zählung, die die Seele an den Schlägen und Schwingungen der tönenden Kör106 107 108 109

H. Bredekamp, Die Fenster der Monade, S. 109 f. Vgl. unten, Teil II, Kapitel 2, Abschnitt h). Siehe R. Galeffi, »L’actualité de Leibniz«, S. 226. Neue Abhandlungen, S. 135.

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per vornimmt, die in gewissen Intervallen miteinander zusammenstimmen, Die Freude, die das Auge an den Proportionen empfi ndet, ist von derselben Art, und auch die der übrigen Sinne wird auf etwas Ähnliches hinauslaufen, obgleich wir sie nicht so deutlich zu erklären vermögen.«110 Das Schöne, der Eindruck selbst, wird jedoch durch die von Leibniz postulierte rationale Erklärbarkeit nicht zum Verschwinden gebracht. Das Phänomen ist nicht ersetz- oder übersetzbar. Auch einfache Sinneseindrücke wie Farbwahrnehmungen sind für Leibniz singuläre Phänomene, nicht in eine andere »Sprache«, z. B. die der physikalischen Erklärung, übersetzbar sind: »Mit den sinnlichen Qualitäten dagegen verhält es sich nicht ebenso, es läßt sich z. B. kein Merkmal angeben, vermittels dessen man das Blau erkennen würde, wenn man es noch nie gesehen hätte. Demnach ist das Blau sein eignes Erkennungszeichen, und damit ein Mensch erfahre, was es ist, muß man es ihm notwendig zeigen.«111 Auch hierzu äußert sich Leibniz in den Neuen Abhandlungen ausführlicher. Theophilus, einer der beiden Gesprächspartner, versucht sein Gegenüber davon zu überzeugen, daß die »sinnlichen Ideen« von »der Besonderheit der Gestalten und Bewegungen abhängen und sie genau ausdrücken, obgleich wir in der Verworrenheit einer zu bedeutenden Menge und Kleinheit der mechanischen Wirkungen, welche unsere Sinne treffen, diese Besonderheit nicht entwirren können.« Selbst wenn wir »die vollkommene Analyse des Grünen in Blau und Gelb besitzen«, sind wir dennoch nicht imstande, »die Vorstellungen des Blauen und des Gelben in unserer sinnlichen Vorstellung des Grünen zu scheiden, eben deswegen, weil die letztere eine verworrene Vorstellung ist. […] Denn wenn die Verworrenheit aufhörte […] so wäre es eben nicht mehr das gleiche Phänomen. […] [Z]u verlangen, daß dieses verworrene Scheinbild bestehen bleibe und man dennoch in der sinnlichen Vorstellung selbst ihre einzelnen Bestandteile unterscheide, ist ein Widerspruch; es hieße, das Vergnügen haben zu wollen, durch eine angenehme Perspektive getäuscht zu werden, und zugleich zu wollen, daß das Auge den Betrug sehe, was ihn zunichte machen würde.«112 Die Phänomene der sinnlichen Wahrnehmung im allgemeinen und das Phänomen des Schönen im besonderen sind nach Leibniz möglicherweise rational analysierbar. Die Gestalt, die das Phänomen in Analyse erhält, ist dem Wahrnehmungsbild jedoch nicht äquivalent, dessen relative Autonomie er auf der phänomenalen Ebene darzulegen versucht. Das Sehen der grünen Farbe ist nicht dasselbe wie das Wissen um ihre Zusammensetzung aus Blau und Gelb. Der Genuß eines Musikstückes ist nicht dasselbe wie seine musiktheoretische Analyse. Leibniz verwendet unterschiedliche Ausdrücke für unterschiedliche »Vorstellungsweisen«: »intellegere« für die deut»Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade«, in: HS II, S. 601. Siehe den Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen (1702) »Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt« (Lettre touchant ce qui est indépendant des sens et de la matière), in: HS II, S. 581. 112 Neue Abhandlungen, S. 427–429. Hervorh. M. L. 110 111

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liche Vorstellung, »sentire« für die undeutliche.113 Empfinden ist etwas anderes als verstehen.

f ) Uratome und Gegenstände höherer Ordnung: Eine gestaltpsychologische Bestätigung des monadologischen Formbegriffs An das Leibnizsche Modell der Monade für eine komplexe, nicht begriffl ich organisierte Weise der Verknüpfung und die Annahme der »sehr verschiedenen Formen und Verknüpfungen«, in denen sich geistig-seelische »Gegenstände« darstellen können, hat Cassirer in den auf die Publikation von Leibniz’ System folgenden Jahren zunächst nicht angeknüpft. Dennoch erhält diese Differenzierung von Formen aus dem Umfeld seiner begriff stheoretischen Forschungen eine unerwartete Bestätigung: Die psychologische Gestalttheorie entdeckt psychische »Gegenstände«, deren »Grundgestalten« nicht in einzelne Elemente aufgelöst werden können, sondern als Komplexe betrachtet werden müssen. Der Einfluß dieser Beobachtungen auf Cassirers Formbegriff soll in diesem Abschnitt behandelt werden. Zur Verdeutlichung dessen, was Cassirer in Anknüpfung an die Gestalttheorie »Gegenstände höherer Ordnung« nennt, wird ihre Rezeption durch die symbolphilosophisch geprägte Kunstphilosophie S. K. Langers ebenfalls kurz dargestellt. Im Anschluß an die Beschäftigung mit Leibniz widmet Cassirer sich in der Untersuchung der Geschichte des Erkenntnisproblems vorrangig einer einzigen Form: der Begriffsform als »Instrument des Denkens«, das die »Mannigfaltigkeit des Stoffes, den ihr Erfahrung und Beobachtung bieten, meistert und zur Einheit zusammenfügt«.114 Das begriffl iche Wissen bestimmt er als eine »Umformung des Stoffes«, als eine »Auswahl und […] kritische[…] Gliederung«, die an der Mannigfaltigkeit der »Wahrnehmungsdinge« vollzogen wird.115 Begriffe sind »gedankliche Schöpfungen« und »Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen«,116 das sich in die beiden Pole Subjekt und Objekt auseinanderlegt. Doch Cassirers Interesse richtet sich nicht ausschließlich auf die philosophische Erkenntnistheorie, denn es ist die gesamte Kultur, in der sich die »Umgestaltung des Ichbegriffs wie des Objektbegriffs« vollzieht.117 Seinen Versuch, »[a]uch die übrigen Gebiete der geistigen Tätigkeit, auch das Recht und die Sprache, auch Kunst und Religion« in die Untersuchung einzubeziehen, begründet er damit, daß auch

Siehe den Brief an de Volder vom 24. März 1699, in G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. III, S. 168 ff., und HS II, S. 476. 114 Siehe Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1 (ECW 2), S. IX. 115 Ebd., S. 1. 116 Ebd., S. 2 f. 117 Ebd., S. 7. 113

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sie »einen bestimmten Beitrag zum allgemeinen Problem der Erkenntnis« leisten. Worin genau dieser »bestimmte« Beitrag besteht und was der »einheitliche Sinn« der genannten Kulturgebiete und der begriffl ichen Erkenntnis sei, ist ihm jedoch noch unklar. Der gemeinsame Nenner der vielfältigen Formen der geistigen Tätigkeit ist noch nicht gefunden. Recht, Sprache, Kunst und Religion sind zur Zeit der Abfassung des ersten Bandes des Erkenntnisproblems (erste Aufl age 1906) der Erkenntnis untergeordnet und nur insofern relevant, als sie einen Beitrag zum Verständnis der Begriff sform leisten. Obwohl Cassirer sich zu dieser Zeit nicht explizit mit der Vielfalt der Verbindungsformen der Materie beschäftigt, die später zu entscheidenden Veränderungen in der Konzeption des Form-Inhalt-Verhältnisses führen wird, ist ihm der traditionelle Begriff der Form als Oppositionsbegriff zum Stoff oder zur Materie freilich schon jetzt ein Problem. Vielfach setzt er beide Begriffe in Anführungszeichen, um eine Distanz zu ihrer herkömmlichen Verwendungsweise zu markieren, und profi liert bereits im Rahmen der Begriff stheorie einen Formbegriff, der weiter gefaßt ist als der der Kantischen Erkenntnistheorie, auf deren Entwicklung hin das Erkenntnisproblem konzipiert ist. Cassirers Grundüberzeugung ist es, daß das »›Was‹ des Erfahrungsinhaltes […] niemals ohne das ›Wie‹« gegeben ist. Auf die Frage, »wie diese Momente aus einer ursprünglichen Fremdheit gegeneinander allmählich miteinander zusammengewachsen sind«, werden wir, so Cassirer, keine Antwort bekommen.118 Die Geschichte des Erkenntnisproblems läuft in der Cassirerschen Erzählversion auf eine Bestimmung der Begriffe »Form« und »Materie« zu Korrelationsbegriffen hinaus. Für Cassirer kann es keinen Schnitt zwischen passivem, Materie aufnehmenden Wahrnehmen und einem aktiven, formenden Denken geben: »Alles Bewußtsein verlangt irgendeine Art der Verknüpfung. Und jede Form der Verknüpfung setzt eine Relation des Einzelnen zu einem umfassenden Ganzen, setzt eine Einordnung des individuellen Inhalts in irgendeinen Gesamtzusammenhang voraus. So primitiv und unentwickelt dieser Zusammenhang auch gedacht werden mag: er läßt sich dennoch niemals gänzlich auf heben, ohne den einzelnen Inhalt selbst zu zerstören. Ein schlechthin regelloses und ungeordnetes Etwas von Wahrnehmungen ist daher ein Gedanke, der nicht einmal als methodische Fiktion vollziehbar ist: Denn die bloße Möglichkeit des Bewußtseins schließt zum mindesten die begriffl iche Antizipation einer möglichen, wenngleich in ihren Einzelheiten noch nicht festgestellten Ordnung in sich.«119 Die Qualifi zierung der Wahrnehmung als Ort einer ›Primärformung‹, als Zuordnung eines ›Inhaltes‹ zu einer (in der Folge »symbolisch« genannten) Form, bildet die später als »symbolische Prägnanz« be-

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Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (ECW 4), S. 6. 119 ECW 6, S. 320.

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zeichnete Basis für die verschiedenen Verknüpfungsformen der »sinnlich-geistigen« Wirklichkeit. Die »Bausteine«, die sich zu verschiedenen Verknüpfungen zusammenfi nden, sind nach Cassirer nicht als »absolute Uratome« zu denken. Was dem Bewußtsein gegeben ist, sind keine Einzelbestandteile, sondern stets bereits geordnete und gegliederte Mannigfaltigkeiten. Cassirer thematisiert in diesem Zusammenhang die von der Psychologie entdeckten »Gestaltqualitäten«, die zu einer Revision der Grundbegriffe von Wahrnehmen und Denken Anlaß geben. Nicht jedes Ganzes kann als ein »aggregativer Komplex« seiner Teile betrachtet werden. Cassirer gibt das Beispiel einer Melodie, die nur als Einheit begriffen werden kann, deren Identität in einem Ganzen besteht. Als psychische »Grundgestalt« bietet sich im Fall der Melodie ein »Gebilde von bestimmt aufweisbarer Beschaffenheit« dar.120 Diese Grundgestalt wird primär aus ihrer Wirkung abgeleitet: »Ein Ganzes bilden heißt im psychologischen Sinne nichts anderes denn als Ganzes wirken. Nicht nur die Teile als solche, sondern auch ihr gesamter Komplex löst stets bestimmte besondere Wirkungen auf unser Gefühl und unsere Vorstellung aus: Und diese Wirkungen, die von dem Komplex ausgehen und somit zugleich von der Ordnung der Elemente innerhalb desselben abhängig sind, sind es, kraft deren wir über die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit, die Gleichheit oder Ungleichheit ganzer Inbegriffe urteilen.«121 Die Ähnlichkeit sowohl mit dem Leibnizschen Monadenbegriff als auch mit den klar-konfusen Wahrnehmungsbildern ist unverkennbar. Cassirer differenziert »zwei Formen psychischer ›Gegenstände‹«122 : »aggregative Komplexe« und Gestalten. Er spricht von »Gegenständen höherer Ordnung«, die zwar aus einzelnen Wahrnehmungselementen aufgebaut sind, sich aber dennoch von ihnen durch ihre Wirkung als Einheit unterscheiden. Mit Mitteln der modernen Wahrnehmungspsychologie bestätigt Cassirer somit die bereits während der Arbeit an Leibniz’ System entdeckte Differenz von Verknüpfungsformen und Formen ihrer Rezeption.123 Nicht zufällig stammt das Beispiel eines »Gegenstandes Ebd., S. 359 f. Ebd., S. 361. 122 Ebd., S. 365. 123 Zur Bedeutung der Gestalttheorie für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen vgl. M. Plümacher, »Gestaltpsychologie und Wahrnehmungstheorie bei Ernst Cassirer«, in: E. Rudolph/I. O. Stamatescu (Hg.), Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, (Cassirer-Forschungen 3), Hamburg 1997, und dies., »Implementierung einzelwissenschaftlichen Wissens in die Philosophie: Die Bedeutung der Gestaltpsychologie für Ernst Cassirer und Rudolf Carnap«, in: H. J. Sandkühler (Hg.), Philosophie und Wissenschaften. Formen und Prozesse ihrer Interaktion, Berlin u. a. 1997. D. Pätzold, »Cassirer und das Problem der morphé. Kommentar zu Martina Plümacher«, relativiert die Bedeutung der Gestaltpsychologie für die Cassirersche Symbolphilosophie und schränkt sie auf die Phase vor Freiheit und Form ein. Nach 1910 habe Cassirer seinen Ansatz erheblich verändert. Gestaltpsychologische Phänomene des Wahrnehmungsprozesses würden in seinen »viel weiteren Begriff der ›symbolischen Prägnanz‹« eingeordnet (S. 94). 120 121

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höherer Ordnung« – die Melodie – aus dem Bereich der Kunst. Die Bedeutung von Ästhetik und Kunsterfahrung als Movens zur Ausweitung der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie fi ndet somit eine weitere Bestätigung.124 Die amerikanische Philosophin S. K. Langer ist (in expliziter Anknüpfung an Cassirer) 125 einen ähnlichen Weg gegangen.126 In ihrem 1942 erstveröffentlichten Buch Philosophy in a new key beschäftigt sie sich mit einem erkenntnistheoretischen Thema, der »transformatorischen Natur des menschlichen Begreifens«127. Feeling and Form von 1953, in dem Langer die Kunst als eigenständige Erkenntnisform entwickelt, ist Cassirer gewidmet. Unter dem Begriff der »Symbolisierung« faßt sie im Anschluß an Cassirer die Ergebnisse aller Arten menschlicher Ausdruckstätigkeit als Erfahrungstransformation zusammen. Die methodische Analogisierung so unterschiedlicher Kulturbereiche wie der Kunst, des Ritus und der Wissenschaft zielt auf die Gewinnung eines »neuen Begriff [s] des Geistes«128 , der zu einer Erweiterung »unserer Vorstellung von Rationalität weit über die traditionellen Grenzen hinaus«129 geeignet ist: »Rationalität ist das Wesen des Geistes, symbolische Transformation ihr elementarer Prozeß. Daher ist es ein entscheidender Irrtum, wenn man sie nur in der Erscheinung des systematischen, expliziten Vernunftdenkens erkennt.«130 Diese Öff nung soll ermöglichen, die Semantik nicht-wissenschaftlicher Ausdrucksformen als geistige Produkte zu untersuchen, die, solange das »Wißbare« in den Grenzen des Logisch-diskursiven eingeschränkt bleibt, als irrational verworfen werden müssen. Philosophie muß, auch hier ist Langer dem Cassirerschen Programm verpfl ichtet, die Rationalität auch unbegriffl icher Artikulationsformen untersuchen. »Alle Sensitivität«, so reformuliert sie das Cassirersche Theorem der symbolischen Prägnanz und stützt sich ebenfalls auf die Untersuchungsergebnisse der Gestalttheorie, »trägt den Stempel des Geistigen«131: »Wenn die Gestaltpsychologen nicht recht hätten in ihrer Überzeugung, daß Gestaltung zur Natur der Wahrnehmung selbst gehört, so wüßte ich nicht, wie der Hiatus zwischen Wahrnehmen Die durch verschiedene Sinnwelten unterschiedenen Weisen des Wahrnehmens hat Cassirer jedoch 1910 noch nicht entwickelt. Die Prägung der Wahrnehmung durch verschiedene symbolische Funktionen wird die Philosophie der symbolischen Formen explizieren. (Vgl. hierzu auch Pätzold, »Cassirer und das Problem der morphé. Kommentar zu Martina Plümacher«, S. 95–98). 125 S. K. Langer, Philosophy in a new key. A study in the Symbolism of Reason, Rite and Art, Cambridge 1942, im folgenden zitiert nach der deutschen Übersetzung Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt/Main, 1984, S. 9. 126 Zur Genese des Denkweges Langers vgl. R. Lachmann, Susanne K. Langer. Die lebendige Form menschlichen Fühlens und Verstehens, München 2000. 127 S. K. Langer, Philosophie auf neuem Wege, S. 9. 128 Ebd., S. 33. 129 Ebd., S. 103. 130 Ebd., S. 105. 131 Ebd., S. 97. 124

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und Begreifen, sinnlichem und geistigem Organ, chaotischem Reiz und logischer Antwort, je überbrückt und geschlossen werden sollte. Ein Geist, der in erster Linie mit Bedeutung arbeitet, muß Organe haben, die ihn in erster Linie mit Formen versorgen.«132 »Die […] Theorie des Symbolismus […], welche die Intelligenz nicht einseitig auf Diskursivität festlegt und jede andere Vorstellung in ein irrationales Reich des Gefühls und Instinkts verbannt, hat den großen Vorzug, daß sie alle geistige Aktivität der Vernunft assimiliert, anstatt diese seltsame Hervorbringung einem fundamental unintellektuellen Organismus aufzupfropfen.«133 Zum Zweck der Untersuchung der menschlichen Symbolisierungsakte führt Langer eine Unterscheidung zwischen »symbolischen Modi« ein, die variable Beziehungen der Inhaltsaspekte zum Ausdruck bringen. Zwei grundsätzliche Typen unterscheidet sie: diskursive Symbolik und präsentative Symbolik. In diskursiven Symbolen werden die Elemente eines Komplexes, die normalerweise wie »Kleidungsstücke […] übereinandergetragen werden«134, wie auf einer Wäscheleine nebeneinander aufgereiht. Die Ordnung der sukzessiv wahrnehmbaren, isolierbaren Einheiten ist auf Regeln der Syntax zurückzuführen. Wie Cassirer ist sie jedoch davon überzeugt, daß das Feld der Semantik über die Grenzen der diskursiven Sprache hinausreicht: Es gibt Dinge, »die durch ein anderes symbolisches Schema […] begriffen werden müssen«.135 Um die Struktur dieser Symbolik zu erläutern, geht Langer auf die Wahrnehmung zurück und konstatiert einen »Sinn für Formen«136. Es sind nicht isolierbare Sinnesdaten, die die unterste Schicht der Sinnbildung ausmachen. »Augen, die keine Formen sehen, könnten ihm [dem Geist] niemals Bilder liefern; Ohren, die keine artikulierten Laute hören, könnten ihm niemals Worte erschließen. Kurz gesagt, Sinnesdaten wären für einen Geist, dessen Tätigkeit ›durch und durch ein Symbolisierungsprozeß‹ ist, nutzlos, wenn sie nicht par excellence Aufnahmebehälter für Bedeutung wären. Bedeutung wächst aber wesentlich Formen zu«.137 Langer geht davon aus, daß »die subjektive Registrierung einer sinnlichen Erfahrung, das ›Sinnesbild‹, keine direkte Kopie der tatsächlichen Erfahrung darstellt, sondern im Vorgang des Kopierens in eine neue Dimension ›projiziert‹ worden ist, in die mehr oder weniger stabile Form, die wir als Bild einer Sache bezeichnen«.138 Die Qualifi zierung von Erfahrung nicht als Kopie, sondern als Konstruktion ist mit Kants kopernikanischer Wende zum common sense geworden. Interessant jedoch ist in diesem Zusammenhang die jeweilige Form des Konstrukts. Langer spricht von Vorstellungsbildern als geeigneten Instrumenten zur Isolierung und Strukturierung von aktuellen ›Eindrücken‹: »Alles 132 133 134 135 136 137 138

Ebd., S. 96. Ebd., S. 145. Ebd., S. 88. Ebd., S. 95. Ebd., S. 96. Ebd. Ebd., S. 146.

Zur Entwicklung der »Grammatik der symbolischen Formen«

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Denken ist zunächst ein Sehen […] Denn alles Denken beruht auf Vorstellen, und die Vorstellung bildet sich mit dem Erfassen der ›Gestalt‹.«139 Am Beispiel der erstmaligen Wahrnehmung eines einfahrenden Zuges erläutert sie anschaulich, wie eine aus vielen Einzeleindrücken aufgebaute »Phantasie«, eine »Metapher wortloser Erkenntnis« für das »Eisenbahngeschehen« als Vorstellungsbild generiert wird.140 Sie kommentiert: »Die Herstellung von Vorstellungsbildern ist […] der Modus unseres noch ungeschulten Denkens, und Geschichten sind seine frühesten Erzeugnisse«141 und konstatiert eine Entwicklungslogik für das Entstehen diskursiver Symbolik: »Die Regeln des wörtlichen Denkens aber können nur dort Anwendung fi nden, wo die Erfahrung vorher schon – geformt durch ein anderes zur Auffassung und Bewahrung geeignetes Medium – präsentativ dargeboten wurde. Wir müssen Ideen haben, bevor wir an ihre wörtliche Analyse gehen können«.142 Dennoch sind die Symbolisierungen der verschiedenen Modi nicht grundsätzlich ineinander übersetzbar, und der präsentative Modus – der den Cassirerschen »Gegenständen höherer Ordnung entspricht – stellt nicht ausschließlich eine Vorstufe des diskursiven dar. Die Strukturen präsentativer Symbole beschreibt Langer in Philosophy in a new key am Beispiel des Mythos, des Ritus, der Musik und der Dichtung. Charakteristisch für präsentative Symbole ist es, daß sie nicht einzelne Elemente als »Einheiten mit unabhängigen Bedeutungen«143 beinhalten; ein »Wörterbuch« für kleinste Sinneinheiten der Malerei könne es beispielsweise nicht geben: »Eine Idee, die zu viele winzige, jedoch eng aufeinander bezogene Teilbestimmungen enthält, zu viele Beziehungen innerhalb von Beziehungen, läßt sich nicht in diskursive Form ›projizieren‹.«144 Zur Veranschaulichung greift auch Langer auf die Musik zurück, denn spezifische Komplexqualitäten emotionalen Lebens wie Rhythmus, Dynamik, Spannung, Lösung, Steigen, Fallen und Ruhe werden in ihren musikalischen Korrespondenzen besonders sinnf ällig zum Ausdruck gebracht. Die Töne eines Musikstückes haben keine von dem Stück unabhängige Bedeutung. Nur in den Verlaufsformen von Tonfolgen können sie ihren Darstellungszweck erfüllen. Nur das Hören von Melodien und nicht von einzelnen Tönen erfaßt den »Gegenstand höherer Ordnung«, den die Musik darstellt.

Ebd., S. 261. Ebd., S. 148 f. 141 Ebd., S. 148. 142 Ebd., S. 201 f. Die Nähe zu der von Leibniz konstatierten Dialektik von intuitiver und symbolischer Vorstellung ist frappant. 143 Ebd., S. 100. 144 Ebd., S. 99. 139 140

Kapitel 2 Auf der Suche nach der ästhetischen Form. Cassirers ästhetische Reflexionen in Freiheit und Form

a) Einleitung Der Begriff der Ästhetik wird in diesem Kapitel im weitesten Sinne, d. h. sowohl in seinen kunstphilosophischen als auch in seinen wahrnehmungstheoretischen Implikationen gefaßt. Der anschauliche, weniger stark begriffl ich geprägte Charakter der Sprache, die Cassirer in Freiheit und Form spricht, wenn er sich den formgebenden Momenten der Kunst über (theoretische) Texte von Dichtern nähert, die sympathetische Übernahme insbesondere Goethescher Gedankenfiguren sowie die ideengeschichtliche Ausrichtung erschweren es streckenweise, ihn bei der Entwicklung von Elementen seiner eigenen (systematischen) Ästhetik zu beobachten. Vieles erscheint, kennt man bereits die präzisere Fassung der symbolphilosophischen Theoreme, eigenartig »konfus« – oder »intuitiv«. In dieser Hinsicht läßt sich Freiheit und Form als der ästhetische Humus der Philosophie der symbolischen Formen betrachten. Dennoch können aus Cassirers Lektüre ästhetischer Schriften von Bodmer und Breitinger, Baumgarten, Lessing, Herder, Hamann, Shaftesbury, Goethe und Schiller erste Elemente seiner Kunstphilosophie isoliert werden. Abermals wird deutlich, daß Cassirer sich in der Auseinandersetzung mit ästhetischen Theorien Grundlagen für die Philosophie der symbolischen Formen erarbeitet, und somit die ästhetische Vorgeschichte der Symbolphilosophie fortgeschrieben. Cassirers kunstphilosophische Reflexionen sind von seiner Wahrnehmungstheorie ebensowenig zu trennen wie seine Philosophie der symbolischen Formen ohne ihre ästhetischen Quellen denkbar ist. Cassirer hat den Begriff der »symbolischen Form« selten und nur sehr allgemein defi niert. Diese Abstinenz hat Methode. Bevor im weiteren Verlauf des Kapitels Cassirers Auseinandersetzung mit Positionen zur ästhetischen Formgebung und Wahrnehmung in ihren zentralen Punkten verfolgt wird, geht es im Abschnitt b) um seinen offenen Begriff der Form, der mit der ideengeschichtlichen Methode in Verbindung steht. Nach Cassirer begreifen wir eine geistige Gestalt bzw. eine symbolische Form erst dann, wenn wir sowohl die »Energien«, die die Gestalt geformt haben, als auch die durch das spezifi sche Medium bedingten Formgesetze, die sie bestimmen, erfaßt haben. Die Aufmerksamkeit auf diese beiden Komponenten bestimmt

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bereits die Cassirersche Beschäftigung mit der Ästhetikgeschichte. Die Einschätzung der Verdienste Baumgartens für das Verständnis der Kunst als autonomer Form verändert sich in der Zeit zwischen 1916, der Veröffentlichung von Freiheit und Form, und 1932, der Publikation der Philosophie der Aufklärung, beträchtlich. Während Cassirer sich zunächst an der logischen Prägung der Baumgartenschen Terminologie stößt, da diese letztlich eine Unterordnung der bildenden Prinzipien der Kunst unter diejenigen der Logik bewirke, kommt er später zu einem positiveren Urteil über den Gründungsvater der ästhetischen Disziplin. Abschnitt c) verfolgt Cassirers Baumgartenrezeption in Freiheit und Form und in der Philosophie der Aufklärung. In Freiheit und Form hebt Cassirer die Aufwertung der sinnlichen Fähigkeiten des Menschen durch Baumgarten hervor. In der Philosophie der Aufklärung nimmt er die »bestimmte Form der Erfassung des Stoffes«, die Baumgartens Ästhetik begründet, positiv auf und differenziert mit ihrer Hilfe die ästhetische Anschauung und die wissenschaftliche Reflexion. Während Cassirer die in Freiheit und Form beschriebene Entwicklungsgeschichte begriffl icher Reflexivität als Geschichte zunehmender Verwirklichung von Freiheit betrachtet hat, geraten in der Philosophie der Aufklärung auch die Verluste, die durch die Abstraktion des Begriff s entstehen, in den Blick. Die Begründung der »systematischen Ästhetik« verlegt Cassirer nach England. Nicht Baumgarten, sondern Shaftesbury sei mit dem Begriff der »inneren Form« die Bestimmung der bildenden Kräfte der Kunst gelungen. In dieser Traditionslinie stehen sowohl Lessing als auch Herder und Hamann. In der Kunstproduktion und -rezeption wirken nicht einzelne Kräfte, sondern jeweils individuelle Formationen solcher Kräfte. Das methodische Problem, daß »Kräfte« nur in ihrem Wirken erfaßt werden können, wird durch die zueinander komplementären Begriffe des Genies und des Stils gelöst. Das »Bildungsgesetz« des Genies kommt in dem Stil seines Werkes zum Ausdruck. Abschnitt d) zeichnet nach, wie Cassirer auf der Suche nach den formgebenden Kräften der Kunst mit Shaftesbury und Lessing einen Formbegriff entwickelt, der für seine Philosophie der symbolischen Formen prägend ist: die Form als »Prinzip des Bildens«, die dennoch »bildsam und beweglich« ist. Mit Herder und Hamann bereitet er eine Pluralisierung der Kantischen Begriffe der »Erfahrung« und »Apperzeption« vor, denn nach Cassirer gibt es nicht nur ein nach Verstandesbegriffen synthetisiertes Bewußtseinskontinuum. Jede symbolische Form kann als ein solches »Integral« fungieren. Der Kräftekomplex, der den ästhetischen Zugang zur Welt gewährleist, wird von Cassirer mit Hamann und Herder »Gefühl« genannt. Auff ällig häufig, an zentralen Stellen, aber ohne terminologische Fixierung verwendet Cassirer in Freiheit und Form den Begriff der Anschauung. In der Begriff sgeschichte lassen sich vornehmlich zwei Traditionen differenzieren, mit denen Cassirer gleichermaßen vertraut ist: diejenige der »Intuition« und diejenige einer betont sinnlichen, empirischen Anschauung der Erkenntnistheorie. Eine intuitive Form der menschlichen Vernunft hat Cassirer bislang – abgesehen von

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Teil I · Kapitel 2

ihrer mathematischen Bedeutung – nicht gelten lassen. Eine rein rezeptive Form der Anschauung Kantischer Prägung kann es für ihn jedoch ebensowenig geben. Mit der Verwendung des deutschen Wortes »Anschauung« zur Kennzeichnung der Auffassung eines Sinnzusammenhanges umschiff t Cassirer zum einen begriff sgeschichtliche Untiefen der Intuitio-Tradition. Zum anderen arbeitet er an der Vermittlung der sinnlichen »Welt des Auges« mit der geistigen Welt der Vernunft im künstlerischen Symbol. Im Kunstwerk und in ästhetischen Betrachtungen manifestiert sich eine Anschauung, die rezeptiv und spontan ist: Anschauung ist »lebendiger Sinn«. Zur Klärung der Cassirerschen Verwendung des Begriff s der Anschauung unternimmt Abschnitt e) einen begriffsgeschichtlichen Exkurs und zeigt, wie Cassirer über seine ästhetikgeschichtlichen Studien zu der in Kapitel 1 bereits erwähnten Anerkennung der Dynamik von intuitiven und diskursiven Akten des Geistes sowie zu der Konzeption einer ästhetischen Anschauung gelangt, die in ihrer wahrnehmungstheoretischen Tragweite für die Philosophie der symbolischen Formen bedeutsam ist. Am Beispiel von Goethes Methode der Variation von Bildern der Phantasie oder der Anschauung profi liert Cassirer die Funktion der Einbildungskraft als »Ingrediens der Wahrnehmung«. Jedes aufmerksame Sehen ist bereits ein Gestalten, ein Gestalten, das Zusammenhänge stiftet bzw. individuelle Formen in ein Kontinuum einstellt. Mit der Idee der Metamorphose der Pfl anzen entdeckt Goethe ein Prinzip, das von der Betrachtung einer einzelnen Form ausgeht, diese jedoch auf ihr Bildungsgesetz zurückführt und somit das Individuelle mit dem Allgemeinen vermittelt. Goethe versucht zunächst, eine Anschauung von diesem Prinzip zu gewinnen, das er »Urpflanze« nennt. Er muß jedoch einsehen, daß es dieses Sinnbild nicht geben kann. Ideen lassen sich nur symbolisch betrachten. Die einzelne Form symbolisiert den Gesamtzusammenhang, in dem sie steht. Der Goethesche Symbolbegriff, der das Ausdrucksverhältnis zwischen einzelnem Phänomen und Formgesetz bezeichnet, weist auf die Cassirersche Konzeption der »symbolischen Form« voraus. Die symbolischen Formen klassifizieren nicht: Der Zusammenhang zwischen Phänomenen, die einer symbolischen Form zugerechnet werden können, besteht in der »konstanten Richtung des Bildungsprozesses«. In Abschnitt e) wird die Bestimmung des Anschauungsbegriff s, die in Abschnitt f ) herausgearbeitet wurde, weiter vertieft. Cassirer sucht nach dem »Ursprung« von Goethes Anschauungsweise und fi ndet ihn in der produktiven Einbildungskraft als formbildender Kraft sowohl für Goethes naturwissenschaftliches Forschen als auch für seine Dichtung. Die der Anschauung inhärente Einbildungskraft ist auch für Cassirer der Ursprung aller symbolischen Formung. Des weiteren wird verfolgt, wie Cassirer den Reihenbegriff, den Substanzbegriff und Funktionsbegriff entwickelt hat, durch die Vermittlung des Goetheschen Symbolbegriffs für verschiedene Formengebiete, die einem einheitlichen Bildungsgesetz folgen, fruchtbar macht. Bereits mit Hamann und Herder hat Cassirer das Gefühl als eine Grundkraft der Produktion und Rezeption ästhetischer Formen identifi ziert. In der Lyrik Goethes

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tritt nach Cassirer die im vorigen Abschnitt erläuterte Anschauungsweise Goethes mit dem Gefühl, dem allein sich die Komplexität inneren Lebens erschließt, in ein harmonisches Verhältnis. Das Leben und die Dichtung sind nicht zu trennen, dem Erleben selbst sind Momente geistiger Formgebung inhärent. Für Cassirer ist alles Denken auf Zeichen angewiesen. Abschnitt g) zeigt, daß für ihn auch das Empfi nden im Schaffensprozeß der Dichtung bereits symbolisch geprägt ist: Das Gefühl werde nicht in Symbole übersetzt, sondern sei »schon seinem ersten Keim und Ansatz nach selbst Gestalt«. Das Schiller-Kapitel in Freiheit und Form macht auf die Bedeutung der ästhetischen Formreflexion für die Kunst – und für die Philosophie der symbolischen Formen aufmerksam. Eine Ästhetik, die die Kunst nicht als autonome Form der vielgestaltigen menschlichen »Denkkraft« konzipiere, sondern sie einem theoretischen Zweck unterwerfe, bringe in der Folge eine »gewalttätige« Kunst hervor. In Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes und durch produktive Aufnahme der Philosophie Kants hat Schiller einen harmonischen Formbegriff geprägt, der die Sinnlichkeit (des Stoffes) mit der Geistigkeit (der Form) in idealer Weise vermittelt. Der die Beschäftigung mit Cassirers ästhetischen Reflexionen in Freiheit und Form abschließende Abschnitt h) stellt dar, wie die Kunst über den Schillerschen Begriff der »lebendigen Gestalt« zum Prototyp für die symbolische Form wird.

b) Der offene Begriff der Form Freiheit und Form ist, wie Massimo Ferrari bemerkt, ein viel zu wenig beachtetes Buch. Er weist ihm einen »herausragenden Platz innerhalb der intellektuellen Biographie Cassirers« zu und betrachtet das Werk als »eine Art ›Scharnier‹ zwischen dem frühen ›Marburger‹ Cassirer und dem späteren der ›Kulturphilosophie‹«.145 Richtig stellt er fest, daß »die Kulturgeschichte Cassirers bereits auf der Ebene einer ›historischen‹ Analyse – typisch Cassirerscher Prägung – die begriffl ichen Instrumente erprobt, die im Laufe weniger Jahre tatsächlich für die Grundlegung einer wahrhaften Kulturphilosophie Verwendung fi nden sollten«, wenn auch die Formulierung ein wenig unglücklich ist, da Cassirer im Vorwort zur ersten Auflage dezidiert zum nicht-begriffl ichen Charakter seiner »Begriffe« Stellung nimmt. Ich ziehe es daher vor, anstatt von einer »Erprobung« von einem wichtigen Schritt in der Entwicklung des Analyseinstrumentariums auf dem Weg zur Bildung des Begriff s der symbolischen Form zu sprechen.146 M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 31. Auch nach Heinz Paetzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995, verfügt Cassirer in Freiheit und Form »noch nicht über ein begriffliches Instrumentarium, um die Pluralität der kulturellen Energien systematisch zu denken« 145

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Cassirer verzichtet ganz bewußt auf die Defi nition seiner Schlüssel»begriffe«; über »Begriffe und Namen« will er nicht streiten: »[K]ein einzelner Name und keine einzelne Formel [vermag] die Fülle der Probleme, die sich in der deutschen Geistesgeschichte vereinen, jemals zu umfassen«.147 Er ist nicht bereit, die Vielfalt konkreter, individueller Konstellationen zugunsten eines abstrakten Begriff s zu vernachlässigen,148 denn die Defi nition und damit Fixierung eines Begriff s bringe seine Geschichte zum Verschwinden und damit seinen anschaulichen Gehalt.149 Die Komposition von Freiheit und Form spiegelt das Bemühen, eine geschichtliche Entwicklung sichtbar zu machen. Cassirer äußert sich dezidiert zu seiner Methode: »[N]ur in […] beweglichen und bildsamen Gedankensymbolen kann der Charakter jener geistigen Prozesse beschrieben werden, deren Sein in ihrem stetigen Werden aufgeht«.150 Diese Flexibilität, die Cassirer für die Begriff sformen seiner Ideengeschichte anstrebt, ist auch ein Wesensmerkmal der späteren »symbolischen Form«. »Symbolische Formen« sind werdende Formen. Da Cassirer, wie vielfach konstatiert worden ist, auch in den späteren Arbeiten äußerst sparsam mit Defi nitionen seines wichtigsten »Gedankensymbols« – der »symbolischen Form« – umgegangen ist, muß die Aufmerksamkeit auf seine Entwicklung um so größer sein. Ebenso wie die »systematischen« Teile des Cassirerschen Werkes nicht von den ideengeschichtlichen zu trennen sind, da er eigene Positionen stets im Kontext der Tradition formuliert, muß die Auseinandersetzung mit den genuin Cassirerschen Theoremen mangels defi nitorischer Fixierung über eine entwicklungsgeschichtliche Betrachtung erfolgen. Dies versucht der erste Teil dieser Arbeit zu leisten.

(S. 35). Jedoch fi nden sich bereits zentrale Begriffe der Cassirerschen Philosophie in dem Kapitel über Goethe (S. 34). 147 ECW 7, S. 391. In der Diskussion im Anschluß an seinen Vortrag »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie« (1927) nimmt Cassirer erneut zur mangelnden defi nitorischen Fixierung seiner Begriffe Stellung. Über seine Verwendung des Begriff s des Symbols schreibt er, daß es für ihn zumindest zum damaligen Zeitpunkt aufgrund des Standes der Diskussion kein Begriff sei, »sondern die latente Einheit eines Problems«. Vgl. ECW 17, S. 280. 148 Die »Sorge« um das Individuelle ist bei Cassirer dadurch begründet, daß er es als Ursprung von Kreativität begreift: »[U]m die Energie des Tuns nicht untergehen zu lassen, muß das Individuelle sich im Sein behaupten. […] Indem jede endliche Kraft ihre Sphäre erfüllt, geht hieraus das Unendliche nicht als ruhiges Sein, sondern als ein sich stetig neu erzeugendes Leben hervor.« ECW 7, S. 59. 149 Die Begriff sabstinenz teilt er mit Nietzsche, der die seine folgendermaßen begründet: »[A]lle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Defi nition; defi nirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.« Siehe F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: Werke. Kritische Gesamtausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Abt. 6, Bd. 2, Berlin 1968, S. 333. 150 ECW 7, S. 391.

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Es liegt nahe, sich Cassirers Kunstphilosophie über den ästhetisch einschlägigen Begriff des Symbols zu nähern. In der Forschung sind diverse kunstphilosophische Quellen des Cassirerschen Symbolbegriff s ausgemacht worden, u. a. Moritz, Goethe, Schelling, Solger und Fr. Th. Vischer.151 Um seine Verwendungsweise des Begriff s zu begründen und gegen den Vorwurf einer »ungewohnten und ungerechtfertigten Weite«152 zu verteidigen, weist Cassirer auf die Ästhetik hin, die ihren Weg von einem engeren zu einem weiteren Symbolbegriff genommen habe.153 In der Tat ist der Cassirersche Begriff aufgrund der übergreifenden Verwendungsweise für alle bedeutungstragenden Produkte menschlicher Kreativität für kunstphilosophische Differenzierungen nicht zu gebrauchen154 : Der Symbolbegriff steht generell für die untrennbare Verbindung zwischen Sinn und sinnlicher Form. Er wird für Cassirer zum »systematischen Zentrum […] auf das alle Grunddisziplinen der Philosophie […] hinzielen«155. Obwohl die Formung eines geistigen Gehalts für Cassirer stets eine Symbolisierung ist, scheint mir die Fortsetzung der unter ästhetischer Fokussierung im ersten Kapitel begonnenen Beschäftigung mit seinem Formbegriff fruchtbarer zu sein als diejenige mit seinem Symbolbegriff. Das Formproblem ist nicht weniger universell als das Symbolproblem, doch worin sich die einzelnen symbolischen Formen unterscheiden, ist nicht ihr Symbolcharakter, sondern die Form, in der sie ihn realisieren.156 Umfangreiche Teile des Cassirerschen Gesamtwerks sind der Auseinandersetzung mit dem Form-Inhalt-Problem gewidmet: Die Geschichte des Erkenntnisproblems schreibt er als Geschichte der Auflösung der Oppositionsbegriffe von Form und Materie zu Korrelationsbegriffen; in der auf die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems folgenden Studie Freiheit und Form konzipiert er den »Entwicklungsroman« des Formbegriffs als Prozeß der Formreflexion auf verschiedenen anderen geistigen Gebieten. Zwar bestimmt Cassirer auch in Freiheit und 151

Vgl. z. B. G. Pochat, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983,

S. 129. Siehe Cassirers Abschlußstatement zu der Diskussion von »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, in: ECW 17, S. 280. 153 Ebd., S. 281. 154 Vgl. A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 30–38. Graeser hebt hervor, daß für Cassirer das Symbolische das Bedeutungshafte schlechthin sei. Sein Symbolbegriff unterscheide sich vom geläufi gen Verständnis des Begriff s. Aus kunstphilosophischer Sicht sei Cassirers Verwendungsweise des Begriff s infl ationär. Die kunstphilosophische Unterscheidung von symbolisch und nicht-symbolisch sei bei Cassirer eine innersymbolische. Zu der Differenz, die Cassirer bspw. zwischen »Symbol« und »Allegorie« macht, vgl. unten, Teil II, Kapitel 1, Abschnitt f ). 155 »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, in: ECW 17, S. 253. 156 Damit ist nicht gemeint, daß der Begriff des Symbols sich nicht geschichtlich entwickelt oder in den verschiedenen Disziplinen keine unterschiedlichen Bedeutungen habe. Die Diskussion des Begriff s des Symbolischen im Sinne Cassirers erfolgt in Teil II, Kapitel 1, im Zusammenhang der allgemeinen Bestimmung symbolischer Formung. 152

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Form keinen Endpunkt der Entwicklung des Formbegriffs, der als Defi nitionsersatz dienen könnte, doch die »Haltepunkte« seiner Begriff sgeschichte kennzeichnet er deutlich. Es läßt sich zeigen, daß nicht nur die in Kapitel 1 beschriebenen Ansätze von Cassirers sich ausdifferenzierendem Formverständnis, sondern auch die Weiterentwicklung ästhetisch geprägt sind. In den unter dem Titel Freiheit und Form publizierten Studien zur Geistesgeschichte von 1916 geht es abermals um die Auflösung eines vermeintlichen Gegensatzes – dem zwischen Freiheit und Form als »Antithese […] geistigen Verhaltens«157 – und den geschichtlichen Prozeß ihrer Vereinigung in dem Begriff der Autonomie. Was Cassirer im Vorwort zum ersten Band des Erkenntnisproblems noch fraglich erschien – ein etwaiger Zusammenhang, eine »übergreifende Einheit« aller Gebiete geistiger Tätigkeit –, soll in Freiheit und Form entwickelt werden: Es ist eine gemeinsame »Entwicklungsrichtung« zur Versöhnung von Freiheit und Form, die sie aufweisen, und eine gemeinsame Funktion. Bereits hier wird die als Befreiung verstandene Selbstreflexion, die Cassirer später als das Telos jeder symbolischen Formung bestimmt, konzipiert, und so ist die Beweislast, die Cassirer dem Buch Freiheit und Form auf bürdet, groß. Nichts Geringeres als die Überzeugung soll in ihm begründet werden, »daß der Gehalt der deutschen Geistesgeschichte eine der notwendigen Vermittlungen bildet, durch welche wir die Gesamtwelt des Geistigen selbst erst besitzen«.158 Um die Kultur als eine Einheit verstehen zu können, sei es nötig, daß die einzelnen »objektiven geistigen ›Formen‹« – Cassirer nennt Gesellschaft, Staat, Wissenschaft und Recht159, aber auch Religion, Philosophie und Literatur160 – zuerst zum Bewußtsein ihres »Grundgesetzes« gelangen, durch das sie sich auf je besondere Weise auf das Ganze der Wirklichkeit beziehen. Die Reflexion der Kulturgebiete auf ihr eigenes Formgesetz, die Einsicht in die Autonomie der »Formwelten«, ist die Voraussetzung der geistigen Durchdringung und Aneignung von Kultur: »Der deutsche Idealismus hat es als sein Grundprinzip ausgesprochen, daß ein wahrhafter geistiger Bestand erst dort vorhanden ist, wo er in seinem Ursprung und Urgrund gewußt, wo er in dem eigentümlichen Gesetz seines Auf baus erkannt ist.«161 Cassirer stimmt diesem Prinzip uneingeschränkt zu. Die deutsche Geistesgeschichte habe nun in ihrer Entwicklung (von Leibniz bis Goethe) die Voraussetzungen für ECW 7, S. 390. Siehe das Vorwort zur ersten Aufl age, ECW 7, S. 394. 159 Vgl. ECW 7, S. 20 160 Ebd., S. 390. 161 Siehe das Vorwort zur ersten Aufl age, ECW 7, S. 392. In dem Nachlaßtext Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis (ECN 2), in dem Cassirer die Weisen beschreibt, in denen sich in den verschiedenen Wissenschaften die Wirklichkeit formiert, schreibt er: »Um ein Produkt der Kultur, als das was es ›ist‹, zu verstehen, müssen wir es innerlich nachschaffen« (S. 11). Dieses Verständnis geht auf Kant zurück, der Erkenntnis als dasjenige bestimmt, was sich durch Konstruktion hervorbringen läßt. Siehe KrV, Vorrede zur zweiten Aufl age, B XII. 157

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das Verständnis der modernen Kultur geschaffen bzw. sei in ihrer Entwicklung, die ihren Höhepunkt in der »Weltanschauung« Goethes und Kants habe, selbstreflexiv geworden. Das, was die verschiedenen Einzelgebiete in ihrem selbstreflexiven Prozeß verbinde, sei die Entwicklung von Autonomie, die Entwicklung des Bewußtseins, sich durch Formprinzipien von den jeweils anderen Einzelgebieten zu unterscheiden und sich die eigene Form selbst zu geben. Das Einsetzen der Reflexion auf die Gestaltung der eigenen Formen untersucht Cassirer im Bereich der Ästhetik, die somit abermals die Rolle einer Vorreiterin übernimmt. Innerhalb der Reflexionen Cassirers zur »ästhetischen Formwelt« erhalten einige der von ihm studierten Autoren eine exemplarische Bedeutung, allen voran der Dichter und Naturforscher Goethe.162 Das Beispiel Goethe veranschaulicht ganz konkret den Prozeß, den Cassirer beschreibt: »Denn eben hier [bei Goethe] stand die Problementwicklung an einem Punkte, an welchem im Besonderen ein Allgemeinstes deutlich und sichtbar wurde, an dem jeder Zug gleichzeitig als ein rein individueller und als ein rein typischer gedeutet werden konnte und mußte. Weil dieser Zusammenhang sich in jeder Richtung von Goethes Schaffen bewährt, weil jede von ihnen aus dem innern Gesetz von Goethes Leben erwächst und zugleich dennoch eine Grundtendenz der deutschen Geistesgeschichte zur Erfüllung und zum Abschluß bringt: darum ist auch im folgenden die Analyse von Goethes Weltansicht zum ideellen Mittelpunkt geworden, auf den alle sonstigen Richtlinien der Betrachtung sich wie von selbst beziehen und hinlenken.«163 Das zweite Zentrum der Untersuchungen bildet die Philosophie Kants. Es ist nicht seine »Weltansicht«, die ihn dazu qualifi ziert, sondern der »Grundbegriff der Autonomie«, den er entwickelt hat.164 Die zwei zentralen Gestalten der Untersuchung – Kant und Goethe – verhalten sich in der Komposition der Schrift korrelativ: Goethes Weltansicht dient als hervorragendes Beispiel für die »Grundtendenz der deutschen Geistesgeschichte«, mit Kant kommt sie auf den Begriff. Da Cassirer jedoch in Freiheit und Form nicht die ästhetischen Formreflexionen Kants untersucht, ist er in diesem Kapitel der Arbeit nur vermittelt thematisch.165 Eine besondere Herausforderung, aber auch Chance für das Verständnis des (ästhetischen) Formbegriffs Cassirers stellt die Tatsache dar, daß er an seiner Kantmonographie 162 An Cassirer ist die Kritik herangetragen worden, Goethes Formauff assung letztendlich als normativ zu betrachten und so hinsichtlich der ästhetischen Moderne nicht anschlußf ähig zu sein. Vgl. K. R. Mandelkow, »Bemerkungen zum Goethebild Cassirer«, in: Cassirer und Goethe, S. 47. Dieser Kritik entgegen steht jedoch zum einen die Konzeption des Goethe-Kapitels in Freiheit und Form. Es schildert die Entwicklung von Goethes Formbegriff. Zum anderen macht Cassirer auf die Grenzen der theoretischen Formreflexion Goethes und generell jedes engen Formbegriff s aufmerksam. Vgl. ECW 7, S. 258. 163 ECW 7, S. 391. 164 Ebd., S, 392. Hervorh. M. L. 165 Mit Kants Ästhetik hat Cassirer sich eingehend in Kants Leben und Lehre auseinandergesetzt. Siehe dazu unten, Kapitel 3.

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und an Freiheit und Form, in dem Goethe (aber auch Kant) eine zentrale Rolle spielt, gleichzeitig gearbeitet hat.166 So ist Kant in der Darstellung des Goetheschen Formverständnisses ständig präsent. Cassirer stellt fest, daß Goethe über das Formproblem seinen Zugang zu Kant gefunden hat.167 Aber auch Kant sei über Goethe zu verstehen: »Die eigentliche Wirkung der ›Kritik der teleologischen Urteilskraft‹ ist«, so Cassirer, »erst durch die Vermittlung von Goethes organischer Naturansicht erfolgt.«168

c) Cassirers Baumgartenrezeption Ihren Ausgang nimmt die von Cassirer in Freiheit und Form nachgezeichnete ästhetische Reflexion bei Bodmer und Breitinger, die den Leibnizschen Wahrheitsbegriff aufgreifen, welcher die logische Wahrheit nicht an die Wirklichkeit, sondern an die Möglichkeit, d. h. den widerspruchsfreien Gedanken der Dinge bindet. Zwar bewegen sie sich immer noch auf dem Boden der Nachahmungstheorie, doch werde mit der Überführung dieser Differenz zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in die ästhetische Reflexion ein erster Schritt »vom Sensualismus zum Idealismus in der Begründung der Ästhetik getan«. Es sind nicht mehr die zuf älligen Tatsachenwahrheiten, die nachgebildet werden, sondern »ideelle Beziehungen«, die zum Ausdruck kommen.169 Durch diese Veränderung in der Konzeption des Abbildungsverhältnisses gerate »die entscheidende Vermittlung durch die ästhetische ›Form‹« zwar noch nicht in den Blick, die »eigentümliche ›Energie‹ […], die sich auf das Ganze der Wirklichkeit bezieht und die diesem Ganzen einen qualitativ eigenartigen Sinn verleiht«,170 sei noch nicht begriffen, doch es werde die spezifische Differenz zwischen einer »poetischen ›Wahrheit‹« und der »konkreten ›Wirklichkeit‹ der Dinge« gewonnen. Eigentümlicherweise vollziehe sich dieser Schritt – obwohl die Schweizer analog zur Selbständigkeit des Denkens für die Ursprünglichkeit der Einbildungskraft eintreten – wiederum auf dem Gebiet der Logik. Sie fordern eine »Logick der Phantasie«171 als einen Teilbereich der Logik. Baumgarten, mit dem Cassirer die Entstehungsgeschichte der ästhetischen Formwelt fortsetzt, konzipiere seine Ästhetik analog zu der formalen Logik Leibnizens als Wissenschaft von den Regeln der sinnlichen Vorstellung, der Anschauung, des Gedächtnisses und der Einbildungskraft. Er nehme dafür, so Cassirer, »das entscheidende Mittelglied« zwischen Verstand und Sinnlichkeit auf, das in der tieferen »esoterischen Fassung der Leibnizischen Lehre« bereits verborgen gelegen 166 167 168 169 170 171

Siehe ECW 7, S. 179, Anm. 38. Ebd., S. 180. Ebd., S. 179. Ebd., S. 75 und 73. Ebd., S. 78 f. Ebd., S. 79.

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habe.172 Tatsächlich jedoch gibt Cassirer an dieser Stelle Nachhilfe und konstruiert in seiner Darstellung das »Mittelglied«, das ihm ermöglicht, den in seiner vagen Formulierung (»die Richtung dieser Gedanken setzt Baumgarten fort«173) etwas dünn geratenen roten Faden der Erzählung zu verstärken. In der im folgenden skizzierten produktiven Aneignung Leibnizschen Gedankenguts, die Cassirer Baumgarten zuschreibt, entwickelt er wesentliche Aspekte seiner Wahrnehmungstheorie, die die Grundlage der späteren Philosophie der symbolischen Formen bildet. Leibniz selbst habe die Möglichkeiten, die seine Metaphysik biete – die Überwindung der in seiner Methodenlehre angelegten Verkürzung des gesamten Gebiets des Geistigen auf das Gebiet der Logik – nicht auszuschöpfen vermocht.174 Um das »wirkliche seelische Geschehen«175, das sich in der Produktion sowohl logischer als auch ästhetischer Formen vollzieht, begreif bar zu machen, fusioniert Cassirer die Erkenntnis, die Leibniz aus der Konzeption der characteristica universalis gewinnt, nach der alles Denken auf Zeichen angewiesen ist und das sinnliche Zeichen zum Medium der Erkenntnis aufgewertet wird, mit der im Bild der Monade symbolisierten Spontaneität des Geistes, der keine äußeren Einwirkungen erfährt. Das Ergebnis, daß auch die Wahrnehmung aktiv, nicht bloß passiv sein muß, ist eine für Cassirers Symbolphilosophie grundlegende Einsicht: »Das Sinnliche ist nun nicht mehr der bloße Stoff, der im Erkennen überwunden und in die reine Gedankenform aufgehoben werden soll, sondern es wird ein, vom Standpunkte unseres Wissens, unentbehrliches Mittel, um die Verhältnisse der Begriffe selbst zu übersehen und zu bezeichnen.«176 »Auch das sinnliche ›Empfangen‹ des Eindrucks ist daher noch eine Form des geistigen Tuns; auch jede bloße Rezeptivität löst sich für die tiefere Einsicht in Spontaneität auf. […] Bezeichnet das Tun das Wesen des Geistigen schlechthin, so kann unser Bewußtsein nicht zwischen gegensätzlichen Zuständen der Aktivität und Passivität hin- und hergeworfen werden […] Denn auch das ›Sinnliche‹ selbst ist eine Art und Form des ›Geistigen‹. An die Stelle des abstrakten Gegensatzes beider trete die lebendige Dynamik des Vorstellungslebens.«177 Doch die Verbindung zwischen scientia generalis und Monadenlehre überEbd., S. 80. Von besonderer Bedeutung sind die ersten Seiten von Cassirers Baumgartenreferat in Freiheit und Form. Unter anderem läßt sich hier ein von Cassirer häufi g für seine ideengeschichtlichen Studien verwendetes Verfahren beobachten, das darin besteht, daß er scheinbar paraphrasiert, aber die seiner Auff assung entsprechenden entscheidenden Übergänge schaff t und dadurch seine Geschichte erst erzählbar macht. 173 Ebd., S. 81. Hervorh. M. L. 174 Der Mangel, daß Leibniz seine Methodenlehre nicht mit der Metaphysik vermittelt habe, ist es, was nach Cassirer den Plan der Ausweitung der characteristica universalis auf alle Gebiete des Geistigen scheitern ließ. Siehe oben, Kapitel 1. 175 ECW 7, S. 81. 176 Ebd., S. 81. 177 Ebd., S. 80 f. Nach St. W. Groß, Felix aestheticus. Die Ästhetik als Lehre vom Menschen. Zum 250. Jahrestag des Erscheinens von Alexander Gottlieb Baumgartens »Aesthetica«, Würzburg 2001, hat Cassirers Wahrnehmungstheorie ihre Wurzeln bei Baumgarten: »Die Wahrneh172

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zeugt hier noch nicht.178 In der Philosophie der symbolischen Formen wird Cassirer sowohl den an dieser Stelle in nuce enthaltenen Gedanken, daß es keine Anschauung ohne eine wie auch immer geartete symbolische Formung gibt, als auch das Verständnis der Rezeption als eines geistigen Tuns ausführlicher begründen. Die Erweiterung, die der Leibnizsche Zeichenbegriff in Freiheit und Form erfährt, ist ebenfalls eine für Cassirer typische Fortschreibung der Gedanken seiner Autoren. Mit der lapidaren Formulierung »von hier aus greift die Betrachtung weiter« faßt er nun die »natürlichen Zeichen, die wir in den sinnlichen Qualitäten, in den Farben und Tönen besitzen«179 unter den Leibnizschen Zeichenbegriff, um ihn für die Ästhetik und die Systematik der Künste fruchtbar zu machen und zu verfolgen, wie die »ästhetische ›Charakteristik‹ sich allmählich aus der logischen Charakteristik herausgelöst und selbständig gestaltet hat«.180 Denn wie das logische Denken auf Zeichen angewiesen und durch sie bestimmt ist, ist auch die künstlerische Produktion durch spezifi sche Zeichen bedingt. In Anlehnung an Max Dessoir hält er fest: »[ J]ede Kunst muß sich mit dem Teile der natürlichen Zeichen begnügen, den sie sinnlich ausdrücken kann […] Die spezifi sche Natur der Zeichen bestimmt somit jeder Kunst den Kreis ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und die spezifi sche Weise der Gestaltung selbst.«181 Die Bedeutung, die Baumgarten für Cassirer innerhalb der Entwicklung des ästhetischen Formbewußtseins hat, liegt nicht darin, daß dieser die unteren Abschnitte der Leibnizschen Stufenleiter der Erkenntnis, die von der Verworrenheit zur Deutlichkeit führe, begriffl ich gefaßt und die Regeln sinnlicher Erkenntnis formuliert habe – denn gerade durch die Verortung des Ästhetischen innerhalb des Logischen schlage die erstrebte Verteidigung des Sinnlichen eine falsche Richtung mung, als geistig-sinnliche Wahrnehmung, gerät mit Baumgarten zur entscheidenden Grundlage für Erkenntnis überhaupt. Dies ist die wohl wichtigste Vorleistung für Ernst Cassirer, der das Konzept der Wahrnehmung durchaus im Baumgartenschen Sinne aufnehmen sollte.« (S. 247). In dem Aufsatz »Felix Aestheticus und Animal Symbolicum. Alexander G. Baumgarten – die ›vierte Quelle‹ der Philosophie Ernst Cassirers?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 49/2, 2001, weist Groß auf die »verblüffende Ähnlichkeit und Parallelen« (S. 279) zwischen Baumgarten und Cassirer hin. Die Bewertung der produktiven Aneignung Baumgartens durch Cassirer ist jedoch schwierig. In der Philosophie der symbolischen Formen f ällt sein Name nicht, in Freiheit und Form sieht Cassirer Baumgarten – abgesehen von Impulsen für die Anthropologie, auf die Groß zu Recht hinweist – eher kritisch. 178 Tatsächlich steht die These von dem Wahrnehmungsakt als einer Tätigkeit zum Teil gegen den Leibnizschen Wortlaut. Für Leibniz sind die Perzeptionen, solange sie undeutlich sind, ein Leiden. Erst die Apperzeption ist ein Tun. (Vgl. »Monadologie«, § 49). Die Perzeptionen sind als gottgegeben nicht fallibel. Täuschungsmöglichkeiten ergeben sich durch die Aktivität des Menschen, die im Urteilen einsetzt. Die ebenfalls begründbare These eines ästhetischlogischen Erkenntniskontinuums bei Leibniz spricht jedoch wiederum für die Cassirersche Interpretation. 179 ECW 7, S. 92. 180 Ebd., S. 96. 181 Ebd., S. 94.

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ein. Die ästhetische Form könne sich somit nicht aus der Vorherrschaft der allgemeinen Form des Begriffs befreien und als »selbständiges gestaltendes Prinzip«182 begreifen. In den Abschnitten zur Ästhetik in Freiheit und Form geht es Cassirer neben poetologischen Fragen – Fragen nach der Form von Dichtung – um die Bestimmung der schöpferischen Kräfte, der bildenden Energien, die der Dichtung zugrunde liegen. Die »sinnlichen Begriffe« Baumgartens, die für Cassirer »logische Zwitterdinge«183 sind, taugen ihm hierfür nicht.184 In einer Variation der bereits zitierten Überzeugung, daß wir nur das verstehen, was »in dem eigentümlichen Gesetz seines Auf baus erkannt ist«185, schreibt er: »Eine Gestalt des Wirklichen begreifen wir daher erst dann völlig, wenn wir die bildenden Energien, aus der sie hervorgegangen ist, erfassen«.186 Dies sei Baumgarten nicht gelungen. Als erstes Ergebnis, das die Zugangsweise Cassirers zu der ästhetischen Formwelt zusammenfaßt, läßt sich festhalten: Eine Ästhetik, die einen autonomen Bereich menschlicher Kreativität erforschen will, muß ihre formenden Kräfte oder gestaltenden Prinzipien bezeichnen können.187

Ebd., S. 85. Siehe Philosophie der Aufklärung, (ECW 15), S. 355. 184 Dieses Urteil erf ährt jedoch in der Philosophie der Aufklärung eine Teilkorrektur. Die Einschätzung der Bedeutung Baumgartens für die Entwicklung der Ästhetik und für die philosophische Anerkennung von Anschauungs- und Darstellungsweisen, die sich von der naturwissenschaftlichen unterscheiden, f ällt hier, d. h. sechs Jahre nach der Abfassung des letzten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, insgesamt positiver aus. Cassirer benennt die Probleme, die Baumgarten daraus erwachsen, daß er die sensitive Erkenntnis als ein irreduzibel Eigenes profi lieren will, sie aber terminologisch der Erkenntnis subordiniert. Er gesteht jedoch zu, daß der Analytiker bzw. der »Phänomenologe« Baumgarten dieses Problem überwunden habe (ECW 15, S. 357). 185 Vgl. oben, S. 62, Anm. 161. 186 ECW 7, S. 87. Auff ällig ist die methodische Zweigleisigkeit, die Cassirer immer wieder den Fokus wechseln läßt. Er untersucht sowohl den »Ursprung« und »Grund« der geistig-sinnlichen Phänomene als auch ihre Formgesetze. Diese Zweigleisigkeit von transzendentalphilosophischem oder erkenntnispsychologischem einerseits und poetologischem oder phänomenologischem Fokus ist für Cassirers Symbolphilosophie charakteristisch. In der Heymann-Replik expliziert er, warum er die Analyse der Form nicht von derjenigen des Grundes trennen will (ECW 17, S. 85) und daß die systematische Philosophie im Gegensatz zu Logik immer auch nach Ursprung und Grund fragen muß (S. 87 f.). 187 Cassirer lehnt seinen Begriff der »bildenden Energien« an den Leibnizschen Kraftbegriff an. Die Kräfte können nur »in ihrem Wirken selbst« begriffen werden. Siehe ECW 7, S. 86 f. Durch den Begriff der Kraft gelinge es Leibniz, so Cassirer, die Kluft zwischen der stoffl ichen und der geistigen Sphäre zu überwinden. Zur Cassirerschen Deutung des Leibnizschen Kraftbegriff s siehe auch ECW 1, S. 254–315. In dem Kantischen Begriff der Einbildungskraft, der für Cassirer die bildende Kraft aller symbolischen Formen repräsentiert, lebt der metaphysische Kraftbegriff Leibnizens fort. Birgit Recki deutet den Cassirerschen Begriff des »bildenden Prinzips« als eine Fehllektüre des Kantischen »belebenden Prinzips« aus der KU, § 49: »Geist in ästhetischer Bedeutung heißt das belebende Princip im Gemüthe«. Vgl. B. Recki, Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Berlin 2004, S. 57 ff. 182

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Das Verdienst um die Ästhetik, das Cassirer Baumgarten trotz seiner ›vermögenstheoretischen‹ Fehleinschätzung in Freiheit und Form zugesteht, ist im Bereich der Anthropologie angesiedelt. Die Aufwertung der spezifi sch menschlichen, auf die Sinnlichkeit angewiesenen Erkenntnis schaffe gegenüber dem Ideal einer vollkommenen Erkenntnis ein »neues Werteverhältnis der geistigen Realitäten und Kräfte«188 , einen neuen »Maßstab im Ganzen des geistigen Lebens«189. Die Ästhetik und das Phänomen des Schönen haben ihre Bedeutung nur innerhalb dieser humanen Welt, der Welt des empfi ndenden Menschen. Die Natur des Menschen und die humane Bildung stehen in dieser Perspektive im Vordergrund. Auf die Bedeutung der Kunst für die Entwicklung und Wahrung von Humanität ist Cassirer später häufig zurückgekommen.190 In der Philosophie der Aufklärung wird sein Baumgartenbild differenzierter, und er spricht ihm nun das Verdienst zu, die Ästhetik als Wissenschaft, d. h. als besondere Erkenntnisform, entwickelt zu haben.191 Diese spezifi sche Erkenntnisform sei eine »bestimmte Art der Erfassung des Stoffes«, eine »neue, höchst eindringliche Weise des Verstehens«192 ; und mit ihr entstehe ein neues Erkenntnisideal. Während der vollkommen deutliche Begriff der Logik durch vollständige Zergliederung erreicht werde, zerstöre sie in der Ästhetik das Phänomen: der sinnliche Eindruck werde aufgehoben, das Phänomen um seinen ästhetischen Sinn gebracht.193 Cassirer gibt zur Erläuterung das Beispiel der Betrachtung einer Landschaft: »Wer uns den Eindruck einer Landschaft dadurch vermitteln wollte, daß er ihren reinen Anblick in einzelne Bestimmungen auseinanderlegte und daß er für jede dieser Bestimmungen nach einem deutlichen Begriff suchte, indem er die Landschaft etwa in der Sprache der Geologie und mit deren Erkenntnismitteln beschriebe – der hätte damit eine neue naturwissenschaftliche Einsicht erreicht, aber in ebendieser Einsicht ist von der Schönheit der Landschaft nicht das geringste auf behalten. Diese Schönheit gibt sich nur der unzerlegten Anschauung, der reinen Betrachtung der Landschaft als Ganzem, zu eigen.«194 ECW 7, S. 84. Ebd., S. 82. 190 Vgl. z. B. Teil II, Kapitel 2, Abschnitt d). 191 ECW 15, S. 354. 192 Ebd., S. 356. 193 Ob der ästhetische Eindruck, die Wirkung der Kunst, tatsächlich dem analytischen Zugriff gänzlich entzogen ist, darf bezweifelt werden. Für Cassirer ist ein ästhetischer Eindruck durch eine Analyse der Bestandteile des Objektes unwiederbringlich zerstört (ECW 15, S. 360). Leibniz hat bereits auf den Widerspruch hingewiesen, der darin besteht, ein Scheinbild betrachten zu wollen und gleichzeitig den Schein als Schein zu entlarven (vgl. oben, S. 49). Zwar läßt sich zugestehen, daß die Analyse eines Kunstwerkes zeitweilig die Aufmerksamkeit von dem Gesamteindruck abziehen muß, doch verhindert Detailkenntnis nicht die Betrachtung eines Ganzen – eine These, die auf die Behauptung der Zerstörung der Kunst durch Kunstwissenschaft hinausläuft. 194 ECW 15, S. 359. »Landschaft« ist als Beispiel für eine nicht zerlegbare Einheit besonders 188 189

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Während also die Vollkommenheit eines Begriffs in seiner vollständigen Auflösbarkeit besteht, ist das Ideal der ästhetischen Erkenntnis in einem komplexen Bild, das eine Anschauungsfülle enthält, gegeben. Doch diese Fülle ist keine chaotische Mannigfaltigkeit, wie die deutsche Übersetzung »konfus« nahelegt,195 sondern eine gestaltete, gegliederte Einheit. Das Ästhetische »gibt sich uns, in seinem reinen Anblick, als ein durchgängig bestimmtes Ganze. Solche Gliederung – das ist die Grundthese von Baumgartens Ästhetik – ist keineswegs allein auf dem Wege und Umwege über den Begriff erreichbar. Sie kommt auch jener vorbegrifflichen Sphäre zu, die die reine Logik als solche freilich nicht zu kennen und zu berücksichtigen braucht«.196 Cassirer betont, daß die »Sphäre des Gesetzes nicht mit der des logischen Begriffs gleichbedeutend, sondern von weit größerem Umfang und Ausmaß ist«. Die Vernunft als Ganzes »geht auf Ordnung und Gesetzlichkeit schlechthin«.197 Eine weitere von Baumgarten formulierte Differenz zwischen der logischen und der ästhetischen Erkenntnis, die in Freiheit und Form möglicherweise aufgrund der teleologischen Ausrichtung an der Entwicklung von Freiheit als Freiheit der Distanznahme und Reflexion nicht zutage treten konnte, nimmt Cassirer in der Philosophie der Aufklärung auf: Es sind die Kosten oder Verluste, die die zunehmende Abstraktion der begriffl ichen Weltaneignung mit sich bringt. »Abstraktion […] bedeutet der Anschauung gegenüber immer Verarmung und Verkümmerung«.198 Abstraktion geht auf Kosten von umfänglicher Bestimmtheit, denn für die »intensive Klarheit«, die von dem wissenschaftlichen Begriff gefordert wird, wird die Fülle der Anschauung auf wenige »Grundbestimmungen« zusammengedrängt. Die »extensive Klarheit« – das Ideal der ästhetischen Betrachtung – ist nach Baumgarten daran orientiert, die Totalität der Anschauung in einem Bild zu erfassen.199 Der wissenschaftlichen Formel steht somit das anschauliche Bild gegenüber. geeignet. Sie ist ein traditionelles Symbol sowohl für die menschliche Seele als auch für einen poetischen Text. Die Bedeutung von »Landschaft« innerhalb der Ästhetik ist intensiv erforscht worden. Die »Klärung der Landschaftsvorstellung [könnte] ein vorzüglicher Prüfstein für die Herausarbeitung der fundamentalen Bestimmung der ästhetischen Gestaltungsmodalitäten sein«. Siehe W. Flach, »Landschaft. Die Fundamente der Landschaftsvorstellung«, in: M. Smuda (Hg.), Landschaft, Frankfurt/Main 1986, S. 11–29, hier S. 25, Anm. 5. 195 Vgl. oben, Kap. 1, S. 40, Anm. 67. 196 ECW 15, S. 361. 197 Ebd., S. 362. 198 Ebd., S. 363. 199 Verwunderlich ist, daß Cassirer den Baumgartenschen Begriff der »extensiven Klarheit« als Kennzeichen für die Betrachtung komplexer Zusammenhänge, die – wie der Leibnizsche Begriff der Harmonie und die Verfaßtheit des Ichs – nur in der Komplexität ihre Bedeutung haben, in Freiheit und Form nicht aufnimmt. (Vgl. hierzu A. Spree, »Cassirers Baumgarten«, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 95/3, 2003). Bei Baumgarten fi ndet die Differenzierung »verschiedenartiger Formen der Verknüpfung« von Gedankeninhalten, die Cassirer bei Leibniz entdeckt (das Modell mathematischer Begriff soperation der Logik versus dasjenige harmonischer Zusammenstimmung in der Ästhetik), aber nicht ausgearbeitet fi ndet, ihre erste Aufnahme.

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d) Der Begriff des Stils als »forma formans« und »forma formata« Auf die ›vermögenstheoretische‹ Frage nach den Kräften, die die ästhetischen Formwelten hervorbringen, hat Baumgarten nach Cassirer keine befriedigende Antwort gefunden. Shaftesbury sei es gewesen, der mit seiner Bestimmung der schönen Form zu den »bildenden Energien« der Kunst vorgedrungen sei. Die schöne Form sei für Shaftesbury das Symbol einer ›inneren Form‹, die sich aus den im Ich wirkenden Kräften zusammensetze, das Ich sei »das Fundament und der Kern aller Gestaltung«.200 Dieses monadologische Motiv ist schon von Leibniz her bekannt, und Cassirer bindet es auch an ihn zurück. Es ist nicht verwunderlich, daß Cassirer auf den neuen Formbegriff des Engländers aufmerksam wird und mit ihm die »systematische Ästhetik« beginnen läßt,201 denn Shaftesbury denkt die schöne Form dynamisch, nicht statisch, und Flexibilität ist eines der wesentlichen Kennzeichen seines eigenen Formbegriffs. Auch für die Cassirersche Interpretation der Ästhetikgeschichte in Deutschland wird das Modell der Monade zur Symbolisierung des Ichs bzw. des Individuums seine Bedeutung behalten und noch verstärken. Sowohl für die Erläuterung der Entwicklung des Geniebegriff s als auch für den Begriff des Stils, der unmittelbar mit dem Geniebegriff verknüpft ist, greift er auf diese Konzeption zurück. Als den wesentlichen Beitrag, den Lessing zur ästhetischen Diskussion geliefert hat, wertet Cassirer die neue Fassung des Geniebegriff s, zu der dieser durch die Bindung der Gesetzlichkeit der Kunstproduktion an das Genie gelangt sei.202 LesECW 7, S. 91. Das Shaftesburyreferat muß gegenüber der Bedeutung, die Cassirer ihm hinsichtlich der Ästhetik einräumt, aufgrund der auferlegten Beschränkung auf die deutsche Geistesgeschichte in Freiheit und Form recht kurz ausfallen. Sowohl in dem Aufsatz »Shaftesbury und die Renaissance in England« von 1932 als auch in »Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge«, ebenfalls von 1932, schreibt Cassirer Shaftesbury die »Entdekkung«, bzw. Begründung der »systematischen Ästhetik« zu (siehe ECW 18, S. 169, und ECW 14, S. 376). Von Shaftesbury stamme der Begriff des »interesselosen Wohlgefallens« (ebd.) – der in die Ästhetik Kants eingegangen ist – sowie der Begriff der inneren Form, den Goethe aufgenommen habe (ECW 18, S. 175, und ECW 14, S. 376). Von Bedeutung für die ästhetische Vorgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen ist jedoch auch der Begriff der »forming powers« Shaftesburys, den Cassirer in Freiheit und Form nur indirekt (ECW 7, S. 92) erwähnt. Shaftesbury suche (wie Cassirer) das Schöne »in der Aktivität, in dem schöpferischen Prinzip der Gestaltung« (ECW 14, S. 377, und ECW 18, S. 173). Im Zusammenhang mit dem Begriff der »Anschauung« bzw. »Intuition« werde ich im nächsten Abschnitt noch einmal auf Shaftesbury zurückkommen. 202 Auch hier zeigt sich der bereits erwähnte wechselnde Fokus Cassirers zwischen einer vermögens- bzw. subjekttheoretischen und einer phänomenologischen oder poetologischen Fragestellung. Im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen formuliert er das Dilemma, das dem Forscher daraus erwächst, daß er die formbildenden Kräfte untersuchen will, diese sich aber nur in ihrer Wirkung, d. h. im Produkt zeigen, explizit: »Nur sofern es eine spezifi sche Richtung der ästhetischen Phantasie und der ästhetischen Anschauung gibt, gibt es 200 201

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sing ist wie Goethe eine der Gestalten Cassirers, die durch ihre Persönlichkeit und durch ihr Werk Beispielfunktion erlangen. Zwar exemplifi ziert Lessing für Cassirer nicht wie Goethe das Genie, doch ist es die Einheitlichkeit und »Architektonik« seines »Charakters« und seines Werkes, die ihn fasziniert. Er verfüge nicht über die »Magie des großen Dichters«, sondern über die »Magie des Denkens« – womit Cassirer Lessings Fähigkeit umschreibt, »Begriffe […] aus bloßen Resultaten […] wieder zu ursprünglich zeugenden Kräften und zu unmittelbar bewegenden Impulsen« zu verwandeln, ihnen einen anschaulichen Gehalt zu geben und sie auf ihren »eigentlichen Lebensgrund zurückzuführen« 203. Als Erklärung für den von Cassirer an dieser Stelle nicht weiter erläuterten »Lebensgrund« bietet sich der bereits von Leibniz entwickelte und von Baumgarten übernommene fundus animae an, der mit dem Begriff der »vita cognitionis« verbunden ist. Das schöne Denken ist ein lebendiges Denken. Es bezieht seine Kraft aus der Verflechtung mit seinem organischen Grund, mit dem ›Urquell des Gedankens‹, und nicht aus der Schärfe der Abgrenzung gegenüber einer anderen gedanklichen Einheit, wie es von dem Begriff gefordert wird. Diese Fähigkeit, Begriffe mit einem sinnlich-anschaulichen Gehalt zu füllen, durch die Lessing sich Cassirers Sympathien erwirbt und als »echter Ästhetiker« 204 bewährt, stellt eine weitere Facette der Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Verstand und ein Puzzlestück für das Verständnis der »ursprünglich zeugenden Kräfte« dar, das sich bei Cassirer allmählich bildet. Den Begriff der »Lebendigkeit« gewinnt er als »ästhetische Kategorie«.205 Im Zuge der Untersuchung der formbildenden Kräfte des ästhetischen Universums, die Cassirer im Referat seiner Autoren von den durch die Logik vorgebildeten Begriffl ichkeiten entfernt und ihn den dichtenden Theoretikern näherbringt, wandelt sich auch seine eigene Terminologie. Mit zunehmender Komplexität der auszudrückenden Sachverhalte, wird seine Sprache »konfuser« (im Leibniz-Baumgartenschen Sinne). Ins Zentrum rücken nun die Begriffe der Anschauung, der Weltansicht, zur Kennzeichnung einer einheitlichen, wenn auch nicht begriffl ich strukturierten Auffassung der Welt oder eines Kunstwerkes,206 an die Stelle streng

ein Gebiet ästhetischer Gegenstände – und das gleiche gilt für alle übrigen geistigen Energien, kraft deren für uns die Form und der Umriß eines bestimmten Gegenstandsbereichs sich gestaltet.« »Freilich gibt es zuletzt keinen anderen Weg, sich dieses Gesetzes zu versichern, als daß wir es an den Erscheinungen selbst aufzeigen und es von ihnen ›abstrahieren‹, aber ebendiese Abstraktion erweist es zugleich als ein notwendiges und konstitutives Moment für den inhaltlichen Bestand des Einzelnen.« ECW 11, S. 9 f. 203 ECW 15, S. 373. 204 Ebd., S. 372. 205 So der Titel eines Aufsatzes von Birgit Recki, in dem sie Cassirers Begriff von Lebendigkeit in der Ästhetik an Goethe und Kant bindet. Vgl. »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant«, in: dies., Cassirer und Goethe. 206 Ebenso wie den die Untersuchung leitenden Begriff der Form, den Cassirer nicht ter-

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unterschiedener sinnlicher und geistiger Kräfte, die das Leibniz- und Baumgartenreferat gekennzeichnet haben, tritt der komplexe »Grundzug eines Wesens«, das »Bildungsgesetz eines Geistes« 207, die »Einheit eines Charakters« 208. Der »Grundzug des Wesens« eines kunstschaffenden Individuums spielt, so Cassirer, eine entscheidende Rolle für sein Werk. Der individuelle Geist bildet seinem »Bildungsgesetz« entsprechend eine »geistige Form« – oder um mit Shaftesbury zu sprechen: eine »innere Form« – aus, die in seiner Tätigkeit zum Ausdruck kommt. Diese charakteristische Tätigkeit der Seele ist »das ›Poetische‹ im engeren und weiteren Sinne« oder die »gestaltende synthetische Grundkraft des Bewußtseins«.209 Diese Formulierungen, mit denen Cassirer sich dem Geniebegriff Lessings nähert, sind mit erheblichen begriffl ichen Unschärfen behaftet, Unschärfen jedoch, die wahrscheinlich in Kauf genommen werden müssen, wenn man das Leibnizsche Modell der Monade nicht als Phantasiegebilde, buchstäblich als Science-Fiction verharmlosen, sondern als Alternativmodell zum rechnerischen Kalkül in der Ästhetik verwenden möchte. Die Bestimmungen der »Seele« des Individuums zumal hätten etwas höchst Spekulatives – und in der Tat sind es die Äußerungen Cassirers zur Ästhetik, die sich am weitesten von seinem (hier freilich noch nicht formulierten) phänomenologischen Anspruch der Philosophie der symbolischen Formen entfernen –, wenn sie nicht ihre Manifestation im Werk fi nden würden. Der Begriff des Stils, der Heautonomie des Werkes und des Genies sind nur gemeinsam zu betrachten. Das Genie ist der Komplementärbegriff (der »Ausdruck« und das »Vehikel«, wie hier Cassirer schreibt) zum Stilbegriff, der sich als Begriff für die Gesetzgebungskraft eines Individuums gegen die heteronome Regelästhetik absetzt und sich der »historischen Erkenntnis und Ableitung« 210 widersetzt. Die Geniekunst ist die »höchste Leistung der Vernunft« und die »höchste Form des Bewußtseins«.211 Die Suche nach den formenden Kräften und Bildungsgesetzen der ästhetischen Welt hat nun einen Haltepunkt nicht in der Bestimmung allgemeiner ästhetischer Gesetzmäßigkeiten gefunden, sondern in der Feststellung, daß es sich um indiviminologisch verwendet, erf ährt auch der Begriff der Ansicht oder Weltansicht bzw. Weltanschauung keine defi nitorische Präzisierung. Eine Stelle des Goethe-Kapitels kann jedoch in der Abgrenzung der »Weltanschauung« als »Gesamtkomplex von Gestalten« (ECW 7, S. 216) gegenüber dem Begriff der »Erkenntnis« vorläufi g zur Konkretisierung verwendet werden. Siehe auch den folgenden Abschnitt zum Begriff der Anschauung. 207 ECW 7, S. 102. 208 Ebd., S. 97. 209 Ebd., S. 102. 210 Ebd., S. 97. 211 Ebd., S. 108 f. Diese Auszeichnung der Kunst vor anderen symbolischen Formen hat jedoch nur eingeschränkte Bedeutung. Unter der Perspektive der Setzung des eigenen Gesetzes ist die Heautonomie der Geniekunst die höchste Form. An anderen Stellen seines Werks spricht Cassirer denselben Rang der Wissenschaft aufgrund der weitestgehenden Refl exion des eigenen Formgesetzes zu.

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duelle, um »innere Formgesetze« 212 handelt, die als Stil bezeichnet werden. Den Stil nun begreift Cassirer sowohl als ein »Prinzip des Bildens« als auch als »ein selbst Bildsames und Bewegliches« 213. Damit qualifi ziert er sich zur forma formans und forma formata und erfüllt eines der wesentlichen Kriterien, die Cassirer später für symbolische Formen formulieren wird. Es bleibt jedoch offen, ob Cassirer dieses innere Formgesetz auf der Ebene eines singulären Kunstwerkes oder auf der Ebene des Gesamtwerks eines Künstlers verortet. Als korrelativer Begriff zum »Charakter« und »Wesen« des Künstlers weist der Stilbegriff auf letzteres hin. Die Geschlossenheit eines Kunstwerkes bzw. die Einheit der Handlung und Motivation eines Dramas wird jedoch ebenfalls als eine »logisch-teleologische Einheit« bezeichnet, die ihre eigene innere Wahrheit hat.214 Auch in dem auf das Lessingreferat folgenden Abschnitt von Freiheit und Form, der Hamann und Herder gewidmet ist, fi ndet sich diese Ambiguität. Mit Herder identifi ziert Cassirer sowohl »das Drama Shakespeares« allgemein als auch das einzelne Werk »Hamlet« als eine »›Monaden‹-Einheit«.215 Doch für Cassirer muß dies kein Widerspruch sein. Als eine Einheit von forma formans und forma formata kennzeichnet das einheitliche Gesetz »nicht nur das Ganze von Shakespears Dichtung, sondern […] ist ein anderes und neues in jedem Einzelwerk«.216 Sowohl der Stil eines einzelnen Kunstwerks als auch der Stil eines Künstlers sind formende und geformte Form. Bei der Beziehung zwischen dem Ganzen des Stils und einem einzelnen Werk handelt es sich um ein Ausdrucksverhältnis, das charakteristisch für die monadologische Verfaßtheit nicht-begriffl ich strukturierter Komplexe ist.217 Dieses Ausdrucksverhältnis zwischen Teil und Ganzem hat Cassirer bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff für die Erfahrung im allgemeinen festgehalten: »Jedes Einzelglied der Erfahrung besitzt insofern symbolischen Charakter, als in ihm das Gesamtgesetz, das die Allheit der Glieder umschließt, mitgesetzt und mitgemeint ist. Das Besondere erscheint als Differential, das ohne den Hinweis auf sein Integral nicht völlig bestimmt und verständlich ist.«218 Zur Bestimmung von »forma formans« und »forma formans« der ästhetischen Welt haben auch Hamann und Herder beigetragen, mit denen Cassirer seine äs-

Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. 214 Ebd., S. 106 f. 215 Ebd., S. 130. 216 Ebd., S. 129. Cassirer erläutert den forma formans/forma formata-Zusammenhang folgendermaßen: »Sowenig wie das Individuum selbst, sowenig läßt sich die echte geschichtliche ›Form‹ in ein bloßes Aggregat auflösen; denn sie ist niemals bloß Resultat, sondern immer zugleich Ansatz, niemals bloßes Produkt, sondern zugleich selbständiger Wirkungsmittelpunkt.« (S. 128). 217 Die Frage, ob sich ein einzelnes Kunstwerk, der Stil eines Künstlers oder die Kunst allgemein als symbolische Form begreifen läßt, wird in Teil II, Kapitel 2, Abschnitt e) wieder aufgenommen. 218 ECW 6, S. 324. 212 213

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thetischen Reflexionen fortsetzt. Der gemeinsame Nenner von einerseits der Gesetzlichkeit eines einzelnen Werkes und andererseits dem Stil eines Künstlers ist der Begriff des Individuellen. Hamann verteidigt das Individuelle gegen das Allgemeine indem er die individuelle Sinnlichkeit eines Individuums als lebendige Energie gegen ihre Zersplitterung in einzelne seelische Kräfte setzt, Herder durch eine »Form der teleologischen Anschauung«, die die »Selbstgesetzlichkeit und den Selbstwert des Individuellen« begründet.219 In seiner Darstellung der Leistung Hamanns akzentuiert Cassirer das Insistieren auf der Einheit des seelischen Lebens, das nicht in Teile aufgelöst werden kann: Die Sinnlichkeit »bildet […] das schlechthin fundamentale unentbehrliche Organ des Weltverständnisses«.220 Folgerichtig unterscheidet Hamann, und diese Indifferenz fi ndet sich auch bei Cassirer, nicht zwischen (Sinnes)Empfi ndungen und Gefühl.221 Auch der Cassirersche Symbolbegriff entwickelt sich durch Anregungen Hamanns weiter. In Freiheit und Form fi ndet sich eine These zur symbolischen Vermittlung der Wirklichkeit, die bereits auf die spätere Symbolphilosophie vorausweist: Die poetische Sprache ist (nach Hamann und Cassirer) »keine bloße Allegorie, die die Wahrheit in einem anderen darstellt und verbirgt. Das Wirkliche wird nicht nur von fern her in dichterischen Symbolen bezeichnet, sondern es ist durch und durch Symbol« 222 . An Herders Geschichtsbetrachtung verfolgt Cassirer zunächst das Phänomen der »Monaden-Einheiten« weiter, um sich dann wieder dem ästhetischen Problemkreis zuzuwenden. Wie bereits festgestellt, gibt es Phänomene, die sich der Zergliederung in einzelne Merkmale widersetzen. Dieselbe Beobachtung schildert Cassirer hinsichtlich geschichtlicher Prozesse und »Zeitstellen«. Der eigentümliche Gehalt einer Zeitstelle ist dem analytischen Zugriff entzogen. Sie wird als »Einheit des Schauens« bezeichnet, die durch »synthetisches Begreifen« entsteht.223 Auch hier dominiert das visuelle Begriff sfeld der Anschauung in der Beschreibung des Phänomens. Doch wird, wie schon bei Hamann, der den Bereich der Sinnlichkeit weit faßt und unter »Gefühl« auch die Leidenschaften einbegreift, bei Herder das Gefühl zur Grundkraft des Begreifens bestimmt. Das »Ganze eines Lebenszusammenhangs« müssen wir, um es zu verstehen, »konkret mitempfi nden und nachempfi nden«. »Wie uns etwa die Gewißheit der Einheit des Ich nicht dadurch zuteil wird, ECW 7, S. 123. Ebd., S. 119. 221 Siehe z. B. ebd., S. 217: »Denn was für die Empfi ndung eine konkrete Einheit und Ganzheit ist, das f ällt, in die Sprache des Gedankens gefaßt, sogleich in eine fortlaufende Reihe widersprechender Bestimmungen auseinander. Jede Charakteristik der Natur als Ganzes wird notwendig antithetisch. Das Grundgefühl von der Einheit und Totalität der Natur löst sich, sobald wir versuchen, es zur Erkenntnis zu gestalten, in disparate, einander auf hebende Elemente auf.« Hervorh. M. L. Kant hingegen hat Empfi ndung und Gefühl eindeutig unterschieden, vgl. KU, § 3. 222 ECW 7, S. 121. 223 Ebd., S. 126. 219

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daß wir sie nachträglich aus der Vielheit seiner Äußerungen erschließen, sondern wie uns das ›Selbst‹ als ein Ganzes in gleicher Ursprünglichkeit, ja ursprünglicher als seine besonderen Inhalte gegeben ist – so haften auch an den geschichtlichen Einzelprozessen bestimmte allgemeine ›Charaktere‹, die ihnen ihr Gepräge geben. Indem diese Prozesse lediglich sich selber zum Vollzug bringen, stellt sich für uns hierin dennoch nicht nur ihre eigene Form, sondern die Form eines umfassenden lebendigen Komplexes dar, dem sie eingegliedert sind. Das Gefühl für die Einzelheit wird uns erst lebendig mit dem Gefühl für diese Ganzheiten, die vom Einzelnen nicht begriffl ich ablösbar, sondern mit ihm anschaulich in eins verwoben sind.« 224 Cassirer vergleicht diese lebendigen Komplexe mit Gemälden, unterscheidet sie als »Wirkenseinheiten« 225 von begriffl ichen Konstruktionen und greift auch hier auf Leibniz zurück, um das symbolische Darstellungsverhältnis von Individualität und Totalität zu erläutern. In »psychischen Gebilden« – und als solche faßt Cassirer mit Herder an dieser Stelle die Werke der Kunst – drückt sich »eine innerliche Weise des Daseins und der Empfi ndung symbolisch aus […]«.226 Die Empfi ndung besitzt eine Grundstrukturierung, die der der bereits diskutierten Gliederung der Wahrnehmung analog ist.227 Im Ausgang von Herder formuliert Cassirer eine Fassung des Begriff s der Apperzeption, der sich wesentlich von dem Kantischen unterscheidet und die Basis seines späteren polyformen Erfahrungsbegriff s bildet. Nicht nur nach den Begriffen des Verstandes synthetisiertes ›Wahrnehmungsmaterial‹ bildet einen strukturierten Zusammenhang: »[A]lle Empfi ndung setzt, als bewußte Empfi ndung, Unterscheidung und alle Unterscheidung setzt ›Apperzeption‹ voraus. Kein ›abstraktes‹ Denken, das sich vom Inhalt des sinnlichen Eindrucks loslöst, wird hier erfordert, wohl aber eine Gliederung des Eindrucks selbst und seine Einordnung in einen allgemeinen Erlebniszusammenhang.« 228 Das Gefühl oder die Empfi ndung wird somit bei Cassirer ›mündig‹.229 An der Erschaff ung symbolischer Welten sind alle geistig-seelischen Kräfte in unterschiedlichen Verhältnissen beteiligt. Ebd. Zum Begriff der »Wirkenseinheit« vgl. auch oben, Kapitel 1, Abschnitt f ). 226 ECW 7, S. 131. 227 Vgl. oben Kapitel 1, Abschnitt f ). 228 ECW 7, S. 133. Die mit Anführungszeichen versehene Apperzeption – Cassirer setzt überlieferte Begriffe häufi g in Anführungsstriche, um einerseits den historischen Kontext eines Problems zu markieren, anderseits auf seine Arbeit an diesen Begriff en hinzuweisen – signalisiert bereits hier eine Distanzierung von der Kantischen Konzeption der Apperzeption. In dem Nachlaßtext »Language and Art II« von 1942 fi ndet sich ein direkter Hinweis, daß Cassirer die verschiedenen symbolischen Formen als unterschiedliche Apperzeptionen begreift. Vgl. SMC, S. 170 f. 229 Vgl. sowohl zur Unterscheidung von Gefühl und Empfi ndung als auch zur »Mündigkeit« des Gefühls den Aufsatz von L. Pikulik, »Die Mündigkeit des Herzens. Über die Empfi ndsamkeit als Emanzipations- und Autonomiebewegung«, in: Aufklärung 13, Hamburg 2001, S. 9–32. 224

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e) Der Begriff der Anschauung In dem Moment, in dem Cassirer sich der Rezeptions- und Produktionsweise von Kunst über die Theorien der »echten Ästhetiker« nähert, tritt der Begriff der Anschauung in den Vordergrund. Neben einem erkenntnistheoretisch geprägten Begriff der »unmittelbaren«, »direkten«, »reinen«, »empirischen«, »sinnlichen«, »einfachen« oder »bloß sinnlichen Anschauung« 230 und einer nicht terminologischen Fassung als »Ansicht« oder »Meinung« verwendet er ihn nun im Sinne einer »wahrhaften«, »teleologischen«, »künstlerischen« oder »dichterischen Anschauung« 231. Wie der Begriff des Symbols oder der Form ist auch dieser für Cassirers Kunstphilosophie zentrale Begriff »nicht sofort zu scharfer und eindeutiger Fixierung gelangt«.232 Die »Beweglichkeit« von »Gedankensymbolen«, die er verwendet, ist erwiesenermaßen eine beabsichtigte. Ob auch das Oszillieren des in Freiheit und Form im Bereich der Ästhetik prominent verwendeten und in seinen späten Texten zu »Language and Art« wieder aufgenommenen Begriff s der »Anschauung« bzw. »intuition« (engl.) den Versuch darstellt, einen sich geschichtlich entwickelnden Problemkomplex zum Ausdruck kommen zu lassen, kann nicht abschließend beurteilt werden. Die Annahme, daß Cassirer durch die Verwendung des deutschen Begriff s der »Anschauung«, den das Grimmsche Wörterbuch an erster Stelle bei Goethe und an zweiter bei Kant nachweist und in dem sich mehrere geistesgeschichtliche Traditionslinien treffen,233 eine systematisch bedeutsame Entscheidung triff t, hat jedoch einigen heuristischen Wert. Der Kantische Begriff der betont sinnlichen Anschauung gehört in das Verwendungsspektrum und Begriff sfeld des Cassirerschen Begriff s der Anschauung. Für Kant ist die Anschauung eine Vorstellung, »worauf alles Denken als Mittel abzweckt« 234, und zugleich ist sie etwas, das »vor aller Handlung irgend etwas zu denken« 235 vorhanden sein muß. Der Kantische Begriff der Anschauung hat nichts zu tun mit einer »intellektuellen Anschauung« oder einem »intuitiven Verstand«, mit Konzeptionen also, die hingegen die geschichtliche Ursprungsstelle für seine Metaphysikkritik gewesen sind.236

Vgl. etwa ECW 7, S. 28, 35, 53, 171. Vgl. ebd., S. 69, 123, 137, 291. 232 Ebd., S. 390. 233 F. Kaulbach weist im Artikel »Anschauung« des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, Bd. 1, hg. von Joachim Ritter, Basel/Stuttgart 1971, Sp. 340–347, auf zwei Bedeutungen hin, die imaginatio und die intuitio. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 16 Bde, Leipzig 1854–1960, Bd. 1, Sp. 436, verweist neben intuitio auch auf contemplatio und experientia. 234 KrV B 33. 235 KrV B 67. 236 Vgl. ECW 1, S. 350. 230 231

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Cassirer ist auch mit der Tradition des Begriff s der »intuitio«, in der Anschauung als »innere Anschauung«, als ein »Sehen der Vernunft« gefaßt wird, gut vertraut, wie die dargestellte Auseinandersetzung mit Leibniz sowie mit den neuplatonischen Begriff sprägungen, mit Varianten der spekulativen Naturphilosophie und mit Spinoza in den Bänden des Erkenntnisproblems belegen. Seine Bemühungen um eine philosophiegeschichtliche Klärung des Begriffes sind in die Forschungsliteratur eingegangen.237 Anhand des Skeptizismus Francisco Sanchez’ diskutiert Cassirer im ersten Band des Erkenntnisproblems von 1906 das bereits aus seinem Leibnizbuch bekannte Phänomen der in der Intuition gegebenen Gewißheit des eigenen Ichs im Vergleich mit der durch äußere Wahrnehmung gegebenen Anschauung: In der »inneren Selbsterfassung erkennen wir zunächst das eigene Ich und seine Operationen. Aber freilich vermag auch diese Rückwendung auf das Selbstbewußtsein uns keinen festen und dauernden Halt zu gewähren: Denn wenn das Selbst alle anderen Inhalte an Gewißheit überragt, so ist es ihnen doch, was die Bestimmtheit der Anschauung betriff t, unterlegen. Wir bleiben auch hier in einem Dämmerlicht befangen: Da keine Abbilder und Spezies der inneren Vorgänge uns gegeben sind, so vermögen wir zwar ihr Sein festzustellen, ihr Wesen und ihre Eigenart aber kaum zu bezeichnen, geschweige einzusehen.« 238 Im Gegensatz zu seiner oben skizzierten Bewertung der Intuition im Zusammenhang der Unterscheidung von »intuitiver« und »symbolischer Erkenntnis« bei Leibniz – Cassirer bestimmte dort die Intuition nicht als eine Form menschlicher Erkenntnis, sondern als die Erkenntnisart eines göttlichen Verstandes – erkennt Cassirer an dieser Stelle die Funktion der Intuition als Selbsterfahrung an, verweist aber auf ihren ›dunklen‹, flüchtigen, weil nicht symbolisch vermittelten Charakter. In den Jahren zwischen 1906 und 1920 differenziert sich Cassirers Begriff der Intuition weiter aus. Neben ihrer Bedeutung als Selbsterfahrung erkennt Cassirer 1920 im dritten Band des Erkenntnisproblems eine weitere Funktion der Intuition an. Obwohl Kant von Leibniz durch eine »schmale und scharfe Grenzlinie« 239 getrennt sei, gebe es eine Stelle bei Kant, an der »der ›abstrakte‹ und diskursive Verstand des Kategoriendenkens sich zum ›intuitiven‹ Verstand und zur Schau der Ideen« erweitere. Denn es ist, schreibt Cassirer »das Interesse an der systematischen Gestaltung der Erfahrung selbst, das eine Erweiterung der Befugnisse des Denkens, eine tiefere Gestaltung des Verhältnisses des Allgemeinen und Besonderen fordert. Der Schluß liegt nahe, daß damit innerhalb der kritischen Grenzen selber eine Erkenntnisweise erschlossen ist, die als solche nicht vom Einzelnen zum Ganzen, sondern von der Idee des Ganzen zur Bestimmung des Einzelnen fortschreitet. 237 Th. Kobusch verweist in seinem Artikel »Intuition« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, hg. von J. Ritter und K. Gründer, Basel/Stuttgart 1976, Sp. 524–540, zur Klärung der Tradition des Begriff s zweimal auf Arbeiten Cassirers, vgl. Sp. 527 und 529. 238 ECW 2, S. 167. 239 ECW 4, S. 15.

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Und diese Erkenntnisweise wäre es, in der sich erst das ›Wirkliche‹ nach seinem jetzt gefundenen konkreten Begriff bestimmte.« 240 Mit dem Schellingschen Begriff der »intellektuellen Anschauung« hat Cassirer sich im dritten Band des Erkenntnisproblems ebenfalls intensiv auseinandergesetzt. Eingehend kritisiert dessen Begriff eines »intuitiven Verstandes« und weist darauf hin, daß dieser sich zwar in seiner Konzeption auf Spinoza, Kant und Goethe beziehe, jedoch wesentliche Veränderungen vornehme.241 Der Totalitarismusvorwurf, den Cassirer den »romantischen Schriftstellern« 242 noch im Myth of the State macht, gründet in der Kritik, die er im Erkenntnisproblem formuliert hat.243 Sie bezieht sich auf Schellings Hypostasierung dessen, was Kant als ein »regulatives Prinzip« eingeführt hat. Bei Spinoza und Goethe beziehe sich das Ideal einer »echten intuitiven Erkenntnis« auf »durchgängig bestimmte konkrete Wissensinhalte« und verharre in der Anschauung des Besonderen 244, bei Kant bleibe es eine zwar unverzichtbare, aber dennoch nur als Forderung der Vernunft konzipierte Idee, die die unabschließbare empirische Forschung anleite. Während Kant auf eine durchgängige Bestimmbarkeit der Welt hoff t, konstruiert Schelling eine solche begriffl ich. »Was für Kant lediglich die Antwort auf die Frage war, die die Methodik des ästhetischen Urteils ihm stellte, das wird für Schelling zur letzten Auskunft über den Sinn des absoluten Weltprozesses.« 245 Durch diese Konstruktion tue sich bei Schelling eine »Kluft zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt« auf, die er selbst nicht habe schließen können.246 In der Theorie kann die intuitive Form des Verstandesgebrauchs nach Cassirer (und Kant) nur eine heuristische, den unabschließbaren Erkenntnisprozeß orientierende Funktion haben. Ihre Modelle dürfen nicht mit Erkenntnissen verwechselt werden. Ebenfalls im dritten Band des Erkenntnisproblems diskutiert Cassirer eine weitere, für seine Kunstphilosophie bedeutsame Facette des Begriff s der Intuition. Symbolisierungen einer auf die Einheit eines Prozesses abzielenden intuitiven Vernunft sind für Cassirer in einem einzigen Bereich, und zwar dem der Kunst, möglich. »Dieser stetige Prozeß der Gestaltung […], der in keiner einzelnen Gestalt jemals zur Ruhe kommt, erschließt sich in seiner Totalität und Unbedingtheit lediglich der ästhetischen Anschauung.« 247 Die Fähigkeit zu einer solchen Gestaltung im Symbol habe nun Goethe besessen, nicht Schelling, dessen »Philosophie zuletzt in einem bloß subjektiven und zuf älligen Spiel begriffl icher Allegorien« geen-

240 241 242 243 244 245 246 247

Ebd. Vgl. ebd., S. 254–256. E. Cassirer, Vom Mythus des Staates, Hamburg 2002, S. 241. Zu Cassirers Kritik an Schelling vgl. auch M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 44. ECW 4, S. 256 Ebd., S. 234. Ebd., S. 264. Ebd., S. 236.

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det sei.248 Da, »wo die [Schellings] ästhetische Phantasie die Lücken des systematischen Zusammenhanges nicht nur überfl iegen, sondern wahrhaft ausfüllen soll, sieht sie sich notwendig wieder auf die Mithilfe und die nüchterne Arbeit des Begriff s zurückgewiesen«.249 Wahrscheinlich ist es ebenfalls Goethe, dessen Vorstellung von Wissenschaft Cassirer in diesen Jahren zu einer positiven Aufnahme des Begriffs der Intuition geführt hat. Goethes Ideal der »scientia intuitiva«, »das in der Anschauung des Besonderen und Einzelnen die Erkenntnis des Allgemeinen gewinnen will« 250, ist das Ideal auch von Cassirers geistesgeschichtlicher Forschung. Dieses Prinzip macht er sich für die Komposition von Freiheit und Form zueigen und formuliert im Vorwort zur ersten Aufl age: »Die Einheit des Prinzips sollte nicht lediglich behauptet und in allgemeinen geschichtsphilosophischen Begriffen umschrieben, sondern in der Fülle der Ableitungen und in dem Reichtum der besonderen Gestaltungen aufgezeigt werden; denn hierin allein liegt das Kriterium dafür, daß diese Einheit mehr als eine willkürliche Abstraktion, daß sie eine fortwirkende ideelle Grundkraft des geistigen Geschehens selbst bedeutet.« 251 In Freiheit und Form jedoch verwendet Cassirer den Begriff der Intuition äußert selten, denn bei der terminologischen Fassung der Formkräfte der Kunst hat er einige philosophiegeschichtliche Fangstricke zu vermeiden. Auch gegen einen Zeitgenossen, gegen Henri Bergson, in dessen Denken Schellings Begriff der Intuition eine prominente Rolle spiele, muß Cassirer seine Fassung der künstlerischen Anschauung profi lieren.252 Die Lebensphilosophie Bergsons erscheint ihm als die »vielleicht radikalste Absage gegen den Wert und gegen das Recht aller symbolischen Formung, die jemals in der Geschichte der Metaphysik hervorgetreten ist« 253.

Ebd., S. 263. Ebd., S. 238. 250 ECW 7, S. 277. Goethe selbst, so referiert Cassirer, stütze sich in der Fassung seiner intuitiven Wissenschaft auf Spinoza, verwandele jedoch die »metaphysische Intuition Spinozas in eine empirische Intuition« (ECW 5, S. 163). 251 ECW 7, S. 389. Für seine eigene »scientia intuitiva« könnte Cassirer allerdings auch direkt Spinoza als Gewährsmann angeben, dessen Begriff der Intuition er in Anlehnung an den Tractatus de intellectus emendatione (§ 19–24) Spinozas wie folgt beschreibt: »Den höchsten Grad der Gewißheit aber erreicht wiederum die Intuition, indem sie das Besondere dem Allgemeinen nicht nur subsumiert, sondern beides in einem einzigen Blicke zusammenfaßt; indem sie somit die Prinzipien alles Seins nicht nur in abstrakter Betrachtung isoliert, sondern sie in ihrer unmittelbaren Wirksamkeit ergreift und auf diese Weise die durchgehend bestimmte, einmalige Ordnung des Geschehens überschaut.« (ECW 3, S. 74.) 252 Ob Cassirer Bergson während der Abfassung von Freiheit und Form bereits rezipiert hat, bleibt freilich Spekulation. 1921, in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, nennt Cassirer Bergson das erste Mal explizit. Bergsons Verständnis der künstlerischen Intuition diskutiert er im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen. 253 ECW 13, S. 42. 248 249

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Neben diesen begriff sgeschichtlichen Abgrenzungsproblemen gibt es jedoch systematische Gründe dafür, daß Cassirer den Begriff der Intuition in Freiheit und Form zunächst nicht verwendet. Cassirer richtet sich – so meine These – mit der Verwendung des Begriff s der Anschauung sowohl für die sinnliche Wahrnehmung als auch für eine »künstlerische« Zusammenschau von Formen oder Gestalten abermals gegen eine strikte Trennung von Sinnlichkeit und Vernunft als getrennte aktive und passive Komponenten und arbeitet auch hier (d. h. im Vorfeld der terminologischen Fassung der Philosophie der symbolischen Formen) an einer tieferen Vermittlung beider in einem erweiterten Wahrnehmungsbegriff. Die Anschauung, die der (gelungenen) Symbolisierung in der Kunst zugrunde liegt, baut sich nicht aus passiv rezipierten Elementen auf, die durch den Verstand in einem weiteren Schritt zusammengesetzt werden. In der ästhetischen Anschauung werden Gestalten wahrgenommen. Die Differenzierung von Formen der Anschauung und Kategorien des Verstandes, die die Trennung von sinnlicher Aufnahme und geistiger Verarbeitung von Wahrnehmungsmaterial zementiert, gibt Cassirer zugunsten von einheitlichen Formmomenten auf. Die Beschäftigung mit der Kunst ist nicht zuletzt Arbeit an dieser Vermittlung. In der Passage über Winckelmann in Freiheit und Form schreibt Cassirer: »Die Kluft zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen schließt sich in der Anschauung des Schönen: Denn die Idee des Schönen ist – wie der Platonische ›Phaedrus‹ ausgesprochen hatte – die einzige, die hier auf Erden ›sichtbare Abbilder‹ besitzt, während wir die Bilder des Wahren, des Gerechten, des Besonnenen nur mit Mühe und mit stumpfen Werkzeugen zu erfassen vermögen. Von hier aus begreift man die Einheit der beiden Züge, die den Charakter und die Grundansicht Winckelmanns kennzeichnen: jenes Wurzeln in der ›realen‹ Anschauung und jene Forderung der ›Unbestimmung‹, in der sich seine Lehre vom Ideal abschließt.« 254 Diese beiden Komponenten: die empirisch-sinnliche Wahrnehmung und die geistige »Schau« verbinden sich in Cassirers Begriff der Anschauung.255 Mit »Anschauung« bezeichnet Cassirer in Freiheit und Form einen »lebendigen Sinn«, der weit mehr umfaßt als die sinnliche Wahrnehmung bei Kant. Lessing ebenso wie Shaftesbury schreibt Cassirer einen »lebendige[n] Sinn für die schöpferischen Kräfte der Dichtung« 256 zu. Beide seien mit einer Anschauung begabt, die durch begriffl iche Konstruktion nicht zu ersetzen sei. Lessing habe eine Ansicht vom Wesen der künstlerischen Gestaltung, und seine Kunstauffassung »wurzelt in

Siehe ECW 7, S. 144 In diesem Fahrwasser bewegt sich auch die Kritik an (bzw. eine subtile Verschiebung) der Kantischen Trennung zwischen Rezeptivität und Spontaneität in der Kritik der reinen Vernunft, die Cassirer zeitgleich in Kants Leben und Lehre formuliert (siehe unten Kapitel 3), sowie die im folgenden Abschnitt f ) skizzierte sympathetische Aufnahme der »anschauenden Urteilskraft« Goethes. 256 ECW 7, S. 85. 254 255

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seiner Anschauung vom Wesen der Poesie« 257, seine Anschauung ist das »belebende Prinzip« für die folgende künstlerische Produktion und ästhetische Kritik.258 Die Fortschritte in der Erkenntnis der Formprinzipien der Ästhetik setzt Cassirer durch die Beschreibung einer Dynamik zwischen individueller Anschauung und begriffl icher Fixierung in Szene. Herder beispielsweise gehe »von der Weltansicht Hamanns aus, die, in jedem einzelnen Zuge ein schlechthin individuelles Erzeugnis, den stetigen Gang der Problemgeschichte unterbricht. Alle Zusammenhänge des Begriffs, die sich bisher ergaben, scheinen hier gelöst, alle Vermittlungen des Denkens verlassen; aber in der Urkraft des Gefühls, die jetzt hervorbricht, liegt dennoch zugleich der Keim für ein neues Verständnis alles geistig-geschichtlichen Daseins. Aus dem Form- und Begriff slosen selbst steigt die Welt der Form und des Begriff s herauf, die in Herders ›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹ zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt.« 259 Es ist ein Wechselverhältnis zwischen Anschauungen als individuellen Produkten und verallgemeinerten begriffl ichen Fassungen. Dieses Wechselspiel ist charakteristisch für die Ästhetikgeschichte, die Cassirer nachzeichnet. Es ist anzunehmen, daß der Sinneswandel Cassirers bezüglich des von Leibniz formulierten Verhältnisses zwischen intuitiven und diskursiven Akten der Erkenntnis durch seine ästhetischen Reflexionen bedingt ist.260 Die Ästhetik bietet für diese Dynamik ein besonders »anschauliches« Beispiel; sie ist auf individuelle Phänomene bezogen, und Phänomene des Ästhetischen sind ohne »Anschauung« nicht zu fassen. In der Philosophie der Aufklärung präzisiert Cassirer die Bedeutung der Anschauung für die Ästhetik weiter und setzt auch – die Fundierung seiner Wahrnehmungstheorie ist in den Bänden der Philosophie der symbolischen Formen bereits geleistet worden, einem Mißverständnis seines Begriffs der Anschauung ist somit vorgebeugt – den in Freiheit und Form äußerst sparsam verwendeten Begriff der Intuition wieder ein. Eine Philosophie des Schönen lasse sich weder allein auf dem Weg der theoretischen Zergliederung noch auf dem der psychologischen Beschreibung begründen. Der »gedankliche Impuls« zur Erfassung der »wirkliche[n] Autonomie des Schönen und [der] Autarkie der Einbildungskraft« könne nur aus der Anschauung kommen.261 Die Wahrheit des Schönen sei ein »innerer Sinnzusammenhang«, der sich nur »intuitiv verstehen läßt«.262 Der Begriff der »Intuition« wird im Zusammenhang mit der »Ästhetik der Intuition« 263 Shaftesburys rehabilitiert. Denn Cassirer entdeckt das Schöne, das nur durch ein »innerliches Verstehen«, eine Art »Reflexion«, die zuteil wird, als »eine spezifi sche Grundrichtung, eine reine Energie 257 258 259 260 261 262 263

Ebd., S. 104. Ebd., S. 110. Ebd., S. 114 f. Vgl. oben Kapitel 1, Abschnitt b). ECW 15, S. 326. Ebd., S. 328. Ebd., S. 331.

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und eine urtümliche Funktion des Geistes«.264 Nur der »intuitive Verstand« führe in die »Tiefe des Ästhetischen«. Er gehe vom »Ganzen zum Einzelnen« und spüre verborgene Zusammenhänge auf.265 Über die Konzeption der ästhetischen Formung als anschauliche oder intuitive Formung gelangt Cassirer zu einem Verständnis des Fortschrittes von Erkenntnis als einem Zusammenspiel von intuitiven und abstrahierenden Akten, das bereits Leibniz formuliert hat. Mit dem Begriff der künstlerischen oder ästhetischen Anschauung gewinnt er in Freiheit und Form die Bezeichnung für einen geistigen Akt, in dem verschiedene »Vermögen« wirksam sind. Es ist die ästhetische Anschauung, die in einem kreativen Akt Formen erfaßt und eine paradigmatische Bedeutung für Cassirers Wahrnehmungstheorie erhält.266 In der Philosophie der symbolischen Formen wird er später ausführen, daß jeder Akt symbolischer Formung sich bereits in der Wahrnehmung vollzieht. Symbolische Formen sind Formen der »geistigen Schau« oder »Sicht«.267 Die im folgenden Abschnitt thematisierte Anschauungsweise Goethes dient Cassirer als Beispiel für eine solche Auffassung. Im parallel zu Freiheit und Form entstandenen Buch Kants Leben und Lehre führt er dieses wichtige Element seiner Kunstphilosophie weiter aus.268

f ) Goethes poetischer Bildungstrieb und die Symbolisierung der Urpfl anze Das Goethekapitel in Freiheit und Form nimmt die Frage »Wie sieht der Dichter?«, die Cassirer als Student der Germanistik leidenschaftlich bewegt hat und auf die er in dem Begriff der künstlerischen oder ästhetischen Anschauung eine erste Antwort gefunden hat, wieder auf. Hier sucht er nach dem Ursprung von Goethes »Denk- und Anschauungsweise« 269. Dazu untersucht er sowohl die naturwissenschaftlichen und kunsttheoretischen Schriften Goethes als auch seine Dichtung. Für Cassirer läßt sich der Dichter Goethe von dem Naturforscher Goethe nicht trennen. Er weist darauf hin, daß auch Goethe beide Bereiche immer zusammen-

Ebd., S. 336 f. Interessant ist die Bestimmung des Genies als mit einer bestimmten »Empf änglichkeit« begabt. Wenn zuvor auch die Wahrnehmung als Aktivität bewiesen werden sollte, hebt Cassirer nun die Rezeptivität der Intuition hervor. 265 Auch im Shaftesbury-Referat in Freiheit und Form fi ndet sich bereits eine Passage, in der anstelle des in vielfacher Bedeutung verwendeten Begriff s der »Anschauung« von der Intuition die Rede ist. Es ist ein leibnizscher Kontext, die »Einheit der Mannigfaltigkeit« im Ich, das die »Urgestalt« für die Konstitution des Schönen darstellt (siehe ECW 7, S. 91). Die Verschiedenartigkeit der »Kategorien geistig-seelischer Wirklichkeit«, die Cassirer in Leibnizens Ästhetik entdeckt hat, fi ndet er bei Shaftesbury wieder. 266 Vgl. auch unten, Teil II, Kap. 2, Abschnitt h). 267 ECW 13, S. 16. Siehe dazu unten, Teil II, Kapitel 1, Abschnitt a). 268 Siehe Kapitel 3. 269 ECW 7, S. 241. 264

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gedacht habe. Das Verbindungsglied zwischen Goethes Naturbetrachtung und seiner Dichtung stellt nach Cassirer die Bedeutung dar, die Goethe der produktiven Einbildungskraft zuweist. Cassirer beschreibt die »Anschauungsform« Goethes durch Bezug und wechselseitige Erläuterung des künstlerischen Formbegriff s und der an der Naturbetrachtung gewonnenen Idee der Metamorphose. Goethe ist diejenige Figur, die den Formbegriff der Kunst in einer für Cassirer beispielhaften Weise entwickelt und umgesetzt hat. Durch seine Doppelbegabung für Kunst und Wissenschaft und das Anliegen, beide in einer synthetischen Einheit zu begreifen, gewinnt er eine herausragende Bedeutung für die Symbolphilosophie Cassirers.270 Zur Darstellung des Goetheschen Anschauungsbegriff s greift Cassirer auf eine Schilderung zurück, in der dieser seinen »poetischen Bildungstrieb« 271 anhand der regelmäßigen Variation von Phantasiebildern erläutert. Goethe berichtet, wie er in der Phantasie Bilder entwirft, auseinander entwickelt und durch diese Variation irgendwann auf einen »prägnanten Punkt« stößt, von dem aus die Vielfalt der verschiedenen Bilder geordnet werden kann.272 Der »prägnante Punkt« Goethes erinnert an das Leibnizsche »praegnans futuri«, das ebenfalls die Bestimmung eines Punktes (eines Moments) durch alle anderen Punkte der Reihe (vergangene und zukünftige Momente einer Zeitreihe) meint. Cassirer kommentiert den Leibnizschen Ausdruck in Leibniz’ System, in Freiheit und Form erwähnt er diese Parallele nicht. Er gibt jedoch ein Beispiel, das auf die Übertragbarkeit der Vorstellung des prägnanten Punktes beispielsweise auf die Zeitreihe des Lebens eines Individuums hinweist: Den frühen Entwurf des Faustdramas deutet Cassirer als ein »prägnantes Bild«, als eine »Antizipation«, die sich im Laufe des Goetheschen Lebens erfüllen sollte. Das ausgearbeitete Werk sei Goethe dann »zum Ausdruck der innerlichen und historischen Selbstbesinnung« geworden.273 Die Suche nach »prägnanten Punkten« bzw. Bildungsgesetzen betreibt Goethe auch in seinen Naturforschungen. Die »echte Naturerfahrung«, schreibt Cassirer

Der Bedeutung Goethes für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ist der Tagungsband von B. Naumann und B. Recki, Cassirer und Goethe, gewidmet. Auch O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997, S. 24 und 221, M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. VII und S. 65, J. M. Krois, »Urworte: Cassirer als Goethe-Interpret«, in: E. Rudolph/B.-O. Küppers (Hg.), Kulturkritik nach Ernst Cassirer, Hamburg 1995, S. 307 ff. beschäftigen sich mit diesem Thema. 271 ECW 7, S. 243. 272 Ebd., S. 243 ff . 273 Ebd., S. 273 f. O. Schwemmer stellt den Bezug zwischen Goethe und Leibniz hinsichtlich des »prägnanten Punktes« her und spricht der Kunst eine »heuristische Funktion« zu. Vgl. Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 149, Anm. 149. Zur Bedeutung der Antizipation bei Leibniz und der Fruchtbarkeit des Begriff s für die Kunst vgl. F. Gaede/ C. Peres, Antizipation in Kunst und Wissenschaft. Ein interdisziplinäres Erkenntnisproblem und seine Begründung bei Leibniz, Tübingen/Basel 1997. 270

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in dem kurzen Text »Der Naturforscher Goethe«, »wird nur dem zuteil, der sich in all die feinen und zarten Übergänge des Lebens versenkt – der die Reihen des Lebendigen an sich vorbeiziehen läßt und in ihnen allen zwar nirgends eine starre Identität, eine Gleichheit der Form, wohl aber dasselbe geheime Gesetz der Formbildung, der Gestaltung und Umgestaltung entdeckt.« 274 Die Idee der Metamorphose entwickelt Goethe zwar in seinen Naturbetrachtungen, sie kann jedoch, wie die Schilderung seiner poetischen Variation zeigt, ebenso auf andere Bereiche geistiger Produktivität bezogen werden. Daß das von Goethe entwickelte »Gesetz der Formbildung« Cassirers Aufmerksamkeit erregen mußte, ist offenkundig, ist doch auch er auf der Suche nach den Formgesetzen und den bildenden Energien der Kunst sowie aller anderen Kulturgebiete. Um die Beschaffenheit dieser Formgesetze und der ihnen zugrundeliegenden Formkräfte genauer zu verstehen, verfolgt Cassirer zunächst Goethes Versuch ihrer Veranschaulichung. Für Goethe könne es nicht bei der Entdeckung eines Prinzips bleiben, Goethes Sehen sei immer zugleich auch ein Gestalten 275 : »Das ›Modell‹ drängt nach Wirklichkeit: Es will sich in einer konkreten Einzelanschauung verkörpern und bewähren.« 276 Goethe sucht nach der konkreten Anschauung der Urpfl anze, muß aber letztlich einsehen, daß es sie nicht geben kann. Am Beispiel der »Urpfl anze« hat Cassirer mit Goethe das Problem durchgearbeitet, eine Idee in einer Anschauung zum Ausdruck bringen zu wollen. Goethe kommt zu dem Schluß, daß die Versinnlichung einer Idee nicht möglich ist, sie ist nur symbolisch zu betrachten. In dieser Erkenntnis könnte der Keim für Cassirers »symbolische Formen« liegen. Doch was ist unter der ›symbolischen Betrachtung‹ einer Idee zu verstehen? Goethe geht es stets um die individuelle Gestalt, das individuelle Bild, aber er sucht ebenfalls nach Zusammenhängen zwischen den einzelnen Gestalten. Nach Cassirer gelingt es Goethe, diese beiden Perspektiven zu vermitteln. Er bezeichnet sowohl die dichterische Symbolik Goethes als auch die Ergebnisse seiner naturwissenschaftlichen Forschung als eine neuartige Synthese zwischen Individualität und Totalität. Goethe versuche Klarheit und Ordnung in die Vielfalt der Erscheinungen zu bringen bzw. sie darin zu »erschauen«. Seine Ordnungsprinzipien bilden jedoch kein System, denn er nähere sich der Natur nicht »mit einem vorgefaßten begriffl ichen Schema der Klassifi kation«.277 Goethes Idee sei eine Hypothese (etwas »Geahntes«, etwas »Vermutetes«, ein Gefühl oder »subjektives Forschungsprinzip«), »Der Naturforscher Goethe«, in: ECW 18, S. 439. Carl Friedrich von Weizsäcker weist in seinem Kommentar zu den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes »Einige Begriffe aus Goethes Naturwissenschaft« auf den etymologischen Zusammenhang zwischen Goethes »Welt des Auges« und der »Idee« hin: »Idee ist vom Sehen, íδειν abgeleitet und heißt etwas wie Bild, Gestalt, Anschauung.« Siehe J. W. von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, München 1998, Bd. 13, S. 539–555, S. 544. 276 ECW 7, S. 237. 277 Ebd., S. 224. 274

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die sich in der Anwendung zu bewähren habe. Ihre Qualität oder Realität sei nach ihrer Leistungsfähigkeit zu beurteilen. Zur Erläuterung der Methode Goethes, die Zusammenhänge zwischen einzelnen Formen zu begreifen, geht Cassirer auf zwei logische Prinzipien der Betrachtung des Allgemeinen zurück, die er bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff differenziert hat. Die eine Betrachtungsweise ist diejenige der Abstraktion vom Einzelnen. »Abstrahiert« wird, indem wir »an einer Gesamtheit von Inhalten alle unterscheidenden Züge fortlassen und nur die gemeinsamen Merkmale festhalten«.278 Diesen »klassifi katorischen Gattungsbegriff« lehne Goethe ab, da er das komplexe Leben der einzelnen Gestalten und den Lebenszusammenhang, in dem sie stehen, zerstöre. Ihm gegenüber steht der »Reihenbegriff«, der sich dadurch auszeichne, daß er die Beziehungen zwischen den einzelnen Gestalten sucht und zu Reihen verknüpft. »[I]n ihm [fassen wir] einen immer reicheren Komplex von Relationen zusammen, kraft deren sich uns die zuvor gesonderten empirischen Elemente zu Reihen zusammenschließen, die sowohl in sich selbst eine feste Gliederung ihrer Einzelelemente aufweisen, als sie durch feste Prinzipien wechselseitig verbunden und einander zugeordnet sind«.279 Das Ergebnis sei eine »wachsende Bestimmtheit«, ein immer tiefer begriffener Zusammenhang; keine Welt »hinter den Erscheinungen«, sondern ein Kosmos der Phänomene.280 Das Individuum, auf dessen Erkenntnis Goethes »gegenständliches Denken« ausgerichtet sei, wird in diesem »Reihenbegriff« nicht als Element verschiedener Mengen, sondern als Schnittpunkt verschiedener Ordnungen gedacht. Jedes Individuum – sowie geschichtlich betrachtet: jeder Moment – ist Ausdruck einer »Lebensreihe«. Es ist ein »Übergang«, eine »fl ießende und bewegliche Grenze« und somit Symbol für die

Ebd., S. 226. Ebd. 280 Bei der Lektüre des Goethekapitels von Freiheit und Form ist zu beachten, daß Freiheit und Form und Kants Leben und Lehre gleichzeitig geschrieben worden sind. Cassirer zitiert an einer Stelle weiter unten (ECW 7, S. 267) Goethe, der eingesteht, daß er »von Natur einen ähnlichen Weg als Kant genommen habe und daß seine ›Metamorphose der Pfl anzen‹ zwar unabhängig von Kant, aber doch ›ganz im Sinne seiner Lehre‹ geschrieben sei« (Goethe zu Eckermann am 11. April 1827, zitiert nach Goethes Gespräche. Gesamtausgabe, begr. von Woldemar v. Biedermann, 2. durchgesehene und stark vermehrte Aufl age, unter Mitw. von Max Morris u. a. neu hrsg. v. Flodoard von Biedermann, 5 Bde., Leipzig 1909–1911, Bd. III, S. 372). Cassirer rekonstruiert Goethes Metamorphosegedanken zunächst ohne explizite Hinweise auf Kant, macht den Kantbezug Goethes jedoch auch nicht unkenntlich. Er zitiert bspw. zunächst Goethe: »Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte.« (Maximen und Refl exionen, nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hrsg. v. Max Hecker, Weimar 1907 (Schriften der Goethe-Gesellschaft, Bd. 21), Nr. 1230, S. 255) und schließt dann ohne Hinweis auf den Autor des »Wortes« an: »Auf diese Weise hat Goethe selbst das Wort verstanden, daß es, um ins Unendliche zu schreiten, genüge, im Endlichen nach allen Seiten zu gehen.« (ECW 7, S. 232). 278

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Reihen, in denen es steht.281 Den aus dem Bereich der mathematischen Naturwissenschaft stammenden Reihenbegriff erweitert Cassirer unter dem Einfluß der Goetheschen Methode der »poetischen Variation« zu einem allgemeinen Formgesetz. Auch die späteren »symbolischen Formen« sollen nicht klassifi zieren, sondern ein Bildungsprinzip verständlich machen: »Der echte, tiefere Zusammenhang tritt nicht in einer Identität des Gebildeten, sondern in der konstanten Richtung des Bildungsprozesses hervor.« 282 Cassirer fragt weiter nach der Beschaffenheit der Anschauung Goethes. Was ist die Voraussetzung dafür, daß das Schauen selbst Zusammenhänge wahrnimmt? Zur Beantwortung dieser Frage überträgt er die Wandlungsfähigkeit oder Metamorphose der Phantasiebilder, die Goethe schildert, allgemein auf in der Anschauung gegebene Bilder und schließt: »Es ist […] eine eigentümliche Durchdringung von voller Bestimmtheit und grenzenloser Wandlungsfähigkeit der Anschauungsbilder, die uns hier entgegentritt. Das Bild ist nichts isoliert Gegebenes und Starres, sondern es setzt sich selbst auseinander«.283 Das einzelne Bild stellt einen »prägnanten Punkt« dar, einen Punkt, der mit anderen Punkten in einem Verhältnis steht und an dem sich potentiell alle Einzelmomente »zur Totalität einer Gesamtreihe« entfalten lassen.284 Es symbolisiert die Reihe, in der es steht. Doch was meint Cassirer, wenn er schreibt, ein Anschauungsbild »setzt sich selbst auseinander«? Unschwer läßt sich in dieser Formulierung eine frühe Fassung der »symbolischen Prägnanz« erkennen, die Cassirer im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen durch das berühmte Beispiel eines Linienzugs erläutert. Eine Linie kann diese »grenzenlose Wandlungsfähigkeit« aufweisen und je nach Kontext, in dem sie gesehen wird, als Symbolisierung inneren Lebens, als geometrische Figur, als mythisches Zeichen oder als ästhetisches Ornament aufgefaßt werden.285 Die eigentümlich aktivische Formulierung des sich selbst auseinandersetzenden Bildes weist auf den »konstruktiven Charakter der reinen Anschauung« zurück, mit der Cassirer der Sinnlichkeit bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff eine »Selbsttätigkeit« attestiert.286 In der Wahrnehmung ist keineswegs bloßes, ungeformtes Material gegeben. Das Anschauungsbild der Wahrnehmung ist bereits gegliedert bzw. ›auseinandergesetzt‹.287 Das »sinnliche Auffassungsvermögen« ist, so schreibt Cassirer nun in Freiheit und Form in bezug auf Goethes Methode der Variation, von der »belebende[n] Gabe der Wandlung und der gesetzlichen Umbildung des Gegebenen« nicht zu trennen. Goethe stimme mit Kant darin überein, daß »die Ebd., S. 233. Ebd., S. 238. 283 Ebd., S. 244. 284 Ebd. 285 ECW 13, S. 228 ff . 286 ECW 6, S. 579 287 Vgl. auch ECW 13, S. 231: »Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt«. 281

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Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung sei«.288 Zur Erläuterung zieht Cassirer die auch in Zukunft häufig zitierte Formulierung Goethes, »daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren«, heran. »Wie die Sinnlichkeit von der Einbildungskraft, so läßt sich die ›Anschauung‹ von der ›Betrachtung‹ nicht trennen; denn ›was ist Beschauen ohne Denken‹?«289 Die Wahrnehmung steht immer schon in einem Kontext, die »Welt des Auges« ist nicht gestaltlos. Cassirer entwickelt am Beispiel Goethes seine Wahrnehmungstheorie weiter und öff net sie für die polyforme »Welt des Auges«. Die produktive Einbildungskraft erweist sich für Cassirer und nach Cassirer auch für Goethe als die Grundkraft aller Formbildung: »Sowenig es eines Wortes darüber bedarf, daß Goethes dichterische Phantasie als integrierendes Moment in alle Richtungen seines Schaffens eingeht und ihnen erst ihre volle charakteristische Bestimmtheit verleiht: so liegt doch andererseits der Ursprung dieses Schaffens, wenn man es in seinem gesamten Umfange überblickt, nicht in irgendeiner einzelnen geistigen Energie. Goethes Grundkraft ist gleichsam die ›bildende‹ Kraft schlechthin, die ›produktive Einbildungskraft‹ als solche, noch bevor sie sich in die verschiedenen Einzelrichtungen und Einzelbetätigungen getrennt hat, auf denen jede wissenschaftliche oder künstlerische Genialität beruht. Von diesem seinem eigentümlichen Zentrum aus führt der Weg zur Naturbetrachtung wie zur künstlerischen Anschauung; ohne daß hierbei das eine Moment erst durch das andere vermittelt und somit in seiner Eigengesetzlichkeit gehemmt und eingeschränkt werden müßte. Nicht eine besondere Energie drückt allen anderen gewaltsam ihren Stempel auf; sondern eine neue höhere Synthese ist gewonnen, in der sie sich sämtlich vereinen, während zugleich jede sich ihre freie Eigentümlichkeit bewahrt. Nur auf diese Weise läßt sich das tatsächliche Verhältnis, das zwischen Goethe als Forscher und Goethe als Dichter bestand, verstehen.« 290 Diese »höhere Synthese«, die alle Gebiete menschlicher Formgebung zusammengefaßt, wird die Philosophie der symbolischen Formen ausbuchstabieren. Goethe zumindest, schreibt Cassirer, wäre mit der Bezeichnung verschiedener Betrachtungsweisen als »symbolisch« einverstanden gewesen.291 Auch den Anspruch, den er an die Philosophie gestellt hat, nicht »das Ganze der Welt in einer Formel« dazustellen, sondern Hilfestellung bei der Auf klärung »[s]eines Verhältni[sses] zu [sich] selbst und zur Außenwelt« bzw. »eine Klärung und Scheidung der verschiedenen Energien […] die in seinem geistigen Wesen zusammenwirkten« zu erhalten, würde die Philosophie der symbolischen Formen erfüllt haben.292 Cassirer formuliert sein Philosophieverständnis ähnlich: 288 289 290 291 292

ECW 7, S. 249. Ebd., S. 250. Ebd., S. 259. Ebd., S. 251. ECW 7, S. 264 f. und 267.

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»Was die Philosophie leisten kann, ist, daß sie dem Menschen die Totalität dieser Äußerungen deutet, nicht, daß sie ihn über sie hinaushebt«.293 Mit Goethe, der den Begriff der Wahrheit darauf reduzierte, eine Kenntnis seines Verhältnisses zu sich selbst und zur Außenwelt zu haben, modifi ziert auch Cassirer den Begriff der Wahrheit, setzt ihn in Abhängigkeit zu dem »verschiedenen Verhältnis, in dem das Ich sich zu den Gegenständen befi ndet«, und differenziert: »nach der Stellung, die es sich ihnen gegenüber als erkennendes, als ästhetisch betrachtendes oder als wollendes gibt, ergibt sich ihm ein anderes Resultat der Betrachtung und somit eine andere ›Wahrheit‹«.294

g) Gefühl und Anschauung in Goethes Dichtung Wie oben bereits im Vorgriff auf den 1920 erschienenen dritten Band des Erkenntnisproblems erwähnt, gibt es für Cassirer nur eine Form, die die begriffl ich nicht faßbare Komplexität eines wirklichen Lebenszusammenhangs symbolisieren kann: die Kunst oder, an einem konkreten Beispiel, die Dichtung Goethes.295 Was hinsichtlich der »Urpflanze«, die den Versuch darstellt, die Gesetzlichkeit des Formenwandels in der Natur in einer Anschauung zusammenzudrängen, nicht gelingen konnte, da sie für eine »Idee« steht, stellt sich für das innere Leben eines Individuums noch einmal anders dar. Der künstlerischen Phantasie erschließe sich der »Wahrheitsgehalt des eigenen inneren Daseins«, sie »deckt den inneren Prozeß auf, von dem das Leben nur Resultat ist«.296 Das gefühlte innere Leben und die Form, die es in der Dichtung annimmt, lassen sich für Cassirer nicht trennen, d. h. Dichtung ist keine mehr oder weniger gute Übersetzung einer eigentlich unsagbaren Innerlichkeit, denn sie ist das Medium, in dem diese Innerlichkeit in Erscheinung tritt. In die Schillersche Klage, »Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr« 297 stimmt Cassirer nicht ein, da »das Gefühl nicht erst in einem Äußeren Gestaltung sucht, sondern […] schon seinem ersten Keim und Ansatz nach selbst Gestalt wird und ist«.298 Dem Erleben selbst sind die Momente geistiger Formgebung inhärent, und so sind Empfi ndung und Ausdruck sind keine getrennten Phasen des Schaffensprozesses. In Anknüpfung an das Diktum Goethes, daß der Künstler »immer nur sein Individuum zu Tage fördern wird« 299, erläutert CasEbd., S. 265. Ebd., S. 264. 295 Vgl. ECW 4, S. 263, und oben, Abschnitt e). 296 ECW 7, S. 181 f. 297 Friedrich Schiller, »Sprache«, in: Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe in 16 Bdn., in Verb. mit Richard Fester u. a. hrsg. v. Eduard von der Hellen, Stuttgart/Berlin 1904 f., Bd. I, Gedichte I, S. 149. Cassirer zitiert diese Stelle in ECW 11, S.134. 298 ECW 7, S. 185. 299 J. W. von Goethe, »Ein Wort für junge Dichter«, in: Werke (Weimarer Ausgabe), hg. 293

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sirer das Verhältnis zwischen künstlerischer Form und poetischem Gehalt, das nicht als ein Abbildungsverhältnis verstanden werden dürfe, bei dem etwas bereits Vorhandenes mimetisch abgeschildert oder übersetzt werde, sondern als ein »im tiefen Sinne« symbolisches: »Die künstlerische Gestaltung folgt nicht auf das Leben, um es, als ein übrigens Fertiges und Abgeschlossenes, noch einmal im ›Bilde‹ zu wiederholen, sondern sie ist ein bestimmender Faktor im Auf bau des Lebens selbst.« 300 In allgemeinerer Form, die freilich die besondere Auszeichnung, die die Kunst diesbezüglich erfährt, nicht mehr sichtbar werden läßt, wird Cassirer den Zusammenhang zwischen Leben und Geist insbesondere in Auseinandersetzung mit den Lebensphilosophen immer wieder profi lieren.301 Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen konstatiert er: Wenn man das Leben verstehen wolle, könne man Leben und Form nicht trennen, »[d]enn der Prozeß, in dem das Leben – als geistiges, nicht als bloß biologisches Leben verstanden – sich formt, und der, in dem es sich selbst begreift und weiß, muß schließlich eine Einheit bilden: Ist doch dieses Begreifen nicht das bloß äußerliche Umgreifen einer fertigen, an sich vorhandenen Form, in welche das Leben gepreßt wird, sondern die Art und Weise, in der es sich seine Form gibt, um sie in ebendiesem Akt des Gebens, der tätigen Gestaltung zu verstehen.« 302 Das »Organ« von Goethes dichterischer Welterfassung, das sowohl empfi ndet als auch anschaut, sei die »exakte sinnliche Phantasie« 303. Das Gefühl, das neben der Anschauung die dichterische Phantasie bestimmt, faßt »Gegenstände höherer Ordnung« auf, denn es ist von Anfang an bereits »Gestalt«: »[D]ie reine Innerlichkeit des Gefühls befaßt die Totalität des Seins und begreift ihr gestaltendes Grundgesetz. Hier erschließt sich uns eine Einheit, die von dem Gegensatz des ›Ganzen‹ und der ›Teile‹, des ›Allgemeinen‹ und des ›Besonderen‹, nicht mehr berührt wird – weil sie selbst es ist, aus der heraus sich dieser Gegensatz erst mittelbar entwickelt im Auftr. der Großherzogin Sophie von Sachsen, 4 Abt., insg. 133 Bd. in 143 Bdn., Weimar 1887–1919, Abt. I, Bd. XLII/2, S. 106–108, S. 106. 300 ECW 7, S. 181 f. Die Verschränkung von Leben und künstlerischem Werk bzw. die Betrachtung des eigenen Lebens als Kunstwerk sind Topoi der (post)modernen Literatur und Theorie geworden. Während z. B. bei Foucault der »Autor« als literaturwissenschaftliche Kategorie vertrieben wird, nimmt die ästhetische »Sorge um sich« und die »ästhetische Existenz« zu. Für Hubert Fichte beschreiben seine Bücher ein Experiment: »zu leben, um eine Form der Darstellung zu erreichen«. Siehe H. Fichte in dem Interview mit E. Zimmer »Leben, um einen Stil zu fi nden – schreiben, um sich einzuholen«, in: Th. Beckermann (Hg.), Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk, Frankfurt/Main 1985, S. 116. 301 Zur Bedeutung des facettenreichen Lebensbegriff s und zur Auseinandersetzung Cassirers mit der Lebensphilosophie vgl. vor allem Ch. Möckel, Das Urphänomen des Lebens. Ernst Cassirers Lebensbegriff, (Cassirer-Forschungen 12), Hamburg 2005. Möckel zeichnet detailliert nach, wie sich für Cassirer der Gegensatz zwischen Leben und Geist, der das Grundproblem für die Lebensphilosophen darstellt, im Medium der symbolischen Form löst. 302 ECW 13, S. 217. 303 ECW 7, S. 249.

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und ableitet«.304 In den »vollendeten Werken« Goethes sieht Cassirer das Gefühl vollständig in einer objektiven Anschauung aufgehen. Dort sei ein harmonisches Verhältnis zwischen den die Gestaltung prägenden »Gemütskräften« Anschauung und Gefühl, das Cassirer auch als »Stimmung« 305 bezeichnet, zwischen innerer und äußerer Welt erreicht. Dieses Verhältnis zwischen Individuum und Kosmos ist ein monadologisches Ausdrucksverhältnis Leibnizscher Prägung, und Cassirer greift zur Beschreibung auf das berühmte Goethe-Zitat zurück, in dem dieser das Leben als eine »rotierende Monas« bezeichnet.306 Von diesem Ausgangspunkt muß auch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Leben und künstlerischer Darstellung noch einmal genauer gefaßt werden. Denn eine endgültige, vollkommene Darstellung – wie die Entgegensetzung der Goetheschen Symbolik gegen die begriffl iche Konstruktion Schellings suggeriert hat – kann es nicht geben, da das Leben, wie der Ausdruck »rotierende Monas« andeutet, selbst im Fluß ist. Das Gefühl strebt nach Mitteilung, in der das »subjektive Gefühl« mit einer »objektive Anschauung« vermittelt wird, doch die »Ruhe«, zu der der »stetige Prozeß der Gestaltung« in der ästhetischen Anschauung kommt,307 ist nicht von Dauer. Das Werk kann einen »inneren Gehalt« nicht vollständig fassen, es bildet das Leben nicht in allen Einzelheiten ab, sondern symbolisiert es als »prägnanter Punkt«. Der Abschluß, zu dem ein »Erlebnis« in einer Symbolisierung durch ein Kunstwerk gelangt, ist immer nur ein vorläufiger. Zum Wesen des Symbols gehört es, wie oben zitiert, »ein bestimmender Faktor im Auf bau des Lebens selbst« zu sein. Das Kunstwerk entfaltet eine Wirkung auf seinen Produzenten und seine RezipiEbd., S. 182. Ebd., S. 190, 198, 246. Zwischen der Cassirerschen Verwendung des Begriff s der Stimmung und der Kantischen gibt es Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Bei Kant zeigt die »Stimmung« ein Verhältnis zwischen Gemütskräften an. In der Lust äußert sich ein optimales Verhältnis. Vgl. KU, § 21, (S. 156 der Ausgabe von H. Klemme): »Aber diese Stimmung der Erkenntniskräfte hat, nach Verschiedenheit der Objekte, die gegeben werden, eine verschiedene Proportion. Gleichwohl aber muß es eine geben, in welcher dieses innere Verhältnis zur Belebung (einer durch die andere) die zuträglichste für beide Gemütskräfte in Absicht auf Erkenntnis (gegebener Gegenstände) überhaupt ist; und diese Stimmung kann nicht anders als durch das Gefühl (nicht nach Begriffen) bestimmt werden.« Das Zusammenstimmen der Erkenntniskräfte konstituiert einen »Gemeinsinn«, der das Geschmacksurteil f ällt. Auch bei Cassirer bezeichnet »Stimmung« ein Verhältnis zwischen »Gemütskräften«. Bei ihm sind es Empfi ndung (zu Cassirers Verwendung von Empfi ndung und Gefühl siehe oben, Abschnitt d)) und Anschauung, die zusammenwirken. Im Falle der frühen Dichtung Goethes stehe die Stimmung noch »zwischen Empfi ndung und Anschauung« (ebd., S. 190), später sei ein »neues Grundverhältnis zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹ erreicht«. Im Unterschied zu Kant, für den das Geschmacksurteil ein vermitteltes Urteil ist, da die Stimmung einen inneren Zusammenhang – das Zusammenstimmen von Gemütskräften – zum Ausdruck bringt, kennzeichnet die Stimmung bei Cassirer ein »Grundverhältnis von ›Innen‹ und ›Außen‹«. 306 ECW 7, S. 188. 307 Siehe ECW 4, S. 236, und oben, Abschnitt e). 304 305

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enten und geht somit in den Prozeß des Lebens und Gestaltens wieder ein. Diesen Gedanken nimmt Cassirer in seinem Aufsatz »Die ›Tragödie der Kultur‹« von 1942 wieder auf: »Am Ende […] steht nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das »Du«, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt.« 308 Auf seinen Produzenten wirkt es in dem Sinne zurück, daß er sich erst durch die Begrenzung, die eine gefügte Form darstellt, seines inneren Lebens bewußt wird. Er erkennt die Unbegrenztheit seines eigenen Inneren erst in dieser begrenzenden Formgebung. Das Werk selbst »entspringt aus den Bemühungen des Individuums, sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen« – das ein ständiger Fluß ist - »zu erhalten«.309 Die Klarheit (im Leibnizschen Sinne) des Sich-Abgrenzens und Begreifens steht in einem dialektischen Verhältnis zur »dumpfen Fruchtbarkeit« 310, in der das Individuum sich nur fühlt, aber nicht kennt. Die Fokussierung darauf, ein Erlebnis, einen Gefühlszusammenhang in seiner Komplexität zum Ausdruck zu bringen, prägt, so Cassirer, die Frühphase der Lyrik Goethes, in der er versuche, eine Totalität vom »Mittelpunkt des Ich her« 311 aufzubauen. Dem Formbegriff des frühen Goethe, in dem Gefühl und Anschauung harmonieren, folge der Formbegriff der »klassischen Epoche« Goethes, und der Veränderung der »Theorie der künstlerischen Form« Goethes korrespondiere eine Umbildung seines Stils. In dieser Zeit gewinne neben der »eigentümlichen Weise des Sehens« – der bereits erläuterten spezifi schen Anschauung, die sich durch die verschiedenen Phasen des Goetheschen Werkes durchhält – als weitere Komponente »eine neue Welt des Gedankens« an Gewicht. Was Goethe jetzt zu suche, sei die »anschauende Kenntnis« von Grundgesetzen, von wesentlichen Formen der Kunst und der Natur.312 Das Schöne begreife er als »eine Manifestation geheimer Naturgesetze«, die sich in sichtbaren Gestalten erkennen lassen. 313 »Wenn in den Jugendwerken das Ganze der Welt nur in der Empfi ndung gegenwärtig war und

Siehe »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Darmstadt 1961, hier zitiert nach der 6. Aufl age, Darmstadt 1994 (im folgenden zu LK abgekürzt), S. 110. Vgl. hierzu auch G. Peters, »Prometheus und die ›Tragödie der Kultur‹. Goethe-Simmel-Cassirer«, S. 132 f. Den vorläufi gen Haltepunkt, den das Werk in diesem Prozeß darstellt, bezeichnet Birgit Recki als »vorläufigen Einstand einer Perspektive […], die immer nur im Kontext der fortlaufenden Aktivität des Sinnverstehens und des Hervorbringens von Sinn zu begreifen ist«. Siehe B. Recki, »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant«, S. 203 und die Anm. 15. 309 ECW 7, S. 196. 310 Ebd., S. 198. 311 Ebd., S. 215. 312 Ebd., S. 207 f. 313 Ebd., S. 210. Auff ällig ist die Parallele zu Leibnizens rationalistischem Schönheitsbegriff , die Cassirer aber nicht kommentiert. 308

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durch sie in ahnungsvoller ›Fülle‹ und ›Dumpf heit‹ umfaßt wurde: so ist es jetzt herausgetreten in die Welt des Gedankens. Das ›Allgemeine‹ wird nicht nur vorausgefühlt, sondern es wird in der Form der ›Idee‹ erschaut und gewußt.« 314 Cassirer weist auf die Gefahr, die der Formbegriff der »klassischen Epoche« Goethes mit sich bringe, hin. Er warnt vor der Starrheit und Abstraktion, die der künstlerische Formbegriff bekommt, wenn er nur von der Seite der Theorie begriffen wird und nicht in der Dichtung selbst betrachtet wird. Der Gefahr der Hypostasierung der individuellen Wahrheit der Dichtung entgehe die Theorie des Dichters nicht. Die Ausdrucksform, in der sich ein Allgemeines symbolisieren läßt, bleibt in der Dichtung Goethes jedoch das »konkretes Symbol« 315, das für einen »anschaulichen Komplex« 316 steht und sich aus einem »prägnanten Punkt« 317 entwickelt. Auch in der »klassischen Phase« Goethes löse sich die Einheit von Empfi ndung und Ausdruck, die sich im Symbol manifestiert, nicht auf. Der anschauliche Gesamtkomplex erfährt eine »innere Belebung und Aneignung, die Durchdringung mit der persönlichen Lebensform, die ihr erst durch das Medium der Dichtung wahrhaft zuteil wird«.318 Dadurch bleibt das dichterische Symbol eine individuelle Totalität, die sich nicht zu einer allgemeinen hypostasiert.

h) Schillers »lebendige Gestalt«: der Prototyp der symbolischen Form Wenn Cassirer schreibt, Schiller sei mit dem Anliegen an die Philosophie herangetreten, »die Eigenart seiner Dichtung durchsichtig zu machen und ihr im Gesamtgebiet des Geistigen ihren bestimmten und sicheren Platz anzuweisen« 319, scheint er sein ureigenstes Interesse zum Ausdruck zu bringen. Um Cassirers »Theorie der Formen« macht Schiller sich in Auseinandersetzung mit Leibniz, Kant und Fichte dadurch verdient, daß ihm mit dem ästhetischen Begriff der »lebendigen Gestalt« eine idealtypische Verbindung von Geist und Leben gelingt, denn in ihr sind »Idee« und »Erfahrung« symbolisch vermittelt. Während die dichterischen Gestalten der Jugenddramen Schillers Projektionen einer abstrakten ethischen Forderung nach »Gedankenfreiheit« seien – und somit nach Humboldt »einen stärkeren Antheil des Ideenvermögens, als man sonst in irgend einem Dichter antriff t, und man, ohne die Erfahrung, mit der Poesie für verträglich halten sollte« 320, offenbaren –, vollziehe er in seiner ästhetischen Theorie einen Ausgleich zwischen »Form« und »Stoff«. 314 315 316 317 318 319 320

Ebd., S. 212. Ebd. Ebd., S. 214. Ebd., S. 245. Ebd., S. 216. Ebd., S. 287. Zitiert nach ECW 7, S. 291.

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Durch die Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie habe Schiller sich von dem Einfluß Baumgartens gelöst, der der Kunst zwar eine gewisse Selbständigkeit, aber noch keine Autonomie zugesprochen habe, da sie in Baumgartens Ästhetik immer noch der Logik untergeordnet sei.321 Die kritische Philosophie habe den »allgemeinen Begriff der ›Autonomie‹ für alle Einzelgebiete des geistigen Schaffens« 322 gewonnen und damit auch Schillers Ästhetik befreit. Die Pluralisierung und Individualisierung des Wahrheitsbegriff s und damit die Aufwertung und Gleichberechtigung aller symbolischen Ausdrucksweisen, die nach Cassirer, wie oben erwähnt, auch Goethe angestrebt hat, führt er im Schiller-Kapitel in Freiheit und Form auf Leibniz zurück. Leibnizens »Umbildung des Wahrheitsbegriffes«, die darin bestehe, daß er »Wahrheit« nicht mehr als die Abbildung eines Gegenstandes durch eine Vorstellung, sondern als das gesetzmäßige Verhältnis verschiedener Symboltypen verstehe, habe eine Veränderung des allgemeinen Begriff s der »Denkkraft« zur Folge, die Schiller aufnehme. Für Leibniz sei das Denken, wie Cassirer ausführt, die charakteristische Tätigkeit der Seele insgesamt 323, und auch für Schiller seien Gedanken verschiedene »endemische Formen« einer Grundkraft der Seele, die verschiedenen selbständigen Funktionen, welche »jede nach einem eigentümlichen Prinzip den Stoff der Empfi ndung zur Ordnung und Gestalt erhebt«, zugeordnet werden können. 324 Jede dieser Funktionen vollziehe sich nach einem autonomen Prinzip. Die »Gewalttätigkeit«, die Goethe an Schillers Dichtung empfunden habe und die dieser nicht als Künstler, wohl aber als Theoretiker überwunden habe, führt Cassirer auf die Unterwerfung des Stoffes zu einem äußeren Zweck, d. h. Heteronomie zurück. Das theoretische Verständnis des besonderen harmonischen Verhältnisses, das Stoff und Form in Gestalt der Kunst eingehen, habe Schiller in Auseinandersetzung mit Fichte gewonnen. Cassirer rekonstruiert diese Auseinandersetzung, um die Entstehung des Schillerschen Formbegriff s und das Skandalon eines gewalttätigen Vernunftbegriff s verständlich zu machen: Nach Fichte stehen sich »Ich«, als Prinzip der Vernunft, und »Nicht-Ich«, als Mannigfaltigkeit des Bewußtseinsinhaltes« in einem beständigen Kampf gegenüber, der auf die vollständige Umbildung des Mannigfaltigen zu einem System des Wissens, d. h. die Unterwerfung des Stoffes unter die Form hinauslaufen soll. Das »Gegebene«, der »Stoff«,

Vgl. oben, S. 66 f. ECW 7, S. 289. 323 Ebd., S. 101 f. Die Formulierung »au moins en prenant le mot de pensée comme ie fais, pour toutes les operations de l’ame« stammt jedoch bereits von Descartes. Siehe seinen Brief aus dem März 1638, in: Œuvres de Descartes, hg. von Ch. Adam und P. Tannery, Bd. II, Paris 1975, S. 36, den Cassirer hier nicht erwähnt. Descartes f ährt fort: »en sorte que non seulement les meditations & les volontez, mais mesme les fonctions de voir, de ouïr, de se determiner à un mouvement plustostqu’à un autre &c., en tant qu’elles dependent d’elle, sont des pensées«. 324 ECW 7, S. 294 f. 321

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gehe jedoch nie vollständig in die Vernunftform über. Es bleibt an ihm »immer eine spezifi sche Beschaffenheit zurück, die sich für uns nur in der Empfi ndung ausdrückt – die wir also, wie es scheint, nur passiv empfangen, nicht selbsttätig aus dem Ich zu erzeugen vermögen«.325 Dieses als Einschränkung des Ichs betrachtete Faktum gelte es nach Fichte zu verstehen und aufzuheben, in dem ihm eine Bedeutung zugewiesen werde. Bei Fichte erhalte diese Grenze die Funktion, den Menschen in seiner Gestaltung der Welt seiner »unendlichen Bestimmung« bewußt werden zu lassen. Die Unabschließbarkeit der Reihe der einzelnen einander aufhebenden Realisierungsversuche des Ichs mache dieses mit der Unabschließbarkeit seiner Aufgabe und seines Potentials bekannt. Die Welt muß uns jedoch, schreibt Cassirer apodiktisch, »mehr bedeuten […] als das widerstrebende Material, das wir nach und nach der Forderung des reinen Ich gefügig und dienstbar zu machen haben. Denn auch sie besitzt ein eigenes reines ›Wesen‹, das Anspruch auf Erhaltung hat«. Die Forderung nach Anerkennung des Anderen leitet sich aus dem Bedürfnis nach einer »Harmonie« des Inneren und des Äußeren ab, die das ästhetische Bewußtsein erfahre. Das ästhetische Bewußtsein unterwerfe sich die Welt nicht, sondern erhalte sie und verweile bei ihr: »[N]ur als Stoff, als Gegenstand unserer sinnlichen Begierde und unserer endlichen materialen Zwecksetzungen, wird [sie] aufgehoben, während [sie] in der reinen Konkretion des Bildes fortbesteht.« 326 Dennoch erfülle auch die ästhetische Formgebung die Funktion, den Menschen seiner selbst bewußt werden zu lassen – jedoch ohne, und das ist die Besonderheit der Kunst, die Sphäre der Sinnlichkeit zu verlassen. Das Gleichgewicht zwischen Form und Stoff in der Kunst bezeichnet Schiller mit dem Begriff der »lebendigen Gestalt«. »[D]ie Welt des Künstlers«, so Cassirer in einem Vortrag im Wintersemester 1920/21, »geht über die Welt der unmittelbaren, bloß-sinnlichen Wahrnehmung hinaus; – prägt ihr eine ganz neue Form auf – aber auch diese Form behält gleichsam noch die ›angeborne Farbe‹ der Sinnlichkeit d. h. der konkreten Anschauung im Gegensatz zum wissenschaftlichen Abstraktionsbegriff.« 327 Durch diese harmonische Verbindung zwischen Sinnlichkeit und Geist, die das künstlerische Symbol kennzeichnet, wird es zum Prototyp des Cassirerschen Symbolverständnisses.

Ebd., S. 308. Ebd., S. 312. 327 Cassirer hat im Wintersemester 1920/1921 eine bislang unveröffentlichte Vortragsreihe über »Schillers philosophische Weltansicht gehalten«, in die sowohl die Ergebnisse des SchillerKapitels aus Freiheit und Form als auch diejenigen seines 1921 in Idee und Gestalt veröffentlichten Aufsatzes »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften« eingegangen sind. Sigrid Mayer zitiert in ihrem Aufsatz »Cassirers Analyse von Schiller philosophischer Weltansicht« aus diesem Vortragsmanuskript – hier S. 291. 325

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Kapitel 3 Die Bedeutung der ästhetischen Urteilskraft Kants für die Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen – Kants Leben und Lehre

a) Einleitung Die ästhetischen Formreflexionen Cassirers waren 1918, zur Zeit der Veröffentlichung von Kants Leben und Lehre, dessen Manuskript bereits im Frühjahr 1916 druckfertig gewesen ist, weit fortgeschritten, denn die Vorarbeiten zum ebenfalls 1916 abgeschlossenen (und publizierten) Band Freiheit und Form reichen viele Jahre zurück.328 Kapitel 3 zeigt Cassirer mit Kant auf dem Weg vom Erkenntnisurteil zum ästhetischen Urteil – und es zeigt ebenfalls, wie er (ohne Kant) noch ein Stückchen weiter geht. Die elegante Handschrift seiner Kantinterpretation erleichtert es nicht gerade, die »stilbildenden« Elemente Cassirers vom Referat zu trennen: Cassirer beherrscht das Kantische Idiom souverän, seine Akzentuierungen, Verschiebungen und Weiterentwicklungen sind subtil. Während er sich im zweiten Band des Erkenntnisproblems nicht mit der Kritik der Urteilskraft beschäftigt hat, widmet er ihr in Kants Leben und Lehre ein umfangreiches Kapitel. Für Cassirer kommt in der Kritik der Urteilskraft eine Entwicklung zum Ausdruck, die nur durch Modifi kationen bestimmter Elemente des Erkenntnisbegriff s, insbesondere des Wahrnehmungsbegriff s, möglich wurde. Die Kunst ist neben der Biologie, die Cassirer im vierten Band des Erkenntnisproblems thematisieren wird, das Movens für die »Erweiterung und Vertiefung« der Kantischen (und der Cassirerschen) Lehre. Abschnitt b) zeigt, daß die Bedeutung, die Kants Kritik der Urteilskraft in der Studie Kants Leben und Lehre gewinnt, dennoch nicht unvorbereitet ist. In Aufsätzen hat Cassirer bereits auf ihren Stellenwert hingewiesen. Aber auch der zweite Band des Erkenntnisproblems trägt Spuren einer Kantlektüre, die sich mit der Trennung einer rezeptiven Sinnlichkeit von einem spontanen Verstand nicht zufriedengeben will. Cassirer betont den »konstruktiven Charakter« der Anschauungsformen und setzt das »Gegebensein« des empirischen Materials in Anführungszeichen. Die Entstehung von Raum und Zeit durch verschiedene Modalitäten der Synthesis wird eine der Kernthesen der Philosophie der symbolischen Formen werden. In der Kritik der reinen Vernunft konzipiert Kant einen Erkenntnisbegriff, der jede Wahrnehmung von vornherein unter die Begriffe des Verstandes stellt. Die Kritik der Urteilskraft kann diesen Wahrnehmungsbegriff nicht aufrechterhalten, 328

Siehe das Vorwort zur ersten Aufl age, ECW 7, S. 388.

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revidiert ihn jedoch nicht explizit. In Kants dritter Kritik wird das Zusammenspiel von Gemütskräften im Geschmacksurteil untersucht. Auch das Geschmacksurteil gründet auf Wahrnehmung, obwohl das »Vorstellungsmaterial«, das sich der reflektierenden Urteilskraft bietet, nicht für eine Erkenntnis taugt. Der Cassirersche Begriff der Wahrnehmung, den er in der Philosophie der symbolischen Formen erarbeitet, revidiert den Kantischen. Die Anschauung kann auf die Denkfunktion nicht verzichten, doch diese ist bereits in der Anschauung selbst am Werk. Die Formen, die Einheiten, zu denen das »Material« synthetisiert wird, sind jedoch nicht ausschließlich diejenigen des wissenschaftlichen Erfahrungsurteils. In Abschnitt c) wird der Denkweg Cassirers verfolgt, auf dem die »wahre Einheit« der Erkenntnis sich unter Einfluß der ästhetischen Urteilskraft zum Kosmos verschiedener einheitlicher (symbolischer) Formen weitet. Auch die »ästhetische Stimmung« und die »ästhetische Gestalt« sind Einheiten, die im Zusammenspiel der Gemütskräfte entstehen. Der Begriff des »Gegenstandes«, auf dessen Bildung das Erkenntnisurteil ausgerichtet ist, differenziert sich zu verschiedenen Formen der »Gegenständlichkeit«. Die Bilder der Wirklichkeit, die dadurch entstehen, sind wissenschaftlicher, ethischer und nicht zuletzt »ästhetischer Art«. Cassirer treibt die Analyse des ästhetischen Urteils weiter als Kant. Während es diesem in der Kritik der Urteilskraft nicht um den Gegenstand oder die Gegenständlichkeit der Kunst, sondern im Rahmen einer erweiterten Analyse der Subjektivität um die Bestimmung des ästhetischen Gebrauchs der reflektierenden Urteilskraft ging, legt Cassirer in neukantianischer Manier ein »Faktum der Kunst« zugrunde. Kant spricht nicht über Kunst, sondern über Lust. Cassirer spricht auch über die spezifi sch ästhetische Verknüpfungsform des Mannigfaltigen zu einer Einheit und somit über Rezeption und Verfaßtheit von Kunst, über »ästhetische Stimmung« und »ästhetische Gestalt«. In der Interpretation der Kritik der Urteilskraft prägt Cassirer den Begriff der ästhetischen Anschauung, mit dem er an den intuitiven Gebrauch des Verstandes bei Leibniz sowie an den Goetheschen Begriff der Anschauung anknüpft. Die Gegenständlichkeit, die durch die ästhetische Anschauung konstituiert wird, liefert ein Bild der Wirklichkeit, das Cassirer als »intuitive Einheit der Gestalt« bezeichnet, die einer diskursiven Zerlegung nicht bedarf. Der Begriff des Verstandes wird bei Cassirer neu defi niert: Er bestimmt ihn als ein Vermögen der Grenzsetzung, das (prägnante) Bilder schaff t (Abschnitt d)).

b) Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie: Ästhetik als Paradigma Die Bedeutung Kants für die Philosophie Ernst Cassirers ist unbestritten und drückt sich nicht zuletzt in der zwar problematischen, jedoch verbreiteten Zuordnung seiner Philosophie zum Neukantianismus aus. Die Erkenntnis, daß Cassirer der Transzendentalphilosophie Kants verpfl ichtet bleibt, wenngleich er über die Kantische Vernunftkritik hinausgeht, indem er die transzendentale Methode auf

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alle Gebiete der geistigen Kultur anzuwenden versucht, ist ebenfalls Gemeingut. Cassirer selbst schreibt, daß die Philosophie der symbolischen Formen »dem Wege zu folgen [sucht], den Kant der ›kritischen Philosophie‹ gewiesen hat«. Erst nach Kant seien die Phänomene der Kultur in einer Weise in den Blick gerückt, daß sie zum ›Faktum der Geisteswissenschaften‹ haben werden können, und an diesem Punkt setze die Philosophie der symbolischen Formen an.329 Indem Kant in der letzten seiner drei Kritiken, in der Kritik der Urteilskraft, eines dieser Kulturphänomene – die Kunst – zum Gegenstand der Vernunftkritik macht, scheint er selbst bereits ein Stück dieses Weges gegangen zu sein. Die Veränderungen, die »der ursprüngliche Erkenntnisbegriff« Kants dadurch erfahren hat, bezeichnet Cassirer als »Erweiterung und Vertiefung«.330 Die Interpretation der Kantischen Philosophie, die Cassirer in seiner Monographie Kants Leben und Lehre vorlegt, mit der er 1918 die von ihm zusammen mit Hermann Cohen und anderen herausgegebene elf bändige Ausgabe der Werke Kants abschließt, zeichnet diese Entwicklung nach, und so ist es nicht verwunderlich, daß die Beschäftigung mit der Kritik der Urteilskraft – derjenigen Kritik, die bislang nicht im Zentrum seiner Kantlektüre gestanden hat – breiten Raum einnimmt. Dennoch sollte die Tatsache, daß die Kritik der Urteilskraft im Rahmen des umfangreichen Kantkapitels im zweiten Band des Erkenntnisproblems ausgeblendet wird, nicht zu dem Fehlschluß verleiten, Cassirer habe sich vor der Abfassung von Kants Leben und Lehre nicht mit der Kritik der Urteilskraft beschäftigt. Bereits der 1914 verfaßte Aufsatz »Die Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation«, den er 1920 nahezu unverändert als Einleitung in den dritten Band des Erkenntnisproblems eingerückt hat, stellt die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für das gesamte Unternehmen der Vernunftkritik klar heraus. Hier erwähnt Cassirer auch die Wirkung, die die Kantische Philosophie unter anderem auf diejenigen Dichter und Denker gehabt habe, die er nicht im Rahmen des Erkenntnisproblems, sondern in den geistesgeschichtlichen Studien von Freiheit und Form sowie 1921 in den zu Idee und Gestalt zusammengefaßten Aufsätzen thematisieren wird. In »Die Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation« wertet Cassirer die Überlegungen, die Kant in der Kritik der Urteilskraft insbesondere hinsichtlich der Verfaßtheit und der Bedeutung des sinnlich Besonderen der Anschauung anstellt, als eine »Selbstberichtigung«, mit der eine Revision des gesamten kritischen Vorhabens einhergehe.331 Mit dieser Deutung steht er in der Tradition der Marburger Schule, denn auch Cohen hat die Möglichkeit einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der transzendentalen »Zur Logik des Symbolbegriff s«, in: ECW 22, S. 136 f. ECW 8, S. 346. 331 »Die Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation«, in: ECW 9, S. 211 f. 329

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Methode im Ausgang von der ästhetischen Urteilskraft gesehen.332 In dem Aufsatz »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« von 1912 bestimmt Cassirer das »transzendentale System« im Ausgang von Cohens Darstellung der Kantischen Ästhetik »in seiner Allgemeinheit nicht sowohl [als] einen geschlossenen Zusammenhang von Erkenntnissen«, sondern als »einen Zusammenhang von Erzeugungsweisen des Bewußtseins«, als ein »System von Geltungswerten«, das sich »innerhalb dieser Einheit in ihre verschiedenen Unterarten spezifi ziert«.333 Massimo Ferrari interpretiert die Verwendung des Begriff s der Geltung in diesem Zusammenhang als Annäherung an den südwestdeutschen Neukantianismus Windelbands und Rickerts, die der Kritik der Urteilskraft eine besondere Bedeutung für die Konstitution einer Kulturphilosophie beigemessen haben, und wertet die Kritik der Urteilskraft insgesamt als unverzichtbaren Bezugspunkt Cassirers, »um die Einheit der Natur und des Geistes in einem ›einzigen Organismus der Vernunft‹ aufzufi nden«. Insbesondere die Lektüre des zweiten Teils habe ihm den Horizont der pluralistischen Konzeption der Formen geöff net.334 Auch Thomas Knoppe weist auf Cassirers »Welt der Symbole« hin, in deren Perspektive die teleologische Reflexion an Bedeutung gewinne, ohne jedoch einen expliziten Bezug zur Kritik der Urteilskraft herzustellen.335 Die Bedeutung, die der Cassirerschen Lektüre der Kritik der Urteilskraft zukommt, ist insbesondere von Ernst Wolfgang Orth 336 und Christiane Schmitz-Rigal 337 untersucht worden. Beide sehen von dieser Beschäftigung Cassirers wichtige Entwicklungsimpulse für die Philosophie der symbolischen Formen ausgehen. Für Orth liest es sich »wie ein Programm seiner eigenen Philosophie der symbolischen Formen, wenn Cassirer am Ende des Kapitels über Kants ›Kritik der Urteilskraft‹ in Kants Leben und Lehre schreibt, daß nun bei Kant ›der Reichtum der anschaulichen Wirklichkeit nicht zu einem System bloßer Abstraktionen verkümmert und verflüchtigt werden soll, sondern daß umgekehrt der 332 Nach Ursula Renz antwortet bereits Cohen in Kants Begründung der Ästhetik »auf die Herausforderung des Ästhetischen u. a. mit der Aussicht auf ein ›System der Kultur‹«. Siehe U. Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, (Cassirer-Forschungen 8), Hamburg 2002, S. 149. 333 ECW 9, S. 129 und 138. 334 Vgl. M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 76 ff . und 98. 335 Th. Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992, S. 75. 336 E. W. Orth, »Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen. Ein kritischer Kommentar«, in: E. Cassirer, Symbol, Technik, Sprache. Aufsätze aus den Jahren 1927–1933, hg. von E. W. Orth und J. M. Krois unter Mitwirkung von J. M. Werle, Hamburg 1985, ders., »Die Bedeutung der ›Kritik der Urteilskraft‹ für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996, sowie ders., »Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer«, in: ebd. 337 Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst off enen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik, (Cassirer-Forschungen 7), Hamburg 2002.

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ursprüngliche Erkenntnisbegriff Kants hier eine Erweiterung und Vertiefung erfahren hat, die ihn jetzt erst wahrhaft befähigt, das Ganze des natürlichen und des geistigen Lebens zu überblicken und von innen her als einen einzigen Organismus der ›Vernunft‹ zu begreifen‹«.338 Inwiefern Cassirer die Entwicklung des zentralen Problemkomplexes seiner Symbolphilosophie – die tiefere Vermittlung von Sinnlichkeit und Sinn – en passant durch seine Interpretation der Kritik der Urteilskraft vorantreibt, soll dieses Kapitel verdeutlichen. Besonderes Augenmerk wird seinem Verständnis des Synthesebegriff s, dem Prinzip der »formalen Zweckmäßigkeit«, das »eine Erkenntnisweise« erschließt, »die als solche nicht vom Einzelnen zum Ganzen, sondern von der Idee des Ganzen zur Bestimmung des Einzelnen fortschreitet«339, und die Cassirer später als »intuitives« Verfahren des Verstandes bezeichnet,340 sowie weiterhin dem »Begriff« der Form gelten, der allmählich von einem abstraktem Funktionsbegriff zum Gestaltbegriff erweitert wird. Die Anregungen, die Cassirer durch die Kantische Ästhetik für seine Kulturphilosophie bekommt, aber auch die subtilen Veränderungen, die seine Auslegung an Kants Konzeption der ästhetischen Urteilskraft vornimmt, sollen im folgenden untersucht werden, denn mit seiner Interpretation des ästhetischen Urteils ist Cassirer bereits auf dem Weg zu einem Verständnis der Kunst als symbolischer Form, einem Weg, den Kant möglicherweise in dieser Form nicht mitgegangen wäre.341 Im Vordergrund dieses Kapitels steht dennoch nicht die Frage, ob Cassirer Kant richtig interpretiert,342 wenngleich es gelegentlich unumgänglich sein wird, bspw. auf die Leibnizsche Prägung der Cassirerschen Interpretation hinzuweisen,343 um die Tendenz seiner Lesart sowie den Zusammenhang mit bereits Erörtertem deutlich zu machen. Um zu verstehen, wie sich der Cassirersche Erkenntnisbegriff unter dem Einfluß seiner Kantlektüre zu einem allgemeinen Kulturverstehen erweitert, und um zu verstehen, wie weit Cassirer dem Kantischen Wegweiser folgt und wo er abzweigt, müssen auch die Veränderungen, die der »ursprüngliche Erkenntnisbegriff Kants« durch die Konzeption der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft erfahren hat, erwähnt werden. Dabei sollen insbesondere Probleme, die die Kantische Vernunftkritik birgt – für die Cassirer neue Lösungen anbietet –, sowie Revisionen, die Kant gelegentlich nicht explizit gemacht hat – Cassirer jedoch aufdeckt –, thematisiert werden. E. W. Orth, »Die Bedeutung der ›Kritik der Urteilskraft‹ für Cassirer Philosophie der symbolischen Formen«, S. 179. 339 »Die Grundprobleme der Kantischen Methodik«, in: ECW 9, S. 215 f. 340 Vgl. ECW 4, S. 15, und siehe oben, Kapitel 2, Abschnitt e). 341 Siehe hierzu unten, Teil II, Kapitel 2, Abschnitt c) und d). 342 Vgl. hierzu E. W. Orth, »Die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft«, insbesondere S. 183 und 187, Anm. 17, und Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst off enen Wissens, S. XIX. 343 Auf die Verbindung zwischen Kant und Leibniz in Kants Leben und Lehre hat bereits Ferrari, Ernst Cassirer, S. 82, hingewiesen. 338

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Die Frage des Studenten der Literaturwissenschaft Cassirer nach der spezifischen Sichtweise des Dichters, in der bereits die Frage nach den ›Weltanschauungen‹ aller symbolischen Formen angelegt ist und auf die er in der Beschäftigung mit der Formreflexion der Ästhetik eine Antwort gesucht hat, wird nun ergänzt durch einen Zugang zur Ästhetik, der aus dem Problembestand der Erkenntnistheorie erwächst. Bereits in dem Aufsatz »Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie« bestimmt Cassirer die Kunst als »Gestaltung jenes Verhältnisses von ›Idee‹ und ›Wirklichkeit‹, das die theoretische Kritik allgemein formuliert und begründet« 344, und wendet sich somit der erweiterten Bestimmung des Kantischen Begriff s der Idee zu, die diese als ästhetische Idee in der Kritik der Urteilskraft erfährt. Doch nicht nur die intuitive Orientierungsleistung, die der heuristische Vorgriff auf ein Ganzes leistet, führt von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft. Es sind ungelöste Probleme der Vermittlung von Denken und Anschauung: Probleme des Verständnisses der Wahrnehmung und schließlich der Bestimmung des Denkens selbst, die den Begriff der naturwissenschaftlich exakten Erkenntnis bei Cassirer zu einer »Phänomenologie der Erkenntnis« 345 auff ächern. Cassirer weist darauf hin, daß auch Kant diesen Weg von der Erkenntnistheorie zur Ästhetik genommen habe: »Eine Erweiterung und Vertiefung des Aprioritätsbegriff s der Theorie ermöglicht erst das Apriori der Ästhetik und weist seiner Bestimmung und Ausgestaltung den Weg. Weil sich gezeigt hat, daß für die vollständige Form der Erfahrung die Bedingung der allgemeinen Verstandesgesetze zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist – weil eine eigene Form und eine eigene zweckmäßige Verbindung des Besonderen entdeckt wurde, die ihrerseits erst den systematischen Begriff der Erfahrung vollendet: Darum wird auch im Bewußtsein nach einem Moment gesucht, in welchem sich die Gesetzlichkeit des Besonderen und ›Zufälligen‹ ausprägt. Ist dieses Moment aber einmal gefunden, so haben sich damit die Grenzen der bisherigen Untersuchung verschoben. Sie macht jetzt nicht mehr vor der Frage des ›Individuellen‹ halt, indem sie das Individuelle als dasjenige behandelt, was von Fall zu Fall wechselt und daher nicht anders als durch unmittelbare Einzelerfahrung und durch den ›materialen‹ Faktor der Empfi ndung bestimmbar ist – sondern sie sucht auch in diesem bisher verschlossenen Bereich die Grundmomente apriorischer Formung zu entdecken.« 346 344 »Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie«, in: ECW 9, S. 137. Diese Frage nehmen die Aufsätze aus Idee und Gestalt wieder auf. Siehe dazu unten Kapitel 4. 345 So der Untertitel des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, der den Begriff der Erkenntnis im weiteren, an dem Goetheschen Begriff der »Theorie« (siehe dazu oben, Kapitel 2, Abschnitt f )) orientierten Sinne faßt. 346 ECW 8, S. 293. 1929, in der Auseinandersetzung mit Heidegger, betont Cassirer noch einmal die Bedeutung des Ästhetischen für die Erkenntnis der Vielf ältigkeit unterschiedlicher phänomenaler Strukturen: »Kant zeigt, wie jede Art von neuer Form nun auch je eine neue Welt des Gegenständlichen betriff t, wie der ästhetische Gegenstand nicht gebunden ist an den empirischen Gegenstand, wie er seine eigenen apriorischen Kategorien hat, wie auch die

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Die Frage nach dem Individuellen mußte auf Cassirers besonderes Interesse stoßen, zum einen aufgrund seiner Überzeugung, daß jede »Energie des Tuns« in der Individualität ihr Zentrum hat,347 die insbesondere in seinen historisch orientierten Schriften zum Ausdruck kommt,348 und zum anderen aufgrund seines Interesses für und des Respekts vor den historisch-konkreten kulturellen Phänomenen, die er zwar stets in Entwicklungslinien stehend zeichnet, aber ohne die geistigen Zentren, die sie hervorgebracht haben, zum Verschwinden zu bringen. Ein Erkenntnisbegriff, der das Besondere nur als Fall des Allgemeinen begreifen kann, und ein Wahrnehmungsbegriff, der jede Auffassung von vornherein unter Kategorien stellt, konnten ihn nicht befriedigen. Vor dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit Kunst und unter dem Einfluß der Lektüre der Kritik der Urteilskraft modifi ziert Cassirer den Wahrnehmungsbegriff der Kritik der reinen Vernunft und – darin ist Christiane Schmitz-Rigal zuzustimmen – »benutzt das Paradigma der Kunst, um einerseits einen Begriff konkret-sinnlicher Sinneinheit und andererseits das Ideal eines symmetrischen Verhältnisses von Individuellem und Universellem daraus zu entwickeln«.349 Bereits die Kantlektüre des zweiten Bandes des Erkenntnisproblems von 1907 läßt das Interesse Cassirers erkennen, die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft angenommene Zweistämmigkeit der Erfahrung aufzuheben bzw. die aus diesem Modell erwachsenden Probleme der Vermittlung zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu Darstellungsproblemen herunterzuspielen. Beide Vermögen müssen »in ihrer sachlichen Wurzel irgendwie zusammenhängen«; es müsse »ein Prinzip geben, in dem sie, wenngleich jegliches vom andern klar geschieden bleibt, dennoch methodisch übereinkommen und das beiden, als gemeinsamer Oberbegriff, ihre wechselseitige Stellung und Ordnung anweist«. Dieses Prinzip sei in der Kritik der reinen Vernunft im Begriff der Synthesis gewonnen. »Die reinen Anschauungen des Raumes und der Zeit, wie die Begriffe des reinen Verstandes, bilden nur verschiedenartige Entfaltungen und Ausprägungen der Grundform der synthetischen Einheitsfunktion.« 350 Cassirer versucht das Problem der Vermittlung zweier (scheinbar unabhängig agierender) Vermögen zu lösen, indem er die Blickrichtung wendet und sich auf die Leistung dieser Funktionen konzentriert. Er baut nicht, wie Kant, den Begriff der Erkenntnis aus den Grundbestandteilen von Anschauung und Begriff

Kunst eine Welt auf baut, wie aber diese Gesetze anders sind als die Gesetze des Physikalischen. Dadurch kommt eine ganz neue Vielf ältigkeit in das Gegenstandsproblem überhaupt hinein.« »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 3, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt/ Main 1991, S. 271–296, hier S. 294. 347 ECW 7, S. 59. 348 Vgl. das Vorwort zur ersten Aufl age von Freiheit und Form. 349 Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst off enen Wissens, S. 37. 350 ECW 3, S. 572.

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auf, sondern faßt die Erkenntnis im ganzen »als den stetig fortschreitenden Prozeß der Gestaltung und Deutung des bloßen Wahrnehmungsmaterials« 351 auf, aus dem sich zu Erklärungszwecken zwei Elemente herausheben lassen. In Cassirers Interpretation »löst sich die anfängliche Trennung von Anschauung und Begriff immer deutlicher in eine reine logische Korrelation«.352 Die sinnliche Wahrnehmung, der Kant zwar (in der ersten Aufl age der Kritik der reinen Vernunft) als »notwendiges Ingredienz« 353 die Einbildungskraft beigegeben, sie aber insgesamt als rezeptiv bestimmt hat, gewinnt in Cassirers Lesart erheblich an Selbständigkeit. Er hebt den »konstruktiven Charakter« der reinen Anschauung hervor und setzt das »Gegebensein« des empirischen Materials in Anführungszeichen.354 Raum und Zeit seien »das Ergebnis eigentümlicher psychischer Verknüpfungsweisen«.355 Cassirer betont, daß der Begriff der Dichtkraft, den Kant bemüht, um auf den »produktive[…] Sinn der Anschauungsformen« hinzuweisen, »von der Ästhetik her in die allgemeine Erkenntnislehre eingedrungen war«.356

c) Von der »wahrhaften Einheit« der Erkenntnis zur Einheit der ästhetischen Gestalt Es ist nicht verwunderlich, daß Cassirer in seiner Kantinterpretation gelegentlich auf Stellen der Kritik der reinen Vernunft zurückgreift, an denen Kant selbst mit Denkmöglichkeiten zu experimentieren scheint, an denen die Enden von Gedankenfäden sichtbar werden, die im Fortgang über die Kritik der reinen Vernunft hinausführen, die Kant aber aufgrund des vorrangigen Darstellungsinteresses – des Aufweises der Möglichkeit gewisser Erkenntnis – hat fallenlassen. Diesem Darstellungsinteresse folgt Cassirer im Erkenntnisproblem im Ganzen, zweifelt im Detail jedoch bestimmte Prämissen Kants an. Bereits im zweiten Band des Erkenntnisproblems wird der Kurs auf eine tiefere Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand sichtbar, die Cassirer in der späteren Symbolphilosophie den verschiedenen symbolischen Formungen überantwortet, doch stellt er die lückenlose Verzahnung der Wahrnehmung mit der kategorialen Deutung hier noch nicht in Frage. Signifi kant ist in diesem Zusammenhang das folgende Zitat Kants sowie Cassirers Interpretation: »[E]s könnten wohl […] Erscheinungen so beschaffen sein, daß der Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände, und alles so in Verwirrung läge, daß z. B. in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was Ebd., S. 562. Ebd., S. 583. 353 KrV 120 A. 354 ECW 3, S. 579. 355 Ebd., S. 573. Diese Akzentuierung ist von besonderer Bedeutung, da Cassirer später die symbolischen Formen nach »Modalitäten der Synthesis« von Raum, Zeit und Zahl differenziert. Siehe dazu unten, Teil II, Kapitel 1, Abschnitt d). 356 ECW 3, S. 525. 351

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eine Regel der Synthesis an die Hand gäbe, und also dem Begriffe der Ursache und Wirkung entspräche, so daß dieser Begriff also ganz leer, nichtig und ohne Bedeutung wäre. Erscheinungen würden nichts destoweniger unserer Anschauung Gegenstände darbieten, denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine Weise.« 357 Cassirer deutet: »Dieser schroffe und paradoxe Ausdruck, der von Kant später durch die genauere Fassung der Lehre von den Verstandesbegriffen berichtigt und auf das eigentliche Maß seiner Bedeutung eingeschränkt wird, ist in den Anfängen dieser Lehre und zum Zwecke methodischer Sonderung dennoch verständlich. Die Anschauung kann im synthetischen Auf bau der Erkenntnis, sofern also durch sie ein Gegenstand gegeben und bestimmt werden soll, die Denkfunktion freilich in keiner Weise entbehren; dagegen bedeutet es zum mindesten keinen logischen Widerspruch, bedeutet es keinen Verstoß gegen den obersten Grundsatz aller analytischen Urteile, sie von ihr losgelöst zu denken. Das Bild der Wirklichkeit, das alsdann zurückbleibt, gibt zwar in keinem Sinne eine ›Erfahrung‹ mehr, da diese auf der synthetischen Verknüpfung der Wahrnehmungen nach Gesetzen beruht; aber es ist in ihm doch noch irgendwelches, wenngleich ungeformtes, Vorstellungsmaterial festgehalten.« 358 Zum Zeitpunkt der Abfassung des zweiten Bandes des Erkenntnisproblems hat Cassirer noch keinen Begriff für das »Bild der Wirklichkeit«, das nicht nach Gesetzen (Kategorien des Verstandes) verknüpft ist. Er spricht nur von einer Denkfunktion. Das Material des Kantischen Denkexperiments erscheint auch ihm als gänzlich »ungeformt«. Eine »wahrhafte Einheit« gehe das Mannigfaltige nur durch Verhältnisse der »Über- und Unterordnung ein«: 359 »Wirklich ist, was mit einer Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zusammenhängt und was dadurch dem ›Kontext‹ der einen Erfahrung eindeutig eingeordnet ist.« 360 Einem künstlerisch gebildeten Menschen wie Cassirer muß dieser Wirklichkeitsbegriff jedoch zu einseitig werden, sobald er aus dem engeren Themenkreis des philosophischen Erkenntnisproblems heraustritt. Denn zwingt man jede Wahrnehmung unter den Zugriff der Verstandesbegriffe, bleibt kein Raum für die Frage nach dem Wirklichkeitsbild des Dichters. Die Frage wird sinnlos, wenn es nur eine Ordnung der Wahrnehmung, nur eine Denkfunktion geben kann. Auch Kant hat sich mit diesem Ergebnis nicht zufriedengegeben. In seinem Werk sind zahlreiche Varianten und Revisionen dieses Problemkomplexes zu fi nden, die eine Entwicklung von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft erkennbar werden lassen. Die Transzendentale Elementarlehre der Kritik der reinen Vernunft vollzieht jedoch ausschließlich eine Analyse wissenschaftlicher Erkenntnis, wissenschaftlicher 357 KrV B 123, zitiert nach der Ausgabe von Jens Timmermann (Philosophische Bibliothek 505), Hamburg 1998, S. 170. 358 ECW 3, S. 586. 359 Ebd., S. 595. Hervorh. M. L. 360 Ebd., S. 560. Hervorh. M. L.

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Urteilsbildung. Sie versucht die Formierungsprozesse alles dessen, was zu unserem Erfahrungsschatz gehören kann, zu beschreiben und kommt zu dem Ergebnis, daß eine Erscheinung unserem Bewußtsein nur angehören kann, sofern sie einem dreifachen Zurichtungsprozeß unterworfen worden ist.361 Ein Phänomen, das sich den Gesetzen des Verstandes widersetzt, ist schlichtweg nicht denkbar, denn denken und nach Regeln des bestimmenden Verstandes denken ist ein und dasselbe. 362 Es scheint so, als könne etwas, das sich nicht zum Gegenstand einer (wissenschaftlichen) Erkenntnis eignet, nicht einmal wahrgenommen werden. Dem widerspricht die Kritik der Urteilskraft, die die Angemessenheit von lebendigen Formen und Formen der Kunst für die menschliche Vernunft überprüft, denn auch ästhetische Urteile setzen notwendig Wahrnehmung voraus, obwohl ihr »Gegenstand« nicht »Gegenstand« wissenschaftlicher Erkenntnis werden kann. Kant hat festgestellt, daß sich die Natur nicht nur im wissenschaftlichen Urteil nach Kategorien buchstabieren läßt: Sie spricht »in ihren schönen Formen figürlich zu uns«. 363 Die in der Kritik der Urteilskraft eingeräumte Möglichkeit der Wahrnehmung von etwas, das der Verstand nicht unter seine vorgefertigten Begriffe bringen kann, hat Folgen für die Beschreibung von Wahrnehmungsprozessen und Erkenntnisbildung auch hinsichtlich wissenschaftlicher Erfahrungsurteile. Vor dem Hintergrund der Kritik der Urteilskraft läßt sich nicht mehr behaupten, daß alle Wahrnehmung unter den in der Kritik der reinen Vernunft festgelegten Verstandesgesetzen steht. Die schönen Formen nötigen den »Gesetzgeber der menschlichen Vernunft« 364 zu weiteren Reformen. Sie erfordern eine andere Denkungsart. Die Veränderungen und Erweiterungen, die der Cassirersche »Formbegriff« (und damit der Begriff der »wahren Einheit« 365) in dem Jahrzehnt zwischen der Veröffentlichung des zweiten Bandes des Erkenntnisproblems (1907) und Kants Leben und Lehre (1918) erfährt, sind beträchtlich. Die ersten beiden Kapitel haben gezeigt, wie das Interesse an der »Form des Begriff s«, das im Erkenntnisproblem und in Substanzbegriff und Funktionsbegriff leitend war, sich in Freiheit und Form zum »Begriff der Form« verschoben hat, unter dem Cassirer die »Gesamtheit der schöpferischen Energien« 366 des Menschen aber auch auf phänomenaler Ebene unterschiedliche Systeme von Beziehungen thematisiert. In Kants Leben und Lehre vollzieht Cassirer nach, wie sich der zunächst auf die Erkenntnisform der Wissenschaft hin konzipierte Erkenntnisbegriff Kants durch die Entdeckung einer »neuen Gesetzlichkeit

Vgl. KrV A 125. Vgl. KrV A 126. 363 KU B 170, Hervorh. M. L. 364 KrV B 867. 365 Die Begriffe der Einheit oder des Ganzen sind in Freiheit und Form omnipräsent und mit dem der Form äquivalent. 366 ECW 7, S. 1. 361

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des Bewußtseins« 367, einer neuen »Gesetzesform« 368 , modifi ziert hat. Doch auch Cassirers Begriff davon, wie etwas geformt sein muß, um Teil des menschlichen Bewußtseins sein zu können, und seine Vorstellung von »Bildern der Wirklichkeit« haben sich verändert. Die Überzeugung, daß es – mit Kant – nur eine »wahrhafte Einheit« des Bewußtseins geben kann, wird grundlegend revidiert. In der für Cassirer typischen Grundhaltung, dem es bei der Betrachtung der Geistesgeschichte nicht an Brüchen, sondern stets an Entwicklungen gelegen ist, hält er fest, daß der neu entdeckten Gesetzlichkeit des Bewußtseins auch eine neue Einheit der erzeugenden Kräfte entsprechen müsse. Die Darstellung der Art und Weise, in der Verstand und Einbildungskraft bei der »räumlich-zeitliche[n] Verknüpfung der Sinneswahrnehmungen und ihre[r] Vereinigung zu Gegenständen« zusammenwirken, erhält mit der Notwendigkeit, ästhetische Phänomene zu berücksichtigen, einen »neuen Akzent«: »Eine spezifische ›Einheit der Erkenntnis‹ wird für die theoretische wie für die ästhetische Vorstellung verlangt; aber wenn für jene der Ton und Nachdruck auf dem Moment der Erkenntnis liegt, so liegt er für diese auf dem Moment der Einheit. Das ästhetische Verhalten heißt ›zweckmäßig für die Erkenntnis der Objekte überhaupt‹; aber es verzichtet ebendamit darauf, die Objekte in Sonderklassen aufzuteilen und sie durch besondere Unterscheidungsmerkmale, wie sie in empirischen Begriffen ausgedrückt werden, zu bezeichnen und zu bestimmen. Die intuitive Einheit der Gestalt bedarf nicht dieser vorgängigen ›diskursiven‹ Sonderung. Der freie Prozeß des Bildens selbst wird hier durch die Rücksicht auf den objektiven Bestand der Dinge, wie wir ihn in wissenschaftlichen Begriffen und Gesetzen festhalten, nicht gebunden und eingeschränkt.«369 An einer anderen Stelle werden die Differenz, die zwischen der Einheit des Begriff s und der »Einheit der ästhetischen Stimmung und der ästhetischen Gestalt« besteht, und die Möglichkeit einer anderen Deutung des oben zitierten Kantischen Gedankenexperiments noch deutlicher. Cassirer weist darauf hin, daß die Einheit der beiden ästhetischen Phänomene »auf einem andern Prinzip beruht als auf demjenigen, kraft dessen wir in der gemeinen und wissenschaftlichen Empirie besondere Elemente zu Gesamtkomplexen und Gesamtregeln vereinen. In dieser letzteren Vereinigung handelt es sich schließlich immer um eine Beziehung der kausalen Über- und Unterordnung[,] um die Herstellung eines durchgehenden Bedingungszusammenhangs, der als Analogon eines Zusammenhangs von Begriffen und Schlüssen gefaßt werden kann. Die eine Erscheinung tritt zur anderen in eine Art des Abhängigkeitsverhältnisses, in der sich beide zueinander wie ›Grund‹ und ›Folge‹ verhalten. Die ästhetische Auffassung eines Ganzen und seiner einzelnen Teilmomente hingegen schließt jede derartige Ansicht aus. Hier wird die Erscheinung nicht in ihre Bedingungen aufgelöst, sondern hier wird sie, so wie sie sich unmittelbar gibt, festgehalten: Hier 367 368 369

ECW 8, S. 261. Ebd., S. 275, Hervorh. M. L. ECW 8, S. 303.

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versenken wir uns nicht in ihre begriffl ichen Gründe oder Folgen, sondern bleiben bei ihr selbst stehen, um uns lediglich dem Eindruck zu überlassen, den sie in der bloßen Betrachtung erweckt. Statt der Vereinzelung der Teile und ihrer Über- und Unterordnung zum Zwecke einer begriffl ichen Klassifi kation gilt es hier, sie sämtlich zumal zu ergreifen und in einer Gesamtansicht für unsere Einbildungskraft zusammenzuschließen; statt der Wirkungen, durch welche sie in die ursächliche Kette der Erscheinungen eingreifen und sich in sie fortsetzen, heben wir an ihnen lediglich ihren reinen Gegenwartswert heraus, wie er sich dem Anschauen selbst erschließt.« 370 Bedeutsam für den Zusammenhang mit dem in den ersten beiden Kapiteln bereits Erarbeiteten sind an dieser Stelle insbesondere die Weiterentwicklung des bereits eingeführten Begriff s der Gestalt, zu dem sich der Begriff der »wahren Einheit« öff net, und des ebenfalls bereits thematisierten Begriffs der Intuition, der hier eine neue Rechtfertigung erhält. Bereits im zweiten Band des Erkenntnisproblems unterscheidet Cassirer mit Ernst Friedrich Apelt die Gestalt als »Form der figürlichen Synthesis« von dem Gesetz als »Form der intellektuellen Synthesis« 371. In Substanzbegriff und Funktionsbegriff untersucht er den geometrischen Gestaltbegriff im Auf bau verschiedener geometrischer Systeme372 sowie den psychologischen Gestaltbegriff als »Gegenstand« höherer Ordnung. Goethes »Weltanschauung« begreift er, wie gezeigt, im Unterschied zu einem klassifi zierenden Weltbegriff als »Gesamtkomplex von Gestalten«.373 Die geometrische Gestalt ist ein logischer Begriff, der die »freie konstruktive Erzeugung von Gestalten nach einem bestimmten einheitlichen Prinzip« ermöglicht. »Sofern eine einzelne Gestalt betrachtet wird, steht sie niemals für sich allein, sondern als Symbol des Gesamtzusammenhangs, dem sie angehört, und als Ausdruck für den gesamten Inbegriff von Gestaltungen, in welche sie, unter Festhaltung bestimmter Regeln der Umformung, überführbar ist. Die ›Anschauung‹ geht hier also niemals auf die besondere Figur mit ihrem zufälligen Eigengehalt, sondern ist […] auf die Ermittlung der Abhängigkeit geometrischer Gestalten voneinander gerichtet. Die Einzelterme treten […] zurück gegenüber der systematischen Relation, die sie vereinigt.« 374 Den geometrischen Charakter erhält die Gestalt durch ihre Allgemeinheit. Die psychologische Gestalttheorie hingegen begreift die einzelne Gestalt in der Gesamtheit ihrer Wirkungen und verleiht ihr somit die Dignität des Individuellen. Die Konzeption von »Gegenständen höherer Ordnung«, als die Cassirer in Substanzbegriff und Funktionsbegriff die psychologische Gestalt begriffen hatte, wird in 370 371 372 373 374

Ebd., S. 298. ECW 2, S. 309. ECW 6, vor allem S. 71 f., 82 ff. und 95. ECW 7, S. 216. ECW 6, S. 82 f.

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Kants Leben und Lehre – leicht verändert – wieder aufgenommen. Die teleologische Betrachtungsweise Kants richtet sich, so Cassirer, auf ein »Ganzes, das als solches bereits unter die reinen Anschauungen von Raum und Zeit und unter die reinen Verstandesbegriffe gefaßt ist und in ihnen seine Objektivierung erfahren hat«.375 Es »erhält jetzt einen neuen Sinn, sofern das Verhältnis und die wechselseitige Abhängigkeit seiner Teile einem neuen Prinzip der Betrachtung unterstellt wird«. Cassirer distanziert sich jedoch vorsichtig von der Annahme einer »Formung zweiten Grades« und schreibt, man könne »im gewissen Sinne freilich vom Standpunkt der kritischen Weltansicht aus ganz allgemein behaupten, daß die Form der Erkenntnis es ist, die die Form der Gegenständlichkeit bestimmt«.376 Ohne den Inhalt des Gesagten zu verfälschen, könnte man auch schreiben, daß die »symbolische Form« die »Form der Gegenständlichkeit« bestimmt. Der Gedanke einer doppelten Formung zeigt sich dem Kantischen Modell einer notwendig an Kategorien gebundenen Wahrnehmung verpfl ichtet, das Cassirer auf dem Weg zur Philosophie der symbolischen Formen schrittweise überwindet. Doch erst durch die Betrachtung der ästhetischen Urteilskraft eröff net sich »ein Reich reiner Gestalten«377, erhält der Cassirersche Gestaltbegriff seinen Feinschliff. Der strenge Begriff der »wahren Einheit« erweitert sich mit der Anerkennung der »reinen Gestalt« der Kunst zu einem allgemeinen Begriff der »Gestaltung« oder »Geformtheit« 378 . Der »Gegenstand«, auf dessen Hervorbringung bisher die Formen der Anschauung und die Kategorien des Verstandes gerichtet waren, differenziert sich in »verschiedene Formen der Gegenständlichkeit« aus, die »nur durch die Vermittlung einer bestimmten Erkenntnisform« – durch »Medien« faßbar werden.379 Für Cassirer enthält das »Bild der Wirklichkeit«, welches eine nicht unter Kategorien stehende Wahrnehmung erzeugt, keineswegs mehr »ungeformtes Vorstellungsmaterial«. Die Bilder der Wirklichkeit sind vermittelt durch die »spezifischen geistigen Auffassungsweisen« oder »Ordnungen« »intellektueller, ethischer oder ästhetischer Art«.380

d) Cassirers Interpretation der ästhetischen Urteilskraft Kants Cassirer betrachtet die Grundlegung der Ästhetik bei Kant als Teil der allgemeinen Teleologie, und zwar als ihren wichtigsten.381 Erst auf dem Gebiet der Kunst lasse sich die Frage nach der individuellen Formung, nach Gestalten, die »einen eigenen ECW 8, S. 285. ECW 8, S. 285. Hervorh. M. L. 377 ECW 8, S. 295. Zum Begriff der »zweiten Formung« siehe auch Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst off enen Wissens, S. 30–44. 378 ECW 8, S. 268 379 Ebd., S. 149. 380 Ebd., S. 149 f. 381 Ebd., S. 294, Anm. 25, und S. 295. 375 376

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Mittelpunkt besitzen«, »während sie doch zugleich mit anderen einem eigentümlichen Wesens- und Wirkungszusammenhang« stehen, beantworten, ohne daß durch die Annahme eines solchen Zusammenhangs die Eigenart der besonderen Gestalt verlorengeht.382 Der Begriff der Zweckmäßigkeit ist derjenige Begriff, der den Zusammenhang des Mannigfaltigen in den Phänomenen des Lebendigen und der Kunst als Gesetzlichkeit des Besonderen kennzeichnet. Da die metaphysische Teleologie das »Material« für das Kantische Anliegen in der Kritik der Urteilskraft bilde, wirft Cassirer auch einen Blick auf die Geschichte des Begriffs und konstatiert, daß die »gedankliche Korrelation« zwischen Phänomenen des Lebendigen und des Ästhetischen in der Philosophiegeschichte erstmals von Plotin als Problem der Form thematisiert wurde. Die spekulative Ästhetik, die bis zu Winckelmann wirke, habe dieses Grundmotiv lediglich fortgeführt: »Das Kunstwerk gilt, innerhalb dieser Gesamtansicht, nur als ein einzelner, besonders markanter Beleg jener ›inneren Form‹, auf welcher der Zusammenhang des Universums überhaupt beruht. Sein Auf bau und seine Gliederung ist der unmittelbar anschauliche Einzelausdruck für das, was die Welt als Ganzes ist. Es zeigt, wie in einem Ausschnitt des Seins, dessen durchgreifendes Gesetz; es weist jene durchgängige Verknüpfung aller Einzelmomente auf, deren höchstes und vollendetes Beispiel wir im Kosmos selbst vor uns sehen. Wo die empirische Betrachtung nur das Auseinander in Raum und Zeit gewahr wird, wo ihr also die Welt in eine Mehrheit bloßer Teile zerfällt, da erblickt die ästhetische Anschauung jenes Ineinander bildender Kräfte, auf welchem ebensowohl die Möglichkeit des Schönen wie die Möglichkeit des Lebens beruht: Denn das Phänomen der Schönheit wie das des Lebens sind beide in dem einen Grundphänomen der Gestaltung befaßt und eingeschlossen.« 383 Kant habe nun nicht das Weltbild der metaphysischen Teleologie übernommen, wohl aber versucht er, Antworten auf ihre Probleme zu fi nden. Die Annahme eines intuitiven Verstandes, den die metaphysische Teleologie zur Begründung einer geschlossenen holistischen Perspektive konzipiert hat, verwirft er, ist aber dennoch Ebd., S. 295 f. Die Frage nach diesem Zusammenhang ist eine Cassirersche »Zutat«, die auf die Philosophie der symbolischen Formen und das Problem der Bestimmung der Kunst als symbolische Form – das »Faktum« der Kunst – vorausweist. Für Kant stand nicht das »Reich der Kunst« als ein Reich von Erzeugnissen des Geistes in Frage, sondern die ästhetische Urteilskraft als eine Form der Subjektivität. Ob und wie ein solcher Zusammenhang denkbar, somit die Kunst als symbolische Form zu denken möglich ist, soll in Teil II, Kapitel 2 dieser Arbeit diskutiert werden. Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst des Wissens, S. 40, deutet die Cassirersche Frage nach dem »Wesens- und Wirkungszusammenhang« als den Hinweis auf die fundamentale Selbstgesetzlichkeit des Geistes, »die sich in den Gebilden der Kunst unverstellter als auf anderen Gebieten des Geistes zeigen kann«. Das ist erklärbar aus dem in ihrer Arbeit verwendeten Kunstbegriff , der Kunst als »die grundsätzliche, menschliche Fähigkeit zur Gestaltung und Formung selbst« (S. XV) begreift und nicht Kunstwerke im engeren Sinne meint. Die Eigenart der »besonderen Gestalt« wird in dieser Betrachtung jedoch gerade nicht gewahrt. 383 ECW 8, S. 268. 382

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an einer Denkform interessiert, die das »Zusammenstimmen« des Mannigfaltigen zu einer Einheit ermöglicht. Der Begriff der »Zweckmäßigkeit«, den Kant aufnehme, entstamme dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts, der nur ein anderer Ausdruck für denjenigen Zusammenhang sei, den Leibniz als »Harmonie« bezeichnet habe: »Ein Ganzes heißt ›zweckmäßig‹, wenn in ihm eine solche Gliederung der Teile statthat, daß jeder Teil nicht nur neben dem andern steht, sondern daß er in seiner eigentümlichen Bedeutung auf ihn abgestimmt ist. Erst in einem derartigen Verhältnis wandelt sich das Ganze aus einem bloßen Aggregat in ein geschlossenes System, in welchem jedes Glied seine eigentümliche Funktion besitzt, alle diese Funktionen aber derart miteinander in Einklang stehen, daß sie sich sämtlich zu einer einheitlichen Gesamtleistung und Gesamtbedeutung zusammenfassen.« 384 Kant übernehme nun den Begriff der Zweckmäßigkeit nicht, um die Form der Wirklichkeit zu beschreiben, sondern für die »Form unserer Begriffe vom Wirklichen« 385. Zur Erläuterung des spezifi sch ästhetischen Bildes vom Wirklichen bzw. der spezifi sch ästhetischen Verknüpfungsform des Mannigfaltigen zu einer Einheit – die Differenzen der verschiedenen Zugänge zur Welt betrachtet Cassirer, wie gezeigt, seit Beginn seiner Beschäftigung mit Leibniz als Differenzen in den Verknüpfungsformen oder Beziehungsformen – legt Cassirer das »Faktum der Kunst und der künstlerischen Gestaltung« zugrunde. Sehr viel weiter als Kant selbst, der eine »nicht ganz zu vermeidende[…] Dunkelheit« 386 hinsichtlich des Problems der ästhetischen Urteilskraft eingesteht, versucht er die Analytik des ästhetischen Urteils zu treiben. In kreativer Fortführung Kants, der Auffassung (apprehensio) und Zusammenfassung (comprehensio aesthetica) zwar als Teile des Vermögens der Einbildungskraft betrachtet,387 sich aber hinsichtlich einer Bezeichnung bzw. Zuordnung des Zusammenspiels beider nicht festlegt, wenn er im § 2 der Kritik der Urteilskraft den Begriff der »bloßen Betrachtung«, die für das ästhetische Urteil grundlegend ist, durch »(Anschauung oder Reflexion)« erläutert, prägt Cassirer für das Gemeinte den (von Kant nicht verwendeten) Begriff der »ästhetischen Auffassung«. Zwar nicht gegen den Kantischen Wortlaut, aber ohne die Brücke zu benutzen, die Kant einer solchen Interpretation gebaut hat, indem er im § 30 der Kritik der Urteilskraft die Auffassung einer Form mit der Darstellung derselben in eins setzte, differenziert Cassirer nicht zwischen der Einheit der »ästhetischen Stimmung« des Betrachters von Schönem und der Einheit der »ästhetischen Gestalt« des Betrachteten. Er schließt damit – im Unterschied zu Kant, der in der Untersuchung des ästhetischen Urteils den Rezipienten im Blick hat – produktions- und rezeptionsästhetische Probleme kurz. 384 385 386 387

Ebd., S. 276 f. Ebd., S. 277. KU B IX f. Vgl. KU B 87.

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Die Beschreibung Cassirers – sowohl des Kunstwerks bzw. des Naturschönen als auch des Zustandes des Betrachters – erinnert an das Leibnizsche Verständnis der Struktur intuitiver Erkenntnis, die sich durch das Zugleichdenken einzelner Bestandteile eines komplexen »Gegenstandes« auszeichnet: »Statt der Vereinzelung der Teile und ihrer Über- und Unterordnung zum Zwecke einer begriffl ichen Klassifi kation gilt es hier, sie sämtlich zumal zu ergreifen und in einer Gesamtansicht für unsere Einbildungskraft zusammenzuschließen« 388 . Und tatsächlich spricht er von der »intutiven[n] Einheit der Gestalt«, die der »vorgängigen ›diskursiven‹ Sonderung« nicht bedürfe. 389 Durch diese Anleihe bei der Tradition überwindet Cassirer die Unsicherheiten, die sich in der Kantischen Beschreibung der »bloßen Betrachtung«, die sowohl Anschauung als auch Reflexion, und damit bereits ein Denken ist, zeigen.390 Die ästhetische Anschauung oder Auffassung ist jedoch nicht mit der intuitiven Erkenntnis Leibnizens identisch. Sie teilt mit dieser nur die Organisationsform der Teile des Ganzen, ist jedoch keine Erkenntnis des Gegenstands. In einem weiteren Schritt kommt Cassirer auf die auch im ästhetischen Urteil waltende Spontaneität zu sprechen und bestimmt das Produkt der in der ästhetischen Betrachtung agierenden Subjektivität als eine »ideelle Einheit des reinen ›Bildes‹«.391 Der Begriff des »Bildes« als Bezeichnung für eine nicht unter Kategorien stehende Wahrnehmung ist bereits aus dem Kantischen Gedankenexperiment bekannt 392 , bezeichnete dort jedoch negativ etwas Ungeformtes, denn in dem dortigen Kontext meinte Form ausschließlich die Begriff sform. Im Kontext der Ästhetik bezeichnet der Begriff des Bildes nun positiv eine Einheit, die Cassirer auch Gestalt, und deren Betrachtung er »Anschauung der reinen Form« 393 nennt. Die »Wirklichkeit des Bildes« stellt Cassirer nun der »Wirklichkeit der Sache« gegenüber, um den Kantischen Begriff des »interesselosen Wohlgefallens« zu erläutern. Das durch das »Bild« gekennzeichnete Phänomen unterscheidet sich von dem in der wissenschaftlichen Erkenntnis objektivierten Phänomen durch das »Medium«, in dem es erscheint.394 Auch diese Differenz ist bereits von Leibniz bekannt, der den selbständigen Status der »Scheinbilder« oder »sinnlichen Vorstellungen« reklamiert hat.395 Cassirer verwendet dieselben Beispiele wie Leibniz, um die Ir388 ECW 8, S. 298. Der Hintergrund der Monadologie ist wenige Seiten zuvor zur Erläuterung des Begriff s der Zweckmäßigkeit aktualisiert worden. 389 ECW 8, S. 303. 390 Im Vergleich mit der Analytik der bestimmenden Urteile der Kritik der reinen Vernunft f ällt die Analytik der ästhetischen Urteile sehr viel weniger »analytisch« aus, was Kant auf ihre »natürliche Verwicklung« zurückführt (KU B IX f.). 391 ECW 8, S. 300. 392 Siehe oben, S. 102 f. 393 ECW 8, S. 301. 394 Ebd., S. 307. 395 Siehe oben, Kapitel 1, Abschnitt e).

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reduzibilität des »ästhetischen Bewußtseins« darzustellen: »Die Farbe, die ich sehe, der Ton, den ich höre, wird als Gemeingut der erkennenden Subjekte hingestellt, indem beide durch Anwendung der Grundsätze der extensiven und intensiven Größe, der Kategorien von Substanz und Kausalität, in Schwingungen umgeformt werden, die exakt erkennbar und meßbar sind. Aber mit dieser Umsetzung in die Sphäre von Maß und Zahl, die eine Bedingung der wissenschaftlichen Objektivierung ist, haben freilich Farbe und Ton als solche aufgehört zu bestehen: Ihr Sein ist im theoretischen Sinne in das Sein und in die Gesetzlichkeit der Bewegung aufgegangen. Damit aber hat die Methode der allgemeinen ›Mitteilung‹, wie sie im theoretischen Begriff geübt wird, im Grunde den Inhalt, den es mitzuteilen galt, zum Verschwinden gebracht und durch ein bloß abstraktes Zeichen ersetzt. Die Tatsache, daß Farbe und Ton außer demjenigen, was sie als physikalische Elemente bedeuten, auch Erlebnisse in einem empfi ndenden und fühlenden Subjekt sind, wird bei dieser Bestimmungsweise völlig ausgeschaltet.« 396 Das sinnliche Erlebnis erhält jedoch in der ästhetischen Beurteilung eine eigene, vom Verstandesbegriff unabhängige Dignität. Über die Anerkennung der vormals als formlos betrachteten »Einheit« der gestalthaften, nicht-begriffl ichen »Einheit« von »Wahrnehmungsmaterial« verändert sich nicht nur der Begriff der Einheit bzw. fi ndet der erwähnte »Akzentwechsel« statt, sondern es muß sich auch die Bereichsdefi nition der Spontaneität ändern. In der Terminologie Kants bestimmt Cassirer »jede Verknüpfung von Inhalten des Bewußtseins« als Urteil, als »Moment der Gegenstandssetzung« – geht jedoch im folgenden über Kant hinaus. Um den spezifi schen Charakter der ästhetischen Phänomene einbeziehen und von der »Wirklichkeit der Sachen« unterscheiden zu können, spricht er allgemeiner von »Gegenständlichkeit« 397, die er in einem nächsten Schritt der »Dinglichkeit« 398 gegenüberstellt. Auch das »Gebilde der ästhetischen Phantasie« sei eine Objektivierung. Sie unterscheide sich jedoch von der Objektivierung der naturwissenschaftlichen Betrachtung dadurch, daß in ihr das »Erlebnis« des »empfi ndenden und fühlenden Subjekts« nicht ausgelöscht werde, sondern als »Zug« »einer seelischen Bewegtheit« in die Darstellung des »Gegenstands« eingehe.399 Während Kant sich auf die Feststellung der subjektiven Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils (etwas ist schön oder nicht schön) beschränkte und die allgemeine Mitteilbarkeit der ästhetischen Stimmung erweisen wollte, versucht Cassirer, die Mitteilbarkeit von etwas, das »des Durchgangs durch das begrifflich Objektive und des Untergangs in ihm nicht bedarf«400, hinsichtlich des Inhaltes der 396 397 398 399 400

ECW 8, S. 306 f. Siehe oben, Kapitel 1, Abschnitt e). ECW 8, S. 297 und 299. Ebd., S. 307. Ebd. Ebd.

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Mitteilung weiter zu qualifi zieren: »Das ›Selbst‹ löst sich, indem es sich in einem Gebilde der ästhetischen Phantasie objektiviert, aus seiner Einzelheit; aber seine individuelle einmalige Bewegtheit ist dennoch in diesem Gebilde nicht untergegangen, sondern besteht eben in ihm fort und teilt sich durch seine Vermittlung allen denen mit, die seiner reinen Auffassung fähig sind. So steht das Subjekt hier in einem allgemeinen Medium, das dennoch ein völlig anderes ist als das Medium der Dinglichkeit, in welches uns die naturwissenschaftliche Betrachtung versetzt. Was unterscheidet die vollendetste Beschreibung einer Landschaft, wie sie in Begriffen der deskriptiven Naturwissenschaft erfolgt, von ihrer künstlerischen Darstellung im Gemälde oder im lyrischen Gedicht? Nichts anderes als daß in dieser letzteren alle Züge des Gegenstandes, je schärfer und bestimmter sie heraustreten, sich zugleich um so intensiver als Züge einer seelischen Bewegtheit erweisen, die durch die malerische oder lyrische Gestaltung auf den Betrachtenden übergeht. Hier strömt die innere Bewegung auf den Gegenstand nur darum über, um aus ihm stärker und reiner wieder zurückempfangen zu werden.«401 Auch hier wird der Einfluß der Leibnizlektüre auf die Interpretation der Kantischen Ästhetik deutlich. Bereits in seinen Leibnizstudien diente das Modell der Monade als Einheit, die als Ganzes ihren Teilen vorhergeht, Cassirer zur Erläuterung des Selbstbewußtseins bzw. des Selbstgefühls, und die Kunst wurde als »Symbolik des Gefühls« als die einzig adäquate Form qualifi ziert, durch die das innere Leben in seiner Komplexität symbolisch mitteilbar wird. »Das vollendete Kunstwerk« stellt für Cassirer »gleichsam mit einem Schlage jene Einheit der Stimmung her, die für uns der unvermittelte Ausdruck für die Einheit unseres Ich, für unser konkretes Lebens- und Selbstgefühl ist.«402 An diese Symbolisierung des Gefühls durch die Kunst knüpft Cassirer wieder an, wenn er die Besonderheit der künstlerischen Mitteilung erläutert. Er hebt hervor, daß es sich um eine »Mitteilbarkeit von Subjekt zu Subjekt« handele, um die Übertragung von seelischer Bewegtheit, die jedes andere Subjekt, das – Cassirer schränkt die Allgemeinheit gewissermaßen ein – empfänglich ist für solche Bewegung, empfi nden kann. Um jedoch die spezifi sche Modalität der ästhetischen Verknüpfung von Bewußtseinsinhalten, die spezifi sch ästhetische Form der Gegenständlichkeit als Urteilsform und damit als Facette der Spontaneität fassen zu können, muß der Begriff des Urteils, ja der Begriff des Denkens selbst erweitert werden: Das Urteil wächst hierbei »über die Grenzen seiner bisherigen rein logischen Defi nition hinaus[…]«403. Während es im Erkenntnisurteil um Anwendungsfälle allgemeiner Regeln ging, werde im ästhetischen Urteil die »ideelle Einheit des reinen ›Bildes‹ und eine »Regel der inneren Gestaltung« beurteilt.404 Um ein solches »Bild« oder 401 402 403 404

Ebd., S. 307. Ebd., S. 305. Ebd., S. 297. Ebd., S. 300.

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eine solche »intuitive Einheit der Gestalt«405 aufzufassen, bedürfe es keiner diskursiven Zerlegung der einzelnen Bestandteile und Zusammensetzung nach vorgegebenen Schemata, da die gesamte Einheit beurteilt werde. Doch unter Einwirkung welcher Funktion oder Vermögen wird eine solche Einheit synthetisiert? In der Kritik der reinen Vernunft wird das Denken, das Kant mit dem Urteilen gleichsetzt,406 als Erkennen durch Begriffe defi niert.407 In der Kritik der Urteilskraft fi ndet sich keine explizite Revision dieser restriktiven Bestimmung, wohl aber eine weitere Urteilsart – das reflektierende Urteil. Cassirer nimmt diese Erweiterung durch eine Neudefi nition der Funktion des Verstandes auf. »Der Verstand ist, seiner allgemeinsten Bedeutung nach, das Vermögen der Grenzsetzung schlechthin: Er ist dasjenige, was die stetige Tätigkeit des Vorstellens selbst ›zum Stehen bringt‹ und was ihr zum Umriß eines bestimmten Bildes verhilft. Wenn diese Synthese sich herstellt, wenn wir, ohne den Umweg über die begriffl ichen Abstraktionen des empirischen Denkens zu nehmen, zu einer derartigen Fixierung der Bewegung der Einbildungskraft gelangen, daß sie nicht ins Unbestimmte verläuft, sondern sich zu festen ›Formen‹ und Gestaltungen verdichtet: dann ist jenes harmonische Ineinander beider Funktionen erreicht, das Kant als ein Grundmoment des echten ästhetischen Verhaltens fordert.«408 Bei Kant ist jedoch von diesem »Vermögen der Grenzsetzung« nicht die Rede. Cassirer versucht über diese raffinierte »Vertiefung« die Einheit der Subjektivität in den verschiedensten Kulturprodukten – hier der Wissenschaft und der Kunst – zu bewahren. Er erreicht jedoch auch ein Weiteres: Er verlagert die Tätigkeit des Verstandes in den Akt der Auffassung und nähert sich so, ohne dies auszuweisen, dem Goetheschen Begriff der Anschauung, den er in Freiheit und Form profi liert hat: »Das begrenzende Vermögen wirkt unmittelbar im Fortschritt des Bildens und Schauens selbst, indem es die fl ießend immer gleiche Reihe der Bilder belebend abteilt.«409 Die einheitssetzende Funktion des Bewußtseins läßt sich nicht von einer passiven Anschauung trennen, und sie läßt sich nicht mehr auf die Bildung begriffl icher Einheiten festlegen. Die in der Anschauung wirksame Spontaneität schaff t prägnante Bilder.410 Über die Diskussion der ästhetischen Urteilskraft Kants gelingt Cassirer somit die Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand, die seiner späteren Symbolphilosophie zugrunde liegt. Ebd., S. 303. KrV B 106: »Dieses ist nun die Verzeichnung aller ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis, die der Verstand a priori in sich enthält, und um deren willen er auch nur ein reiner Verstand ist, indem er durch sie allein etwas bei dem Mannigfaltigen der Anschauung verstehen, d. i. ein Objekt derselben denken kann. Diese Einteilung ist systematisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen (welches eben so viel ist, als das Vermögen zu denken) erzeugt«. Zitiert nach der Ausgabe von Jens Timmermann, S. 157. 407 »Denken ist das Erkenntnis durch Begriffe.« KrV B 94. 408 ECW 8, S. 303 f. 409 Ebd., S. 304, vgl. ECW 7, S. 278. 410 Vgl. hierzu Abschnitt 2. f ). 405

406

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Die im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen erläuterte symbolische Prägnanz bildet eines der zentralen Theoreme dieser Philosophie. Er bezeichnet sie als ein »echtes ›Apriori‹«,411 durch das wir, um noch einmal die Nähe zu Goethes Methode der Bildung von »prägnanten Punkten« deutlich zu machen, »den eigentlichen Pulsschlag des Bewußtseins, dessen Geheimnis eben darin besteht, daß in ihm ein Schlag tausend Verbindungen schlägt«, erfassen.412

411 412

ECW 13, S. 231. Cassirer zitiert aus Goethes Faust, Weimarer Ausgabe, 1. Abt., Bd. XIV, S. 91.

Kapitel 4 Die »ästhetische Seite« der Ideen. Cassirers Aufsätze zu Idee und Gestalt

a) Einleitung Die ästhetischen Phänomene stellen eine Herausforderung für die Kantische (und die Cassirersche) Erkenntnistheorie dar. In der Kritik der Urteilskraft nimmt Kant diese Herausforderung an und stellt denjenigen Funktionen der Gemütskräfte, die er in der Kritik der reinen Vernunft analysiert hat, weitere Funktionen an die Seite. Eine explizite Revision seines Wahrnehmungs- und Gegenstandsbegriff s fi ndet jedoch nicht statt. Dies holt die Cassirersche Kantinterpretation nach. Das dritte Kapitel hat gezeigt, wie Cassirer, angeregt durch Probleme, die ihm zentrale Theoreme der Kritik der reinen Vernunft bereitet haben, aber auch durch die Weiterentwicklung, die diese in der Kritik der Urteilskraft erfahren haben, seine eigene Wahrnehmungstheorie so differenziert, daß sie auch dem »Faktum« der Kunst gerecht werden kann. In der 1921 veröffentlichten Aufsatzsammlung Idee und Gestalt (re-)konstruiert Cassirer die Herausforderung, die die Kantische Philosophie für Goethe, Hölderlin, Kleist und Schiller dargestellt hat. Die Autonomie, die Kant der Kunst theoretisch zugesprochen hat, müssen die Dichter realisieren und aus ihrer Perspektive die Souveränität der künstlerischen Gestaltung begründen. Indem Cassirer diese Auseinandersetzung als Absetzungsbewegung gegen die Vormachtstellung des theoretischen Verstandesgebrauchs schildert, setzt er die Entwicklungsgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen in Szene. Abschnitt b) formuliert das Anliegen Cassirers in Idee und Gestalt. Künstlerische Gestalt und diskursive Formulierung stehen für ihn nicht in einem hierarchischen Verhältnis: Der Geist spricht viele Sprachen, und sowohl Kunst als auch Philosophie sind »Idiome« der Denkkraft. Die eigentümliche Anschauungsweise Goethes steht jedoch quer zu den Kulturgebieten, die die Philosophie der symbolischen Formen untersucht. Wie verhält sich der Forschertypus zur symbolischen Form der Wissenschaft, wie der Stil eines Künstlers oder Kunstwerks zu einer symbolischen Form der Kunst? Die Beziehung Cassirers zu Goethe kann als Beispiel gelten für das Verhältnis zwischen Philosophie und Dichtung, das er in Idee und Gestalt theoretisch formuliert. Zahlreiche Formulierungen zentraler Einsichten, die Cassirer in seinem Werk variiert, stammen von Goethe. Die Pandora-Dichtung Goethes scheint die Kulturphilosophie Cassirers zu antizipieren. Die Bedeutung, die Dichtung, insbe-

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sondere Goethes Dichtung, für die Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen gehabt hat, wird in Cassirers Pandorainterpretation anschaulich. In Abschnitt c) werden exemplarisch zwei Elemente der Symbolphilosophie benannt, die auf Goethe zurückgehen: 1) In der Gegenüberstellung von Prometheus und Epimetheus reflektiert Cassirer die Funktion der gestaltenden Aktivität des Menschen. 2) Eine »Idee« ist als »lebendige Heuristik« zu verstehen, die sich in verschiedenen Gestalten realisiert. Die Verhältnisbestimmung zwischen Idee und Gestalt stellt eine erste Formulierung der in der Philosophie der symbolischen Formen ausgeführten Kritik an der Abbildtheorie des Geistes dar. Auch in dem Aufsatz »Goethe und die mathematische Physik«, der Gegenstand von Abschnitt d) ist, erhält Goethe exemplarische Bedeutung. Goethes Naturforschung erfüllt ebenso wie die mathematische Physik die Kriterien einer symbolischen Form. Sie macht Zusammenhänge als reihenmäßige Verknüpfungen sichtbar; das einzelne Phänomen symbolisiert die Reihe, in der es steht. Cassirer stellt die Forderung nach einer »allgemeinen Theorie der Formen«, durch die es möglich werden soll, »fundamentale Weisen der Einstellung« und die daraus resultierenden verschiedenen Kategorien, durch die »Gegenstände« bestimmt werden, zu differenzieren. Motiviert ist diese Forderung hier durch das Bedürfnis, die »ästhetische Seite der Phänomene«, der Goethe zugewandt ist, gegen ihre Auflösung in Zahlenverhältnisse zu verteidigen. »Nach« Kant ist es unmöglich, sich rein theoretisch in der Welt zu orientieren, da jede Vorstellung, die der Mensch sich von der Welt im Ganzen macht, immer nur eine »problematische« sein kann. Das Wissen um die Vorläufigkeit, durch die jede Idee gekennzeichnet ist, gerät jedoch in Konfl ikt sowohl mit der praktischen Notwendigkeit zu handeln als auch mit dem Bedürfnis des Menschen, sich ein Weltbild zu machen. Die Dichtungen und theoretischen Schriften Hölderlins, Kleists und Schillers, die Cassirer in Idee und Gestalt untersucht, sind individuelle Stellungnahmen zu diesem Konfl ikt – souveräne Formen thetischen Verhaltens. Die Philosophie der symbolischen Formen fi ndet einen Ausweg aus der Krise, in die die Vernunftkritik die Dichter stürzt. Abschnitt e) zeigt, wie Cassirer in der Rekonstruktion der Auseinandersetzungen der drei Dichter mit den Ideen Kants die Kunst, aber auch bereits den Mythos als Gestaltungen von Welten und von Verhältnissen zur Welt begreift. Die Kunst kann die Differenz zwischen Anschauung und Begriff nicht beseitigen, aber sie kann die Sprachlosigkeit der Vernunftideen zum Ausdruck bringen.

b) Rettung der Sinnlichkeit durch einen polyglotten Geistbegriff Über die Bedeutung von Kunst und Ästhetik für die eigene Philosophie hat Cassirer sich, abgesehen von seinem Verhältnis zu Goethe, nicht geäußert. Dennoch konnte in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt werden, daß die Kunst sowie die

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Reflexion über die ästhetische Subjektivität eine paradigmatische Bedeutung für die Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen gehabt haben. In den von der Forschung bislang vernachlässigten Aufsätzen, die Cassirer 1921 zu dem Band Idee und Gestalt zusammenfaßt und die eine Ergänzung zu Freiheit und Form darstellen,413 thematisiert er die Wechselwirkungen von Philosophie und Kunst am Beispiel von herausragenden Autoren der deutschen Literaturgeschichte jedoch explizit. Vier der fünf Aufsätze, die zum Teil bereits vorab separat veröffentlicht worden sind, zeigen »Verknüpfungen und Vermittlungen auf[…], die von der Welt der philosophischen Ideen zur Welt der dichterischen Gestaltung hinüberführen«, denn für Cassirer gibt es nicht nur eine mögliche Erscheinungsform von Ideen – die abstrakt begriffl iche Formulierung –, und sie ist für ihn auch noch nicht einmal eine privilegierte: Erst in den »Vermittlungen und Übergängen offenbaren […] die Ideen […] ihren vollen Gehalt«. In Anlehnung an das Goethesche Diktums, »was fruchtbar ist, allein ist wahr«414, das Cassirer häufig zitiert, hält er fest, »daß die wahrhaft schöpferischen philosophischen Gedanken, neben ihrem rein abstrakten, begriffl ich faßbaren Inhalt, ein eigentümliches konkret-geistiges Leben, eine Kraft der Gestaltung und Formgebung in sich schließen«.415 Cassirer macht es sich in diesen Aufsätzen zur Aufgabe, die Auseinandersetzungen Goethes, Schillers, Kleists und Hölderlins mit den zentralen philosophischen Denkansätzen ihrer Zeit hypothetisch zu rekonstruieren und so das »Unbefriedigende« sichtbar zu machen, »das jeder bloß dialektischen Bezeichnung und Lösung der fundamentalen geistigen Probleme anhaftet«.416 Er versucht, das Verhältnis von dichterischen Gestaltungen zu philosophischen Ideen zu erfassen, ohne den Dichtungen diese Ideen zu unterlegen oder sie aus ihnen erklären zu wollen.417 Jede dieser Gestaltungen ist eine souveräne Stellungnahme zu einem Problem, das in der Philosophie in diskursiver Form zum Ausdruck kommt. Die künstlerische Gestalt ist keine bloße Rekonstruktion eines Begriff s in einem anderen Medium, sondern ein irreduzibel Besonderes. Der Aufsatzband Idee und Gestalt stellt die letzte für die Fragestellung dieses Kapitels relevante Veröffentlichung Cassirer dar, bevor er 1922 in »Die Begriff sform im mythischen Denken« das Programm der Philosophie der symbolischen Formen ankündigt. Auch hier sollen diejenigen Reflexionen diskutiert werden, die ihn – unter dem Einfluß von Dichtung und ästhetischen Schriften im weitesten Sinne – auf dem Weg zu seiner Symbolphilosophie zeigen. Unter unterschiedlichen Aspekten arbeitet Cassirer in Idee und Gestalt am Problem der Form, das in mannigfaltigen Zusammenhängen sein Werk durchzieht,

Siehe das Vorwort zur ersten Aufl age, abgedruckt in ECW 9, S. 619. »Vermächtniß«, in: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. III, S. 82 f., S. 83, Z. 33. 415 Alle Zitate dieses Absatzes stammen aus dem Vorwort zur ersten Aufl age von Idee und Gestalt, ECW 9, S. 619. 416 »Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie«, in: ECW 9, S. 426. 417 Ebd., S. 428. 413 414

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weiter. Neben dem Verhältnis von Dichtung und Philosophie als verschiedenen Gestaltungsformen ideeller Zusammenhänge thematisiert Cassirer im PandoraAufsatz (zuerst erschienen 1918) die allgemeine Kulturbedeutung der »bildenden Kraft des Menschen«418 . In »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften« erörtert er die Stellung, die die Kunst »im Ganzen der Kulturbedingungen und der kulturerzeugenden Kräfte einnimmt«419. Der Begriff der symbolischen Form ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Sammlung 1921 bereits gewonnen420 und fi ndet in dem hier erstveröffentlichten Aufsatz »Goethe und die mathematische Physik«, der bereits einen Grundriß von Cassirers Kulturphilosophie enthält,421 abermals Verwendung. In »Goethe und die mathematische Physik« ist jedoch zugleich eine Variation des zentralen Ordnungsschemas der Cassirerschen Symbolphilosophie angelegt, das für die Frage nach der Kunst als symbolischer Form bedeutsam ist. Die Konzeption der »symbolischen Formen« als tradierte und tradierende Medien gestaltender Tätigkeit, die sich in Kulturgebieten manifestieren, ist nur eine Weise, den Zusammenhang der verschiedenen »Formkräfte« faßbar zu machen. Auch die Weltanschauungen von verschiedenen Forschertypen differieren hinsichtlich der Auffassung und Gestaltung der von ihnen untersuchten Phänomene. Der Anschauungsform der mathematischen Physik setzt Cassirer die »Weise des Sehens«422 Goethes entgegen, um verschiedene »Verfahren der Objektivierung«423 aufzuzeigen, die beide dem wissenschaftlichen Anspruch stringenter Methodik und gedanklicher Fruchtbarkeit genügen. In der Anerkennung des Goetheschen Anspruchs auf »Sichtbarkeit« von Naturzusammenhängen im Gegensatz zu ihrer »Berechenbarkeit« äußert sich abermals eine Aufwertung der Aisthesis als fundamentaler Sinnschicht. Doch nicht nur die Anschauungsform Goethes, die Cassirer als einen bestimmten Typus von Weltbetrachtung und Gestaltung innerhalb der »symbolischen Form« der Wissenschaft hervorhebt, durchkreuzt die intersubjektive Ordnung der Formen nach Kulturgebieten. Im Falle der Dichtung wird die verallgemeinerbare Methode, die der wissenschaftlichen Forschung ihre Objektivität garantiert, durch den Begriff des Stils kontrastiert. Der Stil stellt das »eigentümliche Formge-

418 419

»Goethes ›Pandora‹«, in: ECW 9, S. 257. »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften«, in: ECW 9,

S. 323. In der Schrift Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, die 1921 erschienen, aber bereits 1920 fertiggestellt war, fi ndet sich die erste terminologische Verwendung des Begriff der symbolischen Form. Siehe ECW 10, S. 113. 421 Vgl. Y. Mori, »Goethe und die mathematische Physik. Zur Tragweite der Cassirerschen Kulturphilosophie«. Signifi kant für die Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen aus dem allgemeine Formproblem ist die Ankündigung als »allgemeine Theorie der Formen« in »Goethe und die mathematische Physik, in: ECW 9, S. 304. 422 Ebd., S. 272. 423 Ebd., S. 295. 420

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setz« oder die »persönliche Denkform«424 der jeweiligen Dichtung dar und bringt das individuelle »Weltgefühl« und »Weltbild« zum Ausdruck. Die Frage, wie sich der Stilbegriff zum Begriff der symbolischen Form verhält, soll an späterer Stelle diskutiert werden. Auch der Kunstbegriff Cassirers, der sich in diesen Aufsätzen dokumentiert, sowie das Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie, kann in diesem Kapitel nur gestreift werden. Die Kantische »Revolution der Denkart« und das durch sie veränderte Verhältnis von Denken und Sein bzw. von Wahrheit und Gegenstand425, die eine Erweiterung der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie erst ermöglicht haben, sind fester Bestandteil des Cassirerschen Denkens. Auf sie kommt er immer wieder zurück, wenn er die verschiedenen »Formen geistiger Gesetzlichkeit« thematisiert, »aus denen sich eine objektive Auff assung und ein objektiver Auf bau der ›Wirklichkeit‹ ergibt«. Die Kunst ist spätestens mit Freiheit und Form als eine dieser Formen neben der Wissenschaft etabliert. In wiederholten Anläufen beschreibt Cassirer ihre Eigenart. Die Motivation, die ästhetische Einstellung als eine durch keine andere Einstellung zu ersetzende fundamentale Weise der Weltsicht zu profi lieren, läßt ihn die »verschiedenen Kategorien, kraft deren jede besondere Erkenntnisweise ihren Gegenstand bestimmt«,426 schärfer fassen. Die Kantische Beschränkung des Begriff s der »Kategorie« auf Verstandesbegriffe, die den wissenschaftlichen Gegenstand erzeugen, hat Cassirer zu diesem Zeitpunkt bereits aufgegeben. Cassirer baut eine »Brücke von Leibniz zu Kant«427, indem er den Wahrheitsbegriff Kants, der die Abbildtheorie der Wahrheit durch den Gedanken der Gesetzlichkeit des Bewußtseins ersetzt, mit der Leibnizschen Entdeckung der Zeichengebundenheit allen Denkens vermittelt. Verschiedene Gesetzlichkeiten des Bewußtseins manifestieren sich als verschiedene »Sprachen des Bewußtseins«, als »›Idiome‹ unserer Denkkraft«.428 Die Auseinandersetzung Schillers, Hölderlins und Kleists mit den im begrifflichen Idiom der Philosophie auftretenden Ideen Kants, ihre Versuche der Aneignung dieser Ideen, ihr Ringen darum, ihnen eine sinnliche Gestalt zu geben, ohne die sie keine »Seele« »und somit keinen verständlichen Sinn«429 besitzen, versucht Cassirer nachzuvollziehen. In der Darstellung dieser Konfl ikte der Dichter inszeniert er die Entwicklung der Philosophie der symbolischen Formen. Der »metaphysische Einheitsbegriff des Geistes« muß, wie er Schiller in den Mund legt, »in den kritischen Einheitsbegriff der Kultur«430 umgewandelt werden, damit die 424

»Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften«, in: ECW 9,

S. 317. »Goethe und die mathematische Physik«, in: ECW 9, S. 299, »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften«, in: ECW 9, S. 325. 426 Ebd., S. 313. 427 Ebd., S. 324. 428 Ebd. 429 Ebd., S. 322. 430 Ebd., S. 326. 425

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Dichter ihren Ort darin fi nden können. Ein Begriff des Geistes, der nur in einer (der begriffl ichen) Sprache faßbar ist, befriedigt den Geist nicht, weil er das Herz nicht befriedigt 431 und nicht erklären kann, »wie der Dichter sieht«. Es ist diese »Relativität« der Idiome der Denkkraft, die uns »die Sinnlichkeit rettet«.432

c) Kulturphilosophie in nuce Nach Günter Peters stellt Goethes Pandora »eine ganze Kulturphilosophie als Prozeß in nuce« vor. »Pandora verkörpert die symbolische Form als szenische Gestalt.«433 Ob Cassirer durch die Lektüre des Werkes entscheidende Impulse für die Entwicklung seiner Kulturphilosophie erhalten hat oder ob er sich ihm zuwendet, weil er dort eigenen Ideen gestaltet vorfi ndet, läßt sich freilich nicht klären. Cassirer entwickelt, wie bereits gezeigt, zentrale Elemente seiner eigenen Philosophie stets und explizit in Auseinandersetzung mit der Tradition; die Literaturgeschichte bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Im Vorwort zur ersten Aufl age von Idee und Gestalt schreibt Cassirer der Dichtung einen Entwicklungshilfedienst an der philosophischen Idee zu, doch läßt sich die Richtung dieses Verhältnisses auch gegenläufig denken: Es gibt Werke, schreibt er in seinem Pandora-Aufsatz, die der philosophischen Interpretation bedürfen, um in ihrem Gehalt und Auf bau verständlich zu werden. Die Pandora-Dichtung sei ein solches Werk.434 In der Dichtung werden Ideen in literarischer Gestalt antizipiert. Eine solche Dynamik hat Cassirer in Freiheit und Form als typisch für die Entwicklung des ästhetischen Formbegriff s beschrieben: Nur die Intuition führe in die »Tiefe des Ästhetischen«; der abstrakten Erkenntnis gehe häufig eine anschauliche Gestaltung vorher.435 Es ist nicht ausgeschlossen, daß dies auch für die Philosophie der symbolischen Formen gilt und Cassirer Goethe auch hier als »wahre Wünschelrute« benutzt, die zu einem »verborgenen Schatz« führt.436 In Cassirers Interpretation der Pandora klingen bereits viele der Motive an, mit denen er sich über die Philosophie der symbolischen Formen hinaus auch in seinem Spätwerk noch beschäftigen wird. Es ist die Funktion der symbolischen Formung für die Kultur und das einzelne Individuum, die Cassirer in (an dieser Stelle noch impliziter) Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie, vor allem aber mit Goethe gewinnt, sowie die Gegenüberstellung der gestaltenden Aktivität des Ebd., S. 327. Vgl. das Typoskript zu »Goethe und die mathematische Physik« in: ECN 10, S. 145: »Diese Relativität rettet uns die Sinnl[ichkeit]«. 433 G. Peters, »Prometheus und die ›Tragödie der Kultur‹. Goethe – Simmel – Cassirer«, S. 121. 434 »Goethes ›Pandora‹«, in: ECW 9, S. 243. 435 Siehe oben, Kapitel 2, Abschnitt d). 436 »Über Basisphänomene«, in: ECN 1, S. 126. 431

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Menschen und der in der Innerlichkeit des Selbstgefühls verharrenden Passivität, welche als Vorform der späteren »Basisphänomene« gelten kann. In der PandoraDichtung stehen sich Prometheus, der Tätige und auf den äußeren Ertrag seines Handelns Gerichtete, und Epimetheus, der »tatenlos Sehnende und Schauende«, gegenüber. Beide verkörpern in der Cassirerschen Interpretation defi zitäre Haltungen, denn der nur Tätige, nicht Reflektierende verliert sich in der Reihe der Taten: »Der Handelnde«, zitiert Cassirer aus Goethes Maximen und Reflexionen, »ist immer gewissenlos«,437 der ausschließlich Reflektierende erfährt die Grenze zwischen sich und der Welt nicht, wird sich als Individuum nicht bewußt, denn jedes Bewußtsein verlangt eine Grenzsetzung. Um sich nicht in dem Fluß des gestaltlosen Gefühls zu verlieren, ist die »Verwandlung des Lebens in ein Bild« nötig – wobei der Begriff des Bildes hier für die Strukturierung jeder symbolischen Form stehen kann. Diese Verwandlung impliziert zunächst ein Heraustreten, ja eine Zerstörung komplexer Lebenszusammenhänge, ist jedoch nötig, um »es [das Leben] sich wahrhaft zueigen« zu machen.438 Goethe schreibt in Dichtung und Wahrheit, daß er alles, was ihm widerfahren sei, in ein Bild bzw. Gedicht verwandeln mußte, um mit ihm »abzuschließen«.439 Diese »Verbindung durch Trennung« ist die Grundfunktion der Symbolisierung und bleibt auch in der ausgebildeten Formulierung der Cassirerschen Symbolphilosophie für alle symbolischen Formen in Geltung. Bereits hier, in dem Pandora-Aufsatz, schreibt Cassirer, daß die Kunst nur ein Beispiel für diese Verwandlungskraft sei, denn diese sei in »alle[n] Formen bildender und gestaltender Tätigkeit«440 zu fi nden. Eine der zentralen Funktionen der symbolischen Formen, die Möglichkeit zur Selbstdistanzierung, hat Cassirer von Goethe, genauer, aus seinen Wahlverwandtschaften übernommen. Sie entstammt einer Stelle, an der Ottilie über Kunst reflektiert: »Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.«441 Bei Cassirer lautet sie später folgendermaßen: Die symbolischen Formen »sind die eigentümlichen Medien, die der Mensch sich erschaff t, um sich kraft ihrer von der Welt zu trennen und sich in eben dieser Trennung um so fester mit ihr zu verbinden«.442 Für die Begründung der These, daß die Kunst zur Herausforderung für die Erkenntnistheorie geworden ist und somit das Movens zur Ausbildung der Philosophie der symbolischen Formen darstellt, ist jedoch weniger die Funktion als die J. W. Goethe, Maximen und Refl exionen, Nr. 241, S. 42. »Goethes ›Pandora‹«, in: ECW 9, S. S. 257 und 260. 439 Ebd., S. 260. Cassirer zitiert hier aus Goethes Wahrheit und Dichtung, in: Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. 1, Bd. 27, S. 109 f. 440 »Goethes ›Pandora‹«, in: ECW 9, S. 261. 441 Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. 1, Bd. 20, S. 262. 442 »Der Gegenstand der Kulturwissenschaften«, in: LK, S. 25. Varianten dieser Funktionsbeschreibung der symbolischen Formen fi nden sich im gesamten Werk Cassirers. Vgl. z. B. ECW 7, S. 312 oder »Goethe und Platon«, in: ECW 18, S. 424. 437

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Konzeption der symbolischen Form als unlösbarer Zusammenhang von sinnlich wahrnehmbarer Form und ideellem Gehalt zentral. Die Verbindung von »Idee« und »Gestalt«, die eine weitere Formulierung des Materie/Form-Problems darstellt, das Cassirer durch die Geschichte des Erkenntnisproblems verfolgt hat, zeigt sich auch in diesen Aufsätzen nicht als Vermittlung zweier getrennter Bereiche, sondern als ursprünglicher Zusammenhang, der unter verschiedenen Aspekten thematisiert, aber nicht gelöst werden kann. Cassirer weist darauf hin, daß der deutsche Begriff »Gestalt« eine Übersetzung des Platonischen Begriff s der »Idee« darstellt.443 Jedoch gehöre für Goethe die Idee keinem übersinnlichen Bereich an und sei nur durch sinnliche Vermittlung für den Menschen verständlich. Die Gestalt ist nicht als ein Kleid der Ideen zu begreifen, das etwas Unsichtbares sichtbar macht, sondern die Gestalt nimmt selbst Funktionen der Idee an.444 Cassirer macht sich diese Perspektive zueigen, und so stellt es auch keinen Lapsus, sondern die konsequente Verwendung eines anderen Idioms dar, wenn er schreibt, daß erst im Tun »die Gestalt [nicht die Idee, M.L.] zur vollen menschlichen Wirklichkeit«445 gelange. Die Kunst repräsentiert keine Ideen, sondern sie realisiert sie. In einer Maxime (die Cassirer nicht zitiert) formuliert Goethe dieses Verständnis der sich realisierenden Gestalt: »Mein ganzes inneres Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine unbekannte geahnete Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu fi nden und in die Außenwelt einzuführen trachtet.« 446 Es gibt diese Regel nicht als eine Idee, auf die unter Absehung von ihrer sinnlichen Äußerungsform rekurriert werden könnte.447 Ein vermeintlich übersinnliches Reich identischer Formen dynamisiert Cassirer zu wirkenden oder bildenden Kräften: »Kunst und Wissenschaft sind […] einzelne Äußerungen der höchsten bildenden Kraft«.448 Die Idee, der Cassirer im Vorwort zur Erstausgabe von Idee und Gestalt eine »Kraft der Gestaltung und Formgebung«449 zuschreibt, ist das »Prinzip der Gestalt und der Gestaltung«450. Auch die spätere symbolische Form Cassirers ist zugleich GeSiehe auch oben, Kapitel 2, Abschnitt f ). Für Goethe ist bspw. die Urpfl anze, die Schiller als eine »Idee« bezeichnet hat, zugleich Prinzip und Gestalt. Cassirer bezeichnet sie (kantisch) als einen »Vernunftbegriff«. Siehe den Nachlaßtext »Über Linné und die gewöhnliche Art, die Botanik zu behandeln«, in: ECN 10, S. 148. 445 »Goethes ›Pandora‹«, in: ECW 9, S. 258. 446 Maximen und Refl exionen, Nr. 328, S. 61. Auch Kant spricht von den Prinzipien, mit deren Hilfe Naturzusammenhänge erforscht werden sollen, als »heuristischen Fictionen« oder »heuristischen Prinzipien«. 447 Vgl. zu diesem Problem das Kapitel »Logos oder Symbol? Cassirer über Goethes Platonismus« in: E. Rudolph, Ernst Cassirer im Kontext, insbesondere S. 250 f. 448 »Goethes ›Pandora‹«, in: ECW 9, S. 256. 449 ECW 9, S. 619. 450 »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften«, in: ECW 9, S. 344. 443

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stalt und gestaltendes Prinzip. Die verschiedenen symbolischen Formen zeigen uns nicht dieselben Dinge oder Ideen in verschiedenen Gestalten, sondern verschiedene »Seiten« der Phänomene. Goethe ist der »ästhetischen Seite der Phänomene« zugewandt.451 Unmittelbar im Zusammenhang mit dieser »lebendigen Heuristik« ist auch die eigentümliche Einheit von »Sinnen und Schauen« bei Goethe zu betrachten, die Cassirer bereits in Freiheit und Form ausführlich thematisiert hat. Die Goethesche »Weise des Sehens« steht in dem Aufsatz »Goethe und die mathematische Physik« abermals im Zentrum der Betrachtung.

d) Goethes Welt des Auges Von dem Wunsch geleitet, Goethes Weise der Naturbetrachtung zu würdigen, versucht Cassirer in dem Aufsatz »Goethe und die mathematische Physik«, der 1921 in Idee und Gestalt zum ersten Mal veröffentlicht wird, ihre Methodik und ihre Fruchtbarkeit im Vergleich mit der mathematischen Naturwissenschaft darzustellen. Ausgehend von der kantisch geprägten Grundüberzeugung, daß wir nicht über das Sein der Dinge Gewißheit erlangen können, sondern nur über unsere Betrachtungsweisen, und daß es keinen anderen Beleg für die »Wahrheit« dieser Betrachtungsweisen geben kann als die »Probe an den Phänomenen«452 , schließt er sich dem bereits in Freiheit und Form zitierten Goetheschen Diktum an, daß es darauf ankomme, das »Verhältnis« zu sich selbst und zur Außenwelt zu kennen. Die verschiedenen Verhältnisse, die zwischen einem Subjekt und einem Objekt bestehen, können nicht gegeneinander ausgespielt werden. Keines ist »wahrer« als das andere: Sie stellen, mit Goethe, verschiedene »geistige Organe« dar, die für verschiedene »gegenständliche Anforderungen« tauglich sind.453 Die Kriterien, die Cassirer in »Goethe und die mathematische Physik« formuliert, um Weltsichten zu differenzieren, sind mannigfaltig. Sie reichen von verschiedenen »Blickpunkten«, von denen aus die Welt betrachtet wird, um deutlich zu machen, daß es nicht um »Objektkreise«, sondern um eine »Art und Richtung der Betrachtung« geht,454 »Einstellungen«, die ebenfalls einen »Winkel des Sehens« meinen,455 über verschiedene »Ideale«,456 die den Einstellungen zugrunde liegen, dem spezifi schen »Erkenntniswillen«,457 »Zwecken« und »Zielen«, die verfolgt werden458 , und »Funk-

451 452 453 454 455 456 457 458

»Goethe und die mathematische Physik«, in: ECW 9, S. 297. Ebd., S. 308. ECW 9, S. 272. Siehe auch oben, Kapitel 2, Abschnitt g). Ebd., S. 298. Ebd., S. 313. Ebd., S. 312. Ebd., S. 294 und 313. Ebd., S. 299 und 304.

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tionen«, die erfüllt werden,459 zu »Mitteln und Wegen«,460 die dafür angewendet oder begangen werden. Nach diesen Kriterien können »Grundformen des Weltverständnisses« analysiert und schließlich eine »allgemeine Theorie der Formen« entwickelt werden.461 Die Goethesche Betrachtungsweise der Welt sei der »ästhetischen Seite der Phänomene«462 zugewandt. Während die mathematische Naturwissenschaft auf die Berechenbarkeit der Phänomene ausgerichtet ist, geht es Goethe um ihre Sichtbarkeit. Der menschliche Sinneseindruck – diese Argumentationslinie ist bereits von Leibniz bekannt – ist nicht auf Zahlenverhältnisse reduzierbar. Er hat seinen eigenen Wert und offenbart andere Aspekte bzw. Qualitäten der Dinge. Er ist bedeutsam für den Menschen als sinnliches Wesen. Obwohl diese Perspektive bei einer »anschaulichen Ganzheit« verharrt, ignoriert sie nicht die Zusammenhänge, die zwischen verschiedenen phänomenalen Einheiten bestehen. Auch Goethe versucht unbekannte Verknüpfungen und reihenmäßige Zusammenhänge auszumachen, die er als stetige Variationen von Bedingungen begreift. Die Art und Weise der Verknüpfungen – und hier kommen wir auf die erste Unterscheidung der »symbolischen Formen«, die Cassirer bereits bei Leibniz ausgemacht hat, zurück – differiert jedoch: »Goethe […] verlangt eine neue Weise der Verknüpfung des Anschaulichen, die den Gehalt ebendieser Anschauung als solcher unangetastet läßt. Er fordert, daß die Elemente selbst synthetisch zusammengeschaut werden: während in der exakten Wissenschaft die Synthese nicht sowohl sie selber, als vielmehr die begriffl ichen und numerischen Repräsentanten betriff t, die wir an ihre Stelle setzen.«463 Das Sehen ist eine Weise, in der der Mensch sich auf die Welt beziehen kann, und die »Welt des Auges« hat eigene Gesetze; die Welt ist meßbar, aber sie ist auch empfi ndbar. Das konkrete, individuelle Phänomen ist jedoch ausschließlich empfi ndbar: »Es muß ein Besonderes sein und bleiben, wenn sich das Allgemeine in ihm wahrhaft darstellen und symbolisch ausdrücken soll. Daher darf auch die Empfi ndung nicht einfach durch Zahl- und Größenwerte ersetzt und durch sie, ihrem unmittelbaren Bestande nach, vertilgt werden; sondern sie ist selbst ein eigener, unvergleichlicher und unverlierbarer Erkenntniswert. Sie ist dasjenige Einzelne, von dem aus die universelle Ordnung des Ganzen zuletzt allein faßbar wird.«464 Im Vergleich der mathematischen Naturwissenschaft mit Goethes Naturforschung formuliert Cassirer konkret die Forderung nach einer Theorie, die die »wesentlichen Kategorien und Grundrichtungen des Weltverständnisses überhaupt

459 460 461 462 463 464

Ebd., S. 303. Ebd., S. 304. Ebd. Ebd., S. 297. »Goethe und die mathematische Physik«, in: ECW 9, S. 309. Ebd., S. 291.

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umfaßte«.465 Alles Wissen – wobei »Wissen« nicht nur das theoretische Weltverhältnis meint – ist als eine Gestaltung zu begreifen. Diese verschiedenen Gestaltungen können nicht aufgelöst werden, um hinter ihnen ein »wahres Wissen« zu fi nden. Cassirer formuliert eine Regel für den Umgang mit symbolischen Formen, der uns aus dem Umgang mit Kunstwerken vertraut ist: »Es gibt eine bestimmte Entfernung von der Wirklichkeit, die wir innehalten müssen, weil sich, jenseits von ihr, ihr Bild für uns verwischen und sie daher unkenntlich und unwißbar werden würde.«466 Dennoch ist es möglich, die »Kategorien« auszumachen, die die Bilder konstituieren und durch die sie mit anderen ihrer Art einen Zusammenhang bilden, der nicht der Zusammenhang der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis sein muß.

e) »Conflicte der Denkkraft mit dem Anschauen« bei Schiller, Hölderlin und Kleist In den Aufsätzen »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften« (erstveröffentlicht 1921 in Idee und Gestalt), »Hölderlin und der deutsche Idealismus« (von 1917/18 und 1919/20) und »Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie« (zuerst 1919 erschienen) re-konstruiert Cassirer die Auseinandersetzung, die Schiller, Hölderlin und Kleist mit den Kantischen Ideen führen. Es ist hier nicht die »Welt des Auges«, die Goethe der Welt des Begriff s und der Berechnung entgegensetzt, sondern es ist das »eigene charakteristische Lebensgefühl«467 dieser Dichter, das die Aufnahme und Verwandlung der philosophischen Gedanken bestimmt und eine spezifi sche Stellungnahme zur Kantischen Lehre und zu den Konfl ikten, die diese für sie mit sich bringt, evoziert. Das Problem, das Kant in der Kritik der reinen Vernunft anspricht und in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht wieder aufnimmt, ist die mangelnde Anschaulichkeit der Ideen: Eine Idee kann kein Gegenstand der Sinne sein. Ihr korrespondiert keine Anschauung, und da Gedanken ohne Anschauung blind sind, muß diesem Defi zit begegnet werden. Der »Confl ict der Denkkraft mit dem Anschauen«468 , in den Goethe bei der Darstellung der Metamorphose der Pfl anzen geraten ist – eine Formulierung, die Cassirer häufig zitiert –, bezeichnet eine Variante des Problems, das für die Dichter, die Cassirer in Idee und Gestalt untersucht, zu einem existentiellen wird. Für Schiller stehen, so Cassirer, »[d]ie Forderungen der Vernunft und die des subjektiven Gefühls und der Phantasie […] unvermittelt und unversöhnt einander gegenüber. Wo das eigentliche und wahrhafte Weltverständnis beginnt, Ebd., S. 314. Ebd., S. 313. 467 »Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie«, in: ECW 9, S. 390. 468 Vgl. J. W. Goethe, »Der Kammerberg bei Eger«, in: Werke (Weimarer Ausgabe), 2. Abt., Bd. 9, S. 91. 465

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da scheint alle wissenschaftliche Begründung ihr Ende erreicht zu haben – wo wir umgekehrt nur dem reinen Gebot des strengen begriffl ichen Denkens folgen, da wird uns das All zu einem Mechanismus, der keine Seele und somit keinen verständlichen Sinn mehr besitzt.«469 Zur Veranschaulichung dieses Konfl ikts zitiert er aus Schillers Philosophischen Briefen: »Mein Herz suchte sich eine Philosophie, und die Phantasie unterschob ihre Träume. Die wärmste war mir die wahre. Ich forsche nach den Gesetzen der Geister – schwinge mich bis zu dem Unendlichen, aber ich vergesse zu erweisen, daß sie wirklich vorhanden sind. Ein kühner Angriff des Materialismus stürzt meine Schöpfung ein« und schließt: »So hebt die Autonomie der Vernunft als subjektiver geistiger Form den objektiv-geistigen Gehalt der Wirklichkeit auf. Die Vernunft gleicht der Fackel in einem Kerker: Der Schein des Lichts, den sie verbreitet, zeigt dem Gefangenen nur die Fesseln, in die er für immer geschmiedet ist.«470 Schiller erkennt die »Forderung der Vernunft« an, sie führt ihn jedoch in eine Krise, aus der ihm die Theorie nicht heraushelfen kann. Der Baumeister des Kerkers, dessen Mauern die Grenzen bilden, die die Kritik der Erkenntnis gezogen hat, wußte, daß die Ideen, deren der Mensch bedarf, um sich zu orientieren, »ein Problem ohne alle Auflösung«471 darstellen: Ideen entsprechen keine Anschauungen. Was aber tun, wenn Denken auf Anschauung abzweckt, ohne Anschauung leer bleibt? Schiller kann sich nur dadurch befreien, daß er den Mangel, den für Kant jede »symbolische Darstellung« besaß472 , durch die Anerkennung des künstlerischen Schaffens als ebenbürtiger Ausdrucksweise des Geistes überwindet. Er bringt sein Weltverständnis zum Ausdruck, indem er Bilder schaff t. Die Kluft zwischen Intelligiblem und Sinnlichem ist jedoch nicht zu schließen. Der Wunsch, mit der Einbildungskraft das »Unendliche« zu erfassen, wandelt sich zu der Einsicht, daß die Grenzen zwischen Anschauung und Begriff bestehen bleiben müssen und gleichzeitig die Beziehung zwischen beiden als Forderung nicht aufgeben werden darf. Anzustreben ist es, so Cassirer, »die Bilder der ästhetischen Phantasie rein als Bilder zu verstehen und zu bewahren und auf der anderen Seite dennoch die ästhetische Funktion als ein Element und eine integrierende Bedingung für den Auf bau des geistigen Seins zu erweisen«.473 In der Anerkennung einer »seelischen Stellung zur Welt«474 sowie des Gefühls als Bedingung einer Vorstellung von der Welt475, die begriffl ich nicht zu fassen ist, nicht gefaßt werden darf, um nicht in eine vorkritische, dogmatische Metaphysik »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften«, in: ECW 9, S. 322. Ebd., S. 322, Cassirer zitiert Schillers Philosophische Briefe, in: Sämtliche Werke. SäkularAusgabe, Bd. 11, S. 117. 471 KrV B 384. 472 Vgl. z. B. das Kapitel »Von dem Bezeichnungsvermögen« aus der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 38. 473 »Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften«, in: ECW 9, S. 323. 474 Ebd., S. 338. 475 Ebd., S. 340. 469 470

die »ästhetische seite« der Ideen

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zu verfallen, ist jedoch der Kantische Boden nicht verlassen – sofern man die Kritik der Urteilskraft und die kompensatorische Funktion, die die Erfahrung des Schönen dort übernimmt, als Anknüpfung an das Problem der mangelnden Anschaulichkeit der Ideen liest. Denn trotz des Bereiches eigener Gesetzlichkeit, die das ästhetische Urteil bei Kant erreicht, stellt es dennoch eine Verbindung zwischen der Erfahrung von Schönheit und dem Anspruch oder der Hoff nung auf rationale Organisiertheit der Welt her: Die Hoff nung darauf, daß der Mensch in die Welt passe.476 Das Gefühl ist ein menschliches Vermögen, das in einen Bereich hereinragt, von einem Bereich Kunde gibt, der begrifflich nur als Problem formulierbar ist. Diese Qualität ist es, die das Gefühl in ein privilegiertes Verhältnis zu den Ideen bringt. Bei Hölderlin ist für Cassirer ein anderes »Organ« – ein Bild für verschiedene symbolische Auffassungs- und Gestaltungsweisen, das Cassirer von Goethe übernimmt – wirksam. In der Wirklichkeitsbetrachtung Hölderlins sieht er den Mythos »als eigentümliche und notwendige geistige Form« am Werke.477 Durch die mythische Weltbetrachtung gestalte Hölderlin seine kosmologische Idee. Ihm bleibe »das Unendliche selbst noch ein Faßbares und Fühlbares«.478 Hölderlin schreibt Cassirer »jene neue und eigentümliche Form der ›Objektivität‹, die ihre letzte Wurzel nicht in der sinnlich-realen Naturbetrachtung und -beobachtung, sondern in der Naturempfi ndung des Mythos hat«479, zu. Die »Einheit alles Lebendigen«, die für Kant im Medium des Begriff s eine heuristische Fiktion sein muß, zeige sich für Hölderlin in der Intuition. Um so tragischer erlebe er die Beschränkung des menschlichen Verstandes, der das Absolute nicht fassen könne. Hölderlin täuscht, so Cassirer, »keine Lösung dieses ursprünglichen Widerstreits vor […], sondern [will] ihn nur nach seiner ganzen Tiefe dichterisch ermessen und darstellen […]«.480 Cassirer ist radikal in der Bestimmung des Verhältnisses zwischen einer »Idee« und der Gestalt, die diese Idee, abhängig von der spezifi schen Welt- und Lebensansicht des Dichters, annimmt. Den Nimbus des rein Geistigen hat die Idee hier verloren. Was von Goethe als »geahndete Regel«, als »lebendige Heuristik« bezeichnet wird, mit der er versucht, das ideelle Gegenstück seiner Gestaltungen zu umschreiben, bezeichnet Cassirer bei Hölderlin als »unbestimmte Sehnsucht«.481 Die Bestimmung der Beschaffenheit eines Ideellen vor seiner Manifestation in einer Gestalt als »Triebkräfte« oder »Lebensmächte«482 muß jedoch vage bleiben. All diese Umschreibungen sind Versuche, etwas nicht Greif bares zu benennen, das nur an seinen »Wirkungen« erfahrbar wird. Cassirer versucht dennoch, in diesen For-

476 477 478 479 480 481 482

Vgl. Kapitel 1, S. 45, Anm. 93. »Hölderlin und der deutsche Idealismus«, in: ECW 9, S. 353. Ebd., S. 354. Ebd., S. 369. Ebd., S. 388. Ebd., S. 366. Ebd., S. 389 f.

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Teil I · Kapitel 4

mulierungen die Abhängigkeit der verschiedenen Dichtungen von verschiedenen Auffassungsweisen zu zeigen, sie in der Individualität der Dichter zu begründen und zu legitimieren: Indem eine Idee ein Lebensgefühl »mitgeteilt bekommt«, erhält es eine Gestalt.483 Auch Kleist stürzt die »Kopernikanische Wende«, mithin die Gewißheit, die er in der Auseinandersetzung mit den transzendentalphilosophischen Ideen seiner Zeit gewinnt, daß es keine absolutes Wissen geben kann, daß eine theoretische Theodizee unmöglich ist, in eine tiefe Krise: »Die Wahrheit«, schreibt Cassirer, »die wir mit unserem Verstande theoretisch einzusehen vermögen, hatte zum mindesten ihren universellen, ihren kosmischen Sinn eingebüßt.« »Die Welt wird dem Menschen, der Mensch wird sich selbst zum Rätsel, weil Gott es ihm geworden ist. Keine Anstrengung des Denkens vermag dieses Rätsel zu entwirren«.484 Für Kleist ist dies ein praktisches Problem, und er inszeniert es in den tragischen Handlungen seiner Dichtung. Die Erkenntnis, daß der Mensch in einer Welt handeln muß, die ihm in ihrem Zusammenhang letztlich nicht verständlich werden kann, führt ihn zu einer radikalen Orientierung am Gefühl »in seinem eigenen unverbrüchlichen Gesetz«.485 »[D]as Gefühl«, das Cassirer als selbstreflexiv beschreibt, »wird sich des eigenen Gesetzes und der eigenen Unergründlichkeit bewußt«486 und somit neben die Kantische Apperzeption des »ich denke« gestellt und zu einer souveränen Stellungnahme zur Welt legitimiert.

483 484 485 486

Ebd., S. 390. »Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie«, in: ECW 9, S. 414. Ebd., S. 416. Ebd., S. 420.

TEIL II: ZU R KU NSTPHILOSOPHI E ER NST CASSIR ERS

Kapitel 1 Die Philosophie der symbolischen Formen

a) Einleitung Die Annahme des jungen Ernst Cassirer, daß sprachliche Kunstwerke nicht als Sekundärformungen oder, platonisch, als Abbilder von Abbildern zu begreifen sind, sondern daß es eine originäre »Sicht« des Dichters gibt, bildete den Ausgangspunkt und den Leitfaden für die Untersuchung seiner Leibnizrezeption, der ästhetischen Reflexionen in Freiheit und Form, der Veränderungen, die Cassirer an der Theorie der Wahrnehmung Kantischer Prägung vornimmt, sowie seiner Studien zu Idee und Gestalt. Die durch Kant ausgelöste »Kopernikanische Wende« hat den Blick von den Gegenständen auf die Art und Weise ihrer Formung zu richten gelehrt, doch nach Cassirer kommt die Revolution der Denkart(en) erst in den »reinen Gestalten« der Kunst, in den Bildern, die sich als Gestaltungen verstehen und reflektieren, ans Ziel. Eine Studie, die sich dem Einfluß der Ästhetik und Kunst auf das Denken Ernst Cassirers widmet, fi ndet daher ihre konsequente Fortsetzung in der Untersuchung der ästhetischen »Denkart«: »Im Gebiet der künstlerischen Anschauung wird es sodann vollends deutlich, daß alle Auffassung einer ästhetischen Form am Sinnlichen nur dadurch möglich wird, daß wir selbst die Grundelemente der Form bildend erzeugen. Alles Verständnis räumlicher Gestalten z. B. ist zuletzt an diese Tätigkeit ihrer inneren Produktion und an die Gesetzmäßigkeit dieser Produktion gebunden. So zeigt sich durchweg, wie gerade die höchste und reinste geistige Aktivität, die das Bewußtsein kennt, durch bestimmte Weisen der sinnlichen Aktivität bedingt und vermittelt ist.«1 Unter verschiedenen Perspektiven, in philosophiehistorischen, ideengeschichtlichen und systematisch angelegten Studien hat Cassirer in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine allgemeine Theorie der geistigen Formen und Formgebung vorbereitet. In der Philosophie der symbolischen Formen bestimmt er symbolische Formen sodann als Formen der »geistigen Schau« oder »Sicht« 2 und schaff t die Grundlagen, von denen ausgehend sich erweisen lassen muß, ob die Annahme einer eigentümlichen dichterischen Sicht berechtigt ist. Die 1923, 1925 und 1929 publizierten Teile des dreibändigen Werkes begründen das Konzept der Perspektivierung und Diversifi zierung der Idiome des menschlichen Geistes unter 1 2

ECW 11, S. 19. ECW 13, S. 16.

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Teil II · Kapitel 1

Rückgriff auf sprachwissenschaftliche, ethnologische und klinische Forschungen sowie durch philosophiehistorische Kontextualisierung und exemplifi zieren es an den symbolischen Formen der Sprache, des Mythos und der wissenschaftlichen Erkenntnis. In zahlreichen Aufsätzen arbeitet Cassirer parallel aber auch in den folgenden Jahren kontinuierlich an der Profi lierung verschiedener Aspekte seiner Symbolphilosophie. Wenn Cassirer von symbolischen Formen spricht, nennt er in der Philosophie der symbolischen Formen häufig vier Formen: die Sprache, den Mythos, die Kunst und die Wissenschaft – später werden weitere symbolische Formen wie Technik oder Geschichte ergänzt. Dennoch hat er nur drei Bände geschrieben. Abgesehen von dem bereits erwähnten Brief vom 13. Mai 1942 an Paul A. Schilpp,3 in dem Cassirer darauf hinweist, daß er die symbolische Form der Kunst sehr wohl zu schreiben beabsichtigt habe, gibt es keine Äußerung, die diesen frappanten Sachverhalt erklärt. Cassirer hat die symbolische Form der Kunst nur in Ansätzen konzipiert. Nachdem der erste Teil dieser Untersuchung der ästhetischen Vorgeschichte der Philosophie der symbolischen Formen gewidmet war, beschäftigt sich der zweite Teil mit dem kulturphilosophischen Hauptwerk, den symbolphilosophisch und kunstphilosophisch orientierten Aufsätzen, dem bereits veröffentlichten Teil des Nachlasses und dem Essay on Man, lotet aus, wie weit die Ansätze zu einer symbolischen Form der Kunst gediehen sind, prüft die Möglichkeit einer Fortschreibung auf der Basis des Befundes und diskutiert die Fruchtbarkeit einer symbolphilosophisch orientierten Ästhetik vor dem Hintergrund aktueller ästhetischer und literaturtheoretischer Strömungen. Die Entscheidung über die Möglichkeit, Kunst als symbolische Form zu begreifen, ist wesentlich von den grundsätzlichen Bestimmungen der symbolischen Formen und der Theorie, die ihrer Differenzierung zugrunde liegt, abhängig. Das erste Kapitel des zweiten Teils gilt somit der Konzeption der symbolischen Formen und ihren allgemeinen Funktionsbestimmungen sowie den Kriterien, die Cassirer für die Unterscheidung von symbolischen Formen formuliert. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen argumentiert konkret unter Verwendung zahlreicher einzelwissenschaftlicher Ergebnisse. Die Beschreibung der allgemeinen Theorie muß hier jedoch relativ abstrakt bleiben. Eine Konkretisierung erfolgt im zweiten Kapitel am Beispiel der Kunst. Da Cassirer seine Philosophie als eine Fortführung des Kantischen Unternehmens begreift, wird des öfteren auf Kant Bezug genommen. Begriffe, wie z. B. derjenige der Erfahrung und derjenige der Apperzeption, die Cassirer von Kant übernimmt, in ihrem Bedeutungsumfang jedoch häufig erweitert, ohne diese Bewegung eigens zu kennzeichnen, sind nur vor ihrem ›ursprünglichen‹ Hintergrund zu verstehen. In Abschnitt b) wird einer der wenigen Begriffe, die Cassirer geprägt hat – der Begriff der »symbolischen Prägnanz« der Wahrnehmung – erläutert. Er bildet das 3

Vgl. die Einleitung, S. 4.

die philosophie der symbolischen formen

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Fundament der Cassirerschen Symbolphilosophie. Cassirer geht von der Kantischen Konzeption der Erfahrung als einem systematischen Zusammenhang von Erkenntnisurteilen aus, versucht jedoch nachzuweisen, daß diese Systematizität nicht nur der symbolischen Form der Wissenschaft, sondern auch den Kulturbereichen der Sprache, des Mythos und der Kunst zukommt. Zur Konstitution des Erfahrungskontinuums läßt Kant das sinnliche Material der Wahrnehmung – die »undurchdringliche leblose Ausdehnung«4 – nach den Kategorien des Verstandes erfassen und ordnen. Unter Rückgriff auf in der Kinderpsychologie und in der Ethnologie entdeckte Phänomene sowie auf klinische Befunde – die hier nicht im Detail referiert werden –, aber auch gestützt durch phänomenologische Untersuchungen zeigt Cassirer, daß die in der Sinnschicht der Empfi ndung verorteten Eindrücke keineswegs ungegliedert sind, sondern bereits auf Zusammenhänge hinweisen. Wahrnehmung ist als Besonderung und die durch diese Besonderung entstehende Relation als eine erste Setzung zu begreifen. Symbolische Formen sind erfahrungsanaloge Integrale, in denen sich Allgemeines und Besonderes wechselseitig bedingen. Dieser Zusammenhang ist jedoch nicht ausschließlich kategorial vermittelt. In der Philosophie der symbolischen Formen kommt es zu einer entschiedenen Aufwertung der Aisthesis. Prägnante Wahrnehmungen transformieren sich in der Verknüpfung mit sinnlichen Zeichen. Durch die Bindung an Symbole befreit sich das Individuum von der Übermacht der Eindrücke, stellt sie in »Gegenständen« still und sich gegenüber. Cassirer nennt diesen Prozeß, in dem ein Ich und eine Welt entstehen, symbolische Formung. Er wird in Abschnitt c) erläutert. Durch Symbole kann sich das Individuum auf Sachverhalte und Gegenstände beziehen und über sie kommunizieren. Durch symbolische Formung entstehen Formwelten, in denen der Mensch sich orientiert. Der Begriff der symbolischen Form bezeichnet Kulturgebiete, die sich durch verschiedene Kriterien voneinander trennen, aber nicht ein für allemal fi xieren lassen. Sie sind heuristische Fiktionen, die in keinem Phänomen oder Phänomenbereich zur Anschauung gebracht werden können. Symbolische Formen sind Faktoren im Auf bau von Denk- und Lebensordnungen. In ihnen werden Kosmologien und Anthropologien entworfen. Symbolische Formen sind werdende Formen, die nicht substantiell, sondern funktional zu verstehen sind. Während es in Abschnitt b) und c) um die Gemeinsamkeiten symbolischer Formen geht, werden in Abschnitt d) ihre Unterschiede thematisiert. Da symbolische Formen keine Abbilder einer ›wahren Wirklichkeit‹, sondern Medien der Auseinandersetzung sind, in denen sich Subjekte und Objekte formieren, ist es nicht erstaunlich, daß die Ergebnisse differieren. Cassirer geht davon aus, daß diese Prozesse durch geistige Krisen motiviert sind, die er als »Ur-Teilungen« bezeichnet. Durch diese Differenzbildungen entstehen die spezifi schen Sinnsphären der verschiedenen Weltbilder. Die menschliche Vorstellung kann sich nicht anders 4

KrV B 876.

134

Teil II · Kapitel 1

als in räumlichen, zeitlichen sowie quantitativen Verhältnissen auf bauen. Es sind jedoch nicht ein Raum, eine Zeit und eine Möglichkeit der Zahlenbildung, die allen Kulturgebieten zugrunde liegen. Raum, Zeit und Zahl begreift Cassirer als »Qualitäten«, die Art und Weise, wie der Mythos, die Sprache und die Wissenschaft Raum und Zeit in Abhängigkeit von ihrem spezifischen »Erkenntniswillen« gestalten, als »Modalitäten«. Als ein weiteres Kriterium der Unterscheidung symbolischer Formen, das in Abschnitt e) erörtert wird, begreift Cassirer die jeweiligen Verhältnisse, in denen das Subjekt zum Bild der Welt, das es erzeugt, steht. Die allgemeine Symbolfunktion differenziert sich in die Ausdrucks-, Darstellungs- und reine Bedeutungsfunktion. Obwohl die symbolischen Formen durch das Vorherrschen jeweils einer Symbolfunktion charakterisiert werden, lassen sie sich nicht nur einer einzigen zuordnen. Cassirer begreift den Auf bau des geistigen Lebens als eine Schichtung und insistiert auf dem Zusammenhang zwischen den als »Basisphänomene« bezeichneten Artikulationsstufen. Die geistigen Grundverhältnisse zwischen Ich und Welt, die als »Positionalitäten« bezeichnet werden können, lassen sich durch das Stadium, das sie innerhalb bestimmter Entwicklungsrichtungen erreicht haben, unterscheiden. Der Weg vom Ausdruck über die Darstellung zur reinen Bedeutung ist ein Weg der Verfestigung, Distanzierung bzw. Entäußerung, Reflexion und Befreiung vom bzw. des unmittelbaren Eindruck(s). Verblüffen mag auf den ersten Blick, daß Cassirer an dem hart umkämpften Begriff der Repräsentation festhält, denn symbolische Formen repräsentieren keine Dinge und Sachverhalte einer ursprünglich gegebenen Welt. In der Philosophie der symbolischen Formen steht der Begriff , wie der Abschnitt f ) zeigt, auf der einen Seite in einem engen Verhältnis zu der Konzeption des Symbols und zu der These der symbolischen Prägnanz der Wahrnehmung. Auf der anderen Seite unterscheiden sich symbolische Formen durch das jeweilige Verhältnis, das »Präsenz« oder »Präsentation« (das »Haben« einer Empfi ndung) und ihre »Repräsentation« (oder Darstellung) bilden. »Repräsentation« ist für Cassirer eine bewußtseinsinterne Relation. Sie ist keine nachträgliche Verarbeitung einer primären Präsenz, sondern ihre Voraussetzung. Die eigentümlichen Spannungsverhältnisse zwischen Präsenz und Repräsentation sind für symbolische Formen charakteristisch.

b) Erscheinungen prägnant wahrnehmen, um sie als Erfahrungen lesen zu können Das bekannte Diktum von den »Erscheinungen«, die »nach synthetischer Einheit buchstabier[t]« werden, »um sie als Erfahrung lesen zu können« aus der Kritik der reinen Vernunft,5 das Kant in den Prolegomena in einer Variante wiederholt (er iden-

5

KrV A 314/B 370f.

die philosophie der symbolischen formen

135

tifi ziert hier die »synthetische Einheit« als die Verstandesbegriffe),6 hat Cassirer häufig und vermutlich aus dem Gedächtnis zitiert, denn nur an einer Stelle7 gibt er die Quelle an – und zitiert korrekt. Was zunächst als belangloser Fehler der Erinnerung erscheint (gegen einen »Druckfehler« spricht die Häufigkeit), entpuppt sich bei genauerer Lektüre als ein wertvoller Hinweis auf das Schicksal, das den Kantischen Erfahrungsbegriff in der Cassirerschen Kulturphilosophie ereilen wird: Cassirer buchstabiert Erscheinungen, um sie »als Erfahrungen [Pl.!] lesen zu können«. Auf diese Zitierweise hat E. W. Orth bereits hingewiesen. Er interpretiert, Cassirer wolle die »Vielheit der Erfahrungen betonen, die in der Pluralität von Lesarten der Welt manifest wird«.8 Kant spricht, wenn er den Begriff der Erfahrung terminologisch, d. h. in der Weise verwendet, die er in der Kritik der reinen Vernunft defi niert hat, von einer Erfahrung.9 Erfahrung hat für Kant systematischen Charakter. Urteile werden erst zu Erfahrungsurteilen, wenn sie sich in einen durch Kategorien geordneten Zusammenhang eingliedern.10 Cassirer nimmt diesen Erfahrungsbegriff in seinen erkenntnistheoretischen Schriften auf und spricht von einem »System des Erfahrungswissens« oder einem »System der Erfahrung«. K.-N. Ihmig geht davon aus, daß mit der Cassirerschen Idee eines »Systems der Erfahrung«, die an den Kantischen Erfahrungsbegriff anknüpft, »der Gesichtspunkt aufgewiesen ist, der als das ursprüngliche und einheitliche Leitmotiv von Cassirers historischen und systematischen Schriften betrachtet werden muß«.11 Der Bezug auf das Faktum wissenschaftlicher Erfahrung sei dem Cassirerschen Systembegriff »etwas wesentlich Immanentes«.12 Mit der Festschreibung des Begriff s der Erfahrung bei Cassirer auf die engere Bedeutung, die Kant ihm gegeben hat, ist jedoch das Problem, das Orth anspricht und das sich erst mit der Anwendung der Vernunftkritik auf die »Kultur« ergibt, noch gar nicht berührt. Und tatsächlich fi ndet sich in dem »Symbolische Formen. Zu Band IV« betitelten Nachlaßtext, der auf ca. 1928 datiert wird, die explizite Formulierung: »›Erfahrung‹ im Sinne objektivierender Wissenschaft ist nur eine Form der Ganzheit«.13 Der Kulturphilosoph Cassirer und dessen Begriff6

Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können,

§ 30. 7 ECW 8, S. 243. Vgl. dagegen ECW 1, S. 291, ECW 4, S. 22 und 367, ECW 5, S. 60 und 140, ECW 8, S. 280 und 333, ECW 10, S. 97, ECW 13, S. 218. 8 E. W. Orth, »Die Bedeutung der ›Kritik der Urteilskraft‹ für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, S. 187 f. und Anm. 17. 9 KrV B 282 f. 10 KrV B 218. 11 K.-N. Ihmig, Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des ›Erlanger Programms‹, (Cassirer-Forschungen 2), Hamburg 1997, S. 28. Auch A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 142, liest die Philosophie der symbolischen Formen als eine Theorie der Erfahrung, präzisiert seinen Erfahrungsbegriff jedoch nicht. 12 K.-N. Ihmig, Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung, S. 226. 13 ECN 1, S. 206.

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Teil II · Kapitel 1

lichkeiten kommen in Ihmigs Interpretation nicht vor, obwohl er das Leitmotiv des gesamten »historischen und systematischen« Werkes Cassirers zu bezeichnen anstrebt. Wenngleich Kant in der Kritik der Urteilskraft über bestimmte Prämissen der Kritik der reinen Vernunft hinausgeht, da »für die vollständige Form der Erfahrung die Bedingung der allgemeinen Verstandesgesetze zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist – weil eine eigene Form und eine eigene zweckmäßige Verbindung des Besonderen entdeckt wurde, die ihrerseits erst den systematischen Begriff der Erfahrung vollendet«14, hält Cassirer an dem Kantischen Begriff der Erfahrung im engeren Sinne als kategorial vermittelte, systematische, wissenschaftliche Erkenntnis fest. Ohne Not prägt er keine neuen Begriffe. Dennoch ist das universelle System der Naturerkenntnis für Cassirer nicht die einzige Form, in der sich Bedeutungsintentionen kohärent organisieren, denn »den ›Gedankenformen‹, in die das exakt-wissenschaftliche Begreifen die Welt der Phänomene einspannt, stehen Formen von anderer Prägung und anderer Sinnrichtung gegenüber«.15 Die transzendentale Kritik, und als eine solche versteht Cassirer seine Kulturphilosophie, dürfe sich »nicht auf jene intellektuelle ›Sublimierung‹ der Erfahrung, nicht auf den Oberbau der theoretischen Wissenschaft beschränken«.16 Um die Bedeutung der »vorwissenschaftlichen« oder »mythischen« und dennoch einheitlichen Bildungsgesetzen folgenden Weltsicht zu profi lieren, um auch eine »innere« Welt zum Gegenstand der Untersuchung machen zu können, setzt Cassirer die »Erfahrung« in der Philosophie der symbolischen Formen gelegentlich in Anführungszeichen17 oder gesellt der wissenschaftlichen Erfahrung im engeren Sinne in Anführungszeichen gesetzte Attribute wie »äußere«, »reine« oder »objektive« Erfahrung bei.18 Durch diese vorsichtige Distanzierung von der Verwendung des Begriffs der Erfahrung 19 im engeren kantischen Sinne weist er auf den einheitlichen, erfahrungsanalogen Charakter anderer als wissenschaftlicher Lesarten der Welt hin, ohne den Kantischen Begriff aufgeben zu müssen. Inneren Zusammenhang bzw. Systematizität des Weltauf baus weisen auch die nicht-wissenschaftlichen symbolischen Formen auf. Sie unterscheiden sich nur in der »Festigkeit der Fügung«.20 Doch auch die ›unorthodoxe‹ Verwendungsweise des Begriff s der Erfahrung, die sich bei Cassirer fi ndet, ist in gewisser Weise noch durch Kant legitimiert. In den Prolegomena erklärt dieser, was er meint, wenn er von Erfahrung in einem ECW 8, S. 293. ECW 13, S. 15 f. 16 Ebd., S. 12. 17 ECW 12, S. 12, 44, ECW 13, S. 15, 65, 90, 218, 233. 18 Ebd., S. 173, ECW 13, S. 39 f., 154. 19 Dieselbe Art, eine Distanz zu der traditionellen Verwendung von Begriffen aufzubauen, um Spielräume für Erweiterungen zu gewinnen, wurde bereits am Begriff der Form beobachtet. Siehe oben, Kapitel 2, Abschnitt b). 20 ECW 13, S. 136. 14

15

die philosophie der symbolischen formen

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anderen Sinne als dem systematischen spricht: »Wenn ich sage: Erfahrung lehrt mir etwas, so meine ich jederzeit nur die Wahrnehmung, die in ihr liegt«.21 Was den Urteilen der Wahrnehmung nach Kant fehlt, ist der kategorial verbürgte Zusammenhang. Sie sind nur subjektiv, nicht allgemein gültig und notwendig. Für Cassirer läßt sich der Gegensatz von »Wahrnehmungsurteil« und »Erfahrungsurteil« jedoch nicht aufrechterhalten, da jede Wahrnehmung einen »theoretischen Geltungscharakter« haben muß, um überhaupt bewußte Wahrnehmung sein zu können,22 und so verwendet er beispielsweise die Bezeichnungen »mythische Sicht« und »mythische ›Erfahrung‹« synonym. Die Wahrnehmung selbst ist für Cassirer gegliedert und steht immer bereits in Zusammenhängen. Erst diese Zusammenhänge machen Wahrnehmungen zu bestimmten Wahrnehmungen. Bereits Kant hatte die Wahrnehmung zwar eng an die Kategorien gebunden, da sie nur durch diese Ordnung mit unserem Bewußtsein verbunden sein können, damit aber den Begriff der Wahrnehmung verengt.23 Cassirer übernimmt diese Bindung von Kant, löst sie aber aus der Zuspitzung auf die Ordnung der wissenschaftlichen Erkenntnis. Zu diesem Zweck prägt er den Terminus der »symbolischen Prägnanz« der Wahrnehmung.24 »Prägnante Momente«, schreibt Cassirer im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen, sind Momente, »durch die das Gegebene über sich selbst erweitert« wird.25 Die erste ausführlichere Beschäftigung mit dem Begriff der Prägnanz hat, wie gezeigt, bereits im Goethekapitel in Freiheit und Form stattgefunden.26 Goethe 21 Prolegomena, Anm. zu § 22, in der von Konstantin Pollok herausgegebenen Ausgabe, Philosophische Bibliothek 540, Hamburg 2001, S. 72. 22 ECW 13, S. 10: »Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist keineswegs ausschließlich auf die Logik des wissenschaftlichen Denkens bezogen und auf sie eingeschränkt. Sie ist nicht nur die Bedingung für dieses Denken und für die Setzung und Bestimmung seines Gegenstandes, sondern die Bedingung ›auch jeder möglichen Wahrnehmung‹. So wahr die letztere selbst irgend etwas ›bedeuten‹, so wahr sie Wahrnehmung für ein Ich und Wahrnehmung von etwas sein will: so wahr muß sie an bestimmten theoretischen Geltungscharakteren teilhaben. Und es erscheint nunmehr als eine besondere Aufgabe der Erkenntniskritik, ebendiese Charaktere, die die Form des Wahrnehmungsbewußtseins als solchen ausmachen, aufzuzeigen und bloßzulegen. Der schematische Gegensatz zwischen ›Wahrnehmungsurteil‹ und ›Erfahrungsurteil‹, wie ihn noch die ›Prolegomena‹ – freilich mehr aus Gründen der Darstellung als aus solchen der Systematik – festhalten, ist damit im Prinzip überwunden.« 23 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3, Abschnitt c). 24 Allgemein zum Begriff der symbolischen Prägnanz vgl. J. M. Krois, der auf die Zentralität des Begriff s für Cassirer hingewiesen hat, Symbolic Forms and History, S. 52ff., und ders., »Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, S. 22–26, O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, der den facettenreichen Begriff ausführlich diskutiert (S. 69–125), aber auch Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst off enen Wissens, S. 115–121, die eine subtile Interpretation der symbolischen Prägnanz vorlegt. 25 ECW 11, S. 42. 26 Siehe oben, Teil I, Kapitel 2, Abschnitt f ). Der Blick ist jedoch bereits während seiner

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Teil II · Kapitel 1

bezeichnet seine Methode der Naturforschung, aber auch sein poetisches Verfahren als Suche nach einem »prägnanten Punkt«, von dem aus sich Formgesetze begreifen bzw. entwickeln lassen. Im Unterschied zu dem Verfahren der Variation, das Goethe in seiner Dichtung, aber auch in seiner Naturforschung anwendet,27 steht für Cassirer nun jede Wahrnehmung per se in »charakteristischen Sinnverbänden« 28. Wichtig ist ihm zu betonen, daß die Strukturierung der Wahrnehmung kein sekundäres Phänomen ist. Wie er bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff erläutert hat, bilden Gestalten und nicht atomisierte Sinnesdaten das Primäre der Wahrnehmung. Ihre Zerlegung in einzelne Sinneseindrücke ist ein nachträglicher, analytischer Akt.29 Gestalten sind von Ordnungen abhängig, innerhalb deren sie wahrgenommen werden. Der Begriff der symbolischen Prägnanz, den Cassirer im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen ausführlich erläutert, bringt dies zum Ausdruck: »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß ›perzeptive‹ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ›apperzeptive‹ Akte aufgepfropft würden, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ›im‹ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier

Leibnizstudien auf dessen Begriff des »praegnans futuri« gefallen, den er im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen auch zur Erläuterung anführt. (ECW 13, S. 231.) 27 Das Verfahren der Variation, in dessen Kontext der Begriff des prägnanten Punktes steht, ist im Sinne eines eigenständigen Aktes zu verstehen. Die ebenfalls in diesem Kontext in Freiheit und Form, aber auch andernorts häufi g zitierte Wendung Goethes, »daß wir bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren«, mit der Goethe andeutet, daß jeder »aufmerksame Blick« bereits eine Integration des Gesehenen leistet, meint aber nichts anderes als »bewußte« oder »bestimmte« Wahrnehmung. 28 ECW 13, S. 221 f. 29 Vgl. oben, Teil I, Kapitel 1, Abschnitt f ). Cassirer konstatiert in ECW 13, S. 29, daß psychische Gebilde unzerlegte Ganzheiten sind, die eine Gestalt- oder Komplexqualität haben. Siehe auch S. 31: »Die Ganzheit der psychischen Gebilde läßt sich nicht derart zerlegen, daß neben der Ganzheitsform und außerhalb ihrer noch ein amorphes Etwas, als Substrat derselben, aufgewiesen werden kann. Gelänge es, ein solches Substrat bloßzulegen, so hätte es mit diesem Akt der Bloßlegung, der Isolierung auch seine Bedeutung, die ihm nur als Moment innerhalb einer gegliederten Sinneinheit zuteil werden kann, eingebüßt – und dieser Verlust der Bedeutsamkeit würde zugleich den Verlust seiner eigentlichen, seiner ›psychischen‹ Realität in sich schließen.«

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und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ›Prägnanz‹ bezeichnen.« 30 Wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. Erfahrung im engeren Sinne, entsteht durch die Betrachtung eines Phänomens im Hinblick auf den Sinnverband der Wissenschaft. Aber auch jede andere Weltsicht entsteht durch »Teilhabe« an einem spezifischen, »symbolische Form« genannten Sinnganzen.31 Diese »Sinnverbände« sind jedoch – ebenso wie die Kantische Erfahrung – keine geschlossenen Ordnungen, sondern Richtungen, heuristische Fiktionen. Ein »Sinnganzes« formt die Sichtweise auf Phänomene, wird aber auch durch Phänomene geprägt. Cassirer verwendet den Begriff der »Integration«, um das Verhältnis zwischen einzelnem Phänomen und Deutungshorizont zu erläutern: »Das Bewußtseinselement verhält sich zum Bewußtseinsganzen nicht wie ein extensiver Teil zur Summe der Teile, sondern wie ein Differential zu seinem Integral. Wie in der Differentialgleichung einer Bewegung diese selbst ihrem Verlauf und ihrem allgemeinen Gesetz nach ausgedrückt ist, so müssen wir die allgemeinen Strukturgesetze des Bewußtseins schon in jedem seiner Elemente, in jedem Querschnitt von ihm mitgegeben denken – jedoch nicht mitgegeben im Sinne von eigenen und selbständigen Inhalten, sondern von Tendenzen und Richtungen, die schon im Sinnlich-Einzelnen angelegt sind. Alles ›Dasein‹ im Bewußtsein besteht eben darin und ist nur dadurch, daß es alsbald in solchen verschiedenartigen Richtungen der Synthesis über sich hinausgeht. Wie das Bewußtsein des Augenblicks schon den Hinweis auf die Zeitreihe, das Bewußtsein einer einzelnen räumlichen Stelle schon den Hinweis auf ›den‹ Raum als Inbegriff und Allheit der möglichen Lagebestimmungen in sich schließt, so waltet allgemein eine Fülle von Beziehungen, durch welche im Bewußtsein des Einzelnen zugleich die Form des Ganzen ausgedrückt ist. Nicht aus der Summe seiner sinnlichen Elemente (a, b, c, d …), sondern gleichsam aus der Gesamtheit seiner Beziehungs- und Formdifferentiale (dr1, dr2, dr3 …) baut sich das ›Integral‹ des Bewußtseins auf. Die volle Aktualität des Bewußtseins bringt nur das zur Entfaltung, was der ›Potenz‹ und der allgemeinen Möglichkeit nach schon in jedem seiner Sondermomente beschlossen liegt.« 32 Cassirer spricht von einer »Integration zum Ganzen«, nicht »in ein Ganzes«, und hebt so die Interdependenz von Integral und Differential hervor. Beide bedingen sich wechselseitig.33 30 ECW 13, S. 230 f. Vgl. zum Wahrnehmungsbild, das sich selbst auseinanderlegt, auch oben, Teil I, Kapitel 2, Abschnitt f ). 31 Vgl. ECW 13, S. 233. 32 ECW 11, S. 38f. 33 Ebd., S. 42. Ch. Schmitz-Rigal erläutert den Zusammenhang Integral/Differential bei Cassirer überzeugend im Zusammenhang ihrer Interpretation der Epistemologie Cassirers als »Kunst offenen Wissens«: »Von jeder beliebigen Einzelbestimmung kann zum Ganzen übergegangen werden – und umgekehrt. Um diesem entscheidenden, holistischen Zug des Bewußtseinsphänomens auch begriffl ich gerecht zu werden, verwendet Cassirer die aus der Leibnizschen Infi nitesimalanalysis stammenden Ausdrücke des ›Differentials‹ und ›Integrals‹. Sie haben den

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Der Terminus »symbolische Prägnanz« bringt die These der Untrennbarkeit von Form und Materie sowie der Formung durch Integration, die Cassirers Werk in diversen Kontexten durchzieht, auf den Begriff. Das einzelne »Wahrnehmungserlebnis« oder auch die »bloße Empfi ndung« entspricht hierbei der »Materie«, die Form dem »nicht-anschauliche Sinn« – beide sind nur analytisch differenzierbare Momente einer Einheit. In der Philosophie der symbolischen Formen erläutert Cassirer die Ursprünglichkeit dieser Korrelation anhand des Phänomens des »Ausdrucks« und sucht die Bestätigung für seine Interpretation in der klinischen Beobachtung.34 »In dem reinen Phänomen des Ausdrucks, in der Tatsache, daß eine bestimmte Erscheinung in ihrer einfachen ›Gegebenheit‹ und Sichtbarkeit sich zugleich als ein innerlich Beseeltes zu erkennen gibt, stellt sich uns die Art, wie das Bewußtsein, rein in sich selbst verbleibend, zugleich eine andere Wirklichkeit erfaßt, zuerst und unmittelbar dar. Woher diese Tatsache selbst stammt und wie sie zu erklären ist: diese Frage kann hier nicht mehr gestellt werden; denn ihre Lösung müßte sich notwendig in einem Zirkel bewegen. Wie ließe sich auch das schlichte Ausdrucksphänomen aus etwas ihm selber Transzendentem begreifen und ableiten, da es doch vielmehr das Vehikel ist, das uns zu jeglicher Art von ›Transzendenz‹, von Realitätsbewußtsein erst hinleitet?« 35 In diesem Zusammenhang defi niert Cassirer seinen Begriff des Symbolischen. Er umfaßt »das Ganze jener Phänomene […], in denen überhaupt eine wie immer geartete ›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen sich darstellt – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und Soseins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt.« 36 Der »Ausdruck« ist ein Gegebensein von Sinn; Ausdrucksphänomene sind Erscheinungen, die einen bestimmten Charakter haben, beispielsweise ein Gesichtsausdruck, aber auch, und darum wird es später noch einmal ausführlich gehen, »die »Transparenz des Sinnlichen […], die jeder ästhetischen Anschauung als solcher innewohnt«,37 ist ein Ausdrucksphänomen. Ausdruck und Ausdrucksverstehen sind für Cassirer Urphänomene und Urbilder von Zusammenhängen.38 Das Ausdrucksphänomen bildet das Paradigma für Vorteil, von vorneherein keine Entitäten, sondern vielmehr die jeweiligen Resultate spezifi scher Operationen anzuzeigen, die einmal die Bestimmung des Details und ein andermal die Bestimmung des Ganzen zum Ziel haben.« (Die Kunst off enen Wissens, S. 125). 34 In dem Kapitel zur »Pathologie des Symbolbewußtseins« des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen stützt Cassirer seine Thesen zur symbolischen Prägnanz durch Beobachtungen an Aphasie- und Agnosiekranken, die er bei seinem Cousin, Kurt Goldstein, in dessen Frankfurter Klinik gemacht hat. Die Störungen, die er bei den Kranken beobachtet, deutet er u. a. als »›Aggramatismus‹ der Wahrnehmung« (ECW 13, S. 275). 35 ECW 13, S. 104. 36 Ebd., S. 105. 37 »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, in: ECW 17, S. 260. 38 ECW 13, S. 82 und 113. Vgl. zum Ausdrucksphänomen u. a. O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 71–79.

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alle Arten symbolischer Relation.39 Cassirer begreift ihn sowohl als eigenständiges Phänomen, aber auch als eine »Sinnschicht«, die weiteren Formungen zugrunde liegt. Die Ausdrucksdruckswahrnehmung ist einerseits das »psychologisch Frühere«, andererseits »eine eigene ›Wesenheit‹, die sich nicht durch Kategorien, die für die Bestimmung ganz anderer Seins- und Sinnregionen gelten, beschreiben, geschweige durch sie ersetzen läßt«.40 Ohne diese primäre Gliederung der Wahrnehmung könnte es keine weitere Deutung geben.41 »Würde die Wahrnehmung nicht ein ursprünglich symbolisches Element in sich schließen«, so würde keine Zeichensprache einen Halt und Ansatz fi nden.42 Alle Symbolisierungsakte des Menschen haben ihren Ursprung in der sich selbst gliedernden Wahrnehmung. Im Begriff der Wahr-nehmung steckt bereits das aktivische Moment der Differenzierung: Cassirer akzentuiert »Wahrnehmung« als ein »Für-wahr-Nehmen« und weist damit auf die Selektion, die an der Masse der Eindrücke vollzogen wird, hin.43 Die prägnante Wahrnehmung ist eine »Einheit des Blickes«, schließt eine »Intuition des Ganzen« ein und führt zu einer »assertorischen Setzung«.44 Bereits in Kants Leben und Lehre hat Cassirer die als »Verstand« bezeichnete Komponente der Formgebung in einem weiteren Sinne als Kant gefaßt und als das Vermögen der »Grenzsetzung« defi niert. Er sei dasjenige, »was die stetige Tätigkeit des Vorstellens selbst ›zum Stehen bringt‹ und was ihr zum Umriß eines bestimmten Bildes verhilft«.45 Auf diese Defi nition kann die Bestimmung der prägnanten Wahrnehmung als »Setzung« zurückgreifen. Grenzsetzung ist mit Cassirer als ein relationales Phänomen zu betrachten. Sie schließt etwas innerhalb einer Grenze zusammen und setzt es in ein Verhältnis zu einem Außerhalb der Grenze: »Jede Grenzsetzung setzt in der Scheidung, die sie vollzieht, zugleich eine ursprüngliche Verknüpfung

39 Vgl. dazu P. Fischer, »Ausdruck als Paradigma der ›Sinnerfüllung des Sinnlichen‹. Zur Grundlegung der Kulturphilosophie nach Ernst Cassirer«, in: Philosophische Rundschau, 1999/4, 284. 40 ECW 13, S. 89. 41 In der Studie »Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung« des 1942 veröffentlichen Bandes Zur Logik der Kulturwissenschaften differenziert Cassirer zwei Arten der Wahrnehmung, die sich in der »Grund- und Urschicht aller Bewußtseinsphänomene« fi nden lassen: Die eine, die Dingwahrnehmung, weist eine Richtung auf ein »Es« auf, die andere, die Ausdruckswahrnehmung, eine Richtung auf ein »Du« (S. 39). Diese Differenzierung der prägnanten Wahrnehmung fi ndet sich bereits in der Philosophie der symbolischen Formen – vgl. ECW 13, S. 137f., und unten, Kapitel 2, Abschnitt h). Die Erläuterung der Ausdruckswahrnehmung führt jedoch aufgrund der unmittelbaren Sinnerfüllung des Sinnlichen auf direkterem Wege zu seinem Symbolbegriff. 42 ECW 13, S. 267. 43 ECW 12, S. 42. 44 ECW 13, S. 277. Zur Entwicklung des Begriff s der Intuition bei Cassirer vgl. auch oben, Teil I, Kapitel 1, Abschnitt b), und Kapitel 2, Abschnitt e). 45 ECW 8, S. 303 f. Vgl. auch oben, Teil I, Kapitel 3, Abschnitt d).

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des Getrennten […] voraus.«46 Grenzen, Umgrenzungen trennen und verbinden zugleich, indem sie bestimmte Bezirke konstituieren und herausheben. Am Begriff und der Etymologie des »templum« als eines »Ausschnittes«, durch den ein religiöses Zentrum geschaffen und eine sakrale Gliederung eingeleitet wird, hat Cassirer die Bedeutung der »Grenze« in der Philosophie der symbolischen Formen anschaulich erläutert.47 Die prägnante Wahrnehmung setzt Grenzen, denn die Formung einer Gestalt ist als Grenzsetzung zu verstehen. »Form ist Grenze«, schreibt Cassirer in der Metaphysik der symbolischen Formen, »ist somit Besonderung und Abhebung, ist Behauptung irgend eines eigenen Seins-Bestandes, der als selbständige Einheit sich aus dem stetigen Werden herauslöst.«48 In diesem Sinne ist bereits das Ausdrucksphänomen eine Setzung, wenngleich die Möglichkeit der Distanzierung oder, mit Warburg, »der Denkraum der Besonnenheit«49 erst dann entsteht, wenn der Ausdruck zur Darstellung übergeht.50 Die primären Setzungen der Wahrnehmung bilden die Grundlage der Objektivierung in einem Symbol, in einer symbolischen Ordnung. Doch erst diese bewirkt die Orientierung schaffende »Urteilung« und ermöglicht es, Erscheinungen als »Erfahrungen« zu lesen.

c) Begriff und Funktion der symbolischen Form In seiner Kantmonographie hat Cassirer die Verschiedenartigkeit der später »symbolisch« genannten Zusammenhänge oder Ordnungen anhand von Kants »transzendentalem Formbegriff« erläutert. Über diesen lasse sich der Weg nachvollziehen, auf dem Kant von der Form der theoretischen zu derjenigen der praktischen Philosophie gelange: »Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ hat festgestellt, daß die Objektivität der Erkenntnis nicht in den materialen sinnlichen Daten, nicht in dem ›Was‹ der einzelnen Empfi ndungen gegründet werden kann. Die Empfi ndung ist vielmehr nur der Ausdruck für den von Moment zu Moment wandelbaren Zustand der einzelnen Subjekte; sie macht das schlechthin Zufällige, von Fall zu Fall, von Subjekt zu Subjekt Verschiedene und somit in keiner eindeutigen Regel Bestimmbare aus. Wenn aus solchen unendlich-differenten Zuständlichkeiten Urteile von allgemeingültigem Wahrheitsgehalt werden, wenn die zunächst gänzlich unbestimmten Erscheinungen als Erfahrungen lesbar werden sollen, so wird erfordert,

ECW 8, S. 122. Vgl. zur Grenzsetzung als wechselseitiger Bestimmung Ch. SchmitzRigal, Die Kunst off enen Wissens, S. 116 f. 47 Vgl. ECW 12, S. 117 ff ., 126 ff ., sowie ECW 13, S. 170. 48 »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, in: ECN 1, S. 10. 49 Vgl. A. Warburg, »Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten«, in: ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von D. Wuttke, (= Saecula spiritalia 1), Baden-Baden 1979, S. 267. 50 Vgl. O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 79. 46

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daß es bestimmte Grundarten der Verknüpfung gebe, die, als solche unveränderlich, die objektive Einheit der Erkenntnis herstellen und somit ihren ›Gegenstand‹ erst ermöglichen und begründen. Diese fundamentalen Synthesen waren es, die die kritische Theorie als die ›Formen‹ der reinen Anschauung, als die ›Formen‹ der reinen Verstandeserkenntnis usf. entdeckte und heraushob. Die Einführung des ethischen Problems steht für Kant mit diesem Grundgedanken in genauester Analogie.« 51 In derselben Analogie stehen auch die symbolischen Formen Cassirers, auch er erweitert das Anwendungsgebiet der transzendentalen Methode über den Begriff der Form. »Fundamentale Synthesen« – oder »synthetische Einheiten« – liegen allen symbolischen Formen zugrunde. »Erscheinungen« werden nach »fundamentalen Synthesen« buchstabiert, um sie beispielsweise als mythische »Erfahrungen« »lesen zu können«. Auch in dem Nachlaßtext Zur Metaphysik der symbolischen Formen von 1928, in dem Cassirer die Möglichkeit einer Zusammenschau der erarbeiteten symbolischen Formen diskutiert, schreibt er, daß die symbolischen Formen nach ihren »eigentümlichen ›Kategorien‹« befragt werden müssen, sucht aber den Anschluß nicht mehr bei der Kantischen Dreiteilung der »theoretischen, der praktischen und der ästhetischen Sinngebung«, weil sein Begriff des Theoretischen sich inzwischen erweitert hat. Sprache, Mythos und Wissenschaft begreift er als verschiedene Formen des »theoretischen Verhaltens zur Welt«.52 Bevor jedoch im nächsten Abschnitt die spezifi schen Differenzen der symbolischen Formen anhand der Modalitäten von »Kategorien« thematisiert werden, geht es nun um den allgemeinen Begriff der »symbolischen Form«, seine Defi nition, näheren Bestimmungen und Funktionen. Eine symbolische Form ist (wie Goethes Urpflanze) nicht in einer Anschauung gegeben. Sie ist wie diese eine Idee oder ein »Integral«, nur »im Reflex, in ihrem Spiegelbild« 53 oder am »farbigen Abglanz« (Goethe) bzw., im Idiom Cassirers, im Differential zu betrachten. Wie die Kantischen Ideen haben auch die symbolischen Formen Cassirers »praktische« Bedeutung. Sie sind selbst keine Erkenntnisse, sondern stellen »Faktor[en] im Auf bau des synthetischen Bewußtseins« 54 dar. Cassirer bestimmt die symbolischen Formen auch als »Haltungen«.55 Die zu-

ECW 8, S. 230 f. Hervorh. M. L. »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, in: ECN 1, S. 3–5. Der Versuch einer Synthese der symbolischen Formen mündet schließlich im Spätwerk in der Bezeichnung des Menschen als »animal symbolicum«. Der Mensch ist die »energeia«, die sich in keinem »ergon« erschöpft. Vgl. dazu M. Ferrari, »Metafi sica delle forme simboliche. Note su Cassirer inedito«, in: Rivista di storia della fi losofi a, 1995/4, S. 830. 53 Cassirer stellt einen Bezug zwischen seiner Konzeption der symbolischen Form (am Beispiel des Mythos bzw. der Religion) und dem Platonischen Höhlengleichnis her. Siehe ECW 12, S. 294–296. 54 ECW 11, S. 95. 55 »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«, in: ECW 16, S. 99. 51

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nächst verwirrend klingende Defi nition, die Cassirer in dem Vortrag »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaft« gibt – »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird« 56 –, kündigt an, daß er unter »Form« keine Entität, sondern eine Aktivität versteht. Obwohl er Kulturgebiete untersucht, begreift er sie nicht statisch, sondern prozeßorientiert. Sie entwickeln sich aus einander und kommen in keiner Form zum Abschluß. Es ist eins der wesentlichen Charakteristica von Cassirers Kulturphilosophie, daß er an bestimmten Konstanten menschlicher Wahrnehmung und Darstellung festhält, sie aber dennoch hinreichend variabel defi niert, daß sie der Dynamik der Kulturentwicklung gerecht werden können. Christiane Schmitz-Rigal spricht aus diesem Grund von einer Philosophie der symbolischen Formung anstelle einer Philosophie der symbolischen Formen.57 Insbesondere die Diskussion um den Werkbegriff bzw. Ereignisbegriff der Kunst im zweiten Teil dieser Arbeit wird die symbolische Form als Skizze oder Rahmendatum verdeutlichen, das keine Bewegung zum Abschluß bringt, sondern zahlreiche weitere eröff net. Der Begriff der »inneren Form« Shaftesburys, den Cassirer in Freiheit und Form erwähnt und der seines Erachtens den Weg zur Autonomie der ästhetischen Form bahnt, wird an »bildende Energien« (formative powers) gebunden; 58 in Idee und Gestalt bestimmt Cassirer Ideen allgemein als »Kraft der Gestaltung und Formgebung«59. Den Begriff der »Energie« im Sinne von »geistiger Energie« übernimmt Cassirer von Humboldt, der die »energeia« der Sprache dem »ergon« gegenüberstellt, den Begriff der Kraft von Leibniz.60 Zugleich verweist der Begriff der symbolischen Form auf Kulturgebiete oder -dimensionen, auf eine offene Gruppe von Phänomenen, die durch »immanente Strukturgesetzlichkeiten« 61 verbunden sind. Bereits in der Diskussion von Freiheit und Form wurde deutlich, daß der Formbegriff bei Cassirer immer zwei Aspekte miteinander verbindet: formbildende Kräfte und geformte Strukturen oder Ge-

Ebd., S. 79. Vgl. Ch. Schmitz-Rigal, »Modi des Symbolischen und plurale Sinnwelten. Zum Verhältnis der Symbolischen Formen Ernst Cassirers«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/3, 2004, S. 249–261, bes. S. 251. 58 Siehe dazu oben, S. 70, Anm. 201. 59 Vgl. das Vorwort zur ersten Aufl age von Idee und Gestalt, in: ECW 9, S. 619. 60 Vgl. den Aufsatz »Goethe und die mathematische Physik«, in: ECW 9, S. 302, und den Aufsatz »Die Kantischen Elemente in Humboldts Sprachphilosophie«, in: ECW 16, S. 105–133, bes. S. 123. B. Recki macht auf eine weitere (und ich möchte hinzufügen: ästhetische) Quelle des Begriff s der bildenden Energien oder Prinzipien Cassirers aufmerksam. Vgl. Teil I, Kapitel 2, Abschnitt c), Anm. 187. 61 ECW 12, S. 4. 56 57

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stalten.62 Er bestimmt die symbolischen Formen als »ideelles Ganzes«, als »geistige Einheiten des Sinns« und untersucht sie in teleologischer Hinsicht: »als eine Zielrichtung, der das Bewußtsein im Auf bau der geistigen Wirklichkeit folgt«.63 Der Begriff des Stils erwies sich in den ästhetischen Reflexionen Cassirers als dasjenige Element, das die beiden Perspektiven – diejenige, die Formkräfte in den Blick nimmt, und diejenige, die nach Formgesetzen fragt – vereint. Der Stilbegriff kennzeichnete in diesem Zusammenhang die individuelle Konstellation von Formkräften und ihren Ausdruck in der spezifi schen Verfaßtheit eines Kunstwerks.64 Mit dem Begriff der symbolischen Form wird diese Kraft-Gesetz-Dublette über die Kunst hinaus auf alle Bereiche menschlicher Kreativität ausgeweitet und die Dynamik der geistigen Formung gekennzeichnet, die sich zwischen der Anwendung von Strukturgesetzen und ihrer Überschreitung bewegt. Darauf, daß Cassirer seine wichtigsten Begriffe selten und nur in sehr allgemeiner Form defi niert, ist in der Forschung des öfteren hingewiesen worden. Die prägnanteste Formulierung dieses vermeintlichen Mangels dürfte von Susanne K. Langer stammen, die in den Philosophical Sketches schreibt: »But this symbol concept, as it emerges in us, in the course of work – which, after all, is the most authentic source of all concepts – cannot be defi ned in terms of denotation, signification, formal assignment, or reference. The proof of a pudding is in the eating, and I submit that Cassirer’s pudding is good; but the recipe is not on the box.« 65 Es ist nicht Cassirers Anliegen, die Ingredienzen des Puddings detaillierter anzugeben, denn niemand wird einen symbolischen Pudding in einer symbolischen Form kochen können. Cassirer bestaunt das Wunder, »daß diese einfache sinnliche Materie durch die Art, in der sie betrachtet wird, ein neues und vielgestaltiges geistiges Leben gewinnt«.66 Da er die Fähigkeit des Menschen zum symbolischen Ausdruck als ein Urphänomen betrachtet, das zu analysieren zwecklos ist, empfiehlt er, die symbolische Form »in einem rein funktionalen« statt im »substantiellen Sinne« zu verstehen.67 Am Beispiel der Sprache verdeutlicht Cassirer, daß jede symbolische Form durch einen funktionalen Zusammenhang gekennzeichnet ist: »[I]m wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als ›die‹ Sprache, kann man nur die Funktion und deren allseitige, 62 Zur »Doppeldeutigkeit« des Begriff s der symbolischen Form vgl. auch E. W. Orth, »Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart«, zuerst erschienen in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40 (1992), wieder abgedruckt in: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 2–25, bes. S. 2 f. und 24 f., sowie B. Recki, Kultur als Praxis, S. 19–29, die begründet, warum der Begriff der Kultur per se verschiedene Dimensionen umfaßt. Sie versteht den Begriff der Kultur als eine Idee der praktischen Vernunft. 63 ECW 12, S. 25. 64 Siehe oben, Teil I, Kapitel 2, Abschnitt d). 65 S. K. Langer, Philosophical Sketches, Baltimore 1962, S. 58f. 66 ECW 11, S. 25. 67 ECW 13, S. 239.

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von bestimmten Gesetzen beherrschte Ausübung als dasjenige ansehen, was ihre Substantialität, ihren ideellen Bestand ausmacht.« 68 Die überwiegend funktionale Bestimmung der symbolischen Form, die im folgenden kurz zusammengefaßt werden soll, ist kein Mangel der Cassirerschen Theorie, sondern die konsequente Fortschreibung der Ablösung des »Substanzbegriff s« durch den »Funktionsbegriff«, die er 1910 in seinen Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik dargelegt und begründet hat.69 Durch die Vermittlung von Symbolen löst sich das Bewußtsein aus der »passiven Befangenheit im sinnlichen Eindruck« und schreitet »zur Schaff ung einer eigenen, nach einem geistigen Prinzip gestalteten ›Welt‹« fort.70 »Diese Gewinnung der ›Welt als Vorstellung‹ ist […] das Ziel und der Ertrag der symbolischen Formen – das Resultat der Sprache, des Mythos, der Religion, der Kunst und der theoretischen Erkenntnis.«71 Die ›Welt als Vorstellung‹ setzt sich nicht aus Eindrücken zusammen, die das Bewußtsein erleidet, sondern ist das Ergebnis geistiger Aktionen. Sie ist eine Welt des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung, kein Abbild eines gegebenen Seins, denn es gibt das Sein für das Bewußtsein vor seiner Setzung in einem objektiven Medium nicht als ein unabhängiges Sein. »Erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des Geistes an«.72 Wie gezeigt, faßt Cassirer den Begriff des Geistigen weit. In den Bereich der menschlichen Spontaneität gehört nicht nur das begriffl iche Denken, sondern auch das Gefühl,73 das für Cassirer nicht allein die Grundlage alles Geistigen bildet,74 sondern im Symbolisierungsgeschehen ebenso gestaltende Funktionen wie der Verstand hat.75 Die entscheidende Leistung der symbolischen Form liegt für Cassirer darin, daß durch sie die Grenze zwischen Ich und Wirklichkeit erst gesetzt – und zwar durch jede symbolische Form verschieden gesetzt wird.76 Die Welt des »Innen« und des »Außen« besteht nicht vor einer durch Zeichen vermittelten Setzung. Erst durch

ECW 11, S. 104. Vgl. auch das Vorwort zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen, ECW 11, S. VII. 70 ECW 12, S. 16 f. Vgl. auch ECW 11, S. 18: Die symbolischen Formen sind ein »geistiges Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfi ndungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht«. 71 ECW 13, S. 320. 72 »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«, in: ECW 16, S. 104. 73 Vgl. ECW 11, S. 88. Siehe auch oben, Teil I, Kapitel 4, Abschnitt e), und Kapitel 2, Abschnitt g). 74 Vgl. ECW 12, S. 112 und 205. 75 Vgl. hierzu auch O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 134 f., und B. Recki, Kultur als Praxis, S. 92 ff. 76 Vgl. ECW 12, S. 182. 68 69

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die Bildung eines objektiven »Gegenstandes« werden Außen und Innen einander gegenübergestellt, und es bildet sich die Vorstellung eines empirischen Ichs und einer Außenwelt. Die Pole Subjekt/Objekt werden durch die Objektivierung eines Eindruckes in einer sinnlichen Form auseinandergehalten,77 und zugleich entsteht eine Beziehung, eine Korrelation zwischen Ich und Wirklichkeit, zwischen der ›subjektiven‹ und der ›objektiven‹ Sphäre.78 Die symbolischen Formen »treten zwischen uns und die Gegenstände; aber sie bezeichnen damit nicht nur negativ die Entfernung, in welche der Gegenstand für uns rückt, sondern sie schaffen die einzig mögliche adäquate Vermittlung und das Medium, durch welches uns irgendwelches geistiges Sein erst faßbar und verständlich wird«.79 Durch diese Erklärung wird verständlich, was Cassirer mit der bereits erwähnten Formulierung der »Verbindung durch Trennung« als Grundfunktion der symbolischen Formen meint, die er aus Goethes Wahlverwandtschaften übernimmt und in Variationen immer wieder zitiert.80 Die Gewinnung der »Welt der Vorstellung« betrachtet Cassirer als eine Befreiung: Die Äußerung von Lauten, die Bildung von Sprache stellt einen Ausweg aus der sinnlichen Erregung dar, die Fähigkeit, den »Dingen« einen Namen zu geben, sich von der Übermacht von Eindrücken zu befreien, bannt Schrecken. Doch nicht nur die Sprache hat diese Funktion. Insbesondere die Gestaltungen des mythischen Denkens entlasten den Menschen und ermöglichen ihm einen Umgang mit Phänomenen, die er als übermächtig empfi ndet. Aber auch die Kunst schaff t den »Denkraum der Besonnenheit«, ein »Reich geistiger Freiheit«.81 Durch die Bindung an Zeichen lichtet sich das Chaos der sinnlichen Eindrücke: »Nur indem wir dem fl ießenden Eindruck, in irgendeiner Richtung der Zeichengebung, bildend gegenübertreten, gewinnt er für uns Form und Dauer.« 82 Die Symbole unterbrechen den ständigen Wechsel der Bewußtseinsinhalte und ermöglichen klare Vorstellungen, die sich nach Leibniz, an dessen Zeichentheorie Cassirer, wie bereits erläutert, anschließt, dadurch auszeichnen, daß das Vorgestellte abgegrenzt und unterscheidbar wird.83 Aus dem Fluß des Bewußtseins wird etwas herausgehoben

Vgl. Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, ECN 2, S. 5f. Vgl. ECW 12, S. 165. 79 »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«, in: ECW 16, S. 80. 80 Siehe oben, Teil I, Kapitel 4, Abschnitt c). 81 Siehe Cassirers Nachruf auf Aby Warburg, in: ECW 17, S. 368–374. Zur Differenz in der Bestimmung des »Denkraums« bei Cassirer und Warburg vgl. M. Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, Baden-Baden 1985, und M. Ferrari, Ernst Cassirer, Kapitel 8: Eine ›gef ährliche‹ Bibliothek, S. 207–247. 82 ECW 11, S. 41. 83 Siehe oben, Teil I, Kapitel 1, Abschnitt b) und c). 77 78

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und mit einem »Merkzeichen« versehen.84 Diese Kennzeichnung ist die Bedingung von Erinnerung, denn erst durch das Symbol wird der Bezug auf etwas nicht unmittelbar sinnlich Gegebenes ermöglicht.85 Die Funktion symbolischer Formen geht jedoch über die Identifi zierung und Fixierung einzelner Vorstellung hinaus, denn Identifi zierung ist stets ein kontextuelles Geschehen. Wie O. Schwemmer mit dem Begriff der »Relationierung« und der »Verknüpfungsstruktur des Bewußtseins« hervorhebt 86 und wie bereits die Darstellung der »symbolischen Prägnanz« gezeigt hat, gliedert sich ein Einzelnes, sofern und indem es Bedeutung erlangt, in einen Ordnungszusammenhang ein – den Cassirer »symbolische Form« nennt. »Die Fixierung zur Form«, so Schwemmer, »wird durch ihre Relationierung – ihre Verknüpfung mit anderen Formen, ihre Einbettung in das Verweisungsgefüge des Bewußtseins – erreicht. Die Verknüpfung mit anderen Formen ist ihre Fixierung zu einer identifizierbaren, weil vergleichbaren oder überhaupt ›bezüglichen‹ Form.« »Formwerdung«, faßt Schwemmer zusammen, »besteht darin, daß ein Geschehen zum Element in einer Formwelt, einer Welt der wechselseitigen Verweisungen, wird.« 87 Die Einheit dieser Formwelten denkt Cassirer analog zu der Kantischen Einheit der Erfahrung. Alle symbolischen Formen bauen sich mit fortschreitender »Erfahrung« auf und machen »Erfahrung«, d. h. Orientierung in einer organisierten Welt, möglich. Symbolische Formen sind werdende Formen.88 »Was die Sprache, was der Mythos, was die Kunst ›ist‹ – das tut sich uns erst dann auf, wenn wir sie in ihrem Werden betrachten.« 89 Symbolische Formen sind ›Medien‹ in dem großen Prozeß der Auseinandersetzung von Ich und Welt; sie sind keine »Seinsformen«, sondern »Bewegungsformen« und daher nicht als statische, sondern als dynamische Formen zu fassen. Eine Form, die sich nicht mehr verändert, kann keine lebendige Bedeutung im Kulturprozeß haben und landet auf dem musealen Abstellgleis der Geschichte. Für Cassirer gehören die systematische Perspektive auf Phänomene und die genetische somit zusammen. Dies ist (neben der erwähnten funktionalen Betrachtungsweise) ein weiterer Grund, warum er äußerst sparsam mit Defi nitionen

Vgl. ECW 12, S. 111. Zu den allgemeinen Funktionen der symbolischen Formung vgl. vor allem O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 79–83, der sie als Fixierung, Relationierung, Homogenisierung und Kontinuisierung zusammenfaßt. 86 Ebd., S. 81. 87 Ebd., S. 82 f. 88 Insbesondere Ch. Schmitz-Rigal hat in Die Kunst off enen Wissens auf die Historizität der symbolischen Formen hingewiesen. Innerhalb der Cassirerschen Symbolphilosophie sei jede Form von Apriori funktional und als Leistung eines Ordnungsgeschehens zu betrachten, nicht als starre Vorgabe. M. Ferrari geht diese Liberalisierung zu weit: vgl. seine Rezension des Buches im Philosophischen Literaturanzeiger 57/4, 2004, S. 339 f. 89 Siehe das Manuskript Mythos, abgedruckt in ECN 3, S. 175. Das Entstehungsdatum des Manuskriptes ist ungewiß. Die Herausgeber des Bandes datieren es auf nach 1936. 84 85

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umgeht und immer wieder auch den ideen- und philosophiehistorischen Zugang wählt.90 Darüber hinaus sind die Entwicklungslinien symbolischer Formen nicht voneinander zu trennen. Neben der Sprach-, Kunst-, und Wissenschaftsgeschichte hat Cassirer den genetischen Zusammenhang von Kulturgebieten im Blick. Die Ideen- und Kulturgeschichte zeigt, daß symbolische Formen sich aus einander entwickeln – die Konzeption der Entwicklung der Religion und der Kunst aus dem Mythos sind Beispiele dafür 91 –, und sie entwickeln sich miteinander, wie Cassirers Renaissancestudien hinsichtlich der gegenseitigen Förderung von Kunst und Wissenschaft belegen. Strikt voneinander trennen lassen sich symbolische Formen nicht 92 – gerade weil sie in Entwicklung sind. Sie durchdringen einander. Insbesondere am Beispiel der Sprache, die an verschiedenen »Haltungen« teilhat,93 macht Cassirer dies deutlich. Gleichwohl hält er an einer »inneren Form« 94 oder »inherent faculty« 95 jeder symbolischen Form fest. Jede einzelne verfügt über eine »eigentümliche Leistung« und einen »spezifi schen Sinn«.96 E. W. Orth hat in dem Aufsatz »Cassirers Philosophie der Lebensordnungen«, in: Ernst Cassirer. Geist und Leben, hg. von E. W. Orth, Leipzig 1993, (im folgenden zitiert als GL), S. 17, die prägnante These vertreten, daß Cassirer die Konzeption der symbolischen Form erfi nden mußte, »um das Problem der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte – oder auch der Geschichtlichkeit und Kulturhaftigkeit der Philosophie und der Wissenschaften – zu bewältigen«, diese Erfi ndung andererseits nur möglich war, »weil die Kulturentwicklung selbst, die immer schon nach dem Modell der symbolischen Formung verläuft, eben die Formulierung dieses Modells aus sich hervortreibt«. Die historischen Arbeiten Cassirers legen diesen Schluß in der Tat nahe: Cassirer erschreibt sich in seinen philosophie- und ideengeschichtlichen Studien das Material, das er in der Philosophie der symbolischen Formen systematisiert. 91 Auf das möglicherweise hegelianische Entwicklungsschema kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. z. B. für das Verhältnis von Mythos und Religion ECW 12, S. 275 f. Während Cassirer bis zur Philosophie der symbolischen Formen die Kulturgeschichte vor allem als einen Befreiungsprozeß konzipiert, nimmt er, wie bereits im Baumgartenkapitel des ersten Teils erwähnt (vgl. oben Teil I, Kapitel 2, Abschnitt c)), ab 1932 zunehmend auch die Kosten dieser »Befreiung« in den Blick. Vgl. hierzu insbesondere den Essay on Man und Myth of the State, aber in etwas anderer Perspektive auch »Language and Art I«, in: SMC, S. 154. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen Cassirers Symbolphilosophie und der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno vgl. H. Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994, Kapitel II. 8, und B. Recki, Kultur als Praxis, S. 102– 108. Vgl. auch die Position, die Ch. Hackenesch bezüglich der teleologischen Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen vertritt: Selbst und Welt. Zur Metaphysik des Selbst bei Heidegger und Cassirer, Kapitel IV, 3. 92 B. Recki bezeichnet die »säuberliche Aufzählung der symbolischen Formen Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft, Geschichte […] als eine Folge von idealtypisierenden analytischen Trennungen in einem interdependenten Funktionszusammenhang«, vgl. Kultur als Praxis, S. 75. 93 Vgl. »Der Begriff der symbolischen Form«, in: ECW 16, S. 94–96 und 99, sowie ECW 11, S. 273. 94 ECW 11, S. 10 95 »Language and Art I«, in: SMC, S. 153. 96 »Der Begriff der symbolischen Form«, in: ECW 16, S. 85. 90

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d) »Ur-teilungen« und Modalitäten der Synthesis von Raum, Zeit und Zahl Galilei ging davon aus, »daß das ›Buch der Natur‹ in mathematischer Sprache verfaßt und nur in mathematischer Chiff reschrift lesbar sei«.97 Auch Kant ließ die Natur in der Kritik der reinen Vernunft nur in Begriffen sprechen, doch in der Kritik der Urteilskraft wird sie polyglott und »spricht in ihren schönen Formen figürlich zu uns«.98 Cassirer nimmt diesen Wink Kants nicht auf, arbeitet aber ebenfalls im Paradigma der Sprache an der Vervielf ältigung von Artikulationssystemen und Weltsichten. Auch für ihn gibt es nicht die eine Wirklichkeit, die vor einem symbolisch vermittelten Bezug gegeben ist, und er grenzt sich von der traditionellen Metaphysik ab, die das Sein als einheitlich setzt.99 So wie wir über das »Ding an sich« nichts wissen können, können wir über die Wirklichkeit an sich nichts wissen. Nur durch Symbolisierung können wir uns auf die Welt beziehen, und nur durch Symbolisierung können wir – abgesehen von einem unmittelbaren Selbstgefühl – von uns selbst wissen und über uns kommunizieren. In Fortführung der Kantischen Vernunftkritik richtet sich Cassirers Interesse auf die Art und Weise, wie der Mensch von der Welt weiß und in ihr lebt, auf seine verschiedenen Weltbezüge. Symbolische Formen sind »Vehikel« des Prozesses, in dem Wirklichkeit für den Menschen entsteht, und »so ist es ersichtlich, daß diese Aufgabe eine Fülle verschiedenartiger möglicher Lösungen in sich birgt«.100 Durch symbolische Formung entstehen Wirklichkeiten im Plural, Formwelten oder Lebensordnungen. Alle symbolischen Formen, schreibt Cassirer, beinhalten jeweils »a cosmology and a general anthropology«.101 Bereits die Aufnahme des Leibnizschen Bestrebens, ein »Alphabet des Denkens« zu entwerfen, und seine Weiterentwicklung zu einer »Grammatik der symbolischen Formen«102 haben darauf hingewiesen, daß die Vielfalt der Sprachen ein Vorbild für die Cassirersche Diversifi zierung von Sinnwelten darstellt. Auch in dem Text »Kant und die moderne Biologie« (von 1940/41) legt Cassirer den sprachähnlichen Charakter der Differenzen von verschiedenen Wissenschaften nahe. Während die bestimmenden Urteile, aus denen die mathematisch-naturwissenschaftliche Er-

ECW 11, S. 15. KU B 170. Vgl. auch E. W. Orth, »Die Bedeutung der ›Kritik der Urteilskraft‹ für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, S. 187. 99 ECW 13, S. 1. 100 ECW 11, S. 237. 101 Vgl. »Language and Art II«, in: SMC, S. 187. Cassirer bezieht diese Aussage hier nur auf den Mythos, sie läßt sich aber m. E. auf alle symbolischen Formen übertragen. Vgl. z.B. ECW 11, S. 24, zur Stiftung eines Ich- und eines Weltbegriff s durch die symbolischen Formen. 102 »Wir besäßen als dann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.« ECW 11, S. 17. 97

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fahrung sich auf baut, auf den Formenschatz der »mathematischen Chiff renschrift« zurückgreifen, benötige die Biologie »gewissermaßen ein anderes Alphabet«.103 Das sprachliche Paradigma birgt jedoch insbesondere in der Fokussierung auf bestimmte Zeichensysteme seine Tücken, denn es legt ein Verständnis der symbolischen Formen als Codierungen und damit die prinzipielle Übersetzbarkeit ineinander nahe. Symbolische Formen artikulieren jedoch nicht ein und denselben Inhalt in verschiedenen Sprachen, sondern bringen verschiedene »Sichten« zum Ausdruck, in denen sich Verschiedenes zeigt. Jede dieser »Sichten« schaff t sich »eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen [des begrifflichen Denkens] wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des ›Wirklichen‹.«104 Für Cassirer ist das mythische Bewußtsein beispielsweise keine »Chiff reschrift, die nur für den verständlich und lesbar ist, der den Schlüssel für sie besitzt – d. h. für den die besonderen Inhalte dieses Bewußtseins im Grunde nichts als konventionelle Zeichen für ein ›anderes‹, in ihnen selbst nicht Enthaltenes ist«.105 Es gibt dieses ›Andere‹, das ›Eigentliche‹ nicht. Der Mythos birgt ebensowenig wie alle anderen symbolischen Formen, »einen geheimen tieferen Sinn, einen rein ideellen Gehalt, der durch den bildhaften Ausdruck hindurchscheint«.106 Er ist ein Bild der Welt, dem kein Original zugrunde liegt. Die gemeinsame Funktion, Selbst- und Weltbilder zu schaffen, mehr oder weniger stabile Orientierungen zu liefern und Verständigung zu ermöglichen, erfüllen die symbolischen Formen auf je verschiedene Weise und mit verschiedenen Ergebnissen. Die Philosophie der symbolischen Formen untersucht die Strukturen der durch die symbolischen Formen vermittelten geistigen Produkte, aber auch die sie erzeugenden »Kräfte«. Sie ermittelt den jeweiligen »Brechungsindex« der einzelnen Objektivierungsformen und läßt sich somit als eine vergleichende Poietologie der Kulturleistungen des Menschen begreifen.107 Hinter jedem Kulturgebiet stehen bestimmte »Energien des Bildens«, die Cassirer jedoch nicht unterschiedlichen »Vermögen« zuordnet, sondern auf verschiedene Verhältnisse zurückführt, in denen die »geistig-seelischen Grundkräfte«, zu denen er Empfi ndung und Anschauung, 103 »Kant und die moderne Biologie«, in: GL, S. 69. Auf diese Stelle hat Orth in »Die Bedeutung der ›Kritik der Urteilskraft‹ für Cassirers Philosophie der symbolischen Formen« bereits hingewiesen. 104 ECW 11, S. 7. 105 ECW 12, S. 46. 106 Ebd. 107 Als eine weitere Aufgabe der Philosophie der symbolischen Formen gibt Cassirer die Bestimmung des Verhältnisses der einzelnen symbolische Formen zueinander an. Diese Aufgabe hat er letztendlich nicht gelöst. Vgl. M. Ferrari, »Metafi sica delle forme simboliche. Note su Cassirer inedito«, S. 822, Anm. 49, der zu diesem Problem Stellung bezieht.

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Gefühl und Phantasie, produktive Einbildungskraft und konstruktiv begriffl iches Denken zählt, jeweils zueinander stehen.108 Obwohl Cassirer die symbolischen Formen als geschichtlich werdende Formen begreift, hält er an funktionalen Konstanten fest, die für den Auf bau der verschiedenen Formwelten bestimmend sind.109 Nur durch die Vermittlung solcher Schemata können die symbolischen Formen ihre wesentliche Leistung, die Gestaltung von Vorstellungen, vollziehen. Bestimmte, im folgenden erläuterte durchgängige Ordnungsweisen lassen sich an jedem geistigen Erzeugnis aufweisen, da sich menschliche Vor- und Darstellung nicht anders als in diesen Formen vollzieht. Jede geistige Objektivierung erfolgt nach Cassirer auf der Basis solcher »Urgestalten des theoretischen Bewußtsein«, d. h. aufeinander nicht reduzierbarer »Qualitäten«, zu denen er räumliche, zeitliche, aber auch zahlenmäßige Verhältnisse zählt. Schon früh fi nden sich Erwähnungen dieser Konstanten geistiger Formgebung in Cassirers Werk. Bereits im Erkenntnisproblem hebt er Raum, Zeit und Zahl als »Grundkategorien« zur Ordnung der Mannigfaltigkeit von Eindrücken hervor.110 Der Kreis dieser »Urgestalten« ist bei Cassirer jedoch nicht geschlossen. Er zählt beispielsweise auch das Verhältnis von »Ding« und »Eigenschaft« oder ursächliche Verhältnisse dazu.111 Die Relationen von Raum, Zeit und Zahl sind neben verschiedenen Ausgestaltungen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, die im nächsten Abschnitt thematisiert werden, dennoch diejenigen »Denk- und Anschauungsformen«, die er in der Philosophie der symbolischen Formen zur Darstellung der Differenzen symbolischer Formen favorisiert und am konsequentesten durch die einzelnen symbolischen Formen dekliniert.112 Im Unterschied zu Kant, der die apriorischen Strukturen seiner Analytik geistiger Gegenstände in zwei Gruppen geteilt hat: in Anschauungsformen und Verstandesbegriffe, verzichtet Cassirer, seinem Verständnis von Formgebung entsprechend, größtenteils auf diese Differenzierung und spricht abwechselnd von Formen und

Vgl. »Die Begriff sform im mythischen Denken«, in: ECW 16, S. 20, »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«, in: ECW 16, S. 104, »Language and Art II«, in: SMC, S. 187, sowie ECW 13, S. 489. 109 Vgl. E. W. Orth, der in seinem Aufsatz »Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen«, S. 97, als Unterscheidungskriterien der symbolischen Formen 1. die Zuordnung zu den drei Dimensionen Ausdruck, Darstellung und Bedeutung, 2. die Grundfaktoren Raum, Zeit und Zahl und 3. eine je spezifi sche anthropologische Aufgabe, die die symbolischen Formen erfüllen, nennt. 110 Vgl. z. B. ECW 2, S. 326; ECW 3, S. 154 und 198. 111 Siehe ECW 11, S. 25 f. 112 Vgl. ECW 11, S. 147 und 182; ECW 12, S. 74, 86, 95, 98, 128, und 166; ECW 13, S. 7, 15, 286, 397 und 401. Alle drei Bände enthalten separate Abschnitte, in denen jeweils die Darstellungen von Raum, Zeit und Zahl diskutiert werden. Siehe dazu auch B. Recki, »Cassirer über Geist und Bewußtsein«, in: Idealismus als Theorie der Repräsentation?, hg. von R. Schumacher u. a., Paderborn 2001, S. 277. 108

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Kategorien, von »Grundrelationen« und »Weisen der Verknüpfung«.113 Er macht keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Zahl, die Kant als Schema begriffen hat,114 und Raum und Zeit, die dieser als Anschauungsformen bestimmt hat. Dies liegt einerseits in seiner Interpretation des Kantischen Raum- und Zeitverständnisses, andererseits in seiner Kritik am Kantischen Schematismusbegriff begründet.115 In der Schrift Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, die zwischen moderner Physik und Philosophie zu vermitteln versucht, verteidigt Cassirer Kant gegen die Kritik, sein Verständnis von Zeit und Raum sei von den Newtonschen Begriffen des absoluten Raums und der absoluten Zeit nicht zu trennen und somit durch die Erkenntnisse der Relativitätstheorie hinfällig geworden. Entgegen der Vorstellung von Raum und Zeit als Anschauungen in einem gegenständlichen Sinne, zu der ein falsches Verständnis des Begriff s der »Anschauungsform« verleiten könnte, bedeuten beide bei Kant »nur ein festes Gesetz des Geistes, ein Schema der Verknüpfung, durch welches alles sinnlich Wahrgenommene in bestimmte Beziehungen des Neben- und Nacheinander gesetzt wird«.116 Die räumlichen und zeitlichen Ordnungen der Wahrnehmung seien das Ergebnis gedanklicher Konstruktionen. Als Begründung und Zeitpunkt für die von Cassirer vertretene kritische Wendung Kants auch hinsichtlich der Raum- und Zeitfrage führt er dessen Inauguraldissertation von 1770 an, in der Kant konstatiert: »Tempus non est obiectivum aliquid et reale […] sed subiectiva conditio per naturam mentis humanae necessaria, quaelibet sensibilia certa lege sibi coordinandi, et intuitus purus. […] Spatium […] est […] subiectivum et ideale et e natura mentis stabili lege proficiscens veluti schema omnia omnino externe sensa sibi coordinandi.«117 Cassirer gesteht jedoch ein, daß diese

In einem Brief vom 23. Oktober 1920 an M. Schlick äußert Cassirer sich zu seinem Verständnis des Apriori. A priori gebe es keinen »konstanten, ein für alle Mal festliegenden Bestand an materiellen ›Anschauungen‹ oder Begriffen, sondern […] eine Funktion, die gesetzlich bestimmt ist und die daher in ihrer Richtung und Form mit sich identisch bleibt, die aber im Fortschritt der Erkenntnis inhaltlich die verschiedensten Ausprägungen erfahren kann«, zitiert nach M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 128. Vgl. auch ders., Categorie e a priori, Bologna 2003, S. 148. 114 Für Kant ist die Zahl das Schema der Kategorie der Quantität, die sich in Einheit, Vielheit und Allheit unterteilt. Die Zahl ist »nichts anderes, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung überhaupt« (KrV B 182). 115 Bereits Cohen und Natorp haben von der Differenzierung von Anschauungsformen und Kategorien abgesehen und Zeit und Raum als Kategorien gefaßt. In dem Verzicht auf die Ausarbeitung eines Kategoriensystems hat Cassirer die Dynamisierung und Liberalisierung des Kantischen Apriori jedoch am weitesten betrieben. Vgl. M. Ferrari, Categorie e a priori, S. 154 und 156. Warum Cassirer die Modifi zierung von Grundkategorien nun genau an Raum, Zeit und Zahl erläutert, begründet er nicht. Möglicherweise hat er sich auf ein Minimum an Konstanten zur Konstitution von Gegenständlichkeit beschränkt. 116 ECW 10, S. 72 f. Mit dieser Interpretation von Raum und Zeit als Schemata schließt er sich Max Laue an. Vgl. ECW 10, S. 75. 117 Ebd., S. 79. Vgl. De mundi sensibilis, AA, Bd. II, S. 400 und 403. 113

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Bedeutung der »Anschauungsbegriffe« bei Kant »nicht überall gleich scharf festgehalten ist«.118 Er selbst verwendet den Begriff des Schemas für das Gesetz oder die Regel, nach der das Sinnliche geordnet wird, und spricht von räumlichem oder zeitlichem Schematismus,119 wenn er die Art und Weise meint, in der in den verschiedenen symbolischen Formen Vorstellungen zur Darstellung gebracht werden. Raum, Zeit und Zahl sind für ihn rein ideelle Inbegriffe von Möglichkeiten.120 Wie bereits an anderen Termini aus der Geschichte der Philosophie beobachtet, setzt Cassirer auch seine Verwendung des Begriff s des Schematismus häufig in Anführungszeichen, um eine Differenz zu markieren. Auf gewisse Distanz geht er zum Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft, da die Heterogenität von Sinnlichkeit und Denken hier nicht versöhnt, sondern noch verschärft werde.121 In Kants Leben und Lehre übergeht Cassirer das Schematismusproblem und widmet sich statt dessen ausführlicher dem System der Grundsätze des reinen Verstandes, da hier die Funktion bezeichnet wird, die die Kategorien erfüllen.122 An diesen Funktionen, an den Prozessen des Schematisierens, den Prozessen des Bildens und Darstellens räumlicher, zeitlicher und zahlenmäßiger Verhältnisse ist Cassirer interessiert, denn die Bedeutung der »Kategorien« geht für ihn in dem auf, was sie in den Objektivationen der verschiedenen Kulturgebiete leisten.123 Mit dem Begriff der symbolischen Form ist die Vorstellung von verschiedenen Modalitäten, in denen sich die Schematisierungsprozesse von Raum, Zeit und Zahl vollziehen, aufs engste verbunden. Bereits in der Schrift Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, in der Cassirer den Begriff der symbolischen Form einführt, weist er darauf hin, daß sie alle etwas anderes bedeuten »je nach der allgemeinen »›Modalität‹ des Bewußtseins und der Erkenntnis«,124 innerhalb deren sie stehen.

ECW 10, S. 79. Zum Beispiel ECW 12, S. 95. Zur Cassirerschen Interpretation des Kantischen Schematismus vgl. auch M. Plümacher, Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. Edmund Husserls und Ernst Cassirers Analysen zur Struktur des Bewußtseins, Berlin 2004, S. 272–275. Sie hebt hervor, daß bei Cassirer sowohl Schema als auch Begriff als »Verfahren der Konstruktion« oder »Regeln der Veränderung« bezeichnet werden. 120 ECW 13, S. 281. 121 Vgl. den Aufsatz »Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation«, in: ECW 9, S. 211. 122 ECW 8, S. 169. 123 In dem Vortrag »Mythischer, ästhetische und theoretischer Raum« von 1931 schreibt Cassirer, daß der Raum eine »rein formelle Bestimmung« sei, mit Leibniz eine »Ordnung des Beisammen«. Der Begriff der Ordnung sei »von Anfang an durch das Moment der Verschiedenheit, der inneren Vielgestaltigkeit bezeichnet und ausgezeichnet«. Er habe den Vorteil, daß unter seiner Herrschaft »die verschiedenartigsten geistigen Gebilde und die mannigfachsten Gestaltungsprinzipien frei und leicht beieinander wohnen, die im bloßen Sein, in dem harten Raum, in dem die Sachen sich stoßen, einander befehden und einander auszuschließen scheinen«. ECW 17, S. 417 und 419. 124 ECW 10. S. 116 f. 118 119

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»Bestimmte Begriffe – wie der Begriff der Zahl, der Zeit, des Raumes – stellen«, differenziert Cassirer später in der Philosophie der symbolischen Formen, »gewissermaßen Urformen der Synthesis dar, die unumgänglich sind, wofern überhaupt eine ›Vielheit‹ zur ›Einheit‹ zusammengenommen, ein Mannigfaltiges nach bestimmten Gestalten abgeteilt und gegliedert werden soll. Aber diese Gliederung vollzieht sich […] keineswegs gleichartig in allen Gebieten: Sondern ihre Art hängt wesentlich von dem besonderen Strukturprinzip ab, das in jedem Sondergebiet wirksam und herrschend ist. So zeigen insbesondere die Sprache und der Mythos je eine besondere ›Modalität‹, die ihnen spezifi sch zukommt und die allen ihren Einzelgebilden gewissermaßen eine gemeinsame Tönung verleiht.«125 Er unterscheidet zwischen der »Qualität« eines Schemas und seiner »Modalität«.126 Die symbolischen Formen sind durch verschiedene Modalitäten derselben grundsätzlichen Qualitäten bestimmt. Auch aus diesem Grund wechselt Cassirer (nicht durchgängig, jedoch an markanten Stellen) die Terminologie, wenn er von den unterschiedlichen Weisen,

ECW 13, S. 15. Die Bedeutung von Raum, Zeit und Zahl für die Differenzierung symbolischer Formen ist bislang zu wenig erforscht. Vier Aufsätze der 50er und der 90er Jahre sind der Raumproblematik gewidmet: C. H. Hamburg weist in seinem Aufsatz »Kant, Cassirer, and the Conception of Space«, in: Tulane Studies in Philosophy. A Symposion on Kant, vol. III, Tulane University, New Orleans 1954, S. 89–111, darauf hin, »that in all dimensions of experience we can, upon analysis, distinguish differently oriented perspectives, types of synthesis, directions of ›sight‹ as so many different ways of evaluating and interpreting the phenomenally given ›data‹ of sense, can be made especially clear in the casa of the spatial organisation of reality« (S. 96 f.). Auch K. Hamberger notiert in »Die Bedeutung des Raumproblems für die Sozial- und Kulturwissenschaften. Der Raum als Erkenntnisbedingung«, in: IWK-Mitteilungen 1999/2–3, daß »die beharrliche Auseinandersetzung mit der Varietät der Raumauff assungen […] alle drei Bände des Cassirerschen Hauptwerkes wie ein Generalbaß durchzieht« (S. 14). M. Ferrari geht auf die Bedeutung des Raums ein in den beiden Aufsätzen »La philosophie de l’espace de Ernst Cassirer«, in: Revue de Métaphysique et de Morale, XCVI, 1992, und »Cassirer und der Raum. Sechs Variationen über ein Thema«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1992/1. S. Vica beschäftigt sich ausführlich mit dem Begriff der Zahl in der Cassirerschen Philosophie, beschränkt sich jedoch auf ihre Bedeutung in der mathematischen Naturwissenschaft: ders., »Il concetto di numero nella fi losofi a di Ernst Cassirer«, in: Il pensiero. Rivista di fi losofi a 13, 1968. P. A. Rovatti beschäftigt sich in derselben Nr. von Il pensiero mit »Funzione e significato della struttura temporale«. Die Dissertation von Muna Stipp, Symbolische Dimensionen der Zeit. Ansätze zu einer Kulturphilosophie der Zeit in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 2003, geht ausführlich auf die Konstitutionen von Zeit in Mythos, Sprache und Wissenschaft ein, arbeitet sich jedoch an einer von Cassirer her nicht begründbaren Differenz der »Einheit von Zeit« und dem Pluralismus des Zeitlichen ab. E. W. Orth geht in seinem Aufsatz »Zum Zeitbegriff Ernst Cassirer«, in: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie auf die Modalitäten der Zeit nicht ein. Auch Ch. Schmitz-Rigal thematisiert in ihrem Aufsatz »Modi des Symbolischen und plurale Sinnwelten. Zum Verhältnis der Symbolischen Formen Ernst Cassirers«, Raum, Zeit und Zahl nur am Rande und behandelt die in der Forschungsliteratur vorrangig zur Unterscheidung symbolischer Formen verwendete Trias Ausdruck/Darstellung/Bedeutung als Modalitäten. 126 ECW 11, S. 27. 125

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in denen in den verschiedenen symbolischen Formen schematisiert wird, spricht: Im Mythos sind Raum, Zeit und Zahl Anschauungen, in der Sprache bleiben Raum und Zeit zunächst anschaulich, durch die Zahl beginnt die Sprache die Anschaulichkeit jedoch zu verlieren und strukturiert sich begriffl ich, in der Wissenschaft schließlich löst sich die Anschaulichkeit von Raum und Zeit in bloße Zahlenverhältnisse, d. h. Begriffe, auf.127 Beide, Anschauung und Begriff, sind für Cassirer Verknüpfungsformen, die sich jedoch in spezifi scher Weise unterscheiden: »Die Anschauung geht bestimmte Wege der Verknüpfung – und eben hierin besteht ihre reine Form und ihr Schematismus. Der Begriff jedoch greift nicht nur in dem Sinne über sie hinaus, daß er von diesen Wegen weiß.«128 Die Modalitäten, Tönungen oder Bedeutungsnuancen der verschiedenen Gestaltungen von Raum, Zeit und Zahl, die Cassirer als ursprüngliche Setzungen begreift, sind durch Grundmotive bedingt.129 In seiner Schrift Zur Einsteinschen Relativitätstheorie spricht er von einem spezifischen »Erkenntniswillen«, der die Physik bestimmt,130 und auch in dem zeitgleichen Aufsatz über »Goethe und die mathematische Physik« differenziert er geistige Formen nach der Art und Richtung der Betrachtung, nach Einstellungen und Perspektiven, dem Erkenntniswillen, Zwecken und Zielen, sowie Funktionen. Diese »Urteilungen«, die den Setzungen von Raum- und Zeitverhältnissen zugrunde liegen, sind geistige Stellungnahmen, jedoch nicht ausschließlich Reflexionen, sondern auch Akte des Affektes und des Willens.131 An den in Idee und Gestalt versammelten Aufsätzen über Kleist und Hölderlin konnte bereits gezeigt werden, daß Cassirer die auf theoretische Auseinandersetzungen, aber auch auf ein bestimmtes »Lebensgefühl« zurückgehenden »seelischen Stellungnahmen« der Dichter als ebensolche »Urteilungen« betrachtet.132 In der Philosophie der symbolischen Formen versucht er nun diese ursprünglichen Motivationen des Mythos, der Sprache und der Wissenschaft zu ermitteln: »[D]ie mythische Anschauung des Raumes, der Zeit und der Zahl […] bleibt von dem, was Raum, Zeit und Zahl im theoretischen Denken und im theoretischen Auf bau der Gegenstandswelt bedeuten, durch höchst charakteristische Grenzlinien geschieden. Diese Grenzlinien können nur deutlich und sichtbar werden, wenn es gelingt, die mittelbaren Teilungen, die uns im mythischen Denken wie im Denken der reinen Erkenntnis begegnen, auf eine Art Ur-Teilung zurückzuführen, aus der sie hervorgehen. Denn auch der Mythos setzt eine derartige geistige ›Krisis‹ voraus – auch er bildet sich erst, indem im Ganzen des Bewußtseins eine Scheidung sich vollzieht, durch die nun auch in die Anschauung des Weltganzen eine bestimmte

127 128 129 130 131 132

Vgl. z. B. ECW 11, S. 147, 182 f., und ECW 13, S. 7. ECW 13, S. 332. ECW 12, S. 111. ECW 10, S. 116. ECW 12, S. 85. Vgl. oben, Teil I, Kapitel 4, Abschnitt e).

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Trennung eindringt, durch die eine Zerlegung dieses Ganzen in verschiedene Bedeutungsschichten bewirkt wird. Diese erste Trennung ist es, die alle späteren im Keime enthält und durch die sie bedingt und beherrscht bleiben – und wenn irgendwo, so wird sich in ihr nicht sowohl die Eigenart des mythischen Denkens als die des mythischen Anschauens und des mythischen Lebensgefühls aufweisen lassen.«133 Jede bewußte Wahrnehmung steht für Cassirer bereits »jenseits der großen geistigen ›Krisis‹«134, die die jeweilige »Sicht« oder »geistige Schau« prägt,135 denn die sinnlichen Elemente werden »je nach dem Gesichtspunkt, unter dem sie betrachtet werden, in ganz verschiedener Weise zu Ähnlichkeitskreisen zusammengefaßt«.136 Jede symbolische Form ist somit durch ihre eigene originäre Weise des Wahrnehmens bestimmt. Die ›Sichtbarkeit‹ eines Phänomens »ist niemals außerhalb einer bestimmten Form der ›Sicht‹ und unabhängig von ihr zu denken; es ist als ›sinnliches‹ Erlebnis immer schon Träger eines Sinnes und steht gewissermaßen im Dienste desselben. Aber eben hierin kann es nun sehr verschiedene Funktionen erfüllen und kraft ihrer sehr verschiedene Sinnwelten vorstellig machen«.137 »Sehen« impliziert immer schon eine »Auswertung«, durch die das Einzelne in einen Kontext gestellt wird. Kontextloses Wahrnehmen ist für Cassirer nicht möglich, da das Bewußtsein selbst eine relationale Struktur hat. Wahrnehmen ist ein Aufnehmen in und ein Bilden von Strukturen. Kant hat dieses Phänomen mit dem Begriff der Apperzeption bezeichnet, den Cassirer aufnimmt. Während dieser jedoch nur eine Struktur, die Struktur wissenschaftlicher Erkenntnis im Blick hatte, faßt Cassirer den Begriff der Apperzeption einerseits allgemeiner und begreift ihn als »reine Spontaneität, eine schöpferische Tat des Geists«138 und vervielfältigt andererseits die Modi der Apperzeption: »[D]as scheinbar ›Gegebene‹ erweist sich bei schärferer Analyse als bereits hindurchgegangen durch bestimmte Akte, sei es der sprachlichen, sei es der mythischen oder der logisch-theoretischen ›Apperzeption‹. Es ›ist‹ nur das, wozu es in diesen Akten gemacht wird; es zeigt sich schon in seinem scheinbar einfachen und unmittelbaren Bestand durch irgendeine primäre bedeutungsgebende Funktion bedingt und bestimmt. In dieser primären, nicht in jener sekundären Formung liegt dasjenige, was das eigentliche Geheimnis jeder symbolischen Form ausmacht und was immer von neuem das philosophische Staunen wachrufen muß.«139 In dem Aufsatz »Sprache und Mythos« bezeichnet Cassirer das Werden von Symbolwelten in Anlehnung an Max Müller als eine »radikale Metapher« um deut133 134 135 136 137 138 139

ECW 12, S. 86. ECW 13, S. 267. Ebd., S. 16. »Die Begriff sform im mythischen Denken«, in: ECW 16, S. 11. ECW 13, S. 228. Ebd., S. 180. ECW 12, S. 111.

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lich zu machen, daß es sich nicht um einen Transfer einer feststehenden Entität auf eine andere handelt, sondern um einen Vorgang, den er in der Folge häufig als µετáβασι ες λλο γéνος beschreibt, denn es werde hierbei, so schreibt er, »nicht nur in eine andere bereits bestehende Gattung übergegangen, sondern die Gattung, in die der Übergang erfolgt, wird selbst erst erschaffen«140. Die »radikale Metapher« bezeichnet, so Birgit Recki, »das Geheimnis der immer wieder programmatisch beschworenen Befreiung vom bloßen Eindruck zum artikulieren Ausdruck«141, in der das Erleben in einem Medium objektiviert wird. Ein wenig Licht läßt sich in das Dunkel dieses Geheimnisses bringen, wenn man – darauf hat Ernst Wolfgang Orth hingewiesen – auf das Urbild der symbolischen Relation zurückgeht, das Cassirer in der leiblich-seelischen Verfaßtheit des Menschen erkennt. Durch die psycho-somatische Verfaßtheit des Organismus, in dem »ein Moment des Organischen auf andere Momente dieses Organischen verweist oder an sie ›erinnert‹, eröff net sich am Organismus auch die Möglichkeitsbedingung des Symbolischen«.142 Cassirer selbst spricht, wie gezeigt, des öfteren über ein Verbinden, das durch Trennen entsteht, um sowohl das Entstehen als auch die Leistung symbolischer Formen zu erklären: »Jede Grenzsetzung setzt in der Scheidung, die sie vollzieht, zugleich eine ursprüngliche Verknüpfung des Getrennten […] voraus.«143 Da der Akt der symbolischen Formung, den er unter Rückgriff auf die Etymologie des »templum« als eine solche Grenzsetzung beschreibt,144 sich auf dem Hintergrund der Unbestimmtheit und Differenzlosigkeit vollzieht, ist es nicht möglich, die semiotische Dynamik, d. h. das Entstehen von Sinn, durch ein »ich denke« zu begleiten. Sinn erscheint stets als ursprüngliche Differenz oder – in einer Terminologie, die Cassirer vermutlich bevorzugt hätte – als ursprüngliche Relationalität. Seine Symbolphilosophie läßt sich daher mit Philipp Stoellger als eine »Philosophie der Differenz avant la lettre«145 bezeichnen, denn in dem Relationsgeschehen, das Cassirer mit dem Begriff der symbolischen Prägnanz oder der radikalen Metapher

ECW 16, S. 302. Siehe B. Recki, »Der praktische Sinn der Metapher. Eine systematische Überlegung mit Blick auf Ernst Cassirer«, in: Die Kunst des Überlebens. Nachdenken über Hans Blumenberg, hg. von F. J. Wetz und H. Timm, Frankfurt/Main 1999, S. 149, sowie dies., Kultur und Praxis, S. 74–80. 142 Siehe E. W. Orth, »Geschichte und Literatur als Orientierungsdimensionen in der Philosophie Ernst Cassirers«, in: Kulturkritik nach Ernst Cassirer, S. 119. Vgl. zu diesem Aspekt auch das Kapitel »time« in dem nachgelassenen Vorlesungsmanuskript »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language«, in: ECN 6, S. 279–303. 143 ECW 8, S. 122. 144 Siehe dazu oben, Abschnitt b). 145 Ph. Stoellger, »Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz. Zur Bearbeitung eines Problems von Ernst Cassirers Prägnanzthese«, in: Die Prägnanz der Religion in der Kultur: Ernst Cassirer und die Theologie, hg. von D. Korsch und E. Rudolph, Tübingen 2000, S. 131. 140 141

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anspricht, »wird eine Identität, die stets von einer (ex post analysierbaren) Differenzrelation abkünftig ist«.146 »Cassirer muß«, darin stimme ich Barbara Naumann zu, »unzweifelhaft zu den philosophischen Autoren des 20. Jahrhunderts gerechnet werden, die sich im Rückgriff auf eine differenzlogische Argumentation entschieden gegen substanzmetaphysische Ansprüche wenden.«147 Die Einschätzung, daß Cassirer »never managed to come to a true appreciation of difference«148, die Hazard Adams in dem Aufsatz »Thinking Cassirer« äußert, entpuppt sich somit als ein begriffl iches Oberfl ächenphänomen bzw. als eine Frage der Perspektive: Das Verhältnis zwischen Differenz und Relation gleicht demjenigen zwischen den beiden Feststellungen, ein Glas sei halbvoll, bzw. es sei halbleer. In seiner Analyse kommt Adams dann auch zu dem Schluß, daß Cassirer das Symbol als zu einem System von Relationen zugehörig begreife und dieses Verständnis mit dem Strukturalismus teile: Der Cassirersche Begriff der Relation sei der »Differenz« der Strukturalisten analog. Er hält fest: »the symbol symbolizes nothing on the other side from nature or from us. Rather, it symbolizes relations, functions, differences, which its system constitutes from human experience for the future«.149 Die Referenz des Symbols sei somit durch das »System«, in dem es steht, nicht durch ein materiales Objekt gegeben. »That Cassirer employs the term ›relation‹ rather than ›difference‹, for the most part emphasizes his notion of the synthetic process of language as thought generating wholes from differences, which the wholes then contain.«150 Das Movens dieser primären Formung oder »Systembildung« ist in jeder symbolischen Form ein anderes. Während die Wissenschaft von dem logischen Ideal einer kausalen Weltordnung geleitet wird, in der Raum, Zeit und Zahl das »Vehikel des ›Satzes vom Grund‹« darstellen und ein »universelles Stellensystem ausbilden,151

146 Ebd., S. 131. Als erstaunlich nah an der Cassirerschen Konzeption der radikalen Metapher erweist sich auch der Derridasche Begriff der Spur, durch den er eine Verbindung zwischen Natur und Kultur zu schaffen anstrebt: »Si la trace, archi-phénomène de la ›mémoire‹ qu’il faut penser avant l’opposition entre nature et culture, animalité et humanité, etc., appartient au mouvement même de la signification, celle-ci est a priori écrite, qu’on l’inscrive ou non, sous une forme ou sous une autre, dans un élément ›sensible‹ et ›spatial‹ qu’on appelle ›extérieur‹. Archi-écriture […], cette trace est l’ouverture de la première extériorité en général, l’énigmatique rapport du vivant à son autre et d’un dedans à son dehors: l’espacement.« J. Derrida, De la grammatologie, Paris 1967, S. 103. 147 B. Naumann, S. 20. Vgl. auch S. 99–107: »Basisphänomene: Differentielles Denken des Ursprungs«. Auf S. 57, Anm. 2, erläutert sie unter Bezug auf die Schrift La vérité en peinture Derridas Ausführungen zum »Rahmen« als ein Trennen und Verbinden zugleich, auf die Ähnlichkeit mit Cassirers Erörterung des »templum« geht sie jedoch nicht ein. 148 H. Adams, »Thinking Cassirer«, S. 181. 149 Ebd., S. 186. 150 Ebd., S. 187. 151 ECW 12, S. 95. In dem Vortrag »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« bezeichnet Cassirer dieses Movens auch als Sinnfunktion, die zu verschiedenen Sinnordnun-

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bestimmt die Trennung von Mana und Tabu bzw. von »Licht und Dunkel«152 die Grundrichtung des mythischen Bewußtseins. Durch sie erfolgt im Mythos die »Ur-Teilung« zwischen Heiligem und Profanem, die den gesamten Auf bau der mythischen Lebens- und Denkordnung beherrsche: »Es ist, als würde alles, was der Mythos ergreift, in diese Scheidung einbezogen – als durchdringe und imprägniere sie gleichsam das Ganze der Welt, soweit es sich als mythisch geformtes Ganze darstellt. Alle abgeleiteten und mittelbaren Formen der mythischen Weltauffassung bleiben, so vielfältig sie sich gestalten und zu welcher geistigen Höhe sie auch erwachsen mögen, durch diese primäre Teilung irgendwie mitbedingt. Der gesamte Reichtum und die gesamte Dynamik der mythischen Lebensformen beruht darauf, daß die ›Akzentuierung‹ des Daseins, die sich im Begriff des Heiligen ausspricht, sich voll auswirkt und daß sie fortschreitend immer neue Gebiete und Inhalte des Bewußtseins ergreift. Geht man diesem Fortgang nach, so zeigt sich, daß zwischen dem Auf bau der mythischen Objektwelt und dem Auf bau der empirischen Objektwelt eine unverkennbare Analogie besteht. In beiden handelt es sich darum, die Isolierung des unmittelbar Gegebenen zu überwinden – zu begreifen, wie alles Einzelne und Besondere sich ›zum Ganzen webt‹. Und als die konkreten Ausdrücke dieser ›Ganzheit‹, als ihre anschaulichen Schemata erweisen sich in beiden Fällen die Grundformen des Raumes und der Zeit, denen sich als dritte die Form der Zahl zugesellt, in der die Momente, die in Raum und Zeit gesondert auftreten, das Moment des ›Beisammen‹ und das des ›Nacheinander‹, sich wechselseitig durchdringen. Aller Zusammenhang, den die Inhalte des mythischen wie die des empirischen Bewußtseins allmählich gewinnen, ist nur in diesen Formen von Raum, Zeit und Zahl und vermöge des Durchgangs durch sie erreichbar.«153 Als primäre Scheidung in der symbolischen Form der Sprache bezeichnet Cassirer die Interjektionen,154 doch ist diese Trennung anders gelagert als der Satz vom Grund in der Wissenschaft und die Trennung von Heiligem und Profanem in Mythos und Religion, da die Interjektionen zwar primäre Artikulationen sind und als solche Grenzen in einem ungegliederten Ganzen der inneren Erregung ziehen, jedoch per se keine Sinnsphären konstituieren. Dies ist symptomatisch für die Problematik der symbolischen Form der Sprache, da sie wiederum das Medium anderer Sinnformen bildet und durch ihre Neutralität die Sinnsetzungen anderer Formen ermöglichen muß.155

gen oder Dimensionen der Formung führt. Auch hier bestimmt er die Sinnfunktion als das »primäre und bestimmende, die Raumstruktur als das sekundäre und abhängige Moment« (ECW 17, S. 418 f.). 152 Ebd., S. 421. 153 ECW 12, S. 94 f. 154 Ebd., S. 93. 155 Später verwirft er die Vorstellung, daß die Interjektion als Ur-Teilung der Sprache zu begreifen sei. Vgl. »Formproblem und Kausalproblem«, in: LK, S. 98 f.

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Im Ausgang von diesen primären Teilungen versucht Cassirer die spezifi schen »Tönungen« der Grundbegriffe des Raumes, der Zeit und der Zahl in den verschiedenen symbolischen Formen sowie die Stellung, die sie zueinander haben, zu erfassen. »Es gibt keine Leistung und Schöpfung des Geistes, die nicht irgendwie auf die Welt des Raumes Bezug nähme und die sich nicht gewissermaßen in ihr heimisch zu machen suchte. Denn die Hinwendung auf diese Welt bedeutet ebenden ersten und notwendigen Schritt zur ›Vergegenständlichung‹, zur Seinserfassung und Seinsbestimmung überhaupt. Der Raum bildet gleichsam das allgemeine Medium, in dem die geistige Produktivität sich erst ›feststellen‹, in dem sie es zu ihren ersten Gebilden und Gestalten bringen kann.«156 Die »Welt des Raumes« ist jedoch nicht selbst gegenständlich zu verstehen. Sie ist keine anschauliche Gegebenheit, sondern erst das Ergebnis des Prozesses symbolischen Formung. Der Raum ist ein Medium157, eine Art symbolische »Querform«158 , durch die jede kulturelle Objektivierung hindurchgeht, da Räumlichkeit ein irreduzibler Charakter der sinnlichen Wahrnehmung des Menschen ist. Durch das Raumschema wird ein »objektives Dasein« erst gesetzt; es bedingt die Entgegensetzung von Außen und Innen und damit die Vorstellung eines empirischen Ichs, welches sich der Wandelbarkeit seiner eigenen Zustände nur im Bezug auf etwas Beharrliches im Raum bewußt werden kann. »Indem ein Inhalt räumlich bestimmt, indem er durch feste Grenzsetzungen aus der unterschiedslosen Gesamtheit des Raumes herausgehoben wird, gewinnt er damit erst eine eigene Seinsgestalt: Der Akt des ›Herausstellens‹ und Absonderns, des ex-sistere, gibt ihm erst die Form selbständiger ›Existenz‹. Im Auf bau der Sprache prägt sich dieser logische Sachverhalt darin aus, daß auch hier die Konkretion der Orts- und Raumbezeichnung es ist, die zum Mittel dient, um die Kategorie des ›Gegenstandes‹ sprachlich immer schärfer herauszuarbeiten.«159 Den mythischen Raum bezeichnet Cassirer als einen »Strukturraum«160, in dem jeder Ort seinen eigenen Wert hat. Er entsteht durch die Übertragung wahrgenommener und gefühlter Qualitäten in räumliche Bilder und Anschauungen161 und gliedert sich in heilige und profane Bereiche: »Die Schranken, die der Mensch im Grundgefühl des Heiligen sich selbst setzt – sie werden zum ersten Ausgangspunkt, von dem auch die Grenzsetzung im Raum abhebt und von dem aus sie in fortschreitender Organisation und Gliederung über das Ganze des physischen Kosmos verbreitet.«162 Auch für die Sprache ist die räumliche Gestaltung ein primäres Darstellungsmittel. »Es ist«, schreibt Cassirer, »als würden alle gedanklichen und

156 157 158 159 160 161 162

ECW 13, S. 168 f. Ebd., S. 169. Siehe M. Ferrari, »Cassirer und der Raum«, S. 167. ECW 11, S. 154. ECW 12, S. 104. Ebd., S. 101. Ebd., S. 122 f.

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ideellen Beziehungen dem Sprachbewußtsein erst dadurch faßbar, daß sie sie auf den Raum projiziert und in ihm analogisch ›abbildet‹. An den Verhältnissen des Beisammen, des Neben- und Auseinander gewinnt es erst das Mittel zur Darstellung der verschiedenartigsten qualitativen Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Gegensätze.«163 Sprache ist zur Artikulation auf das Schema des Raumes angewiesen. Sie gestaltet eine »Dingwelt, die als ›im‹ Raum vorhanden gedacht wird«.164 Dies ist jedoch zugleich die Begrenzung der »anschaulichen Sprache«, die in der Sprache des begriffl ichen Denkens überwunden wird.165 In der Wissenschaft verliert der Raum seine Anschaulichkeit und wird zu einem »Funktionsraum« oder »Maßraum«.166 In ihm sind alle Elemente homogen und gestaltlos. Der wissenschaftliche Raum zeichnet sich dadurch aus, »daß von jedem Raumpunkte aus nach allen Orten und allen Richtungen gleiche Konstruktionen vollzogen werden können«.167 Auch hinsichtlich der Gestaltung zeitlicher Relationen, die Cassirer der räumlichen nachordnet,168 gibt es perspektivische Differenzen zwischen den symbolischen Formen. Der mythischen Raumgestaltung korreliert eine mythische Zeitgestaltung, die keine gleichförmige Reihe darstellt. Sie teilt sich in periodische Zeitabschnitte intensiver Erfüllung, die ebenfalls von der primären Sinndifferenz des Heiligen und Profanen, aber auch durch biologische Rhythmen bestimmt werden.169 Die mythische Zeit ist nicht abstrakt, sondern immer konkret inhaltlich gestaltet. Mit der Form der Zeit bildet sich nach Cassirer die »Tiefendimension« der mythischen Welt, denn das Göttliche werde erst durch seine Geschichte konstituiert: »Erst dadurch, daß ein bestimmter Inhalt in zeitliche Ferne gerückt, daß er in die Tiefe der Vergangenheit zurückverlegt wird, erscheint er damit nicht nur als ein heiliger, als ein mythisch und religiös bedeutsamer gesetzt, sondern auch als solcher gerechtfertigt. Die Zeit ist die erste Urform dieser geistigen Rechtfertigung.«170 Der Mythos trennt die Geschichte in Gegenwart und mythische Ursprungszeit. Für die symbolische Form der Sprache läßt sich aus denselben Gründen, die für den Raum gelten, keine spezifi sche Zeitanschauung fi xieren. Den formalen Ursprung der sprachlichen Zeitbestimmung stellen die Zeitpartikel dar.171 Cassirer hebt her-

ECW 11, S. 150. ECW 13, S. 184. 165 Den unterschiedlichen Gestalten, die die Sprache in den verschiedenen symbolischen Formen annimmt, trägt Cassirer im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen Rechnung, indem er von verschiedenen Phasen spricht (siehe die Unterteilung der Kapitel). Sprache als spezifi sche symbolische Form meint in der Regel die Alltagssprache. 166 ECW 12, S. 104, und ECW 17, S. 426. 167 ECW 12, S. 99. 168 Ebd., S. 126. 169 Ebd., S. 128. 170 Ebd., S. 124. 171 ECW 11, S. 170. 163

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vor, daß Zeit in der Sprache keine einfache Anschauung, sondern eine höhere Dimension des Denkens als der Raum darstellt,172 so daß die Unanschaulichkeit der Zeit unter Rückgriff auf räumliche Differenzierungen kompensiert wird. Für den Wissenschaftler wiederum ist die Zeit ebenso wie der Raum »eine konkrete meßbare Mannigfaltigkeit, die er als Ergebnis der gesetzlichen Zuordnung der einzelnen Punkte gewinnt«.173 Die Zeit der Wissenschaft ist wie der Raum homogen. In der Wissenschaft ist jeder »Weltpunkt« »durch seine Raum-Zeitkoordinaten x1, x 2 , x 3 , x4 bestimmt; aber diese bedeuten hierbei einfach numerische Werte, die sich durch keine Sondercharaktere mehr voneinander unterscheiden und die demgemäß auch miteinander vertauschbar sind«.174 Die Zahl, die Cassirer als dritte Schematisierungsform nennt, ist »die Grundund Urform aller gedanklichen Diskretion«.175 Durch die Bildung von Quantitäten formt sich die »Mannigfaltigkeit der bloßen Wahrnehmung zu einer in sich geregelten und gegliederten, durch welche sie somit erst zu einer Ordnung von Objekten wird«.176 Die Zahl prägt sich der räumlichen und zeitlichen Gliederung ein, denn durch sie entstehen Größen der Ausdehnung und der Dauer. Durch die Zahl werden Einheiten abgegrenzt, sie stellt somit die Bedingung dar, »unter der allein von einer Mannigfaltigkeit von Elementen und ihrem Zusammenhang die Rede sein kann«.177 Im Mythos besitzt sie keine abstrakte Allgemeingültigkeit, sondern hat gegenständlichen Charakter. Jede Zahl hat ihr eigenes Wesen und eine eigene »gefühlsmäßige Tönung«: »Jede mythische Zahl weist auf einen bestimmten Kreis gegenständlicher Anschauung zurück, in dem sie wurzelt und aus dem sie beständig neue Kraft zieht«.178 Durch die Zahl vollendet sich schließlich das in der Anschauung Gestaltbare. Es zeigt sich, schreibt Cassirer, »daß die Begriffe von Raum, Zeit und Zahl das eigentliche Grundgerüst der objektiven Anschauung ausmachen, wie sie sich in der Sprache auf baut. Aber sie können ihre Aufgabe nur vollziehen, weil sie sich, ihrer Gesamtstruktur nach, in einer eigentümlichen ideellen Mitte halten – weil sie eben dadurch, daß sie durchaus an der Form des sinnlichen Ausdrucks festhalten, das Sinnliche selbst fortschreitend mit geistigem Gehalt erfüllen und es zum Symbol des Geistigen gestalten«.179 Durch die Zahlwörter schaff t die Sprache die Grundlage der Mathematik, die sich jedoch schließlich von den ›Dingvorstellungen‹ der Sprache entfernen muß. Von Raum und Zeit als abstrakten Ordnungen verabschiedet die Wissenschaft sich nicht, sie verzichtet jedoch auf ihre Anschau172 173 174 175 176 177 178 179

Ebd., S. 169. ECW 10, S. 79. ECW 12, S. 140. ECW 10, S. 120. ECW 8, S. 171. ECW 6, S. 33. ECW 12, S. 168 f. und 176. ECW 11, S. 212.

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lichkeit. »Es ist die Form [der] reinen numerischen Relation, durch welche die Heterogenität der sinnlichen Eigenschaften überbrückt und eine Homogenität des physikalischen ›Wesens‹ hergestellt wird.«180 Die Zahl ist in der Wissenschaft das abstrakte Medium, »in welchem die verschiedenen Sinnesgebiete einander begegnen und dem gegenüber sie ihre spezifi sche Ungleichartigkeit aufgeben«.181 Die Wissenschaft ist eine reine »Ordnung der Stellen«.182

e) Positionalitäten: Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung Neben den in der Philosophie der symbolischen Formen von Anbeginn thematisierten verschiedenen Gestaltungsmodalitäten von Raum, Zeit und Zahl unterscheidet Cassirer symbolische Formen in dem 1923 veröffentlichten Vortrag »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaft« durch das »Verhältnis […], das der Geist in jeder von ihnen zu der von ihm erzeugten Welt der Bilder und Gestalten sich gibt«.183 In jeder symbolischen Form ist es »ein besonderes und unvergleichliches Grundverhältnis, das […] zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹, zwischen dem Sein des Ich und der Welt nicht sowohl bezeichnet als vielmehr gestiftet wird«.184 Als zweites Kriterium zur Unterscheidung kultureller Erzeugnisse ist somit die Diversifi kation von Subjekt-Objekt-Verhältnissen angegeben, die ich hier in Anlehnung an Hellmuth Plessner als »Positionalitäten« kurz fassen möchte.185 1927, d. h. zwischen der Publikation des zweiten und des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, entwirft Cassirer in dem Vortrag »Das SymbolproECW 13, S. 507. Ebd., S. 507. 182 ECW 6, S. 50. 183 ECW 16, S. 91. 184 ECW 11, S. 22. 185 Hellmuth Plessners Begriff der »Positionalität«, den er in dem 1928 erschienenen Werk Die Stufen des Organischen prägt, um das Wesen des Lebendigen zu begreifen, meint den Strukturzusammenhang, in dem ein Lebewesen mit seinen Sphären, d. h. seinen Umwelten oder Welten verbunden ist. In dem Nachlaßtext Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in dem Cassirer die Philosophie der symbolischen Formen anthropologisch perspektiviert, weist er auf die Nähe seines Entwurfs des Auf baus geistiger Formen des Lebens zu demjenigen Plessners hin (vgl. ECN 1, S. 36, Anm. und S. 60, Anm.). Als »Positionalität« des Menschen bezeichnet Plessner seine »Exzentrizität«. Er hat keine Welt, sondern muß sie sich selbst schaffen. Cassirer, der hierin mit Plessner übereinstimmt (vgl. ECN 1, S. 238 und die Herausgeberanmerkung 519 dazu), bezeichnet den Menschen in einer früheren Fassung der anthropologischen Bestimmung des Menschen als »animal symbolicum« hier als »der Form f ähig« (ECN 1, S. 44). Die spezifi sch menschliche Fähigkeit zur Distanzierung nennt er mit Schiller »das erste liberale Verhältnis des Menschen zum Weltall« (ECN 1, S. 44), meint damit aber nicht, wie Schiller, nur das ästhetische Verhältnis zu Welt, sondern jede Richtung der Reflexion. Es wird sich später zeigen lassen, daß jedoch insbesondere die Kunst durch eine liberale Positionalität gekennzeichnet ist. 180 181

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blem und seine Stellung im System der Philosophie« einen »allgemeinen Plan der ideellen Orientierung«, mit Hilfe dessen »die Stelle jeder symbolischen Form« bezeichnet werden könne.186 Er unterteilt die allgemeine Symbolfunktion in Ausdrucks-, Darstellungs-, und Bedeutungsfunktionen. Auch in dem Nachlaßtext Zur Metaphysik der symbolischen Formen von 1928 spricht er von der Unterscheidung »geistiger Dimensionen« als einem »ideellen Bezugssystem«, an dem sich die Eigenarten der symbolischen Formen ablesen lassen.187 In den nachgelassenen Aufzeichnungen »Symbolische Formen. Zu Band IV.«, die ebenfalls auf ca. 1928 datiert werden, fi ndet sich das Schema a) Ausdruck = »Verstehen« – »Leben« b) Darstellung = ›Anschauen‹ – »Gestalt« c) Bedeutung = ›Erkennen‹ – »Gesetz«.188 Mit dieser Karte hat Cassirer bis zu seinem Tod die Welt geistiger Phänomene bereist.189 Die Differenzierung verschiedener Symbolfunktionen dient Cassirer jedoch nicht nur zur Unterscheidung von Kulturgebieten. Die Beschäftigung mit den Objektivierungen von Sichtweisen zu kulturellen Gegenständen ermöglicht ebenfalls anthropologisch bedeutsame Rückschlüsse auf die Mehrdeutigkeit des Psychischen und den »Aufbau des Lebens«.190 Er ist darum bemüht, seine Symbolphilosophie im Spektrum der zeitgenössischen philosophischen Strömungen zu verorten, sie insbesondere gegenüber dem Logischen Positivismus des Wiener Kreises und verschiedenen lebensphilosophischen Positionen abzugrenzen und im Rahmen der philosophischen Anthropologie weiterzuführen. Cassirer hat sich stets gegen eine radikale Trennung verschiedener geistig-psychischer Sphären gewandt. Der Ausdruck des Lebens steht für ihn nicht in Opposition zu den Bedeutungsphänomenen des Geistes: »[D]er echte Geist ›bewahrt‹ das Leben[,] auch wo er über dasselbe hinausschreitet«.191 Als »metaphysisch« kritisiert Cassirer diejenigen Theorien – und

186

»Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, in: ECW 17,

S. 262. ECN 1, S. 6. Ebd., S. 206. 189 Eine weitere Trias, durch die Cassirer ebenfalls sowohl symbolische Formen als auch Entwicklungsstadien symbolischer Formen unterscheidet, entwirft er im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen. Es ist die Unterscheidung von mimischem, analogischem und symbolischem Ausdruck (vgl. ECW 11, Kapitel II.II). Mit dieser Differenzierung operiert er im Fortgang seltener, er verwirft sie jedoch nicht. Noch im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen fi ndet sie in einem Abschnitt, in dem er den Objektivationsprozeß der Wissenschaft rekapituliert und die verschiedenen Symbolfunktionen zu diesem Zweck als »Schichten« begreift, Verwendung. Vgl. ECW 13, S. 522. 190 ECN 1, S. 123. 191 Ebd., S. 212. 187

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in dieser Hinsicht ist der Traditionalist manchem postmodernen Metaphysiküberwinder weit voraus –, die die Vielschichtigkeit der Erfahrung aus dem Blick verlieren und ein bestimmtes Moment absolut setzen: das Sein, das Werden, die Einheit, die Vielheit, die Natur, Gott, die Seele, den Geist. Die Liste ließe sich beliebig, und aus der Perspektive des beginnenden 21. Jahrhunderts wohl auch um die »Differenz« ergänzen. Das Anliegen, durch die Philosophie der symbolischen Formen eine derjenigen Differenzen zu vermitteln, die ihn als Diagnostiker lebensphilosophischer, aber auch physikalistischer Einseitigkeiten umtreibt: diejenige von »Geist« und »Leben«, wird insbesondere an den im ersten Band der Nachlaßausgabe zusammengeführten Texten deutlich. Aber nicht nur zeitgenössische Hypostasierungen einzelner »Basisphänomene« geistigen Lebens werden ihm zum Problem, auch der Frontstellung, die das große Vorbild Goethe in den Maximen und Refl exionen gegen den »Kuppler Verstand« bezieht, muß er begegnen.192 In den Aufzeichnungen »Über Basisphänomene« von ca. 1940 bringt Cassirer verschiedene »Klassen psychischer Phänomene«, die Theodor Lipps unterschieden hat, sowie die »Modi geistiger Repräsentation« Karl Bühlers mit den Goetheschen Urphänomenen in Verbindung. Der »Ausdruck« oder die »Kundgabe« Bühlers entsprechen hier der »Sphäre des Fühlens« bei Lipps sowie der »Monas« oder des Ichs bei Goethe. Die »Steuerung« (Bühler) entspricht der »Sphäre des Wollens« (Lipps) und dem »Wirken« (Goethe), die »Darstellung« (Bühler) der »Sphäre des Denkens« (Lipps) und dem »Werk« Goethes, wobei Cassirer hervorhebt, daß »Denken« »den Inbegriff aller kognitiven Akte«, die zur Setzung von Gegenständlichkeit führt, meint.193 Wenngleich das Cassirersche Schema zur Verortung symbolischer Form mit den Differenzierungen Goethes, Lipps und Bühlers nicht völlig zur Deckung gelangt, lassen sich durch Cassirers Kommentierung dieser Parallelisierung einige Bedeutungsnuancen gewinnen. In der Cassirerschen Funktion des Ausdrucks bezeugt sich »die reine ›Innerlichkeit‹ des Subjekts, sein monadisches Eigen-Sein und Eigen-Leben […] – ›Ausdruck‹ das ist der einzige Weg, auf dem diese Innerlichkeit ›erscheinen‹, sich ›offenbaren‹, nach ›aussen‹ dringen kann«.194 Der Begriff der »Steuerung« hat keine Entsprechung in dem Cassirerschen Schema; es meint den Aktionszusammenhang des sozialen Lebens. Unter Darstellung wird schließlich in Übereinstimmung mit Cassirers Entwurf die »Setzung eines Objektiven«, die »Es-Sphaere« gefaßt.195 Die Cassirersche Symbolfunktion der »Bedeutung« kommt in den psychologischen Schemata und unter den Urphänomenen Goethes – naturgemäß – nicht vor. Die Frage, wie »der Goethischen Forderung der ›Urphänomene‹ und der Cartesisch-Kantischen Forderung der ›Reflexion‹ im Auf bau der Vgl. ECN 1, S. 126, bzw. Maximen und Refl exionen, Nr. 412, S. 82. Vgl. ECN 1, S. 143 und 149. 194 Ebd., S. 148. 195 Ebd., S. 149. Cassirer hat bereits in der Philosophie der symbolischen Formen auf die Abhängigkeit seines Darstellungsbegriff s von Bühler hingewiesen. Vgl. ECW 13, S. 122, Anm. 6. 192 193

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Erkenntnis«196 gleichermaßen Genüge getan werden kann, beantworten die Aufzeichnungen »Über Basisphänomene« nicht, und um ihr nachzugehen, müßte die Themenstellung dieser Arbeit verlassen werden. Doch liegen in der Konzeption des Symbols, dem Theorem der symbolischen Prägnanz sowie der Verbindung von »Ausdruck«, »Darstellung« und »Bedeutung« in den einzelnen symbolischen Formen bzw. der »Schichtung der Basisphänomene« Lösungsansätze bereit. Cassirer betrachtet den »Einbruch der ›Reflexion‹« als eine »Wendung gegen die ›Urphaenomene‹«, was jedoch nicht als eine Abwendung, sondern als ihre Transformation und das Erreichen einer neuen Dimension oder Position zu betrachten ist.197 Denn bei der idealtypischen Differenzierung symbolischer Formen unter dem Aspekt der Positionalität, ist stets im Blick zu behalten, daß Cassirer den Zusammenhang dieser Subjekt-Objektverhältnisse als einen Auf bau begreift, dessen Schichten zu analytischen Zwecken rekonstruktiv freigelegt, aber nicht getrennt werden können. Cassirer ordnet die verschiedenen symbolischen Formen nicht ausschließlich einer einzigen Symbolfunktion zu. Werdende Formen bringen sich ändernde Verhältnisse von Subjekten zu ihren geistigen Erzeugnissen zum Ausdruck. Daß es für ihn ein besonderes Anliegen war, den Zusammenhang der verschiedenen Sinndimensionen zu verdeutlichen, ist bereits erwähnt worden. Er grenzt sich gleichermaßen gegen Theorien ab, die Phänomene des Ausdrucks aufgrund ihrer »Lebensnähe« hypostasieren und Phänomene reiner Bedeutung als Entfremdung stigmatisieren,198 wie gegen positivistische Ansätze, für die alle Phänomene jenseits der gegenständlichen Bedeutung unsinnig sind.199 So ist der Ausdruck beispielsweise neben der terminologischen Bezeichnung einer spezifischen Symbolfunktion etwas allen symbolischen Formen Gemeinsames: Eindrücke werden durch symbolische Formen zu einer »Welt des reinen geistigen Ausdrucks« umgebildet.200 Immer wieder kommt er im Rahmen von Begründungsdiskursen auf das Ausdrucksphänomen zurück, das für ihn die Kulturwissenschaften von den Naturwissenschaften scheidet und den Zugang zu der Welt des Lebens, der Seele und des Geistes eröff net: »Der eigentliche Schnitt, den wir zwischen den Gebilden der Natur und denen der Kultur führen können, besteht darin, daß uns die letzteren immer in einer charakteristischen Funktion gegeben sind – wir ›erfassen‹ sie in einem anderen Modus der Auffassung: und dieser Modus der Auffassung charakterisiert alle Kulturobjekte – er ist konstitutiv für die Welt der Kultur[.] Die ›Dingwahrnehmung‹ konstituiert das Objekt der Natur; die Ausdruckswahrnehmung konstituiert die Welt der Kultur.«201

196 197 198 199 200 201

ECN 1, S. 130. Ebd., S. 126. Vgl. z. B. die in ECN 1 abgedruckten Aufzeichnungen über Klages, S. 212 f. Ebd., S. 118. ECW 11, S. 10. Vgl. das Manuskript »Probleme der Kulturphilosophie« von 1939 in: ECN 5, S. 66.

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Mit diesem Zugang zu den Kulturwissenschaften steht er ebenfalls in (impliziter) Opposition zu dem sich entwickelnden Strukturalismus, der die eigene Wissenschaftlichkeit unter Beweis zu stellen sucht, indem er seine Objekte ausschließlich als differentielle Bedeutungsphänomene begreift und Dimensionen, an denen Cassirer festhalten möchte, ausklammert.202 Die Philosophie der symbolischen Formen wendet sich gegen die Reduzierung geistiger Symbole auf eine einzige der verschiedenen Symbolfunktionen, die im folgenden erläutert werden. »[D]ächten wir die reinen Ausdruckserlebnisse schlechthin ausgelöscht und in ihrer Eigenheit und Besonderheit vernichtet, so wären damit auch große und weite Gebiete der ›Erfahrung‹ brachgelegt. Es ist kein Zweifel, daß zu ebendieser Erfahrung das Wissen nicht nur von Dingen, als physischen Gegenständen, sondern das Wissen von ›fremden Subjekten‹ ursprünglich gehört. Keine Form der Reflexion, der mittelbaren Schlußfolgerung, kann dieses Wissen erschaffen – denn Sache der Reflexion ist es nicht, die Erlebnisschicht, in der es wurzelt, selbst hervorzubringen, sondern nur, sie theoretisch zu deuten.« 203 Die der Erlebnisschicht angehörige Wahrnehmung ist für Cassirer somit nicht ausschließlich die Wahrnehmung von Dingen. Die »Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren«, ist in der »Ausdruckswahrnehmung« gegeben,204 die er als ein Urphänomen betrachtet: »Sie hat ihre spezifische Form, ihre eigene ›Wesenheit‹, die sich nicht durch Kategorien, die für die Bestimmung ganz anderer Seins- und Sinnregionen gelten, beschreiben, geschweige durch sie ersetzen läßt.« 205 Was sich in den Zuständlichkeiten des Fühlens, Wollens und Gestimmtseins als Ausdruck erschließt, ist das lebendige Gegenüber als »Du«, das keinen Dingcharak-

In dem Aufsatz »Strukturalismus in der modernen Linguistik« von 1945 nimmt Cassirer zu dem Bild der Sprache, das in der strukturalistischen Linguistik vorherrscht, Stellung. Er tut dies wie üblich nicht in der Weise direkter Konfrontation, sondern indem er über den auch in der Sprachwissenschaft bedeutsamen Begriff der »Morphologie« die (ältere) Betrachtung der Sprache als »organisch« einführt. Auch hier beharrt er auf der Grenzlinie, die die menschliche Welt von der Welt physikalischer Objekte trennt (GL, S. 338). Die Linguisten würden sich in eine Welt der Bedeutungen einschließen (S. 339), doch Sprache ist, könnte man ergänzen, ein Phänomen, das auch in den Dimensionen des Ausdrucks und der Darstellung seinen Ort hat. Zu Gemeinsamkeiten des Cassirerschen Ansatzes mit dem Strukturalismus vgl. jedoch unten, Teil II, Kapitel 2, Abschnitt i). S. G. Lofts diskutiert in seinem Aufsatz »Cassirers Morphologie: Strukturbedeutung und Bedeutungsstruktur in den Kulturwissenschaften«, in: Symbol – Struktur – Kultur. Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften nach Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und Pierre Bordieu. Mitteilungen des Institutes für Wissenschaft und Kunst, 54. Jahrgang 1999, Nr. 2–3, S. 20–26, ausführlich das Verhältnis zwischen Strukturalismus und Cassirers Kulturphilosophie. Aus den oben genannten Gründen kann ich seine Einschätzung einer »tiefen Verwandtschaft« (S. 20) zwischen beiden jedoch nicht teilen. 203 ECW 13, S. 90. 204 Ebd., S. 82. 205 Ebd., S. 89. 202

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ter hat,206 und es sind ganz allgemein Stimmungen, Atmosphären und Anmutungen – nicht ausschließlich von Personen –, die weder als Gegenstände betrachtet noch als Projektionen auf der Subjektseite verortet werden können.207 Cassirer faßt diese Phänomene, in denen »Inneres und Äußeres in einem« sind,208 als »Wirksamkeit«. So ist für die »Welt des Ausdrucks« kennzeichnend, »daß ein bestimmtes, klar entwickeltes Ichbewußtsein ihr nicht von Anfang an eignet. Denn alles Erleben – Ausdruck ist zunächst nichts anderes als ein Erleiden; ist weit mehr ein Ergriffenwerden als ein Ergreifen«.209 Das mythische Bewußtsein, dem Cassirer vorrangig die Ausdrucksfunktion zuordnet, »›hat‹ den Gegenstand nur, indem es von ihm überwältigt wird; es besitzt ihn nicht, indem es ihn fortschreitend für sich auf baut, sondern es wird schlechthin von ihm besessen«.210 Die Phänomene des Ausdrucks haben unmittelbar auslösenden Charakter und werden von dem durch sie Berührten nicht als eine Bedeutung tragend begriffen: »Für den Mythos ist das Bild niemals etwas bloß Mittelbares, niemals lediglich ›Zeichen‹ oder ›Allegorie‹, sondern in ihm faßt sich das Wesen selbst zusammen. Das Bild- und Ausdruckshafte einer Erscheinung hat keinen bloß darstellenden Charakter, der auf ein Objektives jenseit ihrer hinweist – sondern in ihm giebt sich uns ein Wirkliches hin, in ihm ergreift uns ein dämonisch-Lebendiges und steht in voller Gegenwart vor uns.« 211 Das reine Ausdrucksphänomen kennt noch keine Form der Entzweiung. »In ihm ist eine Weise, ein Modus des ›Verstehens‹ gegeben, der nicht an die Bedingung der begriffl ichen Interpretation geknüpft ist: Die einfache Darlegung des Phänomens ist zugleich seine Auslegung, und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.« 212 Diese unmittelbare Präsenz bezeichnet Cassirer als »Transparenz« des Phänomens.213

O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 72, faßt die Charakteristika der Ausdrucksphänomene treffen zusammen: »Es sind die unmittelbar gegebenen ›physiognomischen‹ und ›dramatischen‹ Ausdruckswerte, die den Menschen in dieser Unmittelbarkeit betreffen und bewegen und damit sowohl seine Welt als auch ihn selbst in seiner ganzen Existenz in ein Gewebe unterschiedlicher Gewichtungen und Spannungen hineinziehen. Diese »physiognomische« und »dramatische« Weltgliederung ist noch keine feste Ordnung«. Vgl. auch M. Plümacher, Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, S. 467. 207 Zur besonderen Qualität von Atmosphären vgl. die Studien von G. Böhme, Atmosphäre. Essays zu einer neuen Ästhetik, Frankfurt/Main 1997, sowie ders., Anmutungen. Über das Atmosphärische, Stuttgart 1998. 208 ECW 13, S. 95. 209 Ebd., S. 83. 210 ECW 12, S. 88. 211 ECN 1, S. 25. 212 ECW 13, S. 105. 213 Vgl. ebd., S. 520, und »Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie«, in: ECW 17, S. 260. Interessant ist die Nähe der Cassirerschen Bezeichnung der Erscheinungsform von Ausdrucksphänomenen als »Transparenz« zu der Leibnizschen Beschreibung eines ästhetischen Eindrucks als Scheinbild oder »Transparent« (Neue Abhandlungen, S. 427). 206

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Obwohl dem in einer mythischen Welt Lebenden die Zeichenhaftigkeit der Äußerungen, in denen er seine Eindrücke zum Ausdruck bringt, nicht bewußt ist, gehen die Gestaltungen des Mythos nicht in der Ausdruckssphäre auf. Die sprachlichen, rituellen oder »künstlerischen« Formen des Mythos sind dennoch »Darstellungen«, und sie haben für den Außenstehenden eine »Bedeutung«. Kennzeichnend für die »Ausdrucksfunktion« ist jedoch das Verhältnis, das der die mythischen Symbole Hervorbringende zu seinen Produkten einnimmt, d. h. die Position, die er ihnen gegenüber bezieht.214 Das mythische Bewußtsein trennt nicht zwischen Symbol und Symbolisiertem. Und so ist es innerhalb des Cassirerschen Entwicklungsschemas, das symbolische Formen auf dem Weg vom Ausdruck zur Bedeutung zeigt, erst die Religion, die eine veränderte Stellungnahme des Praktizierenden zu seinen Zeichen aufweist: »Die Religion vollzieht den Schnitt, der dem Mythos als solchem fremd ist: Indem sie sich der sinnlichen Bilder und Zeichen bedient, weiß sie sie zugleich als solche – als Ausdrucksmittel, die, wenn sie einen bestimmten Sinn offenbaren, notwendig zugleich hinter ihm zurückbleiben, die auf diesen Sinn ›hinweisen‹, ohne ihn jemals vollständig zu erfassen und auszuschöpfen.« 215 Aufgrund ihrer Manifestation in Zeichen oder Symbolen kann Cassirer sagen, daß alle symbolischen Formen »in den Kreis der ›Darstellung‹ gehören«, wenngleich sie durch eine »je eine eigene Dimension der Darstellung« gekennzeichnet sind.216 »Darstellung« gehört für ihn zum Wesen des Bewußtseins überhaupt, das relationalen Charakter besitzt. Dieser Charakter tritt jedoch nicht in allen Gebilden des Bewußtseins gleichermaßen und gleich deutlich zutage. Die verschiedenen Dimensionen der Darstellung sind durch variable Verhältnisse von »Präsenz« und »Repräsentation« bestimmt. Die Unterschiede bezeichnet Cassirer als »Verschiedenheit des dynamischen Spannungsverhältnisses zwischen dem Inhalt einer Erscheinung als solchem und ihrer darstellenden Funktion«: »Jeder noch so ›eleCassirer distanziert sich (ECW 13, S. 80 f.) von dem durch Fr. Th. Vischer und Th. Lipps eingeführten Begriff der »Einfühlung« zur Kennzeichnung des Ausdrucksverstehens: »Es ist eine Verkennung der reinen Ausdrucksphänomene, wenn eine bestimmte psychologische Theorie sie erst aus einem sekundären Akt der Deutung entstehen läßt, wenn sie sie als Produkte der ›Einfühlung‹ erklärt. Der Grundmangel dieser Theorie und ihr πρτον ψεδος liegt darin, daß sie die Ordnung der phänomenalen Gegebenheiten umkehrt. Sie muß die Wahrnehmung zuvor ertöten, sie muß sie zu einem Komplex bloß sinnlicher Empfi ndungsinhalte machen, um dann diesen toten ›Stoff‹ der Empfi ndung durch den Einfühlungsakt aufs neue zu beleben. Aber das Leben, das ihm auf diese Weise zuteil wird, bleibt letzten Endes ein bloßes Scheinleben – bleibt das Werk einer psychologischen Illusion.« 214 Vgl. ECW 12, S. 7 und S. 6: »Das eigentliche Phänomen, das hier begriffen werden soll, ist ja nicht der mythische Vorstellungsinhalt als solcher, sondern die Bedeutung, die er für das menschliche Bewußtsein besitzt, und die geistige Macht, die er über dasselbe ausübt. Nicht der stoffl iche Inhalt der Mythologie, sondern die Intensität, mit der er erlebt, mit der er – wie nur irgendein objektiv Daseiendes und Wirkliches – geglaubt wird, bildet das Problem.« 215 Ebd., S. 280. 216 ECW 13, S. 52.

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mentare‹ sinnliche Inhalt ist schon von einer solchen Spannung erfüllt und mit ihr gewissermaßen geladen. Er ist niemals einfach, als isolierter und abgelöster Inhalt, ›da‹; sondern er weist in ebendiesem Dasein über sich hinweg; er bildet eine konkrete Einheit von ›Präsenz‹ und ›Repräsentation‹.« 217 Zwischen beiden konstatiert Cassirer ein reziprokes Bedingungsverhältnis: »Die Formung der Anschauung [die Präsenz] ist das eigentliche Vehikel, dessen die Darstellung [die Repräsentation] notwendig bedarf, und andererseits ist es der Gebrauch der Anschauung als Darstellungsmittel, der an ihr immer neue ›Seiten‹ und Momente hervortreten läßt, der sie zu einem immer reicheren und differenzierteren Ganzen gestaltet.« 218 Zwar nimmt jede Darstellung von der »Präsenz« einer Anschauung ihren Ausgang, doch sie geht darin weder auf, noch kann sie sie ausschöpfen. Mit der Darstellung beginnt für Cassirer die Repräsentation, ist die Anschauung nicht mehr reine Präsenz.219 Mit ihr wird der Zugang zur »Welt der Vorstellung« gewonnen.220 Die Darstellung ist eine Setzung, deren Funktion darin besteht, eine »intersubjektive Welt der Sachverhalte zu begründen«.221 »Die Erkenntnis der identischen Bedeutung des Namens und die Erkenntnis von Dingidentitäten und Eigenschaftsidentitäten entwickeln und entfalten sich miteinander: Denn beide sind nur verschiedene Momente der Wendung, die das Bewußtsein erfährt, indem es unter die Herrschaft der reinen ›Darstellungsfunktion‹ gelangt. Jetzt erst, nachdem der Sinn des Namens gewonnen ist, hält auch das Sein dem Blicke stand, so daß er in ruhender Betrachtung auf ihm verweilen kann. Und in diesem Standhalten erst ist der ›Gegenstand‹ gewonnen und gesichert.« 222 Der Darstellung entspricht ein anschauliches Erfassen von Wirklichkeit. Die Sprache, an der Cassirer die Darstellungsfunktion vorrangig expliziert, gestaltet ihre Welt als eine Welt von Dingen und Sachverhalten in einem der Anschauung entsprechenden Raum-Zeit-Verhältnis.223 In den Benennungen der Sprache trennt sich ein Ich von den Gegenständen der Außenwelt: »Wenn dem Kinde in dieser Weise die Darstellungsfunktion der Ebd., S. 143. Ebd., S. 158. 219 Ebd., S. 125. 220 Vgl. ECN 1, S. 75. 221 Vgl. M. Plümacher, Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, S. 470 f. 222 ECW 13, S. 135. 223 Ein prägnantes Beispiel für die Angewiesenheit der Sprache auf die Anschauung ist die Beschreibung, die Cassirer von den Darstellungsproblemen gibt, die Kant bei der Abfassung der Kritik der reinen Vernunft bewältigen mußte. Immer wieder insistiert er darauf, daß bestimmte Probleme, die in der Interpretation der Kantischen Vernunftkritik auftauchen, Probleme der Darstellung von nicht-anschaulichen, reinen Verhältnismäßigkeiten in einer nur für die Darstellung von »Sachverhalten« tauglichen Sprache sind. Letztlich gesteht Cassirer jedoch ein, daß Kants Ausdrucksweise mit theoretischen Positionen in Verbindung steht. Die Kantische Annahme, daß Begriffe ohne Anschauungen leer sind, betrachtet Cassirer als eine Fessel, die Kant darin hindere zu verstehen, was Begriffe und begriffl iches Darstellen in der modernen Naturwissenschaft bedeuten. Vgl. ECW 13, S. 417 ff. und 531. 217

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Namen, wenn ihm der Sachverhalt des ›Heißens‹ aufgeht, so hat sich damit für dasselbe seine ganze innere Stellung zur Wirklichkeit verwandelt – so ist für es ein prinzipiell neues Verhältnis von ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ entstanden. Jetzt erst beginnen die Gegenstände, die vorher den Affekt und den Willen unmittelbar ergriffen, gewissermaßen in die Ferne zu rücken: in eine Ferne, in der sie ›angeschaut‹, in der sie in ihren räumlichen Umrissen und nach ihren selbständigen qualitativen Bestimmungen vergegenwärtigt werden können.« 224 Diese Trennung von Subjekt und Objekt und die Identifi zierung von beiden bedingen sich wechselweise und schaffen die Möglichkeit des Wiederfi ndens und Wiedererkennens. Erst mittels Identifi zierung entsteht eine Welt, die durch die »innere Festigkeit der Gestalten« 225 gekennzeichnet ist und relativ verläßliche Orientierung ermöglicht. Sosehr jedoch die Distanzierung des Subjekts von dem dargestellten Objekt grundlegend für die Darstellungsfunktion ist: der Zusammenhang mit der Ausdrucksfunktion, der die Darstellungen des Mythos prägt, zerreißt auch in der Sprache nicht. In der Sprache – mit Sprache meint Cassirer in der Regel die Sprache der Alltagskommunikation – gelangt stets auch die innerliche Anteilnahme des Ichs am Inhalt des Ausgesprochenen zum Ausdruck. Die sprachliche Darstellung ist immer Zeugnis eines Individuums. Erst im Begriff ist »alles ausgelöscht, was […] bloßen Ausdruckswert besitzt«.226 Mit der »Bedeutung« ist schließlich eine neue Form gedanklicher Einheitsbildung erreicht. Cassirer expliziert sie an der mathematischen Naturwissenschaft. Die Relationsgefüge, die in den Begriffen der Wissenschaft zusammengefaßt werden, verlassen den Bereich der »Darstellbarkeit« und sind als »Symbolismus der Prinzipien« zu begreifen.227 Ihnen entsprechen nicht wie den »Worten« der Alltagssprache anschauliche Dinge, sondern sie sind nur innerhalb von komplexeren Zusammenhängen zu verstehen: »Keiner dieser Sätze [der Wissenschaft], keines der einzelnen Stadien in diesem logischen Fortgang, braucht […] einer direkten anschaulichen Interpretation fähig zu sein. Nur als logische Gesamtheit läßt sich die Reihe der Folgerungen auf die Anschauung beziehen und an ihr bewähren und rechtfertigen. Wenn wir daher auch hier wieder das physikalische Denken dem sprachlichen Denken vergleichen wollen, so ließe sich sagen, daß der Fortgang vom ›Modell‹ zum ›Prinzip‹ eine analoge gedankliche Leistung in sich schließt, wie sie die Sprache vollzieht, indem sie vom Wort zum Satz fortgeht: Mit der Anerkennung des Vorrangs des Prinzips vor dem Modell gelangt die Physik gewissermaßen erst dazu, in Sätzen statt in Worten zu denken.« 228 Die These der Auslöschung des Ausdruckswertes in der Wissenschaft steht mit der Art ihrer 224 225 226 227 228

Ebd., S. 126. Ebd., S. 120. Ebd., S. 390. Ebd., S. 542. Ebd., S. 535.

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Setzung in Verbindung, hinter der der Setzende als Individuum verschwindet. In den Objektivationen der Wissenschaft sind alle Spuren eines Ichs und jeder Bezug auf ein »Du« getilgt. Cassirer weist jedoch darauf hin, daß auch die von der Wissenschaft in Anspruch genommene Intersubjektivität nicht umhin kann, ein »Du« vorauszusetzen.229 Die »Bedeutung« ist durch ein Höchstmaß an Reflexivität gekennzeichnet, da der Begriff sich als willkürliches Zeichen weiß: es ist jedoch nicht mehr jemandes Zeichen. In polaren Begriffen wie Festigkeit und Flüchtigkeit, Distanz und Nähe, Graden der Refl exivität und der Befreiung sowie der Verhältnisbestimmung von Präsenz und Repräsentation (die im folgenden Abschnitt separat erörtert werden soll) lassen sich die Differenzen der verschiedenen Symbolfunktionen und symbolischen Formen zusammenfassen. Das mythische Ordnungsgefüge ist nach Cassirer durch Labilität und Flüchtigkeit gekennzeichnet. Der Ausdruck ist an die aktuelle Präsenz von Eindrücken innerhalb des Bewußtseinsflusses gebunden. Die mythischen »Objekte« lassen sich nicht zu identischen Gegenständen still stellen, sondern sind ständig in Transformationen begriffen. Auch die Subjekte des mythischen Bewußtseins haben keine durchgängige Identität. Das Leben wird im Mythos nicht als stetiger Prozeß empfunden, sondern durch bestimmte, bedeutsame Punkte unterbrochen. Stabilität entsteht auf der Subjekt- wie auf der Objektseite erst durch die Darstellungsfunktion und die mit ihr verbundenen Möglichkeiten der Identifi zierung sowie die systematischen Verweisungsstrukturen von »Sprachen«.230 Die Alltagsprache kann jedoch durch die Fähigkeit zur spontanen Variation, über die sie verfügt, sowie die Ausdruckscharaktere wie Tempo, Rhythmus und Melodie unzählige Nuancen in die Rede einbringen. Sprache ist somit trotz relativer Bedeutungsstabilität nicht starr. In der Wissenschaft hingegen soll kein Individuum mit seinen Stimmungen und Anschauungen, sondern lediglich die Sache selbst ›zur Sprache kommen‹. Wer in den Kontext der Wissenschaft eintritt, muß exakt Rechenschaft über die von ihm verwendete Sprache geben. Der Gewinn an Universalität und allgemeiner Gültigkeit wird durch Stillstellung in Begriffen und Formeln erreicht. Den Weg der Fixierung von Eindrücken, Anschauungen und schließlich Relationen in Zeichenordnungen beschreibt Cassirer als einen stetigen Prozeß der Distanzierung oder fortschreitenden »Entäußerung«, in dem ursprüngliche Ausdruckscharaktere in objektive »Merkmale«, in Dingbestimmungen und Bestimmungen von Sachverhalten übergehen. Diese »Entäußerung« steigere sich in dem Maße, in dem die Welt der Ausdrucksphänomene zu einer Welt der Darstellung und schließlich der reinen Bedeutung werde. Während der Ausdruck durch ein Vgl. ECN 1, S. 121f. Sicherlich behauptet Cassirer nicht, daß sich die manifesten Ordnungsstrukturen des Mythos ständig wieder in Nichts auflösen. Was er mit dieser Skala von »flüchtig« bis »starr« zeigen möchte, sind lediglich Tendenzen bzw. Charakteristika einer vorherrschenden, jedoch nicht der einzigen Symbolfunktion des Mythos. 229

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»Ineins« von Subjekt und Objekt gekennzeichnet ist, die Darstellung die Trennung und Setzung von Subjekt und Objekt bedeutet, in der die Objekte mittels ihrer Bezeichnungen operabel werden, ist die reine Bedeutung durch größte Distanz von Subjekt und Objekt gekennzeichnet.231 Diese Distanzierung ist für Cassirer ein Prozeß der Befreiung. Während der Mensch im Mythos den Mächten, die auf ihn wirken, ausgeliefert ist und sie nicht als seine eigenen Schöpfungen erkennt, öff net sich mit der »Welt der Vorstellung«, die durch Darstellung möglich wird, ein Raum – der »Denkraum der Besonnenheit« Aby Warburgs. Er befreit sich in der Darstellung zu einer Person, die sich zu Gegenständen ins Verhältnis setzen kann. Die Befreiung, die durch die Loslösung des Denkens von der Anschaulichkeit erreicht wird, ist keine in einem solchen existentiellen Sinne. Sie eröff net dem Menschen jedoch Verständnismöglichkeiten von Zusammenhängen, die ohne die Sinndimension der reinen Bedeutung verschlossen bleiben würden. Freiheitsgewinn bedeutet bei Cassirer stets eine Erhöhung des Grades an Reflexivität. Das Wissen um die Schaff ung und Setzung von Zeichen überragt die Fähigkeit, sie zu verwenden – z. B. eine Sprache sprechen zu können. Die Reflexivität ist für den Begriff und somit für die Sinnsphäre der Bedeutung bestimmend: »Denn der Hinweis, der in der Wahrnehmung oder Anschauung nur geübt wird: er soll im Begriff gewußt werden. Diese neue Art der Bewußtheit ist es, die den Begriff, als Gebilde des reinen Denkens, erst wahrhaft konstituiert.« 232 Der Begriff erst »vollzieht jene Umwendung, kraft deren das Ich sich von den Objekten, die in einer Sicht stehen und vermöge ihrer erfaßt werden, der Weise des Sehens, dem Charakter der Sicht selbst zuwendet. Erst dort, wo diese spezifi sche Art der ›Reflexion‹ geübt wird, stehen wir im eigentlichen Bereich des Denkens und in dessen Mittel- und Brennpunkt.« 233

Für M. Plümacher unterscheiden sich »Ausdrucks- und Darstellungsfunktion […] einerseits im Grad emotionaler Beteiligung bzw. Distanzierung des Erkenntnissubjekts in Reaktion auf Erkenntnisgegenstände, andererseits im Grad der Konstantensetzung«, wobei sie das Moment der Distanzierung stärker gewichtet. Vgl. Wahrnehmung, Präsentation und Wissen, S. 473 und 476. Es muß jedoch festgehalten werden, daß die »Distanzierung« bei Cassirer nur bedingt mit einer Entfernung von der »Realität« zu tun hat. Für ihn treten die Symbole zwar zwischen Subjekt und Objekt, jedoch mit dem Zweck der Vermittlung. 232 ECW 13, S. 331. 233 Ebd., S. 331. Ch. Schmitz-Rigal weist in ihrem Aufsatz »Modi des Symbolischen und plurale Sinnwelten«, S. 256–261, zu Recht darauf hin, daß es bei Cassirer neben der Unterscheidung nach Reflexionsstufen ein anderes Schema gibt, nach dem Freiheit nicht notwendig durch die Überwindung von Anschaulichkeit erreicht wird. Für die Kunst entwickele Cassirer ein davon abweichendes Verhältnis der Sinndimensionen, dasjenige von »Indifferenz, Spannung und Gleichgewicht zwischen Bild und Bedeutungsgehalt«, das im nächsten Kapitel thematisiert wird. 231

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f ) Zum Verhältnis von Präsenz und Repräsentation in der Philosophie der symbolischen Formen Die Philosophie der symbolischen Formen tritt in die Fußstapfen des kritischen Idealismus, der auf den »stolze[n] Name[n] einer Ontologie« 234 verzichtet, um sich mit dem bescheidenen einer Analytik der formbildenden Kräfte des Menschen zu begnügen. Sie begreift die »Wirklichkeit« nicht als einheitlich, denn sowohl Subjekt als auch Objekt sind erst das Ergebnis vielfältigster Auseinandersetzungen des Menschen mit seinen sinnlichen Eindrücken. Für die kantianischen Revolutionäre der Denkungsarten gibt es nicht mehr das eine objektive Sein, das ein Denken originalgetreu zu reproduzieren hätte. In den geistigen Erzeugnissen hat der Geist es stets mit sich selbst zu tun. Mit einer solchen Verlagerung der Produktionsstätte geistiger Bilder aus dem Zwischenraum von Subjekt und Objekt in den Innenraum bewußtseinsinterner Formungsprozesse, die mit der Verabschiedung der Abbildtheorie einhergeht, verändert sich der Begriff des Bildes selbst. Die geistigen Erzeugnisse der menschlichen Produktivität – auch die Grundbegriffe der Wissenschaft – lassen sich nun als »Scheinbilder« begreifen.235 Alle Bereiche symbolischer Formung bezeichnet Cassirer als »eigentümliche[…] Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die [die symbolischen Formen] vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schaff t auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen wenn nicht gleichartig, so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind. Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des ›Wirklichen‹«.236 Für den symbolischen Kosmopoliten gibt es keine Urbilder, die nachgeahmt werden, keine ursprüngliche Form, auf die die anderen Formen zurückgeführt werden könnten, keine »Muttersprache«, in die andere »Sprachen« übersetzt werden müßten, denn der Mensch, das »animal symbolicum«, ist in jeder symbolischen »Sprache« zu Hause. Symbolische Formen sind Ergebnisse stetiger Gestaltungsprozesse, die der Mensch auf unterschiedlichste Weise, mit den unterschiedlichsten Mitteln initiiert und in Gang hält. Sie entziehen sich einer allegorischen Auslegung, denn allegorisch begreifen heißt für Cassirer, einen Gegenstand nur dadurch zu verstehen, »daß er auf etwas anderes als das, was er selbst unmittelbar ist und bedeutet, bezogen und reduziert wird«.237 Die Betrachtungsweise der Philosophie der symbolischen Formen bezeichnet er als eine »tautegorische«, d. h. als eine sol234 235 236 237

KrV B 303. ECW 11, S. 4 und 15. Ebd., S. 7. Ebd., S. 15.

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che, die die jeweiligen Gestaltungen als autonome Gebilde des Geistes begreift, »die aus sich selbst, aus einem spezifischen Prinzip der Sinn- und Gestaltgebung begriffen werden müssen«.238 Obwohl Subjekt und Objekt dem Prozeß symbolischer Formung nicht vorausliegen, sondern erst aus ihm hervorgehen, somit nichts »gegeben« scheint, was durch eine symbolische Form »re-präsentiert« werden könnte, hält Cassirer am Begriff der Repräsentation fest und verwendet ihn in zweifacher Hinsicht: Zum einen begreift er mit Leibniz das Bewußtsein selbst, zum anderen das Verhältnis zwischen Phänomen und symbolischer Form als Repräsentation. 1. Der Begriff der Repräsentation ist aufs engste mit dem Begriff des Symbols selbst verbunden. In Leibniz’ System bezeichnet Cassirer die Funktion der Repräsentation als Grundlage für den Begriff des Symbols.239 Bereits in seiner frühen Leibnizinterpretation legt er den Grund zu seiner späteren Deutung der Verhältnisse von Bewußtseinsinhalten als Repräsentationen, denn mit der Leibnizschen Monadenlehre sei das Bewußtsein als eine »expressio multorum in uno« zu verstehen.240 Es sei keine Substanz, sondern repräsentiere die Einheit wechselnder Bewußtseinsinhalte bzw. das »Vermögen« der Vorstellungen überhaupt. Am Begriff der ästhetischen Harmonie versucht Cassirer »den tieferen Sinn der Repräsentation des Mannigfaltigen« zu explizieren: 241 Bei der Einheit der Harmonie handele es sich nicht um das additive Verhältnis einer ›eins-zu-eins-Abbildung‹, sondern um eine Einheit, die ihren einzelnen Teilen vorhergehe. Die aktivische Konnotation des exprimere, des Ausdrükkens – Cassirer verwendet ›exprimere‹ und ›repraesentare‹ mit Leibniz in diesem Sinne unterschiedslos – weist auf den Leistungscharakter des Bewußtseins hin. 2. Doch nicht nur die ästhetische Anschauung sowie das Bewußtsein insgesamt werden von Cassirer als Repräsentationen interpretiert. In Substanzbegriff und Funktionsbegriff stellt er jedes »Datum« in einen Repräsentationszusammenhang und entwickelt das Verständnis von Repräsentationsverhältnissen zunächst im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis weiter. Physikalische Daten beispielsweise erhalten, so Cassirer, erst durch ihren Beziehungsreichtum, d. h. durch die Verhältnisse, die sie mit anderen »Daten« eingehen, Bedeutung. Das »Datum« wird zum »Symbol der durchgehenden systematischen Verfassung, innerhalb deren [es] steht und an welcher [es] in bestimmtem Maße teilhat«.242 Cassirer sind die Angriffe, die der Begriff der Repräsentation im Laufe der Geschichte der Philosophie zu parieren hatte, vertraut. Nicht nur in der vierbänECW 12, S. 5. ECW 1, S. 418. Zur Bedeutung der Leibnizschen Monadologie für die Symbolphilosophie Cassirers vgl. das Kapitel »Symbol und Ausdruck. Die Leibnizschen Quellen der Philosophie der symbolischen Formen« in M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 163–182, zum Gesamtkomplex vgl. M. Plümacher, Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen. 240 ECW 1, S. 416 f. und ECW 11, S. 33. 241 ECW 1, S. 417. 242 ECW 6, S. 303. 238 239

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digen Geschichte des Erkenntnisproblems setzt er sich mit den verschiedenen Subjekt-Objektkonstruktionen, für die er in der Tradition gestanden hat und für die er kritisiert worden ist, auseinander. Den »Begriff der Wirklichkeit«, den Cassirer in seiner Schrift Substanzbegriff und Funktionsbegriff profi liert, verteidigt er gegen skeptische Argumente, indem er auf die »neue Bedeutung« hinweist, die er durch die Erkenntniskritik erhalten habe.243 Der transzendentale Idealismus, an den Cassirer anschließt, erklärt die ›wirkliche Wirklichkeit‹ – das »Ding an sich« – für unerreichbar, und so bezeichnet sein Begriff der Repräsentation als »Darstellung eines Bewußtseinselementes in einem anderen und durch ein anderes« eine bewußtseinsinterne Relation.244 Am Beispiel der Ergebnisse von Experimenten, die für Wissenschaftler nur dann relevant sind, wenn sie ihnen ermöglichen, Schlüsse zu ziehen und somit das Ergebnis, zu denen sie im Experiment gelangt sind, in einen komplexeren Zusammenhang einzustellen, erklärt Cassirer Repräsentationsverhältnisse im allgemeinen: »Jede besondere Phase der Erfahrung besitzt […] ›repräsentativen‹ Charakter, sofern sie auf eine andere hinausweist und schließlich im geregelten Fortschritt auf den Inbegriff der Erfahrung überhaupt hinführt. Aber dieser Hinweis betriff t nur den Übergang von einem einzelnen Reihenglied zu der Totalität, der es angehört, und zu der allgemeinen Regel, von der diese Totalität sich beherrscht zeigt. Die Erweiterung greift also nicht in ein schlechthin jenseitiges Gebiet über, sondern sucht umgekehrt ebendasselbe Gebiet, dem die besondere Erfahrung als einzelner Ausschnitt angehört, als allseitig bestimmtes Ganze zu erfassen. Sie stellt das Einzelne in den Umkreis des Systems ein.«245 Ein Datum hat somit repräsentativen Charakter innerhalb eines Sinnzusammenhangs, und es repräsentiert genau diesen Zusammenhang. Der Bezug zur ›Außenwelt‹ ist durch diese bewußtseinsinterne Referenz jedoch nicht aufgehoben, denn die Qualität, einen solchen Zusammenhang repräsentieren zu können und die Erweiterung solcher Zusammenhänge zu ermöglichen, ist der Realitätsbezug, und zwar der einzige des Menschen. Ein Verlassen der Bilderwelten zum Zwecke eines Vergleiches der Bilder mit den »wirklichen« Gegenständen ist nicht möglich. Der »wirkliche« Gegenstand ist gleichermaßen Fiktion wie treibende Kraft des menschlichen Bewußtseins. Es ist die »Fruchtbarkeit« eines angenommenen Repräsentationsverhältnisses, die den Realitätscharakter der Scheinbilder verbürgt, und so läßt sich das von Cassirer geschätzten Goethewort verstehen: Was fruchtbar ist allein ist wahr.246 Ebd., S. 306. ECW 11, S. 33. M. Plümacher, Wahrnehmung, Repräsentation und Wissen, S. 485, spricht daher von einem »semiotisch orientierten epistemischen Internalismus« Cassirers. 245 ECW 6, S. 306. 246 Vgl. Goethe, »Vermächtniß«, in: Werke (Weimarer Ausgabe), Abt. I, Bd. III, S. 82 f., S. 83, und Goethes Brief an Karl Friedrich Zelter vom 31. Dezember 1829, in: Briefe, Bd. XLVI, S. 197–200, S. 199: »Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, [der] sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert […]«. 243

244

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In diesem allgemeinen Sinne kann das Verhältnis von Repräsentation und Präsentation folgendermaßen bestimmt werden: »Repräsentation« meint die »ideelle Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt«.247 Eine Repräsentation ist für Cassirer keine nachträgliche Deutung von etwas primär Gegebenen, sondern die Bedingung von Präsentation, d. h. davon, daß uns überhaupt etwas gegenwärtig bewußt sein kann. Cassirer nimmt die Kantische Bestimmung der Apperzeption, die jede Wahrnehmung unter die Bedingung von Anschauungsformen und kategorialer Ordnung stellt, auf, liberalisiert sie jedoch, wie gezeigt, in dem Sinne, daß die Zusammenhänge, die durch ordnende Strukturen geschaffen werden, pluralisiert werden. Ohne diese »scheinbare Repräsentation« – er schreibt »scheinbar«, da es sich unter diesem Gesichtspunkt nicht um eine Re-Präsentation, d. h. einen wiederholenden Akt von etwas Ursprünglichem handelt – »gäbe es auch keinen ›präsenten‹, keinen unmittelbar gegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern er einbezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche und zeitliche wie seine begriffl iche Bestimmtheit geben«.248 Die besondere Erkenntnis oder Erfahrung repräsentiert somit das Ganze des jeweiligen Erfahrungskontextes. Die Bestimmung, die das Verhältnis zwischen Präsentation und Repräsentation in dieser Hinsicht bei Cassirer erhält, reiht es ein in diejenige Art von Verhältnissen, zu denen er bereits die klassischen Oppositionsbegriffe wie »Form« und »Materie« oder »Sinnlichkeit« und »Verstand« aufgelöst hat.249 So wie es für Cassirer keine ungeformte Materie geben kann, kann es keine »Präsenz« im menschlichen Bewußtsein geben, die nicht bereits »Repräsentation« ist: Jeder aufmerksame Blick in die Welt ist, mit Goethe, bereits Theorie. »Es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst«, schreibt Cassirer im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen, »daß in ihm kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch den einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird«,250 »[d]enn jedes einzelne Sein des Bewußtseins hat eben nur dadurch seine Bestimmtheit,

ECW 6, S. 306. Ebd., S. 306. In neueren Forschungsarbeiten der Wissenschaftstheorie wird der Begriff der Repräsentation ähnlich verwendet. Eine Repräsentation wird hier nicht verstanden als eine Darstellung »von etwas«, sondern als eine Darstellung »in etwas«. »[D]ie molekulare Wende in der Biologie seit der Jahrhundermitte scheint zu implizieren, daß hier vielleicht das traditionelle Verhältnis von Repräsentation und Referenz geradezu umgestülpt wird, indem die molekulare Schrift selbst gar nicht mehr als Darstellung von etwas gedacht werden kann, sondern zu dem primordialen Vorgang wird, der Repräsentation überhaupt erst erzeugt. […] Repräsentation realisiert sich in ganz unterschiedlichen Formen von Experimentalordnungen.« Vgl. H.-J. Rheinberger, M. Hagner, B. Wahrig-Schmidt, Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997, S. 9f. 249 Vgl. auch A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 31. 250 ECW 11, S. 29. Siehe auch den Abschnitt b) zur symbolischen Prägnanz. 247

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daß in ihm zugleich das Bewußtseinsganze in irgendeiner Form mitgesetzt und repräsentiert wird. Nur in dieser Repräsentation und durch sie wird auch dasjenige möglich, was wir die Gegebenheit und ›Präsenz‹ des Inhalts nennen.« 251 Neben dieser »Urfunktion der Repräsentation« 252 , die die Struktur oder Regelförmigkeit der Beziehung zwischen Allgemeinem und Besonderem meint und mit der allgemeinen »Symbolfunktion« oder der »natürlichen Symbolik« 253 des Bewußtseins gleichzusetzen ist, beschreibt Cassirer das Verhältnis von Repräsentation und Präsentation in der Philosophie der symbolischen Formen als eines, das zur Differenzierung symbolischer Formen dient. Obwohl die zu dem Begriff der »symbolischen Prägnanz« zusammengefaßte These, daß jeder elementare sinnliche Inhalt niemals als »isolierter Inhalt« »da« ist, sondern immer eine »konkrete Einheit von ›Präsenz‹ und ›Repräsentation‹« bildet, für alle Formen in Geltung bleibt, konstatiert er, daß das »Spannungsverhältnis« zwischen »dem Inhalt einer Erscheinung als solchem und ihrer darstellenden Funktion« »nicht in allen Gebilden des Bewußtseins in gleicher Prägnanz und Deutlichkeit hervor[tritt]«.254 Zur Markierung charakteristischer Unterschiede differenziert Cassirer die Symbolfunktion, wie bereits gezeigt, in Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion und setzt diese mit unterschiedlichen Formen der Wahrnehmung in Verbindung. Innerhalb dieser Differenzierung gewinnen die Begriffe der Präsentation und der Repräsentation eine weitere Bedeutung, denn sie dienen nun dazu, das jeweilige Verhältnis zwischen »Subjekt« und »Objekt« nicht aus der Perspektive des durch die kantische Schule hindurchgegangenen Erkenntnistheoretikers zu beschreiben, sondern eine Binnensicht der die symbolischen Formen als Lebensordnungen gestaltenden Subjekte zu (re)-konstruieren.255 Scheinbar im Gegensatz zu den bisherigen Ausführungen zum allgemeinen Repräsentationscharakter des Bewußtseins differenziert Cassirer zu diesem Zweck zwischen einem »geistigen« und einem »sinnlichen Bewußtsein«.256 Das »sinnliche ECW 11, S. 31. Ebd., S. 32. 253 Ebd., S. 39. 254 ECW 13, S. 143. 255 Vgl. zu diesem Aspekt die Ausführungen von O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 89–107. 256 ECW 11, S. 41. In seiner in dem Aufsatz »Zur Logik des Symbolbegriff s« von 1938 formulierten Antwort auf eine Kritik Konrad Marc-Wogaus erklärt Cassirer die Trennung von Präsentem und Repräsentiertem als »relative Trennung« oder »ideelle Scheidung«. Siehe ECW 22, S. 120 f. Auch in der Nachlaßschrift Zur Metaphysik der symbolischen Formen stellt er unmißverständlich klar, daß es nicht möglich ist, eine Schicht unmittelbaren Erlebens freizulegen. Präsentes und Repräsentatives lassen sich nur in ihrer Verbundenheit aufweisen (ECN 1, S. 48 f.). Tatsächlich ist die Unterscheidung von einem sinnlichen und einem geistigen Bewußtsein in einem hohen Maße mißverständlich. O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, interpretiert das Verhältnis zwischen Präsentation und Repräsentation als ein Verhältnis zwischen »primärer« Bewußtwerdung und sekundärer Vergegenwärtigung 251

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Teil II · Kapitel 1

Bewußtsein« oder auch die »Erlebnisschicht« 257 ist durch »passive Hingegebenheit« an das »Chaos der sinnlichen Eindrücke« gekennzeichnet.258 Die »Empfi ndungs- und Anschauungswelt« des sinnlichen Bewußtseins folgt dem Strom des Vorstellungsverlaufs, dem »Traum der Bilder«,259 denn der »Grundcharakter« des »sinnlichen Bewußtseins« ist der »Heraklitische[…] Fluß des Werdens«.260 Diese Bewußtseinsschicht liegt, so Cassirer, »der Differenzierung in die verschiedenen Sinngebiete, dem Auseinandertreten von Mythos und Theorie, von logischer Betrachtung und ästhetischer Anschauung voraus[…]. Ihre Sicherheit und ihre ›Wahrheit‹ ist sozusagen eine noch vormythische, vorlogische und vorästhetische; bildet sie doch den gemeinsamen Boden, dem alle jene Gestaltungen in irgendeiner Weise entsprossen sind und dem sie verhaftet bleiben«.261 Dieser »Erlebnisschicht« gehören Ausdruckserlebnisse oder Ausdruckswahrnehmungen an, die Cassirer als eine »originäre Weise des Wahrnehmens« oder den »nicht mittelbaren, sondern ursprünglichen Charakter der reinen Ausdruckserlebnisse« 262 bezeichnet. In ihr wurzelt der Mythos: »Das mythische Bewußtsein schließt nicht von der Erscheinung auf das Wesen, sondern es besitzt, es hat in ihr das Wesen. Dieses tritt nicht hinter der Erscheinung zurück, sondern es tritt in ihr hervor; es verhüllt sich nicht in ihr, sondern es gibt sich in ihr zu eigen. Das jeweilig gegebene Phänomen hat hier nirgend den Charakter bloß stellvertretender Repräsentation, sondern den Charakter echter Präsenz: Ein Seiendes und Wirkliches steht in ihm in voller Gegenwart da, statt sich nur mittelbar durch dasselbe zu ›vergegenwärtigen‹.« 263 An die sinnliche Präsenz, an den flüchtigen Moment des Erlebnisses gebunden, ist dieses »das Wesen haben« jedoch nur ein sehr flüchtiges Haben. Es löst sich auf, sobald ein anderes Erlebnis an seine Stelle tritt. Der Mythos ist durch solche Ausdrucks- oder Präsenzphänomene gekennzeichnet, aber er geht nicht darin auf. Auch er ist eine Strukturierung von Welt. Mit der Präsentation, dem »direkten ›Haben‹ einer Empfi ndung«, verbindet sich eine repräsentative Bestimmung, und diese Repräsentation gehört der Sphäre des Urteils – der Ur-teilung

(S. 95 ff.). Die von ihm zitierten Formulierungen Cassirers scheinen diese Interpretation zu rechtfertigen. Dennoch ist ein Prozeß, in dem die künstliche Symbolik die natürliche Symbolik »interpretiert«, hypothetisch. Eine »primäre« Bewußtwerdung kann nicht eigentlich »bewußt« sein – ohne den konstatierten relationalen Charakter des Bewußtseins aufzuheben. Auf ein solches sinnliches Bewußtsein kann nur geschlossen werden. Vgl. zu dieser Problematik auch D. Kaegi, »Jenseits der symbolischen Formen. Zum Verhältnis von Anschauung und künstlicher Symbolik bei Ernst Cassirer«, in: Dialektik 1995/1, S. 73–84. 257 ECW 13, S. 90. 258 ECW 11, S. 41. 259 Ebd., S. 42, und ECW 13, S. 126. 260 ECW 13, S. 128. 261 Ebd., S. 91. 262 Ebd., S. 68 und 72. 263 Ebd., S. 75.

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als Strukturierung – an.264 Damit also die flüchtigen Gestalten der Wahrnehmung ein »Dasein ›für uns‹« 265 gewinnen und über die Erlebniszeit hinaus »ständiger und beständiger« 266 gefaßt werden können, müssen sie in Zeichen dargestellt – repräsentiert werden. In diesem Sinne trägt derjenige Teil des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, der sich mit dem Problem der Darstellung beschäftigt – der vorangehende ist der Ausdruckfunktion gewidmet, der folgende der Bedeutungsfunktion – den Titel »Das Problem der Repräsentation und der Auf bau der anschaulichen Welt«. Jedes der geistigen Erzeugnisse, das die Philosophie der symbolischen Formen untersucht, ist eine Repräsentation, doch sie unterscheiden sich durch unterschiedliche »Spannungsverhältnisse« zwischen präsentischen und repräsentativen Momenten. Während im mythischen und religiösen Ritus von der Präsenz des Bezeichneten im Zeichen und einer direkten Wirkung ausgegangen wird, die aus dem Umgang mit den »Zeichen« (das freilich nicht als ein solches betrachtet wird) resultiert,267 gewinnen die Zeichen der Sprache darstellenden Charakter. Sie werden »symbolisch gebraucht und als Symbol verstanden«.268 Dadurch sind jedoch nicht alle präsentischen Phänomene aus der Sprache verbannt: »Alles, was man als Onomatopöie zu bezeichnen pflegt, gehört in diesen Kreis: Denn in den eigentlich onomatopöetischen Bildungen der Sprache handelt es sich, weit weniger als um direkte ›Nachahmung‹ objektiv gegebener Phänomene, um eine Laut- und Sprachbildung, die noch ganz im Banne der rein ›physiognomischen‹ Weltansicht steht. Der Laut unternimmt hier gleichsam den Versuch, das unmittelbare ›Gesicht‹ der Dinge und mit diesem ihr wahres Wesen einzufangen. Die lebendige Sprache gibt, auch wo sie längst gelernt hat, das Wort als reines Vehikel des ›Gedankens‹ zu brauchen, diese Verflechtung nirgends auf.« 269 Erst in der wissenschaftlichen Begriff sbildung und der ihr entsprechenden Bedeutungssphäre gewinnt die »Repräsentationsfunktion« ihre volle Bedeutung: Die charakteristische »Einstellung« des Begriffs besteht nach Cassirer darin, daß er »die ›Präsenz‹ auf heben [muß], um zur ›Repräsentation‹ zu gelangen«.270 Somit ist der Mythos durch ein Überwiegen präsentischer Phänomene gekennzeichnet, die sprachliche Darstellung steht in einer Spannung zwischen »Präsenz« und »Repräsentation«, und die Wissenschaft wird ausschließlich der Repräsentation zugeordnet.

Ebd., S. 3. ECW 11, S. 45. 266 ECW 13, S. 128. 267 Ein Regentanz, das Erstechen von Puppen im Voodoo sowie das katholische Abendmahl unterscheiden sich darin nicht. 268 ECW 13, S. 125. 269 Ebd., S. 122 f. 270 Ebd., S. 353. 264 265

Kapitel 2 Kunst als symbolische Form?

a) Einleitung Wer nach der Lektüre der dreibändigen Philosophie der symbolischen Formen in der Erwartung, eine Zusammenfassung der Cassirerschen Konzeption der Kunst als symbolischer Form präsentiert zu bekommen, den 1944 erschienenen Essay on Man aufschlägt, wird enttäuscht. Bei vielen Interpreten hinterläßt das Kapitel zur Kunst des anthropologischen Spätwerkes den Eindruck von Unabgeschlossenheit und Mehrdeutigkeit.1 Cassirer hat auf kunstphilosophischer Ebene weder die epistemologische bzw. wahrnehmungstheoretische Präzision und Radikalität noch den phänomenologischen Reichtum seines symbolphilosophischen Hauptwerkes erreicht. Er selbst weist die Leser des Essay on Man darauf hin, daß dieses Buch eher »an explanation and illustration« seiner Theorie als eine »demonstration« sei.2 Der Abstraktionsgrad der Philosophie der symbolischen Formen hätte, so seine Einschätzung, die Leser dieses Buches überfordert, und auch die Fragen, mit denen er sich beschäftigt, haben sich seit den 20er Jahren verändert. Der Essay on Man ist aus dem Bedürfnis heraus entstanden, dem amerikanischen Publikum anstelle einer Übersetzung der Philosophie der symbolischen Formen ein weniger umfangreiches Buch über die Grundprobleme der menschlichen Kultur vorzulegen, und reicht entstehungsgeschichtlich auf die Ausarbeitung von Vorlesungen über philosophische Anthropologie zurück.3 Die anthropologische Kontextualisierung der Symbolphilosophie ist jedoch keine späte Wende oder Erweiterung, wie der Nachlaßtext Zur Metaphysik der symbolischen Formen von 1928 belegt.4 Symbolische Formen sind für Cassirer »Formen des geistigen Lebens«, die in spezifi scher Differenz zu tierischen Ausdrucksformen stehen, aber gleichwohl in einer kontinuierlichen Entwicklungslinie mit ihnen zu Vgl. z. B. H. Adams, »Thinking Cassirer«, S. 191, B. Bolognini, »Il problema estetico nella prospettiva di E. Cassirer«, S. 268 f., G. Forni, Esperienza vissuta e poesia. Nietzsche, Dilthey, Cassirer, Bologna 1982, S. 40, oder S. G. Lofts, Ernst Cassirer. A »Repetition of Modernity«, S. 183. 2 E. Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven and London 1944, hier zitiert nach ECW 23, S. 2. 3 Vgl. den Band 6 der Nachlaßausgabe, der über die Entstehungsgeschichte des Essay on Man informiert, S. 670–673. An Essay on Man sollte ursprünglich den Untertitel A Philosophical Anthropology tragen. 4 Vgl. Teil II, Kapitel 1, Abschnitt e). 1

Kunst als symbolische form?

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betrachten sind. Dennoch verschiebt sich der Fokus, und es ändert sich das begriffl iche Instrumentarium mit zunehmender Entfernung von dem ursprünglichen Interesse an der Grundlegung der Geisteswissenschaften, die in der Ausarbeitung einer »Grammatik der symbolischen Formen« ihren Ausdruck gefunden hatte. Die Kriterien, die Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen zur allgemeinen Bestimmung symbolischer Formen – und damit zur methodischen Grundlegung der einzelnen Kulturwissenschaften – entwickelt hat, fi nden zwar noch in begrenztem Umfang Eingang in seine Anthropologie, die differentia specifica der symbolischen Formen tritt jedoch in der Perspektive auf die allgemeine Entwicklung des menschlichen Symbolverhaltens bzw. den Ursprung der vielfältigen Symbolsysteme zurück.5 Das kunstphilosophische Anliegen, die Begründung und Begründbarkeit einer symbolischen Form der Kunst zu prüfen, muß vom Essay on Man seinen Ausgang nehmen, denn hier hat Cassirer die These, auch die Kunst sei in die Philosophie der symbolischen Formen integrierbar, in ihrer elaboriertesten Form vertreten, wenn auch, gemessen an dem symbolphilosophischen Hauptwerk, nicht hinreichend fundiert.6 Möchte man Cassirer jedoch nicht nur auf dem Weg zu einer Ästhetik begleiten, sondern die Trag- und Entwicklungsfähigkeit seiner Symbolphilosophie in kunstphilosophischer Hinsicht ausloten, wird man nicht umhin kommen, die im vorangegangenen Kapitel II.1 entwickelten Maßstäbe an die im Gesamtwerk verstreuten Äußerungen zu Kunst und Ästhetik, inklusive einiger bereits veröffentlichter Texte aus dem Nachlaß, anzulegen und zu prüfen. Cassirer begreift seine Symbolphilosophie als Fortführung und Ausweitung der Kantischen Transzendentalphilosophie. Zur Erklärung und Entschuldigung dafür, daß Kant das Fundament, auf dem die Wissenschaft auf bauen soll, für die mathematische Naturwissenschaft vermessen, jedoch keinen Raum für die Kulturwissenschaften vorgesehen hat, führt Cassirer an, daß das kritische Unternehmen vom Faktum der Wissenschaft ausgehen müsse; eine Fakten schaffende Kulturwissenschaft habe es zur Zeit Kants noch nicht gegeben. Was für Kant gelten kann, muß jedoch zur Entlastung Cassirers gleichermaßen berücksichtigt werden, zumal auch Cassirer sich in der Philosophie der symbolischen Formen an den Ergebnissen der Einzelwissenschaften orientiert. Läßt sich also das Fehlen eines vierten Bandes über die symbolische Form der Kunst mit dem damaligen Entwicklungsstand der Kunstwissenschaften in Verbindung bringen? Im Essay on Man setzt Cassirer sich ausführlich mit seinen kunstphilosophischen Vorgängern auseinander und kommt zu dem Ergebnis, daß ihre Theorien in der Regel durch fundamentale Einseitigkeiten geprägt sind: Sie begreifen Kunst entweder als mimetisch oder als expressiv. »The philosophy of art exhibits the same Vgl. ECW 23, S. 32. Auch für A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 87, besteht ein Problem des Essay on Man darin, daß er nicht »unter dem systematischen Diktat der Philosophie der symbolischen Formen« steht. 5 6

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Teil II · Kapitel 2

confl ict between two antagonistic tendencies that we encounter in the philosophy of language. This is of course no mere historical coincidence. It goes back to one and the same basic division in the interpretation of reality. Language and art are constantly oscillating between two opposite poles, an objective and a subjective pole.« 7 Während er sich insbesondere auf Humboldt als einen Theoretiker stützen konnte, der in der Untersuchung des Phänomens der Sprache eine Brücke zwischen Subjektivität und Objektivität geschlagen hat, kann er auf eine Kunstphilosophie oder Kunstwissenschaft, die das Faktum der Kunst angemessen begründet, d. h. beide Pole gleichermaßen berücksichtigt und in ihrer Vermittlung deutlich macht, nicht zurückgreifen.8 In der Literaturwissenschaft seiner Zeit hat er eine solche Theorie gesucht, aber nicht gefunden. Es konnte bereits gezeigt werden, daß in der Unzufriedenheit mit der literaturwissenschaftlichen Methodik, mit der Art und Weise, wie die zeitgenössische Philologie ihre Gegenstände begriffen hat, ein movens zur Ausbildung seiner Symbolphilosophie zu sehen ist. Cassirer beschäftigt sich jedoch ebenfalls mit Vertretern der Kunstwissenschaft – namentlich mit Konrad Fiedler, Wölffl in und Hildebrandt – und stößt auch bei ihnen auf Einseitigkeiten. Mit Bruno Bolognini läßt sich festhalten, daß Cassirer »non ha trovato sviluppato, per questo campo d’indagine, un tipo di ricerca scientifica che potesse essere assunto come base concettuale per la sua considerazione critico-sistematica«.9 Bolognini führt dies auf eine »fundamentale Ambiguität« der Ästhetik zurück, die einerseits ein begriffl iches Instrument sein wolle, das dazu diene, die verschiedenen künstlerischen Manifestationen zu verstehen, und andererseits das allgemeine philosophische Ziel einer Wissenschaft des Schönen verfolge. Phänomene der Kunst zeichnen sich durch einen »carattere eminentemente polisenso«10 aus. Die »Fakten« der Künste lassen sich zum einen in den entsprechenden Kunst- und Literaturwissenschaften konstituieren; zum anderen jedoch nur in der ästhetischen Erfahrung, die keiner vermittelnden Wissenschaft fähig ist, sondern stets von neuem vollzogen werden muß.11 ECW 23, S. 149 f. Vgl. E. E. George, »Ernst Cassirer and Neo-Kantian Aesthetics: A Holistic Approach to the Problems of Language and Art«. George hebt die Originalität von Cassirers holistischer Zugangsweise hervor, durch die er sich vom mainstream der zeitgenössischen Ästhetik wie Semiotik abhebe. (S. 132) Er betont insbesondere den sowohl dialektischen wie dialogischen Charakter, den Cassirer an Phänomenen der Kunst identifi ziere (S. 140). 9 B. Bolognini, »Il problema estetico nella prospettiva di E. Cassirer«, S. 271. 10 Vgl. ders., S. 272, der Cassirer jedoch nur »una latenta consapevolezza« diesbezüglich zuerkennt (S. 273). 11 Die Frage, ob die philosophische Ästhetik auf den Kunstwissenschaften auf bauen oder sich direkt den Kunstwerken zuwenden soll, wurde auch unter Cassirers Marburger Lehrern diskutiert. Cassirer weist in seinem Aufsatz »Paul Natorp. 24. Januar 1854 – 17. August 1924«, in: ECW 16, S. 215, auf die Methodik Cohens hin, der seine Ästhetik »aus der unmittelbaren Betrachtung« geschöpft habe. Natorp, der eine eigene Philosophie der Kunst nicht zum Ab7 8

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Die Frage: Was ist Kunst, bzw. wodurch unterscheidet sie sich von anderen Kulturphänomenen?, die beantwortet werden muß, wenn man Kunst als symbolische Form konstituieren will, ist seit den Bemühungen der Begründer der »Allgemeinen Kunstwissenschaft« in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts in den Hintergrund getreten. Es gibt jedoch gute Gründe dafür, sie wieder aufzunehmen,12 denn die Spaltung der Ästhetik, der die Theoretiker um Max Dessoir, Emil Utitz und andere mit der Gründung der »Gesellschaft für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft« sowie der gleichnamigen Zeitschrift entgegentreten wollten, hat sich weiter vertieft. Auch gegenwärtige Ästhetik beschäftigt sich entweder mit »ästhetischer Erfahrung« als Ausdrucks- oder Eindrucksphänomen und klammert den Werkcharakter von Kunst und damit die Ebene der Bedeutung aus; sie ignoriert – mit Cassirer gesprochen – den »objektiven Pol«, oder sie negiert als Kunstoder Literaturtheorie, die sich einer Kritik der Subjektphilosophie verschrieben hat, die Ausdrucksseite kunstästhetischer Phänomene, mit Cassirer: den »subjektiven Pol«. In Cassirers Symbolphilosophie, die alle Kulturphänomene in der Spannung zwischen den beiden Extremen des Ausdrucks und der reinen Bedeutung verortet, könnte ein Ansatz für die Überwindung dieser Spaltung bereitliegen. Will man das Phänomen Kunst in seiner Mehrdimensionalität verstehen, darf man, nach Cassirer, die Ebenen des Ausdrucks, der Bedeutung und der Darstellung nicht voneinander trennen. Das zweite Kapitel dieses Teils verfolgt zwei Untersuchungsrichtungen. Zum einen wird untersucht, ob sich die in der Philosophie der symbolischen Formen entwickelten Kriterien für symbolische Formen auch an den Phänomenen der Kunst bewähren. Zum anderen werden die anthropologisch orientierten kunstphilosophischen Ansätze Cassirers im Kontext gegenwärtiger Tendenzen diskutiert. Was trägt die Symbolphilosophie Ernst Cassirers zum Verständnis aktueller Probleme der kunstästhetischen Diskussion bei? Zunächst sei ein kurzer Überblick über die einzelnen Abschnitte dieses Kapitels gegeben. Für die Bestimmung symbolischer Formen im allgemeinen und ihre spezifi sche Abgrenzung gegeneinander konnten folgende Kriterien herausgearbeitet werden: 1. Cassirer begreift symbolische Formen im Ausgang von der Kantischen Defi nition wissenschaftlicher Erkenntnis als Erfahrung bzw. als erfahrungsanaloge Integrale. 2. Er führt sie auf verschiedene »Urteilungen« zurück, aus denen sich schluß gebracht hat (ebd., S. 217), stellt diese Methode in Frage: »Dann, wie ist’s doch mit der ›transzendentalen Methode‹? Genügt als ›Faktum‹ wirklich die Kunst? […] Oder muß diese erst einmal in konkreter Kunstwissenschaft sich objektivieren, ehe von einer Kunstphilos., die deren ›Möglichkeit‹ untersucht, die Rede sein kann?« Natorp in einem Brief vom 29. Februar 1912 an Görland, abgedruckt in H. Holzhey, Cohen und Natorp II. Der Marburger Neukantianismus in Quellen, Basel/Stuttgart 1986, S. 408, hier zitiert nach M. Ferrari, Ernst Cassirer, S. 85. 12 Vgl. R. Schmücker, »Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Zur Aktualität eines historischen Projekts«, in: A. Bolterauer und E. Wiltschnigg (Hg.), Kunstgrenzen: Funktionräume der Kunst in Moderne und Postmoderne, Wien 2001.

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verschiedene Funktionen ergeben. 3. Er differenziert symbolische Formen durch unterscheidbare, jedoch in jeder einzelnen symbolischen Form einheitliche Modalitäten der Gestaltung von Raum, Zeit und Zahl, sowie 4. durch verschiedene Subjekt-Objektverhältnisse, die er als Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung klassifi ziert, und 5. durch je spezifi sche Relationen von Präsentation und Repräsentation. In den Unterabschnitten g)-m) werden Cassirers Ansätze zur Bestimmung kunstästhetischer Phänomene systematisiert, an diesen Kriterien geprüft und in die aktuelle Diskussion integriert. Um die Frage zu beantworten, ob und wenn ja wie Cassirer analog zu dem in der Philosophie der symbolischen Formen verwendeten Begriff der Erfahrung Kunst als Erfahrung begreift bzw. parallel z. B. zur »mythischen Erfahrung« eine »ästhetische Erfahrung« bestimmt, bedarf es einer Vorarbeit, die in den folgenden Abschnitten b) und c) geleistet wird. Die Abschnitte d)-f ) widmen sich den Problemen, die dabei entstehen, noch einmal im Detail. Wie bereits gezeigt, erweitert Cassirer den Kantischen Erfahrungsbegriff, indem er die Zweiteilung von Anschauungsformen und Kategorien auf hebt; auf die ein Kontinuum konstituierende Funktion bestimmter Grundelemente verzichtet er jedoch nicht (siehe oben, Teil I, Kapitel 1, Abschnitt d)). Um die Kunst als symbolische Form bestimmen zu können, muß er daher, im Gegensatz zu Kant, der ästhetische Urteile nicht als Urteile über Gegenstände begreift, von einer der wissenschaftlichen Erkenntnis oder der mythischen Erfahrung vergleichbaren Objektivierungsform oder abgrenzbaren Weltsicht ästhetischer Phänomene ausgehen. Im Abschnitt b) wird gezeigt, daß sich die Perspektive Cassirers auf die allgemeine Funktion symbolischer Formen von der theoretischen, gegenstandskonstituierenden Funktion zu einer eher praktischen, kommunikativen verschoben hat. Symbolisierungen hat Cassirer stets als Akte, als Handlungen begriffen. Mit der expliziten Thematisierung der Geschichte und der Kunst im Essay on Man treten der soziale Charakter dieser Handlungen und die historische Tiefendimension symbolischer Formen in den Blick. Die Verbindungsformen, aus denen das symbolische Netz besteht, sowie die Funktionen, die es übernimmt, vervielfältigen sich abermals. Der Begriff der »ästhetischen Erfahrung«, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Eingang in die Literatur gefunden hat und seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eine bis heute anhaltende Renaissance erlebt,13 gehört »zu den schillerndsten der philosophischen Tradition«.14 Kant verwendet ihn nicht. Mit seinem Erfahrungsbegriff, von dem Cassirer ausgeht, ist »ästhetische Erfahrung« nicht kompatibel. Gelingt es ihm, Kunst als ein erfahrungsanaloges Integral zu konstituieren? Der Frage, wie Cassirer im Essay on Man den Begriff der ästhetischen Erfahrung 13 Vgl. dazu den Artikel »Erfahrung« von G. Maag in: Ästhetische Grundbegriff e, hg. von K. Barck u. a., Stuttgart 2000 ff., Bd. 2. 14 U. Schödlbauer, »Ästhetische Erfahrung«, in: D. Harth, P. Gebhardt (Hg.), Erkenntnis der Literatur: Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1982, S. 33.

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verwendet, ist der Abschnitt c) gewidmet. Sie bietet Gelegenheit für eine Übersicht über die Probleme, die eine symbolphilosophisch orientierte Kunstästhetik zu bewältigen hat. Im Umgang mit dem Begriff der »Erfahrung« ist Cassirer im Essay an Man verhältnismäßig tolerant, ohne jedoch das »integrale« Moment, das sie nach Kant kennzeichnet, aufzugeben. Die Einheit bzw. die relationale Struktur des kunstästhetischen Phänomens oder Phänomenbereichs versucht er auf unterschiedlichen Ebenen zu konstituieren: sowohl auf der Ebene der ästhetischen Erfahrung als Gemütszustand als auch auf der Ebene eines Kontinuums sinnlicher Formen. Lassen sich diese beiden Einheiten als verschiedene symbolische Formen begreifen? Abschnitt d) fragt nach dem Schönen als symbolischer Form. Für Kant ist die Kunst vor allem ein Phänomen, an dem das Subjekt eine »Erfahrung« mit sich selbst macht, die jedoch zu Hoff nungen bezüglich der Beschaffenheit der Welt insgesamt Anlaß gibt. Die Schönheit der Welt ist ein Trost für die Ungewißheit hinsichtlich ihrer objektiven Verfaßtheit. Den epistemologischen Status einer Erkenntnis – einer Erfahrung im Kantischen Sinne – erreicht die »ästhetische Erfahrung« nicht: Sie ist ein Gefühl. Aufgrund der »allgemeinen Mittelbarkeit«, die das Subjekt für seine »Erfahrung« postuliert, wird die Kunst jedoch zu einem Phänomen von allgemeiner Bedeutung. Cassirer nimmt den Kantischen Begriff der allgemeinen Mitteilbarkeit auf, um die intersubjektive Gültigkeit von »Kunsterfahrung« und somit die symbolische Form der Kunst zu bestimmen. Wie bereits in Teil I gezeigt wurde, geht Cassirer von mannigfaltigen Verknüpfungsformen kultureller Gegenstände aus. Das Leibnizsche Modell der Monade als teleologische Verbindung von Elementen zu einem Ganzen steht gleichwertig neben der kausalen Verknüpfung des wissenschaftlichen Kontinuums. Mit der Untersuchung der Kunst wird die als »Extensivierung«, d. h. auf Erweiterung angelegte Form theoretischer Erfahrung durch die verdichtende, »intensivierende« ästhetische Erfahrung ergänzt. Die »innere Erfahrung«, die sich an schöner Kunst machen läßt, erläutert Cassirer unter drei verschiedenen Aspekten: 1. als innersubjektive Relationalität der Selbsterfahrung, 2. als monadologisch strukturierte Lebenserfahrung und 3. als Gemeinschaftserfahrung. Da Cassirer jedoch nicht an reiner Vernunftkritik, sondern an den objektiven Vermittlungsformen menschlicher Subjektivität interessiert ist, begreift er Kunst im Unterschied zu Kant als einen Bereich kultureller Objektivität. Dies wird im Abschnitt e) erläutert. Die Kunst stellt ebenso wie andere symbolische Formen den Weg zu einer objektiven Ansicht der Dinge und des menschlichen Lebens dar. Sie vermittelt Anschauungen der sinnlichen Formen der Welt. Die Welt der Kunst ist sichtbar, hörbar und fühlbar. Läßt sich das Integral der Kunst trotz der materiellen Differenzen der einzelnen Künste konstituieren? Der Versuch, Kunst als ein Kontinuum sinnlicher Formen zu begründen, führt zunächst in eine Sackgasse. Es droht sowohl auf Grund der Autonomie der einzelnen Sinne, die die Theoretiker, auf die Cassirer sich bezieht, verfechten, als auch auf Grund der Unentschiedenheit, die

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er selbst hinsichtlich der Frage an den Tag legt, ob jedes einzelne Kunstwerk, jede Gattung, jede Kunst oder die Kunst insgesamt eine neue Wirklichkeit begründet, zu zersplittern. Bevor im übernächsten Abschnitt Cassirers funktionale Begründung der symbolischen Form untersucht wird, sei im Abschnitt f ) ein Blick auf das Kunstwerk als Ort der Vermittlung von Gefühl und Struktur und somit auf Cassirers Ästhetik als Verbindung von subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen geworfen. Die Werke der Kunst sind für ihn durch eine Zugehörigkeit zu zweierlei »Ordnungen« gekennzeichnet. Indem sie Ausdrucksformen von Individuen sind und Individuen ermöglichen, sich als lebendige Einheit zu erfahren, gehören sie der intensiven monadischen Ordnung zu; indem sie sich allgemeiner Formensprachen bedienen, gehören sie einer extensiven Ordnung an, die sich kunstwissenschaftlich erschließen läßt. Am Beispiel der Auseinandersetzungen mit Fiedler, Croce und Simmel soll das Profi l der Cassirerschen Vermittlungsleistung erläutert werden. Auch die Kunst ist ein Medium der Selbst- und Weltgestaltung. Sie verbindet zwei »Integrale«, die ohne einander nicht existieren würden bzw. nicht vorstellbar wären. Im Abschnitt g) beginnt die Überprüfung der Kunst an den in der Philosophie der symbolischen Formen entwickelten Kriterien. Läßt sich eine »Urteilung« bzw. eine der Kunst eigene Funktion ermitteln? Die Forschung hat diese Frage bislang nur partiell beantwortet. Ein Überblick über die Literatur fördert eine Vielzahl an Funktionszuschreibungen der Kunst zutage, die die Komplexität des Themas widerspiegelt, die Frage nach einer symbolischen Form der Kunst jedoch nicht beantwortet. Cassirer stellt die Kunst denjenigen symbolischen Formen gegenüber, die ein theoretisches Weltbild auf bauen, welches durch wachsende Distanz zur unmittelbaren Lebenswirklichkeit gekennzeichnet ist. Die Kunst hingegen helfe, die konkrete, individuelle Erfahrung des Lebens wiederzugewinnen, indem sie die erstarrte intersubjektiv akkreditierte symbolische Ordnung verflüssige. Kunst ist eine Objektivierung von Gefühlen, sie legt Zeugnis von inneren Prozessen ab. Auch in der Kunst legen Ich und Welt sich auseinander, die Trennung wird jedoch nicht endgültig vollzogen, die Zuständlichkeit des Subjekts nicht vollständig in die Gegenständlichkeit der Vorstellung transformiert. Subjekt und Objekt bleiben in der Kunst im Fluß. Die Funktion der Kunst besteht in der Zersetzung der Gegenstände des theoretischen Weltbildes durch den Auf bau von personaler, durch ihren Zeugnischarakter geprägter Gegenständlichkeit. Dem korrespondiert eine Schwächung der Subjektposition, die mit dem Gefühl für die Vielfalt von Lebensmöglichkeiten einhergeht. Die »Urteilung« der Kunst ist durch individuelle Zäsuren bedingt. Die intersubjektive Verbindlichkeit objektiver Urteile steht dem Appell an einen Nachvollzug subjektiver Stellungnahmen gegenüber. Auch die Kunst dient der allgemeinen Funktion »to unite man« – jedoch unter den Bedingungen radikaler Individuation. Die Objektivierungen der Kunst unterscheiden sich nicht nur der Funktion, sondern auch der Form nach von allen anderen symbolischen Formen. Dies ist Ge-

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genstand von Abschnitt h). Cassirer grenzt die anschauliche oder intuitive Symbolik der Kunst von »diskursiven« oder »propositionalen« Formen ab. Kunst erzeugt individuelle, sinnlich wahrnehmbare Gestalten. Auch die Rezeption von Kunst unterscheidet sich von derjenigen anderer symbolischer Formen. Sie ist Anschauung des Äußeren und Kontemplation des Inneren zugleich. Am Beispiel der Kunst läßt sich das Cassirersche Kerntheorem der symbolischen Prägnanz diversifizieren. Dem reihenförmig strukturierten »linguistisch-begriffl ichen« Paradigma von Sprache und Wissenschaft steht das topisch organisierte »ikonisch-anschauliche« Paradigma der Kunst gegenüber. Die Wahrnehmung von Kunst ist darüber hinaus durch eine spezifi sche Aufmerksamkeit gekennzeichnet, die nicht ergebnis-, sondern prozeßorientiert ist. Am Versuch, das Spezifi sche der Kunst über die Gestaltung von Raum, Zeit und Zahl zu begreifen, erweist sich, wie im Abschnitt i) gezeigt werden soll, die besondere Fruchtbarkeit, aber auch eine erstaunliche Aktualität der Symbolphilosophie Cassirers. Als Cassirer 1930 den Raum als ästhetischen Ordnungsbegriff in die Diskussion zu bringen versuchte, war die Zeit noch nicht reif für seine avancierte, an der Einsteinschen Relativitätstheorie geschulte Theorie. Hat er der Literaturwissenschaft bereits in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts den Blick für die Bedeutung von Raumorientierung geschärft, erlebt diese in den Kulturwissenschaften gegenwärtig als »topographical turn« Konjunktur. Cassirers Reflexionen zur Raumgestaltung der Kunst lassen sich auf drei Ebenen skizzieren: Als dargestellter oder gestalteter Ausdrucksraum affiziert sie die Sinnlichkeit des Menschen und macht ihn auf die vielfältige sinnliche Verfaßtheit seines Lebensraums aufmerksam. Als Gestaltung eines Möglichkeitsraums wird die Formbarkeit des Wirklichen erfahrbar. Auch das Verhältnis, das der Mensch in der Kunstrezeption zu seinem Gegenstand einnimmt, ist räumlich beschreibbar. Indem es zwischen sinnlich-ästhetischer Affizierung und reflexiv-begriffl icher Distanzierung changiert, ist das kunstästhetische Phänomen nah und fern zugleich. Die zeitliche Ordnungsdimension der Kunst ist von Cassirer hauptsächlich im Zusammenhang mit der symbolischen Form der Geschichte thematisiert worden. Die Grundlage für dafür bildet seine Überzeugung von der »Nichtidentität des Faktischen«. Kunst durchbricht die eindimensionale lineare oder chronologische Zeit und gestaltet einen Zeitraum des Denk- oder Wünschbaren. Auch die Kunstrezeption ist durch einen besonderen Zeitbezug gekennzeichnet. (Kunst)genuß ist immer Genuß von Gegenwart, ästhetische Anschauung unterscheidet sich von der Diskursivität des Begriff s durch ihre Simultaneität. Darüber hinaus knüpfen Kunst und Geschichte die historische Tiefendimension der Kultur. Während Wissenschaft und Technik vornehmlich synchrone symbolische Formen sind, deren Bedeutung sich in Abhängigkeit von jeweils aktuell gültigen Paradigmen zu erweisen hat, ist der Vergangenheitsbezug für die Kunst bedeutungskonstitutiv. Ihre Formen und Stoffe sind, auch wenn sie als völlig neu erscheinen, selten unabhängig von der

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Form- und Motivgeschichte zu verstehen. Moderne und postmoderne Versuche der Zertrümmerung von Form beispielsweise werden erst als Auseinandersetzungen mit vorgängigen Formentwürfen begreif bar. Obwohl auch die Kategorie der Zahl für die künstlerische Gestaltung relevant ist, sind die Ausführungen Cassirers hierzu spärlich. Cassirer weist auf die Strukturierungsleistung der Zahl auch jenseits ihrer Funktion für abstrakte Berechnungen hin. In der Kunst wird Bedeutung auch durch rhythmische Gliederung sowie Einzelstellung bzw. Wiederholung von Elementen erzeugt. Doch ist die »Zahl« als Urfunktion der Synthese von Mannigfaltigem in der Kunst auch unter einer weiteren Hinsicht relevant, und zwar für die Diskussion um »das Erhabene«. Läßt sich das Erhabene als Scheitern von Synthetisierungsversuchen oder als Kontinuum des Formbegehrens begreifen? Aufgrund der aktuellen kunstphilosophischen Bedeutung der Diskussion ist diesem Thema ein umfangreicherer Exkurs gewidmet. Cassirers Beitrag wird unter drei Aspekten dargestellt: 1. dem Problem der Ontologisierung eines Denk-, aber nicht Darstellbaren – und Cassirers Kritik daran, 2. der Isolierung der scheiternden Synthetisierung des Mannigfaltigen durch Lyotard und Bohrer – und Cassirers wahrnehmungstheoretisch motivierter Gegenposition, sowie 3. dem Begriff des Nichtidentischen bei Heidegger und Adorno (in der Rezeption von Bohrer und Welsch) – und seiner Korrespondenz bei Cassirer. 1. Während Lyotard von einer Grenze der Repräsentierbarkeit und einem Bereich des Denkbaren jenseits des Darstellbaren ausgeht, bestreitet Cassirer die Möglichkeit eines konstitutiv Anästhetischen. Seine These von der Unabschließbarkeit von Symbolisierungsprozessen läßt sich mit der Kantischen Konzeption des Erhabenen vergleichen. Die Kritik, die seinem immanentistischen, metaphysikkritischen Kulturbegriff entgegengebracht worden ist, zeigt sich als religiös motiviert. 2. Nach Lyotard entwickelt postmoderne erhabene Kunst eine »Anwesenheit«, die nicht durch die synthetische Aktivität des Geistes vermittelt ist. Nach Bohrer könne sie Erregung oder Schrecken auslösen, dem Bewußtseinsverlust einhergehe. Dem widerspricht Cassirers Kerntheorem der symbolischen Prägnanz, nachdem alles Wahrgenommene in einer »Sicht« steht. Selbst wenn bestimmte Kunstwerke die Wahrnehmung zunächst desorientieren, sind sie doch als eine Gestaltung von Material zu begreifen. Kunstrezeption ist nach Cassirer konstruktiv und mit desintegrierten Bewußtseinsformen wie Rausch oder Hypnose nicht zu vergleichen. 3. Seine Kritik an der Abbildtheorie der Kunst deckt sich hingegen mit der Repräsentationskritik Heideggers und Adornos. Auch er plädiert für eine tautegorische bzw. symbolische und gegen eine allegorische Auslegung von Kunst. Als eine Philosophie des Nichtidentischen läßt sich auch die Philosophie der symbolischen Formen begreifen, die von der Selbständigkeit aller geistigen Auff assungs- und Gestaltungsweisen ausgeht. In einer Darstellung der Kunstphilosophie Ernst Cassirers darf die Diskussion des Kunstwerkbegriff s nicht fehlen (Abschnitt k) – nicht zuletzt weil in ihr ein Grundproblem in der Auseinandersetzung mit Heidegger auf den Punkt: »Werk

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gegen Ereignis« gebracht werden kann. Es läßt sich zeigen, daß auch das »Ereignis« seinen Platz im Denken Cassirers hat. Der Akt der symbolischen Formung ist insofern ein Ereignis, als das Ergebnis, das Werden von Ich und Welt, unvordenklich ist. Für Cassirer sind Werke zwar Objektivierungen von Subjekt-Objektverhältnissen, aber keine Trutzburgen, in denen sich das Subjekt gegenüber der Virulenz von Ereignissen abschottet. Sie dienen dem Auf bau einer intersubjektiven Welt, in der das Ich sich nicht nur dem Anderen, sondern auch den Anderen öff net. Das Werk, in dem das Ich sich der Öffentlichkeit aussetzt, hat insofern ethische Relevanz. Abschnitt l) verortet die Kunst in dem »allgemeinen Plan der ideellen Orientierung« symbolischer Formen, indem das sie bestimmende Verhältnis von Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion erläutert wird. Kunst hält das Gleichgewicht zwischen Ausdruck und reiner Bedeutung. In ihr wird Ausdruck zur Darstellung gebracht. Kunst operiert mit der Plastizität sinnlicher Wahrnehmung und bleibt dem ikonischen Paradigma verpfl ichtet. Durch ihren selbstreflexiven Charakter ragt sie jedoch in den Bereich reiner Bedeutung hinein. Der abschließende Abschnitt m) erklärt die Frage nach dem präsentierenden oder repräsentierenden Charakter der Kunst zu einer Frage der Einstellung oder Bewußtseinshaltung. Während das kunstästhetische Phänomen als Teil des künstlerischen Formenkontinuums die symbolische Form der Kunst repräsentiert, erscheint es der ästhetischen Einstellung jenseits aller symbolischen Integration. Diese Fragmentierung der ästhetischen Wahrnehmung steht dennoch nicht im Widerspruch zur Cassirerschen These der prinzipiellen Relationalität des Bewußtseins, denn sie ist ein Teil der Lebens- und Selbsterfahrung des Individuums. Das kunstästhetische Phänomen oszilliert zwischen Präsenz und Repräsentation. Es gehört ebenso der extensiven symbolischen Ordnung wie der gleichermaßen intensiven wie flüchtigen Strukturierung des Selbstbewußtseins an.

b) Die Einheit symbolischer Formen als Handlungszusammenhang In Anlehnung an die Untersuchungen, die der Biologe Jakob von Uexküll in den Abhandlungen zur Theoretischen Biologie und zur Umwelt und Innenwelt der Tiere veröffentlicht hat, bezeichnet Cassirer den »Funktionskreis« des Menschen, der ihn von den Tieren unterscheidet, die in einem »Merk- und Wirknetz« befangen bleiben, im Essay on Man als »Symbolnetz« oder »Symbolsystem«.15 Der Mensch lebt in einem »symbolischen Universum«: »Language, myth, art, and religion are parts of this universe. They are varied threads which weave the symbolic net, the tangled web of human experience. All human progress in thought and experience refi nes Vgl. die deutsche Übersetzung des Essay on Man: Versuch über den Menschen, aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt/Main 1990, S. 49. Im folgenden zitiere ich sowohl aus dieser Übersetzung (abgekürzt als VM) als auch aus der englischen Ausgabe (ECW 23). 15

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upon and strengthens this net.«16 Diese Fortschritte ermöglichen ihm »a more comprehensive survey, […] a better orientation and organization of our perceptual world«.17 Obwohl Cassirer von einem umfassenden Netz menschlicher Erfahrung spricht, bestimmt er auch im Essay on Man die einzelnen symbolischen Formen als durch Strukturprinzipen architektonisch aufgebaut;18 jedes einzelne Kulturgebiet betrachtet er als ein organisches Ganzes.19 Im Unterschied zur Philosophie der symbolischen Formen – freilich ohne einen völlig neuen Aspekt einzuführen – akzentuiert Cassirer in den vierziger Jahren jedoch nicht vorrangig den »Gegenstände« konstituierenden Charakter der symbolischen Formen, die er als Formen »theoretischen Verhaltens« 20 bezeichnete, sondern hebt vor allem auf ihre Funktion als Formen »of a communal human existence«, als Formen sozialer Organisation ab.21 Kulturgebiete begreift er nun primär als Ergebnisse sozialer Handlung. Die Kultur ist eine »›intersubjektive‹ Welt; eine Welt, die nicht in ›mir‹ besteht, sondern die allen Subjekten zugänglich sein und an der sie alle teilhaben sollen. Aber die Form dieser Teilhabe ist eine völlig andere als in der physischen Welt. Statt sich auf denselben raum-zeitlichen Kosmos von Dingen zu beziehen, fi nden und vereinigen sich die Subjekte in einem gemeinsamen Tun.« 22 Der Mensch ist vor dem Tier dadurch ausgezeichnet, daß sein Verhalten zur ihn umgebenden Welt nicht in organischen Reaktionen, sondern in »responses«, in »Antwort-Reaktionen« besteht 23 : »It is by this fundamental faculty, by this faculty of giving a response to himself and to others, that man becomes a ›responsible‹ being, a moral subject.« 24 Das anthropologische Spätwerk Cassirers ist darauf ausgerichtet, die verschiedenen symbolischen Formen als gleichwertige Betrachtungsund Konstitutionsweisen von Welt durch das »animal symbolicum« zusammenzufassen; das Bemühen, im Zuge einer Grundlegung der Kulturwissenschaften die Spezifi ka der menschlichen Kultur gegenüber der organischen Welt der Natur abzugrenzen, führt jedoch nun – im Unterschied zu der Segmentierung verschiedener Kulturgebiete in der Philosophie der symbolischen Formen – zu einer stärkeren Differenzierung derjenigen Formen, in denen natürliches Sein statt hat, gegenüber denjenigen, in denen sich menschliches Leben vollzieht, sowie der Begriffe, mit denen sich Natur und Kultur auf unterschiedliche Weise erschließen.

ECW 23, S. 30. Ebd., S. 148. 18 Ebd., S. 41 und 77. 19 Ebd., S. 76. Vgl. dazu jedoch auch die Edition des nachgelassenen Vorlesungsmanuskriptes »Seminar on Symbolism and Philosophy of Language« in: ECN 6, S. 245. 20 Vgl. ECN 1, S. 5, und oben, Teil II, Kapitel 1, S. 143. 21 ECW 23, S. 71. 22 »Naturbegriffe und Kulturbegriffe«, in: LK, S. 75. 23 ECW 23, S. 29. 24 Ebd., S. 10. 16 17

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Durch die Verlagerung in der Betrachtung der Funktion symbolischer Formen auf kommunikative Handlungsaspekte wird es möglich, den Fokus auf andere Verkettungsformen symbolischer Handlungen zu richten,25 als es die synchrone Betrachtungsweise der idealtypischen Organisation der Wissenschaft oder der Sprache erlaubte. In den Blick gerät nun die historische Tiefendimension der Kultur – das symbolische Gedächtnis – und mit ihr die symbolischen Formen der Kunst und der Geschichte. Die Horizonterweiterung, die die menschliche Welt durch diese beiden Formen erreicht, fi ndet nicht auf der Ebene der »objektiven Wirklichkeit« wissenschaftlicher Gegenständlichkeit statt, sondern ist als ein Prozeß fortschreitender Erinnerung zu begreifen, der die Achse zunehmender Selbstentäußerung, die Cassirer vom Mythos über die Sprache bis zur Wissenschaft gezogen hat, durchkreuzt. Die Kulturwelt unterscheidet sich u. a. dadurch von der Natur, daß es hier zwar eine »Entwicklung«, jedoch nur dort »Geschichte« gibt.26 Zwar haben alle symbolischen Formen eine Geschichte, sie sind »werdende Formen«, doch nicht in allen symbolischen Formen tritt der Mensch ins Verhältnis zur Historizität der Form und damit zu sich selbst. Cassirer unterscheidet bereits seit den dreißiger Jahren zwei Richtungen symbolisierender Tätigkeit: »Der Weg, den die naturwissenschaftliche Forschung geht, wird und muß immer in gewissem Sinn ein Weg der Selbstentäußerung des Ich sein – denn was auf diesem Wege erreicht werden soll, das ist gerade die Welt des ›Draußen‹, die Welt der Gegenstände, die eben als solche uns räumlich gegenüber- und uns sachlich entgegenstehen. Aber die Objektivität der Geschichte ruht auf einem anderen Grunde – sie entsteht uns nicht in solcher Entäußerung, sondern sie erwächst aus dem Prozeß der fortschreitenden Erinnerung. Und jede solche Erinnerung schließt zugleich eine neue Verinnerlichung, ein neues Seinerselbst-›Innewerden‹ in sich.« 27 Im Gegensatz zu den Fakten der Naturwissenschaftler wird das historische Faktum nicht als identisches dokumentiert und auf bewahrt. An den historischen Tatbeständen der Kultur, so Cassirer, entdecke die Erinnerung ständig neue Züge, ECW 23, S. 58 f. Interessant wäre unter diesem Gesichtspunkt ein Vergleich mit Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. Habermas unterscheidet Wert- und Geltungssphären, die er als »ein System von gleichursprünglichen Welten« begreift, welche nicht ausschließlich »kognitiv« orientiert sind. Siehe Bd. 1, Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt/Main, 41995, S. 126. 26 Vgl. den Nachlaßtext »Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften« von 1941, in: ECN 5, S. 202. 27 Siehe »Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriff s« von 1929, in: ECW 17, S. 353. K. Reichardt, »Ernst Cassirer’s Contribution to Literary Criticism«, unterscheidet die historische von der naturwissenschaftlichen Symbolform folgendermaßen: »Whereas the process of scientific thought shows a constant effort to eliminate ›anthropological‹ elements, history appears not as a knowledge of external facts or events, but as a form of self-knowledge: man constantly returns to himself attempting to recollect and actualize the whole of his past experience.« (S. 663) 25

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sie seien »durch die Erinnerung gestaltbar und umgestaltbar«. »Was nicht in dieser Weise gestaltbar ist, scheidet aus dem Kreise des historischen Erkennens aus – es ist vielleicht ein Geschehenes, ein bloss-Tatsächliches ›an sich‹ – aber es ist nicht lebendige Geschichte (›für uns‹) es entbehrt für uns des geschichtlichen Sinnes und des geschichtlichen ›Interesses‹.« 28 Der eindeutigen Verbindung einzelner Phänomene zu einem objektiv gültigen, wissenschaftlich approbierten Stand der Wissenschaft, treten dynamische Überlieferungsformen an die Seite. Im Bereich der Kunst ist es beispielsweise das Zitat, das Ereignisse oder Formen verbindet und tradiert. »Der Mensch nimmt keinen Sinn auf, und er versteht keinen Sinn, ohne ihn in eben diesem Akt des Verständnisses zu bereichern – ohne ihn umzu›schaffen‹ – Daher die Gefahr der Kultur, ihre ungeheure Labilität gegenüber den natürlichen Seinsgestalten[.]« 29 In ausführlicher Form hat Cassirer auf diesen Zusammenhang in dem Manuskript Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis von 1936/37 hingewiesen: »Das Sein der Kultur hängt daran, daß sie sich ständig einen neuen Körper schaff t; sie ist zuletzt nichts anderes als das Ganze der Monumente, die sie aus sich herausstellt. Auf der anderen Seite aber ist ersichtlich, daß diese letzteren, so fest und unverrückbar sie zu sein scheinen, doch ganz eingebettet sind in den Strom der Zeit. Sie sind Monumente, nicht im Sinne physischer Dinge, sondern als Erinnerungszeichen, an denen das Geschehen gleichsam festgehalten und durch die es vor dem Untergang gerettet werden soll. Diese Rettung gelingt nicht dadurch, daß sich der Mensch dem Zeitstrom entgegenwirft, sondern daß er immer wieder in ihn hinabsteigt. In immer neuen Einzeltaten, die als solche am einzelnen Augenblick haften und mit ihm vergehen, soll ein Unvergängliches gewonnen und gesichert werden. So hat die Kultur ihren Bestand nur in ihrer eigenen Bildung und Umbildung.« 30 Die Form der Allgemeinheit mathematischer Naturwissenschaft ist für die symbolischen Formen der Geschichte und der Kunst bzw. die Kunstwissenschaft nicht erreichbar.31 Doch auch die »fragileren« symbolischen Kulturformen betrachtet Cassirer als »Ganzheiten«. »›Erfahrung‹ im Sinne objektivierender Wissenschaft ist nur eine Form der Ganzheit – wir unterscheiden von ihr […] die Lebens-Ganzheit, die sich im Urphänomen des Ausdrucks darstellt – ein ›Sinnliches‹ erscheint als Ausdruck – d. h. als Manifestation eines seelischen Ganzen, dem es angehört.« 32 Diesen unterschiedlich strukturierten Einheiten korrespondieren verschiedene »Modi der Siehe die nachgelassen Aufzeichnungen zur »Geschichte«, die auf nach 1936 datiert werden, in: ECN 3, S. 26. 29 Siehe die Nachlaßaufzeichnungen zur »Objektivität der Form«, in: ECN 3, S. 208. 30 ECN 2, S. 154. 31 Vgl. »Naturbegriffe und Kulturbegriffe«, in: LK, S. 76. 32 ECN 1, S. 206. Vgl. auch ECN 5, S. 103: »Alle Kulturbegriff sind Stilbegriff e: denn was sie ›erkennen‹ wollen, ist nicht Sein (Dasein, physische Existenz)[,] sondern seelisches Leben, sie dienen nicht der ›Objektivation‹ der sinnlichen Wahrnehmung, sondern der Ausdruckswahrnehmung[.]« 28

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Erkenntnis« 33 : »Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, ›Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können‹; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen.« 34 Analog zu der Kantischen Untersuchungsrichtung, die die Fakten der Naturwissenschaft als Ergebnisse von theoretischen Urteilen begreift, betreibt Cassirer eine »Akt-Analyse« kultureller Formen. Er fragt »nach den seelischen Prozessen, aus denen sie hervorgegangen sind und deren objektiven Niederschlag sie bilden«. »Wir forschen«, schreibt er, »nach der Art und Richtung des Vorstellens, des Fühlens, der Phantasie und des Glaubens, auf denen die Kunst, der Mythos, die Religion beruhen.« 35 Der »Bestand« einer Kultur drücke sich zwar in ihren »Monumenten« aus, eine lebendige Bedeutung haben diese Monumente jedoch, wie Cassirer betont, nur, solange sie in einen aktiven Deutungsprozeß einbezogen sind. Am Prozeß von Kunstproduktion und -rezeption wird deutlicher als an jeder anderen symbolischen Form, was für Cassirer den eigentümlichen Richtungscharakter symbolischer Formen ausmacht. »Denn am Ende dieses Weges steht«, für Cassirer, »nicht das Werk, in dessen beharrender Existenz der schöpferische Prozeß erstarrt, sondern das ›Du‹, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es wieder in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückzuverwandeln, dem es ursprünglich entstammt. […] Denn so bedeutsam, so gehaltvoll, so fest in sich selbst und in seinem eigenen Mittelpunkt ruhend ein Werk auch sein mag: es ist und bleibt nur ein Durchgangspunkt. Es ist kein ›Absolutes‹, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von einem Ich-Pol zum anderen hinüberführt. Hierin liegt seine eigentliche und wichtigste Funktion.« 36 Das Kunstwerk »wird zum Vermittler zwischen Ich und Du, nicht indem es einen fertigen Gehalt von dem einen auf den anderen überträgt, sondern indem sich an der Tätigkeit des einen die des anderen entzündet«.37 Wenn man nun mit Cassirer Kunst als symbolische Form betrachten möchte, muß man der Weiterentwicklung des Begriff s der Erfahrung bzw. des erfahrungsanalogen Kontinuums, das jede einzelne symbolische Form ausmacht, innerhalb des Cassirerschen Œuvres Rechnung tragen. Die Transformationen, die die Konzeption der Einheit einer symbolischen Form im Kontext der kulturphilosophischen Grundlegungsarbeit erf ährt, lassen sich – auf die symbolische Form der Kunst projiziert – wie folgt zusammenfassen: 1) Das Kunstwerk hat Bedeutung 33 34 35 36 37

Vgl. ECN 1, S. 166. »Naturbegriffe und Kulturbegriffe«, in: LK, S. 86. »Formproblem und Kausalproblem«, in: LK, S. 98. »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 110. Ebd., S. 111.

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nicht als physischer Gegenstand, sondern es »erscheint als Ausdruck – d. h. als Manifestation eines seelischen Ganzen, dem es angehört«.38 Da Cassirer, wie in Abschnitt e) erläutert wird, jedoch ebenso von einem Kontinuum künstlerischer Formen ausgeht, bildet das Kunstwerk den Schnittpunkt zweier »Ordnungen« oder »Ganzheiten«: des Individuums und des Formenkontinuums. Um Kunst als ein solches Phänomen zu begreifen, muß die »Formenlehre« durch eine »Ausdruckslehre« ergänzt werden.39 2) Als Teil der Kultur hat die symbolische Form der Kunst eine historische Tiefendimension. Dies wird insbesondere im spezifi schen Modus ihrer Zeitkonstitution deutlich (vgl. Abschnitt i)). 3) Das Kontinuum der Kunst bildet sich nicht dadurch, daß Phänomene nach Gesetzen geordnet werden, sondern es existiert als Handlungszusammenhang, in dem Formen überliefert bzw. wiederangeeignet werden und sich in diesem Prozeß wandeln. 4) Der Solidität und Identität naturwissenschaftlicher Fakten steht die Fragilität kultureller Überlieferung gegenüber. Um die Intersubjektivität der Kunst von der Allgemeinheit der wissenschaftlichen Erfahrung zu unterscheiden, verwendet Cassirer den Kantischen Begriff der »Gemeingültigkeit« (vgl. hierzu Abschnitt d)).

c) Der Begriff der ästhetischen Erfahrung im Essay on Man Den Begriff der Erfahrung, den Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen, wenn er ihn zur Kennzeichnung anderer Kulturgebiete als der Wissenschaft verwendet, in Anführungszeichen gesetzt hat, benutzt er im Essay on Man, ohne die spezifi sche Differenz zum Kantischen Gebrauch, der dem Gedanken der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori verpfl ichtet ist, zu kennzeichnen: Er spricht von »aesthetic experience« und von »experience of beauty«.40 Zwar darf man nicht unberücksichtigt lassen, daß der Begriff der ästhetischen Erfahrung im englischen Sprachraum in einer von der deutschen zu unterscheidenden Tradition steht 41 und daß das englische »experience« z. B. sowohl für das deutsche »Erlebnis« als auch für »Erfahrung« verwendet wird,42 doch kann diese terminologische Verschiebung nicht ausschließlich auf das Konto der Übersetzungsproblematik gebucht werden. ECN 1, S. 206. Vgl. ECN 3, S. 82. Cassirer erläutert nicht, was er unter »Ausdruckslehre« versteht. Möglicherweise handelt es sich um eine Anknüpfung an die »Pathosformeln« Warburgs. 40 Vgl. z. B. ECW 23, S. 149, 171 und 175. 41 Vgl. dazu den Artikel »Erfahrung« von Georg Maag in Ästhetische Grundbegriff e, der auf eine Kontinuität des Begriff s der ästhetischen Erfahrung vor allem im englischen und italienischen Sprachraum hinweist, eine Wiederaufnahme des in der Mitte des 19. Jahrhunderts geprägten Begriff s in Deutschland jedoch erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhundert durch Jauß ausmacht. 42 Was den Übersetzer des Essay on Man, Reinhard Kaiser, möglicherweise dazu motiviert hat, in der Übertragung beide Begriffe zu variieren (z. B. S. 226). 38 39

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Cassirer verfolgt konsequent die in der Philosophie der symbolischen Formen begonnene Entdifferenzierung von Akten der Wahrnehmung und erfahrungskonstituierender Integration in einen kategorial vermittelten Zusammenhang, wobei er jedoch die Erfahrung nicht zu »bloßer«, d. h. rein rezeptiver Wahrnehmung degradiert, sondern – wie gezeigt – die Wahrnehmung durch die ihr inhärente symbolische Prägnanz zu einem spontanen, relationalen Akt qualifi ziert.43 »Aesthetic perception« und »aesthetic experience« sowie »experience of beauty« und »apprehension of beauty« verwendet er, obwohl begriffl ich differenziert, in gleicher Bedeutung.44 Das integrale Moment der Erfahrung läßt Cassirer jedoch auch bei der Konzeption der »ästhetischen Erfahrung« nicht fallen: Er unterscheidet die Kunst explizit von »disordered and disintegrated spheres of human experience« wie der Hypnose, des Traumes und des Rausches 45 und meint mit »Integration« einen »character of rationality«46 , was für ihn wiederum Relationalität bedeutet. Die Verbindbarkeit von Einzelnem mit einem Allgemeinen, durch welches das Einzelne seine Bedeutung erhält, sowie die Kennzeichnung des Bewußtseins überhaupt durch eine relationale Struktur sind epistemologische Grundeinsichten Cassirers. Die These der Rationalität und spezifischen Allgemeinheit der Kunsterfahrung, die durch »acts of judgment and contemplation«47 gekennzeichnet ist, erhält, wie im folgenden Abschnitt d) gezeigt wird, ihre Begründung in erster Linie durch den Aufweis von Spontaneität und teleologischer Struktur des einzelnen ästhetischen Urteils. Cassirer betrachtet darüber hinaus jedoch auch den spezifi schen Kulturbereich der Kunst insgesamt als ein »unabhängiges Diskursuniversum«.48 Die Formen der Kunst »perform a defi nite task in the construction and organization of human experience«.49 Durch »Stilbegriffe« werden diese Formen erfaßt. Sie stellen die »Kategorien« der Kunstwissenschaften dar und konstituieren die von ihnen untersuchten Gegenstände als klassifi zierbare wissenschaftliche Phänomene, wenngleich diese »Kategorien« sich durch ihren heuristischen Charakter von den naturwissenschaftlichen Klassifi kationen unterscheiden.

Eine Unterscheidung zwischen Erfahrungs- und Wahrnehmungsurteilen lehnt Cassirer ab. Die Kantische Differenzierung ist für ihn ein Darstellungsproblem. Vgl. ECW 13, S. 10. 44 ECW 23, S. 157 und 175. 45 Ebd., S. 181. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 175. 48 Vgl. ebd., S. 152. Zum Begriff des »universe of discourse«, den Cassirer in Anführungszeichen setzt, dessen Prägung durch die beiden amerikanischen Logiker De Morgan und Boole er jedoch nicht erwähnt, vgl. H. Schalk, »Pluralität und Symbolisierung. Grundgedanken der modernen Philosophie«, online-Publikation unter http://www.eco-online.de/PDFs/Pluralitaet.pdf, Zugriff vom 9.6.2006, sowie ders., »Diskurs. Zwischen Allerweltswort und philosophischem Begriff«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 40 (1997/98). 49 ECW 23, S. 181. 43

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Diese Ambiguität des Profi ls der Cassirerschen Ästhetik, die zugleich grundlegende Probleme einer transzendentalphilosophisch orientierten Ästhetik im weitesten Sinne und solche einer phänomenologisch orientierten Kunstwissenschaft im Visier hat, konnte bereits sowohl in der Untersuchung von Cassirers Interpretation der Kantischen Ästhetik in Kants Leben und Lehre als auch an seinen ästhetischen Reflexionen in Freiheit und Form beobachtet werden. Da sie den besonderen Reiz und Anspruch seiner Ästhetik ausmacht, aber auch für ihre verwickelte Problematik verantwortlich ist, gilt es, ihr auf den Grund zu gehen. Sie läßt sich dahingehend konkretisieren, daß Cassirer 1) den singulären Akt der Beurteilung (oder Erfahrung) von Schönheit, der mit Kant in der Erfassung der teleologischen Struktur eines einzelnen Kunstwerkes oder Naturphänomens besteht – in dem also das einzelne Werk bzw. der singuläre Moment der Lustempfi ndung in der Wahrnehmung das Integral darstellt –, nicht von der Konstitution eines Kulturgebietes trennt. Für Cassirer ist das »Reich der Kunst […] ein Reich reiner Gestalten, deren jede in sich selbst beschlossen ist und einen eigenen Mittelpunkt besitzt, während sie doch zugleich mit anderen einem eigentümlichen Wesens- und Wirkungszusammenhang angehört«.50 Die Kantische Ästhetik läßt sich als die Analyse eines Bereiches menschlicher Subjektivität bestimmen, die nicht in eine Objektivierung oder Wesensbestimmung kunstästhetischer Phänomene mündet. Das ästhetische Urteil konstituiert keine Gegenstände. Nach Kant ist eine Ästhetik, die sich mit dem menschlichen Vermögen der ästhetischen Urteilskraft beschäftigt, möglich, eine Kunstwissenschaft oder Wissenschaft vom Schönen – und damit wohl auch eine symbolische Form der Kunst – jedoch nicht.51 Cassirer greift gleichwohl zur Unterscheidung der Kunst als Kontinuum von anderen symbolischen Formen auf den Begriff der »Gemeingültigkeit« zurück, den Kant zur Kennzeichnung der Rationalität des ästhetischen Urteils, nicht jedoch zur Abgrenzung eines Gegenstandsbereichs prägt. 2) defi niert Cassirer die Möglichkeit der Zusammenfassung kunstästhetischer Phänomene zu einer symbolischen Form der Kunst zwar vor allem über gemeinsame Funktionen (s. dazu unten, Abschnitt g)), doch variiert er in der Abgrenzung des Integrals zwischen den Ebenen des singulären Werkes,52 den verschiedenen Künsten, die ihre je eigene Sprache sprechen,53 und der Kunst insgesamt, die uns Ordnung »in the apprehension of visible, tangible, and audible appearences« verschaff t und in einem kontinuierlichen Konkretisierungsprozeß54 bei gleichzeitiger Zunahme von Reflexivität begriffen ist. Als weitere Kandidaten kommen der »Stil« eines Künstlers oder der einer Epoche in Frage. Diese defi nitorische Unentschie50 51 52 53 54

ECW 8, S. 295. Vgl. KU, § 60. ECW 23, S. 155 und 177. Ebd., S. 167. Ebd., S. 181 und 155.

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denheit stellt ein Grundproblem der Bestimmung der Kunst als symbolische Form dar, das bislang in der Forschung vernachlässigt worden ist. Können wir das Kunstwerk – bspw. ein Gemälde oder ein Gedicht – als symbolische Form begreifen? Sind die Malerei oder die Dichtung symbolische Formen? Oder läßt sich die in der Philosophie der symbolischen Formen formulierte differentia specifica für die Kunst insgesamt bestimmen? (Siehe dazu Abschnitt e). Eine zusätzliche Schwierigkeit, die (symbolphilosophische) Tragweite der nicht systematisch ausgearbeiteten Ästhetik Cassirers zu ermessen, besteht darin, daß er zwischen einer produktionsästhetischen und einer rezeptionsästhetischen Position schwankt 55 und somit in die Schemata heutiger ästhetischer Theorie schwerlich einzuordnen ist. Ein besonders auff älliges Beispiel fördert ein Vergleich der Druckfassung des Essay on Man mit der Manuskriptfassung zu Tage. Um zu erläutern, wie das symbolische Universum der Kunst beschaffen ist, schreibt Cassirer im Manuskript: »If the artist creates his work he does not live in our plain commonplace reality of physical things. But he lives just as little in a mere individual sphere: in his imaginations and dreams, in his passions and emotions. Beyond these two spheres he detects a new realm: the realm of plastic, musical, poetical forms.«56 In der Druckfassung schreckt er jedoch vor dem (transzendental)philosophisch nicht nachvollziehbaren Schritt in die Werkstätte des Künstlers zurück und wechselt an entsprechender Stelle auf die rezeptionsästhetische Seite: »When absorbed in the intuition of a great work of art we do not feel a separation between the subjective and the objective worlds. We do not live in our plain commonplace reality of physical things, nor do we live wholly within an individual sphere. Beyond these two spheres we detect a new realm, the realm of plastic, musical, poetical forms«, und er ergänzt: »and these forms have a real universality«.57 Cassirer macht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Formen ästhetischer Aktivität: »the whole constructive process […] is a prerequisite both of the production and of the contemplation of the work«.58 Die egalitäre Behandlung von Künstlern und Rezipienten ist integraler Bestandteil des Konzepts der symbolischen Form als Form sozialer Organisation.59 Cassirer »unterläuft«, wie Barbara Naumann formu-

55 B. Recki f ängt diese Ambiguität treffend mit der Charakterisierung der Cassirerschen Ästhetik als einer »rezeptionsästhetisch reflektierten Werkästhetik« ein. Vgl. dies., »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant«, S. 203. 56 ECN 6, S. 543. Auch in dem Vorlesungsmanuskript »Language and Art I« von 1942 fi ndet sich eine vergleichbare Formulierung. Siehe SMC, S. 157. 57 ECW 23, S. 157 f. 58 Ebd., S. 154. 59 Eine mögliche Quelle für diese Haltung fi ndet sich in dem Aufsatz »Goethe und das 18. Jahrhundert«, in dem Cassirer darauf hinweist, das Goethe den Geschmack sowohl auf der Seite des künstlerischen Schaffens als auch auf der Seite des Rezipienten veranschlagt. Er schließt: »So dient der Geschmack nicht bloß der nachträglichen Kritik des Gewordenen, sondern er ist

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liert, »die kunstmetaphysische Annahme, die bildliche Vorstellung in den Künsten entspränge, qualitativ anders als begriffl iches Denken, der genialen Intuition«.60 Cassirers Ästhetik ist weder eine Genieästhetik noch begreift sie Kunst als bloßes Differenzgeschehen, an dem der Mensch als handelndes, intentionales Wesen ebenfalls keinen Anteil hat. Die Kunstproduktion wird vollständig entmystifi ziert; sie ist Teil der menschlichen Kreativität, der Fähigkeit zur Antwort und Verantwortung. Cassirer wendet sich strikt gegen eine metaphysische Rechtfertigung oder »deification« von Kunst und beharrt auf ihren »menschlichen Wurzeln«.61 Im folgenden Abschnitt d) wende ich mich zunächst dem ersten der genannten Problembereiche zu, d. h. der Frage, wie Cassirer im Ausgang von und im Hinausgehen über die Kantische Bestimmung der »Gemeingültigkeit« des ästhetischen Urteils die Kunsterfahrung (insbesondere die Erfahrung von Schönheit, denn das Erhabene spielt in Cassirer Werk, mit Ausnahme seiner Kantmonographie, eine marginale Rolle) begreift, um dann im darauf folgenden Abschnitt e) die von Cassirer postulierte »Universalität« der plastischen, musikalischen und poetischen Formen zu untersuchen. Ich folge damit der Entwicklung der Ästhetik Cassirers, der die ästhetischen Ansätze Leibnizens zunächst als »Symbolik des Gefühls« umschreibt und mit dem Geschmacksurteil erstmals eine besondere Art der Verknüpfung einzelner Elemente zu einer Einheit gegenüber dem wissenschaftlichen Erkenntnisurteil abgrenzt.62 Die »symbolische Form«, in der diese Einheit erfaßbar wird bzw. zu der die Elemente verbunden werden, ist die monadische Form des Schönen. In der Rezeption der Kantischen Ästhetik63 ist er zunächst ebenfalls am ästhetischen Urteil, d. h. an einer speziellen Ausprägung der Subjektivität orientiert. In die Auslegung drängen sich jedoch bereits Elemente seiner eigenen symbolphilosophischen Ästhetik, die unter dem Einfluß seiner Goetherezeption Kunstwerke als Manifestationen einer Weltsicht (der »ästhetischen Seite der Phänomene«) gegenüber anderen Kulturgebieten abzugrenzen sucht. Der Ansatz, Kunst als Formenkontinuum zu begreifen, wird zwar bereits in seinen frühen Aufsätzen zu Goethe im Hindergrund sichtbar,64 gewinnt jedoch erst ab den dreißiger Jahren, beeinflußt durch die Lektüre der Schriften von Konrad Fiedler, Adolf Hildebrandt und Heinrich Wölffl in, (schwache) Kontur. Auch Spuren der Rezeption Alois Riegls sind zu erkennen. Die Veröffentlichung des Nachlasses ermöglicht es, diese Konturen nachzuziehen.

ein notwendiges Moment im Prozeß des Werdens und des Schaffens selbst; er gehört nicht in den bloßen Kreis der Rezeptivität, sondern in der reinen Spontaneität.« ECW 18, S. 383. 60 B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, S. 136. 61 Vgl. »Language and Art II«, in: SMC, S. 155. 62 Siehe oben Teil I, Kapitel 1, Abschnitt d). 63 Siehe oben, Teil I, Kapitel 3. 64 Siehe oben, Teil I, Kapitel 2 und 4.

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Die Auseinandersetzungen mit auf der einen Seite Croce, dessen Reduktion der Kunst zu einem reinen Ausdrucksphänomen er kritisiert, und auf der anderen Fiedler, dessen Formalismus er ablehnt, die in den nachgelassenen Aufzeichnungen zum Verhältnis zwischen Geschichte und Kunst dokumentiert sind, lassen erkennen, wie Cassirer die »Objektivität« der Kunst begreift: als ein »dynamisches Ineinander« von Ausdruck und Form.65 Dem Gedanken der Vermittlung von individuellem Ausdruck und allgemeiner Form ist somit ein weiterer Abschnitt f ) gewidmet.

d) Das Schöne als symbolische Form? Für Kant dienen die als »humaniora« bezeichneten Vorformen heutiger Kulturwissenschaften dazu, Humanität zu befördern, und Humanität impliziert nach Kant »einerseits das allgemeine Teilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen, sich innigst und allgemein mitteilen zu können«.66 Worüber die Menschen einander Mitteilung machen, wenn sie sich speziell über ästhetische Urteile austauschen, ist nach Kant der Zustand ihres Gemüts während einer ästhetischen Vorstellung. Sie sagen dann – quasi als würden sie einen Gegenstand beurteilen: »Das fi nde ich schön« oder: »Das fi nde ich nicht schön«. Auch Cassirer bestimmt es im Essay on Man als die wichtigste Aufgabe der als Kulturgebiete verstandenen symbolischen Formen, »to unite man«.67 Im Austausch über die symbolische Form der Kunst wird für ihn jedoch weitaus mehr als nur ein Gemütszustand kommuniziert. Das Kunstwerk vermittle dem Rezipienten die Weltsicht des Künstlers, im Kunstwerk werde der individuellen, augenblicklichen Physiognomie der Welt in der Form, wie sie dem Künstler erscheint, Gestalt und Dauerhaftigkeit verliehen.68 Die Kunst zeige dem Menschen die ästhetische Seite der Phänomene. »Die Gegenständlichkeit des ästhetischen Inhalts« unterscheidet Cassirer zwar streng »von der Wirklichkeit, wie sie im empirischen Urteil gesetzt oder im empirischen Begehren erstrebt wird« 69, denn der Gegenstand des ästhetischen Urteils ist das Bild, »was ich aus seiner Vorstellung in mir mache« 70, doch überdehnt er den Geltungsbereich des Kantischen Begriff s der »allgemeinen Mitteilbarkeit« des ästhetischen Urteils beträchtlich, wenn er ihn über die Intersubjektivität des

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ECN 3, S. 256. KU, § 60. ECW 23, S. 140. Ebd., S. 157 f. ECW 8, S. 299. Ebd., S. 300.

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ästhetischen Zustandes hinaus für die Vermittlung von Weltsichten in Anspruch nimmt.71 Das Urteil »Dies ist schön« scheint zwar der Form nach ein Urteil über einen Gegenstand zu sein, Kant setzt jedoch hinzu, der ästhetisch Urteilende spreche, »als ob Schönheit eine Beschaffenheit des Gegenstands […] wäre«.72 Cassirer hingegen geht davon aus, daß jedes Urteil »ein Moment der Gegenstandssetzung« ist, und untersucht – da er nicht, wie Kant, an der Reichweite und den Grenzen der menschlichen Vernunft, sondern an ihren Darstellungs- und Vermittlungsformen interessiert ist – die »Art der Objektivität des ästhetischen Gegenstandes«.73 Während die Kantische Ästhetik sich darauf beschränkte, das ästhetische Urteil als ein vernünftiges zu erweisen, muß die Cassirersche den Nachweis bringen, daß die Kunst eine intersubjektive Gestaltung zur Welt darstellt. Im Ausgang von den ästhetischen Betrachtungen Cassirers in Kants Leben und Lehre, deren Spuren sich bis in den Essay on Man und den Nachlaß verfolgen lassen, können 3 verschiedene Ebenen ästhetischer »Gegenständlichkeit« unterschieden werden, die Cassirer zum Teil in Verbindung mit der Kantischen »allgemeinen Mitteilbarkeit« bringt, welche ihm als Versicherung der Erfahrungsanalogizität und Intersubjektivität der Kunst dient. 1. Cassirer betrachtet den ästhetischen Zustand als eine »Resonanz« der »Allheit der Gemütskräfte« im Besonderen, wodurch das Subjekt in den »vollen Besitz der Subjektivität selbst« gelangt.74 Im ästhetischen Urteil werden einzelne Gemütskräfte – die Einbildungskraft und der Verstand – in Einklang gebracht und in ihrem Zusammenwirken erfahrbar gemacht. In dem nachgelassenen Vortragstext »Language and Art II« weist Cassirer darauf hin, daß symbolische Formen nicht

Bereits in Kants Leben und Lehre fi ndet sich diese Übertragung. Vgl. die besonders signifi kante Passage S. 298, in der er von der »Einheit der ästhetischen Stimmung und der ästhetischen Gestalt« spricht und im folgenden entgegen der Kantischen Intention die »Objektivität des ästhetischen Gegenstandes« beleuchtet (S. 299). 72 KU, § 6. Hervorh. M. L. 73 ECW 8, S. 297 und 299. Einen Hinweis auf die mögliche Motivierung dieser Interpretation, der in der Druckfassung leider getilgt worden ist, enthält die erste Manuskriptfassung des Essay on Man, in: ECN 6, S. 553. Um auf das konstruktive Moment der ästhetischen Erfahrung hinzuweisen, zitiert Cassirer den 25. Brief Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen: »Die Schönheit ist also zwar Gegenstand für uns, weil die Reflexion die Bedingung ist, unter der wir eine Empfi ndung von ihr haben; zugleich aber ist sie ein Zustand unsers Subjekts, weil das Gefühl die Bedingung ist, unter der wir eine Vorstellung von ihr haben. Sie ist also zwar Form, weil wir sie betrachten; zugleich aber ist sie Leben, weil wir sie fühlen. Mit einem Wort, sie ist zugleich unser Zustand und unsre Tat.« (Hier nicht nach der englischen Übersetzung, sondern nach Sämtliche Werke, Bd. 12, S. 102, zitiert). Vgl. auch W. F. Eggers, Jr., »From Language to the Art of Language: Cassirer’s Aesthetic«, S. 103, der darauf hinweist, daß auch Schiller keinen Unterschied zwischen Künstler und Rezipienten macht, wenn er vom »ästhetischen Zustand« spricht. 74 ECW 8, S. 306. 71

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durch die Anwesenheit oder Abwesenheit bestimmter »faculties«, sondern durch das jeweilige Verhältnis, in dem diese zueinander stehen, unterschieden werden können. Während im Mythos die Einbildungskraft überwiege, in der Sprache der Verstand (»the logical moment«) zunehme und in der Wissenschaft dann den Sieg davontrage, scheine dieser Konfl ikt in der Kunst gelöst.75 Der singuläre ästhetische Gemütszustand, der durch die Betrachtung von Gegenständen, die als »schön« beurteilt werden, ausgelöst wird, vermittle ein »Lebensgefühl« und erhalte dadurch Bedeutung. Die Einheit der Gemütskräfte im ästhetischen Urteil läßt sich in eingeschränktem Maße mit der Einheit der Erfahrung, in die sich das theoretische Urteil integriert, vergleichen. Während das Erkenntnisurteil am Auf bau des objektiv wissenschaftlichen Zusammenhangs äußerer Gegenstände bzw. Phänomene teilhat, stellt das Kunstwerk »gleichsam mit einem Schlage jene Einheit der Stimmung her, die für uns der unvermittelte Ausdruck für die Einheit unseres Ich, für unser konkretes Lebens- und Selbstgefühl ist«.76 In der ästhetischen Betrachtung »erblicken wir nunmehr erst ›uns selbst‹ in unserer monadischen Fülle und unserer monadischen Einsamkeit«, denn »[d]ie Fülle der inneren Bewegungen des Ich, die Fülle seiner ›Möglichkeiten‹ wird frei, wenn es sie rein in sich selbst entfalten und schwingen lassen kann«.77 Diese Erfahrungsebene nimmt Cassirer auch im Essay on Man wieder auf, wenn er von der »Bewegung« und der »vibration of our whole being« 78 spricht, die durch die Kunstrezeption ausgelöst werde. Die Beschreibung der Gegenständlichkeit kunstästhetischer Phänomene als innersubjektive Relationalität der Selbsterfahrung ist durchaus mit der Kantischen Sichtweise kompatibel, wenngleich sie von ihm nicht in dieser Weise akzentuiert wird. Sie vermittelt ein intensives Gefühl von Lebendigkeit.79 2. Cassirer begreift die Erfahrung der »Fülle« des eigenen Ichs in der Kunstrezeption jedoch – in diesem Aspekt einem verbreiteten literaturdidaktischen Erfahrungsbegriff durchaus konform80 – auch als Aufscheinen der Erweiterung von Vgl. SMC, S. 190 f. ECW 8, S. 305. Hervorh. M. L. 77 Vgl. die im Nachlaßband ECN 3 veröffentlichten Aufzeichnungen zum Verhältnis zwischen Geschichte und Kunst (S. 18–50), die für Cassirers Ästhetik erhellend sind – hier S. 43. 78 ECW 23, S. 162. 79 Vgl. hierzu auch B. Recki, »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie«, die das ästhetische Urteil im Kantischen Kontext der »Lebendigkeit im Selbstgenuß« untersucht. 80 S. Nordhofen verspricht sich in ihrer literaturwissenschaftlichen Dissertation Literatur und symbolische Form. Der Beitrag der Cassirer-Tradition zur ästhetischen Erziehung und Literaturdidaktik von der Beschäftigung mit der Symbolphilosophie Cassirers Einsicht in die »Bedingungen der Möglichkeit literaturästhetischer Erfahrung« (S. 8). Sie bestimmt die Literatur als eine symbolische Form (S. 46) und liest Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als eine Theorie der Erfahrung (S. 46). Da sie den Erfahrungsbegriff , den sie zugrunde legt, jedoch an Jauß/Iser und nicht an Cassirer selbst expliziert und auch die spezifi schen Differenzen symbolischer Formen nicht mit Cassirer, sondern mit Goodman (S. 93) erarbeiten werden, führt ihre Arbeit entgegen der Erwartungen, die der Titel weckt, im Rahmen der hier interessierenden Frage75 76

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Lebens- und Wahrnehmungsmöglichkeiten und verschiebt den Fokus damit von der »formalen« Seite (der formalen Zweckmäßigkeit Kants) auf die »inhaltliche« Seite der Kunstrezeption: »›Wir‹ sind in ihm [im Kunstwerk M.L.], ›wir‹ bewegen uns in ihm und mit ihm – und wir werden [uns] damit erst des wahren Ausmaßes unserer Kräfte, unserer Möglichkeiten bewußt – die ›Wirklichkeit‹ steht vor uns – nicht als ein bestimmter, objektiver[,] aber eben in dieser Objektivität auch eingegrenzter Stoff- und Gegenstandsbezirk – sondern als die Wirklichkeit unseres Ich, die, wie wir gewahr werden, eine unbegrenzte Möglichkeit vorher unbekannter Lebensphänomene und Lebensfunktionen in sich birgt[.]« 81 Cassirer gestaltet die formale Kantische Bestimmung des ästhetischen Zustandes aus, indem er sie mit inhaltlichen Aspekten der Kantischen Genieästhetik verknüpft. In der Kunsterfahrung werde eine »inexaustibility of the aspects of things« 82 sichtbar, die Kant auf der Seite des Künstlers als ein »Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen« bezeichnet 83. Cassirer löst die Privilegierung des Genies jedoch durch Übertragung auf die Rezipientenseite auf. Die Kunst offenbart nach Cassirer »a view of human life as a hole«.84 Sie ist »symbolic in a new and deeper sense«.85 Kunsterfahrung ist eine »Erfahrung der Kontemplation« 86 , die eine vorher nicht gekannte Tiefe und Weite des Lebens erschließt.87 Sie macht »the dynamic process of life itself« erfahrbar,88 da der Rezipient nicht in einzelnen Gefühlszuständen gefangen bleibe, sondern im Abstand der Kontemplation einen Überblick bekommen kann. Die große Bedeutung des Humors, den Cassirer des öfteren thematisiert,89 gehört in diesen Kontext. Das »Integral« – die Einheit unseres Ich oder des menschlichen Lebens im Ganzen –, das in der Kunstrezeption entsteht, ist anderes strukturiert als dasjenige der Naturerkenntnis: und zwar »monadisch«. Der Extensivität der kategorial strukturierten Naturwissenschaft steht die Intensität teleologisch organisierter ästhetischer Selbsterfahrung gegenüber. Wir können nun an die Differenzierung stellung nicht weiter. Will man die Möglichkeit, Literatur mit Cassirer als symbolische Form zu begreifen, »im Rahmen einer erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Argumentation« (S. 7) ausloten, ist es nicht angeraten, sich ausschließlich auf den unter diesem Gesichtspunkt weniger tiefschürfenden Essay on Man zu stützen. 81 ECN 3, S. 43. 82 ECW 23, S. 157. 83 KU, § 49. 84 ECW 23, S. 158. 85 Ebd., S. 158. 86 Ebd., S. 159. Die deutsche Ausgabe enthält an dieser Stelle einen Übersetzungsfehler, da sie »the aesthetic experience – the experience of contemplation« mit »ästhetisches Erleben – Betrachtung oder Kontemplation« übersetzt (S. 226). 87 Auch hier ein Übersetzungsfehler: »a new breadth and depth of life« (S. 160) wird übersetzt mit »eine neue Dimension« (S. 227). 88 ECW 23, S. 161. 89 Vgl. insbesondere Individuum und Kosmos, ECW 14, S. 353 ff .

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verschiedener Arten der Integralbildung anknüpfen, die Cassirer bereits sehr früh als »sehr verschiedenartige Formen der Verknüpfung und Abhängigkeit« bezeichnet hat.90 Kunst ist eine »condensation«, »concentration« und »intensification« der Wirklichkeit 91 und unterscheidet sich insofern von der Wissenschaft. Anhand des mythischen und sprachlichen Denkens hat Cassirer in dem Aufsatz »Sprache und Mythos« den Unterschied zwischen der »Extensivierung« eines Inhaltes und seiner »Intensivierung« beschrieben.92 Während die Wissenschaft auf »Erweiterung, auf Verknüpfung, auf systematischen Zusammenhang hinstrebt«, gehe die Sprache und der Mythos den Weg der Verdichtung, Konzentration und isolierenden Heraushebung. Die intensivierende Wirklichkeitsbetrachtung kenne daher »zunächst« keinen »Kontext der Erfahrung«: »Alles andere Dasein oder Geschehen ist für das Bewußtsein nunmehr wie versunken; alle Brücken, die den konkreten Anschauungsinhalt mit der Totalität der Erfahrung, als einem gegliederten System, verbinden, sind wie abgebrochen.« 93 In dieser Beschreibung läßt sich der oben beschriebene Zustand des »wir sind im Kunstwerk« durchaus wiederfi nden. Und jeder dürfte das Gefühl kennen, das sich einstellt, wenn man nach der Betrachtung eines einnehmenden Kinofi lms den Saal verläßt oder nach der Lektüre eines fesselnden Romans das Buch zuschlägt und sich wie fremd in einer sonst vertrauten Welt fühlt. Die Erfahrung, die sich in einer derartigen Begegnung mit »Kunst« bildet, ist eine »innere Erfahrung«. Sie baut eine »innere Welt« auf.94 3. Während in dieser subjektzentrierten oder monadologischen Betrachtungsweise der schönen Kunst die Totalität der Gemütskräfte oder der Lebensmöglichkeiten in der Erfahrung des Einzelnen den übergeordneten Zusammenhang darstellt, steht auf der dritten Ebene ästhetischer Erfahrung, die Cassirer thematisiert, die Intersubjektivität im Fokus. Mit dem ästhetischen Bewußtsein sei die Annahme oder Behauptung einer »allgemeine[n] Mitteilbarkeit von Subjekt zu Subjekt« verbunden«. »Im Phänomen des Schönen ist das Unbegreifl iche getan, daß bei seiner Betrachtung jedes Subjekt in sich selbst bleibt und rein in den eigenen inneren Zustand versunken ist, während es sich zugleich von aller zufälligen Partikularität losgelöst und als Träger eines Gesamtgefühls weiß, das nicht mehr ›diesem‹ oder ›jenem‹ angehört.« 95 Der Zusammenhang, in den das ästhetische Urteil sich integriert und der durch es erfahrbar wird, ist die Allgemeinheit der Subjektivität, der soziale Grundzusammenhang, »dem die Subjekte als solche, unabhängig von

Vgl. oben, S. 36. Vgl. ECW 23, S. 160 f. 92 Vgl. ECW 16, S. 275–277. Während er hier jedoch Sprache und Mythos als Modi der Intensivierung der Extensivierung der Wirklichkeit gegebenüberstellt, steht im Essay on Man die Sprache im Gegensatz zur Kunst auf der Seite der Extensivierung. 93 ECW 16, S. 277. 94 Vgl. ECN 5, S. 109. 95 ECW 8, S. 307. 90 91

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ihren zufälligen individuellen Differenzen, angehören«.96 Ästhetische Erfahrung bezeichnet Cassirer als die auf andere Weise nicht zu machende Erfahrung des »intelligible[n] Grund[es] der Menschheit«.97 Da das Erlebnis, der Genuß oder die sinnliche Wahrnehmung, selbst nicht teilbar oder kommunizierbar sind, da jede Mitteilung den Weg über die Sphäre des Gegenständlichen nehmen muß, in der zwar das auslösende Moment beschrieben, der Zustand, in den es das erlebende Subjekt versetzt, aber nicht transportabel ist, begnügt es sich mit dem Urteil »Das ist schön« und hoff t auf den Nachvollzug der gemachten Erfahrung durch den Angesprochenen: (Mit)geteilte Freude ist doppelte Freude. Die in diesem Abschnitt dargestellten Aspekte der ästhetischen Erfahrung können im weiteren Sinne als Ausdrucksphänomene begriffen werden. Sie geben Kunde von einer Gestaltungs- und Auffassungskraft des Menschen, die nicht in der Klassifi kation und Reduktion von Mannigfaltigkeit besteht. Schönheit begreift Cassirer mit Leibniz als Ausdruck einer monadisch organisierten Einheit. Der Mensch erfährt sich selbst in der Kunsterfahrung als lebendiges Ganzes, und diese Selbsterfahrung ist die Basis dafür, auch andere und anderes als lebendig wahrzunehmen – was für Cassirer eine Ausdruckswahrnehmung ist. »Der Schönheitssinn ist die Empf änglichkeit für das dynamische Leben von Formen, und dieses Leben läßt sich nur durch einen entsprechenden dynamischen Prozeß in uns selbst erfassen.« 98 Für Cassirer ist das Schöne »kein Inhalt, der durch Erfahrung erworben wird, noch ist es eine Vorstellung, die dem Geist von Anfang an als geprägte Münze mitgegeben ist; es ist vielmehr eine spezifi sche Grundrichtung, eine reine Energie und eine urtümliche Funktion des Geistes« 99 und dürfte damit als Kandidat für eine symbolische Form gelten. Doch erfüllt »das Schöne« damit bereits alle für symbolische Formen formulierten Kriterien, und ist es somit mit der gesuchten symbolischen Form der Kunst identisch, oder bildet es neben der Kunst eine eigene symbolische Form?100 Ebd., S. 319. Ebd. Kant spricht von dem »übersinnlichen Substrat der Menschheit« KU, § 57, bzw. vom »intelligiblen Substrat der Natur außer uns und in uns«, Anmerkung II zum § 57. 98 VM, S. 232. 99 ECW 15, S. 336 f. Der Essay on Man enthält eine ähnliche Formulierung: »Beauty cannot be defi ned by its mere percipi, as ›being perceived‹; it must be defi ned in terms of an activity of the mind, of the function of perceiving and by a characteristic direction of this function. It does not consist of passive percepts; it is a mode, a process of perceptualization.« (ECW 23, S. 163). Vgl. auch »Language and Art I«, in: SMC, S. 159 f.: »The beauty of things is not a predicate that can be perceived and enjoyed in a mere passive way. In order to apprehend beauty we always need a fundamental activity, a specific energy of the human mind.« 100 Überlegungen zu einer möglichen symbolischen Form des Schönen fi nden sich bei I. Woldt, Das Vorbilden von Wirklichkeit. Kunst als symbolische Form bei Ernst Cassirer, Magisterarbeit Hamburg 1996, S. 75. Auch A. Küker bemerkt in seiner Dissertation Transformation, Refl exion und Heterogenität. Eine Untersuchung zu den Deutungsperspektiven der Kunst in der Philosophie Ernst 96 97

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Sicherlich nicht. »Innere Erfahrungen« können durch Symbolisches initiiert werden und kommen in Symbolisierungen zum Ausdruck. Sie sind jedoch flüchtig und fragil und konstituieren keinen Kulturbereich. Der Gemütszustand, in den die Rezeption von Kunstwerken versetzen kann, bzw. die sinnlich-reflexive Haltung, die man ihnen gegenüber einnehmen kann, bezeichnet jedoch einen wesentlichen Aspekt von Kunst. Die Konzentration auf die sinnlich-reflexiv erfaßbare teleologische Organisation eines Werkes ist für Cassirer wesentlich für die Kunsterfahrung, und darin liegt der normative Kern seines Kunstbegriff s. Produkte, die allenfalls »the response to the demand for entertainment« darstellen, können dem nicht genügen: »Art demands the fullest concentration. As soon as we fail to concentrate and give way to a mere play of pleasurable feelings and associations, we have lost sight of the work of art as such.«101 Die Erfahrung von Schönem ist jedoch nur eine Dimension von Kunst als symbolischer Form, und sie ist ein Aspekt, durch den sich Kunst der wissenschaftlichen Betrachtung entzieht. Die konkrete sinnlich-reflexive Erfahrung ist auf je individuellen Nachvollzug angewiesen. Bereits Leibniz hat darauf hingewiesen, daß das ästhetische Phänomen und seine wissenschaftliche Erklärung schlichtweg inkommensurabel sind: »Denn zu verlangen, daß dieses verworrene Scheinbild bestehen bleibe und man dennoch in der sinnlichen Vorstellung selbst ihre einzelnen Bestandteile unterscheide, ist ein Widerspruch; es hieße, das Vergnügen haben zu wollen, durch eine angenehme Perspektive getäuscht zu werden, und zugleich zu wollen, daß das Auge den Betrug sehe, was ihn zunichte machen würde.«102 Auf kunstwissenschaftliche Analysierbarkeit und Vergleichbarkeit ist Cassirer jedoch angewiesen, wenn er die symbolische Form der Kunst im Essay on Man als ein Kontinuum von sinnlichen Formen bestimmt. Was er damit meint, soll im folgenden Abschnitt untersucht werden.

e) Das Integral der Kunst: Werk, Stil, Gattung oder Kunst als symbolische Form? Während es auf den im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Untersuchungsebenen um gefühlte oder postulierte »Integrale« als Ergebnisse der Rezeption eines singulären Kunstwerks ging, ist im folgenden die »objektive Einheit« des ästhetischen Gegenstandes thematisch. Diese Ebene der Objektivität des Kunstwerks steht im Kapitel über Kunst des Essay on Man im Zentrum der Betrachtung, denn nicht in der Rezeption, in der ästhetischen Erfahrung als solcher, sondern erst hier, bei der Analyse der Kunst als Gestaltung von Erfahrung, wird das Medium der Kunst als Cassirers, S. 77, daß möglicherweise ein Unterschied zu machen wäre zwischen Kunst als symbolischer Form und Ästhetik »als einer Form gesetzlicher Gegenstandsbildung«. 101 ECW 23, S. 178 f. 102 Siehe Neue Abhandlungen, S. 429.

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Ausdruck der Auseinandersetzung von Ich und Welt sichtbar und als Weltentwurf der Analyse zugänglich. Neben die subjektzentrierte Thematisierung der ästhetischen Wahrnehmung als »innere Erfahrung« tritt nun eine Beschreibung der weltkonstituierenden Leistungen der Kunst. Ihre Objektivität erläutert Cassirer zunächst ebenfalls unter Rückgriff auf die Kantischen Begriffe der Gemeingültigkeit und der allgemeinen Mitteilbarkeit, wobei er den Boden der Kantischen Subjektivitätskritik jedoch verläßt. Die spezifi sche Differenz zu Kant kennzeichnet er dabei nicht. Auch hier handelt es sich um eine für ihn charakteristische Fortschreibung von Theoremen der Tradition: »Aesthetic universality«, schreibt er, »means that the predicate of beauty is not restricted to a special individual but extends over the whole field of judging subjects«, und er ergänzt: »If the work of art were nothing but the freak and frenzy of an individual artist it would not possess this universal communicability. The imagination of the artist does not arbitrarily invent the forms of things. It shows us these forms in their true shape, making them visible and recognizable. […] Once we have entered into his perspective we are forced to look on the world with his eyes.«103 Cassirer bezieht die »allgemeine Mitteilbarkeit« nicht auf den Anspruch, den das rezipierende Subjekt für sein Geschmacksurteil erhebt, sondern auf die Verfaßtheit des Kunstwerks, die er mit der unterstellten Objektivität der Perspektive des Künstlers in Verbindung bringt. Möglicherweise handelt es sich hier um eine Kontaminierung der Kantischen Perspektive durch diejenige Goethes, für den der Stil eines Künstlers »auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis, auf dem Wesen der Dinge«104 ruht. Eine der Begründungen, die Cassirer im Essay on Man für die Objektivität der Kunst gibt – die unterstellte Kohärenz des Lebens des Künstlers, die im Kunstwerk zum Ausdruck komme –, legt diese Vermutung nahe. Denn sicherlich hat Goethe, der seine Werke als Teile einer großen Konfession bezeichnete,105 in denen er nichts als sein Individuum zu Tage fördern würde,106 Pate gestanden, wenn Cassirer formuliert: »The works of the great lyrical poets – of Goethe or Hölderlin, of Wordsworth or Shelley – do not give us disjecti membra poetae, scattered and incoherent fragments of the poet’s life. They are not simply a momentary outburst of passionate feeling; they reveal a deep unity and continuity.«107 Im Kunstwerk objektiviert sich das Selbst nach Cassirer »in einem Gebilde der ästhetischen Phantasie«.108 Das Kunstwerk ist der »symbolische Ausdruck« der ECW 23, S. 158. J. W. Goethe, »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil«, in: Werke, Weimarer Ausgabe, 1. Abt., Bd. XLVII, S. 77–83, S. 80. 105 Vgl. ECW 7, S. 185. 106 Ebd., S. 181. 107 ECW 23, S. 158. Auf die Problematik, Selbstaussagen von Künstlern zur Konstitution einer symbolischen Form der Kunst heranzuziehen, hat bereits Andreas Graeser (Ernst Cassirer, S. 87) hingewiesen. 108 ECW 8, S. 307. 103

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Persönlichkeit des Künstlers; der jedoch nicht unvermittelt gelingen kann, sondern erst durch eine »wechselseitige[n] Spiegelung von Ich und Welt, von Selbstgefühl und Naturgefühl«.109 Das Kantische Kriterium formaler Zweckmäßigkeit für die Begründung ästhetischer Gemeingültigkeit erhält hier eine unzulässige inhaltliche Ergänzung, die diesem jedoch freilich so fern nicht gelegen haben muß, hat Kant doch vertreten, daß es die Natur selbst sei, die dem Genie die Regel gebe. Glücklicherweise ist der heute wenig überzeugende Weg über das Künstlersubjekt zur Begründung der Objektivität kunstästhetischer Weltbetrachtung jedoch nicht der einzige, den Cassirer einschlägt. Im Essay on Man schließt Cassirer an Ergebnisse an, zu denen er bereits in seinem früheren Aufsatz über »Goethe und die mathematische Naturwissenschaft« gelangt ist, und verteidigt die Bedeutung der »ästhetischen Seite der Phänomene« sowie die in ihnen wahrnehmbare Ordnung gegenüber dem alleinigen Wahrheitsanspruch der Wissenschaft.110 Wie Goethe betrachtet er den Künstler ebenso wie den Wissenschaftler als Entdecker von Formen der Natur: »Like all the other symbolic forms art is not the mere reproduction of a ready-made, given reality. It is one of the ways leading to an objective view of things and human life.«111 Im Unterschied zur Wissenschaft vermittle uns die Kunst jedoch keinen Einblick in die kausalen Zusammenhänge der Phänomene, sondern biete uns »the intuition of the form of things«112 in ihrer visuellen Gestalt und Struktur.113 Kunst sei eine Deutung der Wirklichkeit »not by concepts but by intuitions; not through the medium of thought but through that of sensuous forms«114 und erbringe eine spezifi sche Ordnungs- und Orientierungsleistung: »art gives us order in the apprehension of the visible, tangible, and audible experiences«.115 Künstler seien »Lehrer in der Welt des Sichtbaren«,116 sie erschließen eine »rein visuelle Tiefe«.117

Ebd., S. 318. Siehe dazu oben Teil I, Kapitel 4, Abschnitt d). 111 ECW 23, S. 155. Nicht nur Goethe, sondern auch Leonardo kann als Gewährsmann für die Bedeutung der ästhetischen Seite der Welt gelten. In Individuum und Kosmos zeichnet Cassirer das komplexe Wechselspiel von Kunst und Wissenschaft der Renaissance nach und kommt sogar zu dem Schluß: »So erweist sich Leonardos Bild der Natur überall als ein methodisch notwendiger Durchgangspunkt: Die künstlerische ›Vision‹ erst ist es gewesen, die der wissenschaftlichen Abstraktion ihr Recht erkämpft und die ihr den Weg bereitet hat.« ECW 14, S. 183. 112 ECW 23, S. 156. 113 Auch hier wird der Einfluß Goethes sichtbar, der Kunst in dem eben zitierten Text insofern als Erkenntnis begreift, als sie »die sichtbaren und greifl ichen Gestalten« der Dinge zum Vorschein bringt. »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil«, in: Werke, Weimarer Ausgabe, 1. Abt., Bd. XLVII, S. 80. 114 ECW 23, S. 159. 115 Ebd., S. 181. 116 VM, S. 222. 117 Ebd., S. 260. 109 110

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Bereits in der Philosophie der symbolischen Formen hat Cassirer die Kunst mit einer besonderen »Anschaulichkeit« in Verbindung gebracht. Indem das ästhetische Bewußtsein sich »der reinen ›Betrachtung‹ überläßt«, schreibt er im zweiten Band, »indem es die Form des Schauens im Unterschied und Gegensatz zu allen Formen des Wirkens ausbildet, gewinnen nunmehr die Bilder, die in diesem Verhalten des Bewußtseins entworfen werden, erst eine rein immanente Bedeutsamkeit. Sie bekennen sich der empirisch-realen Wirklichkeit der Dinge gegenüber als ›Schein‹: Aber dieser Schein hat seine eigene Wahrheit, weil er seine eigene Gesetzlichkeit besitzt.«118 Es ist der Eigenwert des Bildes als Bild, als sinnliche Gestalt, den Cassirer in der Betrachtung von Kunst gegenüber anderen Formen der Wirklichkeitsbetrachtung akzentuiert, denn in der »Grundrichtung des Ästhetischen« bleibt »das Bild rein als solches anerkannt«.119 Erst in der Kunst erfährt die sinnliche Wahrnehmung einen Eigenwert und eine unanfechtbare Eigenständigkeit. Cassirer nennt im Essay on Man die Quellen nicht, durch die diese Sichtweise auf die Kunst als Gestaltung sinnlicher Wahrnehmung gespeist ist. Weder Leibniz noch Goethe werden in diesem Zusammenhang erwähnt, und auch die modernen Vertreter dieses Ansatzes werden in Gestalt Adolf Hildebrands nur flüchtig genannt.120 Erst der Nachlaß entbirgt die Cassirersche Rezeption der wahrnehmungstheoretisch orientierten Kunstwissenschaft und ermöglicht es, Spuren, die im Essay on Man nicht plastisch werden, auszugestalten. Heinz Paetzold hat bereits auf die Bedeutung Konrad Fiedlers für Cassirers symbolphilosophisch orientierte Kunstbetrachtung hingewiesen.121 Die späten Versuche Cassirers, Kunst als symbolische Form nicht nur vorauszusetzen, sondern als ein Formenkontinuum zu begründen, sind in der Tat zu einem nicht unbeträchtlichen Maße seiner Lektüre der Schriften Konrad Fiedlers aber auch Adolf Hildebrands und Heinrich Wölffl ins verpfl ichtet.122 In nachgelassenen Aufzeichnungen würdigt Cassirer Fiedler als denjenigen Wissenschaftler, der die Kantische Transzendentalphilosophie auf dem Gebiet der Kunst fortgeführt – und somit ein der Philosophie der symbolischen Formen verwandtes Unternehmen betrieben habe: »Von allen Aesthetikern ist Konrad Fiedler derjenige gewesen, der am klarsten die Notwendigkeit gesehen hat, das System der Aesthetik auf einem gesicherten erkenntniskritischen Fundament aufzubauen. Er war vielleicht der Erste, der, von Kant ausgehend, die ›Copernikanische Drehung‹, die dieser für die Welt der theoretischen Erkenntnis gefordert hatte, in voller methodischer Klarheit auf

ECW 12, S. 305 f. Ebd., S. 305. 120 Ein Hinweis auf Hildebrand fi ndet sich in ECW 23, S. 167. 121 Vgl. H. Paetzold, »Fiedler und Cassirer«, in: Auge und Hand: Konrad Fiedlers Kunsttheorie im Kontext, hg. von St. Majetschak, München 1997. 122 Vgl. hierzu M. Hinsch, Die kunstästhetische Perspektive in Ernst Cassirers Kulturphilosophie, S. 150–176. 118 119

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die Welt des künstlerischen Ausdrucks übertrug.«123 Nach Fiedler bedeute auch die Kunst kein gegebenes Sein, sondern sei selbst ein Sein und müsse »bedingend« gefaßt werden, d. h. als ein Element, das einen bestimmten Wirklichkeitsauf bau ermögliche. Während die Wissenschaft den wissenschaftlichen Gegenstand erzeuge, baue die Kunst den ihren als »Objekt des reinen Schauens«124 auf. Die »Sichtbarkeit« sei ebenso ein Ergebnis der Spontaneität wie die wissenschaftliche Erkenntnis. Sie sei eine Objektivierung zur Gestalt. In dieser Hinsicht läßt sich Fiedler, wie Paetzold festhält, als Cassirers »Gewährsmann in Sachen Kunst« betrachten.125 Was Cassirer schon früh mit Goethe als die »ästhetische Seite« der Phänomene begreift, die autonom neben der wissenschaftlichen Betrachtungsweise steht, faßt er mit Fiedler nun als »eine Welt der Formen«126 , die – mit Hildebrand – durch »Strukturgesetze«127 geprägt seien. Kunst, notiert Cassirer, »macht einen neuen Umriss, eine andere Zeichnung und Kontur der Welt deutlich«128 und ist damit eine Form der Erkenntnis. Diese Perspektive bezeichnet Cassirer als den Kern der Kunsttheorie Fiedlers aber auch Hildebrands,129 und auf seine Rezeption dieser beiden Kunstwissenschaftler dürfte es zurückzuführen sein, daß er im Essay on Man auf einer »Wahrheit der reinen Formen« insistiert, die in der Kunst gegeben sei.130 Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die Cassirer Fiedler zuspricht, ist es verwunderlich, daß er ihn in seinen veröffentlichten Schriften an keiner Stelle erwähnt,131 während sich Hinweise auf Hildebrand im Essay on Man sowie in Aufsätzen der 30er Jahre und in den Studien Zur Logik der Kulturwissenschaften fi nden, in denen insbesondere Hildebrands Verdienste um die Erkenntnis des Wesens einer (symbolischen) Form in Abhängigkeit von der jeweiligen Raumgestaltung erwähnt werden.132 Auf Wölffl in geht er in Zur Logik der Kulturwissenschaften ebenfalls im Zusammenhang »verschiedener Auffassungsweisen räumlicher Verhältnisse« ein.133 In einem nachgelassenen Vortragsmanuskript zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften von 1941 erf ährt dieser eine erstaunliche Würdigung dadurch, daß Cassirer Wölffl ins kunstwissenschaftliche Perspektive mit dem sprachwissenschaftlichen Ansatz Humboldts parallelisiert: So, wie jede Sprache nach Humboldt ECN 1, S. 79. Ebd., S. 80. 125 H. Paetzold, »Fiedler und Cassirer«, S. 212. 126 ECN 3, S. 255. 127 Ebd., S. 30. 128 Ebd., S. 255. 129 Vgl. ebd., S. 31. 130 VM, S. 252 131 Vgl. hierzu auch H. Paetzold, »Fiedler und Cassirer«. 132 »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: ECW 17, S. 412, »Die Sprache und der Auf bau der Gegenstandswelt«, in: ECW 18, S. 113, »Le langage et la construction du monde des objets«, in: ECW 18, S. 267, »Der Gegenstand der Kulturwissenschaft, in: LK, S. 18, sowie VM, S. 238. 133 Vgl. »Naturbegriffe und Kulturbegriffe«, in: LK, S. 60 ff . 123 124

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die »Gewinnung eines neuen Standpunktes in der Weltansicht«134 bedeute, unterscheide auch die Kunstwissenschaft in der Differenzierung von Stilen zwischen »grundsätzlich verschiedenen Interessen an der Welt«135. Die ästhetischen Positionen dieser drei Theoretiker übernimmt Cassirer jedoch nicht kritiklos. Er widerspricht ihrem aus seiner Sicht einseitigen Formalismus, der den Ausdrucksaspekt, der für die Kunst ebenfalls konstitutiv sei, nicht berücksichtige. Während Cassirer das einzelne Kunstwerk trotz übergreifender Formzusammenhänge, in denen Kunst als symbolische Form steht, als Ausdruck eines individuellen Künstlers begreift, strebt bspw. Hildebrand eine »Kunstgeschichte ohne Namen« an.136 Bevor ich mich jedoch im nächsten Abschnitt dieser expliziten Kritik Cassirers zuwende, sei ein Problem diskutiert, das er sich im Versuch, die symbolische Form der Kunst mit Fiedler, Hildebrand und Wölffl in formal zu begründen, einhandelt, jedoch nicht reflektiert. Zu Beginn seiner Schrift Über den Ursprung künstlerischer Tätigkeit hält Fiedler fest: Es gibt keine Kunst im allgemeinen, sondern nur Künste.137 Wie Cassirer nimmt Fiedler seinen Ausgang von Kant und arbeitet in Richtung einer Aufwertung der Sinnlichkeit gegenüber einer dominierenden Tätigkeit des Verstandes. Fiedler geht jedoch weiter und hebt nicht nur den Dualismus der verschiedenen »Vermögen« auf, sondern verlegt »den Ursprung aller geistigen Tätigkeit, alles Bewußtseinsinhaltes«138 in die Sinnesempfi ndung. Eine Vermittlung verschiedener Sinne zur Erzeugung eines »Gegenstandes« lehnt er ab. Tastbare, hörbare und sichtbare »Gegenstände« sind für Fiedler nicht identisch. Die sich daraus ableitende Isolierung einzelner Sinne konterkariert das Cassirersche Bemühen um eine symbolische Form der Kunst: »Es besteht gar keine Ähnlichkeit zwischen der Formvorstellung, die in das Gebiet des Gesichtssinnes und derjenigen, die in das Gebiet des Tastsinnes gehört; und so kann auch die eine nicht zum Vorbild oder Maßstab der anderen dienen.«139 Die Frage, ob sich aus den Ergebnissen, die sich aus den Untersuchungen auf einem Gebiet der Kunst ergeben, Rückschlüsse auf ein anderes ziehen lassen, beschäftigt ihn nicht. Cassirer muß sie jedoch interessieren, wenn er Fiedlers Bemühungen um eine Welt des Sichtbaren für die Konstitution einer symbolischen Form der Kunst insgesamt fruchtbar machen will. Eine Beschäftigung mit der Frage der Isolierung einzelner Sinne läßt sich in Cassirers Schriften nicht nachweisen, doch hat auch er Zweifel an dem Gewinn der Übertragung von Begriffl ichkeiten, die in einer Kunst erarbeitet wurden, auf eine andere: »Die versuchte ›wechselseitige Erhellung der Künste‹«, schreibt er in einem Nachlaßtext

134 135 136 137 138 139

ECN 5, S. 228 Ebd., S. 224. Vgl. ebd., S. 226. Vgl. K. Fiedler, Schriften zur Kunst I, hg. von G. Boehm, München 21991, S. 112. Ebd., S. 73 Ebd., S. 148 f.

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zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften, »hat sich meines Erachtens nicht immer [als] fruchtbar erwiesen; sie hat oft mehr zu einer Verwischung, als zu einer Verdeutlichung geführt.«140 Mit Fiedler müßte die symbolische Form der Kunst in verschiedene symbolische Formen der Künste zerfallen, welche die differenten Seiten der Wirklichkeit: das Sichtbare, das Tastbare und das Fühlbare erforschen, und auch Hildebrands Untersuchungen der räumlichen Orientierung in der Kunst können die These einer einheitlichen Wirklichkeitsgestaltung durch Kunst nicht stützen. Während Cassirer in seinem Vortrag »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« zur Differenzierung verschiedener symbolischer Formen eine einheitlich gestaltete Raumvorstellung der Kunst vorausgesetzt hat, fi ndet sich in nachgelassenen Aufzeichnungen von 1942 eine Äußerung, die dieser Vorstellung widerspricht. Über die Raumgestaltung allein läßt sich keine symbolische Form der Kunst begründen, denn »in dieser Aufgabe, an bestimmte räumliche Erscheinungen anzuknüpfen, um sie zu Ausdrucksbildern unserer räumlichen Vorstellungen und des ›Wesens‹ Raum zu gestalten, verfahren die einzelnen bildenden Künste nicht gleich. Die Malerei, die Plastik, die Architektur schlagen hierbei getrennte Wege ein: und eben darauf beruht ihr innerer Unterschied, ihre ›differentia specifica‹. Der malerische, der plastische, der architektonische Raum sind durch deutlich angebbare Unterschiede voneinander getrennt; jeder von ihnen stellte eine eigene Weise der räumlichen Orientierung und der künstlerischen Gestaltung dar.«141 Und schließlich droht dem angestrebten Integral der Kunst als Form mit den Wölffl inschen Stilbegriffen eine weitere Aufspaltung, denn die verschiedenen Stilformen der Künste betrachtet dieser als »Weltanschauungen[,] anders gerichtet in ihrem Geschmack und in ihrem Interesse an der Welt, und jede doch imstande, ein vollkommenes Bild des Sichtbaren zu geben«142 . Cassirer selbst geht in der Zersplitterung der symbolischen Form der Kunst sogar nach weiter, wenn er in nachgelassenen Aufzeichnungen zum Thema Kunst notiert: »In und mit dem Kunstwerk entsteht für uns jeweils eine neue ›Wirklichkeit‹.«143 Die Unentschiedenheit, auf welcher Ebene die symbolische Form der Kunst anzusiedeln sei: auf der Ebene des Werkes, der Gattung, einer Epoche, der Ebene der verschiedenen Künste oder der Kunst insgesamt, durchzieht das Gesamtwerk Cassirers. Während er in der Philosophie der symbolischen Formen die Kunst insgesamt als symbolische Form postuliert, jedoch nicht begründet, fi nden sich in anderen Schriften dieses Postulat durchkreuzende Reflexionen zuhauf, in denen er dem einzelnen Kunstwerk oder einer Gattung eine eigene Weltsicht zuerECN 5, S. 234 f. Ebd., S. 245. 142 H. Wölffl in, Kunstgeschichtliche Grundbegriff e. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, München 1915, S. 20, zitiert nach ECN 5, S. 233. 143 ECN 3, S. 247. 140 141

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kennt. Dadurch, daß er sowohl »die konkrete, unteilbare Geschlossenheit« von Gedichten144 als Integral defi niert als auch die »eigene[n] unmißverständlichen und unverwechelbare[n] Sprachen« der verschiedenen Künste thematisiert145, aber dennoch an einer symbolischen Form der Kunst festhält, hat er vielfältige Deutungsmöglichkeiten eröff net. Selbst der der Kunst gewidmete Abschnitt des Essay on Man liefert zur Begründung der spezifi schen Wirklichkeitskonstitution der Kunst häufig nur Partialbegründungen, die ihre Geltung entweder im Bereich der Malerei oder der Dichtung haben, die wiederum des öfteren in Gattungen wie Drama und Lyrik unterteilt wird. Es deutet vieles darauf hin, daß Cassirer noch nicht im klaren darüber war, ob die Konstitution einer symbolische Form der Kunst auf der Ebene eines allgemeinen Kulturgebietes gelingen könne oder auf der Ebene des Werkes oder der Gattung anzusiedeln sei – schließlich hatte er seinen Meister gegen sich, der die Zusammenfassung von Malerei, Tanzkunst, Beredsamkeit, Baukunst, Dichtkunst und Bildhauerei als »theoretische Gaukelei« bezeichnete, da sie nicht mehr gemeinsam hätten als die »septem artes liberales der alten Pfaffenschulen«.146 Der Einwand, den Dieter Mersch in einem anderen Kontext formuliert, Cassirer habe die Materialität des Symbolischen vernachlässigt, seine Philosophie bleibe – trotz des unbestreitbaren Verdienst, auf die untrennbare Einheit von Sinnlichkeit und Sinn im Symbolischen hingewiesen zu haben – eine »Philosophie der Bedeutung«, ist, wenn auch etwas überzogen, nicht gänzlich zu entkräften: »Erneut wird so der eingeschlagene Weg schon im Ansatz zurückgenommen, das Ästhetische dem Vorrang des Sinnes geopfert und die Einführung der Materialität in dem Maße der Immaterialität der Bedeutung subordiniert, wie sie in den Blick gelangt.«147 »Eine Ästhesiologie als Frage nach der Eigenlogik der Sinne« ist, so Heike Delitz, »bis heute ein Desiderat.«148 Während Cassirer Plessners Stufen des Organischen rezipiert hat, läßt sich eine Lektüre des im selben Jahr wie der erste Band der Philosophie der

VM, S. 220. Ebd., S. 237. 146 J. W. Goethe, »[Rezension von:] Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer, Leipzig 1772«, in: Werke, Weimarer Ausgabe, Abt. I, Bd. XXXVII, S. 207 f. 147 D. Mersch, Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, München 2002, S. 168. Wenngleich ich dem Vorwurf, Cassirer habe die (unterschiedliche) Materialität des Symbolischen nicht genügend berücksichtigt, zustimme, halte ich die Begründung, die Mersch gibt, Cassirer stelle die »›symbolische Grundfunktion des Bedeutens‹ in die Subjektivität des Geistes« zurück, die ›als ein »unabhängiges Setzendes« der Symbolisierung immer schon voraus sei (S. 169), für verfehlt. Im Gegenteil betrachte ich die Aufmerksamkeit auf das »Ereignis der Setzung« für eine der Stärken Cassirers. Siehe dazu weiter unten den Abschnitt k). 148 H. Delitz, »Spannweiten des Symbolischen. Helmuth Plessners Ästhesiologie des Geistes und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53, 2005, S. 918. 144 145

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symbolischen Formen erschienenen Werkes Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes nicht nachweisen. Sowohl Plessner als auch Cassirer sind von der Untrennbarkeit von Materialität und Immaterialität überzeugt. Plessner fokussiert jedoch im Unterschied zu Cassirer die Apriorität jedes einzelnen Sinnes. Es bleibt in den folgenden Abschnitten zu prüfen, ob es Cassirer trotz der offenkundigen materiellen Differenzen der einzelnen Künste dennoch gelingt, die symbolische Form der Kunst auf der Grundlage seiner Philosophie der symbolischen Formen funktional zu begründen. In der Forschung ist dieses Problem bislang nicht hinreichend reflektiert worden. Barbara Naumann konstatiert in ihrem Buch Philosophie und Poetik des Symbols, daß Cassirer keinen Versuch unternommen habe, »die Theoreme seiner Symbolphilosophie im engeren Sinne auf die Literatur anzuwenden«, hingegen nach Korrespondenzen zwischen Literatur und Philosophie gesucht habe.149 Damit kennzeichnet sie jedoch vielmehr ihr eigenes Projekt, dasjenige Cassirers nur partiell. Sie prüft nicht, wie sich Kunst als eine symbolische Form begründen ließe, wendet den Begriff jedoch sowohl auf »Kunst« als auch auf Literatur an.150 Naumanns Aufmerksamkeit gilt nicht im engeren Sinne der Philosophie der symbolischen Formen, sondern der ihr zugrundeliegenden Symbol- und Bedeutungstheorie, und sie versucht eine in der Cassirerschen Kulturphilosophie enthaltende »Symboltheorie der Literatur«151 zu profi lieren. Den Begriff der symbolischen Form, den Cassirer über seine weltkonstituierenden intersubjektiven Funktionen definiert, gebraucht sie meines Erachtens infl ationär, wenn sie sowohl den Stil im allgemeinen als auch Cassirers Stil im besonderen als symbolische Formen bezeichnet: »Cassirers ›Stil‹ ist die symbolische Form der Individualität diskursiven Denkens«.152 Darauf, daß Cassirers Stilbetrachtungen in Freiheit und Form eine Theorie der symbolischen Formen vorbereiten, ist bereits oben hingewiesen worden.153 Stil ist etwas, was in Kunstwerken aufgefunden werden kann, er ist jedoch zugleich, schreibt Cassirer in Freiheit und Form, »wie das Prinzip des Bildens, so ein selbst Bildsames und Bewegliches«154 und charakterisiert somit sowohl den Stil als auch später die symbolische Form als forma formans und forma formata. Doch läßt sich weder behaupten, daß seine frühen Stilbetrachtungen die Theorie der symbolischen Formen vorwegnehmen155, noch daß es zu einer Identität von Stilbegriff und Begriff der symbolischen Form komme. In der Beobachtung, daß Cassirer mit der Stilkategorie »den ›Effekt‹ der lebendigen Bewegung des Denkens beschreibt, – den Effekt mithin, den die Bewegung 149 150 151 152 153 154 155

B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, S. 17. Ebd., S. 175. Ebd., S. 14. Ebd., S. 47. Vgl. Teil I, Kapitel 2, Abschnitt d). ECW 7, S. 109. B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols, S. 25.

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der symbolischen Formen hervorbringt«156 , hat Naumann einen wichtigen Punkt bezeichnet. Denn für Cassirer ist es das Individuum, das die Dynamik der Kultur in Gang hält. Cassirer siedele den Stilbegriff »auf der Grundlage von Bewegung und Veränderung an« und hebe ihn so aus der Festschreibung von deskriptiven, klassifi katorischen Kategorien heraus«157, zugleich werde »die kritische Reflexion des ›Individuellen‹« für Cassirer »zur Bedingung der Möglichkeit von Stil überhaupt«158. »Stil ist wesentlich Ausdruck von Bewegung und Veränderung des Denkens. Aufgrund dieser Bewegung treten Stilbegriff und Konzeption der symbolischen Form miteinander in eine Korrespondenz«.159 Soweit ließe sich zustimmen; Naumann spitzt die beobachtete Korrespondenz jedoch weiter zu: Cassirers Stilbegriff wandele sich »zum alter ego der symbolischen Formen«160. Anstatt das Postulat einer symbolischen Form der Kunst zu problematisieren, schreibt Naumann es in zum Teil einander widersprechenden Formulierungen fort. Sie konstatiert auf der einen Seite, daß Cassirer eine spezifi sche Differenz zwischen Stil- und Symbolbegriff aufrechterhalte, die darin liege, »daß nur der Stil den Bezug auf die individuelle Bewegung des Denkens unterhalten kann, anders, als es die symbolischen Groß-Formen ›Kunst‹ oder ›Literatur‹ vermögen«, zieht daraus jedoch auf der anderen Seite den irrigen Schluß, daß »der Stil selbst zu einer symbolischen Form« werde, »zu einer Form, die dadurch hervortritt, daß sie das Individuelle als unumgängliche Eigenart der Philosophie anerkennt«.161 Cassirer benutze, so Naumann, »das traditionelle Wort ›Stil‹, um seinen Sinn zu verschieben: Die Bedeutung des Stils liege nicht mehr in der individuellen Eigenart des Schreibenden. Die Schrift sei deshalb nicht mehr nur Signatur von Individualität«162 . In der Tat knüpft Cassirers Stilbegriff an Goethes Aufsatz über »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil« an und verortet den Stil somit nicht auf der Ebene einer idiosynkratischen Subjektivität, sondern auf der Ebene der Objektivität, und er versucht mit Wölffl ins »Stilbegriffen« wie z. B. »Barock« oder »Klassik« Begriffl ichkeiten zu übernehmen, mit denen die im Entstehen begriffene »Kunstwissenschaft« eine der Naturwissenschaften analoge klassifi katorische Objektivität zu gewinnen versucht. Die Feststellung, daß Cassirer Kultur- und den Stilbegriff »tendenziell identifi ziere«163, muß jedoch auf einem Mißverständnis beruhen: Cassirer verwendet beide im Plural und meint in diesem Kontext nicht den Begriff der »Kultur«, der durch das Gesamt der symbolischen Formen charakterisiert werden kann, sondern kulturwissenschaftliche Instrumente, mit denen 156 157 158 159 160 161 162 163

Ebd., S. 18. Ebd., S. 37. Ebd., S. 39. Ebd., S. 44. Ebd., S. 34. Ebd., S. 41, Anm.1. Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 19.

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zu symbolischen Formen zusammengefaßte Phänomene der Kultur geordnet und aufeinander bezogen werden können: Kulturbegriffe. Naumann jedoch versucht den allgemeinen Kulturbegriff Cassirers zu parzellisieren und das Individuelle eines jeden Schreibstils als symbolische Form festzuschreiben. Eine überzeugende Bestimmung des Verhältnisses von Stilbegriff und Begriff der symbolischen Form gelingt ihr jedoch nicht, wie das Changieren zwischen »Identität«, »Nichtidentität«, »alter ego«, »struktureller Homologie«164 und »Korrespondenz« zeigt. Stilbegriffe und den Begriff der symbolischen Form als korrespondierend zu betrachten, liegt nahe und in der Natur der (künstlerischen) Sache, wenn sie auch nicht identisch sind. Beide sind Hilfsmittel zur Beschreibung einer Untergruppe kultureller Produktion. Sie sind weniger identifi zierende Begriffe als heuristische Formen der »Überschau«. Diesen Status teilen sie mit einem weiteren literaturwissenschaftlichen Ordnungsbegriff, dem Begriff der Gattung, der – neben »den Künsten« und dem Stil eines Werkes oder eines Künstlers – ebenfalls als ein Kandidat für die gesuchte symbolische Form der Kunst untersucht worden ist. »As a symbolic form«, konstatiert Thomas A. Buesch in seinem Aufsatz »The Literary Genre as a Symbolic Form«, »genre has an ontological status in activity and in signification«165. Er hebt das Cassirersche Konzept der symbolischen Form als Lösung für das Problem des Antagonismus zwischen Allgemeinem und Besonderem insbesondere in der Literaturwissenschaft hervor, die die »spezielle Rationalität« der Cassirerschen Symbolphilosophie bislang ignoriert habe. Indem er die »Großform« der symbolischen Form Kunst, die Cassirer intendiert, mit einem Teilbereich gleichsetzt, gelingt es ihm zwar, den dialektischen Zuschnitt, den alle Stil- oder Kulturbegriffe für Cassirer haben,166 zu veranschaulichen und in bezug auf die Gattungstheorie fruchtbar zu machen, dem Anspruch, den Cassirer an sein Konzept der symbolischen Form im Detail stellt und für die Sprache, den Mythos und die Wissenschaft auch einlöst, wird er nicht gerecht. Dennoch führt die Auseinandersetzung um den Begriff der Gattung, die Cassirer insbesondere mit Croce führt, ins Zentrum seines Formbegriff s.167 Jede Kunst verfügt über einen geschichtlich tradierten »Formenschatz«, den Cassirer als »Syntax« der Form begreift.168 Auf dieser Formenkontinuität als objektivem Pol des Schaffens, in die sich jedes einzelne Kunstwerk – sie aufgreifend und zugleich verändernd – einschreibt, beruht seine Intersubjektivität und damit Verständlichkeit. Cassirer defi niert den Gattungsbegriff als »funktionale Grundrichtung der Gestaltung«169, die der künstlerischen Intuition inhärent sei. So wie es für ihn Ebd., S. 19. Th. A. Buesch, »The Literary Genre as a Symbolic Form«, S. 527. 166 Vgl. hierzu den Aufsatz »Naturbegriffe und Kulturbegriffe«, in: LK, insb. S. 69–77. 167 Zu dieser Auseinandersetzung vgl. W. F. Eggers, »From Language to the Art of Language: Cassirer’s Aesthetic«. 168 Siehe »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 116. 169 ECN 3, S. 265. 164 165

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keinen Inhalt ohne Form geben kann, gibt es keine künstlerische Intention ohne einen künstlerischen »Modus«: »Beethovens Intuition ist musikalisch, Phidias‹ Intuition ist plastisch, Miltons Intuition ist episch, Goethes Intuition ist lyrisch.«170 Im Gegensatz zu Croce, der den Gattungsbegriff ablehnt, da er Kunst als reines Ausdrucksphänomen begreift, das immer nur individuell sein kann, und die Darstellungsform als äußerliche Beigabe betrachtet, insistiert Cassirer auf der Bedeutung des objektiven, intersubjektiven Pols des Kunstwerkes. Die Gattung ist, vergleichbar dem Material, Medium und Begrenzung des Ausdrucks. Der Ausdruck ist auf vorgängige Strukturen angewiesen, denn jede Schöpfung müßte »als Spiel vor jedem Hauch der Luft zergehen, wenn sie nicht, mitten in ihrem Entstehen und Werden, auf frühere Gebilde, auf schon Entstandenes und Gewordenes träfe, an dem sie sich anhalten und festigen kann«.171 Die Gattung ist dennoch keine symbolische Form, sondern »a critical tool« unter anderen.172

f ) Das Kunstwerk als Ort der Vermittlung von Gefühl und Struktur Der besondere Reiz der Kunstphilosophie Cassirers liegt darin, daß er die ästhetische »Gegenständlichkeit« auf verschiedenen Ebenen thematisiert. Er diskutiert sie als Selbsterfahrung sowie als Erfahrung von Intersubjektivität im allgemeinen, als Erfahrung der Dynamik menschlichen Lebens und der ästhetischen Strukturen der Welt. Es ist seine Überzeugung, daß es nur unter Berücksichtigung der subjektiven wie objektiven Komponenten sowie ihres spezifi schen Zusammenspiels gelingen kann, kunstästhetische Phänomene adäquat zu beschreiben. Die besondere Schwierigkeit liegt jedoch darin, daß er diese Ambiguität nur in der fragmentarischen Form weniger Nachlaßschriften explizit reflektiert. Insbesondere im Essay on Man wechseln sich die Perspektiven auf das ästhetische Erleben sowie die formalen Bestimmungen der Kunst in loser Folge ab. Betrachtet man das Gesamtwerk, könnte es so scheinen, als wäre von zwei verschiedenen symbolischen Formen die Rede, wenn Cassirer auf der einen Seite in der Diskussion der Ästhetik der Aufklärungszeit das Schöne »als eine spezifische Grundrichtung, eine reine Energie und eine urtümliche Funktion des Geistes«173 begreift und damit genau die Begriffl ichkeiten verwendet, die die symbolische Form kennzeichnen, und auf der »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 120. Lohnend wäre ein Vergleich mit der Hermeneutik Schleiermachers. Auch für Schleiermacher lassen sich Form und Inhalt bereits im »Keimentschluß« nicht trennen. Die Differenzen, die Cassirer als verschiedene »Intuitionen« faßt, beschreibt Schleiermacher als Differenzen des »Tons«. Vgl. Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik, hg. von M. Frank, Frankfurt/Main 41990, bes. S. 211. 171 »›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Gegenwart«, in: ECW 17, S. 205. 172 Siehe W. F. Eggers, Jr.: »From Language to the Art of Language: Cassirer›s Aesthetic«, S. 108. 173 ECW 15, S. 336 f. 170

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anderen Seite, im Versuch, an die transzendentalphilosophisch reflektierte Kunstwissenschaft Fiedlers anzuknüpfen, die symbolische Form der Kunst als ein objektives Kontinuum sinnlicher Formen begreift, die unabhängig von dem Phänomen des Schönen thematisiert werden können. Will man mit Cassirer Kunst als eine besondere Weise der Ich- und Weltgestaltung, d. h. als symbolische Form begreifen, muß man das Augenmerk auf die Vermittlungsformen von Subjektivität und Objektivität legen, in denen sich die bestimmte Gegenständlichkeit der Kunst artikuliert: »That objectivization which is an integration of individual world views into the languages by which we communicate constitutes the project of language as symbolic form. Such we should expect is the relationship too between individual artistic intuition and the articulated whole which is art«, konstatiert W. F. Eggers.174 Jede symbolische Form ist durch eine spezifi sche Vermittlungsweise des Subjektiven und des Objektiven gekennzeichnet; in keiner ist einer der beiden Pole gänzlich zum Verschwinden gebracht. In der Konzeption der Kunst als symbolischer Form probiert Cassirer das Kunststück der Integration zweier »Integrale«. Bereits jedes einzelne Werk betrachtet er als eine Welt, die eigenen Strukturgesetzen folgt, geht aber dennoch davon aus, daß es ebenso eine Weltsicht »der« Kunst gibt: Das Kunstwerk ist die Vermittlung des monadologisch gedachten Mikrokosmos des Ich, seines Lebensgefühls und seiner Weltsicht, mit der intersubjektiven Formensprache der Kunst. Kunstwerke folgen somit zwei Ordnungen oder antagonistischen – intensivierenden vs. extensivierenden – Tendenzen. Cassirers Kunstästhetik ist, bedingt durch ihren (neu)kantianischen Ausgangspunkt, dezidiert Werkästhetik.175 Das Werk muß als Faktum den Ausgangspunkt für eine transzendentalphilosophisch orientierte Kunstphilosophie bilden, die über eine Strukturanalyse Rückschlüsse auf Urteilsstrukturen zieht. Hier bleibt Cassirer jedoch nicht stehen. Wenn er die Kantische Metapher des Buchstabierens von Erscheinungen, um sie als naturwissenschaftliche Erkenntnisbildungen lesen zu können, kulturphilosophisch zu einem Lesen von Symbolen transformiert, »um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen«176 , erhält seine Epistemologie einen unverkennbar phänomenologischen Einschlag und wird zu einem Verfahren, in dem nicht nur die Verstandeshandlungen, sondern alle Aspekte des geistig-seelischen Lebens des Menschen auf dem Prüfstein stehen. Dieser eher einer subjektivistischen Ästhetik zuzuordnende Aspekt der Cassirerschen Methode, der nach einem »ästhetischen Bewußtsein« fragt, das den

174

Siehe W. F. Eggers, Jr.: »From Language to the Art of Language: Cassirer›s Aesthetic«,

S. 95. 175 Zur Bedeutung des »Werks« in der Philosophie Cassirer vgl. insbesondere O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 197–219, und B. Recki, »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie. Die Kunst als Ort des Lebens bei Cassirer, Goethe und Kant«. 176 »Naturbegriffe und Kulturbegriffe«, in: LK, S. 86.

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Werken der Kunst zugrunde liegt und sich an ihnen bildet, hat jedoch wenig gemeinsam mit einer sich ebenfalls auf Kant berufenden Ästhetik, die das »Vertrauen auf Werke«177 jedoch verloren hat. Die Erörterung der Möglichkeit einer symbolischen Form der Kunst muß sich des spannungsreichen Verhältnisses zwischen als Ausdruck begriffener individueller Form des einzelnen Werkes und einer auf kunstwissenschaftlichen und somit überindividuellen Formbegriffen basierenden allgemeinen Kulturform annehmen. Cassirer grenzt sich sowohl gegenüber der subjektivistischen Ästhetik Croces und Simmels als auch gegenüber Fiedler ab, dessen Perspektive er als objektivistisch und formalistisch einseitig betrachtet. Im folgenden sollen zwei Facetten dieser Auseinandersetzungen kurz nachgezeichnet werden, um das Profi l der Cassirerschen Vermittlungsleistung erkennbar werden zu lassen. Es handelt sich zum einen um den Konfl ikt »Gefühl« gegen »Sicht«, in dem Cassirer die Position Fiedlers, für den in der Kunst objektive Strukturen der sichtbaren Welt dargestellt werden, mit der Position Croces kontrastiert, für den das Kunstwerk Ausdruck eines individuellen Gemütszustandes des Künstlers ist. Zum anderen verteidigt Cassirer in der Auseinandersetzung mit Simmel über die »Tragödie der Kultur« seinen Formbegriff in der Dynamik von lebendigem Gefühl und objektiviertem Werk. 1. Wie für Kant der Mensch der Gesetzgeber der Natur ist, der die Gegenstände der wissenschaftlichen Betrachtung hervorbringt, entsteht nach Fiedler auch die Sichtbarkeit derselben erst in einem Akt der Spontaneität. Sie ist für ihn ein Objekt des reinen Schauens: Kunst sei ein »Grundmittel der Objektivation, der Erhebung des Bewußtseins zur Stufe der gegenständlichen Anschauung«.178 Cassirer betrachtet es jedoch als eine »Überspitzung« der objektivistischen Begründung der Ästhetik, daß Fiedler die subjektiven Faktoren der ästhetischen Wahrnehmung aus seiner Betrachtungsweise vollständig ausblende.179 Fiedler halte den Ansatz, Kunst auf die Emotionalität zu beziehen, für eine »sentimentale Verirrung« und Verdunklung der reinen Sichtbarkeit.180 Damit verstoße er, so Cassirer, gegen »die Einheit des künstlerischen Erlebnisses« und gegen die fundamentale Einsicht, die auch Fiedler teile, daß weder das Gegenstandsbewußtsein noch das Selbstbewußtsein gegeben sind, sondern sich in den symbolischen Formen, zu denen auch die Kunst gehört, bilden. Die Konstitution der inneren Welt des Gefühls wie der äußeren Welt der Sichtbarkeit können für Cassirer im Bereich der Kunst nicht getrennt werden.

Vgl. R. Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt/Main 1989, S. 7. ECN 1, S. 81. 179 Ob Cassirer Fiedler mit seinem Formalismusvorwurf wirklich gerecht wird, kann hier nicht diskutiert werden. Die Kritik an Fiedler dient hier als Hintergrundfolie zur Kontrastierung Cassirers eigener Position. G. Boehm bspw. bestreitet einen einseitigen Formalismus Fiedlers damit, daß dieser die Anschauung als ein »durch den ganzen handelnden Menschen vollzogenes Sehen« begreife. Vgl. K. Fiedler, Schriften zur Kunst I, S. XIX. 180 ECN 1, S. 82. 177

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Auf der anderen Seite bezieht Cassirer auch gegen Croce Position, der die Kunst im Gegensatz zu Fiedler vollständig im Bereich des Subjektiven ansiedelt. Croce lege »den Akzent fast ausschließlich darauf, daß die Kunst Ausdruck des individuellen Gefühls und des individuellen Gemütszustandes sein müsse, und es gilt ihm gleichviel, welche Wege sie hierbei einschlägt und welcher besonderen Richtung der Darstellung sie folgt. Dadurch wird die ›subjektive‹ Seite vor der ›objektiven‹ nicht nur bevorzugt, sondern die letztere sinkt der ersteren gegenüber fast zu einem gleichgültigen Moment herab«.181 Für Cassirer hingegen wurzelt die Kunst zwar in der Emotionalität und im Ausdrucksbegehren des Künstlers. Sie geht jedoch darüber hinaus, indem sie das Gefühl als Zustand in eine »Sicht« verwandelt. Es sei das Spezifi kum der Kunst, daß das Gefühl zum »Aspekt« werde und nicht bloßes Gefühl bleibe, was Cassirer als Dilettantismus bezeichnet.182 Gegen Fiedler betont er, daß das Gefühlsleben entscheidend an der jeweiligen Perspektive des Künstlers beteiligt sei,183 und defi niert Kunst als ein »dynamisch-korrelatives Ineinander«184 subjektiver und objektiver Faktoren. Kunst sei »Erscheinungsgestaltung durch das Medium der Gefühlsgestaltung (Formenwelt »monadisch« gesehen und Innenwelt zur Form um- und durchgebildet)«185 und schlage »über die Welt des empirischen Daseins und Wirkens, über die ›Wirklichkeit‹ im gewöhnlichen Sinne hinausgreifend, gewissermaßen unmittelbar die Brücke von der ›monadischen‹ Welt, der Welt des reinen Gefühls, zu einem objektiven Reich der Formen«.186 Die Kunst könne, so Cassirer, »sowenig als der bloße Ausdruck des Inneren wie als die Wiedergabe der Gestalten einer äußeren Wirklichkeit bestimmt und begriffen werden, sondern auch in ihr liegt das entscheidende und auszeichnende Moment in der Art, wie durch sie das ›Subjektive‹ und das ›Objektive‹, wie das reine Gefühl und die reine Gestalt ineinander aufgehen und eben in diesem Aufgehen einen neuen Bestand und Inhalt gewinnen.«187

Siehe »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 120. Vgl. ECN 3, S. 38. 183 Ebd. Für die Bedeutung des Gefühls als Triebkraft bei der Entdeckung neuer Perspektiven hat Cassirer in Individuum und Kosmos Beispiele gegeben. Die Umbildung, die bspw. der Naturbegriff in der Renaissance erhält, sei durch eine Veränderung des Naturgefühls motiviert, das Petrarca zum Ausdruck gebracht habe (ECW 14, S. 165). Das Formgefühl Dantes und Petrarcas sei der Formreflexion vorangegangen: »Denn auch hier wirkt das neue Sprachgefühl der Renaissance, das im Kreise des Humanismus erwächst, überall als eine unmittelbare Triebkraft des Denkens.« (ECW 14, S. 184–186) Siehe auch die Bedeutung des Affektes und des Eros als synthetischer Kraft in der Beschreibung Giordano Brunos, »Nachruf auf Aby Warburg«, in: ECW 17, S. 373. 184 ECN 3, S. 256. 185 Ebd., S. 264. 186 Ebd., S. 51. 187 ECW 11, S. 24. 181

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2. Symbolische Formen sind Formen sozialer Organisation und dienen der Verständigung. Dabei besitze der Künstler, so Cassirer, »den stärksten Willen und das stärkste Vermögen zur Mitteilung«.188 Kunst ist jedoch nicht nur ein Mittel der Verständigung mit anderen, sondern dient auch der Selbstverständigung. Sie »entspringt aus den Bemühungen des Individuums sich gegen die zerstörende Kraft des Ganzen zu erhalten«, wie Cassirer Goethe zustimmend zitiert.189 Nach Georg Simmel ist das Verhältnis zwischen dem lebendigen Individuum und der sich in Werken manifestierenden Kultur eine Tragödie: »Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgendeinem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber, mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festzulegen, ja erstarren zu machen«.190 Für Cassirer ist diese Beschreibung des Verhältnisses zwischen einer »schaffenden Seele« und den geschaffenen Produkten einseitig und beruht ebenso wie das bekannte sprachskeptische Diktum Schillers »Spricht die Seele, so spricht, ach! schon die Seele nicht mehr«191 auf einer Substanzialisierung der Seele zu einem aller Tätigkeit vorgängigen Seienden. Die Unmittelbarkeit des Lebens und des Lebensgefühls könne zwar in keiner Form zum Ausdruck kommen, da sie nach Cassirer reine »Bewegtheit und strömende Fülle«192 sei, die Vorstellung des Besitzes oder einer Kenntnis dieser Fülle – über das Empfi nden eines Zustandes hinaus – ist für ihn jedoch eine Illusion: »Gelänge es, alle Mittelbarkeit des sprachlichen Ausdrucks und alle Bedingungen, die uns durch sie auferlegt werden, wahrhaft zu beseitigen, dann würde uns nicht der Reichtum der reinen Intuition, die unsagbare Fülle des Lebens selbst entgegentreten, sondern es würde uns nur wieder die Enge und Dumpf heit des sinnlichen Bewußtseins umfangen.«193 Es ist eine der Grundüberzeugungen der Cassirerschen Kulturphilosophie, daß Kulturprodukte keine Bilder sind, die sich ein Ich als gegebene Realität von einer ihm gegenüberstehenden Welt macht, sondern daß Ich und Welt, Selbstbewußtsein und Dingbewußtsein erst das Ergebnis von kulturellen Prozessen sind. Auch in der Kunst erschreibt, erbaut, ermalt sich das Individuum sein Ich im Medium einer allgemeinen Formensprache: Kunst ist »ein Weg zu uns selbst«.194 Das Selbstbewußtsein ist ein symbolisch vermitteltes, und der Künstler fördert (mit Goethe) in der »Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung«, in: LK, S. 55. ECW 7, S. 196. 190 G. Simmel, Philosophische Kultur. Gesammelte Essays, Leipzig 1911, S. 251 f., zitiert nach LK, S. 105 f. 191 F. Schiller, aus: »Sprache«, in: Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe in 16 Bdn., in Verb. mit R. Fester u. a. hg. v. E. von der Hellen, Stuttgart/Berlin 1904 f., Bd. I, Gedichte I, S. 149., das Cassirer mehrfach kritisch kommentiert (vgl. ECW 11, S. 134 f., ECW 16, S. 232, ECW 18, S. 288 sowie »Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung«, in: LK, S. 53.) 192 »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 109. 193 »Der Begriff der symbolischen Form«, in: ECW 16, S. 103. 194 »Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung«, in: LK, S. 54. 188

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Kunst »sein Individuum zu tage«195. Dabei muß er sich eines gegebenen Materials sowie überkommener Formen bedienen, doch er bearbeitet und transformiert sie zu seinen »Zwecken«. Cassirer leugnet die aus Künstleraussagen bekannte schmerzliche Dynamik zwischen Ausdrucksbegehren und geschaffenem Werk nicht, denn »[e]s bleibt hinter der ursprünglichen Intuition, aus der es stammt, zurück. Die begrenzte Wirklichkeit, in der es dasteht, widerspricht der Fülle der Möglichkeiten, die diese Intuition ideell in sich barg.«196 Er erkennt das Verhältnis als »immanente Tragik jeder geistigen Form«197 an, deren Auflösung jedoch dem Ende der Kultur gleichkäme. Die Simmelsche Betrachtung der beschriebenen Tragik ist insofern einseitig, als sie das Verhältnis zwischen Subjekt und Kulturobjekt als Einbahnstraße sieht und nicht als einen »Lebensprozeß der Kultur«198 , in dem die Werke keine Endpunkte, sondern Durchgangspunkte sind. Cassirers Kulturphilosophie ist jedoch, wie Günter Peters festhält, »keine Theorie des produzierenden, sondern eine des kommunizierenden Lebens«.199 Für Cassirer ist das Werk »im Grunde nichts anderes als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat, die aber auch in dieser Verfestigung ihren Ursprung nicht verleugnet. Der schöpferische Wille und die schöpferische Kraft, aus denen es hervorgegangen ist, lebt und wirkt in ihm fort und führt zu immer neuen Schöpfungen weiter.« 200 Die eigentliche Aufgabe des Werkes besteht nicht darin, Inhalte zu übertragen, sondern Tätigkeiten zu entzünden.201

g) »Ur-teilung« und Funktionen der Kunst Im ersten Kapitel dieses Teils der Arbeit (Kap. II.1) konnte als eine allgemeine Funktion der symbolischen Formen festgehalten werden, daß in ihnen eine ungeordnete Menge von Eindrücken in einen Kosmos aus Vorstellungen transformiert wird: Symbolische Formen dienen dazu, »das dumpfe und ungeschiedene Chaos ECW 7, S. 181. Vgl. auch B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols, S. 66: »Denn obwohl Cassirer daran festhält, den Stil als die Signatur der Individualität zu begreifen, wird die Form der Individualität selbst als symbolische Bewegung erfaßt. Individualität kann kein unteilbares Urphänomen sein, da sie einem Prozeß angehört und in ihm erst konstruiert wird, der in der Formung durch Sprache und (Kultur) die individuellen Züge allererst hervortreibt. Auch die Individualität gehört dem differentiellen symbolischen Prozeß an, der sein leeres »An sich« erst im Prozeß seiner Entfaltung zu erkennen und zu füllen beginnt.« 196 »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 110. 197 »Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung«, in: LK, S. 55. 198 »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 110. 199 G. Peters, »Prometheus und die ›Tragödie der Kultur‹. Goethe – Simmel – Cassirer«, S. 132. 200 »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 127. 201 Ebd., S. 111. 195

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von einfachen Zuständlichkeiten zu lichten, zu unterscheiden, zu organisieren«.202 Sie lassen eine verläßliche intersubjektive Welt entstehen, in der der Mensch sowohl sich als auch den anderen, Gegenstände und Sachverhalte unterscheidet und wiedererkennt, über sie kommuniziert und stabile Räume für soziales Handeln schaffen kann. Cassirer beschreibt den Auf bau dieser gemeinsamen Erfahrungswelt, der sich über den Mythos, die Sprache und schließlich die Wissenschaft vollzieht, als einen Prozeß der Befreiung von der Übermacht unmittelbarer Eindrücke durch Entäußerung und Objektivierung. Das Entstehen symbolischer Formwelten führt er auf »Urteilungen« zurück, auf primär differenzsetzende Motive, die an den Ordnungen der sich geschichtlich entwickelnden Kulturbereiche abgelesen, aber nicht weiter theoretisch begründet werden können. Der Mythos entsteht durch die Unterscheidung von Heiligem und Profanem, die Wissenschaft durch den Satz vom Grund. Auf eine derartige »Urteilung« oder »Sinnfunktion« 203 der Kunst hat Cassirer sich nicht festgelegt, bzw. er hat die zahlreichen Funktionsaspekte, die er thematisiert, nicht hinreichend systematisiert: »[T]he precise nature of art as a symbolic form and its function within culture«, schreibt Steve Lofts zu Recht, sind »never rendered entirely clear by Cassirer«.204 Entsprechend vielfältig sind die Funktionszuschreibungen, die die symbolische Form der Kunst in der Forschungsliteratur erfährt. Wenige Interpreten stellen sich der Frage nach der Sinnfunktion der Kunst, mithin dem Problem, ob Kunst insgesamt die Kriterien, die Cassirer für symbolische Formen entworfen hat, erfüllen kann. Ein kurzer Forschungsüberblick soll dies verdeutlichen. Michaela Hinsch führt das Fehlen eines vierten Bandes der symbolischen Formen zur Kunst ausschließlich auf äußere Faktoren zurück. Es gelingt ihr zwar durch Paraphrase der entsprechenden Teile des Cassirerschen Œuvres die These ihrer Arbeit zu belegen, »daß Kunst bereits seit ›Freiheit und Form‹ ein Thema ist, und dann kontinuierlich bis zum ›Essay on Man‹«,205 sie beschränkt sich jedoch darauf, »jene Motive und Elemente« zu versammeln, die sich möglicherweise auch in seiner Ästhetischen Theorie zusammengefunden hätten« 206 , und bezeichnet ihre Dissertation in wenig schmeichelhaften Worten als »materialreiche Anfüllung« ihrer These – die man meines Erachtens jedoch nicht »an die Stelle seiner ›fehlenden‹ Ästhetischen Theorie setzen kann«.207 Die »Ästhetische Theorie« Cassirers charakterisiert Hinsch als eine »mit Kant, Goethe und Schiller begründete Konstellation von Philosophie, Kunst und Ästhetik« bzw. als »einen dynamisch strukturierenden Zusammenhang von verstehender Hermeneutik des Kunstwerks und ästhetischer Reflexion in Be-

202 203 204 205 206 207

»Der Gegenstand der Kulturwissenschaft«, in: LK, S. 15. ECW 17, S. 419. S. G. Lofts, Ernst Cassirer. A »Repetition« of Modernity, S. 183. M. Hinsch, Die kunstästhetische Perspektive in Ernst Cassirers Kulturphilosophie, S. 275. Ebd., S. 16. Ebd., S. 275.

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griffen«, eine Theorie, »die die Eigenart ästhetischer Erfahrung und eine Theorie der Kunst zusammendenkt, ohne beides ineinander aufgehen zu lassen, und einen offenen Blick für die Tradition und die Moderne gleichermaßen besitzt«.208 Die Frage, ob Kunst eine symbolische Form ist oder sein kann, diskutiert sie nicht. Fabien Capeillères gesteht im Nachwort zu der von ihm herausgegebenen französischsprachigen Textsammlung Écrits sur l’art ein, daß es nicht einfach sei, die besondere Funktion der Kunst zu bestimmen, doch müsse nach der Lektüre der Sammlung evident sein, daß es sich bei der Kunst um eine symbolische Form handele.209 Dennoch ist er einer der wenigen Interpreten, die versuchen, die postulierte symbolische Form der Kunst tatsächlich an den in der Philosophie der symbolischen Formen entwickelten Kriterien zu messen. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie ästhetischer Raum, ästhetische Zeit und ästhetische Gegenstandskonstitutionen beschaffen sind, den nicht unwichtigen Aspekt, ob tatsächlich von ästhetischem Raum, ästhetischer Zeit und Gegenständlichkeit im allgemeinen oder nur je individuell, auf ein Werk bezogen, gesprochen werden kann, spricht Capeillères zwar an, triff t aber keine Entscheidung. Seine weitere Argumentation legt jedoch nahe, daß er von einem durch jedes einzelne Kunstwerk individuell konstituierten ästhetischen Raum ausgeht. Um die Kunst innerhalb der »Phänomenologie« der Symbolisierungen zu verorten, geht Capeillères darüber hinaus auf die Trias Ausdruck, Darstellung und Begriff ein und kommt zu dem Schluß, daß sie ebenso wie die Wissenschaft über die Darstellung hinaus zur reinen Bedeutung tendiere. Das Merkmal, durch das sich die Kunst von anderen symbolischen Formen unterscheide, sei ihr intuitiver Objektivierungsmodus. Wichtig ist hierbei Capeillères Hinweis, daß es sich bei dem Cassirerschen Begriff der »Intuition« im Bereich der Kunst – Capeillères zitiert aus dem Essay on Man – um »certain fundamental structural elements of our sense experience itself« handelt.210 Ich komme darauf im Abschnitt h) zurück. Auch Isabella Woldt hält es für ausgemacht, daß die Kunst eine autonome symbolische Form ist – obwohl sie sich ausschließlich mit der bildenden Kunst beschäftigt.211 Sie begründet dies durch die »charakteristische Verknüpfung zweier Sinndimensionen« 212 , des Ausdrucks und der Darstellung. Hinsichtlich der Modalitäten von Raum, Zeit und spezifi scher Gegenstandsbildung als Konstitutionsbedingungen der symbolischen Form kommt sie im Anschluß an Capeillères zu dem Ergebnis, daß die Raumkonstitutionen der einzelnen Werke je individuell sind, und hält des weiteren fest, »daß jede Kunstart ihre eigene Zeitlichkeit aufweist«.213

208 209 210 211 212 213

Ebd., S. 276. F. Capeillères, »Postface«, in: Écrits sur l’art, S. 220. ECW 23. S. 171. I. Woldt, Das Vorbilden von Wirklichkeit, S. 101. Ebd., S. 101. Ebd., S. 46, Anm. 151.

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Barend van Heusden macht in dem der Kunst gewidmeten Abschnitt des Cassirer-Handbuches Kultur und Symbol auf die Ambivalenzen in der Funktionsbestimmung der Kunst bei Cassirer aufmerksam und benennt, indem der darauf verweist, daß Cassirer Kunst einerseits als eine Interpretation äußerer Wirklichkeit, andererseits als die Symbolisierung inneren Lebens begreift, einen wichtigen Punkt, der das gesuchte Integral der symbolischen Form der Kunst, wie bereits erläutert, ebenfalls bedrohen könnte.214 Er widmet sich in der Folge jedoch vorrangig dem zweiten Aspekt und hält fest: »Was in Kunst objektiviert ist, ist das Leben selbst als eine konkrete Erfahrung« 215, deutet dieses konkrete »Leben« dann jedoch recht abstrakt und ohne Absicherung seiner Interpretation durch einen Textbeleg als das »Leben des Geistes«, das wiederum nichts anderes sei als die »Aktivität der Repräsentation«. Kunst sei demzufolge eine »Meta-Repräsentation«.216 John Michael Krois hält daran fest, daß es sich im Falle der Kunst zwar um reflektierte Kreationen handelt, doch sei es gelebte Erfahrung (expérience vécue) 217, die in ihr gestaltet werde. Er betont die Bedeutung des Gefühls für die Kunst und meint damit nicht – wie in der kantischen Tradition – das Gefühl, das sich bei der Betrachtung des Schönen einstellt, denn Kunst sei nur sekundär ein Gegenstand von Geschmacksurteilen. Vorrangig betrachtet er Kunst als Katharsis, d. h. als eine Darstellung von Ausdruck, in der den Gefühlen das Lastende, Drängende, das sie in der Realität besitzen, genommen werde. »Kunst transformiert die Gefühle: wir fühlen ohne zu leiden.« 218 Ihre Kraft beziehe die Kunst aus ihrer Verwandtschaft mit dem Mythos: Beide seien expressive Symbolismen und haben demgemäß eine emotionale Wirkung.219 Auch in der Interpretation Birgit Reckis steht das Gefühl im Vordergrund. Im Unterschied zu Krois bezieht sie sich jedoch explizit auf das im Geschmacksurteil und d. h. auf das im ästhetischen Gefühl beurteilte Schöne. Das von Cassirer hervorgehobene, sich in der Kunstrezeption einstellende intensivierende Gefühl der Lebendigkeit sei das Charakteristikum der Kunst, das seine Wurzeln in der Goethe-, Schiller- und Kantrezeption Cassirers habe. Auch sie begreift die (symbolische Form der) Kunst vorrangig durch ihre Wirkung: »die lebendige Wirkung

214 H. J. Sandkühler/D. Pätzold (Hg.), Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirer, S. 199. Vgl. hierzu die drei vorangegangenen Abschnitte d)-g). 215 Ebd., S. 208. 216 Ebd., S. 198. 217 J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 8. 218 J. M. Krois, »Zur Darstellung von symbolischen und sozialen Strukturen«, in: Symbol – Struktur – Kultur. Zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozial- und Kulturwissenschaften nach Ernst Cassirer, Claude Lévi-Strauss und Pierre Bordieu. Mitteilungen des Institutes für Wissenschaft und Kunst, 54. Jahrgang 1999, Nr. 2–3, S. 11. 219 Vgl. J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 8.

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des ästhetischen Eindrucks auf die Stimmung und das Affektleben des Betrachters wie des Schaffenden«.220 Steve Lofts wiederum hebt die sinnliche Präsenz des Kunstwerks hervor, denn der ursprüngliche Sinn von »aisthetikos« weise auf Präsenz oder das, was sinnlich sei, hin. In dieser Bestimmung wird jedoch kein Spezifi kum der Kunst als symbolischer Form benannt, denn jede symbolische Form ist durch das Ineinander von Sinnlichkeit und Sinn bestimmt. Wenn das Ästhetische so ausgelegt wird, daß, »whatever the mode of vision by which the subject sees this present before him, that which is seen, the formed sensuous presence before the subject is the product of the aesthetic imagination« 221, ist die Philosophie der symbolischen Formen insgesamt eine ästhetische Theorie, das Spezifi kum der Kunst läßt sich so jedoch nicht fassen. Auch Bruno Bolognini hebt die eigentümliche Präsenz der Kunstwerke hervor und erkennt in dem quasi-ontologischen Status der Welt der Vorstellungen, die die Kunst präsentiert, das Charakteristikum dieser symbolischen Form. Dem Schein wird eine autonome Seinsform zuerkannt, die ihre Bedeutung nicht dadurch erhält, daß sie auf etwas anderes verweist, sondern daß sie scheint: »Risulta così che la caratteristica più rilevante dell’espressione artistica consiste in un processo di distacco dalla realtà immediata, attraverso cui si giunge alla creazione di un mondo d’immagini dotate di una loro autonoma verità.« 222 Der ästhetische Ausdruck werde am treffendsten bezeichnet durch die »pura immanenza delle immagini che essa produce«.223 Ernst Wolfgang Orth sieht das Besondere der Literatur (er spricht nur von Literatur, nicht von Kunst im allgemeinen) in dem »praktischen Orientierungsvollzug«,224 den sie leistet. Es konnte bereits gezeigt werden, daß Cassirer insbesondere in den Aufsätzen zu Idee und Gestalt auf diese Funktion der Literatur hingewiesen hat: In nachmetaphysischen Zeiten, in denen es keine Gewißheit hinsichtlich der Verfaßtheit der Welt im Ganzen mehr geben kann, der Mensch aber dennoch Orientierung benötigt, tritt die Dichtung mit individuellen Weltentwürfen an die Stelle der großen Autoritäten. Die große Varianz der Funktionszuschreibungen spiegelt die Vielschichtigkeit, in der das Phänomen der Kunst von Cassirer diskutiert wird. Immer wieder droht die Mannigfaltigkeit der Aspekte, die er in die ästhetische Diskussion einbringt, das gesuchte Integral der symbolischen Form der Kunst zu sprengen. So fi nden sich in der Forschung Abhandlungen, die ausschließlich die Dichtung, andere, die

B. Recki, »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie«, S. 215. S. G. Lofts, Ernst Cassirer. A »Repetition of Modernity«, S. 192. 222 B. Bolognini, »Il problema estetico in Cassirer«, S. 287. 223 Ebd., S. 288. 224 E. W. Orth, »Geschichte und Literatur als Orientierungsdimensionen in der Philosophie Ernst Cassirers«, S. 112. 220 221

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ausschließlich die bildende Kunst meinen, wenn sie von der symbolischen Form der Kunst sprechen, Texte die vorrangig ein (gefühls)ästhetisches Interesse an Kunst dokumentieren, andere, die eine formale, kunstwissenschaftliche Perspektive einnehmen. Und schließlich legen diejenigen Untersuchungen, die versuchen, die von Cassirer entwickelten Kriterien der spezifi schen Gestaltungsmodalitäten von Raum und Zeit auf die Kunst anzuwenden, den Schluß nahe, daß nicht nur jede Kunstrichtung wie die Architektur, die Malerei, die Musik, Dichtung etc. eine bestimmte Raum-Zeit-Bildung darstellt, sondern jedes einzelne Kunstwerk individuell verfährt. Bevor nun in den folgenden Abschnitten die Frage nach dem ästhetischen Raum, der ästhetischen Zeit, der Bedeutung der Zahl für die künstlerische Gestaltung sowie nach der Subjektposition in der Kunst gestellt und in einem weiteren der Begriff der Anschauung oder »Intuition« als zentraler Gestaltungsmodus von Kunst thematisiert wird, soll versucht werden, eine spezifi sche Funktion bzw. »Urteilung« der Kunst zu (re)konstruieren. Als gemeinsames Kennzeichen oder Funktion der symbolischen Formen betrachtet Cassirer die durch sie erreichte »Wendung zur Gegenständlichkeit«,225 wobei unter »Gegenständlichkeit« ganz allgemein etwas, das ich mir als Vorstellung gegenüberstellen kann, zu verstehen ist. Daß Gegenständlichkeit nicht notwendig eine dingbezogene Anschauung, sondern auch Sachverhalte oder Verhältnisse impliziert, ist an der Objektivierungsform der Wissenschaft deutlich geworden. Prägnant wird die Bedeutung des Begriff s in der Opposition zum Begriff der »Zuständlichkeit«, der ein unmittelbares Betroffensein zum Ausdruck bringt. Auch die Kunst ist für Cassirer eine solche Objektivierungsform. Wiederholt hält er fest, daß die Kunst »als Grundmittel der Objektivation, der Erhebung des Bewußtseins zur Stufe der gegenständlichen Anschauung« 226 zu verstehen ist. Sie stellt einen »neuen und entscheidenden Schritt im allgemeinen Prozeß der Objektivierung« dar.227 Doch worin besteht er? In einer fragmentarischen Notiz, die sich in seinem Nachlaß fi ndet, unterscheidet Cassirer die Kunst von allen anderen symbolischen Formen, die er in seinem Hauptwerk ausführlich behandelt hat: »Sprache, Mythos, Wissensch[aft] im Aufbau des theoret[ischen] Weltbildes – Wir blicken zurück – a) Einheit von Mythos, Sprache, Wissenschaft als Momente der Erkenntnis – sie bauen eine Welt von »Gegenständen« auf – sie gehen auf die ›Wirklichkeit‹ – die Kunst gehört dieser Linie nicht an – sie steht für sich« 228 225 226 227 228

Vgl. ECN 1, S. 60. ECN 1, S. 81. Vgl. »Language and Art II«, in: SMC, S. 186. ECN 1, S. 246.

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Es ist nicht anzunehmen, daß Cassirer der Kunst den Beitrag, den sie zum Erkenntnisauf bau leistet, absprechen will, denn als besondere Leistung Konrad Fiedlers hat Cassirer hervorgehoben, daß dieser seine Kunstwissenschaft auf einem erkenntniskritischen Fundament auf baue, und auch die Goethestudien ließen erkennen, wie sehr die Philosophie der symbolischen Formen durch die Kritik Goethes an einem einseitig mathematischen Begriff der Naturwissenschaft und der sich daraus ableitenden Pluralisierung von Wissensformen motiviert ist. Ich möchte jedoch im folgenden die Thesen vertreten, daß die Kunst aus der Einheit von Mythos, Sprache und Wissenschaft herausf ällt, weil sie 1. mehr als eine theoretische Funktion erfüllt, da sie Zeugnischarakter besitzt, und somit 2. nicht primär Gegenstände auf baut, sondern Formen und Sichtweisen zeigt. Wollte man die Kunst auf ihre theoretische Bedeutung beschränken, würde man ein wesentliches Charakteristikum übersehen: ihre Lebensbedeutung. Den Auf bau des »theoretischen Weltbildes« beschreibt Cassirer als einen Prozeß der Entäußerung des unmittelbaren Eindrucks durch Distanzierung, Verfestigung und Reflexion, der als Gewinn: als Befreiung begriffen wird. Mit diesem Freiheitsgewinn gehen jedoch auch Verluste einher. Durch die Entfernung von der unmittelbaren Lebenswirklichkeit und die Fixierung intersubjektiver Ordnungen geht die konkrete, individuelle Erfahrung des Lebens verloren. »If this immediate approach to reality is to be preserved and to be regained, it needs a new activity and a new effort.« 229 Die Kunst schlägt diese Gegenrichtung ein und strebt statt Verfestigung, Stabilisierung und Fixierung von Begriffen Leichtigkeit und Beweglichkeit an.230 Ihr Ziel ist es »das Geschaffene ständig umzuschaffen, ›[d]amit sich’s nicht zum Starren waff ne‹« 231, eine Welt ästhetischer Formen oder Gestalten zu bilden, in der Gegenstände nicht auf-, sondern, wie im folgenden gezeigt werden soll, zunächst abgebaut werden. Legt man auf der Suche nach ihrer Funktion das Augenmerk auf das Werden von Sinn in den symbolischen Formen, läßt sich eine bislang unentdeckt gebliebene Nähe zu der französischen Semiotikerin Julia Kristeva herstellen, die in Die

»Language and Art I«, in: SMC, S. 154. Der von Cassirer konstatierte Verlust an konkreter Erfahrung, der im Zuge des Auf baus des »theoretischen Weltbildes« entsteht, und die Funktionsbestimmung der Kunst, die konkrete Erfahrung des Lebens zurückzubringen (SMC, S. 154), erinnert stark an den Russischen Formalismus, der die Kunst als Gegenkraft gegen die Ökonomisierung des Denkens und als Mittel zu »Verstärkung des Empfi ndens einer Sache« begreift. Durch die Verformelung der Welt »kommt das Leben abhanden und verwandelt sich in nichts. Die Automatisierung frißt die Dinge, die Kleidung, die Möbel, die Frau und den Schrecken des Krieges« (Viktor Sklovskij, Kunst als Verfahren, in: J. Striedter (Hg.), Russischer Formalismus, München 31981, S. 15). Cassirer dürfte die Texte der Russischen Formalisten jedoch nicht gekannt haben. Kunst als Verfahren wurde auf 1916 auf russisch erstveröffentlicht, die Schule wurde erst ab der Mitte der fünfziger Jahre im Westen bekannter. 230 Vgl. ECW 15, S. 314. 231 Ebd., S. 375. Cassirer zitiert Goethe aus »Eins und Alles«, Werke, Weimarer Ausgabe, 1. Abt., Bd. III, S. 81. 229

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Revolution der poetischen Sprache ebenfalls dem Prozeß der Sinngebung auf der Spur ist und der »Urteilung« der Poesie auf den Grund geht. Obwohl Kristeva sich im Unterschied zu Cassirer, der diesen Weg als Philosoph nicht gehen kann, mit psychoanalytischen Mitteln in die Werkstatt des Sinns und damit auf den Weg zum »Unbewußten« begibt, teilt sie einige wesentliche Grundannahmen mit ihm, allen voran die wichtige methodische Prämisse, daß die Ebene des Symbolischen nicht hintergangen werden kann. Der Versuch, symbolische Formen bis zu ihren Urteilungen zurückzuverfolgen, stößt stets an eine Grenze, denn das Vorsymbolische (mit Kristeva: das Semiotische) zeigt sich nicht: »Demnach handelt es sich bei dem der Symbolisierung ›vorgängigen‹ Semiotischen um eine theoretische Annahme, deren Notwendigkeit sich aus den Erfordernissen der Beschreibung erklärt; praktisch gesehen ist es dem Symbolischen inhärent, dessen Einschnitt es fordert, um sich sodann in jene komplexe Artikulation zu begeben, wie sie gewisse Praktiken – Musik oder Poesie – fordern.« 232 Das »Semiotische« begreift sie als Bewegungsenergie, als »kinetische Funktionalität« vor der Setzung eines Zeichens.233 Auch Cassirer stellt die symbolische Formung in den Kontext des durch von Humboldt geprägten Zusammenhangs von »ergon« und »energeia«. Den Begriff der Energie verwendet er prominent in der Defi nition der symbolischen Form: »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«234 Beide – Cassirer und Kristeva – gehen davon aus, daß die symbolische Formung nicht das Produkt eines vorgängig existierenden, cartesianischen Subjekts ist, sondern daß das Ich (und seine Welt) sich erst in symbolischen Formungen durch Auseinandersetzung bilden: Beide postulieren einen Prozeß der Sinngebung, »mit dem und durch den das Subjekt die Identifizierung seiner selbst und seiner Objekte vollzieht«235, und beide verwerfen die Bestimmung der Kunst als ein reines Ausdrucksphänomen, d. h. die Annahme, »daß eine Praxis ohne das Thetische möglich wäre« und daß »ein Text, um sich als solcher konstituieren zu können, nicht eine Endlichkeit erforderte, eine Strukturierung, eine Art Totalisierung der semiotischen Motilität«.236 Die »Urteilung« der poetischen Sprache identifi ziert Kristeva als einen Einbruch in das Thetische, d. h. in die symbolische Ordnung, durch den die Gegenstands-

J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, aus dem Französischen von R. Werner, Frankfurt/Main 1978, S. 77. Vgl. hierzu insbesondere Cassirers Auseinandersetzung mit MarcWogau, oben, S. 179 f., Anm. 256. 233 J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 38. 234 ECW 16, S. 79. Zum Begriff der Energie aus naturwissenschaftlich geprägter Sicht vgl. J.-P. Regelmann, »Energie bei Cassirer – Wissenschaftshistorische, wissenschaftstheoretische und philosophische Aspekte«, in: Philosophia naturalis 20, 1983, S. 160–172. 235 J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 53. 236 Ebd., S. 60. 232

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und Ichsetzung aufgeschoben, wenn auch nicht vollständig ausgesetzt wird: »Mimesis und poetische Sprache leugnen nicht das Thetische: sie streifen seine Wahrheit (Bedeutung, Denotation), um sodann über diesen Streifzug die ›Wahrheit‹ zu sagen.« 237 Auf die Terminologie Cassirers übertragen hieße dies, daß die Funktion der symbolischen Form der Kunst darin bestünde, bestehende Formen durch Individualisierung zu revolutionieren. Für Cassirer ist die Kunst eine Objektivierung der »Dynamik des Gefühls« 238 bzw. des menschlichen Lebens.239 Während das »theoretische Weltbild« die äußere Wirklichkeit von »Gegenständen« auf baut, bezieht sich die Kunst auf »die innere Wirklichkeit des Lebensprozesses«.240 »Life, reality, being, existence«, schreibt er in dem nachgelassenen Vortragsmanuskript »Language and Art II«, »are nothing but different terms referring to one and the same fundamental fact. These terms do not describe a fi xed, rigid, substantial thing. They are to be understood as names of a process.« 241 Bedingt durch ihre Aufgabe, Zeugnis über einen inneren Prozeß abzulegen, kann sie keinen Anspruch auf theoretische Verbindlichkeit und Allgemeinheit erheben, sondern stellt eine durch persönliche Erfahrung gesättigte individuelle Stellungnahme dar. Zwar ist auch die Kunst als symbolischer Ausdruck notwendig eine Objektivierung in einem anderen Medium, doch diese Objektivierung ist nur eine vorläufige und nie abzuschließende. Sie »zerrüttet« – mit Julia Kristeva – »Bedeutung« – und dient ihr dennoch.242 Die Kunst stellt die symbolische Ordnung in Frage und schreibt sich trotzdem, kann sich nur ebenfalls in sie einschreiben. Die Trennung von Subjekt und Objekt, die als Ergebnis aus der symbolischen Formung hervorgeht, ist in der Kunst keine vollständige, denn in ihr geht es zwar um die Objektivierung von Zuständen, jedoch auch darum, sie als Zustände eines Individuums fühlbar zu machen. Die Darstellung (oder mit Kristeva die »Thesis«) der Kunst ist als Darstellung von Ausdruck ein »Sich-selbstDarstellen«.

Ebd., S. 70. Kristeva spricht nicht von »Urteilung«, sondern von »Revolution« der poetischen Sprache. Diese Terminologie wirft Licht auf die Besonderheit der Dichtung im Vergleich bspw. mit der Malerei. Denn in der Dichtung wird eine Teilung am bereits gebildeten Sprachkörper vorgenommen, die somit einer Revolution gleichkommt. Die Malerei hingegen leistet zwar auch eine Umwälzung von Sehgewohnheiten, stellt ihre Formen jedoch materialiter stets neu her. In bezug auf das »ready-made«, Collagen und allgemein alle Kunstobjekte, die durch Verfremdung, neuartige Konstellation oder Installation entstehen, könnte man jedoch von »Revolutionen« im Sinne Kristevas sprechen. Christel Fricke hat in ihrem Vortrag auf dem Berliner Kongreß der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie vom 26.-30.9.2005 das Material der Alltagssprache, an dem die Dichtung ansetzt, als »ready-made« bezeichnet. 238 ECN 3, S. 38. 239 »Language and Art II«, in: SMC, S. 193. 240 ECW 18, S. 387. 241 »Language and Art II«, in: SMC, S. 194. 242 J. Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 76 237

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Es ist diese individuelle Konkretheit der Kunst, durch die sie sich von allen theoretischen Objektivierungen unterscheidet. Kunst ist der Ausdruck eines »nur Erlebbaren«, wie Paul Hofmann 1927 nach Cassirers Vortrag über »Das Symbolproblem im System der Philosophie« kommentiert: »Geistig-sinnhaft sind diejenigen Momente unseres Erlebt-Gegebenen, die sich selbst nicht durchaus und restlos als ›Gegenstände‹ fassen lassen. Sie sind von der meinenden Seele nicht völlig scharf als etwas ihr gegenüber Für-sich-Seiendes zu trennen. Sinn ist niemals in letztem Sinne ›Ereignis‹: Wir ›er-augen‹ ihn nicht, sondern wir haben ihn nur, indem er in uns oder wir in ihm ›leben‹ – wir ›erleben‹ den Sinn, und im Erleben ›verstehen‹ wir ihn. Dieses nur erlebbare geistig Sinnhafte können wir nun mit Goethe als etwas ›Verrinnendes‹ bezeichnen: Es ist grundsätzlich unwiederholbar, einzig, einmalig, ja eigentlich überhaupt unzählbar. Ebendarum wird dieses nicht eigentlich Gegenständliche an feste, wiederholbare Gegenstände irgendwie geknüpft. Diese Gegenstände heißen Symbole.« 243 Cassirer hat diesen Aspekt 1930 in seinem Aufsatz »Form und Technik« als den Zeugnis-Charakter der Kunst aufgenommen: »Aber nachdem einmal diese Trennung sich vollzogen hat, waltet zwischen dem Schöpfer und seinem Werk in der rein technischen Sphäre ein ganz anderes Verhältnis ob als in der künstlerischen. Das vollendete, in die Wirklichkeit hinausgestellte Werk gehört fortan lediglich dieser Wirklichkeit selbst an. Es steht in einer reinen Sachwelt, deren Gesetzen es gehorcht und mit deren Maßen es gemessen werden will; es muß fortan für sich selbst sprechen, und es spricht nur noch von sich selbst, nicht von dem Schöpfer, dem es ursprünglich angehört. Von dem Künstler wird diese Art der Ablösung nicht gefordert – und für ihn ist sie nicht möglich. Auch dort, wo er völlig in seinem Werk aufgeht, geht er in ihm nicht unter. Das Werk bleibt, indem es rein auf sich steht, immer zugleich das Zeugnis einer individuellen Lebensform, eines individuellen Daseins und Soseins.« 244 Die Trennung bzw. Objektivierung ist dadurch, daß der Künstler ein Werk für abschlossen erklärt bzw. es zur Rezeption freigibt, vollzogen. Dennoch ist der Prozeß der Subjekt-Objekt-Formation weiterhin im Fluß, denn weder geht es auf der »Objektseite« um gesicherte Erkenntnis von Gegenständen, noch ist das Subjekt, das sich in der »Auseinandersetzung« der Kunst formiert, geschlossen und stabil. Während die Linie, die Cassirer vom Mythos über die Sprache zur Wissenschaft zieht, die Subjekt/Objekt-Setzung, d. h. die Trennung von Ich und Du sowie Ich und Welt befördert, um eine Verbindung auf intersubjektiver Ebene zu ermöglichen, versucht die Kunst diese Trennung in ihren Symbolisierungen zugleich zu unterlaufen. Es geht in der Kunst nicht um einen größten gemeinsamen Nenner von Aspekten, der Begriffen ein größtmögliches Anwendungsspektrum sichert, sondern um eine individuelle, persönliche Sichtweise. »Myth and art are living in a personal world, not in a physical 243 244

ECW 17, S. 272. Ebd., S. 179.

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world«.245 Die Richtung, die die Kunst einschlägt, läßt sich im Gegensatz zum theoretischen Weltauf bau, der eine »Entäußerung« darstellt, als ein Weg der »Erinnerung« begreifen, auf dem bereits Gewordenes wieder angeeignet und aufs neue gestaltbar wird. Vor diesem Hintergrund wird noch einmal deutlich, was es mit dem Akzent, den Cassirer in der Transformation des Kantischen Diktums von den »Erscheinungen«, die »nach synthetischer Einheit buchstabier[t]« werden, »um sie als Erfahrung lesen zu können«, zu »Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen«246, in bezug auf die Kunst auf sich hat. Um »Leben« als innere Wirklichkeit »sichtbar« zu machen, zersetzt der Künstler den eingeschliffenen Gebrauch der Dinge und die eingefahrenen Wahrnehmungen durch seine »Sicht«: Die Urteilung der Kunst ist durch personale Zäsuren bedingt. Die spezifi sche Objektivierungsform der Kunst kann nun auf den Punkt gebracht werden: Sie ist durch einen personalen Gegenstandsaufbau gekennzeichnet.247 Die Heautonomie des einzelnen Kunstwerks, die das Integral der symbolischen Form der Kunst zu bedrohen schien, wird zu ihrer konstitutiven Bedingung. Die allgemeine Urteilung der Kunst, durch die jenseits von alltagspraktischen Zusammenhängen »Language and Art II«, in: SMC, S. 188. »Naturbegriffe und Kulturbegriffe«, in: LK, S. 86. 247 Ich verwende den Begriff des »personalen Gegenstandsauf baus« in Anlehnung an Franz Koppe, der den spezifi schen Symbolisierungsmodus der Kunst als »personalen Dingbezug« begreift. Statt »Ding« verwende ich, um substanzialistische Assoziationen zu vermeiden und um innerhalb der Terminologie Cassirers zu bleiben, »Gegenstand«, statt »Bezug« verwende ich »Auf bau«, um deutlicher zu machen, daß es um die Schaff ung von Symbolwelten, nicht um den Bezug auf präexistierende Gegenstände geht. Die Diskussion darum, daß es in der Kunst immer wieder Versuche gegeben hat und gibt – sei es durch den Versuch einer écriture automatique, sei es durch die »ready-mades« oder das Experimentierfeld der Computerkunst – den personalen Gegenstandsbezug zu eliminieren, hat Koppe in exemplarischer Weise in seinem Aufsatz »Selbstwert und Geltungsanspruch der Kunst«, in: Wozu Kunst. Die Frage nach ihrer Funktion, hg. von B. Kleimann und R. Schmücker, Darmstadt 2001, geführt. Da sie hier nicht wieder aufgerollt werden kann, seien zwei seiner Hauptargumente kurz zusammengefaßt: 1. Kunst kann nie ganz dem Zufall überlassen werden: Es gibt stets ein Vorher und Nachher des Zufalls, denn es kommt sowohl bei der Computerkunst als auch bei den ready-mades »auf die eben nicht personenneutrale Auswahl und Kontextverschiebung« an. »Auch bei der aleatorischen Kunst muss es stets ein nicht zuf älliges Komplement des Zufalls geben, das zumindest das Zufallskonzept und den Zufallstransfer in den Kunstkontext bewerkstelligt.« (S. 122 f.) Gemeint ist in diesem Fall die Programmierung, Selektion und Konstellation der durch Zufallsgeneratoren erzeugten Ergebnisse. 2. hebt er die kunstspezifi sche Einheit von Dargestelltem und Darstellungsweise hervor und bezeichnet »die Individualität der Synonymlosigkeit als wesentlich für den Kunstcharakter überhaupt« (S. 133). Seine Argumente laufen auf den Schluß heraus – den Cassirer ohne Abstriche teilen würde –, »dass die Kunst eine gleichsam ebenbürtige Schöpfung des personalen Menschen ist, mehr noch: seine einzig ebenbürtige Schöpfung« (S. 133). Cassirer hatte freilich nicht die avangardistische Kunst vor Augen, sondern vorrangig die Dichtung Goethes. 245

246

234

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eine Welt des Scheins aufgebaut wird, in der es nicht auf Funktionalität, sondern Erlebnisintensität ankommt, entsteht durch den personalen Gegenstandsauf bau des einzelnen Künstlers. In den Aufsätzen zu Idee und Gestalt zeichnet Cassirer die Krisen im Leben von Kleist, Schiller und Hölderlin nach und macht den Stil ihrer jeweiligen Dichtungen als Absetzungsbewegung gegen die Vormachtstellung des theoretischen Verstandesgebrauchs, der jedoch keine Orientierung zu geben vermag, verständlich. Es konnte gezeigt werden, daß das »charakteristische Lebensgefühl« 248 bzw. die »seelische Stellung zur Welt« 249 des einzelnen Dichters die in der Dichtung vermittelte Vorstellung von der Welt motiviert.250 »In und mit dem Kunstwerk entsteht für uns jeweils eine neue ›Wirklichkeit‹« 251; der »innere universelle Zusammenhang der Kunst« erwächst aus der »Reihe des Einmaligen, Einzigartigen« – bei dem wir jedoch aufgrund seiner Individualität auf eine »Grenze des Begreifens« stoßen.252 Man könnte nun mit van Heusden den Einwand erheben, daß die symbolische Form der Kunst in Formen zerfalle, die – wie die Dichtung – »inneres Leben«, und solche, die – wie die Malerei – äußere Wirklichkeit symbolisieren. Cassirer selbst legt diese Trennung nahe, indem er zwischen den »zahllosen Nuancen im Aussehen der Dinge«, die in der Malerei eingefangen werden können, und der Dichtung, die unsere innere Verfassung offenlegt 253, unterscheidet; Maler zeigen uns »die Formen äußerer Dinge«, »die großen Dramatiker zeigen uns die Formen unserer inneren Realitäten« 254. Es läßt sich jedoch zeigen, daß auch die bildende Kunst als eine Form des Abbaus alltäglicher Gegenständlichkeit durch die Setzung einer personalen ästhetischen Sichtweise betrachtet werden kann und insofern – trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen Künsten – von einer symbolischen Form der Kunst ausgegangen werden kann. Cassirer insistiert darauf, daß die Malerei nicht Gegenstände abbildet, sondern Formen sichtbar macht. Maler sind für ihn »die großen Lehrer in der Welt des Sichtbaren«: »Wir können einem Gegenstand in unserer Alltagswahrnehmung tausendmal begegnen, ohne jemals seine Form gesehen zu haben, und geraten in Verlegenheit, wenn wir nicht seine physikalischen Eigenschaften oder Wirkungen, sondern seine visuelle Gestalt und seine Struktur beschreiben sollen. Die Kunst überbrückt diese Kluft. Hier haben wir es mit reinen Formen zu tun und nicht mit der Analyse oder Überprüfung von Sinnesobjekten oder der Untersuchung ihrer Wirkungen.« 255 In der Wahrnehmung, die die Kunst fordert oder initiiert, steht die Identifi kation von Gegenständen 248 249 250 251 252 253 254 255

ECW 9, S. 390. Ebd., S. 338. Vgl. oben Teil I, Kap. 4, Abschnitt d). ECN 3, S. 247. Ebd., S. 253. VM, S. 259. Ebd., S. 227. Ebd., S. 222.

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nicht im Vordergrund. Sie bricht die Ökonomie, in der »die Formen der Dinge« zu »Formeln« 256 werden, auf, indem sie die »unerschöpfl iche Vielfalt von Aspekten an den Dingen offenbart« 257, und macht »augenblickliche Physiognomien« und Atmosphären sichtbar. Eva Schürmann hat die Differenz zwischen einem Gegenstände identifi zierenden Sehen und einem Sehen von Formen in einer Untersuchung über Wahrnehmungsstrukturen im Ausgang von Cezanne treffend als diejenige zwischen »semantischem« und »syntaktischem« Sehen bezeichnet.258 Indem das Kunstwerk »syntaktisches Sehen« fordert, lehrt es, Dinge anders wahrzunehmen, als es eine »intersubjektiv autorisierte Wahrnehmungsgewohnheit« vorschreibt. Die individuelle Wahrnehmung, die im Kunstschaffen objektiviert zum Ausdruck kommt, verschließt sich nicht in der Gegenständlichkeit des Werkes, sondern wird als Wahrnehmungsangebot dem Rezeptionsprozeß übergeben und wartet auf Antwort.259 Gegenüber den »theoretischen« Formen des symbolischen Prozesses, denen aufgrund ihrer intersubjektiven Verbindlichkeit und Allgemeinheit eine Tendenz zur Erstarrung und Verformelung innewohnt, hebt Cassirer an der Kunst den kommunikativen Handlungsaspekt hervor.260 Als die wichtigste Funktion des Kunstwerkes benennt er, ich habe die Stelle bereits zitiert, die »Brücke«, die das Werk von einem zum anderen »Ich-Pol« bildet. Kunst hat appellativen Charakter; sie bietet an, mutet zu, bittet um Nachvollzug, kann ihn jedoch nicht fordern. Auch in diesem Punkt unterscheidet sich der Beitrag, den die Kunst zum »Weben des Netzes menschlicher Erfahrung« leistet, vom Mythos, der Sprache und der Wissenschaft. Es geht in ihr nicht um die Extensivierung eines intersubjektiven Bedeutungszusammenhangs, sondern um die Intensivierung individueller Erfahrung, die jedoch aufgrund der Tradierung von Formen und anderer bspw. intertextueller Verknüpfungen, ein Kulturgebiet bildet. Insofern als die Kunst und die Geschichte aber Formen sind, in denen die Subjekte und Objekte ständig aufs neue in Frage gestellt werden, bilden sie die historische Tiefenstruktur der Kultur aus. Durch die Kunst und die Geschichte tritt der Mensch ins Verhältnis zu sich selbst. Ein weiterer Aspekt der spezifi schen »Gegenständlichkeit« und Funktion der Kunst, der zu den bisher thematisierten Spezifi ka des Abbaus intersubjektiv gesiEbd. Ebd., S. 223. 258 Eva Schürmann, »Das Unsichtbare im Sichtbaren. Über den Zusammenhang von Einsicht und Blindheit«, in: G. Gamm, E. Schürmann (Hg.): Das unendliche Kunstwerk. Von der Bestimmtheit des Unbestimmten in der ästhetischen Erfahrung, Berlin 2006. Martin Seel, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt/Main 2003, S. 52 u. 56 f. differenziert zwischen einem »propositionalen« oder »feststellenden Sehen« und einem Sehen von »phänomenalen Individualitäten«. 259 Siehe ECW 23, S. 29, und oben, S. 192. 260 Den Begriff des »kommunikativen Handlungsaspekts« verwende ich in Anlehnung an Franz Koppe, Grundbegriff der Ästhetik, erweiterte Neuausgabe Paderborn 2004. Die Betrachtung von Literatur als »kommunikative Handlung« steht im Zentrum seines Kunstbegriff s. 256 257

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cherter äußerer Gegenstände durch den Auf bau einer personalen, durch Zeugnischarakter geprägten Gegenständlichkeit und der daraus resultierenden Verlagerung der Funktion des theoretischen Weltauf baus zu der Funktion einer kommunikativen Handlung hinzutritt, ist ihre ästhetische Wirkung. Geht man wie Cassirer davon aus, daß in verschiedenen Kulturgebieten verschiedengestaltige Erfahrungen objektiviert werden bzw. fragt man »nach den seelischen Prozessen, aus denen sie hervorgegangen sind und deren objektiven Niederschlag sie bilden« 261, darf eine kunstphilosophische Untersuchung sich nicht auf die objektive Gegenständlichkeit des Kunstwerks beschränken. Neben die Analyse von Sichtweisen, als deren Objektivierung das Kunstwerk betrachtet werden kann, muß die Untersuchung der ästhetischen Erfahrung als unmittelbare Wirkung von Kunstwerken auf der Subjektseite treten. Während es bislang schwerpunktmäßig um eine objektivistische Betrachtung der Kunst ging, geht es nun – auf den Vorüberlegungen aus dem Abschnitt »Schönheit als symbolische Form« auf bauend – um den subjektivistischen Aspekt der Cassirerschen Ästhetik. Cassirers Symbolphilosophie, die symbolische Formen als Produkte der Auseinandersetzung von Ich und Welt begreift und die Kunst als eine Form bestimmt, die Auseinandersetzung und Erinnerung ineins setzt, d. h. Verbindungen sowie Trennungsverluste fühlbar macht, kann in der Untersuchung der Kunst als Form nicht von ihrer Wirkung auf das Gefühl abgesehen werden. Während die Kunstwissenschaft, mit der Cassirer sich am Beispiel Konrad Fiedlers auseinandersetzt, formale Aspekte von Kunstgegenständen untersucht und diese strikt von einer Betrachtung des ästhetischen Gefühls trennen will, widmet sich die Ästhetik kantischer Prägung der Innenperspektive des Wahrnehmungssubjekts. Bruno Bolognini hat die mangelnde Trennung beider Perspektiven in der Ästhetik und Kunstphilosophie als Grund für die fragmentarische Ausprägung der Cassirerschen Kunstphilosophie in Erwägung gezogen. Cassirer gibt jedoch Hinweise, daß er beide Perspektiven nicht trennen will, da sie nur gemeinsam ein angemessenes Bild der Gegenständlichkeit der Kunst geben können. Von Fiedler setzt er sich gerade in der Hinsicht ab, daß bei diesem das Gefühl »als ›subjektiv‹ von der eigentlichen Kunstbetrachtung ausgeschaltet wird«. Kunst sei hingegen »ein dynamisch-korrelatives Ineinander der beiden Momente« 262 und »immer Erscheinungs-Gestaltung durch das Medium der Gefühlsgestaltung (Formenwelt ›monadisch‹ gesehen und Innenwelt zur Form um- und durchgebildet)«.263 In diesem Zusammenhang weist Cassirer auf Gertrud Kuznitzky hin, die dieses Verhältnis erläutert. Kuznitzky untersucht in ihrer 1932 veröffentlichten Studie Die Seinssymbolik des Schönen und die Kunst »das ästhetische Fühlen als Urteil und die Kunst als 261 262 263

Siehe »Formproblem und Kausalproblem«, in: LK, S. 97 f. ECN 3, S. 256. Ebd., S. 264.

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Darstellung ästhetischer Wahrheit«.264 Sie geht wie Kant vom ästhetischen Gefühl aus, führt die Kantische Betrachtung, in der es nur eine »indirekte Beziehung zur Wahrheitserfassung« hat, jedoch in explizitem Bezug auf Cassirer weiter. Für sie ist das Ästhetische außerhalb des Fühlens sinnlos, und dennoch ist das Reich des Ästhetischen »nicht bloß ein Reich des Erlebens, es ist eine Mannigfaltigkeit von anschaulich Gestaltetem«.265 Wenn man das im Kunstwerk anschaulich zur Darstellung Gebrachte verstehen will, muß man es als eine »Ordnung in der Erscheinung« 266 begreifen, die betrachtend vollzogen und zugleich als Stimmungsgehalt gefühlt wird. Cassirer bestimmt verschiedene Subjekt/Objektverhältnisse als Ergebnisse symbolischer Formung und die Kunst als ein spezifi sches Verhältnis von Subjekt und Objekt, das die Trennung zugleich vollzieht und aufzuheben trachtet, denn dasjenige Sein, läßt sich mit Kuznitzky nun ergänzen, das in der ästhetischen Betrachtung erfahren wird, ist ein »Sein mit der Doppelbestimmtheit Natursein und Unser Sein«.267 Auch Kuznitzky hält es für unmöglich, »ästhetische Gestalten darauf hin zu unterscheiden, ob sie ›ichbezogen‹ oder ›naturbezogen‹ sind«.268 Fühlen – und Kunst ist für Cassirer Gefühlsgestaltung – hat per se diesen Doppelbezug. Indem wir den Ausdruck oder die Stimmung eines ästhetischen Gegenstands fühlen, fühlen wir uns selbst und einen Bezug zum Gegenstand. Das Besondere an Gefühlsinhalten ist für Kuznitzky das unmittelbare Wissen um ihre »Gegenstände«, denn sie richten sich zugleich auf die besondere Präsenz von »Gegenständen«, und sie sind Zustände: »Sofern ein Gegenstand Ausdruck hat, ist er unser Sein.« 269 Indem wir ästhetischen Ausdruck wahrnehmend fühlen, sind wir uns selbst »als erlebend aktuell gegenwärtig«.270 Wir erleben »eine individuelle Abwandlung von Gefühlsinhalten, die mit uns da sind. Wir entdecken […] den ästhetischen Reichtum unseres Gegenwartswissens. Das Anmutige und das Schwere, das Zarte und das Lebendige sind Abwandlungen unseres Zumuteseins, Wandlungen der Gestaltung, die unsere Gegenwart als erlebte Gegenwart des Gefühls anzunehmen vermag.« 271 Die Kunst ruft uns, indem sie Ausdrucksqualitäten darstellt, die eigene Sinnlichkeit in Erinnerung, den sinnlichen Bezug zu den Dingen und das unmittelbare Erlebnis sinnlicher Wahrnehmung, indem sie nicht auf Abkürzung und Ökonomisierung, sondern auf Intensivierung des Erlebnisses aus ist. Kunst weckt den Sinn für das Gegenständige, für die nur fühlbare, erlebbare Präsenz der Dinge, sie ist »jederzeit

264 265 266 267 268 269 270 271

G. Kuznitzky, Die Seinssymbolik des Schönen und die Kunst, Berlin 1932, S. VI. Ebd., S. VIII. Ebd., S. VI. Ebd., S. 13. Ebd., S. 21. Ebd., S. 35. Ebd., S. 20. Ebd., S. 35.

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Aufdeckung einer Welt, die wir als Welt des menschlichen Fühlens anerkennen müssen«.272 In der ästhetischen Wahrnehmung konstatieren wir nicht vorrangig, was etwas ist, das uns begegnet, sondern daß und wie es uns in seiner augenblicklichen phänomenalen Präsenz begegnet – wie wir es erfahren. Schönheit ist nach Kuznitzky »die subjektive Urteilsbestimmtheit im Gegensatz zur objektivierenden der Erfahrung« 273. Wie Cassirer sieht Kuznitzky die Funktion der Kunst darin, die Erfahrung des Lebens zurückzubringen oder zu intensivieren, und so ist der Sinn der Schönheit derjenige, »uns gegenwärtig werden zu lassen, was Gegenwart des Seins bedeuten kann«.274 Indem wir in der ästhetischen Wahrnehmung zugleich uns selbst wahrnehmen und uns durch die Stimmung des Gegenstandes bestimmen lassen, entdecken wir nicht nur eine Vielfältigkeit der sinnlichen Aspekte der Dinge, sondern auch die Vielf ältigkeit unserer Emotionen und Einstellungen. Kunst verändert uns und unseren Blick: »Die Fülle der inneren Bewegung des Ich, die Fülle seiner ›Möglichkeiten‹ wird frei, wenn es sie rein in sich selbst entfalten und schwingen lassen kann«.275 Es ist diese Möglichkeit, die »monadische Fülle« unseres Ichs zu spüren, Seinsweisen jenseits unseres aktuellen Seins auf blitzen zu sehen, die als belebendes Moment erfahren wird. Kunst stellt »den historisch-aktualisierten Lebensformen […] den ganzen Bereich der ›möglichen‹ Lebensformen gegenüber«276 , und sie stellt nicht nur »gegenüber«, sondern macht sie fühlbar. In Analogie zu der oben dargestellten Funktion der Kunst, einen personalen Gegenstandsauf bau zur Darstellung zu bringen und somit eine intersubjektiv vereinbarte objektive, d. h. begriffl ich festgelegte Gegenständlichkeit zu brechen, läßt sich auf der Subjektseite eine vergleichbare Irritation feststellen. Kunst ermöglicht nicht nur, Gegenstände anders zu sehen, sie ermöglicht, ihre individuelle Präsenz wahrzunehmen und im Nachvollzug ihres Ausdruckswerts uns selbst bestimmen zu lassen und zu fühlen. Der ästhetisch Wahrnehmende überläßt sich der Betrachtung und dem Genuß, und indem er sich dergestalt bestimmen läßt, erf ährt er eine Schwächung seiner Subjektposition – und eine Vervielfältigung seiner Lebensmöglichkeiten. Der »monadischen Fülle« der ästhetischen Kontemplation korrespondiert jedoch eine »monadische Einsamkeit«,277 die abermals das Integral der Kunst als symbolischer Form bedroht, wenn man es nicht streng als Funktion begreift. Während die Formen des theoretischen Weltauf baus an einem intersubjektiven Erfahrungsauf bau arbeiten, fi ndet in der Kunst eine radikale Vereinzelung statt: das »in-

272 273 274 275 276 277

Ebd., S. 88. Ebd., S. 36. Ebd., S. 4. ECN 3, S. 43. Ebd., S. 31. Ebd.

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nere universelle Formgesetz der ›Kunst‹« kann nur als eine »Reihe des Einmaligen, Einzigartigen« begriffen werden.278 Es lassen sich zwar tradierte Formen eines gemeinsamen Kulturgebietes »Kunst« ausmachen, doch die ästhetische Funktion der Kunst wird nur im je individuellen aktuellen Vollzug sichtbar. »Das ästhetische Ganze«, so Kuznitzky, »sei es Wirklichkeit, sei es Kunst – ist nicht nur unbeweisbar und unwirklich, sondern auch an den Moment gebunden. Es lebt nur in der Betrachtung, nur hier hat es seine Wirklichkeit. Es ist vergänglich in dem Sinne, daß kein ästhetischer Augenblick mit einem anderen sich zum Ablauf des Lebens zusammenschließen kann. Und ebensowenig kann das im ästhetischen Erleben sich Darstellende mit einem anderen Kunstwerk oder Naturmoment das Ganze des Seinszusammenhangs bilden.« 279 Während die wissenschaftliche und die mythische Erfahrung auf die Erfassung und verbindliche sowie dauerhafte Ordnung des Weltganzen ausgerichtet ist und alles Begegnende einzugliedern bestrebt ist, vertieft die ästhetische Erfahrung den Augenblick. Es ist in der kontemplativen Versenkung stets am Ziel und niemals »Moment in einem Zusammenhang des Schreitens zum Ziel« 280. »Als Darstellung des Individuellen in seiner Individualität wird das Kunstwerk in gewisser Weise durch seine Aufgabe außerhalb jedes Zusammenhangs gestellt.« 281 Die Kunst weist eine Sinnfunktion auf, die in der Zersetzung tradierter Subjekt/Objekt-Formationen besteht. In dieser Funktion dient sie wie alle anderen symbolischen Formen dem Ziel »to unite man« 282 , jedoch unter der Bedingung radikaler Individualisierung.

h) Die intuitive Symbolik der Kunst »We understand reality, not only by subsuming it under general class-concepts and general rules, but also by intuiting it in its concrete and individual shape.« 283 »Art is a process of intuitive or contemplative objectivation.« 284 Cassirer fi xiert für die symbolische Form der Kunst nicht nur bestimmte Funktionen, durch die sie von allen anderen symbolischen Formen unterschieden ist, sondern auch eine divergente Struktur der Wahrnehmung, die ihr zugrunde liegt bzw. in der sie rezipiert wird, sowie eine divergente Form, in der diese Wahrnehmung zum Ausdruck gebracht wird: Im Gegensatz zur theoretischen Gegenstandserkenntnis, in der das Besondere im Rückgriff auf einen allgemeinen Begriff erfaßt wird, subsumiert die

278 279 280 281 282 283 284

ECN 3, S. 253. G. Kuznitzky, Die Seinssymbolik des Schönen und die Kunst, S. 7. Ebd., S. 24. Ebd., S. 91. ECW 23, S. 140. »Language and Art I«, in: SMC, S. 153. »Language and Art II«, in: SMC, S. 187.

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Kunst nicht, sondern erzeugt individuelle, sinnlich wahrnehmbare Gestalten. Im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen reserviert Cassirer den Begriff der »Anschauung« oder »Intuition« für das Gebiet ästhetischer Gegenstände285, und er behält diese Charakterisierung bis zum späten Essay on Man und den beiden Vorlesungen zu »Language and Art« bei. Es konnte bereits gezeigt werden, wie Cassirer den Begriff der Intuition oder Anschauung im Verlauf seines Denkweges modifi ziert. Während er die Möglichkeit einer intuitiven Erkenntnis in seinen frühen Überlegungen zur Leibnizschen Methodologie strikt verwirft, weil sie seiner Grundüberzeugung von der symbolischen Vermittlung aller Erkenntnis entgegensteht, sowie auf Grund ihrer Amedialität auch später gegenüber verschiedenen Spielarten des Intuitionismus Position bezieht – und in der Verteidigung der Angewiesenheit des Denkens auf sinnliche Zeichen so zunächst das ästhetische Potential, das die Struktur des Leibnizschen Begriff s der Intuition birgt, verschenkt –, gelangt er im Zuge der Ausbildung seiner eigenen Wahrnehmungstheorie, die ihren Weg über eine Kritik an Kant und unter dem Einfluß der Goethelektüre sowie der Rezeption zeitgenössischer gestalttheoretischer Ansätze nimmt, zu einer entschiedenen Aufwertung der Anschauung als eines nicht bloß rezeptiven Vermögens, sondern einer spontan synthetisierenden Kraft. Indem er die Kunst nun als Gestaltung von Anschauungen begreift 286 , setzt er diesen Weg, an dessen Ende vielleicht eine Pluralisierung der transzendentalen Ästhetik, zumindest aber die Anerkennung zweier verschiedener Ausprägungen von symbolischer Prägnanz stehen könnte, konsequent fort. Kunst ist für Cassirer intuitive oder anschauliche Symbolik. In der Kunsttheorie steht der Begriff der Anschauung derzeit nicht besonders hoch im Kurs. Als auf die Sinnlichkeit bezogenes, traditionell die Gegenwärtigkeit eines »Gegenstandes« vermittelndes Pendant zum Begriff scheint sie als Spezifi kum der Kunsterfahrung ausgedient zu haben, geht man doch des öfteren davon aus, daß die Werke »gar nicht darauf angewiesen sind, sinnlich erfahren, d. h. gesehen oder gehört, zu werden. Statt dessen genüge es, so die Vorstellung, dass man einfach um die Idee des Werkes weiß«.287 Komplementär bemerkt Franz Koppe die »schwindende[] Sinnlichkeit modernistischer Reflexionskunst«, »wo«, wie er spitz kommentiert, »der einmal durchschaute Gedanken-Gag alle weitere

ECW 11, S. 9: »Neben der reinen Erkenntnisfunktion gilt es, die Funktion des sprachlichen Denkens, die Funktion des mythisch-religiösen Denkens und die Funktion der künstlerischen Anschauung derart zu begreifen, daß daraus ersichtlich wird, wie in ihnen allen eine ganz bestimmte Gestaltung nicht sowohl der Welt als vielmehr eine Gestaltung zur Welt, zu einem objektiven Sinnzusammenhang und einem objektiven Anschauungsganzen sich vollzieht.« Hervorh. M. L. 286 Vgl. ECW 15, S. 361. 287 N. Roughley, »Kann Kunst anästhetisch werden?«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 59/2, 2005, S. 224. 285

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Anschauung witzlos macht«.288 Waltraud Naumann-Beyer attestiert der »Anschauung« im Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe 289 nur eine »marginale Rolle« in der gegenwärtigen ästhetischen Diskussion, die sich darüber hinaus zwei verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs teilen müssen. Weiter verbreitet als der in der Geschichte der Ästhetik bis zum Einsetzen von Kritischer Theorie und Postmoderne dominante »emphatisch-elevatorische Typus« sei zur Zeit ein »›abgefl achter‹, auf ebenerdige Vermittlungen und intermediale oder intersensorische Übersetzungen bedachter Begriff […], der auch in der terminologischen Gestalt von ›Anschaulichkeit‹ auftritt«.290 Dieser Anschauungsbegriff lasse keinen »Gewinn an einem hermeneutischen Sinnverstehen« erwarten, »sondern Nähe, Deutlichkeit oder Dabeisein« 291, und gestatte den Zeichen einen »aisthetischen und selbstreferentiellen Eigen-Sinn« 292 . »Dieser Einstellungswandel und die Umstellung auf die ›Oberfl äche‹ der Zeichen und Bilder wurde von der postmodernen Philosophie befördert und dürfte auch vom Ende der Postmoderne als Mode nicht revidiert werden. Denn er reflektiert eine tiefgreifende Transformation unserer gesamten Alltagskultur, zu der nicht zuletzt die Medialisierung unserer Lebenswelt gehört. Die technischen Medien ließen das Reich der Zeichen dick, fast opak werden; durch intermediale Vervielfältigung erwuchs den Zeichen ein multiples sensorisches Dasein.« 293 Naumann-Beyer bezeichnet diese Transformation, die gekennzeichnet sei durch das »Unempfi ndlich-werden für den Unterschied von Simulation und Original«, als ein »Mündigwerden der Zeichen« 294 und eine Befreiung aus den Fängen der kulturkolonialistischen Hermeneutik – die zusammen mit dem »vertikalen« Anschauungsbegriff einem abgeschlossenen Kapitel der Ästhetikgeschichte angehöre.295 Der »vertikale« oder »emphatisch-elevatorische« Anschauungsbegriff, der von Parmenides und Platon über den Neuplatonismus, die mittelalterliche Mystik, 288 F. Koppe, Grundbegriff e der Ästhetik, S. 183. Der Konnotationsanspruch solcher Refl exionskunst entbehrt nach Koppe häufi g eigener Mittel, so daß es zu seiner Einlösung »nicht selten externer Schlüssel bedarf, wie weiland für Allegorien des späten Mittelalters. Nur daß jetzt andere Symbolkataloge (etwa nach Freud oder gar privater Art) zu Rate zu ziehen sind. Ja, häufi g sind Manifestationen der Avantgarden auf so massive Kommentarkrücken angewiesen, daß hinter deren Gewicht die sinnliche Erfahrung der avantgardistischen Produktion selbst als nahezu irrelevant verschwindet. Und schließlich verselbständigt sich oft genug der Konnotationsgestus und läßt die konnotierende ästhetische Reflexion ins Leere gehen (was freilich mitunter seinerseits konnotativ bedeutsam werden kann).« Ebd., S. 180, Anm. 86. 289 W. Naumann-Beyer, Art. »Anschauung«, in: K. Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriff e, Bd. 1, Stuttgart-Weimar 2000. 290 Ebd., S. 211. 291 Ebd., S. 210. 292 Ebd., S. 208. 293 Ebd., S. 208 f. 294 Ebd., S. 209. 295 Ebd., S. 245.

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den deutschen Idealismus bis zur neueren Phänomenologie und Lebensphilosophie vertreten wurde, sei unter Metaphysikverdacht geraten, denn er setze auf die »Erhellung von etwas gnoseologisch, ontologisch oder ethisch Höherwertigem« und preise die Anschauung »als exklusive[n] Weg zu jenem Höheren […], das am Himmel der Ideen, in der Tiefe des Seins, im Zentrum des Verschiedenen oder im authentischen Subjekt situiert wurde«,296 anstatt sich »mit der negativen Darstellung eines Inkommensurablen zu bescheiden«.297 Doch was unterscheidet eine Darstellung, die auf Anschauung verzichtet, vom Inkommensurablen selbst? Wie läßt sich eine Darstellung überhaupt als Darstellung erkennen, die nur zur Vervielfältigung und Übersetzung anderer Referenzlosigkeiten deklariert wird? Worauf deutet das Wörtchen »auch« hin, das im Umfeld der These, die De-Konstruktion würde »auch die sinnenfällige Figuration oder die Materialität des Signifi kanten« ernst nehmen »und nicht bloß als Erscheinung« abschütteln, ohne Bezugspunkt bleibt? 298 Ich möchte im folgenden zeigen, daß die von Naumann-Beyer dargestellte Alternative der Zuordnung des Begriff s der Anschauung entweder zu einer Signifi kats- oder einer Signifi kantenmetaphysik keine zwangsläufige ist, denn Cassirers Ästhetik läßt sich weder als emphatisch-elevatorisch noch als ein Beitrag zur »Emanzipation der Zeichen vom Sinn« 299 begreifen. Im Falle der Symbolphilosophie Cassirers läßt sich kaum von einer Gleichgültigkeit gegenüber der Materialität der Zeichen und »ihrem multiplen sensorischen Dasein« sprechen. Immer wieder streitet er – z. B. mit Croce – gegen die Vernachlässigung der Sinnlichkeit der Zeichen als Medium, in dem und in Auseinandersetzung mit welchem der Kulturschaffende operiere. Die Kleistschen Ausführungen über »die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« sind für Cassirer über die Sprache hinaus auf jede symbolische Form, auf jedes andere sinnliche Material, das mit einem Sinn verbunden wird, übertragbar.300 Die alte und immer noch aktuelle Frage, ob alles Denken sprachlich verfaßt sei, hätte Cassirer dahingehend beantwortet, daß sich alles Denken in verschiedenen symbolischen Idiomen vollziehe,301 die durch ihre sinnlichen Spezifi ka die Ausdrucksmöglichkeiten prägen. Es ist Cassirers Anliegen, die verschiedenen symbolischen Formen als gleichwertige Gestaltungen zur Welt zu profi lieren; die »Gleichberechtigung von Perspektiven«, die für Naumann-Beyer den »horizontalen« Anschauungsbegriff kennzeichnet, ist Ebd., S. 208. Ebd., S. 211. 298 Ebd., S. 244, Hervorh. M. L. 299 Ebd., S. 209. 300 Vgl. »Le langage et la construction du monde des objets«, in: ECW 19. 301 Siehe dazu auch E. Rudolph, »Metapher oder Symbol. Zum Streit um die schönste Form der Wirklichkeit. Anmerkungen zu einem möglichen Dialog zwischen Hans Blumenberg und Ernst Cassirer«, in: R. Bernhardt/U. Link-Wieczorek (Hg.), Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur, Göttingen 1999, S. 325. 296 297

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von Cassirer emphatisch vertreten worden. Das Verhältnis zwischen den verschiedenen kulturellen Praktiken begreift Cassirer jedoch nicht als »intermediale oder intersensorische Übersetzungen«, sondern gibt ihnen erst, indem er sie gerade nicht als Übersetzungen begreift, vollständige Autonomie. Seine Symbolphilosophie ist immun gegen jede Annahme eines vorgängigen Seins, das es zu erkennen gilt, und gegen die Annahme eines vorgängigen statischen Subjektes, das sein Innerstes entäußert. Subjekt und Welt setzen sich in den symbolischen Formen auseinander. Trotz seiner erkenntniskritischen Vorsicht gegenüber dem Begriff des »Originals« hätte Cassirer das »Unempfi ndlich-werden für den Unterschied von Simulation und Original« jedoch mit Sicherheit nicht als Befreiung gepriesen; aufgrund seiner historisch gereiften Wachheit wären Bilder, die »außer Rand und Band geraten«302 , für ihn kein Grund zur Feier eines »mündigen Zeichens«, sondern ein Anlaß zum Appell an den mündigen Rezipienten der als Handlung begriffenen kulturellen Zeugnisse gewesen. Es ist, mit Paul Ricœur zu sprechen, die Krux des modernen Individuums, »ein Subjekt«, zu sein, »das nicht substantiell und nicht unveränderlich, aber dennoch für sein Sagen und Tun verantwortlich ist«.303 Im Ausgang von Cassirers Symbolbegriff, der Sinn und Sinnlichkeit vereint, läßt sich kein vollständig selbstreferentielles Zeichen denken, denn das Zeichen ist ohne seinen Verweischarakter kein Zeichen.304 Die Einsicht, daß die Referenz eines Zeichens nicht durch Imitation oder Abbildung, sondern durch Vernetzung von Relationen entsteht, teilt die (post-)strukturalistische Literaturtheorie mit Cassirer, die Ausblendung der Ebenen von Ausdruck und Darstellung hält Cassirer jedoch für fatal. Kulturelle Gegenstände unterscheiden sich von natürlichen Gegenständen durch eine Verschränkung von Ausdrucks-, Darstellungs-, und Bedeutungsebene,305 auf die reflektieren zu können ein Überschreiten des mythischen Denkens kennzeichne. Wenn die »funktionale Sicht auf das Zeichen« vollständig durch eine ersetzt wird, »die es selbst, seine spezifi sche Eigenart würdigt« 306 , wird der im Laufe der Geschichte des Erkenntnisproblems erreichte »Funktionsbegriff« einer Re-Ontologisierung zum »Substanzbegriff« preisgegeben.307

W. Naumann-Beyer, Art. »Anschauung«, S. 209. P. Ricœur, »Eine intellektuelle Autobiographie«, in: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze 1970–1999, hg. und übers. von P. Welsen, Hamburg 2005, S. 72. 304 Vgl. dazu seine Ausführungen in »Das Symbolproblem im System der Philosophie«, in: ECW 17, S. 269. 305 Vgl. insbesondere die in dem Band Zur Logik der Kulturwissenschaften versammelten Studien sowie die in ECN 5 veröffentlichten nachgelassenen Vorlesungen und Vorträge, die ein stetiges Bemühen um die Abgrenzung von Natur- und Kulturgegenständen dokumentieren. 306 W. Kemp, »Vorwort«, in: S. Alpers, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Köln 1985, S. 16 f., zitiert nach W. Naumann-Beyer, Art. »Anschauung«, S. 216. 307 Zur Kritik an der aktuellen Verdrängung der geisteswissenschaftlichen Perspektive, die ihre Phänomene als »geistige Gegenstände« begreift, durch eine Kulturwissenschaft, die sich auf die Beschreibung von »Praktiken« reduziert, vgl. den engagierten Beitrag von B. Recki, 302 303

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Wie aber ist nun der »horizontale«, die reflexive Distanz jedoch nicht einziehende Anschauungsbegriff Cassirers zu bestimmen? Im folgenden sollen zwei Facetten dieses komplexen Begriffes nachgezeichnet werden: a) die Bestimmung der Anschauung als Erfassen individueller, konkreter Gestalten, b) die Prozeßhaftigkeit der Anschauung bzw. die Bestimmung der Anschauung als Kontemplation. a) Im Ausgang von zwei neueren Ansätzen der Forschung läßt sich der ästhetische Anschauungsbegriff Cassirers, der keine »anschauliche« Übersetzung eines bereits in anderer Form Gegebenen meint, sondern einen Vorstellungstypus, der die sinnlichen Formen und Strukturen der kulturellen und natürlichen Welt in originärer Weise synthetisiert, konkretisieren. Giovanni Matteucci geht in seinem Aufsatz »Ipotesi di una estetica della ›forma formans‹«, den er der italienischsprachigen Ausgabe dreier Aufsätze Cassirers voranstellt, davon aus, daß die Kunst »prevede principi di relazione, connessione e sensatezza degni di specifica attenzione«,308 die in der ästhetischen Wahrnehmung erfaßt werden. Cassirer verankere in der ästhetischen Wahrnehmung eine Reflexivität, die Formen erzeuge, ohne Gegenstände zu bilden: »Anschauen e Betrachtung – in sistema: la sospensione riflessiva protesa al come dell’esperienza – determinano il passaggio dal percepito alla percepibilità poiché è in figura, melodia e ritmo, cioè nelle logiche da essi implicate, che i percetti si schiudono al sentire. Ciò conferma la preminenza della serie sui singoli contenuti che la compongono. Sarà allora lecito parlare di una sorta di razionalità non concettuale che presiede alla necessità acutamente avvertita come obbedienza all’ordine imposto dall’opera nella realizzazione dell’attività creativa.« 309 Nach Matteucci unterscheiden sich die symbolischen Formen nicht durch verschiedene Darstellungsarten derselben Vorstellung, sondern die Vorstellung selbst sei durch zwei verschiedene »Register« gekennzeichnet: zum einen durch Verbalität, zum anderen durch Ikonizität. Zur Begründung dieser These stützt er sich auf eine Passage des nachgelassenen Textes Zur Metaphysik der symbolischen Formen: »Der Zugang zur Welt der ›Vorstellung‹ ist stets nur durch die Pforte der ›Darstellung‹ zu gewinnen – diese selbst aber weist hier zwei verschiedene aufeinander nicht zurückführbare Urformen auf. Derselbe Prozeß der Objektivation, der ›Gewärtigung‹, der uns zuvor an der Sprache entgegentrat, stellt sich uns, gleichsam in einer neuen Dimension, in aller bildenden Kunst dar.« 310 Cassirer hebt an dieser Stelle auf die bildende Kunst ab, und auch die Rede von den anschaulichen Formen der Welt, die sichtbar zu machen das Spezifi kum der Kunst sei, ist häufig einseitig am Paradigma des Gesichtssinns orientiert.311 Da er jedoch ebenso häufig unter

»Interdisziplinarität ohne Disziplin? Kulturphilosophie und Kulturwissenschaften nach Ernst Cassirer«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2005/2. 308 G. Matteucci, »Ipotesi di una estetica della ›forma formans‹«, S. 13. 309 Ebd., S. 23. 310 ECN 1, S. 75 f. 311 So ist es z. B. die »visuelle Gestalt« eines Dings, die der Alltagswahrnehmung häufi g

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sinnlichen Strukturen der Welt die »sichtbaren, greif baren und hörbaren Erscheinungen« 312 , kurz: die »Welt der Sinneserfahrung« 313 begreift und den Begriff der Anschauung auch in bezug auf Dichtung verwendet 314, läßt sich annehmen, daß die möglicherweise durch Fiedler beeinflußte Orientierung an der Visualität Modellcharakter besitzt bzw. Cassirer selbst »den anschaulichen Charakter alles eigentlich Poetischen« wie viele seiner Vorgänger nur unter Rückgriff auf das Wortfeld der Malerei deutlich machen konnte315 – er somit metaphorisch zu begreifen ist. Matteuccis Verallgemeinerung des Gegensatzes von Sprache und Kunst zu einem »linguistisch-begriffl ichen« Paradigma der theoretisch orientierten symbolischen Formen Sprache und Wissenschaft und einem »anschauend-ikonischen« Paradigma der Kunst erscheint mir daher berechtigt und fruchtbar. Auch Philipp Stoellger zielt in seinem Aufsatz »Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz« auf Strukturierungsdifferenzen der Vorstellung. Es geht ihm um die »›Rettung des Unbegriffl ichen‹ in den expressiven Darstellungen vor seiner Integration in einen Begriff der Reihe«,316 eine Integration, die eine einseitige Ausrichtung am Primat des Begriff s bedeute. Wie Matteucci unterscheidet auch Stoellger auf der Ebene der Wahrnehmung zwischen zwei Modi, in denen das Wahrgenommene gegeben sein kann. Während Matteucci vorrangig von der Cassirerschen Unterscheidung auf der Ebene der Symbolik ausgeht und zwischen einem ikonischen und einem verbalen Modus unterscheidet – um dann jedoch eine weitreichende Kritik an den »schemi consolidati della teoria della percezione moderna« 317 zu artikulieren, die bis zu der Forderung einer »estetica transcendentale specifica per ogni forma simbolica« 318 geht, bezieht Stoellger sich auf die Verzweigung von Ausdrucks- und Dingwahrnehmung, die Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen formuliert und in den Studien Zur Logik des Kulturbegriffs sowie in einigen Nachlaßtexten weiter ausführt, weist jedoch ebenfalls auf eine mehrdimensionale Konzeption des Cassirerschen Begriff s der symbolischen Prägnanz hin.319

entgeht, (VM, S. 222), sind Maler und Bildhauer »Lehrer in der Welt des Sichtbaren« (ebd.) und lehrt die Kunst »Dinge zu visualisieren, statt sie nur zu konzeptualisieren« (S. 261). 312 VM, S. 257 313 Ebd., S. 240. 314 Vgl. ECW 15, S. 364. Er spricht dort von der »Anschauung der Dichtwerke«. 315 Vgl. ebd., S. 366. 316 Ph. Stoellger, »Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz. Zur Bearbeitung eines Problems von Ernst Cassirers Prägnanzthese«, S. 105 f. 317 G. Matteucci, »Ipotesi di una estetica della ›forma formans‹«, S. 43. 318 Ebd., S. 47. 319 Ph. Stoellger, »Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz«, S. 120. Auf die Möglichkeit, die Differenz zwischen ikonischen und verbalen Paradigma mit der Cassirerschen Unterscheidung von Ausdrucks- und Dingwahrnehmung in Verbindung zu bringen, geht Matteucci ebenfalls ein: Vgl. ders., »Ipotesi di una estetica della ›forma formans‹«, S. 43, Anm. 53.

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Cassirer zufolge könne Wahrnehmung entweder in gegenständlicher Objektivierung oder in der »Mannigfaltigkeit und Fülle ursprünglich ›physiognomischer‹ Charaktere«, in der sie ein Gesicht habe320, erfolgen. Er bezeichnet diese Wahrnehmung als Ausdruckswahrnehmung. Das Unbegriffl iche oder Präprädikative der Ausdruckswahrnehmung ist nach Stoellger zwar ebenfalls semiotisch, nicht aber notwendig reihenförmig strukturiert, denn erstens bleibe die »Sinnlichkeit des Sinns« in der reihenbildenden Darstellung auf der Strecke, d. h. der »Umgang mit der präsenten Sinnlichkeit« gerate »›bloß‹ repräsentierend«,321 und zweitens könne die individuelle Abweichung, die zwar ohne vorgängige Reihen nicht verständlich werde, aber doch nicht in ihnen aufgehe, durch die ausschließliche Orientierung der Repräsentation am eher mathematischen Begriff der Reihe nicht erfaßt werden: »Ausdruckswahrnehmung ist nicht angemessen repräsentiert, wenn sie ›auf die Reihe‹ gebracht wird‹, sondern Diskretheit und Kontiguität sind treffender dargestellt, wenn sie beispielsweise topisch konstelliert werden.« 322 Als Alternative bzw. vorbegriffl iches Pendant zur Reihenform, die bei Cassirer angelegt, aber nicht hinreichend akzentuiert worden sei, führt Stoellger die Gestalt oder Metaphorizität an, unterscheidet jedoch die Metapher als sprachliche Figur von einer allgemeineren »Dynamik der Semiose« 323 : »Was in der Dichtung wahrgenommen wird, kann man ausweiten und als eine Form der Metaphorizität verstehen, die die besondere Darstellungsweise des Ausdrucks sein könnte: Die Form der sprachlichen symbolischen Prägnanz, die nicht auf Gegenständlichkeitskonstitution und Gegenstandserkenntnis tendiert und daher das Andere der Dingwahrnehmungsprägnanz bildet.« 324 Matteucci und Stoellger gehen von zwei verschiedenen Modellen oder Schemata aus, nach denen symbolische Formung sich vollzieht. Auf seiten der Dingwahrnehmung der theoretischen Erkenntnis läßt sich eine Synthesis ausmachen, die im Ausgang von dem mathematischen Modell der Reihenbildung begriffen werden kann. Ihr gegenüber steht eine Wahrnehmung, in der individuelle Strukturen erfaßt werden, die als ikonische oder figurale Synthese oder Synopsis bezeichnet werden kann und die Cassirer mit dem Begriff der Anschauung belegt. In ihr wird das Netz der Erfahrung nicht weitergeknüpft und ausgebreitet, sondern »topisch« verdichtet und intensiviert. Für Cassirer führt die Kunst in keine »supra-sensuous world« 325 ; die Ansicht Schellings, daß in ihr »das Unendliche endlich dargestellt« wird, kritisiert er. Kunst

320 321 322 323 324 325

Ph. Stoellger, »Die Metapher als Modell symbolischer Prägnanz«, S. 109. Ebd., S. 113. Ebd., S. 118. Ebd., S. 131. Ebd., S. 116. »Language and Art I«, in: SMC, S. 155.

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benötige keine metaphysische Rechtfertigung oder »deification«.326 Im Gegenteil: Wer Kunst als höchste Offenbarung des Absoluten betrachte, lade sie mit religiösen Konnotationen auf und verliere die Wurzeln, die sie in der spezifisch menschlichen Welt habe, aus dem Blick. Die Symbolik der Kunst müsse man »als Immanenz, nicht als Transzendenz verstehen«; 327 sie wolle die Welt »im Bilde auf bauen und an ihm festhalten« 328. Kunst übersteige die Sinnlichkeit der Welt nicht, sondern verweist auf sie als irreduzible Dimension menschlichen Daseins. In der Philosophie der Aufklärung gelangt Cassirer durch diese anthropologische Akzentsetzung zu einer neuen Wertschätzung Baumgartens, der auf die sinnliche, phänomenale Vollkommenheit (perfectio phaenomenon) der Dinge hingewiesen hat, und zwar nicht, um auf diese Weise zu einer Erkenntnis des Dings an sich zu gelangen, sondern um auf die eigene Dignität, auf den »immanenten Vorzug« 329 der sinnlichen Wahrnehmung hinzuweisen. Die »ästhetische Seite der Phänomene« ist für Cassirer das Ergebnis eines bestimmten Modus der Auffassung. In den nachgelassenen Notizen Cassirers fi ndet sich eine Bestätigung für die Forderung Matteuccis, es müsse eine besondere transzendentale Ästhetik der Kunst geben: Cassirer spricht dort von einer »ästhetischen Synthesis a priori«.330 Die ästhetische Anschauung ist für Cassirer keine bloße Rezeption von Sinnesdaten. Es ist gerade die Passivität, die Cassirer an der Bergsonschen Auffassung der Intuition kritisiert,331 denn für ihn ist sie eine Formung zu Gestalten und Strukturen: zu Melodien, Rhythmen, sichtbaren Formen und dichterischen Bildern. Bilder und rein rezeptiv gewonnene, singuläre Sinneseindrücke gehören »erkenntniskritisch und phänomenologisch nicht mehr in dieselbe Klasse, noch lassen sich die ersteren aus den letzteren ableiten: Denn jedes echte Bild schließt eine Spontaneität der Verknüpfung, schließt eine Regel in sich, nach der die Gestaltung erfolgt«.332 Kennzeichnend für das »Bild«, das Cassirer intendiert, ist die bereits aus der Goetherezeption bekannte Simultaneität der Auffassung verschiedener Elemente sowie ihre sinnhafte Gliederung: Die Bilder legen sich selbst auseinander. Die ästhetische Anschauung, so führt Cassirer wiederholt aus, ist eine »unzerlegte Anschauung« eines komplexen Ganzen.333 »Nur dem Künstler, dem Maler oder Poeten«, schreibt Cassirer, »ist es gegeben, diese Totalität zu bewahren und sie, in jedem Zuge seiner Darstellung, für uns lebendig zu machen. Ein vollendetes malerisches oder dichterisches Landschaftsgemälde zaubert, wie mit einem Schlage, ihr reines Bild vor uns hin – und im Anblick und Genuß dieses Bildes ist jede Frage nach dem ›Grunde‹, 326 327 328 329 330 331 332 333

Ebd. VM, S. 242. ECW 15, S. 315. Ebd., S. 356. ECN 3, S. 266. ECW 23, S. 174 f. ECW 13, S. 221 ECW 15, S. 359.

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wie sie die wissenschaftliche Reflexion und die begriffl iche Untersuchung stellt, vergessen. Wir müssen uns der reinen Wirkung überlassen und bei ihr verweilen und ausharren, wenn uns die Erscheinung nicht, als solche, zergehen, wenn sie uns nicht unter den Händen entschwinden soll.«334 Was Cassirer hier als Schönheit und als Totalität beschreibt, ist keine absolute Vollkommenheit oder anschauliche Erkenntnis eines metaphysischen Wesens, sondern der Modus einer Auffassung, durch den eine ästhetische Wirkung entsteht. Klänge beispielsweise werden erst dann zu Melodien und Rhythmen: und d. h. zu musikalischen Formen, wenn sie trotz ihres zeitlichen Nacheinanders in einem Zusammenhang und Zusammenwirken wahrgenommen werden, einzelne Aspekte eines Bildes sowie einzelne Worte eines Gedichts ergeben einen ästhetischen Gesamteindruck, wenn sie im Ganzen der Komposition, in dem Verhältnis, in dem sie zu anderen sie umgebenden Wörtern und Formen stehen, betrachtet werden. In der ästhetischen Anschauung entstehen Vorstellungsbilder und Stimmungen, die im Gegensatz zu Formeln und Begriffen durch reale Bestimmtheit gekennzeichnet sind. Sie wirken, wie Martin Seel in seiner Ästhetik des Erscheinens schreibt, in der »simultanen Aufnahme« ihrer »momentanen Erscheinung«.335 Obwohl die Simultaneität verschiedener Momente ein unverzichtbares Kennzeichen der ästhetischen Anschauung darstellt, ist das Gemeinte insbesondere vor dem Hintergrund der Musik, der Dichtung oder des Films nicht sofort einleuchtend, denn die Verlaufsform der Musik kann nur sukzessive aufgenommen werden, das Lesen eines Gedichtes, das Sehen eines Films, selbst das Sehen eines komplexen Gemäldes vollzieht sich nicht in einem einzigen Moment. Die ästhetische Anschauung ist nicht ad hoc gegeben, sondern eine Leistung der auf Erinnerung und Prospektivität angewiesenen Einbildungskraft, die komplexe Vorstellungsbilder erzeugt. Sie hebt, wie Adolf Nowak am Beispiel der Musik erläutert, das Transitorische des Klangelementes auf und ermöglicht einen »in der Zeitlichkeit identifi zierbaren Sinnzusammenhang«.336 Anschauen schließt nach Nowak auch das sukzessive »Erfassen eines Sinnzusammenhang ohne begriffl iche Distinktion«337 ein, denn Rhythmus und Melodien sind nur als »Zeitgestalten« denkbar. »Sie müssen in einem Hören, das wacher Erinnerung und Erwartung fähig ist, realisiert werden, und eben diese Realisation ist das Schauen im Hören.« 338

Ebd., S. 359 f. Siehe M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 54. Auch für Seel sind »ästhetische Objekte […] Objekte der Anschauung«. Er verwendet den Begriff wie Cassirer als Bezeichnung »für die gesamte sinnliche Rezeptivität des Menschen, also nicht lediglich im Sinne einer visuellen Anschauung« (S. 46, Anm. 1). 336 A. Nowak, »Anschauung als musikalische Kategorie«, in: Anschauung als ästhetische Kategorie, Neue Hefte für Philosophie, Heft 18/19, Heidelberg 1980, S. 103–117. 337 Ebd., S. 109. 338 Ebd., S. 115. 334 335

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b) Die ästhetische Anschauung geht jedoch nicht darin auf, daß sich in ihr komplexe sinnliche Zusammenhänge, die (auch) sukzessive aufgenommen werden können, simultan darstellen. Der zeitliche Verlauf gewinnt in der Anschauung eine besondere Qualität, denn im Verweilen und Ausharren entfaltet sich, so Cassirer, die ästhetische Wirkung.339 Im »Verweilen und Ausharren« der ästhetischen Betrachtung wird der Vollzug der geistig-sinnlichen Prozesse vernehmbar und als beglückend und belebend erfahren. Bereits Kant hat darauf hingewiesen, daß die ästhetische Anschauung und das Erkenntnisurteil sich auch dadurch unterscheiden, daß das Gelingen von Erkenntnisprozessen dem Erkennenden wohl einst fühlbar gewesen ist, dem Routinierten aber nicht mehr zum Bewußtsein gelangt. In der ästhetischen Anschauung wird hingegen die Aufmerksamkeit nicht ausschließlich auf das Ergebnis des Prozesses gerichtet, sondern der Prozeß in seinem Vollzug begleitet. Es zeigt sich eine doppelte Gerichtetheit: auf die Formung ästhetischer Gestalten und auf die Wirkung dieses Prozesses auf unser Gefühl. In dieser Weise betrachtet liegt das Besondere der symbolischen Form der Kunst, so Birgit Recki, in ihrer Reflexivität, »durch die uns unsere eigene produktive Tätigkeit im Medium formaler Gestaltung bewußt werde kann«.340 In diesem Sinne setzt Cassirer die ästhetische Anschauung mit Kontemplation gleich. Sie ist zwar zunächst auf äußere, d. h. im sinnlichen Medium wahrnehmbare Formen und Strukturen gerichtet; ohne die Aufmerksamkeit auf die inneren Prozesse, die die äußere Wahrnehmung begleitet, ist die Anschauung jedoch keine ästhetische. »Schönheitssinn ist die Empfänglichkeit für das dynamische Leben von Formen, und dieses Leben läßt sich nur durch einen entsprechenden dynamischen Prozeß in uns selbst erfassen.« 341 Der Leser, Betrachter oder Zuhörer eines Kunstwerkes verharrt in einer Perspektive, die sich weder in der sinnlichen Wahrnehmung beschließt, noch diese überspringt, um sie ausschließlich als Repräsentation einer gegenständlichen Bedeutung zu begreifen oder sich in selbstbezogenen Träumereien zu verlieren, denn sobald wir »dem Spiel angenehmer Empfi ndungen und Assoziationen freien Lauf lassen, haben wir das Kunstwerk als ein Werk der Kunst aus dem Blick verloren«.342 Um Mißverständnisse zu vermeiden, seien zum Schluß zwei Bemerkungen zum Begriff der Immanenz und zur Differenz zwischen Anschauung und »Anschaulichkeit« ergänzt. 1. Cassirers Anschauungsbegriff hat mit dem von Naumann-Beyer inkriminierten »elevatorischen« Anschauungsbegriff nichts gemein. Unempfi ndlichkeit für den »Unterschied von Simulation und Original« 343 kennzeichnet ihn jedoch 339 340 341 342 343

Vgl. ECW 15, S. 360. Vgl. B. Recki, »›Lebendigkeit‹ als ästhetische Kategorie«, S. 204, Anm. 18. VM, S. 232. Ebd., S. 253. Vgl. oben, S. 243.

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ebensowenig, denn seine Theorie, für die jedes Bild ein Original darstellt, ist über diese Differenz bereits hinaus. »Immanenz« und »Indifferenz« kennzeichnen bewußtseinsinterne Verhältnisse. Cassirer unterscheidet die »naive Ungeschiedenheit von ›Bild‹ und ›Sache‹« 344, die dem Mythos eigen ist, von der »immanenten Geltung« des Bildes in der Kunst. Der Mythos nimmt das Bild für die Sache: »Beide können sich in der Art des Seins nicht voneinander trennen, weil die Art des Wirkens ihnen gemeinsam ist. Denn in dem allgemeinen mythisch-magischen Verflechtungszusammenhang der Dinge eignet dem Bild die gleiche Kraft wie irgendeinem physischen Dasein.« 345 In der Kunst hingegen gewinnt das Bild einen eigenen Schwerpunkt: »Denn ebendies bezeichnet die Grundrichtung des Ästhetischen, daß hier das Bild rein als solches anerkannt bleibt«,346 was jedoch nicht bedeutet, daß die Differenz zwischen Bild und »Wirklichkeit« eingeebnet werden würde. Die Bilder der Kunst werden als Schein gewußt, als Ausdruck »der eigenen schöpferischen Kraft«,347 als ein Ausdruck jedoch, der, indem er als Ausdruck gewußt wird, zur Darstellung gerät. 2. Obwohl Cassirer zur Erläuterung seiner Ästhetik vorzugsweise anschauliche Beispiele der Lyrik Goethes und damit aus dem Bereich des Schönen, nicht des Erhabenen wählt, ist sein Begriff der Anschauung nicht auf »Anschaulichkeit« reduzierbar. Der ästhetische Gegenstand wurzelt, so Cassirer »in einem ganz anderen und tieferen Sinne in der Welt der Anschauung und in ihren Bedingungen […], als es bei dem empirisch-physikalischen Gegenstand der Fall ist«. 348 Das Schöne sowie die von Cassirer thematisierten sinnlichen Formen insgesamt sind – darin ist Manfred Frank zuzustimmen – »nie in der gleichen Weise anschaulich gegeben wie ein Objekt, das sinnlich wahrgenommen wird. Es existiert als ein Appell an die Einbildungskraft, die auf eigentümliche Weise zwischen der konkreten Sensation und dem Denken [Cassirer würde sagen: zwischen Sinn und Sinnlichkeit] die Mitte hält, ohne diese Grenzmarken einzuholen«.349 Cassirers Erörterung der »radikalen Metapher« als »Ur-Teilung« des Symbols zeigt ihn fern von jeder Unterstellung der »vollen Präsenz« eines Signifi kats im Signifi kanten. In seiner Erkenntnistheorie hat er die strikte Kantische Koordination von Anschauung und Begriff längst überwunden: Begriffe, denen keine »anschauliche« Anschauung entspricht, müssen nicht leer sein. In der Kunst dargestellte »Confl icte der Denkkraft mit dem Anschauen« 350 stellen einen Appell dar, diese Spannung auszuhalten. Cassirer beECW 12, S. 32. Die Passage fi ndet sich ebenfalls in ECW 16, S. 194 f. ECW 16, S. 92. 346 ECW 12, S. 305. 347 Ebd. 348 »Das Symbolproblem im System der Philosophie«, in: ECW 17, S. 267. 349 M. Frank, »Die Auf hebung der Anschauung im Spiel der Metapher«, in: Anschauung als ästhetische Kategorie, Neue Hefte für Philosophie, Heft 18/19, Heidelberg 1980, S. 58. 350 J. W. Goethe, »Der Kammerberg bei Eger«, in: Werke. Weimarer Ausgabe, 2. Abt., Bd. 9, S. 91. Cassirer zitiert diese Stelle in ECW 7, S. 219. 344 345

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freit die symbolischen Formen aus der mimetischen Bindung. Dadurch erschöpfen sich die jeweils figurierten Wirklichkeiten nicht mehr in der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Durch ihre Bindung an die Sinnlichkeit nehmen Kunstwerke ihren Ausgang von der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit. »Der Clou an der Kunstwerkrelation aber ist«, faßt Constanze Peres pointiert zusammen, »daß sie sich im Rück-biegen auf die Bedingungen reflexiv über diese Bedingungen erhebt.« 351 – Es wäre reizvoll, die avancierte Epistemologie Cassirers an einem Beispiel der Kunst auszubuchstabieren und zu zeigen, wie die Anschauung in einem konkreten Beispiel poetischer Figuration aufgehoben wird, ohne »die Erinnerung an eine vom Über-griff des Begriff s noch nicht gemeisterte Sinnlichkeit« 352 zu tilgen.

i) Gestaltung von Raum, Zeit und Zahl durch Kunst I. Raum Zum Thema des vierten Kongresses für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, der 1930 in Hamburg stattfand, hatte der mit der Vorbereitung betraute Hamburger Ortsausschuß das Thema »Gestaltung von Raum und Zeit in der Kunst« gewählt. Diese Wahl trägt unübersehbar die Handschrift des Vorsitzenden Ernst Cassirer, der in der Philosophie der symbolischen Formen die jeweiligen Gestaltungen von Raum, Zeit (und Zahl) als differentia specifica von Kulturgebieten profi liert. In dem »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« betitelten Vortrag, mit dem Cassirer den Kongreß eröff nete, bringt er die Hoff nung zum Ausdruck, daß »gerade das Raumproblem zum Ausgangspunkt einer neuen Selbstbesinnung der Ästhetik werden könne« 353, von der er eine Beschäftigung mit der Frage »nach dem Prinzip der künstlerischen Gestaltung überhaupt«354 bzw. die »Erfassung des spezifi schen Formgesetzes, unter dem die Kunst steht«355, erwarte. Cassirer geht davon aus, daß die symbolischen Formen sich voneinander abgrenzen lassen, ohne daß Überschneidungen ausgeschlossen werden müssen. Symbolische Formen bestehen nebeneinander und bauen doch aufeinander auf. Insbesondere die Kunst ist durch Adaptionen und Transformationen von Elementen und Formen der verschiedensten Bereiche gekennzeichnet. Den Übergang vom Seinsbegriff zum Ordnungsbegriff des Raums, der sich in der modernen Physik vollzogen hat, hält Cassirer auch auf ästhetischem Gebiet für fruchtbar, und C. Peres, »Raumzeitliche Strukturgemeinsamkeiten bildnerischer und musikalischer Werke«, in: T. Böhme und K. Mehner (Hg.), Zeit und Raum in Musik und bildender Kunst, Köln/ Weimar/Wien 2000, S. 29. Vgl. dazu auch unten, Abschnitt l). 352 M. Frank, »Die Auf hebung der Anschauung im Spiel der Metapher«, S. 78. 353 »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum«, in: ECW 17, S. 413. 354 Ebd., S. 412. 355 Ebd., S. 413. 351

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wenngleich er 1930 nicht alle Zuhörer von seiner Auffassung der radikalen Vielgestaltigkeit räumlicher Ordnungsformen überzeugen konnte,356 sollte die folgende Entwicklung der Kunst und Ästhetik ihm doch Recht geben: Die von Cassirer theoretisch begründete »kulturphilosophische Multiplizierung des Räumlichen« kennzeichnet – so Michaela Ott, die den Raum in ihrem für das Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe verfaßten Artikel als »heterogenisierenden Relationsbegriff« auffaßt – »einen Paradigmenwechsel, der die Moderne von der neuzeitlichen Entwicklung trennt«. 357 Kaleidoskopisch breitet sie eine kaum überschaubare Fülle verschiedener Raumauffassungen und -gestaltungen in der Geschichte der Kunst aus, die mit der naturwissenschaftlichen Relativierung des einheitlichen Raumbegriff s Schritt gehalten hat, oft sogar in konkreter Auseinandersetzung mit ihr entstanden ist, und beobachtet an der aktuellen Forschung zu Arbeiten zeitgenössischer Künstler eine Dominanz der Thematisierung von Raumgestaltungen. Für die Tragfähigkeit des Cassirerschen Ansatzes, die Gestaltung von Raum (und Zeit) für die Differenzierung symbolischer Formen zugrunde zu legen und somit auch für die Gegenstandsbestimmung der Kunst zu verwenden, spricht das folgende Resümee Otts: »Die immer häufiger zu beobachtende Präsentation moderner und zeitgenössischer Kunst unter dem Raumbegriff […] verweist […] darauf, daß er die letzte umfassende Bezeichnung für die moderne Vielfalt künstlerischer Stilrichtungen ist.«358 Auch die traditionell der zeitlichen Anschauungsform zugeordnete Dichtung konzentriert sich u. a. bedingt durch die Aufgabe der Verbindlichkeit narrativer Chronologie zunehmend auf die Gestaltung von Raum. Im Umkreis der konkreten Poesie meldet sich in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts der »Spatialismus« zu Wort, der die eigene Architektur der Buchstäblichkeit und den sich über Schallwellen ausdehnenden Klangraum des gesprochenen Wortes ins Zentrum der Dichtung stellt:359

356 Vgl. insbesondere die Einwände, die Richard Hamann und Moritz Geiger in der auf den Vortrag folgenden Aussprache vorbrachten, ECW 17, S. 428 f. 357 Michaela Ott, Art. »Raum«, in: K. Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriff e, Band 5, Stuttgart-Weimar 2003, S. 115. 358 Ebd., S. 140. 359 Dieses anschauliche Beispiel für die Thematisierung von Raum in der konkreten Poesie gibt K. Brynhildsvoll in seiner Studie Der literarische Raum. Konzeptionen und Entwürfe, Frankfurt/Main u. a. 1993, S. 251 f. Er zitiert nach der schwedischen Anthologie Svisch, mit Beiträgen von T. Ekbom, Å. Hodell, L. Nylén, C. F. Reuterswärd, B. E. Johnson, M. G. Bengtsson, L.-G. Bodin, P. O. Ultvedt, Ö. Fahlström und E. Eriksson, Stockholm o. J.

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Im Zuge der Globalisierung und des weltweiten Einsatzes von Kommunikationsmedien, die Distanzen zum Verschwinden bringen und mit denen zunächst eine Vernichtung oder Auflösung von Raum einherzugehen scheint, intensivieren sich unter dem von Foucault in die Diskussion gebrachten Stichwort der »Heterotopie« die Forschungen zu regional spezifi schen Raumgestaltungen in der Literatur. Auch in den Kulturwissenschaften läßt sich derzeit eine verstärkte Verwendung des Raumbegriff s als Paradigma feststellen. So hat Sigrid Weigel bspw. einen »topographical turn« ausgerufen, den sie als »theoretische[n] Fluchtpunkt der immer wieder beschworenen ›linguistic‹ und ›pictural turns‹«360 der Kulturwissenschaften betrachtet und (in bezug auf die europäische Theoriebildung) als »Rekonzeptualisierung des Raums und seiner (Be-)Deutung«361 beschreibt. Daß die Arbeiten der Kulturwissenschaften seit den 90er Jahren des 20. Jahrhundert diejenigen der ersten Jahrhunderthälfte (angesprochen sind Cassirer, Simmel und Spengler) »radikal reformulieren«, indem sie den Raum »als Signatur materieller und symbolischer Praktiken«362 begreifen, möchte ich, zumindest was Cassirer betriff t, bezweifeln, denn mitnichten wird in der Philosophie der symbolischen Formen der Raum als »Grund oder Ursache, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen«363, betrachtet. Cassirer defi niert den Raum als eine Setzung, die in Abhängigkeit von der jeweiligen Sinnfunktion sowie den durch das jeweilige Medium gegebenen materialen Bedingungen steht. Der theoretische Einsatz bzw. die Grundannahmen, die den aktuellen raumtheoretischen Untersuchungen zugrunde liegen, sind nicht immer neu. Ernest W.B. Hess-Lüttich, der damalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Semiotik, der »die immer drängender werdende Frage nach der Verfaßtheit kultureller Räume« 1996 zum Rahmenthema des internationalen Kongresses der Gesellschaft gemacht hat, hebt im Vorwort zu der 1997 erschienenen Arbeit von Karin Wenz: Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung hervor, sie habe »vor allem de[n] Zusammenhang von Wahrnehmung und Kategorisierung profi liert und hervorgehoben, daß Wahrnehmen grundsätzlich ein rekonstruktiver Prozeß sei, der in das gesamte Weltwissen eingebunden sei« 364. Die von Wenz vertretene erkenntnistheoretische Position greift auf Kants Kritik der reinen Vernunft zurück, folgt jedoch in der Auf hebung der Trennung von Kategorien und Verstandesbegriffen und der damit verbundenen Vervielfältigung von Räumlichkeiten als Verhältnisbegriffen Peirce, nicht Cassirer (der in der Arbeit nicht erwähnt wird, S. Weigel, »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 2, 2002, S. 153. 361 Ebd., S. 159. 362 Ebd. 363 Ebd., S. 160. 364 K. Wenz, Raum, Raumsprache und Sprachräume. Zur Textsemiotik der Raumbeschreibung, Tübingen 1997, S. 7–9. 360

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jedoch mit dem Begriff der symbolischen Prägnanz das Stichwort für den genannten Zusammenhang geliefert hat). Auch die von der 2002 gegründeten Münchener Arbeitsgruppe »Raum-Körper-Medium« vertretene These, »dass Räume nicht einfach unveränderlich vorhandene physische oder Wahrnehmungsbedingungen sind, sondern kulturell konstituiert«365, dürfte vor dem Hintergrund der Cassirerlektüre bekannt sein. Die Fragen, die Rudolf Maresch und Niels Werber ins Zentrum des Interesses ihres ebenfalls 2002 herausgegebenen Sammelbandes »Raum–Wissen– Macht« stellen, um damit den »Raum als theoretisch reflektierte[n] Terminus«366 aus seinem jahrzehntelangen Schattensdasein zu befreien, stehen ebenfalls in einer (kultur)philosophischen Tradition: »Wie ist der Raum beschaffen? Durch welche Qualitäten zeichnet er sich aus? Welchen Einfluß übt er beispielsweise auf Wahrnehmung, Denken und Handeln aus? Besitzt der Raum ein ›materielles Substrat‹ oder ist er nur ein lose gekoppelter Verbund von Elementen? Ist der Raum der Grund von Handlungen oder doch nur eine logische Komponente und Annahme, die ein Beobachter notwendigerweise machen muss, wenn er beobachtet? Konstituiert der Raum sich erst in der Lagebeziehung von Objekten? Oder wird er durch kulturelle Codes und soziale Zuschreibungen erst kommunikativ erzeugt und hervorgebracht?«367 Statt von einem ›topographical‹, ›topological‹ oder ›spatial turn‹ zu sprechen, ziehe ich es vor, das gegenwärtige Interesse an der theoretischen Verfaßtheit von Räumen als eine »Konjunktur« der bereits in den 20er Jahren von der Kulturphilosophie geleisteten Problematisierung zu betrachten, denn es läßt sich zwar in den letzten Jahren eine auff ällige Intensivierung von Forschungsaktivitäten und Publikationen zu diesem Thema beobachten,368 doch kann, zumindest für die Philosophie und seit den 50er Jahren des 20. Jahrhundert auch für die Literaturwissenschaft (gelegentlich mit direkten Anknüpfungen an Cassirer), ein kontinuierliches Interesse an der Raumproblematik belegt werden. 369 Vgl. den »Forschungsüberblick ›Raumtheorie‹«, www.raumtheorie.lmu.de/Forschungsbericht4 (13.12.05), S. 2. 366 R. Maresch/N. Werber (Hg.), Raum-Wissen-Macht, Frankfurt/Main 2002, S. 12. 367 Ebd., S. 13. 368 Vgl. z. B. das im September 2004 abgeschlossene Graduiertenkolleg in Mainz zu »Raum und Ritual«, die seit 2002 bestehende literaturwissenschaftlichen Münchener Arbeitsgruppe »Raum Körper Medium« und die in diesem Rahmen entstandene Veröffentlichung Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, hg. von J. Dünne, H. Doetsch und R. Lüdeke, Würzburg 2004, das in Kooperation von H. Böhme, I. Mülder-Bach und H. Wenzel 2004 veranstaltete DFG-Symposion »Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext« und die daraus hervorgegangene gleichnamige Veröffentlichung Stuttgart 2005, sowie Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von A. C. T. Geppert, U. Jensen, J. Weinhold, Bielefeld 2005. 369 Elisabeth Ströker weist auf eine Tradition der philosophischen Behandlung des Raumes seit der Vorsokratik hin, in der es innerhalb jedes Systems bzw. jeder Denkhaltung zu einer spezifi schen Gestaltung des Raumes gekommen sei. Vgl. dies., Philosophische Untersuchungen 365

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Michail Bachtin bspw. bezieht sich 1937/38 in seiner vielbeachteten Studie Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman explizit auf die Philosophie der symbolischen Formen 370 und erarbeitet in seiner ›Untersuchung zur historischen Poetik‹ eine Typologie in der Geschichte der Literatur ausgebildeter ›Chronotopoi‹, die den jeweils grundlegenden Zusammenhang literarisch dargestellter Zeit/Raum-Beziehungen kennzeichnen. Den Begriff bestimmt er wie folgt: »Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Diese Überschneidung der Reihen und dieses Verschmelzen der Merkmale sind charakteristisch für den künstlerischen Chronotopos.«371 Hermann Mayer, der der literaturwissenschaftlichen Forschung in den 50er Jahren entscheidende Impulse gegeben hat, indem er auf die grundlegenden poetologischen Strukturwerte von Raum und Zeit hingewiesen hat, bezieht sich explizit auf Cassirer.372 Ulrich Schmid nennt Cassirers Symbolphilosophie in seinem Überblick über Raumkonzeptionen in der Literaturwissenschaft als eine wichtige Referenz;373 Elisabeth Bronfens Arbeit Der literarische Raum ist ein eindrucksvolles Zeugnis für die Fortschritte, die die Literaturwissenschaft seit den 50er Jahren auf diesem Forschungsgebiet gemacht hat. Auch sie weist auf Cassirers Hamburger

zum Raum, Frankfurt/Main. Siehe auch ihre Literaturliste. Unter verschiedenen Aspekten widmen sich poetologische Arbeiten der literarischen Figuration des Raums. Zu den frühen Forschungen zu diesem Thema gehören neben Michail Bachtin insbesondere G. Bachelard, La poétique de l’espace, Paris 1957, der sich vorrangig den Bildern des »glücklichen Raums« widmet, sowie Maurice Blanchot, L’espace littéraire, Paris 1955, der in seiner Bestimmung des literarischen Raumes an die Cassirersche Beschreibung des sich in der Rezeption erfüllenden Werkes erinnert: »[…] l’œuvre est œuvre seulement quand elle devient l’intimité ouverte de quelqu’un qui l’écrit et de quelqu’un qui la lit, l’espace violemment déployé par la contestation mutuelle du pouvoir de dire et du pouvoir d’entendre« (S. 35). Eine Bibliographie zur literaturwissenschaftlichen Erforschung des Raums fi ndet sich in A. Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975. Siehe dort auch die Einleitung, die einen Überblick über den Gang der Forschung der 50er, 60er und 70er Jahres des letzten Jahrhunderts gibt. 370 M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik, hg. von Edward Kowalski und Michael Wegner. Aus dem Russischen von Michael Dewey, Frankfurt/ Main 1989 (der darin enthaltene Text »Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman« wurde 1937/38 verfaßt), S. 456. 371 Ebd., S. 263. 372 Vgl. bes. den Aufsatz »Raumgestaltung und Raumsymbolik in der Erzählkunst« von 1957, abgedruckt in A. Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst. 373 Vgl. Raumkonzeptionen in der Literaturwissenschaft, Onlinepublikation unter http://www. dostoevsky.org/Raum.html (Zugriff : 13.12.05).

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Vortrag von 1930 als Ausgangspunkt der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Problem des Raums hin. 374 Bronfen analysiert den literarischen Raum in ihrer Untersuchung des Romanzyklus Pilgrimage von Dorothy M. Richardson auf drei Ebenen: Auf der ersten Ebene, auf der sie literarisch dargestellte Räume thematisiert, unterscheidet sie mit Elisabeth Ströker einen »Aktionsraum« von einem »gestimmten Raum« und einem »Anschauungsraum«. Auf der zweiten Ebene untersucht sie »metaphorische Räume« und beschreibt die als world-making verstandene Identitätsbildung der Protagonistin in Abhängigkeit von der Konstitution von Räumen.375 Auf der dritten Ebene untersucht sie den »textuellen Raum«, in dem es nicht wie auf der zweiten Ebene um eine dargestellte Auseinandersetzung von Ich und Welt, sondern um den Raum geht, der sich in der Konfrontation zwischen Leser und Text ausbildet. Sowohl die Arbeit von Bachtin als auch diejenige Bronfens bezeugen die Fruchtbarkeit der Cassirerschen Grundlegung eines diversifi zierten, relationalen Raumbegriff s sowie seiner im folgenden dargestellten Ansätze zur Bestimmung eines ästhetischen Raumbegriff s. Cassirers Anknüpfung an Adolf Hildebrand in seinem Vortrag »Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum« scheint den Zugang zum Verständnis einer spezifi sch ästhetischen Raumkonzeption zunächst zu verstellen, weist dieser doch explizit auf die Differenzen zwischen malerischem, plastischem und architektonischem Raum hin. Auch in seinem 1932 gehaltenen Vortrag »Die Sprache und der Auf bau der Gegenstandswelt« sowie in zahlreichen Nachlaßschriften arbeitet Cassirer mit dieser Differenzierung: »Die Gestaltung in den bildenden Künsten – in der Malerei, der Plastik, der Architektur – vollzieht sich nicht derart, daß sie alle ein bestimmtes Bild, daß sie gewissermaßen eine fertige Schablone des Anschauungsraumes zugrunde legen und dann in diese Schablone ihre besonderen Gegenstände eintragen. Sie alle fi nden den Raum nicht einfach vor, sondern sie müssen ihn sich erobern – und sie erobern sich ihn je auf eine eigene und ihnen spezifisch eigentümliche Weise. Sie sind nicht bloße Umsetzungen und Nachzeichnungen einer feststehenden und vorhandenen Räumlichkeit, sondern sie sind Wege zum Raum – sie bilden nicht das bestehende ›Auseinander‹ der Dinge mechanisch nach, sondern sie sind wesentlich Organe der Raumgestaltung.«376 Die des weiteren durch Wölffl in und Hildebrand formulierten Unterscheidungen von Stilrichtungen wie z. B. das »Malerische« und das »Lineare«, in denen verschiedene, historisch sich verändernde Auffassungsweisen räumlicher Verhältnisse zum Ausdruck kommen, nimmt er auf 377 und fordert explizit eine »eigene Theorie der Form- und 374 E. Bronfen, Der literarische Raum. Eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus ›Pilgrimage‹, Tübingen 1986, S. 6. 375 Ebd., S. 270. 376 ECW 18, S. 112 f. 377 Vgl. z. B. ECN 5, S. 96, 224.

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Stilbegriffe, die sowohl der Theorie der mathematisch-physikalischen Begriffe, als auch der Theorie der historischen Begriffe auf der andern Seite, gleichberechtigt zur Seite treten kann«. 378 In der Multiplikation des künstlerischen Raumbegriff s geht Cassirer sogar so weit, in bezug auf die Literatur zu formulieren, daß »jeder echte Dichter […] seinen eigenen Raum, seine eigene Zeit [schaff t]«. 379 Trotz der Differenzen zwischen verschiedenen Künsten, Kunststilen und schließlich einzelnen Künstlern hält Cassirer jedoch in Analogie zur Charakterisierung des mythischen und theoretischen Raums an der Bestimmbarkeit einer spezifi sch künstlerischen Raumgestaltung fest. Seine Ausführungen dazu bleiben in dem Vortrag von 1930 allgemein – zu Recht kritisieren seine Zuhörer den hohen Abstraktionsgrad –, und auch im weiteren Umkreis des Cassirerschen Œuvres lassen sich nur selten Konkretisierungen dieses Themas fi nden. Zu einer Betrachtung der Ausdifferenzierung des »ästhetischen Raums« in den einzelnen Künsten fühlte er sich als Philosoph »weder befugt noch befähigt«. 380 Sie sei Aufgabe der Literatur- bzw. Kunstwissenschaften. Die Linien, die Cassirer zur Unterscheidung der Raumgestaltung der Kunst von derjenigen des Mythos und der Wissenschaft in verschiedenen Teilen seines veröffentlichten und unveröffentlichten Werkes skizziert, können jedoch zu einer schlüssigen Konzeption zusammengefügt werden, die wichtige Anhaltspunkte für die konkrete Arbeit an den Phänomenen bietet.

1. Dargestellter bzw. gestalteter Ausdrucksraum Cassirer konstatiert eine Verwandtschaft zwischen mythischem und ästhetischem Raum. Wie der mythische sei auch der ästhetische Raum ein von Gefühl und Phantasie modulierter und durch »intensive Ausdruckswerte« – Atmosphären – bestimmter konkreter »Lebensraum«. 381 Der ästhetische Raum sei nicht mit dem abstrakten, richtungslosen Raum der Geometrie vergleichbar, sondern durch ein leibzentriertes Raumgefühl bestimmt. Oben, unten, rechts und links sind nicht gegeneinander austauschbar, sondern durch Gefühlswerte besetzt: Alle ästhetische Auffassung räumlicher Formen wurzelt für Cassirer in »sinnlichen Elementargefühlen«; das Gefühl für Proportion und Symmetrie ist für ihn auf das unmittelbare Körpergefühl zurückführbar. 382 Es ist die Kunst, die dem Menschen durch die Intensivierung dieser Gefühle zur »vollen Sichtbarkeit seines Leibes« verhilft und eine »neue Autonomie des Menschlichen« 383 befördert, indem sie auf die vielfältige

378 379 380 381 382 383

ECN 5, S. 245. ECN 11, S. 97. ECW 17, S. 423. Ebd., S. 422. ECW 16, S. 82. ECN 1, S. 89 f.

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sinnliche Verfaßtheit des menschlichen Lebensraumes aufmerksam macht bzw. diesen gestaltet. Der ästhetische Raum ist, durch die Unmittelbarkeit seiner sinnlichen Erfahrbarkeit bedingt, zunächst ein Ausdrucksraum. Materielle Differenzen und die dadurch bedingten spezifi schen sinnlichen Wirkungen, Gestaltungsmöglichkeiten und -grenzen sind für Cassirer dennoch nicht alleiniges Kriterium für die divergierenden Raum- und Gegenstandsgestaltungen der einzelnen Künste. Die Differenzierung der Künste nach verschiedenen »Sinnen- und Sinneskreisen« hält er zwar für fruchtbar, die Unterschiede der »Darstellungsweisen« können für ihn jedoch nicht ausschließlich im Ausgang vom Material erfaßt werden.384 Obwohl der ästhetische Raum im mythischen verankert und aus ihm hervorgegangen sei, ist er für Cassirer nicht mit diesem identisch. Der in den Künsten gestaltete Raum basiert auf der Wirkung der sinnlichen Darstellungsmittel (bzw. in der Literatur vor allem auf der Imagination sinnlicher Konkretheit). Indem sie den sinnlich wahrnehmbaren, atmosphärisch wirkenden Raum erkunden und seine Ausdruckskraft durch strategischen Einsatz intensivieren, bleiben sie jedoch nicht auf den unmittelbaren sinnlichen Eindruck des Materials reduziert. Der ästhetische Raum ist kein Ausdrucksraum, sondern gestaltet einen Ausdrucksraum. Um die Differenz zu verdeutlichen, hebt Cassirer auf das Moment der Darstellung ab, das den Raum der Kunst von dem mythischen Raum, in dem der Mensch sich als bestimmten äußeren Wirkungen und Kräften ausgesetzt erlebt, unterscheidet. Im ästhetischen Raum tritt der Mensch – mit Schiller – in das »erste liberale Verhältnis […] zum Weltall, das ihn umgibt«385. Der Mensch lebt und orientiert sich nicht mehr nur im Raum, sondern er erlebt Raum und lernt Raum kennen. Der Raum als Medium des Erlebnisses und der Gestaltung tritt in den Vordergrund wird zum Inhalt einer Vorstellung. 386 Dies ist gemeint, wenn Cassirer in für die Ohren heutiger Leser antiquiert bis metaphysisch klingender Wortwahl von »reiner Gestalt« und »reiner Darstellung«387 spricht: Der sinnliche Erlebnisraum, in dem der Mensch nicht nur affiziert und beeinflußt wird, der ihm atmosphärisch umfängt und Unbehagen oder Wohlgefühl auslösen kann, wird zur Vorstellung gebracht und gestaltet bzw. wird zur Vorstellung, indem er gestaltet wird. Es gibt für uns, schreibt Cassirer, »ein wahrhaftes Verständnis räumlicher Formen, eine plastische oder architektonische Anschauung nur dadurch, daß wir diese Formen in uns selbst zu erzeugen und uns der Gesetzlichkeit dieser Erzeugung bewußt zu werden vermögen«. 388 Die auf die Sinnlichkeit als Erlebnisraum des Menschen

ECW 17, S. 424. Ebd., S. 422, Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1793/94), in: Philosophische Schriften, Bd. II (Sämtliche Werke. Säkular-Ausgabe), S. 99 (25. Brief ). 386 ECW 17, S. 423. 387 Ebd., S. 418, 422. 388 ECW 16, S. 82. 384 385

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bezogene, an seine leiblich-sinnliche Existenz gebundene und sie dennoch reflexiv transzendierende Raumgestaltung der Kunst stellt eine der Ebenen dar, auf der Cassirer den ästhetischen Raum verortet. Eine weitere läßt sich kurz mit »Kunst als Möglichkeitsraum« bezeichnen und soll im folgenden skizziert werden.

2. Der Möglichkeitsraum der Kunst Leicht spöttisch erwidert Cassirer auf die im Anschluß an seinen 1930 in Hamburg gehaltenen Vortrag von Richard Hamann formulierte Kritik, der von einem Raum der verschiedenen Kulturgebiete ausgehen möchte, »im dem wir verschiedene Bedeutsamkeiten unterbringen«, mit einem Zitat des Physikers Hermann Weyl, daß der Raum keine »feste Mietskaserne« sei, »in den die Dinge einziehen«. »Sinnmomente lassen sich nicht nachträglich auseinanderspalten, sondern stellen ursprüngliche Differenzen dar.«389 Für Cassirer beinhaltet die Ablösung der »Containervorstellung« des Raums durch einen Raumbegriff, der in Abhängigkeit von der jeweiligen Sinnfunktion gestaltet wird, ein Moment der Befreiung, in dem die konstruktive Kraft des Menschen sowie die Formbarkeit der Wirklichkeit sichtbar werden. Zur Erläuterung greift er die Formulierung Whiteheads auf, daß Raum und Zeit als ein »System von Ereignissen« zu begreifen seien, die durch das Symbolhandeln des Menschen in Relationen gebracht werden. »Mit dieser Sprengung des starren räumlichen Schematismus«, führt er in den Nachlaßschriften zur Metaphysik der symbolischen Formen aus, »mit dieser Erhebung des Raumes zum reinen Begriffs-Raum, zum Ordnungs-Symbol, scheint die Wirklichkeit wieder etwas von jener Beweglichkeit und Flüssigkeit zurück erhalten zu haben, die ihr in den ersten ›lebensnäheren‹ Stadien der Betrachtung zukam. Wieder erscheint sie jetzt nicht sowohl als ein Ganzes von Dingen, als vielmehr als ein Ganzes von Ereignissen.«390 Doch nicht nur der Raum der theoretischen Begriffsbildung ist ein solcher gestalteter Ordnungsraum, auch in der Kunst wird der (inner)leiblich als Enge oder Weite erlebte bzw. sinnlich wahrnehmbare oder imaginierte Raum zu einem Beziehungsgefüge transformiert. Cassirer bezeichnet ihn als »Möglichkeitsraum« oder Sphäre »realer Möglichkeiten«391. In nachgelassenen Aufzeichnungen, in denen er das Verhältnis zwischen Geschichte und Kunst untersucht, verortet er die Kunst in einer Dimension, in der die »Fülle der inneren Bewegungen des Ich, die Fülle seiner Möglichkeiten« frei wird. Während die Tat, als Gegenstand der Geschichte, »räumlich-zeitlich-individuell beschränkt, begrenzt« ist und »der Fülle des Lebens,

389 390 391

ECW 17, S. 428 f. ECN 1, S. 94. ECN 3, S. 41.

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der Fülle der inneren ›Gesichte‹ nicht gerecht wird«392 , wird in der Kunst dieser Möglichkeitsraum gestaltbar. 393 Hier kann der Mensch ein »liberales Verhältnis« zum Faktischen einnehmen und durch das Nebeneinanderstellen von entfernten und somit als ungleich erscheinenden Ereignissen oder Dingen, Zusammenhänge sichtbar machen. Der Raum »anschaulicher« Darstellbarkeit wird dabei möglicherweise verlassen, der textuelle Raum, der durch die gestalteten Bezüge entsteht, ist dennoch ein »Anschauungsraum«, der Raum eines Bildes, der durch die Aufforderung an die Imagination, disparate und nur chronologisch wahrnehmbare Elemente simultan zu einer Einheit zu verdichten, entsteht.394

3. Der Raum der Kunstrezeption Symbolische Formen eröff nen, das konnte bereits gezeigt werden, einen »Denkraum der Besonnenheit« (Aby Warburg). Durch das Medium der symbolischen Form gelingt es dem Menschen, sich den als unmittelbar einflußreich erlebten Kräften des Äußeren wie des Inneren zu entziehen und sie in einen »Denkraum« zu projizieren. Sie ermöglichen es jedoch ebenfalls, einen Bezug zu räumlich-zeitlich Entferntem herzustellen. Symbolische Formen trennen, indem sie verbinden, da sie Zustände in Vorstellungen transformieren und somit unmittelbar Erlebtes verfügbar machen. Die Kunst läßt ebenfalls einen Vorstellungsraum entstehen, der sich jedoch nicht von dem Erlebnisraum trennen läßt: Sie ist »nah« und »fern« zugleich. »Wir erfassen das Kunstwerk nur«, schreibt Cassirer in den Aufzeichnungen zum Verhältnis von Geschichte und Kunst, »wenn wir unseren Standpunkt mitten in ihm selbst nehmen«. »So fühlen wir uns in der Sphaere der echten aesthetischen Betrachtung (Kontemplation) nicht unter den Helden und nicht über den Narren – wir ›sind‹ die Helden und Narren selbst, wir erfahren ihre Geschicke unmittelbar am eigenen ›Leib‹[,] und die große Kunst ist die, der diese ›Verleiblichung‹ gelingt«395 – oder, so möchte ich ergänzen, an eine solche Identifi kation appelliert und sie dennoch scheitern läßt. Mit der imaginären Transformation geht jedoch stets ein Wissen um ihren illusionären Status einher. In diesem Sinne ist die Kunst, ich habe es bereits zitiert, als ein »liberales« Weltverhältnis zu bezeichnen. Wir erleben und können uns dem Erlebnis zugleich in betrachtend-beurteilender Haltung entziehen. Dieser zwischen zwei Ebenen schillernde Charakter der Kunst ist es, der der Erfassung des ästhetischen Gegenstands Mühe bereitet und für die immer noch aktuelle Spaltung der Forschung in entweder formal operierende Kunsttheorien oder Theorien ästhetischer Erfahrung verantwortlich ist. Max Dessoir, 392 393 394 395

Ebd., S. 43. Ebd., S. 34. Vgl. hierzu oben, Abschnitt h), sowie E. Bronfen, Der literarische Raum, S. 316–331. ECN 3, S. 38.

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der Begründer der Gesellschaft für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft sowie der gleichnamigen Zeitschrift, formuliert (ebenfalls auf dem vierten Kongreß) in seinem »Ausblick auf eine Philosophie der Kunst«: »Daß Kunst erlebt werden soll, bezweifelt niemand. Natürlich kann ein Werk auch begriffen, d. h. als Natur- oder Kulturgegenstand zerlegt und erklärt werden. Aber den Sinn treffen wir nicht, ohne zu werten und zu verstehen. […] Das Erleben verkümmert, wenn es keinen Platz erhält für den Anspruch der Kunst, als Wert erfaßt zu werden. Und das Verstehen, zu dem das Innewerden sich verfeinert, gilt gleichfalls dem NichtSinnlichen, das sich hier eins zeigt mit dem Sinnlichen. Die von der Kunstwissenschaft geübte theoretische Verdeckung des Kunstwerks wird bewirkt durch die wissenschaftlich nicht zu entbehrende Sonderung von Sinn und Sein. Für die philosophische Betrachtung hingegen ist die Erscheinung untrennbar dasselbe wie die Bedeutung, ist weit mehr als bloßer Träger von Sinnhaftigkeit. Die theoretische Verdeckung führt zum Erklären und damit zur intellektuellen Erkaltung des Kunstwerks. Als Kunstforscher können wir keinen anderen Aggregatszustand der Kunst brauchen, als Metaphysiker sehen wir die Kunst in Glut.«396 Reinold Schmükker hat als einer der wenigen, die sich gegenwärtig mit dem Anspruch der Theoretiker im Umfeld von Dessoir auseinandersetzen, in seinem Aufsatz zur Aktualität des Projektes einer Verknüpfung von Ästhetik und Allgemeiner Kunstwissenschaft formuliert, daß es bei der Erfassung von Kunst darauf ankäme, »das Verhältnis der ästhetischen und der nichtästhetischen Kunstfunktionen genau zu beschreiben«. Sollte dies gelingen, wäre dem »heute modischen kunstphilosophischen Extremismus« der »Nährboden entzogen«. 397 Cassirers Bemühungen um die symbolische Form der Kunst und sein Versuch, eine Selbstbesinnung der Ästhetik zu befördern, sind in diesem Kontext zu betrachten. Auch er hat (nicht nur auf dem Gebiet der Kunstphilosophie) beständig auf die Einseitigkeiten gegenwärtiger philosophischer Richtungen hingewiesen. Möglicherweise ist seine Thematisierung der Gestaltung von Raum in der Kunst, die, wie Michaela Ott bemerkt hat, einen Bezug auf den Raumbegriff als »die letzte umfassende Bezeichnung für die moderne Vielfalt künstlerischer Stilrichtungen« aufweist, auch heute noch dafür geeignet? Cassirers Reflexionen zu den Differenzen symbolischer Formen sind insgesamt durch eine räumliche Metaphorik geprägt. Die symbolischen Formen der Sprache und der Wissenschaft, die er der »theoretischen« Gestaltung der Welt zuordnet, sind auf einer Entwicklungslinie zunehmender Distanzierung eingetragen und durch reflexiven »Raumgewinn« gekennzeichnet. Die auf Erinnerung und Inten-

M. Dessoir, »Ausblick auf eine Philosophie der Kunst«, S. 265, in: Vierter Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Hamburg, 7.-9. Oktober 1930, Bericht im Auftrage des Ortsausschusses, hg. von H. Noack, Beilagenheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 26, Stuttgart 1931. 397 R. Schmücker, »Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft. Zur Aktualität eines historischen Projekts«, S. 60. 396

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sivierung von Erfahrung gerichtete Kunst ist durch eine unlösbare Verflechtung von Nähe und Distanz gekennzeichnet. Wenn man diese dritte Dimension des ästhetischen Raumes – neben derjenigen des »dargestellten Ausdrucksraumes« und des »Möglichkeitsraumes« –, betrachtet, läßt sich eine weitere Facette des ästhetischen Gegenstands gewinnen. Blickt man nicht auf die in und durch Kunst gestaltete Räumlichkeit, sondern auf das räumlich beschreibbare Verhältnis, das der Mensch zur Kunst einnimmt, wird die zwischen sinnlich-ästhetischer Affizierung und reflexiv-begriffl icher Distanzierung changierende Stellung zum ästhetischen Gegenstand deutlich: Kunst bedeutet (unter anderem), indem sie affiziert. Hellmut Plessner, dessen Arbeiten zur Beschreibung der »exzentrischen Positionalität« des Menschen im Vergleich zum Tier Cassirer rezipiert hat,398 versucht in seiner Ästhesiologie, »einen genaueren Einblick in den menschlichen Zusammenhang zwischen Leib und Geist« zu gewinnen. In seinen 1936 auf französisch unter dem Titel »Sensibilité et raison« publizierten, in Teilen 1951 erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Reflexionen »Zur Anthropologie der Musik« 399 erörtert er in auff ällig räumlicher Metaphorik die »spezifi sche Gegenständlichkeit« der Musik und die »zuständliche Gegebenheitsweise« des durch Musik affi zierten »tönenden Leibes«, der in eine »merkwürdige Stellung zwischen Gegenständlichkeit und Zuständlichkeit« gerät. Aber auch neuere Forschungen zur Performanz der Künste haben diese »fundamentale Ambiguität« der Kunst im Blick, sofern sie nicht »Performanz« gegen »Referenz« auszuspielen versuchen. Der ästhetische Raum, den Cassirer zu beschreiben sucht, ist durch ein Ineinander von Ausdrucks- und Bedeutungsraum gekennzeichnet, der im Kunstwerk zur Darstellung kommt.

II. Zeit Während in den Kulturwissenschaften gegenwärtig »linguistische«, »ikonische«, »performative« und schließlich »geographische« (»geologische« und »spatiale«) »turns« einander verdrängen und durch einseitige Fokussierungen gelegentlich Zusammenhänge aus dem Blick geraten, ist Cassirer darum bemüht, die untersuchten Phänomene als Knotenpunkte komplexer Relationen zu betrachten. Die Lessingsche, noch ganz der Mimesistheorie verhaftete Festschreibung der verschiedenen Künste auf Raum- oder Zeitformen leuchtet ihm z. B. nicht ein, denn in jeder Kunst werde sowohl Raum als auch Zeit gestaltet.400 Cassirer untersucht symbolische Formen hinsichtlich ihrer räumlichen und zeitlichen Gestaltungsmodi sowie Siehe oben, Kapitel 1, Abschnitt e). H. Plessner, »Zur Anthropologie der Musik«, in: Jahrbuch für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1951. Das vorige Zitat fi ndet sich ebenfalls hier, S. 110, die nachfolgenden Zitate auf S. 113 und 117. 400 ECW 17, S. 426. 398

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hinsichtlich des Verhältnisses, in dem Zeit und Raum zueinander stehen: Beide »Anschauungsformen« lassen sich nicht voneinander trennen, sondern müssen in ihrem Zusammenspiel untersucht werden. Aktuelle interdisziplinäre Forschungsarbeiten zeigen, daß Musik und darstellende Künste sich im Zuge der Entwicklung der Relativitätstheorie nicht nur von dem Anschauungsraum und der Zentralperspektive gelöst haben, sondern eigene Wege der Raum- und Zeitgestaltung gegangen sind, in denen sie sich der Kompositionsverfahren der jeweils anderen Kunst angenähert haben. Constanze Peres weist in einem Sammelband zu Zeit und Raum in Musik und Bildender Kunst auf die »raumzeitlichen Strukturgemeinsamkeiten bildnerischer und musikalischer Werke«401 hin, die sie durch die (im vorangegangenen Abschnitt zum Begriff der ›Anschauung‹ beschriebene) Simultaneität der Elemente eines ästhetischen Gesamteindrucks erläutert; am Beispiel der »Polyphonie in den Bildern Paul Klees«402 thematisiert Susanne Ulbrich die Auseinandersetzung mit der Prozessualität von Kunstproduktion und -rezeption in den Werken der bildenden Kunst selbst; und Helga de la Motte-Haber diskutiert in ihrem Aufsatz »Raum-Zeit als musikalische Dimension« das »Raumdenken« in der Musik seit den Anfängen des 20. Jahrhundert.403 Auch Elisabeth Bronfen, die in ihrer subtilen und vielschichtigen Arbeit zum literarischen Raum das Hauptaugenmerk auf die Formen räumlicher Darstellung sowie räumlicher Textualität legt, wendet sich gegen eine Trennung der Dimensionen von Zeit und Raum. Zwar räumt sie ein ausgeprägtes Interesse an räumlichen Formen in bestimmten Werken der literarischen Moderne durchaus ein, doch begreift sie räumliche Textualität »vor allem als die Spannung zwischen Chronologie und Simultaneität«.404 Nicht nur die Ordnung des räumlichen Nebeneinanders, sondern auch die des zeitlichen Nacheinanders betrachtet Cassirer als einen in Abhängigkeit von einem auszusagenden bzw. dazustellenden Sinn gesetzten Zusammenhang, eine gesonderte Abhandlung zur Zeitgestaltung der Kunst hat er jedoch nicht verfaßt. Sie tritt hinter die Ausführungen zum Raum zurück und wird vor allem im Zusammenhang mit der symbolischen Form der Geschichte in den nachgelassenen Aufzeichnungen zur Geschichte, die auf den Zeitraum 1936/37 datiert werden,405 behandelt.

C. Peres, »Raumzeitliche Strukturgemeinsamkeiten bildnerischer und musikalischer Werke«, in: T. Böhme/K. Mehner (Hg.), Zeit und Raum in Musik und bildender Kunst. 402 S. Ulbrich, »Die Polyphonie in den Bildern Paul Klees«, in: ebd. 403 H. de la Motte-Haber, »Raum-Zeit als musikalische Dimension«, in: ebd. 404 E. Bronfen, Der literarische Raum, S. 317, Anm. 3. 405 Abgedruckt in ECN 3. 401

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1. Die in bzw. durch Kunst gestaltete Zeit »Historie und Poesie«, schreibt Cassirer in seinem Aufsatz »Goethe und die geschichtliche Welt«, sind »für Goethe nicht zu trennen«,406 und auch er selbst akzeptiert keine Grenzsetzung, die auf einer naiven Differenzierung von »wirklicher« Geschichte und »fi ktiver« Kunst basiert.407 Die Grundlage hierfür bildet seine Überzeugung von der Nichtidentität des Faktischen: »das [historische] ›Faktum‹ ist […] nie, gleich dem naturwissenschaftlichen, ein ›Abgetanes‹, das in seiner ›Abgetanheit‹ wiederholt wird – an ihm können sich immer neue ›Aspekte‹ ergeben –/ So können wir geradezu sagen: ein historisches Faktum ist im Gegensatz zum Faktum (experimentum) des Naturwissenschaftlers dasjenige, was nicht einfach als ewig mit sich identisch, in der Erinnerung auf bewahrt wird – sondern an dem die Erinnerung noch ständig neue Züge entdecken kann – das durch die Erinnerung gestaltbar und umgestaltbar ist«.408 Das ›Gegebene‹ begreift er nicht als »empirischfaktisch«, sondern mit Goethe als »›symbolisch‹ faktisch«,409 d. h. durch verschiedene Hinsichten organisiert. In Geschichte und Kunst werden Ereignisse nicht so betrachtet, wie sie »chronologisch« aufgereiht sind, sondern durch die Kraft des »Rückblicks« und des »Vorblicks«, der »zum Wesen unseres Ich gehört – der Monade, die ›chargé du passé et gros de l’avenir‹«410 ist –, in ein Verhältnis zueinander gesetzt, das die Kontinuität und eindimensionale Gerichtetheit der »ablaufenden« Zeit durchbricht. Das »dichterische Lebens- und Zeitgefühl« stelle sich gegen die lineare, chronologische Zeit und bilde Bedeutungszentren aus: Die Kunst »entspringt aus dem Bemühen des Individuums, sich gegen die zerstörenden Kräfte des Ganzen zu erhalten«, sie versucht dem Augenblick Dauer zu verleihen und das vergehende Leben in ein Bild zu verwandeln.411 Die künstlerische Ur-Teilung der Zeit sei Akten des Willens geschuldet, ohne den, so Cassirer, Geschichte nicht entstehen oder sichtbar gemacht werden kann.412 Diese schöpferische Synthese nehme, im Gegensatz zur theoretischen Erkenntnis, »das Ganze der schöpferischen Kräfte des Ich in Anspruch – sie kann sich vom Gefühl und Willen nicht lösen«.413 Es gibt somit nach Cassirer keine rein-rezeptive, sondern »immer nur eine produktive Form der Erinnerung«.414 Cassirer betrachtet Symbolisierungen als Handlungen, in denen der Mensch sich Spielräume für die Reflexion, aber auch für weitere Handlungen schaff t. Ins406 407 408 409 410 411 412 413 414

»Goethe und die geschichtliche Welt«, in: ECW 18, S. 363. Vgl. ECN 3, S. 18. Ebd., S. 26. Ebd., S. 91. Ebd., S. 87. Cassirer zitiert aus Leibnizens Nouveaux essais. Vgl. »Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Lotte in Weimar«, in: GL, S. 158. ECN 3, S. 112. Ebd., S. 114. Vgl. »Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über Lotte in Weimar«, S. 133.

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besondere in der Kunst manifestiert sich nicht nur die Erkenntnisf ähigkeit des animal symbolicum, sondern auch die gestaltenden Kräfte des Gefühls, der Einbildungskraft und des Willens. Die Cassirersche Symbolphilosophie ist eine Philosophie der Freiheit, die auf den »Denkraum der Besonnenheit« setzt; selten äußert er sich jedoch zu den ethischen Implikationen seiner konstruktivistischen Grundüberzeugung.415 Im Kontext der monadischen Struktur der historischen und künstlerischen Zeitgestaltung fällt jedoch der ansonsten äußerst sparsam verwendete Begriff der Verantwortung im emphatischen Sinne. Geschichte wird für Cassirer durch die Verbindung zur Vergangenheit zu einem Gewissen und trägt als »ethisch-prophetische Schau« »Verantwortung gegenüber einer neuen Zukunft, die es heraufzuführen gilt«.416 Auch hier ist der Einfluß Goethes unverkennbar: »Es gibt kein Vergangenes, das man zurücksehnen dürfte, es gibt nur ein ewig Neues, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet und die echte Sehnsucht muß stets produktiv sein, ein neueres Besseres erschaffen.«417 Kunst gestaltet einen Zeit-Raum des Denk- und Wünschbaren. Der »Möglichkeitsraum« der Kunst steht in Abhängigkeit von der monadischen Zeitgestaltung des verantwortlichen Individuums.

2. Kunstrezeption als präsentische Zeit Ein zweiter Aspekt der ästhetischen Zeitlichkeit läßt sich aus der bereits diskutierten Betonung der Intensivierung der Wahrnehmung sowie der Synchronizität der Anschauung in der Kunstrezeption ableiten. Im Gegensatz zur Extensivität der Wissenschaft, die auf die stetige Erweiterung erkannter Gesetzmäßigkeiten sowie auf die Ausdehnbarkeit ihres Anwendungsspektrums und Wiederholbarkeit, d. h. zeitlose Gültigkeit ihrer Experimente abzielt, ist für die symbolische Form der Kunst der jeweils aktuell vollzogene Akt der Rezeption von Bedeutung. Während ein Experiment für die Wissenschaft in vollem Sinne Gültigkeit und d. h. Aktualität besitzt, ohne von jedem Wissenschaftler auch praktisch nachvollzogen zu werden, ist der Rezipient von Kunst nicht substituierbar. Kunsterfahrung aus zweiter Hand ist keine Kunsterfahrung, da sie die sinnliche Wirkung des Kunstwerkes ausschaltet. Ästhetische Anschauung bewirkt eine Steigerung von Gegenwart, indem sie Wahrnehmung des Gegenstandes und Selbstwahrnehmung zugleich ist.

Vgl. B. Recki, »Kultur ohne Moral? Warum Ernst Cassirer trotz der Einsicht in den Primat der praktischen Vernunft keine Ethik schreiben konnte«, in: D. Frede/R. Schmücker (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. 416 ECN 3, S. 141 f. 417 »Goethe und die geschichtliche Welt«, in: ECW 18, S. 363. Cassirer zitiert Goethe in einem Gespräch mit Friedrich von Müller vom 4. November 1823, in: Goethes Gespräche, Bd. III, S. 37. 415

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Sie ist nicht ergebnisorientiert, sondern selbstreflexive Begleitung von Wahrnehmungsprozessen. (Ästhetische) Lust ist Lust an Gegenwart – insofern ist die Zeit der Kunstrezeption stets präsentische Zeit. Anschauung bzw. Intuition im bereits thematisierten Sinne (Abschnitt h)) unterscheidet sich darüber hinaus von der Diskursivität des theoretischen Begriff s durch die in der Rezeption herzustellende Gleichzeitigkeit der einzelnen Elemente. Bereits Leibniz hat die schrittweise Ableitbarkeit komplexer Begriffe von der Simultaneität der Intuition differenziert.418 Um zeitlich sich entwickelnde Kunstformen zu verstehen, genügt es nicht »mitzugehen«; um ihre Formen zu erfassen, ist es nötig, das sich Entwickelnde in ein Bild zu fassen.

3. Die historische Tiefendimension der Kultur in Kunst und Geschichte Wenn Cassirer in dem Aufsatz »Form und Technik« von 1930 Kunst von Technik durch verschiedene Verhältnisse zwischen Schöpfer und Werk unterscheidet und dafür den Begriff des Zeugnisses verwendet, spricht er die historische Tiefendimension an, die durch Geschichte und Kunst gebildet wird. Während die Wissenschaft und die Technik auf Fortschritt ausgerichtet sind und sich nur in ihren jeweiligen historischen Abteilungen (der Wissenschafts- und Technikgeschichte) zu ihrer eigenen Vergangenheit verhalten, ist die Kunst ohne den bedeutungskonstitutiven Vergangenheitsbezug nicht denkbar. Im Gegensatz zu Wissenschaft und Technik, die dem Fortschritt verpfl ichtet sind und sich dabei ständig selbst überholen, sind Kunstzeugnisse vergangener Zeit in diesem Sinne nie überholt. Die symbolische Form der Kunst ist eine wesentlich diachrone Form, die ihre Bedeutung auch aus dem Rückgriff, der Kontrastierung und der Transformation überlieferter Formen, Stoffe und Motive gewinnt, während die Bedeutung einer wissenschaftlichen Theorie sich synchron, d. h. ausschließlich innerhalb des Horizontes aktueller Hypothesen und Prämissen zu erweisen hat. Werner Marx hat diese Besonderheit der symbolischen Form der Kunst treffend zusammengefaßt: »Kunstwerke können und wollen […] andere oder die Gattungsgeschichte nicht so fortsetzen, wie Fortsetzung, ja Fortschritt im Bereich der Wissenschaft sich abspielt. Während Wissenschaften auf der Basis erreichter Theorie die noch offenen Probleme der Erschließung des Gegenstandes zu lösen versuchen, knüpfen Kunstwerke nicht an den Inhalt und seine verbleibenden Probleme, sondern an die Form an. Dies deshalb, weil Kunstwerke keinen von ihnen mit Sinn ablösbaren Inhalt haben und weil ihr Inhalt immer vom ›Tage‹, an die wandelbaren gegenständlichen Konstellationen der Lebenswelt gebunden ist. Wenn Kunstwerke an schon entwickelte Formen anschließen, dann heißt das jedenfalls, daß die Formengeschichte für sie wesentlich ist, daß in ihnen die Formengeschichte – als auf eine über sie 418

Vgl. oben, Teil I, Kapitel 1, Abschnitt b) und e).

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hinausdrängende Kraft – über sie hinausweist, sie öff net für Geschichte. Nicht immanent wäre demnach der Kunstcharakter zu ermitteln, sondern durch Analyse der Form, in der die Formen der Gestaltung in einem Werk oder eines Stils in ein bestimmtes Verhältnis gebracht, komponiert werden.«419

III. Zahl 1. Die Zahl als Strukturierungsmittel in der Kunst Auch in der Kunst kommt der »Zahl« bzw. der Kategorie der Quantität eine besondere Funktion zu. Sie besteht in der spezifisch ästhetischen Strukturierung von Zeit und Raum sowie der Bedeutungserzeugung durch Einzelstellung oder Wiederholung etc., zeigt sich aber auch in der künstlerischen Adaption mythischer bzw. religiöser Zahlensymbolik oder in Anleihen bei der Geometrie. »Die Malerei setzt die objektiven Gesetze der Perspektive, die Architektur setzt die Gesetze der Statik voraus: Aber beide dienen hier nur als Material, aus dem sich nun auf Grund ursprünglicher künstlerischer Formgesetze die Bildeinheit und die Einheit der architektonischen Raumgestalt entwickelt. Auch für die Musik haben schon die Pythagoreer den Zusammenhang mit der reinen Mathematik, mit der reinen Zahl, gesucht und gefordert: Aber die Einheit und die rhythmische Gliederung einer Melodie beruht nichtsdestoweniger auf völlig anderen Prinzipien der Gestaltung als denjenigen, nach denen wir die Zeit, im Sinne der Einheit des objektiven physischen Naturgeschehens, auf bauen.«420 Die Bedeutung der Zahl als Kategorie erschöpft sich nicht in ihrer begriffl ichen Fassung und Funktion für abstrakte Rechenoperationen in der Konstruktion von Gebäuden oder in der seriellen Musik; Cassirer hat auch ihre nichtbegriffl ichen Strukturierungsmodalitäten im Blick: »In der Tat scheint, lange bevor im Bewußtsein des Menschen die ersten festen Begriffe über die objektiven Grundunterscheidungen der Zahl, der Zeit und des Raumes sich bilden, diesem Bewußtsein die feinste Empfi ndlichkeit für jene eigenartige Periodik und Rhythmik innezuwohnen, die im Leben des Menschen waltet. Wir fi nden schon auf den niedersten Kulturstufen, bei Naturvölkern, die es kaum bis zu den ersten Anfängen des Zählens gebracht haben und bei denen daher von irgendeiner quantitativ exakten Auffassung der Zeitverhältnisse keine Rede sein kann, dieses subjektive Gefühl für die lebendige Dynamik des zeitlichen Geschehens oft in überraschender Schärfe und Feinheit durchgebildet.«421 Anhand der sprachlichen Entwicklung des Zahlenbegriffs weist Cassirer auf eine ursprüng419 W. Marx, »Offene und geschlossene Form«, in: Wolandt, G. (Hg.), Kunst und Kunstforschung: Beiträge zur Ästhetik. (Aachener Abhandlungen zur Philosophie 3), Bonn 1983, S. 76. 420 ECW 10, S. 124. 421 ECW 12, S. 128.

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lichere Weise der Bedeutungserzeugung hin, die in Sprache und Kunst gleichermaßen zur Anwendung kommt: »Die einfache Wiederholung des Lautes ist das zugleich primitivste und wirksamste Mittel, um die rhythmische Wiederkehr und die rhythmische Gliederung eines Aktes, insbesondere einer menschlichen Tätigkeit, zu bezeichnen.«422

2. Das Erhabene: Scheitern der Synthetisierung oder Kontinuum des Formbegehrens? Die Funktion der Zahl als Quantifi zierung bzw. Synthetisierung des Mannigfaltigen ist in der Kunstphilosophie jedoch auch unter einem weiteren Aspekten relevant, der weniger offensichtlich, für die gegenwärtige Diskussion jedoch nicht minder bedeutsam ist. Es handelt sich um das »Erhabene«, das unter Berufung auf Kant, wenn auch nicht unbedingt immer in Einklang mit seiner Fassung des Begriff s, seit nunmehr zwei Jahrzehnten die ästhetische Theoriebildung dominiert und primär als ein Scheitern des menschlichen Synthetisierungsvermögen begriffen wird. Unter dem Begriff des Erhabenen diskutiert Kant in der Kritik der Urteilskraft die Dialektik der Konfrontation mit »Phänomenen«, die von außerordentlicher Größe sind, angesichts derer der Prozeß des Zählens bzw. der Prozeß der Synthetisierung eines Mannigfaltigen an kein Ende kommt: das Erhabene ist zunächst einmal das, »was schlechthin groß ist«423, »was über alle Vergleichung groß ist«424 und somit die Grenze unseres Vermögens der »Größenschätzung« aufzeigt. Als »erhaben« wird jedoch im weiteren Verlauf der Kantischen Argumentation nicht ein Gegenstand bezeichnet425 – der »Gegenstand« wäre das Ergebnis einer gelungenen Synthetisierung –, sondern das Gefühl des Subjekts, das sich einstellt, wenn es, angetrieben durch das Scheitern der Einbildungskraft, zu der Idee der Unendlichkeit (im Falle des mathematisch-Erhabenen) oder, angesichts des schlechthin Mächtigen, zu der Einsicht in seine moralische Überlegenheit (dynamisch-Erhabenes) gelangt. Die Idee des schlechthin Großen überfordert die Einbildungskraft, aber sie macht dem Subjekt sein unendliches geistig-moralisches Vermögen bewußt und provoziert es zu weiteren Symbolisierungsversuchen. Die Bestimmung des Erhabenen erfüllt sich, so Cassirer, »wenn der Maßstab vom ›Objekt‹ in das ›Subjekt‹ verlegt, wenn er nicht mehr in einem einzelnen räumlich-gegebenen Ding, sondern in der Allheit der Bewußtseinsfunktionen gesucht wird. Wenn jetzt dieser Allheit ein ›Unmeßbares‹ gegenübertritt – dann stehen wir nicht mehr vor der bloßen ECW 11, S. 200. KU, § 25. 424 Ebd. 425 Kant bezeichnet es als eine »Supreption«, wenn auch er selbst zunächst von einem »erhabenen Gegenstand« spricht, KU § 27. 422

423

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Endlosigkeit der Zahl, die zuletzt nichts anderes als die beliebige Wiederholbarkeit des Zählverfahrens, also einen Fortgang ins Unbestimmte bedeutet: sondern dann hat sich aus der Auf hebung der Begrenzung für uns eine neue positive Bestimmung des Bewußtseins ergeben. So wird hier das Unendliche, das sich für die theoretische Betrachtung, sobald sie es als gegebenes Ganze zu fassen versuchte, in eine dialektische Idee verflüchtigte, zu einer gefühlten Ganzheit und Wahrheit gebracht.«426 In der Philosophie Cassirers nimmt das Erhabene keine herausragende Stellung ein. In Kants Leben und Lehre erörtert er es knapp, in der Philosophie der Aufklärung etwas ausführlicher und hier, im Unterschied zu Kant, nicht nur in bezug auf die Natur, sondern auch im Hinblick auf die Kunst: »Nicht nur das, was wir innerlich in reiner Anschauung gestalten und begrenzen, wirkt auf uns; sondern auch das, was sich jedem derartigen Versuch entzieht, was uns überwältigt, statt von uns geformt und bewältigt zu werden. Nirgends werden wir stärker als von diesem Ungreif baren ergriffen; nirgends erfahren wir die Macht der Natur und der Kunst so sehr, als wenn sie uns dem ›Ungeheuren‹ gegenüberstellt.«427 Wie Cassirer sich das »Ungeformte« als Element der Kunst, die sich, wie Birgit Recki festhält, »per se schon einer subjektiven Formung verdankt«428, vorstellt, erfahren wir nicht, und in der Kantischen Begriff sbestimmung hat das Erhabene auch keine großen Chancen, zum Kernbestand einer Kunstphilosophie nach Cassirer zu werden, »[d]enn durch die Beziehung des Erhabenen auf die Idee der Selbstgesetzgebung und der freien Persönlichkeit scheint es, indem es sich von der Natur loslöst, ganz dem Gebiet des Sittlichen anheimzufallen. Sein eigentümlicher ästhetischer Charakter und sein selbständiger ästhetischer Wert aber wäre in dem einen Falle so gut wie in dem andern aufgehoben. In der Tat zeigt auch die Ausführung von Kants Analyse sogleich, wie nahe wir hier dieser Gefahr stehen.«429 Indem das sinnlich Erfahrbare den Ausgangspunkt des erhabenen Gefühls bildet, in der Folge jedoch transzendiert wird, scheint das Erhabene zu einer Grenze des Symbolischen zu werden. Während die Erfahrung des Schönen den Menschen in eine intensive Verbindung mit der Welt des Sinnlichen bringt, verläßt er es im Erhabenen. Im folgenden sollen dennoch einige Aspekte der seit den 80er Jahren unter dem Stichwort des Erhabenen intensiv diskutierten ästhetischen Phänomene thematisiert werden, um auszuloten, welchen Beitrag Cassirers Symbolphilosophie für diese Diskussion leisten kann. Es handelt sich dabei 1. um das Problem der Ontologisierung eines Denk- aber nicht Darstellbaren durch Kant und Lyotard,

ECW 8, S. 316, Hervorh. ML. Vgl. z. B. ECW 15, S. 343. 428 B. Recki, »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹? Kritische Anmerkungen zu einer Kantischen Metapher bei Jean-François Lyotard«, in: Spuren. Zeitschrift für Kunst und Gesellschaft 30/31, Hamburg 1989, S. 26–39, S. 38. 429 ECW 8, S. 317. 426 427

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2. die Isolierung der scheiternden Synthetisierung des Mannigfaltigen durch Lyotard und Bohrer, 3. den Begriff des Nichtidentischen bei Heidegger und Adorno in der Interpretation von Bohrer und Welsch. 1. Angeregt durch Barnett Newmans 1948 erschienenen Essay »The sublime is now« hat Lyotard dem Begriff des Erhabenen, der einen zentralen Terminus seiner ästhetischen Theorie bildet, in den 80er Jahren zu überragender Popularität verholfen. In seinem 1982 erschienenen Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?« bestimmt Lyotard die Erfahrung des Ungenügens von Darstellungsfähigkeiten als ein »erhabenes Verhältnis zwischen Darstellbarem und Denkbarem«430 und unterscheidet zwei verschiedene Modi des künstlerischen Umgangs mit dieser Erfahrung: »Der Akzent kann auf die Ohnmacht des Darstellungsvermögens gelegt werden, auf die Sehnsucht nach einer Anwesenheit, die das menschliche Subjekt empfi ndet, auf den dunklen und vergeblichen Willen, der es trotz allem beseelt. Der Akzent kann aber auch auf das Denkvermögen […] und auf die Steigerung des Seins und den Jubel, die Erfi ndung neuer Spielregeln, bildnerischer oder künstlerischer oder ganz anderer gelegt werden.«431 Die erste Variante bezeichne eine Verfahrensweise der modernen Ästhetik, die das »Nicht-Darstellbare« als »abwesenden Inhalt« mitführe, in eine erkennbare Form integriere und nach Lyotard »nicht das wirkliche Gefühl des Erhabenen« treffe. Dieses komme in der postmodernen Ästhetik zum Ausdruck, die zwar ebenfalls das Gefühl dafür wachhalten wolle, »daß es ein Undarstellbares gibt«, und auf dieses anspiele, es jedoch bereits in einer Form der Darstellung realisiere, die »den Trost der guten Form« verweigere.432 Lyotard geht von einer »Grenze der Repräsentierbarkeit« aus, an der sich die Kunst, in dem Wunsch, die »Schuld einer Präsenz zu begleichen, die immer verfehlt wird«, abarbeite.433 Gelegentlich ist ihm der Vorwurf gemacht worden, einer metaphysischen Tradition verhaftet zu bleiben, der er doch opponieren will,434 oder es sind ihm zumindest »Motive von Transzendenz und Vertikalität«435 unterstellt worden – Lyotard scheint diese Zweifel nicht unbedingt ausräumen zu wollen, wenn er selbst seine Vorstellungen als »mythisch« und rätselhaft bezeichnet, da sie sich auf »das Ge-

430

J. F. Lyotard, »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?«, in: Tumult 4, 1982,

S. 140. Ebd. Alle Zitate ebd., S. 141 f. 433 »Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries«, in: Ch. Pries (Hg.), Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 323. 434 Vgl. K. H. Bohrer, »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie. Das Problem der universalistischen Referenz«, in: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit, Frankfurt/ Main 1994, S. 139 f. 435 Vgl. W. Welsch, »Adornos Ästhetik; eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, in: Ch. Pries (Hg.), Das Erhabene. 431

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heimnis des Seins« beziehen.436 Ob sich die Kritik durch einen kulturkritischen oder ideologischen Impetus Lyotards begründen läßt, wie Karl Heinz Bohrer meint, möchte ich an dieser Stelle nicht diskutieren, sondern statt dessen den substantivierten Formen des »Erhabenen« und des »Nicht-Darstellbaren«, mit denen Lyotard ein fühlbares Verhältnis umschreibt, auf den (Kantischen) Grund gehen und untersuchen, ob der immanente Ansatz der Cassirerschen Symbolphilosophie Lösungsansätze für das ›Metaphysikproblem‹ bereithält. Das Dilemma der Konzeption von Vernunftbegriffen, die sich denken, aber nicht darstellen lassen, fi ndet sich bereits bei Kant, nicht erst bei Lyotard, der versucht, die Kantische Konzeption des Erhabenen für die moderne Ästhetik fruchtbar zu machen. Den Konfl ikt zwischen der Einsicht, daß »alles Denken auf Anschauung abzweckt« und »Begriffe ohne Anschauung blind« sind, und dem Bedürfnis, dem dennoch über das in Raum und Zeit Gestaltbare hinausstrebenden Denken Orientierung zu geben, aber den »Ideen«, die dies leisten sollen, keine Anschauung bzw. Darstellung geben zu können, hat Kant nicht gelöst. Es ist die Unbestimmtheit ihrer Form, die zu denken gibt. Die etwas abenteuerliche Bezeichnung des »Geistgefühls« für das erhabene Gefühl bringt die Formulierungsnot zum Ausdruck, löst jedoch nicht das Problem, das er sich mit der Behauptung, Vernunftideen lassen sich »denken«, einhandelt. Dieser Konfl ikt macht bei Lyotard als das »Undarstellbare« Karriere, »Ideen« oder »Vernunftbegriffe« – die eigentlich nur ein Gefühl sind – werden bei Lyotard zu dem »Denkbaren«. In den Prolegomena hat Kant ein Denken, dem keine Anschauung entsprechen kann, als einen Halt auf der Grenze437 beschrieben und diese Grenze als ein »Sinnbild« bezeichnet,438 was anzeigt, daß das »bestimmende« Denken hier nicht in seinem Element ist. Es ist ein »problematisches Denken«, das Zuflucht in die figurative Sprache nimmt: Ein Sinnbild oder Symbol muß bezeichnen, was sich bestimmt nicht denken läßt, ist jedoch »nur ein Mittel, die Intellection zu befördern«439, und keines, sie in einer adäquaten diskursiven Formulierung zu beenden. Selbst der Begriff, der durch »viele dunkele Vorstellungen«440 bedroht wird, steht für Kant »niemals zwischen sicheren Grenzen«441 und teilt somit damit das Schicksal alles Symbolischen.442 Für das erhabene Gefühl gilt dieses Problem (wie für alle 436 J.-F. Lyotard, »Der Augenblick, Newmann«, in: ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 20. 437 Vgl. Prolegomena, § 57, in der Ausgabe von K. Pollok, S. 145. 438 Ebd. § 59 bzw. S. 150. 439 Vorlesungsnachschrift Metaphysik von Pölitz, in: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 4. Abteilung, Band 5/1 (= Bd. 18), Berlin 1968, S. 238 (154). 440 KrV B 756. 441 Ebd. 442 Vgl. B. Recki, »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹«, S. 37: »Folgte man Lyotard, so wäre nämlich nicht nur jedes Kunstwerk, sondern überhaupt alles erhaben – denn wo wollte man

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Gefühle) in potenzierter Form; es ist einzig durch wiederholte Symbolisierungsversuche notdürftig zur Mitteilung zu fi xieren. Gefühle offenbaren einen Zustand des Subjekts, und es ist leicht einzusehen, schreibt Kant, »daß Lust und Unlust, weil sie keine Erkenntnißarten sind, für sich selbst gar nicht können erklärt werden, und gefühlt, nicht eingesehen werden wollen; daß man sie daher nur durch den Einfluß, den eine Vorstellung vermittelst dieses Gefühls auf die Thätigkeit der Gemüthskräfte hat, dürftig erklären kann.«443 Die Transformation dieses Zustandes in eine Vorstellung – das Ziel der symbolischen Formung – kann nicht vollständig gelingen, denn Gefühlen ist eigen, daß sie wesentlich gefühlt werden müssen und nur sekundär vorgestellt werden können. Das Problem bei Lyotard ist, daß die »Grenze der Repräsentierbarkeit«, obwohl er zur fröhlichen Überschreitung aufruft, zuweilen als ein Fixum erscheint, das zwei abgesteckte Bereiche: den Bereich des »Denkbaren«, aber »Nicht-Darstellbaren«, und den Bereich des »Darstellbaren« trennt. Cassirer erkennt eine solche Grenze aus zweierlei Gründen nicht an, denn erstens sind für ihn Gefühle nicht per se asymbolisch. In der Diskussion von Idee und Gestalt (Teil I, Kapitel 4) konnte gezeigt werden, daß Gefühlen für Cassirer eine gestalterische Tendenz innewohnt. Sie sind der Rohstoff des Symbolisierens. Insbesondere in der Kunst geht es um die Integration eines Gefühls in eine Sicht, bei der die unmittelbare Wirkung des Gefühls nicht gänzlich aufgegeben wird. Zweitens würde er bestreiten, daß es ein nicht symbolisierbares Denkbares oder ein »konstitutiv Anästhetisches«444 gebe – zumindest könnten wir von ihm nicht wissen. Die Verbindung, die Kant zwischen der Anschauung und dem Begriff knüpft, nimmt er – wenngleich er den Begriff der »Anschauung« weiter faßt – in der Hinsicht sehr ernst, daß er auf einer sinnlichen Materialität alles Vorstellbaren beharrt, die sich in den verschiedenen symbolischen Formen zeigt. Auch »Ideen« sind für Cassirer nicht von ihrer sinnlichen Gestalt zu trennen. Seine radikal pluralistische Konzeption des Geistbegriffs wird im Verhältnis zwischen philosophischer Idee und literarischer Gestalt deutlich, das bei Cassirer explizit nicht hierarchisch ist. Die künstlerische Gestalt ist keine Rekonstruktion eines Begriff s in einem anderen Medium, sondern ein irreduzibel Besonderes. Die Konstruktion eines nicht darstellbaren Denkbaren hingegen privilegiert den (formlosen?) Gedanken vor der Form. Und so muß Lyotard sich den Vorwurf Bohrers gefallen lassen, das Erhabene zu ontologisieren und nicht strikt ästhetisch zu denken.445

schließlich etwas fi nden, das sich unseren Anstrengungen, es auf den Begriff zu bringen oder ins Bild zu setzen und es uns dadurch gleichzumachen, nicht in der beschriebenen Weise entzöge?« 443 KU, Erste Fassung der Einleitung, in der Ausgabe von H. Klemme, S. 529. 444 Vgl. W. Welsch, »Adornos Ästhetik; eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, S. 209. 445 K. H. Bohrer, »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie. Das Problem der universalistischen Referenz«, S. 140.

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Für Cassirer gibt es zwar den Bereich des Subjektiven, der sich nicht oder nicht vollständig objektiveren läßt und in unmittelbarer Selbstgewißheit besteht; und es gibt für ihn das Gefühl des Unbehagens am unzureichenden Ausdruck, von dem es keine Erlösung, sondern nur den Trost der Unabschließbarkeit von Symbolisierungsprozessen gibt.446 Der Sinn dieser in »Werken« vergegenständlichten Prozesse ist nicht, daß in ihnen ein Denkbares ein für allemal festgehalten wäre, sondern daß sie – ganz im Kantischen Sinne der »Förderung der Intellection« – weitere Symbolisierungsprozesse »entzünden«. Das vollständige Aufgehen des Geistigen im Sinnlichen würde für Cassirer das Ende aller geistigen Spannung und das Ende der Dynamik der Kultur bedeuten. Seine Konzeption eines Kontinuums des menschlichen Formbegehrens widersteht der Versuchung, angesichts der grundsätzlichen » µετáβασις ες λλο γéνος«, die jeder Darstellung inhärent ist, zu resignieren, und birgt somit ein Moment des Erhabenen. Der immanente, metaphysikkritische Kulturbegriff, der kein asymbolisches Außerhalb zuläßt, ist Cassirer jedoch wiederum zum Vorwurf gemacht worden. 1984 stellt Donald Phillip Verene in der »Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie« fest, daß Cassirer »den leeren Raum metaphysischer Argumentation umgehen möchte«, wirft ihm jedoch zugleich vor, keine »Perspektiven auf das Jenseits« zu öff nen,447 das Symbol nicht als ein Medium zu begreifen, das sichtbar macht, was unsichtbar ist,448 sondern die Grenzen dessen, was durch es bedeutet werden kann, mit den Grenzen des Erfahrbaren zusammenfallen zu lassen. Es gebe bei Cassirer »keinerlei Möglichkeit einer transzendenten Dimension des Symbols in dem Sinne, daß es ein Jenseits teilweise ansprechen könnte«449. Als Gegenentwurf zu dieser »immanenten« Symbolik setzt Verene das »Bild«, das für die poetischen und mythischen Aspekte des Symbols stehe. Im Bild artikuliere sich die Imagination, die eine vom Begriffl ichen unterschiedene Kraft des Bewußtseins darstelle. Im Bild könne das Jenseits »ergriffen« bzw. »reflektiert« werden.450 Cassirer hingegen sei unfähig, diese zweite Bedeutung des Symbols zu erfassen, denn sein Begriff des Symbols sei ein Instrument, um »Bedeutungen gänzlich innerhalb der Erfahrung herauszufi nden«.451 Cassirer hat sich zu diesem »romantischen« Kunstbegriff im Essay on Man explizit geäußert: Kunst ist für ihn eine immanente, keine transzendente Symbolik.452 Sie als symbolische Darstellung des Unendlichen zu begreifen, lehnt er ab, da sie zu einer Ignoranz gegenüber diesseitiger Schönheit führt. Vgl. die im Abschnitt f ) dargestellte Auseinandersetzung mit Simmel um die »Tragödie der Kultur«. 447 D. Ph. Verene, »Cassirers Kulturphilosophie«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2, 1984, S. 13. 448 Ebd., S. 15. 449 Ebd. 450 Ebd., S. 17. 451 Ebd. 452 VM, S. 242. 446

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Auch Hazard Adams stellt in seinem 1983 veröffentlichten Aufsatz »Thinking Cassirer« fest, daß Cassirer das Symbol innerhalb eines Systems von Relationen konzipiere. Dieses Verständnis teile er mit dem Strukturalismus, der für den Cassirerschen Begriff der »Relation« den der »Differenz« setze. Im Gegensatz zu Verene würdigt Adams jedoch den Cassirerschen Ansatz. Ein mögliches Motiv für die gelegentliche Ablehnung des Cassirerschen Symbolbegriff s, die bereits in den ersten Nachkriegsjahren (1949 in dem Aufsatz von Fritz Kaufmann Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology) zum Ausdruck gekommen sei, sieht Adams in ihrem dezidiert säkularen Charakter. Cassirers Philosophie, schrieb Kaufmann, »suffers from too much light«453. Es fehle »the need for devine mercy« und die Anerkennung einer höheren Realität. Bei Cassirer werde, so Adams, auch die Religion innerhalb des menschlichen Geistes verortet. Während Heidegger, dessen Ästhetik auch in der Nachkriegsphilosophie auf eine steile Karriere zurückblickt, die Kunst der Religion untergeordnet, ist sie für Cassirer eine unabhängige Form, ein Teil der Erzeugung von Kultur und kein Präludium zu einer negativen Theologie. Jeff rey Barash weist in seinem Aufsatz »Metacritical Reflections on Paul Ricœur’s Interpretation of Cassirer’s Concept of the Symbol« am Beispiel Ricœurs darauf hin, daß die Herausforderungen, die der Cassirersche Symbolbegriff beinhaltet, bislang weder von der Hermeneutik noch von der Phänomenologie hinreichend angenommen worden seien, was er ebenfalls auf die Dominanz Heideggers in der Forschung und die Neukantische Etikettierung Cassirers zurückführt, die er jedoch in Frage stellt.454 Denn während Kant die ›traditionellen Erwartungen‹ an den Begriff des Symbols bedient, indem er das Schema, das »lends intelligibility to particular sense impressions by plazing them in a temporal structure ruled by general concepts«455, vom Symbol trennt, welches auf dem Wege der Analogiebildung eine höhere, übersinnliche Idee repräsentiere, liege die Originalität der symbolischen Form Cassirers darin, daß sie schematisierende und symbolisierende Funktion in sich vereine: »Far from representing the unseen by way of analogy, symbolic forms are identified with the schematizing functions that are themselves embodied in the myriad ways in which human beings costruct reality through language, art, myth, religion, and science.«456 Auch Ricœurs Kritik an Cassirer sei religiös motiviert, denn er interpretiere das Symbol im Verhältnis zum Problem der Transzendenz.457 Die Differenz zwischen Cassirer und Ricœur, die ihre beiden Konzeptionen des Symbols schließlich inkompatibel mache, liege in der primär

F. Kaufmann, Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology, in: P. A. Schilpp, The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 841. 454 J. Barash, »Metacritical Reflections on Paul Ricœur’s Interpretation of Cassirer’s Concept of the Symbol«, in: Journal Phänomenologie 21, 2004, S. 10, Anm. 1, und S. 11. 455 Ebd., S. 12. 456 Ebd., S. 13. 457 Ebd., S. 15. 453

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kulturellen und immanenten Referenz der Cassirerschen Symbolphilosophie und der religiösen Inspiration der Ricœurschen Hermeneutik begründet. 2. Einen zweiten Aspekt, unter dem sich Lyotards Ausführungen zum Erhabenen, aber auch Bohrers Theorie des »Plötzlichen«, das er ebenfalls unter dem Rubrum des Erhabenen einführt, in einen fruchtbaren Disput mit Cassirers Symbolphilosophie bringen lassen, stellt die Isolierung des Momentes der scheiternden Synthese durch die Einbildungskraft dar. Lyotard bezieht sich in seiner Konzeption des Begriffs ausdrücklich auf Kant, von den beiden Phasen oder Elementen, die bei Kant das Erhabene charakterisieren – 1. das Scheitern der Synthetisierungsversuche der Einbildungskraft, 2. das (wie Christine Pries treffend formuliert) »sekundäre Dennoch-Synthetisieren«458 in der gefühlten, erhabenen Vernunftidee –, gewichtet er jedoch gelegentlich das erste über.459 Der »Wahnidee der einigenden Kraft des Geistes«460 versucht Lyotards Begriff des Erhabenen ein Schnäppchen zu schlagen, indem er die Möglichkeit einer »nicht einmal durch die elementarste synthetische Aktivität vermittelte[…], unmittelbare[…] Beziehung zur Materie« in der Rezeption postmoderner Werke unterstellt.461 Einen Zugang, der keinen Umweg über eine etwaige Bedeutung nimmt, sondern – ein alter (frommer) Wunsch der Philosophen – in »direkten« Kontakt tritt zu etwas, »das sicher im Gegebenen da ist«462 , gewährleiste beispielsweise die Farbe in der Malerei Newmans, der mit Materie arbeite, die nicht »in eine Form gebracht werden muß«463. Sie entwickle eine Art »Anwesenheit«, in der der Geist abwesend sei. Aus der Sicht der Wahrnehmungstheorie Cassirers (der dem Form/Inhalt-Problem in der Geschichte der Philosophie das vierbändige Werk Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit gewidmet hat) müssen solche Formulierungen groben Unfug darstellen, denn die Sichtbarkeit eines Phänomens ist nicht »außerhalb einer bestimmten Form der ›Sicht‹ und unabhängig von ihr zu denken«464. Das zentrale Theorem seiner Symbolphilosophie besteht in der »symCh. Pries, »Einleitung«, in: Das Erhabene. S. 25. Vgl. »Das Undarstellbare – wider das Vergessen. Ein Gespräch zwischen Jean-François Lyotard und Christine Pries«, in: Ch. Pries (Hg.), Das Erhabene, S. 322: »Der eigentliche transzendentale oder kritische Inhalt dessen, was Kant das Erhabene nennt, ist viel eher das Unvermögen zur Synthese, und man kann sich sehr wohl vorstellen, daß Künstler entweder durch Abstraktion oder Minimal Art versuchen, etwas hervorzubringen, was diese Formsynthesen zum Scheitern bringt und deshalb mit der transzendentalen Essenz des Erhabenen bei Kant ziemlich genau übereinstimmt.« Vgl. zu dieser Verkürzung durch Lyotard B. Recki, »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹«. 460 So Lyotard in: »Die Auf klärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik. Gespräch mit Jean-François Lyotard«, in: W. Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung, Hamburg 1988, S. 138. 461 Ebd. 462 Ebd., S. 139. 463 Ebd. 464 ECW 13, S. 228. 458

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bolischen Prägnanz«, die zum Ausdruck bringt, daß alles Wahrgenommene als sinnvoll wahrgenommen wird und daß alles Wahrgenommene augenblicklich als sinnvoll wahrgenommen wird.465 Wie kann, läßt sich mit Cassirer fragen, etwas wahrgenommen werden, wenn der Geist abwesend ist, wie etwas in unser Bewußtsein treten, ohne irgendeine Verbindung einzugehen? »Aber nehmen wir einmal an«, schreibt Cassirer, »daß das Wunder sich begeben könnte – daß der ›Gegenstand‹ in dieser Weise in das ›Bewußtsein‹ hineinwandern könnte. Dann bliebe offenbar immer noch die Hauptfrage ungelöst; denn wir wüßten nicht, wie diese Spur des Objekts, indem sie sich dem Ich einprägt, auch als solche gewußt werden könnte.«466 Die »Anwesenheit«, die Lyotard als eine Unterbrechung der Aktivität des Geistes konzipiert, muß von diesem wahrgenommen werden, indem er sich in ein Verhältnis zu dem setzt, was sich seinem Zugriff widersetzt. Geht man weiterhin davon aus, daß es sich bei Newmanns Who’s afraid of red, yellow and blue III um ungeformte Materie handelt, müßte man darüber hinaus fragen, was ein Bild Barnett Newmans in der Lyotardschen Deutung von einem ausgekippten Farbeimer unterscheidet. Insbesondere in den Studien Zur Logik des Kulturbegriffs hat Cassirer einen naturalistischen Blick auf Kulturphänomene kritisiert und sich für eine Unterscheidung von Objekten der physischen Natur und von Kulturphänomenen eingesetzt. Max Imdahl hat in seiner subtilen Betrachtung des Newmanschen Bildes gezeigt, daß Who’s afraid of red, yellow and blue III, obwohl es sich in einem gewissen Sinne als »antikompositionell«467 bezeichnen läßt, dennoch erstens hinsichtlich der Maltechnik nicht auf »reine Materie« reduzierbar ist, sondern seine Wirkung u. a. durch unterschiedliche Sättigungen der Flächen erziele und somit eine »Bedekkungsstruktur« aufweise. Zweitens ist es die Komposition – die zentrale rote Fläche des 2,45 m mal 5,44 m großen Bildes wird links und rechts durch einen schmalen gelben bzw. blauen Streifen begrenzt –, die bewirkt, daß die rote Farbe in ihrer Dominanz wahrgenommen werden kann: »Die Ausgedehntheit des Rot ist, so sehr sie sich der Ausgedehntheit des Bildfeldes verdankt und diese nicht nur legitimiert, nicht die Ausgedehntheit des Bildes selbst. Vermöge dieser (nur so denkbaren) Differenz zwischen Rot und Bild erscheint die Farbe nicht ans Bild gebunden […] Indem die seitlichen Randzonen das Rotkontinuum vom Bildkontinuum befreien, ist dieses selbst in das befreite Kontinuum des Rot transformiert. Das Bildkontinuum ist eine Funktion des Rotkontinuums.«468 Das Rotkontinuum kann, so Imdahls Vgl. hierzu auch B. Recki, »Freiheit und Werk. Über handlungstheoretische Kategorien der kulturphilosophischen Grundlegung bei Ernst Cassirer«, in: P.-U. Merz-Benz,/ U. Renz (Hg.), Ethik oder Ästhetik. Zur Aktualität der neukantianischen Kulturphilosophie, Würzburg 2004, S. 122. 466 E. Cassirer, »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 108. 467 M. Imdahl, »Barnett Newmann. Who’s afraid of red, yellow and blue III«, in: Ch. Pries (Hg.), Das Erhabene, S. 236. 468 Ebd., S. 241. Hervorh. ML. 465

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Schluß, »nur eine illusionistische Erscheinung sein«469, die, möchte ich ergänzen, durch die antikompositionelle Kompositionsweise Newmans bzw. die »antikompositionelle Binnenstruktur«470 des Bildes ermöglicht wird. Die an diesem Beispiel zum Ausdruck kommende »konsequente Hinwendung« zu den heterogenen »immanenten Tendenzen des Materials«, die Wolfgang Welsch in den aktuellen Tendenzen der Ästhetik und ihre Profi lierung des Erhabenen erkennt,471 deckt sich durchaus mit einem Anliegen Cassirers, der in der Pluralisierung der Idiome des Geistes die Differenzen des Mediums keinesfalls vernachlässigt, Kunst jedoch als Gestaltung von Material begreift. Für Newman selbst geht sein Bild in der zunächst desorientierenden Wahrnehmung einer überdimensionalen Farbfl äche nicht auf, sondern müsse »in metaphysischen Begriffen diskutiert werden«472 , denn sie vermitteln »the reality of the transcendental experience«473. Seine Bilder repräsentieren nichts, sondern lösen Emotionen aus, konfrontieren den Betrachter mit einem zunächst amorph erscheinenden Etwas, um ihm – und darin sind sie wiederum eine hervorragende Illustration des Kantischen Erhabenen – »a new kind of totality«474 spürbar zu machen: »I became involved with the idea of making the viewer present: the idea that ›Man is present‹«.475 »Die Konfrontation mit dieser Totalität [der großformatigen Bilder]«, interpretiert Imdahl, »soll den Beschauer emotionieren und ihn zu sich selbst bringen, sie soll die innere Struktur (›inner structure‹) des Beschauers gegen das faktisch gegebene, konventionelle Äußere freisetzen und den Beschauer zur moralischen Person erheben. Der Zusammenhang zwischen Erhabenheitserlebnis und Moralität ist gar nicht zu bezweifeln. Kunst soll ›Ethik, nicht Ästhetik‹ sein (Newman).«476 Lyotard fi ndet die Formulierungen Newmans unglücklich, denn im »Ereignis« seien »weder die Bedeutung noch die Totalität noch die Person im Spiel«.477 Es ist jedoch das Kennzeichen des Erhabenen (nach Kant), daß die Versuche, die »Totalität« bzw. die »Person« wiederherzustellen, auf die Verunsicherung durch den erschütternden Eindruck folgen. Indem Lyotard das Bild interpretiert und in seine Theorie integriert, holt er im Kommentar nach, was er dem Betrachter des Bildes unterschlagen zu wollen scheint: sich in ein Verhältnis zu dem zunächst Irritierenden zu setzen.

469 470 471 472

Ebd. Ebd., S. 247. W. Welsch »Adornos Ästhetik; eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, S. 208. Zitiert nach M. Imdahl, »Barnett Newmann. Who’s afraid of red, yellow and blue III«,

S. 249. 473 474 475 476 477

Ebd., S. 234. Ebd., S. 239. Ebd., S. 237. Ebd., S. 249. J.-F. Lyotard, »Der Augenblick, Newman«, S. 20.

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Karl Heinz Bohrer hat es wie Lyotard auf Präsenzeffekte abgesehen, läßt jedoch keinen Zweifel daran auf kommen, daß er rezeptionsästhetisch argumentiert und an einem »Geheimnis des Seins« nicht interessiert ist. Ihm gehe es ausschließlich um die »Modalität des ästhetischen Bewußtseins«.478 Mit seinen Überlegungen zur Plötzlichkeit stellt er sich jedoch in die Reihe derjenigen, die in ihrem Begriff des Erhabenen – den Bohrer im Ausgang von Heideggers »Ereignis« und Adornos »Nicht-Identischem« entwickelt – das Moment der scheiternden Synthetisierung übergewichten bzw., wie in seinem Fall, isolieren. Das »Ereignis« bzw. in Bohrers Terminologie die »Plötzlichkeit« versucht er in ihrer »kontingenten ästhetischen Phänomenologie«479 zu fassen. Die ästhetische Erfahrung sei im wesentlichen eine »Erregung« oder »Schrecken« des Rezipienten, eine »Unterbrechung des pragmatisch Gelebten«480, die er unter Verweis auf Nietzsches Defi nition des »Bewußtseinsverlusts im dionysischen Akt« erläutert.481 Neben dem oben bereits diskutierten Problem, eine Erfahrung unter Bewußtseinsverlust zu machen, ist fraglich, ob das Spezifi kum der ästhetischen Erfahrung an Kunstwerken auf der physiologischen Ebene hinreichend zu beschreiben ist. Wie unterscheidet sich dann, um es wieder auf ein Beispiel zu bringen, der Besuch einer (gut gemachten) Geisterbahn oder die Wahrnehmung eines schweren Verkehrsunfalls von der Rezeption von Kunst? Wie verhält sich Bohrers Ansatz letztlich zur »aktuellen Erziehung zum progressiven Hedonismus«482 , der sich auch durch genußvollen ›thrill‹ Befriedigung verschaffen kann? Zwar ist Cassirers Ansatz dem Bohrerschen nur bedingt kompatibel, da es ihm um eine Phänomenologie der Kunst geht, die auch, aber nicht nur, die ästhetische Erfahrung untersucht. Die ästhetische Erfahrung ist für ihn jedoch stets eine reflexive. Kunstrezeption läßt sich nicht als Zerstreuung oder Unterhaltung begreifen, sondern ist im Erfassen von Gestalten konstruktiv483 und unterscheidet sich somit von »desintegrierten Formen von Erfahrung [wie] Hypnose, Rausch oder Traum«.484 3. Die Begründung, die Bohrer für die »erhabene Präsenz« der Dichtung aus der Repräsentationskritik Heideggers und Adornos ableitet, deckt sich jedoch mit der Ablehnung einer Mimesistheorie der Kunst durch Cassirer und der radikalen Pluralität der symbolischen Formen. Zentral für Heideggers Versuch, »das Kunstwerk gegen die traditionelle Auffassung neu zu fassen«, sei, so Bohrer, »das Theorem, daß sich in ihm nicht Vorgegebenes abbilde«, sondern »etwas noch nicht

K. H. Bohrer, »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie. Das Problem der universalistischen Referenz«, S. 141. 479 Ebd. 480 Ebd. 481 Ebd., S. 139. 482 Ebd., S. 138. 483 Vgl. VM, S. 250–254. 484 Ebd., S. 256. 478

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Vorgegebenes ›ereigne‹«.485 In der Setzung des künstlerischen Aktes vollziehe sich etwas, »das in seinem Ereignischarakter von allen anderen Weisen von Dasein sich unterscheidet«.486 Abgesehen von der Privilegierung der Kunst, die er nicht gelten lassen würde, decken sich diese Äußerungen mit den Ansichten Cassirers. In jeder symbolischen Form werden ursprüngliche Setzungen vollzogen, für die es keine Vorbilder gibt. Der Ereignischarakter, den Heidegger und Bohrer hervorheben, eignet auch den Cassirerschen Ur-teilungen. Subjekt und Objekt bilden sich in der symbolischen Formung, und in diesem Sinne tradieren symbolische Formen Ereignisse. Die Skepsis bspw. gegenüber der Kategorie eines Textsubjektes, die Heidegger nach Bohrer »vorweggenommen« habe, würde (wenngleich seine Formulierung weniger pathetisch ausfiele) auch Cassirer teilen können: »Das Gedichtete ist keineswegs dasjenige, was Hölderlin von sich aus in seinem Vorstellen meinte, es ist vielmehr Jenes, was ihn meinte, als es ihn in dieses Dichtertum berufen hat. Streng genommen wird der Dichter von dem, was er zu dichten hat, allererst selbst gedichtet.«487 Nach Bohrer kritisiert Heidegger die allegorische Deutung der Kunst, die in der »Versinnbildlichung eines Anderen«488 besteht. Auch Cassirer hat sich stets gegen eine allegorische und für eine tautegorische oder symbolische Interpretation ausgesprochen.489 Heidegger ist an dieser Stelle jedoch nicht konsequent, da er auf eine ontologische Referenz des ästhetischen Ereignisses nicht verzichtet und Kunst in den Dienst der »Enthüllung« von etwas »Verborgenem« stellt.490 Der »möglichen Selbstreferenz des ›Scheins‹« werde Heidegger, so Bohrer, nicht gerecht491 – wohl aber Cassirer, möchte ich einfügen, der den Scheincharakter sowie die immanente

K. H. Bohrer, »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne: Martin Heideggers und Theodor W. Adornos Ästhetik«, in: ders., Das absolute Präsens, S. 96. 486 Ebd., S. 98. 487 Heidegger, »Hölderlins Hymne ›Andenken‹«, in: Gesamtausgabe Bd. 52, S. 13, zitiert nach K. H. Bohrer, »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne«, S. 109. 488 K. H. Bohrer, »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne«, S. 106 f. 489 Vgl. oben, Kapitel 1, Abschnitt f ). Kunst als Symbol zu begreifen, ist in der Moderne jedoch in Verruf geraten und von ihrer allegorischen Deutung ablöst worden. Nach Eva Schaper (»The Art Symbol«, in: The British Journal of Aesthetics (4), 1964) liegt dies an einem Begriff des Symbols, der auf die Romantik, insbesondere auf Schelling zurückgeht: »With Schelling in particular, who as a philosopher approached the subject of symbolic suggestiveness, the symbol conception lost the incisiveness and distinction which it had in Goethe’s formulation. The symbol concept became mystically exaggerated.« (S. 235) Für Schaper hingegen gelte es, eine Betrachtungsweise der Kunst als »symbolic presentation to its present complexity« zu entwikkeln, die bei Goethe und Cassirer anknüpfe. Für Goethe »the symbol is […] that which is and means at the same time.« (S. 234). Die sinnliche Präsenz und Konkretheit des Symbols könne nicht als Sprungbrett für eine übersinnliche Bedeutung benutzt werden, sondern ist auf ihre Weise bedeutsam. 490 K. H. Bohrer, »Das ›Erhabene‹ als ungelöstes Problem der Moderne«, S. 107. 491 Ebd., S. 98. 485

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Relationalität eines jeden geistigen Produktes hervorgehoben hat.492 Durch die Verabschiedung der Abbildtheorie nicht nur der Kunst hat sich in seinen Augen der Begriff des Bildes selbst verändert. Auch für die Grundbegriffe der Wissenschaft läßt sich der Ausdruck »Scheinbilder« verwenden.493 Symbolische Formen müssen in ihrem Scheincharakter verstanden und erst genommen werden. Die »Selbstreferenz des Scheins« besteht für Cassirer jedoch nicht in ihrem Erregungspotential, sondern in der spezifischen Gesetzlichkeit ihrer Formung: »Die künstlerische Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr.«494 Obwohl Adorno durch seine geschichtsphilosophische Konzeption ebenfalls daran scheitere, die reine »Phänomenalität des Ästhetischen« zu erfassen,495 verfahre er in seinem Begriff des Nichtidentischen, der ebenfalls in einer Repräsentationskritik begründet sei, konsequenter als Heidegger, der, so Bohrer, durch Ontologie gebremst werde. Die Nichtidentität (und Erhabenheit) der Kunst bestehe nach Adorno in ihrer Uneinholbarkeit durch den philosophischen Begriff. Wolfgang Welsch, der Adornos Ästhetik als eine »implizite Ästhetik des Erhabenen« bezeichnet, weist auf ihren »immanenten« Charakter hin, durch den sie sich von derjenigen Lyotards unterscheide. Überzeugend skizziert er den Konfl ikt, in den Adorno gerate, wenn er auf der einen Seite die Unbegriffl ichkeit der Kunst als Befreiung von Herrschaft konzipiere, auf der anderen Seite jedoch auf einen »Ausgriff auf Einheit« nicht verzichten möge, »damit im Gegenzug gegen ihn die Divergenz der Impulse sich überhaupt bekunden kann«496. Gegen die einseitige Privilegierung des Moments scheiternder Synthesis (und damit gegen Bohrer und Lyotard) läßt sich Adornos Kritik an »abstrakter Feindschaft gegen Einheit«497 lesen. Eine Kunst, die, so Welsch, »das Mannigfaltige bloß frei ließe, würde zugleich das Unterschiedene, auf dessen Artikulation es ihr doch ankomme, preisgeben«.498 Als eine Philosophie des Nichtidentischen läßt sich auch die Philosophie der symbolischen Formen begreifen, die den Gedanken von etwas, »das sicher im Gegebenen da ist«, verabschiedet und auf der Nichtidentität des Faktischen gründet:

492 Vgl. z. B. »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«, in: ECW 16, S. 90, zur »Wirklichkeit des Scheins« vgl. das Kapitel über »Symbolische Prägnanz« in ECW 13, S. 219. 493 ECW 11, S. 4, 15. 494 »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften«, in: ECW 16, S. 94. 495 K. H. Bohrer, »Philosophie der Kunst oder Ästhetische Theorie. Das Problem der universalistischen Referenz«, S. 137. 496 W. Welsch, »Adornos Ästhetik; eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, S. 195. 497 Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften Bd. 7, Frankfurt/Main 1970, S. 285, zitiert nach Welsch, S. 193. 498 W. Welsch, »Adornos Ästhetik; eine explizite Ästhetik des Erhabenen«, S. 193.

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»Jede echte geistige Grundfunktion hat mit der Erkenntnis den einen entscheidenden Zug gemeinsam, daß ihr eine ursprünglich-bildende, nicht bloß eine nachbildende Kraft innewohnt. Sie drückt nicht bloß passiv ein Vorhandenes aus, sondern sie schließt eine selbständige Energie des Geistes in sich, durch die das schlichte Dasein der Erscheinung eine bestimmte ›Bedeutung‹, einen eigentümlichen ideellen Gehalt empfängt. Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. […] Keine dieser Gestaltungen geht schlechthin in der anderen auf oder läßt sich aus der anderen ableiten, sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte geistige Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des ›Wirklichen‹.«499 Als plurale Formen des Geistes lassen sich symbolische Formen nicht ineinander übersetzen,500 und auch innerhalb einer symbolischen Form ändern sich die Interpretationen des »Faktums«. Als eine »Preisgabe des Unterschiedenen« würde auch Cassirer den Verzicht auf die Formungsleistung des Geistes begreifen. Ein generelles Absehen von der Bildung von Relationen wäre für ihn der Verzicht auf Unterscheidung. Die Differenzierung eines von einem anderen, d. h. die Profi lierung von etwas vor einem Hintergrund, ist für Cassirer die Bedingung von Wahrnehmung überhaupt; der Moment, in dem wir uns als von dem Gegenstand affiziert erfahren, uns und ihn zugleich fühlen, ist darüber hinaus konstitutiv für die ästhetische Erfahrung. Es ist schon relativ »gedankenlos«, anzunehmen, es gäbe uns als wahrnehmende und als solche formende Subjekte in der ästhetischen Erfahrung nicht.501 Mit Cassirer läßt sich mangelndes Fassungsvermögen bzw. -bereitschaft nicht als Herrschaftsverzicht feiern.

k) Der Begriff des Werks Die Zahl ist, ich habe es bereits erwähnt, für Cassirer »die Grund- und Urform aller gedanklichen Diskretion« 502 . Durch sie kann etwas als eines wahrgenommen und Verschiedenes voneinander unterschieden und bezeichnet werden. Sie bildet somit die Ur- und Grundform der Form. »Diskretion«, d. h. die Bildung oder Formung von Einheiten durch Unterscheidung und Verknüpfung, stellt die Grundlage

ECW 11, S. 7. Zum problematischen Status der Philosophie in diesem Konzept vgl. jedoch O. Schwemmer, »Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes. Zu Ernst Cassirers ›Philosophie der symbolischen Formen‹«, in: Frede, D./Schmücker, R. (Hg.), Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, S. 48–57. 501 Vgl. dazu B. Recki, »Kein ›Gefühl vors Erhabene‹«, S. 38. 502 ECW 10, S. 120. 499

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der Cassirerschen Ästhetik im weitesten Sinne des Wortes dar, die davon ausgeht, das Wahrnehmen immer ein »Wahrnehmen als« ist. Mit Goethe versetzt Cassirer die Wirkung der Form aus einem aktiven Verstand, der einer passiven Wahrnehmung gegenübersteht, in das Zentrum der Wahrnehmung. Für Cassirer ist es »die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt«.503 Lyotards Ästhetik des Erhabenen bestreitet diesen formenden Charakter der Wahrnehmung. Es ist jedoch nicht nur die postmoderne Theorie des Erhabenen, in der die gestaltende Kraft der Aisthesis in Frage gestellt und eine »unschuldige Gegenwart« 504 sowie Phänomene, die »sicher im Gegebenen da sind«, postuliert werden. Dieter Mersch wirft Cassirer vor, »das Konstruktive aller Kunst wie auch aller Erkenntnis« 505 in den Vordergrund seiner Überlegungen zu stellen und ahistorisch zu verallgemeinern. Konstruktivität gehöre »erst seit der Renaissance zum Grundbestand der Kultur« und markiere »keineswegs eine universale Eigenschaft«.506 Mersch widerspricht mit der These einer systematischen »Aussetzung jeglicher Intentionalität des künstlerischen Prozesses« in der modernen Kunst: »Die Texte und Bilder erfi nden sich selbst, unabhängig von dem, was der Künstler jeweils gewollt oder vermocht haben mag, und errichten ihre eigenen, nicht-intentionalen Ordnungen.« 507 Die Kritik am Begriff des Kunstwerks, zu der sich die Diskussion um das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt im ästhetischen Prozeß verdichtet, geht auf den Beginn des 20. Jahrhundert zurück und ist in Kunst und Theorie vielschichtig geübt worden. Sie richtet sich u. a. gegen die Konzeption des Werks als Totalität und Sinneinheit, in der Widersprüche ideologisch homogenisiert werden, gegen die Konzeption eines Künstlers, der seine genialen Ideen in einem Wurf, der in Vollendung ruhe, souverän ins Werk setze, aber auch gegen einen Wahrheitsanspruch der Kunst, der auf eine intakte Werkkategorie angewiesen sei, sowie gegen die Vorstellung einer ästhetischen Erfahrung, der eine von Werken ausgehende systematische Ästhetik nicht gerecht werden könne. Für eine Beschäftigung mit der Kunstphilosophie Ernst Cassirers ist ein Strang dieser Diskussion besonders interessant, der auf die Auseinandersetzung mit HeiECW 13, S. 231. Vgl. hierzu oben, Teil I, Kap. 2, Abschnitt f ). D. Mersch, »Kunst und Ereignis. Verzeitlichung des ästhetischen Arbeit«, Onlinepublikation unter www.guardini.de/online/op_de.html (Zugriff vom 23.1.2006), ohne Seitenzählung, Abschnitt 6. 505 Ebd., Abschnitt 2. 506 Ebd. Die Argumentation scheint mir unpräzise zu sein. Vermutlich will Mersch sagen, daß sich das Selbstverständnis des schöpferischen Menschen in der Renaissance entwickelt habe. Die folgenden Ausführungen deuten jedoch wiederum darauf hin, daß er die Eigenschaft der Kunst, Ergebnis menschlicher Konstruktion zu sein, zur Periodisierung der Kunstgeschichte verwendet. 507 Ebd., Abschnitt 6. 503

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degger, die in der gegenseitigen Rezension von Werken und in der Davoser Disputation 1929 geführt geworden ist, zwar nicht zurückzuführen, wohl aber zu beziehen ist. Bei der Bestimmung des Verhältnisses von »Ereignis« und »Werk« bzw. »Form« geht es um die Engführung zentraler Begriffe der jeweiligen Philosophien Heideggers und Cassirers, die nicht nur von theoriehistorischem Interesse ist und die Rezeptionsgeschichte der beiden Philosophen prägt, sondern ebenfalls für aktuelle Diskussionen um Kunst und ästhetische Erfahrung von Bedeutung ist: Es läßt sich weder leugnen, daß es Kunstformen gibt, deren Besonderheiten mit dem Werkbegriff nur unzureichend gefaßt werden können, noch kann ignoriert werden, daß der Werkbegriff auch von den modernsten Künsten offensiv reklamiert wird: »Unbeeindruckt von den Experimenten auch der Neoavantgarde, blieb […] der größere Teil zeitgenössischer Produktion […] werkfi xiert.« 508 Indem im folgenden der Cassirersche Begriff des Werkes profi liert wird, soll versucht werden, eine zugespitzte Kontroverse ein Stück weit zu entschärfen. Oswald Schwemmer hat sich mit diesem Thema bereits in mehreren einschlägigen Veröffentlichungen beschäftigt, in denen er dem Werkbegriff im Kontext der »Basisphänomene« nachgeht, die Cassirer in nachgelassenen Schriften entworfen hat, seine ethische Relevanz aufzeigt und ihn ins Verhältnis zur Heideggerschen Konzeption des Ereignisses setzt.509 Er geht davon aus, daß Cassirer in der Konzeption der drei Basisphänomene Ich, Wirken und Werk 510 eine Kritik Heideggers aufnehme, der ihm vorgeworfen habe, »nur die Leistungen des menschlichen Geistes, dessen ›terminus ad quem‹« zu bedenken, »nicht aber auch die ursprüngliche Verfaßtheit des menschlichen Daseins, den ›terminus a quo‹«511, und zu verdeutlichen suche, daß die Bedeutung der Form nicht erst auf der Ebene des Werkes, sondern bereits auf der untersten Stufe der Bewußtseinsphänomene zum Tragen komme. Zu den »Leistungen« des menschlichen Geistes zählt Cassirer auch das 508 J.-P. Pudelek, Art. »Werk«, in: K. Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriff e, Bd. 6, Stuttgart-Weimar 2005, S. 524. 509 O. Schwemmer, »Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen. Zu Cassirers Konzeption eines vierten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie, 1992/2, ders., Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 158–161 sowie S. 197–219, ders., »Ereignis und Form. Zwei Denkmotive in der Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer«, in: D. Kaegi/E. Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, (Cassirer-Forschungen 9), Hamburg 2002. Der Begriff des Ereignisses ist von Heidegger erst in den 30er Jahren entwickelt worden (vgl. die Randbemerkung zum »Brief über den Humanismus«, in der Heidegger das »Ereignis« als »Leitwort seines Denkens seit 1936« bezeichnet: Gesamtausgabe, Bd. 9, Frankfurt 1976, S. 316.), in seiner Kritik an der Bedeutung des Werkbegriff s bei Cassirer jedoch bereits angelegt. Trotz dieser historischen Unschärfe halte ich es für fruchtbar, die Differenzen zwischen Heidegger und Cassirer an diesen Begriffen festzumachen, da der Begriff des Ereignisses sich in kunsttheoretischen Positionen, die heute von Heidegger ausgehen, sedimentiert hat. 510 Vgl. dazu oben, Kapitel 1, Abschnitt e). 511 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 202.

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Ich-Phänomen, das sich als »Präsentation des Bewußtseinslebens« vom Leben als Prozeß oder Ereignis unterscheidet. Form und Ereignis sind für ihn nicht zu trennen, »weil die Form den Ereignissen überhaupt erst deren Identität« gibt 512 : »Die Form ist es, die Erkennen und Wiedererkennen vermittelt und ohne die alles versinken würde in dem Strom, der die erste aller Realitäten ausmachen soll, obwohl er doch nichts tut, als alle Realität auszulöschen.« 513 Im Wirken oder Handeln, dem zweiten Basisphänomen, zeigt sich ebenfalls Form, sofern es sich in »Ausrichtung an einer Gestalt vollzieht« 514 ; im Werk dann erfüllt sich das Wirken. Heideggers Kritik richtet sich auf den Übergang vom Ereignis zur Form, da die Darstellung eines Ereignisses eine neue Realität schaffe, eine »neue Art von Wirklichkeit, die sich anders strukturiert als die Ereignis-Wirklicheit«.515 Heidegger moniert, daß die Darstellung dem virulenten Ereignis eine Identität zuweise und damit den »faulen Aspekt eines Menschen« fördere, anstatt ihn »zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals«.516 Sie imprägniert ihn gleichsam gegen die Beunruhigung, die von einem nicht-identischen Geschehen ausgehe. Anstatt sich dem Anderen seiner selbst auszusetzen, verschanzt sich der Werkschaffende hinter der Festung seines Produktes. Heideggers Kritik richtet sich generell gegen die gesamte Kultur, doch Cassirers Verteidigung ist nicht weniger grundsätzlich und bewegt sich auf drei verschiedenen Ebenen: Die erste ist eine wahrnehmungstheoretische Ebene, die bereits mehrfach angesprochen worden ist und bei der es weniger um das Werk im speziellen, sondern allgemeiner um die Form geht. Nach Cassirer steht das Subjekt zu einem in seinem ursprünglichen Charakter verharrenden Ereignis in keinerlei Verhältnis. Sobald es etwas wahrnimmt, vollzieht sich eine µετáβασις ες λλο γéνος, in der das Wahrgenommene eine Form erhält. Das Leben, das Ereignis oder der Prozeß, bleiben ohne diese Form verborgen. »Eine Selbsterfassung des Lebens ist nur möglich, wenn es nicht schlechthin in sich selbst verbleibt. Es muß sich selber Form geben; denn eben in dieser ›Andersheit‹ der Form gewinnt es, wenn nicht seine Wirklichkeit, so doch erst seine ›Sichtigkeit‹.« 517 Die gestaltende Identifi kation ist für Cassirer eine conditio sine qua non der Wahrnehmung. Der zweite Aspekt, unter dem sich die Symbolphilosophie Cassirers für die Diskussion um Werk oder Ereignis als fruchtbar erweist, betriff t den Begriff des Werkes selbst, den er vor allem in seinen späten Schriften zur Logik der KulturwisEbd., S. 210. Ebd. 514 Ebd., S. 211. 515 O. Schwemmer, »Ereignis und Form«, S. 50. 516 Ebd., »Ereignis und Form«, S. 51. Vgl. M. Heidegger, »Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger«, in: Kant und das Problem der Metaphysik, Gesamtausgabe Bd. 3, S. 291. 517 ECW 13, S. 45. 512 513

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senschaften ausgearbeitet hat. Cassirer geht zwar von der Kultur als einer »Sphäre werkhafter Objektivationen« 518 aus; der ontologische Status der Werke ist jedoch, so Birgit Recki, »nicht durch ihren dinglichen Charakter zu bestimmen«.519 Werke sind für Cassirer »Haltepunkte« und in die »das jeweilige Resultat überschreitende Prozessualität einer permanenten Produktion« eingebettet.520 Der Schutzwall der Identität, hinter dem Heidegger den Autor eines Werkes versteckt glaubt, ist keineswegs uneinnehmbar und soll es auch nicht sein: Nur in der produktiven Aneignung der Rezeption entfaltet sich das Leben der Kultur. Der Werkcharakter kommt erst auf der Ebene der Rezeption zur Geltung – wie sollte es auch anders sein bei einem Theoretiker, der sich in der Nachfolge Kants von der Ontologie verabschiedet und Phänomene als Niederschlag kreativer Wahrnehmungsprozesse begreift. Obwohl sich Werke unserer Anstrengung, die von Formen gelenkt wird, verdanken, läßt sich gar nicht oft genug betonen, daß sie für Cassirer das Ergebnis der Auseinandersetzung von Subjekt und Objekt, in anderen Worten: die »Vergegenständlichung menschlicher Objektbeziehung«521 und nicht Realisierungen oder Materialisierungen einer vorgängigen Idee sind. »Mit der Schaff ung eines Werkes«, so Oswald Schwemmer, »lassen wir jeweils eine Form sich realisieren, die als Form nicht unser Produkt ist, die sich vielmehr ergibt aus dem wechselseitigen Spannungsverhältnis zwischen der Absicht des Handelnden und der Eigenständigkeit des ›Materials‹, dem ständigen Hin und Her von Vorstellung und Wollen auf der einen und dem Auftauchen der Wirkungen in der Wirklichkeit des Werkes auf der anderen Seite.« 522 Eine dritte Diskussionsebene betriff t die Funktion des Werkes, die es nicht nur für das Individuum, sondern für den »Auf bau einer ›gemeinsamen Welt‹« hat.523 In der Funktionsbestimmung werkhafter Objektivierungen unterscheidet sich Cassirer nicht von Kant, für den Kultur auf das engste mit dem Begriff der Humanität verbunden ist und unter anderem die Entwicklung der Fähigkeit meint, »sich innigst und allgemein mitteilen zu können« 524. Werke haben für Cassirer die Aufgabe, Brücken von Individuum zu Individuum 525 oder von »von einem IchPol zum andern« 526 zu schlagen. Der Begriff des Werkes ist in diesem Sinne eine

518 B. Recki, »Freiheit und Werk. Über handlungstheoretische Kategorien der kulturphilosophischen Grundlegung bei Ernst Cassirer«, S. 120. 519 Ebd. 520 Ebd., S. 123. 521 J.-P. Pudelek, Art. »Werk«, S. 585. 522 O. Schwemmer, Ernst Cassirer, S. 213. 523 »Dingwahrnehmung und Ausdruckswahrnehmung«, in: LK, S. 42. 524 KU, § 60. 525 Vgl. »Davoser Disputation«, S. 292. 526 »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 110.

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»handlungstheoretische Kategorie« 527, denn es ist, so Cassirer, »im Grunde nichts anderes als eine menschliche Tat, die sich zum Sein verdichtet hat, die aber auch in dieser Verfassung ihren Ursprung nicht verleugnet«.528 Es befreit »aus dem Ereignis zur Form« 529 und macht in dieser Formgebung nicht nur etwas sichtbar, sondern macht es – und jemanden – für einen anderen sichtbar: »Weil die Formen, in denen wir uns präsentieren, unser Sein für andere sind, sind sie auch das, woran andere sich allein halten können, wenn sie sich auf uns beziehen.« 530 In der Setzung des Werkes öff nen wir uns für einen anderen und geben uns zu erkennen, und so steckt in der Werke erzeugenden Aktivität nach Schwemmer, der hiermit eine Brücke für Heidegger baut, über die derjenige, der sich zwar dem Anderen, aber nicht den Anderen öff nen möchte, wahrscheinlich nicht gehen würde, nicht nur ein Sich-Setzen, sondern auch ein Sich-den-anderen-Aussetzen.531 Schwemmer weist unter diesem Aspekt auf die ethische Bedeutung des Werkes hin, die darin liege, »daß dieses Werk seinen Autor als jemanden präsentiert, der dieses Werk gewollt und geschaffen hat und der in diesem seinem Wollen und Wirken einen Teil seiner ›Persönlichkeit‹ sozusagen ›publiziert‹ hat«.532 Durch die »Veröffentlichung« von Werken »kann ein Miteinanderhandeln und überhaupt ein Austausch miteinander entstehen. Zum anderen ist eben die Individualität nur durch die Schaff ung eines Werke zu erreichen, ist die Selbstartikulation nur in einer Gestaltungsleistung möglich, an deren Ende das ›Werk‹ steht«.533 In der gegenwärtigen Diskussion über Kunst sind diejenigen Positionen, die den Begriff des Werkes verwerfen und in der Nachfolge Heideggers den des Ereignisses profi lieren, zwar verhältnismäßig stark vertreten, die Ablehnung des Werkbegriff s ist jedoch keinesfalls einstimmig. Im folgenden möchte ich den Cas-

B. Recki, »Freiheit und Werk«, S. 122. »Die ›Tragödie der Kultur‹«, in: LK, S. 127. 529 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 219. Vgl. auch die treffende Beschreibung der befreienden Formgebung durch Wolfgang Marx, »Offene und geschlossene Form«, in: G. Wolandt (Hg.), Kunst und Kunstforschung: Beiträge zur Ästhetik. (Aachener Abhandlungen zur Philosophie 3), Bonn 1983, S. 78: »Marcel Proust hat sein Werk als das Mittel bezeichnet, den ›Terror des Augenblicks‹ zu brechen; das bedeutet für ihn, dem nur auf den Augenblick fi xierten Gefühl die Ohnmacht isolierter freudiger Impulsivität oder die Dumpf heit eines namenlosen Schmerzes zu nehmen. Dem Gefühl Weite und Dimension zu geben, das bedeutet, die Subjektivität aus bloßer Reaktivität zu befreien. […] Kunstwerke, die Formenkonzentrationen sind, an denen die über sie hinausgehende Geschichte wirkt, sind Bedingungen, daß Chaos der Gefühle in einem integrierten, beherrschbaren Zusammenhang zu lichten und mit der der Formengeschichte ablesbaren Vielfalt und Zusammengehörigkeit von Gefühlen in ihren Ausdrücken das Bewußtsein der Variabilität der eigenen Gefühle zu entwickeln: ein Bewußtsein von einer Freiheit, die aber immer in einer Gestalt gehalten bleibt.« 530 O. Schwemmer, »Ereignis und Form«, S. 61. 531 Ebd., S. 62. 532 O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, S. 158. 533 Ebd., S. 161. 527

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sirerschen Werkbegriff als »handlungstheoretische Kategorie« sowie vor seinem wahrnehmungstheoretischen Hintergrund noch ein Stück weiter verteidigen und schließlich das »Ereignis« im Denken Cassirers kurz erläutern. Martin Seel geht in seiner Ästhetik des Erscheinens davon aus, daß die »Transzendierung des Gestalthaften zu den Grundmöglichkeiten ästhetischer Wahrnehmung gehört«.534 Damit scheint er zunächst eine Weise ästhetischen Erscheinens anzunehmen, die mit der Cassirerschen Ästhetik nicht vereinbar ist. Ich meine jedoch, daß ein solches Erscheinen, »das nicht als ein Zusammenhang von Erscheinungen erfaßt oder als Spiel von Erscheinungen verfolgt werden kann« 535, durch den handlungstheoretischen Werkbegriff Cassirers durchaus gedeckt ist. Bei näherer Betrachtung lassen die Überlegungen Seels eine Grundlage erkennen, die auch diejenige Cassirers ist, und zwar Leibniz. Denn daß die Diskriminierbarkeit von Elementen im ästhetischen Eindruck an ihre Grenze kommt, hat Leibniz ausgeführt. Es ist das Kennzeichen einer klaren, aber konfusen Wahrnehmung, daß einzelne Bestandteile aufgrund ihrer Qualität oder Vielzahl nicht unterschieden werden können.536 Martin Seel thematisiert einen Extremfall dieses Phänomens und nennt ihn »Rauschen« 537. »Rauschen« sei eine Erfahrung »gestaltloser« (wie er etwas irreführend formuliert), aber aufgrund ihres Arrangements »nicht ungestalteter« Wirklichkeit.538 Dem als »Rauschen« wahrgenommenen Phänomen fehle es zwar an Binnendifferenzierbarkeit, als ein »Rauschen« sei es jedoch unterscheidbar: »Besonders für das Kunstrauschen ist diese Bestimmbarkeit des Charakters eines Rauschen trotz Unbestimmbarkeit seiner Charaktere wichtig. So wenig es im Rauschen etwas Bestimmtes zu erkennen gibt, soviel kann es bei einem Kunstwerk am Rauschen zu erkennen geben: an seiner Art, seiner Macht, seiner Stellung im Werk, zu anderen ›rauschenden‹ Werken usw.« 539 Es ist (mit Leibniz) gerade das Auszeichnende ästhetischer Phänomene, daß sie als komplexes Gesamtphänomen wirken und einen charakteristischen Eindruck hinterlassen. Rauschen ist für Seel – wie für Leibniz, auf den er sich jedoch nicht bezieht – »immer eine Sache des Grades« 540 und bleibt als ein Rauschen klar, aber nicht bestimmt erkennbar. Auch diese Form der ästhetischen Erfahrung bestimmt Seel als ein »alshaftes Weltverhältnis« 541, dem eine »ästhetische Handlung« zugrunde liege. Kunst ist für

M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 227. Ebd., S. 226. 536 Vgl. oben, Teil I, Kapitel 1, Abschnitt b) und e). 537 Ein Beispiel, das Leibniz häufi g anführt, ist das Meeresrauschen, das sich aus einer Vielzahl von Geräuschen einzelner Wellen zusammensetzt, die im Hörerlebnis jedoch nicht unterschieden werden können (Teil I, Kapitel 1, Abschnitt b). 538 M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 237. 539 Ebd., S. 233, Anm. 11. 540 Ebd., S. 232. 541 Ebd., S. 234 534 535

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Seel als »Konstruktion« oder »Darbietung« immer ein »artikuliertes Gebilde«. Sein Versuch, »Kunstrauschen« als »gestaltlose, aber nicht ungestaltete Wirklichkeit« zu begreifen – man könnte es in Anlehnung an Imdahl auch »antikompositionelle Komposition« nennen –, verzichtet nicht auf den Werkbegriff. Denn es gibt, so Seel, nichts Erscheinendes in Kunst, was nicht durch die Konstruktion des Werkes zum Erscheinen gebracht werden würde.542 Das Ausspielen von Prozessualität gegen Form hält er für falsch: »Das Rauschen ist ein Extremzustand der künstlerischen Artikulation, bis hin zu Phasen eines reinen – bedeutungslosen – Erscheinens, die jedoch ihrerseits zum operativen Kalkül des Kunstwerks gehören.« 543 Auch Franz Koppe verteidigt den Begriff des Werks und profi liert ihn in seinem Handlungscharakter. Wie Cassirer hält er strikt an der Differenzierung von Natur- und Kulturbegriffen fest und polemisiert gegen naturalistische Ansätze in der Literaturwissenschaft, die auf quasi sich selbst in Szene setzende Materialität abheben: »Literarische Verfahren sind […] keine physikalischen Fakten (und auch nicht auf solche zu reduzieren), sondern kommunikative Handlungsweisen.« 544 »Das Ästhetische ist«, so Koppe, »zuerst Menschenwerk, nämlich Kunstwerk: und in diesem elementaren Sinn ist der Werkcharakter der Kunst erst recht unhintergehbar.« 545 In dem Kapitel »Avantgarde als Prüfstein« seiner Grundbegriffe der Ästhetik entlarvt er das Theorem der »écriture automatique« als Illusion, indem er in Texten des Surrealismus nicht das Auf heben von gestalteter Form, sondern eine »besonders innovatorische Art und Weise der Formgebung« als »Strategie« und »kalkulierte Textinszenierung« 546 ausmacht. Auch die scheinbar ohne gestaltende Eingriffe des Menschen entstehende aleatorische Kunst führt er auf »subtile Verfahren mechanisierter Zufallserzeugung« 547 zurück, in der eine Machart von Kunst durch eine andere ersetzt werde. In der Zufallskunst entstehe eine Spannung von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, in der das Zuf ällige signifi kant werde und »kein bloß unterlaufender, sondern kompositorisch beherrschter, formgebundener Zufall« sei.548 In Duchamps ready-mades, in denen Alltagsgegenstände durch den Akt der Deklaration zu Kunstwerken transformiert werden, wird die handlungstheoretische Bedeutung des Kunstwerkbegriff s schließlich offensichtlich.

Ebd., S. 245. Ebd., S. 246, Anm. 23. Vgl. auch Pudelek, Art. »Werk«, S. 587: »Auch in ihnen [den »ausstellenden Medienkünsten«] geht es um die Bestimmung des Themas, die Wahl der Einstellungen, die Zusammenführung der Ausschnitte, die Art und Weise, wie das Gezeigte vermittels des technischen Apparates in Szene gesetzt wird, um als Wirklichkeit zugänglich zu werden.« 544 F. Koppe, Grundbegriff e der Ästhetik, S. 21. 545 Ebd., S. 194. 546 Ebd., S. 182. 547 Ebd., S. 187. 548 Ebd. 542 543

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Das »Ereignis« wiederum, das gegenwärtig gegen den Begriff des Werkes ins Feld geführt wird, hat auch einen Ort in der Kulturphilosophie Ernst Cassirers. Denn Cassirer geht in seiner Konzeption der symbolischen Formung nicht von der Repräsentation als Wiederholung von etwas Vorgängigem, bereits Gewußtem aus. Im Gegenteil: Die symbolische Formung ist eine ursprüngliche Setzung, durch die Subjekt und Welt erst werden. Im Werk, in der Auseinandersetzung mit dem werdenden Werk, kommt es zu Setzungen, in denen der Künstler sich und seine Welt »schaff t«. Dieser Akt, in dem sich Sinn und Sinnlichkeit verbinden, läßt sich insofern als ein Ereignis im Sinne Lyotards begreifen, als für ihn gilt, »daß man nicht bereits weiß, was geschieht«.549 Die symbolische Formung im Sinne Cassirers ist Akt und Ereignis.550 In dem Aufsatz »Le langage et la construction du monde des objets« von 1933 verdeutlicht er ihren originären Charakter am Beispiel von Kleists Abhandlung »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« und weist auf die »force originelle caractéristique du langage, presque toujours méconnues ou négligées des purs théoriciens« hin. »Il [Kleist] part du fait que le rôle du langage ne se borne nullement à communiquer des pensées préexistantes, mais qu’il est un médiateur indispensable pour la formation de la pensée, pour son devenir interne. Le langage n’est pas une simple transposition de la pensée dans la forme verbale; il coopère essentiellement à l’acte primitif qui la pose. Il ne réfléchit pas seulement au dehors le mouvement interne de la pensée, mais il est pour elle un thème, un stimulant et une cause motrice de première importance. L’idée ne préexiste pas au langage, elle se forme en lui et par lui. ›Le Français dit: l’appétit vient en mangeant; cette loi empirique reste vraie quand on la parodie en disant: l’idée vient en parlant.‹« 551 Im Unterschied zu Lyotard, der davon ausgeht, daß etwas da sein kann, »bevor das, was da ist, irgendeine Bedeutung hat« 552, steht nach Cassirer jedoch alles J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989, S. 16. Cassirer insistiert auf der Freiheit und Verantwortlichkeit des Kulturschaffenden, ohne die Widerständigkeit des Materials und die Rückkopplungsprozesse, die sich im Schaffensprozeß vollziehen, außer acht zu lassen. Möglicherweise liegt im Begriff des Akts eine Vermittlung zwischen der von Mersch inkriminierten Intentionalität bei der Entstehung eines Kunstwerkes, die ein unabhängiges Setzendes voraussetzt, und der Annahme einer Selbsterfi ndung des Kunstwerks, aus dessen Prozeß der Künstler ausgeblendet ist. Im Anschluß an den Lacanschen Begriff des Aktes formuliert Slavoj Žižek: »Der Akt unterscheidet sich vom aktiven Eingreifen (der Aktion) dadurch, daß er seinen Träger radikal umformt: Der Akt ist nicht einfach etwas, das ich ›vollziehe‹ – nach dem Akt bin ich buchstäblich ›nicht derselbe wie vorher‹. In diesem Sinne könnten wir sagen, daß sich das Subjekt dem Akt eher ›unterzieht‹ (‚durch ihn hindurchgeht‹), als daß es ihn ›vollzieht‹. Im Akt ist das Subjekt ausgelöscht und wird in der Folge ›wiedergeboren‹ (oder auch nicht); der Akt bringt also eine Art von temporärer Finsternis, eine Aphanisis (ein ›Fading‹, Schwinden) des Subjekts mit sich.« Siehe ders., Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes, Köln 1993, S. 42. 551 »Le langage et la construction du monde des objets«, in: ECW 18, S. 288 f. 552 J.-F. Lyotard, »Der Augenblick, Newmann«, S. 20. 549 550

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in einer »Sicht«, sobald es »sichtig« wird. Über das Rätsel des Hervorgehens von etwas, d. h. über seinen vorkritischen Zustand (vor der Ur-teilung), können wir nichts wissen. Selbst das Gefühl, in dem sich für Lyotard dieses Rätsel artikuliert, hat für Cassirer bereits eine Tendenz, das »Rauschen« hat einen Charakter, wenn auch keine Charaktere. Ein »spurloser Augenblick« hinterläßt keine Spuren im Bewußtsein, das Ereignis einer symbolischen Formung wird jedoch in der symbolischen Form tradiert. Unter diesem Aspekt steht Cassirer daher eher in der strukturalistischen Tradition, denn das Ereignis der primären Setzung vollzieht sich für ihn im Rahmen eines Mediums, das in seinen Transformationen fortbesteht. Ein Kunstwerk ist mehr als ein Ereignis, denn es ist ein Medium, durch das sich Zustände zu Vorstellungen transformieren. Wenn man Cassirer hinsichtlich seines Verständnisses des Ereignisses einem Denker der Postmoderne vergleichen wollte, wäre es eher Derrida als Lyotard: »Nie kann ein Zeichen ein Ereignis sein, wenn Ereignis etwas unersetzlich und irreversibel Empirisches sein soll. Ein nur ›einmal‹ vorkommendes Zeichen wäre keins.« 553 Das Symbolisieren vollzieht sich für Cassirer immer in Relationen; es ist ein Akt des Verbindens und Unterscheidens, und so gibt es nichts, was sich außerhalb dieser Relationen aufweisen ließe. Als Kant die Vernunftideen konzipierte, die sich nicht innerhalb der für den Verstand nötigen Rahmenbedingungen darstellen lassen, schrieb er, daß man sich »auf der Grenze halten« müsse und nur durch Verhältnisbildung ans Ziel kommen könne; Heidegger hingegen fordert den »Sprung« in ein anderes Denken 554 – Cassirer springt nicht.

l) Kunst als selbstrefl exive Darstellung von Ausdruck »Wenn man als die beiden Extreme, zwischen denen alle Kulturentwicklung sich bewegt, die Welt des Ausdrucks und die Welt der reinen Bedeutung bezeichnen kann, so ist in der Kunst gewissermaßen das ideale Gleichgewicht zwischen beiden erreicht.« 555 Kunst gestaltet Ausdruck und erreicht durch diesen bewußten Einsatz eine neue Ebene, die »Sphäre der reinen Darstellung«.556 Was meint Cassirer damit? Zunächst einmal ist Kunst wie alle symbolischen Formen Ausdruck menschlicher Kreativität: »Die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur, die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Kunst, die Religion werden so, bei all ihrer inneren Verschiedenheit, zu Gliedern eines einzigen großen Problemzusammenhangs – zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen 553 554 555 556

J. Derrida, Die Stimme und das Phantom, Frankfurt/Main 1979, S. 103. M. Heidegger, Identität und Diff erenz, Pfullingen, 6. Aufl age 1978, S. 20 f. und 28. »Form und Technik«, in: ECW 17, S. 180. ECW 17, S. 422.

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sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden.« 557 Geht es allerdings um die Bestimmung des spezifi schen Gestaltungsbereichs oder Phänomenkomplexes der Kunst im Unterschied zu anderen, und das heißt um ihre Verortung in dem »allgemeinen Plan der ideellen Orientierung«, durch den »die Stelle jeder symbolischen Form« bezeichnet werden kann,558 führt diese nichtterminologische oder »maximalistische« 559 Fassung des Begriff s »Ausdruck«, die Cassirer für alle kulturellen Produkte der Eindrucksverwertung und -verwandlung verwendet, nicht weiter. Der auch innerhalb der Geschichte der Ästhetik zentrale Begriff des »Ausdrucks« hat bei Cassirer neben der weiten eine engere, terminologische Fassung und bezeichnet, ebenso wie die Begriffe »Darstellung« und »Bedeutung«, ein bestimmtes Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt, und zwar demjenigen Objekt, das es selbst geschaffen hat. »Ausdruck«, »Darstellung« und »Bedeutung« markieren Reflexionsstufen 560, d. h. Positionen auf einer Skala, welche die Distanz mißt, die kulturschaffende Wesen auf dem Weg von einem Zustand unmittelbarer leiblicher und emotionaler Betroffenheit zu demjenigen freier, selbstbewußter Tätigkeit zurücklegen können. »Ausdruck« bezeichnet im Rahmen der Philosophie der symbolischen Formen eine Subjekt/Objekt-Relation, in der die Trennung zwischen beiden nicht vollzogen, der »Denkraum der Besonnenheit« noch nicht eröff net ist. Der Mensch, der Mythen schaff t und in Mythen lebt, ist sich ihrer als eigenen Schöpfungen nicht bewußt. Durch die »völlige Indifferenz zwischen dem Bild und seinem Bedeutungsgehalt« 561 steht er unter dem unmittelbaren Einfluß derjenigen Kräfte, mit denen er seine mythischen Schöpfungen belehnt. Die »Ausdruckswahrnehmung« gehört jedoch keineswegs einer bereits überwundenen Stufe der Menschheitsentwicklung an, denn mit ihr verbunden ist die affektive Ansprechbarkeit des Menschen und seine psycho-physische Reaktion. Es ist ihr Ausdruckscharakter, der der Welt erst die »Farbe der Realität« gibt: »[A]lle Wirklichkeit, die wir erfassen, ist«, nach Cassirer, »in ihrer ursprünglichen Form nicht sowohl die einer bestimmten Dingwelt, die uns gegenüber- und entgegensteht, als vielmehr die Gewißheit einer lebendigen Wirksamkeit, die wir erfahren.« 562 Die Wahrnehmung eines Gegenübers, eines »Du« – im Unterschied zu einem »Es« – ist eine Ausdruckswahrnehmung. Ohne Ausdruckswahrnehmung vorauszusetzen, wären sowohl ästhetische 557 558 559

ECW 11, S. 10. ECW 17, S. 262. H. U. Gumbrecht, Art. »Ausdruck«, in: K. Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriff e,

Bd. 1. 560 Vgl. Ch. Schmitz-Rigal, »Modi des Symbolischen und plurale Sinnwelten. Zum Verhältnis der Symbolischen Formen Ernst Cassirers«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 29/3, 2004. 561 ECW 16, S. 94. 562 ECW 13, S. 81 f.

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als auch ethische »Sinn-Kategorien« nicht konzipierbar; der ethische Begriff der Persönlichkeit wie der ästhetische des Stils wären bedeutungslos, ließen sich Taten oder Werke nicht als »Ausdruck« einem Ich zuschreiben. 563 Die Kunst ist nach Cassirer »durchsetzt von intensiven Ausdruckswerten«564. Ästhetische Erfahrung ist eine Erfahrung, die sich nicht in rationaler Distanz machen läßt, sondern aufmerksame Rezeptivität, d. h. die Bereitschaft für die Wahrnehmung leiblich-emotionaler Affizierung, voraussetzt. In der ästhetischen Erfahrung werden Formen, Farben, Klänge und Bewegungen erlebt und nicht nur durch den Verstand beurteilt: »Der Schönheitssinn ist die Empfänglichkeit für das dynamische Leben von Formen, und dieses Leben läßt sich nur durch einen entsprechenden dynamischen Prozeß in uns selbst erfassen.« 565 Dennoch unterscheidet sich die Erfahrung dieser »lebendigen Wirksamkeit« in der Kunst von derjenigen des Mythos durch ihren »als ob«-Charakter. Kunst arbeitet an der Konkretisierung und Intensivierung der Wirklichkeitserfahrung, die dem mythischen Menschen gegeben, im Zuge der Verwissenschaftlichung und Digitalisierung der Welt jedoch verlorenzugehen droht. Sowohl Künstler als auch Rezipient wissen um den Scheincharakter des Artefakts. »[A]ls Inhalt der künstlerischen Darstellung ist das Objekt in eine neue Distanz, in eine Ferne vom Ich gerückt – und in ihr erst hat es das ihm eigene, selbständige Sein, hat es eine neue Form der ›Gegenständlichkeit‹ gewonnen.« 566 Die Ausdruckserfahrung in der Kunst ist – wenngleich für das Verständnis der Gegenständlichkeit der Kunst konstitutiv –, im Gegensatz zu derjenigen des Mythos optional. Der mythisch lebende Mensch kann sich den auf ihn einwirkenden Kräften nicht entziehen; die ästhetische Erfahrung steht dem Menschen hingegen frei, er kann seine Einstellung wählen – wenngleich er nur dann eine ästhetische Erfahrung macht, wenn er sich durch Ausdruckswahrnehmung bestimmen läßt. »La transformation du mythe en art s’accomplit«, so John Michael Krois, »en partie par le renversement de l’état émotionnel de passivité en activité.« 567 Kunst ist der aktive Umgang mit der Rezeptivität, der Fähigkeit des Menschen, sich beeindrucken zu lassen. Sie ist »une façon de présenter (Darstellung) l’expression (Ausdruck)«.568 Cassirer siedelt die Kunst in dieser Hinsicht auf derselben Ebene an wie die Sprache, an der er in der Philosophie der symbolischen Formen die Darstellungsfunktion erläutert hat. »Darstellung« meint bei Cassirer einen Akt, mit dem ein Subjekt

Zur ethischen Dimension des »Ausdrucksproblems« vgl. ECN 3, S. 196 f. ECW 17, S. 422. 565 VM, S. 232. 566 ECW 17, S. 423. 567 J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 24. Vgl. SMC, S. 160: »Art is expression, but it is an active, not a passive mode of expression. It is imagination, but it is productive, not merely reproductive, imagination.« 568 J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 20. 563

564

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sich von einem Objekt trennt, es und sich in dieser Trennung sichtbar werden läßt und eine Stellung bezieht. Das Darstellungsverhältnis ist, so Dieter Schlenstedt, »ein Verhältnis der Distanz. Die symbolischen Setzungen, die hier vorliegen: die in einem bestimmten Material gebildeten, direkten oder indirekt bedeutenden, verweisenden Gestalten, zeigen etwas als etwas vor«.569 Cassirer hebt mit dem Begriff der Darstellung – wie auch mit dem des Ausdrucks und der Bedeutung – auf ein Verhältnis zwischen Subjekt und seinem Produkt, nicht auf eines zwischen den symbolischen Setzungen und einer vermeintlichen außersymbolischen Realität ab: »Darstellung« meint nicht »Abbildung«, denn das insbesondere in der Verständigung über Kunst virulente Problem der Referenz ist für Cassirer stets ein innersymbolisches. Ein weiteres für die Darstellungsfunktion charakteristisches Moment teilt die Kunst mit der symbolischen Form der Sprache: Während der Ausdruck eine Äußerungsform ist, die den Eindruck nicht zu einem anschaulichen Gegenstand fixieren kann, und die Bedeutung als Form der Symbolisierung von Verhältnissen »sich von jeder Bindung im anschaulichen Dasein gelöst« 570 hat, ist die Ebene der Darstellung primär der Anschauung verpfl ichtet. Cassirer formuliert unmißverständlich: Die Kunst »ist und bleibt dem anschaulichen Sein verhaftet und muß sich an ihm mit klammernden Organen festhalten«.571 Kunst operiert mit der Prägnanz und Plastizität der sinnlichen Wahrnehmung und bietet ihre »Gegenstände« der Anschauung – im oben ausgeführten weiten Sinne – dar. Im Gegensatz zur Alltagssprache, deren Ziel die Verständigung über praxisrelevante Gegenstände und Sachverhalte ist, die also mittels der Anschauung auf Bestimmtes (und dies zu bestimmten Zwecken) abzielt, kommt in der Kunst die sinnliche Fülle zur Entfaltung und zum Vorschein. Als besonderen Charakter der ästhetischen Symbolik hebt Cassirer hervor, »daß hier das Bild rein als solches anerkannt bleibt, daß es, um seine Funktion zu erfüllen, nichts von sich selbst und seinem Gehalt aufzugeben braucht«.572 Der ästhetische Schein ist nicht substituierbar, denn das Phänomen, das sich der ästhetischen Einstellung darbietet, bietet sich nur der ästhetischen Einstellung dar. Es ist wesenhaft Schein: 573 »Indem es [das ästhetische Bewußtsein] sich von Anfang an der reinen ›Betrachtung‹ überläßt, indem es die Form des Schauens im Unterschied und Gegensatz zu allen Formen des Wirkens ausbildet, gewinnen nunmehr die Bilder, die in diesem Verhalten des Bewußtseins entworfen werden, erst eine rein immanente Bedeutsamkeit. Sie bekennen sich der empirisch-realen Wirklichkeit

569

D. Schlenstedt, Art. »Darstellung«, in: K. Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriff e, Bd. 1,

S. 868. 570 571 572 573

ECW 17, S. 265. Ebd., S. 267. ECW 12, S. 305 Vgl. dazu oben, Teil I, Kapitel 1, Abschnitt e).

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der Dinge gegenüber als ›Schein‹.« 574 Die sinnlichen Zeichen der Kunst bedeuten, aber ihre Bedeutung liegt in der Immanenz.575 Kunst exponiert ihre Form. Während die Sprache für Cassirer der Tendenz zunehmender Abstraktion folgt und sich, die Ebene der anschaulichen Darstellung schrittweise verlassend, zur Wissenschaft fortentwickelt, nimmt Cassirer die Kunst von dieser Teleologie aus. »Die künstlerische Anschauung blickt nicht durch das Bild hindurch auf ein anderes, das in ihm ausgedrückt und dargestellt wird, sondern sie versenkt sich in die reine Form des Bildes selbst und beharrt in ihr.« 576 Ist der Kunst durch ihren immanentistischen Charakter nun die Ebene reiner Bedeutung, der nach Cassirer, mit Ausnahme des Mythos, jede symbolische Form zustrebt, versperrt? Für Fabien Capeillères, der sich in seinem Nachwort zu den Écrits sur l’art ausführlich mit dieser Frage auseinandersetzt, tendieren Kunst und Wissenschaft gleichermaßen der reinen Bedeutung zu: »[L]eur but commun est cette instauration d’un cosmos spirituel libre que cette seule fonction rend possible par l’arrachement complet à l’Ausdruck.« 577 Zur Begründung dieser These setzt er in einem ersten Schritt die Triade »mimetischer«, »analogischer« und »symbolischer Ausdruck« bzw. »Stil«, die Cassirer in seinem Aufsatz »Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften« zur Beschreibung der Entwicklungsstufen von Kunst von Goethe übernimmt, in Analogie zu der Differenzierung »Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung«, die er in der Philosophie der symbolischen Formen verwendet. Der Stil, der bei Goethe und bei Cassirer die höchste Entwicklungsform der Kunst kennzeichnet, sei »l’analogue de la signification pure en laquelle la science moderne est tissée«.578 In einem zweiten Schritt deutet er eine Passage des Essay on Man, in der Cassirer schreibt: »Die Kunst gibt uns eine Art von Wahrheit – eine Wahrheit nicht der empirischen Verhältnisse, sondern der reinen Formen« 579 dahingehend, daß das Attribut »rein« in Beziehung zu setzen sei mit demjenigen der »reinen Bedeutung«.580 Beide Teile der Begründung sind problematisch. Der zweite Teil ist wenig beweiskräftig, da »rein« bei Cassirer erstens nicht terminologisch und zweitens ebenfalls verwendet wird, um die Kunst der »reinen Darstellung« oder der »reinen Betrachtung« zuzuordnen. Doch auch der erste Teil, die Gleichsetzung von »Stil« bzw. »symbolischem Ausdruck« mit »reiner Bedeutung«, kann nicht überzeugen. Nach Cassirer »scheint« (er formuliert vorsichtig, vorläufig) es so, als ob die Relativitätstheorie »den eigentlichen ›Stil‹ der modernen

574 575 576 577 578 579 580

ECW 12, S. 305 f. Zum Unterschied zwischen Indifferenz und Immanenz siehe oben, Abschnitt h). ECW 13, S. 94. F. Capeillères, »Postface«, in: Écrits sur l’art, S. 251. Ebd., S. 244. VM, S. 252. Vgl. F. Capeillères, »Postface«, in: Écrits sur l’art, S. 244 f.

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physikalischen Erkenntnis« 581 repräsentiere. »Stil« versteht er in dem Sinne, daß hier die Einsicht in die »freie und gesetzliche Natur des Bildens«582 von Symbolen gegeben sowie ihre Funktion – die Zweckmäßigkeit zur Generation von systematischer Erkenntnis – erkannt sei. Daraus im Gegenzug zu schließen, daß die Kunst der Ebene der »reinen Bedeutung« zuzuordnen sei, halte ich aus folgenden Gründen für verfehlt. Als Kennzeichen der »reinen Bedeutung« lassen sich folgende Merkmale festhalten: 1. Strenge Objektivität im Sinne einer strikten Subjekt-Objekt-Trennung, mit der eine Tendenz zur Elimination jeglicher Ausdruckscharaktere sowie ein Verlust der Anschaulichkeit einhergehen. 2. Die Ausbildung eines starren, intersubjektiv verbindlichen Systems von Zeichen. 3. Die Einsicht in den symbolischen Charakter der spezifischen Wissensform und der bewußte Einsatz der spezifi schen Mittel. 1. In der Kunst wird nach Cassirer weder eine strenge Objektivität noch eine strikte Subjekt-Objekttrennung angestrebt oder erreicht. Kunst ist dargestellter Ausdruck. Sie kompensiert die Verluste, die durch den hohen Abstraktionsgrad der Wissenschaft entstehen, und folgt »dem Ausdrucksdrang des Subjekts« 583 : »Kein Künstler kann«, so Cassirer, »die Natur darstellen, ohne daß er, in dieser Darstellung und durch sie, sein eigenes Ich zum Ausdruck brächte; kein künstlerischer Ausdruck des Ich ist möglich, ohne daß Gegenständliches, in voller Objektivität und Plastizität sich vor uns hinstellt. Subjektives und Objektives, Gefühl und Gestalt müssen ineinander übergehen und völlig ineinander aufgehen, wenn ein großes Kunstwerk entstehen soll.« 584 Kunst ist »Zeugnis einer individuellen Lebensform« 585 und »Äußerung eines Inneren, das an ihm gewissermaßen seine Transparenz gewinnt«.586 2. Indem Cassirer den Künstler als »Entdecker von Naturformen« 587 bezeichnet, die an der »Oberfl äche der Naturerscheinungen« zu fi nden seien und aus »fundamentalen Strukturelementen unser sinnlichen Erfahrung« 588 bestehen und so den Erkenntnischarakter der Kunst hervorhebt, leistet er dem Mißverständnis Vorschub, Kunstwerke bilden ein »système symbolique« 589, »un système de signes 581 582 583 584 585 586 587 588 589

ECW 16, S. 91. Ebd., S. 86. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main 51988, S. 29. »Der Gegenstand der Kulturwissenschaft«, in: LK, S. 31. ECW 17, S. 179. Ebd., S. 178. VM, S. 221. Ebd., S. 242. F. Capeillères, »Postface«, in: Écrits sur l’art, S. 249.

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[…] intrinsèquement spirituel« 590 und ließen sich anhand einer »grammatique picturale« 591 erschließen. Jede Kunst basiert in ihrer geschichtlichen Form auf der Tradierung von Formen und »Pathosformeln« (Aby Warburg) und verfügt somit über eine eigene Formensprache. Die individuelle Gestalt eines Werkes läßt sich aus deren »Syntax« 592 jedoch nicht ableiten. Cassirer erläutert die individualisierende Tendenz der Kunst, durch die Systeme und Wahrnehmungsgewohnheiten zersetzt werden, am Beispiel der poetische Sprache: Hier ist »[ j]edes Wort […] wieder mit erfüllt von einem ihm eigentümlichen individuellen Gehalt«.593 Während sich die Sprache auf dem Weg zur Wissenschaft verfestigt und zu strenger Defi nition verpfl ichtet, wird sie auf dem Weg zu Dichtung instabil und verliert ihre eindeutige Determinierung. Das künstlerische Ausdrucksbegehren und seine innovative Kraft unterminieren die intersubjektive Verbindlichkeit sprachlicher Systeme.594 Im Kunstwerk löst sich für Cassirer alles »Starre des bloßen Zeichens« auf. Es bedient sich überkommener Formen und destabilisiert sie, indem es sie individualisiert. Jede symbolische Form bewegt sich zwischen den Grenzen der produktiven Variabilität des Ausdrucks und der intersubjektiven Verbindlichkeit der Bedeutung. In der Kunst wird ein »ideales Gleichgewicht« erreicht: hier läßt sich der Ausdruck von der Bedeutung nicht trennen. Im Gegensatz zur Wissenschaft, in der die Sprache alle individuellen Konnotationen und mit ihnen die Widerspenstigkeit des sinnlichen Materials abzustreifen bestrebt ist, es transzendiert, um rein ideelle Relationen darstellen zu können und zur Formel gerinnt, vertieft sich die Kunst in die Eigenbedeutung, die Ausdruckscharaktere der sinnlichen Formen. Die sinnlichen Formen sind jedoch opak und können die Binnendifferenzierung wissenschaftlicher Theorien nicht erreichen, verfügen somit nicht über deren Distinktheit und Intersubjektivität.595 Nach Leibniz und Baumgarten sind die Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung klar, aber nicht deutlich. Die Formen der Kunst müssen daher anderen Verbindungsgesetzen folgen als die Wissenschaft. Die Sprache ist, so John Michael Krois, »n’est pas le modèle pour le fondement de la conception cassirerienne de la sémiotique, comme c’est le cas dans la théorie structuraliste; Cassirer commence par une théorie de la forme (Gestalttheorie)« 596.

Ebd., S. 245. Ebd., S. 248. 592 Vgl. oben, S. 217. 593 ECW 16, S. 95. 594 U. Schödlbauer, »Ästhetische Erfahrung«, in: D. Harth/ P. Gebhardt (Hg.), Erkenntnis der Literatur: Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft, schreibt: »Nicht entschiedene Klassifi kation, sondern sich ständig verschiebende Bezüglichkeiten sind daher das Signum der ästhetischen Erfahrung.« 595 Vgl. zur Diskussion um »Bedeutung« in der Kunst den jüngst erschienenen Aufsatz von J. Küpper, »Einige Überlegungen zu Musik und Kunst«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51/1, 2006, mit den dort gegebenen Literaturhinweisen. 596 J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 20. Vgl. dazu die im Abschnitt h) darge590 591

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3. Durch ihren selbstreflexiven Charakter nähert sich die Kunst der Sphäre reiner Bedeutung, ohne in ihr aufzugehen: »L’art moderne accomplit pour ansi dire explicitement le travail d’autoréflexion sur ses propres moyens«.597 Bereits für Schiller ist die »Reflexion« »die Grundvoraussetzung und das Grundmoment der künstlerischen Anschauung« 598 . Reine Methodendiskussion kann Kunst jedoch nicht werden; diese fi ndet in den Kunstwissenschaften statt. Kunst kann als immanente Form der darstellenden Funktion nicht entraten.599 »[L]es œuvres d’art sons des creations réflechies«, aber sie symbolisieren »une expérience vécue qui peut avoir un puissant effet émotionnel«.600 Kunst ist selbstreflexiv, aber sie stellt dieses Wissen – auch als Wissen um und Leiden unter der Unzulänglichkeit der Darstellung – dar. Cassirer ist ein dezidierter Kritiker jeder Abbildungstheorie der Kunst. Es läßt sich nicht oft genug betonen, daß mit Ausdruck und Darstellung bei Cassirer nicht das unwillkürliche oder gestaltete Zutagetreten eines Vorgängigen, keine Kopien einer präexistenten äußeren oder inneren Welt gemeint sind: »[L]a distinction entre le modèle et la copie (ou entre la chose et sa représentation) n’est qu’un moment caractéristique de la Darstellung en ce qu’elle institue les deux termes comme corrélats catégoriels, il n’y a pas de chose ou de modèle en soi: il s’agit toujours du corrélat méthodologique de la distinction objectale modèle-copie ou chose-représentation.« 601 Mit der Auffassung des l’art pour l’art hat Cassirer jedoch, wie auch Capeillères zugesteht, ebensowenig im Sinn. Er insistiert darauf, daß symbolische Formen im wörtlichen Sinne die Ergebnisse der Auseinander-Setzung von Ich und Welt und nicht das Resultat einer um sich und seine reflexive Potenz kreisenden Subjektivität sind.602 Durch die Nachbarschaft zum Mythos, in der

stellte Differenzierung zwischen einem »linguistisch-begriffl ichen« und einem »ikonisch-anschaulichen« Paradigma. 597 F. Capeillères, »Postface«, in: Écrits sur l’art, S. 249. 598 ECW 17, S. 422 599 Nach H. Slochower, »Ernst Cassirer›s Functional Approach to Art and Literature«, S. 657, hat Kunst zwar eine Bedeutungsfunktion. »But art differs from philosophy and science in that it aims at maximum denotation, which it is in a position to approximate because of the particularity and sensuousness of its material.« 600 J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 8. 601 F. Capeillères, »Postface«, in: Écrits sur l’art, S. 242. 602 Bei Lorenz Dittmann, »Zur Kritik der kunstwissenschaftlichen Symboltheorie«, in: E. Kaemmerling (Hg.), Ikonographie und Ikonologie; Theorien-Entwicklung-Probleme, Köln 1979, liegt diesbezüglich ein Mißverständnis vor. Cassirers Befreiungsteleologie des menschlichen Bewußtseins steuert mitnichten einen »archimedische[n] Punkt außerhalb der Geschichte« (S. 343) an. Zwar ist, so referiert Dittmann Cassirer, »[d]as höchste, wohin der Geist gelangen kann«, »die Einsicht in seine symbolisierende Tätigkeit. Seine Aufgabe ist, sich die symbolischen Formen, die er ständig schaff t, bewußt zu machen« (S. 342). Daraus folgt jedoch nicht, daß der Geist auf dieser Reflexionsstufe »über jede inhaltliche Wahrheit hinaus« sei. Symbolische Formen als symbolische Formen zu erkennen, heißt nicht, »hinter den ausgesprochenen, gemeinten Sinn der Inhalte zurückzugreifen« (S. 342). Für Cassirer gibt es kein »hinter« den

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Cassirer die Kunst ansiedelt, kommt dieses engagierte Verhältnis zum Ausdruck. »La théorie cassirerienne«, konstatiert Krois zu Recht, »est à la fois structurale et historique […] Cassirer se concentre sur le caractère symbolique des images artistiques, qui contraste avec d’autres formes des symbolisme. À la difference de tant des theories sémiotiques, Cassirer n’oublie pas que les images artistiques tirent leur pouvoir expressif de leur relation avec la pensée mythique et des forces qui limiteraient l’existence humain.« 603

m) Kunst zwischen Präsenz und Repräsentation Während der Begriff der Repräsentation bereits durch die Kritik an der Abbildtheorie der Kunst ins Kreuzfeuer geraten ist und allenfalls im Begriff der Referenz, den hermeneutisch orientierte Kunst- und Literaturwissenschaftler aufzugeben nicht bereit sind, Rückzugsgefechte schlägt,604 ist die Diskussion um »Präsenz« und »Präsentation« unvermindert aktuell. Derrida geht davon aus, daß ein Zeichen bzw. das von einem Zeichen Bezeichnete nie präsent, nie als Identisches ganz bei sich sein kann, und formuliert seinen (post)strukturalistischen Zeichenbegriff als Kritik an einer »Metaphysik der Präsenz«. Anstatt bereits bestehende Vorstellungen zu repräsentieren, zerlaufe die Bedeutung eines Zeichens in Unterscheidungen: »Es gibt kein Signifi kat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifi kanten entkäme«.605 Gleichermaßen anti-repräsentationalistisch ausgerichtet, doch darum bemüht, die Aktualität bspw. einer Theaterauff ührung von einem zugrundeliegenden (vorgängigen) Text unterscheiden zu können, ist der sprechakttheoretisch begründete Performanzbegriff

symbolischen Formen. Die Symbolizität aller Erkenntnis zu begreifen, heißt gerade, ihre Relativität anzuerkennen. 603 J. M. Krois, »L’art, une forme symbolique«, S. 25 f. 604 Für eine überzeugende Verteidigung der »Referenz« in der Literaturwissenschaft siehe z. B. E. Lobsien, »Mimesis und Referenz. Paradigma Ulysses«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 50/2, 2005. Referenz bzw. das in Literatur Repräsentierte begreift er als etwas, das sich »in praesentia des referierten Sachverhaltes realisiert« (S. 242). Alle Repräsentationen, auch diejenigen der Kunst, sind für ihn, und darin stimmt er mit Cassirer überein, »primäre Defi nitionen«: »Die Repräsentation produziert das, was sie repräsentiert; die Repräsentation wird zur Evokation des Repräsentierenden zwingend benötigt.« (S. 235 f.) Für den Begriff »Referenz« entwickelt er eine Minimaldefi nition, die im Grunde nur in der Verwendung eines nicht-fi ngierten Namens erfüllt ist. Bedeutung entsteht jedoch erst durch die Verknüpfung und Einbettung dieses Namens in den Zusammenhang einer Formulierung, wodurch sie zugleich überschritten wird. (S. 238). »Die Referenz nennt ein singuläres empirisches Faktum; die die Referenz realisierende Äußerung trägt dieses Faktum ein in einen Kontext, der keine Referenz ist, sondern ein elementares Modell von Welt« (S. 241). 605 J. Derrida, Die diff érance. Ausgewählte Texte, hg. von P. Engelmann, Stuttgart 2004, S. 32.

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der aktuellen Kulturtheorie. »Das Zeichen im Modus der Performanz ist, was es bedeutet. Und damit steht seine materielle, mediale, in der Zeit verlaufende Präsenz im Fokus der Aufmerksamkeit.« 606 Im Widerspruch zu der weite Teile des kunst- und literaturtheoretischen Diskurses bestimmenden dekonstruktivistischen Differenztheorie treten in der Kunst der Gegenwart Tendenzen auf, die die »Präsentation« fokussieren. »Im Reich neuerer Kunstausübung«, so kommentiert Dieter Schlenstedt, »an Handlungen als performance (im Bereich früherer Schauspielkunst), an als Kunst gesetzten Materialien oder ready-mades (im Bereich früherer bildender Kunst), an Folgen fragmentarisierten Sprachmaterials (der sogenannten konkreten Poesie) zeigt sich nun etwas, das mit sich selbst identisch sein soll: der sich ausstellende Mensch, das ausgestellte Material. Darstellen reduziert sich auf ein bloßes Hinstellen, oder, radikaler formuliert: ›Hinstellen als Präsentation‹ steht gegen ›Darstellen als Repräsentation‹.« 607 Karl Heinz Bohrer ist mit dem Begriff der »Präsenz« bereits seit geraumer Zeit ästhetischen Phänomenen auf der Spur, die sich der »Plötzlichkeit« der ästhetischen Wahrnehmung und nicht der Nachträglichkeit »analytisch-prozessierender, reflexiver Akt[e]« verdanken608 , und auch Hans Ulrich Gumbrecht bekennt sich offen zu seinem »Verlangen nach Präsenz« 609, das er – »seit langem als Symptom eines erbärmlich schlechten Geschmacks«610 verrufen – zu rehabilitieren versucht. In diesem Abschnitt soll es darum gehen, die ästhetischen sowie kunstphilosophischen Reflexionen Cassirers in die Diskussionen um »Präsenz« und »Repräsentation« der Kunst einzuführen. Cassirer ist einerseits Konstruktivist kantischer Prägung, dessen Repräsentationsbegriff nichts mit der epistemologischen Naivität der Abbildtheorie gemein hat, dessen Begriff der symbolischen Form jedoch ebensowenig in der negativen Unendlichkeit des dekonstruktivistischen Zeichenbegriff s aufgeht, sondern von Zuversicht in den dem Dialog überantworteten und in die Geschichte entgrenzten Produktions- und Rezeptionsprozeß von Kultur geprägt ist. Auf der anderen Seite läßt seine konsequente Aufwertung der ästhetischen Seite der Welt sowie die Unvordenklichkeit jeder als Urteilung begriffener

606 U. Spörl, »Konzeptionen von Performanz im Rück- und Ausblick«, Rezension des Bandes von U. Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2002, in: KulturPoetik 5, 2005/1. 607 D. Schlenstedt, Art. »Darstellung«, S. 838. Schlenstedt zitiert hier Samson S. Sauerbier, Gegen Darstellung. Ästhetische Handlungen und Demonstrationen. Die zur Schau gestellte Wirklichkeit in den zeitgenössischen Künsten, Köln 1976, S. 247. 608 K. H. Bohrer, »Die ›Antizipation‹ beim literarischen Werturteil. Über die analytische Illusion«, in: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/Main 1981, S. 31. 609 H. U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/Main 2004, S. 12. 610 Ebd., S. 72.

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kultureller Setzung ein Bild des Menschen sichtbar werden, das ihn vor der Hybris eines intellektualistischen Weltenbauers bewahrt. Durch seine Rezeptivität voraussetzende Sinnlichkeit ist der Mensch mit der Welt, die er symbolisch souverän entwirft, auf empfi ndliche Weise verbunden: In der symbolischen Form des Mythos ist er seinen sinnlichen Eindrücken ausgeliefert, in der Kunst läßt er sich von ihnen freiwillig bestimmen, genießt das Bestimmtsein als Erfahrung seiner Sinnlichkeit und erobert sich so das Gefühl des »In-der-Welt-Seins« zurück.611 Der Begriff der Präsenz, den Cassirer im Schatten des dem Konzept der symbolischen Form zugrundeliegenden Begriff s der Repräsentation612 entwickelt, erhält in diesem Rahmen seine Bedeutung. Die Schwierigkeiten, die Kunst in die Konzeption der Philosophie der symbolischen Formen zu integrieren, die in diesem Kapitel zutage getreten sind – bspw. in der Diskussion um den Begriff der ästhetischen Erfahrung, bei der Frage nach Werk, Gattung oder allgemeinem Kunstbegriff als »Integral« oder bei der Diskussion um Schönheit als symbolischer Form –, werden sich nun als ein Oszillieren des kunstästhetischen Phänomens zwischen Präsenz und Repräsentation begreifen lassen. Es konnte gezeigt werden, daß Cassirer symbolische Formen in Weiterentwicklung des Kantischen Erfahrungsbegriff s als Integrale, das heißt als Zusammenhänge, die bestimmten Verknüpfungsregeln folgen, konzipiert. Jedes kulturelle Faktum verdankt sich einem solchen »Erfahrungskontinuum« und vice versa. Ein Mythos repräsentiert in dieser Weise die symbolische Form des Mythos und nicht die vorgängige Vorstellung eines mythisch lebenden und denkenden Menschen, eine wissenschaftliche Tatsache repräsentiert die symbolische Form der Wissenschaft und nicht die Gedanken des Wissenschaftlers. Im Einklang mit Derridas Kritik an einer »Metaphysik der Präsenz« gibt es für Cassirer keine als autonom konturierten Bewußtseinsinhalte. Eine Repräsentation bildet bei Cassirer kein singuläres Faktum ab, sie ist »keineswegs Stellvertretung […], sondern die angemessene Weise, wie etwas durch Darstellung zur Existenz gelangt«.613 »Versteht man […] die Repräsentation als Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen

611 Vgl. hierzu Gumbrecht, der in Diesseits der Hermeneutik den Heideggerschen Terminus des In-der-Welt-seins aufgreift, um das Auf heben von Distanz in der ästhetischen Wahrnehmung zu erläutern. 612 Vgl. G. Grube, Repräsentationen. Skizze für einen relationalen Repräsentationsbegriff unter kritischer Bezugnahme auf Ernst Cassirer und Nelson Goodman, Berlin 2002, S. 56 f.: »Der Repräsentationsbegriff steht im Zentrum von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Präzise müßte man sagen, daß er ein theoretisches Zentrum bildet, da er sich als das entscheidende Begriff sinstrument durch das ganze Werk zieht.« 613 E. Rudolph, »Metapher oder Symbol. Zum Streit um die schönste Form der Wirklichkeit. Anmerkungen zu einem möglichen Dialog zwischen Hans Blumenberg und Ernst Cassirer«, in: R. Bernhardt/U. Link-Wieczorek (Hg.), Metapher und Wirklichkeit. Die Logik der Bildhaftigkeit im Reden von Gott, Mensch und Natur, Göttingen 1999, S. 326.

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Synthese zusammenfaßt, so haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern mit einer konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diese scheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen ›präsenten‹, keinen unmittelbar gegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern er einbezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche und zeitliche wie seine begriffl iche Bestimmtheit geben.« 614 Kunstwerke re-präsentieren entsprechend die symbolische Form der Kunst. Sie lassen sich als Teile des in der Geschichte der Literatur, der Musik, der Malerei etc. entwickelten extensiven Formenkontinuums begreifen. Der literaturwissenschaftliche Begriff der »Intertextualität« bezeichnet darüber hinaus die besondere Weise, in der Literatur (Kunst im allgemeinen) sich nicht nur durch Übernahme und Transformationen in bestehende Formen einschreibt, sondern sie immer wieder aktualisiert und die spezifi sche historische Tiefendimension der Form entstehen läßt. Der Referenzlosigkeit der Zeichen, die als Grenzwert am Horizont der Derridaschen Zeichentheorie erscheint, ist mit der Cassirerschen Symboltheorie jedoch nicht vereinbar. Zwar sind Repräsentationen für Cassirer bewußtseinsinterne Relationen, ihre ›Welthaltigkeit‹ stellen sie jedoch als Produkte der Auseinandersetzungen von Ich und Welt unter Beweis, in denen das Subjekt sich aus seiner unmittelbaren Verstrickung im Eindruck befreit. Symbolische Formen sind, um es mit Paul Celan zu sagen, »wirklichkeitswund« und »Wirklichkeit suchend«.615 Als Repräsentant einer symbolischen Form steht das Kunstwerk für eine Sichtweise der Welt. Zugleich ist jedes einzelne Kunstwerk jedoch eine Welt, ein »Integral« für sich und repräsentiert, exemplifi ziert (Nelson Goodman) sich selbst. Während die Wissenschaft ausschließlich als extensive, fortschreibende, reihenförmige Repräsentation zu begreifen ist, sind die Repräsentationen der Kunst teleologischer bzw. monadologischer Natur. Die Relationen, durch die sich Werkteile miteinander verknüpfen, sind individuell und nur dieses eine Mal gegeben. Das Kunstwerk als Ganzes repräsentiert den Sinn, der aus der Verknüpfung seiner Teile entsteht. Susanne K. Langer hat sich dieser besonderen Symbolisierungsform der Kunst im Anschluß an Cassirer gewidmet. »The most original of Ernst Cassirer’s contributions to philosophy, and perhaps the most important as well«, konstatiert sie, »is his treatment of different forms of symbolic presentation and representation«.616 Die explizite Unterscheidung zweier »symbolischer Modi«: der diskursiven Symbolik und der präsentativen Symbolik, geht jedoch auf Langer, nicht auf Cassirer zurück. Die Kunst ordnet Langer der präsentativen Symbolik zu. Ihr Sinngehalt liege im Gesamtkomplex der »gefügten Form« und könne im Gegensatz ECW 6, S. 306. P. Celan, »Ansprache anläßlich der Entgegennahme des Litereraturpreises der Freien und Hansestadt Bremen«, in: ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden, Frankfurt/Main 2000, Band 3, S. 186. 616 S. K. Langer, »De profundis«, in: Revue International de Philosophie 110, 1974/4, S. 439. 614

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zur Symbolisierung des diskursiven Typs nicht in einzelne Aussagen zerlegt werden. Künstlerische Symbole bringen spezifische Qualitäten emotionalen Lebens, das nur präsentativ symbolisierbar ist, zum Ausdruck. Insbesondere durch den Entwurf einer »Morphologie des Fühlens« entwickelt Langer entscheidende Aspekte der Cassirerschen Wahrnehmungstheorie im allgemeinen wie seines Kunstbegriff s im besonderen weiter. Es ist jedoch nicht diese von Langer mit dem Begriff des Präsentativen belegte »monadologische« Repräsentationsform, die im folgenden untersucht werden soll, denn neben der »Repräsentationsleistung des Symbols, die das Phänomen bewußter ›Präsenz‹ erst begründet« 617, thematisiert Cassirer selbst eine Form von Präsenz, die der symbolischen Integration vorausliegt. Bereits im Zusammenhang der Differenzierung von Ausdruck, Darstellung und reiner Bedeutung sind wir auf die Thematisierung einer »originären Weise des Wahrnehmens« und den »nicht mittelbaren, sondern ursprünglichen Charakter der reinen Ausdruckserlebnisse« 618 gestoßen, der sich von der für symbolische Formen charakteristischen »Präsenz durch Repräsentation« unterscheidet. Im mythischen Bewußtsein hat das Phänomen, so Cassirer, »nirgend den Charakter bloß stellvertretender Repräsentation, sondern den Charakter echter Präsenz: Ein Seiendes und Wirkliches steht in ihm in voller Gegenwart da, statt sich nur mittelbar durch dasselbe zu ›vergegenwärtigen‹«.619 Im Ausgang von dieser Analyse des mythischen Bewußtseins möchte ich mit Cassirer »zwischen ›präsentativer‹ und ›repräsentativer‹ Geisteshaltung, zwischen einem Haften am sinnlichen Eindruck« 620 und dem Transzendieren desselben auf eine ideelle Bedeutung hin unterscheiden und diese Unterscheidung für die Bestimmung der ästhetischen Wahrnehmung und der symbolischen Form der Kunst furchtbar machen, denn die präsentische Geisteshaltung oder Einstellung, die die Welt »im Bilde auf bauen und an ihm festhalten« 621 muß, ist für das mythische Bewußtsein und die ästhetische Wahrnehmung gleichermaßen konstitutiv. Cassirer spricht unter der Bezeichnung »sinnliches Bewußtsein« eine Ebene der Sinneswahrnehmung an, auf der es nicht um die Beurteilung eines Sinneseindrucks qua Verhältnisbildung geht, durch die der Eindruck in Verbindung mit anderen Sinneseindrücken gebracht wird, sondern den er als »unmittelbare Gegenwart des Eindrucks«, als »Präsentation« oder direktes »Haben« einer Empfi ndung bezeichnet.622 Schien die Voraussetzung eines vorsymbolischen sinnlichen Bewußtseins Ch. Schmitz-Rigal, »Modi des Symbolischen und plurale Sinnwelten.«, S. 251. ECW 13, S. 68 und 72. 619 Ebd., S. 75. 620 Ebd., S. 306. Cassirer triff t diese Unterscheidung im Rahmen seiner Untersuchungen zur »Pathologie des Symbolbewußtseins«. Ich meine jedoch, daß sich durch weitere Textstellen belegen läßt, daß die »präsentische Geisteshaltung« nicht ausschließlich als pathologisch zu beurteilen ist. 621 ECW 15, S. 315. 622 ECW 13, S. 3. 617

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zunächst im Widerspruch zu der These der symbolischen Prägnanz zu stehen, läßt sie sich im Rahmen der ästhetischen Reflexion als eine Frage wechselnder Einstellungen oder Geisteshaltungen begreifen: »Statt der dialektischen Bewegung des Denkens, für die jedes gegebene Besondere nur der Anlaß wird, es an ein anderes anzuknüpfen, es mit anderen zu Reihen zusammenzuschließen und es auf diese Weise zuletzt einer allgemeinen Gesetzlichkeit des Geschehens einzuordnen, steht hier die bloße Hingabe an den Eindruck selbst und an seine jeweilige ›Präsenz‹. Das Bewußtsein ist in ihm als einem einfach Daseienden befangen«.623 Sowohl dem mythischen Ausdruckserlebnis als auch der ästhetischen Wahrnehmung eignet diese »Transparenz« des Sinnlichen, die keiner symbolischen Integration bedarf oder fähig ist: »Der Ausdruckssinn haftet an der Wahrnehmung selbst, er wird in ihr erfaßt und unmittelbar ›erfahren‹«.624 Die ästhetische Wahrnehmung ist auf die sinnliche Präsenz, nicht auf einen repräsentierten Sinn gerichtet, d. h. auf »the sphere of plastic, architectural, musical forms, of shapes and designs, melodies and rythms […] As soon as I lose these sensuous forms from sight, I lose the ground of my aesthetic experience.« 625 Für die Ausdruckswahrnehmung im allgemeinen wie für die ästhetische Wahrnehmung im besonderen gilt: »Die einfache Darlegung des Phänomens ist zugleich seine Auslegung, und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist.« 626 Die präsentische Geisteshaltung, die das gegebene Phänomen nicht hermeneutisch überschreitet, sondern an seine Anwesenheit gebunden ist, bleibt der sinnlichen Wahrnehmung verhaftet, sie braucht, mit Bohrer zu sprechen, keine kausale Erklärung627 – die sich vom ästhetischen Phänomen als solchem distanzieren und es zum Verschwinden bringen würde. »Jede derartige Trennung«, so Cassirer, »würde etwas anderes verlangen als die bloße anschauliche Versenkung in den Inhalt selbst; sie würde erfordern, daß die Einzelinhalte, statt in ihrer bloßen Präsenz erfaßt zu werden, vielmehr auf die Bedingungen ihrer Entstehung im Bewußtsein und auf das kausale Gesetz, das diese Entstehung beherrscht, zurückgeführt würden – dies aber würde wieder eine Art der Analyse, der rein gedanklichen Zerlegung voraussetzen, die hier noch vollständig fern liegt.« 628 Bereits Leibniz hat diese bewußte Hingabe an den »Schein«, an die – mit Goethe gesprochen – »ästhetische Seite der Phänomene« thematisiert. Sie ist eine originäre Weise des Wahrnehmens sinnlicher Präsenz. Als anschauende Versenkung in das jeweils gegebene Singuläre lassen sich ästhetische Wahrnehmungen zu keinem

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ECW 12, S. 43. ECW 13, S. 76. »Language and Art I«, in: SMC, S. 157. Vgl. auch »Language and Art II«, ebd., S. 186. ECW 13, S. 105. Ebd., S. 44. ECW 12, S. 53 f. Hervorh. M. L.

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extensiven Erfahrungsintegral verknüpfen, sondern sind durch »Insularität« 629, Plötzlichkeit oder Diskontinuität gekennzeichnet.630 Der »Lebensnerv des Zeitlichen« 631, der in der Integration einzelner Fragmente besteht, ist in der ästhetischen Wahrnehmung anästhesiert; der Moment der Wahrnehmung tritt aus dem zeitlichen Verbund und steht still. Während Bohrer die »zeitliche Modalität der ›Plötzlichkeit‹« ästhetischer Wahrnehmung hervorhebt, charakterisiert Gumbrecht sie vorrangig als präsentische Raumerfahrung, als eine des »In-der-Welt-Seins«, in der das Subjekt die körperliche Anwesenheit der Dinge spürt. Es ist kein interpretierender Blick auf die Welt, sondern eine Raumerfahrung, die durch Distanzlosigkeit geprägt ist. Der ästhetisch Wahrnehmende sieht nicht auf die Welt, er sieht, erfährt sich in der Welt, erfährt die Welt in sich. Die präsentische Raumerfahrung der Kunst erlaubt keine Distanzierung. Der ästhetische Raum der Architektur ist ein Raum, in dem der Mensch Enge und Weite am eigenen Leib erfährt, die tönende Raum ist nur erfahrbar als innerleiblicher Raum, der mit dem Anschwellen und Verklingen mit dem Steigen und Fallen von Tonfolgen korrespondiert und mitschwingt. Doch wie läßt sich diese »Insularität« der ästhetischen Wahrnehmung mit der These der grundsätzlichen Relationalität allen Bewußtseins in Einklang bringen? Für Cassirer gibt es keine Wahrnehmung, die nicht verfängt, die nicht in einem Verhältnis zu anderen steht. Wahrnehmen, Bewußtsein ist immer Verknüpfung. Dieses ›Verfangen‹ der Wahrnehmung ist im Falle der ästhetischen Wahrnehmung jedoch ein Gefangensein, es ist ein Moment der Selbstwahrnehmung. Nach Martin Seel geht es »den Subjekten der ästhetischen Wahrnehmung um ein Verspüren der eigenen Gegenwart im Vernehmen der Gegenwart von etwas anderem. In der sinnlichen Präsenz des Gegenstandes werden wir eines Augenblikkes unserer eigenen Gegenwart inne«.632 Und auch für Hans Ulrich Gumbrecht ist das, was wir in den intensiven Momenten ästhetischer Wahrnehmung spüren, »wahrscheinlich nichts weiter als ein besonders hoher Grad des Funktionierens eines unserer allgemeinen kognitiven, emotionalen und vielleicht sogar physischen Vermögen« 633. Wer würde jetzt nicht an Kant denken (der freilich nicht auf das Funktionieren eines Vermögens, sondern auf das Zusammenspiel mehrerer abhebt)? Kehren wir noch einmal zu den Ergebnissen der Abschnitte c) und d) dieses Kapitels sowie zu den Untersuchungen zur Monographie Kants Leben und Lehre des ersten Teils zurück. Es wurde bereits deutlich, daß Cassirer, da er nicht, wie Kant, an der Reichweite und den Grenzen der menschlichen Vernunft, sondern an ihren 629 630 631 632 633

H. U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 147. K. H. Bohrer, »Vorwort«, in: Plötzlichkeit, S. 7. ECW 13, S. 193. M. Seel, Ästhetik des Erscheinens, S. 62. H. U. Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik, S. 119.

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Darstellungs- und Vermittlungsformen interessiert ist, die »Art der Objektivität des ästhetischen [Kunst]Gegenstandes« 634 – ihre symbolische Form – ins Visier nehmen muß. Kunst als Kulturphänomen bildet in dieser Betrachtungsweise ein Diskursuniversum, ein Erfahrungsintegral neben anderen. Kant hat sich auf das Phänomen ästhetischer Wahrnehmung beschränkt, um die Vernünftigkeit ästhetischer Urteile zu erweisen. Um die Komplexität des kunstästhetischen Phänomens angemessen beschreiben zu können, verfährt Cassirer zweigleisig. Er stellt es in den Kontext der symbolischen Form, vernachlässigt die irreduzible Besonderheit einer jeden ästhetischen Wahrnehmung jedoch ebensowenig und hält fest: »Alles andere Dasein oder Geschehen ist für das [ästhetische] Bewußtsein […] wie versunken; alle Brücken, die den konkreten Anschauungsinhalt mit der Totalität der Erfahrung, als einem gegliederten System, verbinden, sind wie abgebrochen.« 635 Und doch ist die ästhetische Wahrnehmung nicht relationslos. Die Verbindungen, durch die sie sich dem Bewußtsein einschreibt, beruhen auf der innersubjektiven Relationalität der Selbsterfahrung. Cassirer betrachtet den ästhetischen Zustand als eine »Resonanz« der »Allheit der Gemütskräfte« im Besonderen.636 Das kunstästhetische Phänomen stellt, »gleichsam mit einem Schlage jene Einheit der Stimmung her, die für uns der unvermittelte Ausdruck für die Einheit unseres Ich, für unser konkretes Lebens- und Selbstgefühl ist« 637 – jedoch nur als fragilen, flüchtigen Moment: als Präsenz. Es bildet den Schnittpunkt zweier Ordnungen: der intersubjektiven extensiven der symbolischen Form und der intensiven monadischen des Selbstbewußtseins.

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ECW 8, S. 299. ECW 16, S. 277. ECW 8, S. 306. Ebd., S. 305.

R ESÜM E E Ästhetik im Zeichen des Menschen Den Anspruch der Philosophie der symbolischen Formen, eine grundlegende Theorie aller Formen des geistigen Lebens zu formulieren, würde es geradezu konterkarieren, wollte man behaupten, es sei ausschließlich der Umgang mit kunstästhetischen Gegenständen, der Ernst Cassirer zu ihrer Ausarbeitung motiviert habe. Nur jemand, der wie Cassirer mit unterschiedlichen Kulturgebieten vertraut ist und sowohl die »Sprachen der Kunst« als auch diejenige der mathematischen Naturwissenschaft beherrscht, kann sich zum Ziel setzen, die zwischen ihnen bestehenden intellektuellen Spannungen in einer allgemeinen Theorie sinnlich-geistiger Formung zu vermitteln. Die »ästhetische Vorgeschichte« der Philosophie der symbolischen Formen kann und soll daher andere Erklärungsversuche ihrer Genese ergänzen, nicht etwa ersetzen. Sie zeigt, daß sich die individuellen Gestalten der Kunst als ein von der Forschung bislang vernachlässigtes Movens der Denkbewegung begreifen lassen, die in die Philosophie der symbolischen Formen mündet, und fordert dazu auf, die Ästhetik und ihre Geschichte in die Diskussionen um den Formbegriff Cassirers einzubeziehen – und vice versa. Faßt man den Begriff des Ästhetischen allerdings im weiteren Sinn als Wahrnehmungslehre, möchte ich nicht nur eine »ästhetische Vorgeschichte« der Philosophie der symbolischen Formen behaupten, sondern einen Schritt weitergehen: Die Philosophie der symbolischen Formen hat nicht nur eine ästhetische Vorgeschichte, sondern mit ihr avanciert die Ästhetik zur prima philosophia. Cassirers Symbolphilosophie ist eine Philosophie der Wahrnehmung, denn mit dem Zentraltheorem der symbolischen Prägnanz verlegt sie den Ort der symbolischen Formung in den an verschiedenen symbolischen Ordnungen orientierten Akt der Wahrnehmung. Sie transformiert und vervielfältigt damit die transzendentale Ästhetik Kants. Auch die Poetik – verstanden als Lehre von den Darstellungsmitteln und traditionelle Unterdisziplin der Ästhetik –, die die Aufmerksamkeit vom »Was« auf das »Wie« des Gedankens, d. h. die sinnlichen Formen, in denen er sich artikuliert, zu lenken lehrt, kommt in der Philosophie der symbolischen Formen zu neuen Ehren. Cassirer knüpft die Auffassung eines geistigen Gehaltes an seine Darstellung und wird dadurch zum Vordenker und Vermittler zahlreicher »turns« in der Philosophie und den Kulturwissenschaften, die verschiedene Aspekte der medialen Bedingtheit geistiger Gehalte hervorheben: ihre sprachliche Verfaßtheit im »lingustic turn«, ihre bildliche Strukturiertheit im »iconic turn«, die räumliche Dimension

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resümee

im »spatial turn« und schließlich die Einsicht, daß nicht alle kulturellen Tatsachen über den Kamm eines einzigen Modus von Repräsentation geschoren werden können (im »performative turn«). Dadurch, daß Anschauungen für Cassirer nicht in medial neutralen Anschauungsformen gegeben sind, sondern diese als materiale Bedingungen einer jeden symbolischen Form konstitutiv für das sind, was in ihr ausgedrückt werden kann, erfährt die Sinnlichkeit eine entscheidende Aufwertung. Für Cassirer ist das rätselhafte psychosomatische Zwitterwesen »Mensch« das Urbild jeder symbolischen Formung, in der sich Sinnlichkeit und Sinn verbinden. Kann diese wenig überraschende, aber doch grundlegende Einsicht der Fluchtbewegung des Menschen vor sich selbst Einhalt bieten, die bei Platon beginnt, der die Künstler aufgrund ihrer Verwendung verderblicher, die Sinnlichkeit affi zierender Mittel aus der Stadt treibt, und zu den Diskussionen über anästhetische Ästhetik führt? Blickt man auf die aktuellen Forschungen zur Bedeutung der Ästhetik in den Wissenschaften, die die Gestaltung und Darstellung von Wissen als erkenntniskonstitutiv und somit die »Fenster der Monade« entdecken, oder auf ästhetische Diskurse, die die Materialität, den sinnlichen Anteil der Kunst wieder ins Zentrum rücken, so erscheint es vielleicht gar nicht mehr so anachronistisch, eine Arbeit »Ästhetik im Zeichen des Menschen« zu betiteln. Das Unbehagen angesichts einer allzu intellektualistisch überformten Kunst- und Literaturtheorie muß sich ja nicht unbedingt als epistemologisch naive Forderung nach unmittelbarer Präsenz artikulieren. Cassirers Philosophie der symbolischen Formen böte sich als Vermittlerin durchaus an und könnte als eine Ästhesiologie des Geistes (im Sinne Plessners) fortgeschrieben werden, in der die Grammatik symbolischer Formen den sinnlichen Anteil nicht nur postuliert, sondern Sinn für Sinn ausbuchstabiert. Indem Cassirer das Verhältnis der symbolischen Formen trotz enthierarchisierender Absicht teleologisch anlegt und eine Entwicklung konzipiert, die über den Mythos und die Sprache zur Wissenschaft führt (und dort ihren krönenden Abschluß fi ndet), scheint auch er intellektualistischen Tendenzen Vorschub zu leisten und die Vielfalt sinnlicher Ausdrucksformen der Weltformel zu opfern. Die Kunst fi ndet trotz ihrer exemplarischen Bedeutung für die Entwicklung seines Formbegriff s im Rahmen des symbolphilosophischen Hauptwerkes über programmatische Äußerungen hinaus keine Berücksichtigung. Mythos, Sprache und Wissenschaft betrachtet Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen als Formen theoretischen Weltverhaltens, die den Weg der Verfestigung, Distanzierung bzw. Entäußerung, Reflexion und Befreiung vom bzw. des sinnlichen Eindruck(s) beschreiben. Erst im Rahmen der stärker anthropologischen Kontextualisierung seiner Spätphilosophie, die den Menschen als antwortendes und sich-verantwortendes Wesen begreift, das nicht nur in der Lage ist, sich von seinen unmittelbaren Impressionen zu distanzieren, sondern sich diesen auf dem Weg der in Geschichte und Kunst vollzogenen Arbeit an der Erinnerung und des Seiner-selbst-Innewerdens auch

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wieder annähert, wird ein Blick auf die Rolle, die die Kunst im Rahmen der von allen symbolischen Formen gemeinsam zu erfüllenden Aufgabe: »to unite man« spielt, möglich. Es wird deutlich, daß die Fähigkeit zur Selbstreflexion – die für Cassirer den Zielpunkt der geistigen Entwicklung darstellt – nicht notwendig mit Verlust oder Verkümmerung von Sinnlichkeit einhergeht: Kunst steht der Wissenschaft hinsichtlich des in ihr erreichbaren Reflexionsniveaus in nichts nach, doch sie steht am Ende einer anderen Entwicklungslinie, die vom Mythos über die Religion führt und die Mitte zwischen Sinn und Sinnlichkeit hält. Wie der erste Teil der Arbeit, der sowohl einen Beitrag zur Erforschung der Genese der Philosophie der symbolischen Formen leisten als auch den Blick auf den philosophischen Ertrag der systematische Aufwertung der Aisthesis durch Cassirer lenken möchte, beschränkt sich auch der zweite, der Frage nach der Kunst als symbolischer Form gewidmete Teil nicht auf eine werkimmanente Betrachtung, sondern diskutiert den anthropologisch orientierten kunstphilosophischen Ansatz Cassirers im Kontext gegenwärtiger Tendenzen und Fragestellungen. Cassirer entwickelt für die Bestimmung und Differenzierung von Kulturgebieten und Gestaltungsweisen verschiedene Kriterien: 1. die Bestimmung ihres Strukturzusammenhangs als Erfahrung (im kantischen Sinne) bzw. als erfahrungsanaloge Integrale, 2. ihre Genese aus verschiedenen »Urteilungen«, aus denen sich verschiedene Funktionen ergeben, 3. ihre Differenzierbarkeit über unterscheidbare, jedoch in jeder einzelnen symbolischen Form einheitliche Modalitäten der Gestaltung von Raum, Zeit und Zahl, sowie 4. durch verschiedene Subjekt-Objektverhältnisse, die er als Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung klassifiziert, und 5. durch je spezifi sche Relationen von Präsentation und Repräsentation. Es konnte gezeigt werden, daß sich diese Kriterien nicht nur an der Kunst bewähren, sondern daß die Bestimmung von Kunst als symbolische Form, und das heißt ihre Integration in die Philosophie der symbolischen Formen, eine Korrektur ihrer teleologischen Ausrichtung erfordert und ermöglicht. Darüber hinaus erweisen sie sich als ein präzises Instrumentarium für den Begriff der je nach theoretischer oder ästhetischer Einstellung des Betrachters ihre Gestalt wechselnden kunstästhetischen Phänomene und zeugen von einer beachtlichen Aktualität der Ästhetik und Kunstphilosophie Ernst Cassirers. Nicht alle Ergebnisse dieser Untersuchung sollen an dieser Stelle noch einmal zusammengefaßt werden. Für ihre komprimierte Darstellung sei der Leser auf die Einleitungen zu den jeweiligen Kapiteln verwiesen, die einen Leitfaden durch die gesamte Arbeit ziehen. Nur einige wenige sollen noch einmal hervorgehoben werden und zeigen, wie innovativ und dennoch resistent gegen modische Extremismen Cassirers Symbolphilosophie auch heute noch ist: 1. Durch die Integration der Kunst in die Philosophie der symbolischen Formen wird eine Erweiterung des Begriff s der Erfahrung erforderlich. Während der Erfahrungsbegriff, den Cassirer von Kant übernimmt, zunächst auf die Erkenntnis von Gegenständen und Sachverhalten zugeschnitten war, erzwingt die sich im

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resümee

Umgang mit Kunst einstellende ästhetische Erfahrung eine Ausweitung des Begriff s auf Selbst- und Gemeinschaftserfahrung. Einer Spaltung in subjektivistische Ästhetik, die den objektiven Pol – das Kunstwerk – vernachlässigt, und objektivistische Kunstwissenschaft, die gegebene Formen untersucht, zur ästhetischen Erfahrung aber keinen Zugang fi ndet, wirkt Cassirers Ästhetik entgegen. 2. Seine durch Leibniz sowie die Relativitätstheorie geprägten Begriffe von Raum und Zeit als variable Ordnungsdimensionen des Neben- und Nacheinander erlauben es, den Möglichkeitsraum, den die Kunst eröff net, sowie den Einspruch, den sie als Anwältin der Nichtidentität des Faktischen gegen die eindimensionale chronologische Zeit erhebt, nicht als devianten, sondern als originären Wirklichkeitsentwurf zu begreifen. Doch nicht nur die räumlichen und zeitlichen Strukturen von Kunstwerken, sondern auch die spezifi schen räumlichen und zeitlichen Dimensionen der ästhetischen Erfahrung können mit ihrer Hilfe präzise beschrieben werden. 3. Innerhalb der postmodernen Diskussion um das Erhabene läßt sich mit Cassirers Begriff der relationalen Struktur des Bewußtseins eine Position formulieren, die das Erhabene nicht als Scheitern von Synthetisierungsversuchen, sondern kantisch als Kontinuum des Formbegehrens begreift. 4. In der aktuellen Diskussion um Kunst als »Werk« oder »Ereignis« kann mit Hilfe der Cassirerschen Theorie symbolischer Formung eine Vermittlung scheinbarer Oppositionen erreicht werden: Der Akt der symbolischen Formung (zum Werk) ist insofern ein Ereignis, als das Ergebnis, das Werden von Ich und Welt, unvordenklich ist. Den ontologischen Status des Kunstwerks verkennt wiederum, wer es in seiner materiellen Gegenständlichkeit beschlossen sieht und nicht – wie Cassirer – als provisorischen Haltepunkt schöpferischer Prozesse begreift. 5. Während das postmoderne Subjekt, einem Überforderungsreflex folgend, seinen eigenen Tod simuliert und sich der Verantwortung für sein kulturelles Handeln zu entziehen versucht, sind für Cassirer alle symbolischen Formen Ausdrucksformen des Menschen. Er entwirft eine differenzierte Theorie verschiedener Positionen, die der Mensch gegenüber seinen Produkten einnehmen kann. Auch diejenige Kunst, in der er seine Spuren zu tilgen versucht, behält Zeugnischarakter. Ernst Cassirers Ästhetik ist eine Ästhetik im Zeichen des Menschen. Das Paradigma oder Urbild der symbolischen Form ist für Cassirer der Mensch selbst, in dem sich Körper und Geist, Sinnlichkeit und Intellektualität vereinen. Als exemplarische symbolische Form führt er des öfteren die Kunst an, denn in der Kunst erreicht der Mensch ebenso wie in der Wissenschaft das Ziel der intellektuellen Entwicklung – die Ausbildung seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion –, ohne jedoch den anderen Teil seiner selbst, die Sinnlichkeit, verkümmern zu lassen. Die Kunst betrachtet Cassirer als ein Medium, in dem alle Reflexionsstufen: Ausdruck, Darstellung und reine Bedeutung miteinander korrespondieren anstatt gegeneinander verkürzt zu werden. Entsprechend ist die Ästhetik Ernst Cassirers eine Theorie,

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die zwischen Formreflexion und der Aufmerksamkeit auf die materiale Bedingtheit einer jeden Form vermittelt. Cassirers Ästhetik ist eine Kompensationstheorie, in der die Kunst bzw. die ästhetische Erfahrung zum einen den Verlust von sinnlicher Unmittelbarkeit und konkreter Erlebnisfülle, den der Mensch durch die Abstraktion des wissenschaftlichen Weltbegriff s erlebt, kompensiert. Zum anderen stellen die individuellen Weltentwürfe der Kunst für Cassirer auch bzw. gerade in nachmetaphysischen Zeiten Orientierungsangebote dar, in denen die Unmöglichkeit einer Theodizee Konsens, das Bedürfnis nach Sinn und Übersicht aber keineswegs verschwunden ist. Die traditionell als Begrenztheit gewertete Eigentümlichkeit des menschlichen Ver standes, der das Reich der Ideen nur im Bereich der Phänomene, d. h. in ihrer den Sinnen zugänglichen Erscheinungsweise studieren kann, wird für Cassirer zu einem den Menschen auszeichnenden Merkmal. Aufgrund seiner Sinnlichkeit ist der Mensch in der Lage, eigene Symbolwelten zu schaffen. Die Ästhetik Cassirers überfl iegt den menschlichen Lebensraum nicht, um eine transzendente Welt zu behaupten, sondern sie wertet die Immanenz auf. »Ästhetischer Sinn« sowie Freude an sinnlichen Gestalten ist an sinnlichen Eindruck gebunden. Die ästhetische Seite der Phänomene ist nur dem Menschen zugewandt. Eine Aufgabe der Ästhetik ist es, die welterschließenden Qualitäten der einzelnen Sinne auszuloten und ihren Genuß zu intensivieren. Die elaborierteste Fassung von Cassirers Ästhetik fällt in die anthropologisch geprägte Spätphase seiner Philosophie, eine Phase, in der sich seine Aufmerksamkeit endgültig von der Phänomenologe der Erkenntnis zu einer alle Arten kognitiver und emotionaler Handlungen umfassenden Theorie verschoben hat. Zu diesem Zeitpunkt steht die Gestaltung einer humanen Welt durch Kommunikation für ihn im Vordergrund. Kunst ist eine Form, in der der Mensch sich verständigt. Sie ist diejenige symbolische Form, in der er sich nicht auf kollektiv akkreditierte Verständigungsmittel und -formen verläßt, sondern unter dem besonderen »Neigungswinkel seines Daseins«1 dem anderen zuwendet. Die Kunst ist daher diejenige Form, in der der Mensch als personales Wesen zum Ausdruck kommt.

P. Celan, »Der Meridian«, in: ders., Gesammelte Werke in sieben Bänden, Frankfurt/Main 2000, Bd. 3, S. 197. 1

LITER AT U RV ER Z EICH N IS 1. Schriften von Ernst Cassirer und Siglen Ernst Cassirer, Gesammelte Werke, Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki, Hamburg 1998 ff. (zitiert als ECW + Bandnummer) ECW 1: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Hamburg 1998. ECW 2: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Erster Band, Hamburg 1999. ECW 3: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band, Hamburg 1999. ECW 4: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band, Hamburg 2000. ECW 5: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Vierter Band, Hamburg 2000. ECW 6: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Hamburg 2000. ECW 7: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Hamburg 2001. ECW 8: Kants Leben und Lehre, Hamburg 2001. ECW 9: Aufsätze und kleine Schriften 1902–1921, Hamburg 2001. ECW 10: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Hamburg 2001. ECW 11: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache, Hamburg 2001. ECW 12: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil. Das mythische Denken, Hamburg 2002. ECW 13: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil. Phänomenologie der Erkenntnis, Hamburg 2002. ECW 14: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance. Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, Hamburg 2002. ECW 15: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 2003. ECW 16: Aufsätze und kleine Schriften 1922–1926, Hamburg 2003. ECW 17: Aufsätze und kleine Schriften 1927–1931, Hamburg 2004. ECW 18: Aufsätze und kleine Schriften 1932–1935, Hamburg 2004. ECW 19: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem, Hamburg 2004. ECW 20: Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Hamburg 2005.

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literaturverzeichnis

ECW 21: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart. Thorilds Stellung in der Geistesgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Hamburg 2005. ECW 22: Aufsätze und kleine Schriften 1936–1940, Hamburg 2006. ECW 23: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, Hamburg 2006. ECW 24: Aufsätze und kleine Schriften 1941–1946, Hamburg 2007 (im Erscheinen). ECW 25: The Myth of the State, Hamburg 2007 (im Erscheinen). Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, hg. von Klaus Christian Köhnke, John Michael Krois und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995 ff. (zitiert als ECN + Bandnummer). ECN 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von John Michael Krois unter Mitwirkung von Anne Appelbaum, Rainer A. Bast, Klaus Christian Köhnke und Oswald Schwemmer, Hamburg 1995. ECN 2: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, hg. von Klaus Christian Köhnke und John Michael Krois, Hamburg 1999. ECN 3: Geschichte. Mythos, hg. von Klaus Christian Köhnke, Herbert Kopp-Oberstebrink und Rüdiger Kramme, Hamburg 2002. ECN 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, hg. von Rüdiger Kramme unter Mitarb. von Jörg Fingerhut, Hamburg 2004. ECN 6: Vorlesungen und Studien zur philosophischen Anthropologie, hg. von Gerald Hartung und Herbert Kopp-Oberstebrink unter Mitwirk. von Jutta Faehndrich, Hamburg 2005. ECN 10: Kleinere Schriften zu Goethe und zur Geistesgeschichte 1925–1944, hg. von Barbara Naumann in Zusammenarbeit mit Simon Zumsteg, Hamburg 2006. ECN 11: Goethe-Vorlesungen 1940–1941, hg. von John Michael Krois, Hamburg 2003. GL: Ernst Cassirer. Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von Ernst Wolfgang Orth, Leipzig 1993. HS I: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie I, übersetzt von Artur Buchenau, mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Ernst Cassirer, Hamburg 1996. HS II: G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II, übersetzt von Artur Buchenau, mit Einleitung und Anmerkungen hg. von Ernst Cassirer, Hamburg 1996. LK: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [Göteborg 1942], Darmstadt 1994. MS: Vom Mythus des Staates, Hamburg 2002 SMC: Symbol, Myth, and Culture: Essays and Lectures of Ernst Cassirer, 1935–1945, hg. von Donald Phillip Verene, New Haven/London 1979.

literaturverzeichnis

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