Die Welt der Liebe: Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität [1. Aufl.] 9783839420522

Wie ist der globale Konsum von Liebe möglich? Was geschieht, wenn lokale und globale Semantiken zusammenstoßen? Fördert

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German Pages 386 Year 2014

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Die Welt der Liebe: Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität [1. Aufl.]
 9783839420522

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Takemitsu Morikawa (Hg.) Die Welt der Liebe

Kulturen der Gesellschaft | Band 7

Takemitsu Morikawa (Hg.)

Die Welt der Liebe Liebessemantiken zwischen Globalität und Lokalität

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung sowie der Forschungskommission der Universität Luzern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Takemitsu Morikawa/Elias Bernet Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2052-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Vorwort und Danksagung des Herausgebers

Dieser Sammelband dokumentiert eine internationale und interdisziplinäre Tagung, die am 7. und 8. Oktober 2011 in Luzern zum Thema »Semantische Traditionen der Liebe und Ausdifferenzierung der Intimität. Divergenz und Konvergenz im Kulturvergleich« stattgefunden hat. Sie wurde vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF), von der Forschungskommission der Universität Luzern und von der DGS-Sektion Kultursoziologie gefördert. Das Tagungsprojekt steht in Verbindung mit dem vom SNF geförderten Projekt »Transformation der Liebessemantik in Japan. Von der Frühen Neuzeit in die Neuzeit«. Die Idee für diese Tagung fiel mir spontan ein, als feststand, dass ich mit dem gerade oben genannten Forschungsprojekt nach Luzern ging, wo Prof. Dr. Rudolf Stichweh, der weltweit anerkannte Spezialist für die Theorie der Weltgesellschaft, tätig war. Einem konventionellen Zweiländervergleich stand ich stets kritisch gegenüber, weil die Gefahr groß ist, damit in die Falle des Orientalismus/Okzidentalismus zu geraten. Es war mir ein Anliegen, einen Überblick von verschiedenen Varianten der Liebessemantik in verschiedenen Kulturkreisen zu schaffen und die Dynamik zwischen Globalität und Lokalität zu beleuchten, und damit einen Beitrag zur Weltgesellschaftsforschung zu leisten. Um trotz der begrenzten zeitlichen Ressourcen und finanziellen Mittel Redundanz zu vermeiden, wurden die Referenten so ausgewählt, dass möglichst verschiedene Kulturkreise auf dem Globus abgedeckt werden. Aus diesem Grund musste ich im gegebenen Fall bewusst auf prominente Forscher verzichten. Ich bedanke mich als Tagungsorganisator und Herausgeber hiermit noch einmal ganz herzlich bei einigen Personen für die Realisierung der Tagung und des Bandes: Wie erwähnt, wäre das Konzept ohne Prof. Dr. Rudolf Stichweh – wie meine andere Arbeit hier in Luzern – nicht möglich gewesen. Darüber hinaus stand er mir stets als Berater zur Seite und hat an der Tagung ein Referat gehalten. In der Anfangsphase habe ich auch mit Herrn Prof. Niles Werber (Siegen/Germanistik) über die Möglichkeit einer Tagung zum Thema gesprochen. Er

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hat darin eine gute Chance für die Realisierung und den Erkenntnisgewinn gesehen und mich zu der Umsetzung ermutigt. Frau Prof. Dr. Cornelia Bohn hat als Teilnehmerin der Tagung zu anregenden Diskussionen beigetragen. Für die organisatorische Hilfe danke ich vor allem Herrn Dr. Daniel Šuber (seit 2012 Würzburg/Soziologie), unserer Sekretärin Frau Marta Waser-Wyss und unserem Studiengangmanager Herrn Daniel Arold sowie den studentischen Hilfskräften Claudia Imfeld, Kathrin Weickhardt und Elena Schnetzler ganz herzlich. Beim Verfassen der Einleitung danke ich Dr. Christian Morgner, Dr. Adrian Itschert und Dr. York Kaut (Gießen/Soziologie) für die wissenschaftlichen Anregungen und Hinweise. Die Diskussion mit Prof. Dr. Harald Meyer (Bonn/Japanologie) hat mich dazu angeregt, noch einmal über das Verhältnis von Repräsentation (Semantik) und sozialer Praxis nachzudenken. Für die editorische Mitarbeit danke ich ganz herzlich Elias Bernet. Ohne seine tüchtige und verlässliche Arbeit hätte mir der Band wesentlich mehr Zeit und Kraft abverlangt. Die Publikation dieses Bandes ist meine zweite Zusammenarbeit mit Frau Jennifer Niediek vom transcript Verlag. Ich schätze ihren freundlichen Umgang und ihre Hilfestellungen sehr. Für die großzügige finanzielle Förderung bin ich dem SNF und der Forschungskommission der Universität Luzern, der DGS-Sektion Kultursoziologie zu großem Dank verpflichtet. Persönlich erwähnen möchte ich Prof. Dr. Martin Baumann (Religionswissenschaft) und Dr. Bruno Z’Graggen sowie Prof. Dr. Clemens Albrecht (Koblenz/Soziologie), Prof. Dr. Stephan Moebius (Graz/ Soziologie) und Prof. Dr. Joachim Fischer (Dresden/Soziologie). Wenn in diesem Band ein Überblick von verschiedenen Varianten der Liebessemantik in verschiedenen Kulturkreisen geschaffen bzw. die Dynamik zwischen Globalität und Lokalität beleuchtet werden konnte und wenn die organische Einheit dieses Bandes zur Geltung kommt, ist das Ziel erreicht. Der größte Dank geht an dieser Stelle noch einmal an die Autorinnen und Autoren. Luzern, September 2013 Takemitsu Morikawa

Inhalt

Vorwort und Danksagung des Herausgebers | 5 Einleitung

Takemitsu Morikawa | 9 Was heißt: »Sex haben«? Zur Semantik der zeitgenössischen Intimität

Jean Clam | 43 Dritte oder Tertiarität in Liebesdyaden. Zur Sozialtheorie dreifacher Kontingenz

Joachim Fischer | 59 »Haltungswechsel«. Zur Interkulturalität und Interpersonalität des philosophischen Liebesbegriffs

Frauke Annegret Kurbacher | 77 Romantische Liebe zwischen Ideen, Institutionen und Interessen. Zur Ausdifferenzierung der erotischen Wertsphäre nach Max Weber

Ulrich Bachmann | 101 »Ren’ai«. Fehlgeburt der modernen Liebe im Meiji/Taishô-Japan?

Takemitsu Morikawa | 141 Der Wandel der Liebessemantik im China der Moderne (1898–1948)

Meiyao Wu | 165 Mut zur Liebe. Neue chinesische Liebeskonzepte und ihre mediale Aufarbeitung

Anett Dippner | 185 Bollywood und Liebe im Kulturtransfer. Die literarische Transformation von Liebeskonzepten

Bernhard Fuchs | 209

»Das eigentliche Schlachtfeld zwischen Moderne und uns Arabern«. Liebe und Gesellschaft bei Rashid al-Daif

Andreas Pflitsch | 239 »Ich bekenne mich zu dieser so leidenschaftlichen Hommage an die gute alte Ehe«. Die Liebessemantik in Ehe- und Beziehungsratgebern von den 1950er Jahren bis zur Gegenwart

Sylka Scholz | 251 Undoing Couple? Intimsphären und ihre Aushandlung in polyamoren Beziehungen

Karoline Boehm | 275 »Liebe ist, wenn’s matcht«. Über die Rationalität des Kennenlernens und den Zauber der Liebe im kulturellen Kontext

Alexander Schmidl | 295 Berliner Jugendliche. Hybride Liebespraktiken und Liebessemantiken

Stefan Wellgraf | 313 Die Semantik der Liebe in der MPB bei Chico Buarque de Holanda

Edgar Roberto Kirchof | 341 Neuromancer. Zum Verhältnis von Liebe als Kulturmuster und Liebe als soziale Praxis am Beispiel des neuen US-amerikanischen Liebesfilms

Fehmi Akalin | 359 Autorinnen und Autoren | 381

Einleitung T AKEMITSU M ORIKAWA Il y a des gens qui n’auraient jamais été amoureux s’il n’avaient entendu parler de l’amour – LA ROCHEFOUCAULD

R OMANTISCHE L IEBE – U NIVERSELLES P HÄNOMEN ODER P RODUKT DES MODERNEN W ESTENS ? Eine Soziologie der Liebe kann auf verschiedenen Ebenen durchgeführt werden, wobei vor allem zwei Untersuchungsrichtungen zu unterscheiden sind: Der literarische bzw. mediale Diskurs über Liebe und die darin entwickelten Idealkonzeptionen (Kulturmuster, Semantik, Ideen) einerseits und die Umsetzung und das Wirksamwerden dieser semantischen Figuren in Beziehungsnormen andererseits (vgl. Lenz 2009). Das Leitthema des vorliegenden Sammelbandes schlägt die erste Richtung ein, wobei vor allem die Dynamik und Modifikation der Liebessemantik im Spannungsverhältnis von Globalität und Lokalität behandelt wird. 1 Das Thema Liebe zirkuliert in der gegenwärtigen Weltgesellschaft in verschiedenen Repräsentationsmedien wie Musik, Liebesromanen, Fernsehdramen, Kinofilmen, Comics, Videospiel und dergleichen und wird überall mit großer Beliebtheit konsumiert. Das Phänomen des »globalen Konsums der Liebe« verleitet häufig zu der Annahme, dass die Liebessemantik moderner und westlicher

1

Siehe auch zur Diskussion über die kulturelle »homogenization« und »heterogenization« in Bezug auf die Globalisierung zunächst Appadurai 1990; Aderhold/Heideloff 2001; Stichweh 2001; Stichweh 2007.

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Prägung – romantische Liebe – universalgültig sei. In solchen Medien wird Liebe zumeist naturalisiert, also als ein natürliches, wesentliches Gefühl dargestellt (vgl. Padilla 2007: ix). Ist die romantische Liebe ein universelles Phänomen oder ein Produkt der westlichen Moderne? Zu Beginn dieser Einleitung wird auf diese Frage eingegangen. Mit der Definition »any intense attraction that involves the idealization of the other, within an erotic context, with the expectation of enduring for some time into the future« (Jankowiak/Fischer 1992: 150) behaupten die Ethnologen William Jankowiak und Edward F. Fischer, dass fast 90% der von ihnen untersuchten Kulturen auf dem Globus die Vorstellung der romantischen, passionierten Liebe kennen. Genau so viele Kulturen kennen »companion love«, die der passionierten, romantischen Liebe entgegensteht. Die Ethnologen versuchen die Universalität der »romantic love« aus der psychologischen »attachment theory« zu begründen. 2 In Bezug auf diese ethnologische Universalitätsthese der »romantischen Liebe« möchte ich hingegen auf folgende Probleme hinweisen: 1. Sie haben zwar die Existenz der Vorstellung der »romantic love« in überlieferten Erzählungen in fast jedem Kulturkreis bestätigt. Jedoch geben sie zu, dass die romantische Liebe unterschiedlich bewertet wird, und sie geben auch zu, dass es sogar die emotionsfreundlichen und -feindlichen Kulturen gibt. 2. Darüber hinaus haben sie nicht gezeigt, wie die passionierte, romantische Liebe je nach sozialen Schichtungen, Gruppierungen und inneren Differenzierungen in unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich bewertet und praktiziert wird. Sie gehen mit dem anthropologischen Kulturbegriff davon aus, dass Kultur als handlungsleitendes und -koordinierendes Werte- und Normensystem in der betreffenden Gesellschaft bei allen Mitgliedern gleich verteilt und von allen gleich getragen wird. 3 3. Wenn auch das Gefühl der »romantic love« universell ist, wie die Ethnologen mit Hilfe von Psychologen behaupten, lässt sich daraus nicht schlussfolgern, dass es das universell gültige Liebeszeichen und den universalgültigen Liebesbeweis gibt. Was gilt als der Code für den Zugang zur romantischen Intimbeziehung? Wer ist es wert, geliebt zu werden? Für solche Fragen werden wir bestimmt keine universell gültige Antwort finden. Die moderne Liebe ist nur möglich unter den Bedingungen von: 1) funktionaler Differenzierung der Gesellschaft, 2) Differenzierung von Interaktion und funktionalen Systemen, 3) Differenzierung von psychischem und sozialem Sys-

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Eine soziologische Begründung von Liebe und Intimität in ähnlicher Richtung siehe Dux 1994.

3

Zur Kritik am anthropologischen Kulturbegriff siehe Tenbruck 1985, neuerlich Reckwitz 2006.

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tem (vgl. Luhmann 1997: 618f.; 743f.; 813f.; hier beziehe ich mich auf Schmidt 2000: 78f.). Es ist daher anzunehmen, dass jede Kultur eine lokal gepflegte Semantik der Liebe hat. Liebe hat zwar Bezug zur organischen Faktizität des Zusammenlebens, also zur Sexualität (als symbiotischen Mechanismus [Luhmann 2009=1981b]) und Sexualität deutet als anthropologische Konstante an, dass es in jeder Kultur – abgesehen von Graden und Formen der Differenzierung sowie ihrem Geltungsgebiet – eine Semantik (gesellschaftlich geteilter Wissensvorrat) gibt, die den Zugang zur sexuell fundierten Intimität reguliert. Dieses Wissen wird üblicherweise im Gedächtnis der Gesellschaft, vor allem in Literatur- und Bildmedien – als Repräsentations- und Speichermedien – gepflegt und gespeichert. Wenn dem so ist, klingt es doch plausibel, dass die moderne Liebe – Zusammenführung der Liebe, Ehe, Sexualität, Freundschaft, Leidenschaft, Dyadizität – durchaus ein historisches Produkt ist, wenn sie auch den Universalitätsanspruch erhebt, wie Kapitalismus, Rechtsstaat, Demokratie. Die Errungenschaft der europäischen Romantik liegt darin, »romantic love«, »companion love« und Sexualität integriert zu haben und über die Grenze der sozialen Schichtungen hinaus als universell erklärt zu haben.

D IE E VOLUTION DER L IEBESSEMANTIK G ESELLSCHAFTSDIFFERENZIERUNG

UND

Niklas Luhmann beschrieb in seinem Buch »Liebe als Passion« (1982), das heute schon zu den Klassikern zählt, die Evolution der Liebessemantik Westeuropas. Die soziale Semantik (Ideen, Kultur) kann zwar »nicht einfach als Ursache, aber auch nicht bloß als Wirkung der sozialstrukturellen Veränderungen begriffen werden«. Sie wirkt auf sehr viel komplexere Weise an den »evolutionären Veränderungen der Gesellschaftsstruktur« (Luhmann 2008: 56f.) mit. Im Anschluss an den Entwurf einer historischen Semantik bei Reinhart Koselleck (vgl. 1972) sieht Luhmann im Wissen selbst eine emergente Ordnung des sozialen Wandels und er geht davon aus, dass die Evolution einer Semantik mit dem Wandel von Bedeutungen soziale Prozesse strukturiert und differenziert. Seine Semantikanalyse (vgl. Luhmann 1980; 1981a; 1982; 1989; 1995) und seine Differenzierungstheorie (in der letzten Form: Luhmann 1997: 609ff.) stützen einander. Die Entstehung der gegenwärtigen Liebessemantik westlicher Prägung erfolgte im Übergang der traditionalen, stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. Die von Alfred Schütz begründete und von Peter Berger und Thomas Luckmann weiter entwickelte, subjektivistische Soziologietradition nahm an, dass jede Lebenswelt

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(Kultur bzw. Bedeutungssystem) jeweils religiös gegliedert ist und ihr eigenes Zentrum (sacred canopy) besitzt (vgl. Berger 1969; Berger/Luckmann 1977). Luhmanns Verdienst liegt hier darin, die Gliederung der Lebenswelt mit der gesellschaftstheoretischen Differenzierungstypologie einerseits und der Entwicklung der Kommunikationstechnologie (Verbreitungsmedien) anderseits in Verbindung gebracht zu haben. Damit wird gezeigt, dass das Modell der Lebenswelt mit einem deutlichen religiösen Zentrum nur begrenzte Gültigkeit besitzt. Im Wandel zur modernen, funktional differenzierten Gesellschaft untersuchte Luhmann (1982) folgende zusammenhängende Erscheinungen: 1) Der Wandel der gesellschaftlichen Differenzierung von der segmentären Form über die stratifikatorische bis hin zur funktionalen Differenzierung: In der vormodernen Gesellschaft mit stratifikatorischer Differenzierung gilt die Differenz von oben/unten als Leitdifferenz und die Gesellschaft ist hierarchisch gegliedert. Dagegen kennzeichnet Luhmann die moderne Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft, in welcher jedes Funktionssystem (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Familie usw.) seine je eigene Aufgabe bewältigen muss. Die Sattelzeithypothese Reinhard Kosellecks entspricht dem gesellschaftstheoretischen Übergangsmodell von der stratifikatorischen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft. 2) Die Umbauten im Verhältnis von Gesellschaft und Individualität, d.h. der Wandel von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität: Ein Individuum wird in der modernen Gesellschaft nicht mehr von einem einzigen Teilsystem wie einem Stand, einer Dorfgemeinde u. dgl. vollständig inkludiert, statt dessen vollzieht sich die Inklusion quer zu den Kommunikationen der verschiedenen Funktionssysteme. Die Individualität als Einheit lässt sich in der Moderne extrasocietal herstellen (Luhmann 1989: 158; Bohn 2006: 55f.). 3) Die Rolle der Semantik und des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums Liebe: Liebe ist »ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen und leugnen« (Luhmann 1982: 23) kann. 4) Liebe gilt in der modernen Gesellschaft »als unbegründbar und als persönlich deklariert« (Luhmann 1982: 22) und die konstitutive Differenz der modernen Liebe ist die von (höchst-) persönlich/unpersönlich: Während Kommunikationen in anderen Funktionssystemen wegen der äußerst partiellen Inklusion der einzelnen Person als unpersönlich erscheinen, lässt nur die Kommunikation im System für Intimbeziehungen – neben dem Religionssystem – zu, die Vollpersönlichkeit einer Person zu berücksichtigen. Je weiter die funktionale Differenzierung der Gesellschaft fortschreitet, desto mehr steigt der individuelle Bedarf nach einer Nahwelt, die vielfältige Aspekte und Idiosynkrasien integriert. In diesem Sinne ist der jeweilige Stand der Liebessemantik ein wichtiger Indikator für die Differenzierung der Gesellschaft.

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Für die Ausdifferenzierung des Intimsystems und die Autopoiesis der intimen Kommunikationen gelten zwei Voraussetzungen: 1. Intime Kommunikationen müssen von allen anderen Kommunikationen wie der Politik, der Wirtschaft, der Religion u. a. unterscheidbar sein. 2. Eine intime Kommunikation muss sich selbst zum Anschluss an weitere intime Kommunikationen motivieren, d.h. sie darf nicht von anderen gesellschaftlichen Mächten und Autoritäten wie der politischen, ökonomischen, religiösen, aber auch von Eltern bzw. Verwandtschaften erzwungen werden. Daher legt Niklas Luhmann in der Evolution der Liebessemantik einen großen Wert auf amour passion (vgl. auch Giddens 1992; Giddens 1993). Das Code-Symbol der »Passion« symbolisiert »die Ausdifferenzierung des Liebens aus der gesellschaftlichen Kontrolle. […] Im Keim enthält dieses Konzept [amour passion] die Chance, sich in Angelegenheiten der Liebe von gesellschaftlicher und moralischer Verantwortung freizuzeichnen. […] Passion wird zu Handlungsfreiheit, die weder als solche noch in ihren Wirkungen gerechtfertigt zu werden braucht.« (Luhmann 1982: 73) Was man aus Passion macht, das muss man weder rational erklären noch rechtfertigen. Diese Aufwertung der Passion erfolgte auch in der westeuropäischen Humansemantik im 17. Jahrhundert (vgl. Luhmann 1982: 75). Luhmann zeichnet die Evolution der Liebessemantik und die entsprechende Ausdifferenzierung des symbolisch generalisierten Kommunikationsmediums »Liebe« wie folgt nach: Idealisierung, Paradoxierung und schließlich die Selbstreferenz (das Lieben um der Liebe willen). Wenn es bei der Liebe nur auf physische und soziale Äußerlichkeiten, auf Rang und gutes Aussehen ankäme, könnten nur Menschen mit gutem Aussehen bzw. mit hohem sozialen Rang, also mit idealen Eigenschaften, in eine Intimbeziehung eintreten. Die Intimbeziehung würde sich mithin auf eine kleine Zahl von Personen beschränken, die diesen Idealen entsprechen. Sobald Paradoxierungen von Liebe an Bedeutung gewinnen, muss Liebe sich selbst motivieren. Ihr wird zugemutet »gewisse, nicht allzu schwerwiegende Tugenddefekte und sogar Schönheitsdefekte zu überdauern.« (Luhmann 1982: 63) Dies schreitet mit der sich steigernden Reflexivität des Liebens voran. Die Reflexivität des Liebens bedeutet erstens wegen der Differenzierung von psychischen und sozialen Systemen die Möglichkeit des Zweifelns an der Liebe, die somit einen Liebesbeweis erfordert, der je nach der Gesellschaftsdifferenzierung unterschiedlich sein kann. Zweitens heißt Reflexivität der Liebe: Ich liebe, dass ich als Liebende(r) und Geliebte(r) dich als Liebende(n) und Geliebte(n) liebe. Es ist kein modernes Phänomen, eine Frau bzw. einen Mann – sexuell bedingt – zu begehren. Dies ist für Menschen universell. Modern ist da-

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gegen, das Lieben selbst zu lieben. 4 Geliebt wird zuerst ein Individuum, das von allen anderen unterscheidbar ist, aber es wird als Liebende(r) und Geliebte(r) beobachtet. 5 Die Paradoxierung der Liebessemantik vollendet die Auflösung der alten, stratifikatorischen Differenzierung mit der Kontrastierung von »hoher« und »sinnlicher« Liebe, und sie beginnt mit dem Einbau der Sexualität als essentielles Begleitphänomen der Liebe. Die Ethnologen bestätigen zwar die Universalität von companion love und romantic love, die jedoch nicht immer integriert, sondern üblicherweise eher als Gegensatz behandelt werden. In diesem Sinne ist die romantische Liebe westlicher Prägung als ein einzigartiges Phänomen zu sehen, weil companion love und romantic love darin integriert wurden. Schließlich ist es die deutsche Romantik, welche die Liebe zur Selbstreferenz befördert, indem sie ihr abverlangt, die Einzigartigkeit der Partner zu akzeptieren und mithin eine »höchstpersönliche« Intimbeziehung zu begründen. 6 Damit werden soziale Beziehungen geschaffen, »in denen mehr individuelle, einzigartige Eigenschaften der Person oder schließlich prinzipiell alle Eigenschaften einer individuellen Person bedeutsam werden« (Luhmann 1982: 14). Die »romantische« Liebe ist seither der einzig legitime Grund für die Partnerwahl geworden (vgl. Luhmann 1982: 186). Schließlich kann die Semantik der Liebe trivialisiert werden. Denn mit der Universalisierung der Liebe, die ein jedermann zugängliches Selbst erfordert, wird »der Liebende selbst Quelle seiner Liebe« (Luhmann 1982: 209). Anschließend an die soziologische Diskussion über die romantische Liebe fasst Karl Lenz die romantische Liebe als Kulturprogramm mit den folgenden Merkmalen zusammen (vgl. Lenz 2009: 276–279): (1) die Einheit von sexueller Leidenschaft und affektiver Zuneigung, nämlich die Einbeziehung der Sexualität in die Liebessemantik; (2) das Postulat der Einheit von Liebe und Ehe: »Liebe, und nur sie, begründet eine wahre Ehe«; (3) die Elternschaft: »Durch Elternschaft erfahre die durch Liebe begründete und durch sie getragene Ehe ihre letzte Vollendung« (Lenz 2009: 277); (4) ein hoher Wert auf die Aufrichtigkeit des liebenden Gefühls: »Alle Taktiken in der Anbahnung und in der Erhaltung einer Liebesbeziehung gelten als verwerflich. [...] Die romantisch Liebenden bauen auf Dauerhaftigkeit ihrer Liebe und Treue«. Stattdessen wurde der Zufall zum Startmechanismus erhoben (Liebe im ersten Augenblick); (5) Die romantische Liebe ist weiterhin gekennzeichnet durch die Einbeziehung einer »grenzenlos steigerbaren Individualität« (Luhmann 1982: 178) der einander Liebenden. »Die romantische Liebe ist auf ein einzigartiges Individuum ausgerichtet, und durch

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Vgl. mit der Definition der »romantic love« von Jakowiak/Fischer 1992.

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Man denke an Emma Bovary in dem bekannten Roman von Gustave Flaubert.

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Zum Liebeskonzept der deutschen Romantik siehe vor allem Kluckhohn 1966.

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die Verbindung zweier einzigartiger Individuen gewinnt die Beziehung ihre Einmaligkeit« (Lenz 2009: 278); (6) Die romantische Liebe verleiht dem Individuum somit »eine einmalige Chance – die Chance, in seiner Einzigartigkeit anerkannt und bestätigt zu werden«; (7) »Im romantischen Liebescode wird erst die erwiderte Liebe zur eigentlichen Liebe. Die Frau wird nicht mehr nur verehrt und idealisiert, wie es sehr ausgeprägt in der höfischen Liebe der Fall war, sondern nun werden ihre Gefühle ebenso wichtig wie die des liebenden Mannes. In der romantischen Liebe geht es immer um die Gefühle und damit um das Glück beider Personen. Die Frau wird in der Romanliteratur des 18. Jahrhunderts als ein autonomes Gefühlssubjekt entworfen, dem das Recht auf das ›Nein‹ in Liebesangelegenheiten zuerkannt wird.« 7

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Mit dieser Definition der romantischen Liebe ist m.E. die Unterscheidung von romantischer und partnerschaftlicher Liebe (romantic love and pure love) durch Giddens irreführend und überflüssig (vgl. Giddens 1991: 89ff.; Giddens 1992: 37-86; Giddens 1993: 48-99; auch Gross/Simmons 2002: 536). Denn alle wesentlichen Bestimmungen von der partnerschaftlichen Beziehung sind in den romantischen Ideen enthalten. Giddens zufolge ist die partnerschaftliche Liebe von der romantischen vor allem in den folgenden drei Punkten zu unterscheiden: 1. In der romantischen Liebe geht es (immer noch) um die materielle Sicherheit und Behaglichkeit; 2. Die romantischen Liebe sei immer noch eher eine spirituelle als eine sexuelle und sinnliche Liebe; 3. die romantische Liebe ist heterosexuell. Mit den oben genannten Bestimmungen braucht es keine Worte darüber zu verlieren, dass das erste Argument daneben ist. Man kann aus der Idee der romantischen Liebe nicht die materielle Sicherheit und Behaglichkeit im Eheleben ableiten. Höchstens kann man sagen, dass die Heiratspraktiken zu jener Zeit noch nicht ganz von den ökonomischen Überlegungen befreit wurden. Das zweite Argument ist auch nicht richtig. Denn die Einbeziehung der Sexualität in die Liebessemantik und die Aufhebung des alten Gegensatzes von spiritueller und sinnlicher Liebe konstituierten sich Luhmann und Lenz zufolge gerade in der deutschen Romantik. Das dritte Argument ist auch nicht haltbar. Denn die Elternschaft bedeutet kein Primat der Fortpflanzung. Der gegenwärtige Anspruch von homosexuellen Paaren auf die Adoption beweist, dass die Elternschaft nicht die Heterosexualität impliziert. Es ist zugleich für mich erstaunlich, dass Giddens die quantitative Bestimmtheit der modernen Liebe – Dyadizität – nicht in Frage gestellt hat (vgl. Tyrell 1987). Siehe auch den Beitrag von Joachim Fischer, Ulrich Bachmann und Karoline Boehm im vorliegenden Band.

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R EPRÄSENTATIONSMEDIEN 8 UND SOZIALE P RAKTIKEN In diesem gesellschaftstheoretischen Rahmen vermittelt die technische Entwicklung der Kommunikationsmedien (Verbreitungsmedien) als Zwischenglied die Evolution der Semantik und die der Gesellschaftsdifferenzierung miteinander. Die Einführung der Schrift, die Durchsetzung des Buchdrucks und die Erfindung von weiteren Verbreitungsmedien bis zur modernsten Form des Internets haben immer einen gesellschaftlichen Umbruch ausgelöst. Luhmann zufolge ist in der Evolution der Verbreitungsmedien – von der Erfindung der Schrift bis zu den modernen, elektronischen Medien – einen Trend festzustellen: Transformation von »hierarchischer zu heterarchischer Ordnung und Verzicht auf räumliche Integration gesellschaftlicher Operationen« (Luhmann 1997: 312; vgl. Giddens 1996: 85, 100). Mit anderen Worten: Die technische Entwicklung der Verbreitungsmedien führt zunehmend zur funktional differenzierten Weltgesellschaft. Wenn dem so ist, können wir dann in der funktional differenzierten Weltgesellschaft neben Weltpolitik, Weltwirtschaft, Weltwissenschaft u. ä. auch vom Weltintimsystem 9 reden? Dazu stellen sich sofort zwei Fragen: 1. Wie ist der globale Konsum der Liebessemantik überhaupt möglich? Liebesfilme aus Hollywood laufen heutzutage in Kinos auf der Welt überall. Fernsehdramen wie Sex and City erlangte nicht nur in den USA und Westeuropa, sondern auch in Japan und Südostasien große Beliebtheit. Auch in entgegengesetzter Richtung kommen Bollywoodfilme beim westlichen Publikum sehr gut an. 2. Was bringt der globale Konsum der Liebessemantik mit sich? Führt dies zur Angleichung des Lebensstils in Zweierbeziehungen? Bevor ich diese Probleme diskutiere, gehe ich hier skizzenhaft auf das Verhältnis von medialer Repräsentation (Semantik bzw. Repräsentationsmedien) und sozialer Praxis ein. Seit Ernst Cassirer (Philosophie der symbolischen Formen) ist in Kulturwissenschaften und -philosophie bekannt, dass alle menschli-

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Zur Reflexion über verschiedene Funktionen von Medien siehe zunächst Bohn 2005; Münker/Roesler (Hrsg.) 2008.

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Padilla et al (2007) (Hrsg.) bietet eine richtige Fragestellung: »how these constructions [social constructions of love] are changing in the context of contemporary processes of globalization« (Padilla 2007: x). Der vorliegende Sammelband schließt zwar in einem gewissen Sinne an diese Fragestellung an, aber Beiträge in Padilla et al (2007) interessieren sich selten für die Rolle von Medien und somit wenig für die Variationen der Semantik in Repräsentationsmedien. Stattdessen fokussieren sie eher Abweichungen und Variationen von sexuellen (intimen) Praktiken unter den Bedingungen der Globalisierung.

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chen Ausdrücke – Sprache, Mythos, Kunst und Wissenschaft – nicht einfach Abbzw. Nachbild der Wirklichkeit, sondern die von dem menschlichen »Geist« produzierte, autonome Symbolsysteme sind. Sie zeigen uns ihre eigenen Strukturen, Logiken, Regelmäßigkeiten und Dynamiken. Symbolsysteme produzieren symbolische Bilder bzw. Zeichen, wobei es sich aber nicht um solche Bilder handelt, »die irgendeine an sich bestehende Welt der ›Sachen‹ wiedergeben, sondern um Bildwelten, deren Prinzip und Ursprung in einer autonomen Schöpfung des Geistes selbst zu suchen ist. Durch sie allein erblicken wir und in ihnen besitzen wir das, was wir die ›Wirklichkeit‹ nennen: Denn die höchste objektive Wahrheit, die sich dem Geist erschließt, ist zuletzt die Form seines eigenen Tuns« (Cassirer 1923: 45f.). Repräsentation der Wirklichkeit durch Symbole bedeutet keine einfache Wiedergabe, sondern: »Ausdruck einer ideellen Regel, die das Besondere, hier und jetzt Gegebene, an das Ganze knüpft und mit ihm in einer gedanklichen Synthese zusammenfaßt, so haben wir es in ihr mit keiner nachträglichen Bestimmung, sondern mit einer konstitutiven Bedingung alles Erfahrungsinhalts zu tun. Ohne diese scheinbare Repräsentation gäbe es auch keinen ›präsenten‹, keinen unmittelbar gegenwärtigen Inhalt; denn auch dieser besteht für die Erkenntnis nur, sofern er einbezogen ist in ein System von Relationen, die ihm erst seine örtliche und zeitliche wie seine begriffliche Bestimmtheit geben.« (Cassirer 1910: 306) Die Repräsentationsmedien – Bilder, Zeichen – verhalten sich zu jedem Einzelnen als das Allgemeine. Denn: »dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant für eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes ›Allgemeines‹ darstellt.« (Cassirer 1923: 20) Alle Kulturen bestehen als Gesamtheit von Symbolsystemen und »alle Kultur erweist sich in der Erschaffung bestimmter geistiger Bildwelten, bestimmter symbolischer Formen wirksam.« (Cassirer 1923: 49) Daher sehen die Kulturwissenschaften im weitesten Sinne ihre Aufgabe darin, »zu verstehen und zu erweisen, wie aller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat.« (Cassirer 1923: 9) Cassirer nahm hier das moderne, konstruktivistische Verständnis des Verhältnisses von Wirklichkeit und Medien (-Wirklichkeit) vorweg. Demzufolge ist die Medienwirklichkeit kein Abbildmechanismus, sondern stellt »einen eigenständigen Prozess der ›Wirklichkeitskonstruktion‹« dar (Keppler 2005: 95).

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Symbolsysteme stellen Beschreibungs- und Ausdrucksmittel zur Verfügung, damit subjektive Erlebnisse zur intersubjektiv mitteilbaren und verständlichen Formen artikuliert werden. Sie zeigen uns also in diesem Sinne die Grenze der Möglichkeiten – möglicher Erfahrungen, möglicher Beobachtungs- und Beschreibungsperspektiven sowie möglicher Verhaltensrepertoires – in bestimmten Zeiten und Orten. 10 Die symbolische Repräsentation (Semantik) und die soziale Praxis stehen im Verhältnis eines hermeneutischen Zirkels. »Nur im Hin und Her vom ›Darstellenden‹ zum ›Dargestellten‹, und von diesem wieder zu jenem zurück, resultiert ein Wissen vom Ich und ein Wissen von ideellen wie reellen Gegenständen.« (Cassirer 1929: 232) Dieses Repräsentationsverhältnis schildert Gottfried Boehms Bildtheorie wie folgt: »Es dämmert die Einsicht, dass Bilder nicht das sind, wofür sie viele immer noch halten – etwas Nachträgliches, das man letztlich folgenlos wie Spiegel, an der Realität vorbeiführt –, sondern eine Macht, imstande, unsere Zugänge zur Welt vorzuentwerfen und damit zu entscheiden, wie wir sie sehen, schließlich: was die Welt ›ist‹. Wer sie anders anzuschauen vermag, ist ihr gewiss so nahe wie derjenige, der seine Begriffe verändert.« (Boehm 2007: 14) 11 In der Soziologie hat vor allem Erving Goffman dieses Verhältnis von Medien (Symbolen) und sozialen Praktiken wieder in den Vordergrund gestellt. Sein Verdienst liegt darin, noch einmal die richtungsweisende Funktion des Symbols betont zu haben. Menschliche Ausdrücke wie Musik, Malerei, Theater, Kinofilme, Fernsehdramen, Comics – was ich hier als Repräsentationsmedien bezeichnen möchte – sind kein einfaches Ab- bzw. Nachbild der sozialen Wirklichkeit, sondern diese Symbolsysteme haben eine Vorbild- bzw. richtungsweisende Funktion für das Alltagshandeln und bieten Orientierungswerte. Die mediale Darstellung von Verhalten greift unentwegt auf ein im praktischen Bewusstsein vorhandenes Verhaltensrepertoire der Figuren im Alltag zurück. Ohne Vorwissen bzw. Vorgriff auf die Verhaltensrepertoires in den Repräsentationsmedien

10 Auf dieses Verhältnis von Repräsentation (Semantik) und Praxis hat Max Weber in seiner Lehre des Idealtypus hingewiesen (Weber 1988 [1922]: 1-214). Wegen dieses richtungsweisenden Charakters der Repräsentationsmedien hat er im Anschluss an die südwestliche Schule des Neukantianismus die begriffliche Repräsentation als Idealtypus bezeichnet und dessen Wertcharakter unterstrichen. Siehe Morikawa 1998; ders. 2001: 187-226. 11 In soziologischen Forschungen für visuelle Repräsentationsmedien auch Chaplin 1994; Hall (Hrsg.) 1997; Mai/Winter (Hrsg.) 2006; Raab 2008; Breckner 2010; Bohn 2012. In Literaturtheorie vgl. Iser 1991.

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(Semantik) wäre kein Verstehen von objektivierten Kulturen (Texten) und von Verhalten von Anderen möglich. Fiktive Sätze wie »Gott schuf in sieben Tagen die Welt« und »Wotan baute Walhall« haben zwar keine Pendants in der Realität, aber sie sind für den Leser verständlich, nur weil und sofern der Leser Begriffe wie »schaffen« und »bauen« als Handlungsrepertoire verstehen kann. »Dieser Rückgriff auf ein alltäglich verfügbares Repertoire von Verhaltensweisen ist auch notwendig, um das Fremdverstehen der Zuschauenden zu garantieren.« (Lenz 2006: 126) Die mediale Darstellung macht es bewusst, was zwar zuvor objektiv – nach dem jeweiligen Stand des technischen und praktischen Wissens – möglich, aber (noch) nicht von gewöhnlichen Akteuren bewusst für möglich gehalten wird. Die neueren Kombinationen von Symbolen (Ideen, Semantiken) müssen in Fiktionen getestet werden und von der Seite des Publikums Evidenz und Plausibilität gewinnen (vgl. Luhmann 1997: 539, 548). Kunstwerke im weitesten Sinne – einschließlich fiktive Erzählungen, Kinofilme, Fernsehdramen, Comics, Videospiele u. dgl. – waren und sind als Arena des Gedankenexperiments für neuere Ideen geeignet. Wenn die neuere Ideen bzw. Semantiken als Verhaltensmuster Plausibilität gewinnen, setzen sie sich zur Verbreitung durch. In diesem Sinne ist das gewöhnliche Verhalten »in gewissem Sinne eine Nachahmung des Schicklichen, eine Geste gegenüber dem Vorbildlichen, und die beste Verwirklichung dieser Ideale findet man eher im Reich der Erfindung als in der Wirklichkeit« (Goffman 1980: 604). Zwar beschäftigte sich Goffman selbst nur mit visuellen Medien wie Filmen und Fotos. Seine These gilt jedoch auch für alle anderen Repräsentationsmedien. Medien nehmen Einfluss darauf, wie Menschen sprechen, sich kleiden, sich inszenieren und handeln. 12 Zwar ist es schwierig, festzustellen, wie eine einzelne Fernsehsendung bzw. ein einzelner Kinofilm eine einzelne Handlung beeinflusst. Dennoch lässt sich im Allgemeinen sagen: Fiktive Repräsentationsmedien waren und sind ein wichtiges Medium der Enkulturation (vgl. Mai/Winter 2006: 8). 13 In dem hier dargestellten Sinne verkörpern Fiktionen »auch die Träume einer Epoche, die im Widerspruch zur dominanten Ideologie stehen können und sie in gewisser Weise dekonstruieren« (Mai/Winter 2006: 9; vgl. auch Luhmann 1997: 536ff.).

12 Für einen guten Überblick über die Wirkungsforschung siehe Prokop 1995. 13 In ähnlicher Form findet sich diese These auch im Werk von Anthony Giddens, siehe dazu Gross/Simmons 2002.

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R OMANTISCHE L IEBE

ALS I DEOLOGIE ?

Der radikale Konstruktivismus geht von der These aus, dass Massenmedien in der gegenwärtigen Gesellschaft zu Instrumenten der Wirklichkeitskonstruktion geworden sind. Er unterstreicht vor allem die Rolle des Fernsehens für die Sozialisation (vgl. Keppler 2005: 99; Schmidt 1998). Die Vorbildfunktion der Repräsentationsmedien setzt jedoch nicht erst in der Moderne mit den modernen Kommunikationstechnologien ein. 14 Kunstwerke im breitesten Sinne und die darin dokumentierten und/oder erzählten Verhaltensweisen übernehmen seit langem die moralische Vorbildfunktion zu Zwecken der Identifikation und Orientierung. Der steigende Bedarf nach Liebesromanen – als Reflexions- und Repräsentationsmedien des sich ausdifferenzierenden Intimsystems im oben dargestellten Sinne – kennzeichnet bspw. die zunehmende Reflexivität des Liebens (vgl. Stone 1977; Radway 2002). Die Liebessemantik reagiert jetzt mit der Selbstreferenz auf die Differenz zwischen der literarisch vorgegebenen und der faktisch erlebten Liebe geleitet: »als die Romantik die Einheit des Codes in die Selbstreferenz der Liebe selbst verlegt […]. Die Liebe entsteht wie aus dem Nichts, entsteht mit Hilfe von copierten Mustern, copierten Gefühlen, copierten Existenzen und mag dann in ihrem Scheitern genau dies bewusst machen. Die Differenz ist dann die zwischen Liebe und Diskurs über Liebe zwischen Liebenden und Romanschriftsteller, der immer schon weiß, worum es eigentlich zu gehen hätte.« (Luhmann 1982: 54) Spezifisch modern ist die erheblich erweiterte Tragweite dieser Medien, die gesamte Bevölkerung erfasst. Sie werden nicht mehr ausschließlich in einem kleinen, esoterischen Kreis wie von einer Oberschicht, Intellektuellen, religiösen Gruppierungen, Leseclubs u. dgl. gelesen bzw. konsumiert. Immer weitere Teile der (Welt-) Bevölkerung werden in die Kommunikationsnetze inkludiert. Im Zeitalter der Weltgesellschaft können wir fast alle kulturellen Produkte (Filme aus Indien oder den USA, Zeichentrickfilme aus Japan) über die Grenzen der alten segmentären und stratifikatorischen Systeme hinaus genießen. In diesem Sinne verliert in der Moderne die räumliche Integration immer mehr an Relevanz. Wenn die Semantik kulturelle Bezüge und Verhaltensrepertoires darstellt, stellt sich die Frage: Wie kann man die Semantik der anderen Kulturen – Liebesfilme aus dem »Westen« beispielweise – trotz der unterstellten kulturellen Unterschiede verstehen? Denn Verstehen einer Semantik (eines Films) setzt »ein gemeinsames Idiom der Haltungen, Gesten und Blicke« voraus, »mittels dessen

14 Ein bekanntes Beispiel der Gegenwart ist sicher die Kino-Marke Bollywood, siehe dazu Gopal 2011.

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wir uns anderen gegenüber in sozialen Situationen ohne Worte choreographisch darstellen – wodurch es erst möglich wird, Szenen zu interpretieren« (Goffman 1981: 84). Womöglich ist es darauf zurückzuführen, dass fast alle Völker auf dem Globus die passionierte und romantische Liebe im oben diskutierten, ethnologischen Sinne kennen (vgl. Jankowiak/Fischer 1992; Jankowiak/Paladino 2008). Die von dem Zufall ausgelöste, durch die Passion aufgeflammte, leidenschaftliche Liebesbeziehung ist womöglich in jedem Kulturkreis bekannt. Wie bereits diskutiert, ist es indessen eine andere Frage, ob die in dieser Art und Weise entstandene Zweierbeziehung gesellschaftlich legitimiert wird oder nicht, ob ein stabiles System der Intimität (wie Kleinfamilie) gegründet und praktiziert werden kann oder nicht. Es lässt sich deshalb fragen, ob eine Liebeserzählung glücklich oder tragisch endet (Belohnung oder Strafe). Führt die Liebe auch zum Glück, wenn man nicht der ökonomischen bzw. der politischen Rationalität folgt, wenn man sich der Autorität der Eltern bzw. Verwandtschaft sowie der religiösen Führer widersetzt? Die Botschaft der modernen Liebessemantik heißt: Die freie, zufällig entwickelte Zweierbeziehung führt uns zum Glück, nicht (mehr) zur Tragödie. Schließlich lässt sich fragen, ob diese Botschaft die Kraft hat, einen möglichst großen Bevölkerungsanteil zu erfassen. Welche Änderungen bringt der Konsum der Liebessemantik auf der Strukturebene mit sich? Bedeutet der globale Konsum der Liebessemantik nur Imitation der Lebensformen der Industrieländer, wie die Entwicklungssoziologie annimmt (Ogbarn1969; Goetz 2002)? Bringen sie den weltweiten Struktur- und Kulturwandelund beschleunigen die Modernisierung traditioneller Gesellschaften wie Annahme von Stichweh (2000)? Führen sie womöglich zur Angleichung aller Gesellschaften an das westliche Lebensmodell? Ist alles nur eine Propaganda durch die US-amerikanische Kulturindustrie? Reimann geht von der internationalen Stratifikation mit der kommunikativen Dominanz der Industrieländer in der Weltinformationsordnung aus (vgl. 1992: 338f.). Ist dann die romantische Liebe nur eine Ideologie des modernen Kapitalismus? Erst kürzlich demonstrierte Eva Illouz (2003) für die USA den Einfluss von dem von der Marktwirtschaft geprägten Massenkonsum der Liebessemantik auf das Verhalten in Zweierbeziehungen. Jedoch determiniert die Entwicklung auf der Strukturebene (hier: kapitalistische Wirtschaft) nicht immer einseitig den Wandel auf der semantischen Ebene, wie Illouz und Konsumsoziologen annehmen. Eine solch einfache Vorstellung wird der modernen Differenzierung der Weltgesellschaft nicht gerecht. Bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts sah Werner Sombart (1929) im Zusammenhang zwischen dem zunehmenden Konsum (Luxus) einerseits und der Verfeinerung der Sinnlichkeit und Liebe anderer-

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seits das Vehikel für die entstehende kapitalistische Marktwirtschaft. Nicht nur die Systemtheorie, welche das Primat ihrer funktionalen Differenzierung behauptet, sondern auch Appadurai vertritt die Annahme, dass die fünf »flows of culture« (ethnoscapes, mediascapes, technoscapes, finanscapes, ideoscapes) (Appadurai 1990: 296f.) auf dem Globus unterschiedlich fließen. Er weist auf deren relativ unabhängige, »non-isomorphic« Proliferation auf dem Globus (Appadurai 1990: 301) hin. Liebessemantik im Sinne des vorliegenden Bandes wird hauptsächlich vom »mediascapes« produziert, die z.B. von »finanscapes« unabhängig sind. Darüber hinaus lassen sich drei Einwände erheben: 1) Vorhandensein von lokalen Akteuren, 2) Andere Dekodierung, 3) Schaffung der neuen Kommunikationsgrenze. Zweifelsohne provozieren alle Kommunikationsmedien – nicht nur Radio, Kinofilm, Fernsehen und Internet, sondern auch Kunst und Schriftmedien wie Romane, Erzählungen insbesondere seit der Einführung mechanischer Druckverfahren usw. – Veränderungen in den Denk- und Wahrnehmungsweisen sowie Lebens- und Konsumformen (vgl. Giddens 1996: 100; Becker 2005: 273; Luhmann 1995). Eine mediale Revolution führt die Revolution des Denkens mit sich (vgl. Borsche 2004: 109). Konsumgütermärkte veränderten die Bedingungen von Identitäten im Alltag (vgl. Friedman 1990; Baudrillard 1997). Die neuere Lebensform wird stets von dem erweiterten Güterkonsum begleitet und das medial vermittelte Wissen über die neue Lebensform erfasst immer mehr Menschen und inkludiert sie ins ausdifferenzierte Intimsystem. Aber man darf trotz der strukturellen Isomorphie hieraus nicht schlussfolgern, dass die romantische Liebe nur der Überbau der kapitalistischen Wirtschaft ist. Liebende müssen der Partnerin bzw. dem Partner Liebeszeichen setzen, d.h. zeigen, dass er/sie sie/ihn als einzigartig und anders als alle anderen Personen wahrnimmt. Das Phänomen der Identitätsstiftung des Individuums durch den Warenkonsum ist seit Baudrillard (1970) bekannt und deren Bedeutung für das Verhalten in Zweierbeziehungen hat Illouz wieder betont. Es wird aber gefordert, die Liebe zu beweisen: »Du bist für mich einzigartig und einmalig«. Um die Einzigartigkeit und Einmaligkeit der Partnerin bzw. des Partners zu demonstrieren, reicht ein bloßes teures Geschenk oder eine Einladung in ein »romantisches Restaurant« nicht. Vielmehr ist die Einzigartigkeit von Liebenden seit der Durchsetzung der Selbstreferenz des Intimsystems in der Differenz von der geliebten Liebe und dem Liebesdiskurs (Liebessemantik) zu sehen (vgl. Luhmann 1982: 54). 15 Die Leitdifferenz ist nun die Differenz von Repräsentation und gelebter sozialer Praxis.

15 Hier sei auch an das bekannte Fragment von Stendahl erinnert: »La cristallisation ne peut pas être excitée par des hommes-copies, et les rivaux les plus dangereux sont les

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Hier gilt es, die Unterscheidung von Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung zu beachten: Ich meine mit der Ausdifferenzierung des Intimsystems mit dem Code der romantischen Liebe keineswegs den Umstand, dass Menschen nur aus romantischen Motiven heraus einen Partner bzw. eine Partnerin wählen. In historischen Untersuchungen über das Heirats- bzw. Partnerwahlverhalten wurden z.B. fast immer auch ökonomische Motive festgestellt (vgl. z.B. Borscheid 1983; dazu auch Illouz 2003). Zur Selbstbeschreibung und Reproduktion braucht das Intimsystem jedoch seine eigene Semantik. Es ist fraglich, ob jemand seinem Partner dasselbe erzählt, wie einem Wissenschaftler oder Psychologen, z.B. dass er sich für sie aus ökonomischen Erwägungen entschied und diese Beziehung aber dennoch weiter bestehen kann. Das Gespräch mit einem Wissenschaftler ist keine Selbstbeobachtung und -beschreibung eines Intimsystems, sondern eine Fremdbeobachtung. Wie Becker (2005) zeigt, besteht die global agierende Kulturindustrie nicht aus einem monolitischen Block, sondern »aus einem nahezu unüberschaubaren Netzwerk gleich- und gegenläufiger Akteure und Botschaften« (Becker 2005: 269). In den kleinen Ländern im Umfeld von Indien kann man z.B. von einer medialen Hinduisierung reden. Al Jazeera vertritt nicht immer den »westlichen« Standpunkt. Im extremen Fall können auch reaktionäre Islamisten, christliche Fundamentalisten, Kirchenvertreter oder Rechtsradikale moderne Medien zu ihrem Zweck einsetzen. Die Globalisierung führt auch zu einer Wiederentdeckung der Tradition, zu einer Rückbesinnung auf die Tradition, zu ihrer Reflexion oder gar ihrer Erfindung (auch in der populären Kultur) (vgl. Becker 2005: 275; DeGuy 1997; Goetze 2002: 149-157; Appadurai 1990). Globalisierung und Moderne verflüssigen einerseits alte, herkömmliche soziale Beziehungen und Grenzen von segmentären und stratifikatorischen Einheiten. Die globalen Massenmedien kennen keine Grenzen. Es ist andererseits eine andere Frage, ob die Botschaft gleich dekodiert wird. Die Globalisierung fordert eine »neue« nationale Kultur, um handlungsfähige Nationalstaaten zu bilden (vgl. Giesen 1992: 62f.). Die räumliche Integration wurde zwar untergraben, aber die neue symbolische Integration durch eine

plus différents.« (Stendhal 1986 [1822]: 189 f., Fragment 106) Die Authentizität bzw. Individualität des Dandys ist bei Stendhal durch die Differenz zu hommes-copies definiert. Ähnlich argumentieren die Interviewten aus der Mittelschicht bei der Untersuchung von Illouz (vgl. 2003: 240). Aber ihre Distanzierung von dem »Drehbuch der romantischen Liebe« widerlegt nicht die Durchsetzung der romantischen Liebessemantik, sondern beweist ihre Gültigkeit. Siehe auch das dialektische Argument Georg Simmels über die Individualisierung durch Mode (vgl. Simmel 1905).

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Ethnie bzw. eine Kultur, wird oft wieder verstärkt (vgl. Morikawa 2013; auch Osterhammel 2012). Die Ethnoscapes im oben beschriebenen Sinne bezeichnet die Netzwerkstruktur von einer auf dem Globus diffus verbreiteten, aber kulturell integrierten Ethnie. Zur Abgrenzung und Selbstprofilierung gegenüber anderen Kulturen und Produkten werden alle anscheinend unveränderbaren Merkmale mobilisiert. Dafür spielt oft die Liebessemantik eine Rolle, sofern und indem sie mit den moralischen Diskursen verbunden bleibt.16 Produzenten müssen ihre Produkte auf dem Markt als etwas anderes und neues darstellen (vgl. dazu Appadurai 1990). Dabei leisten oft ethnische Merkmale einen wesentlichen Beitrag dazu, ethnische Produkte vor allem von denen aus den im sozio-ökonomischen Sinne als überlegen angesehenen Industriegesellschaften« abzugrenzen (vgl. Greverus 1981: 223-232; Reimann 1992: 18).

Ü BER

DIE

B EITRÄGE

IM VORLIEGENDEN

B AND

Im ersten Teil geht es um die theoretische Reflexion der Liebessemantik. Ausgegangen von der Sexualisierung der Intimität und ihrer Semantiken in der Gegenwart analysiert Jean Clam (Paris) im Rahmen seines Theorieprogramms, Martin Heideggers Daseinsanalytik mit Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie in Verbindung zu bringen, den Ausdruck »Sex-haben (having sex)«. Es findet sich in diesem Ausdruck die ganze Dichte »der Sexualisierung der Intimitätssemantik«. Zudem wird die neue Semantik der alten gegenübergestellt. Die Formel »Sex-haben« ist eine Semantik, die diesen Prozess zum Ausdruck bringt. Die Analyse dieser Semantik (Sex-haben) könnte den Bezugsrahmen der neuen sexualisierten Semantiken betiteln. In den 1960er Jahren sagte man z.B. bei einem Winterfest »Intimacy took place«. In der religiösen Erzählung spricht man vom »fleischlichen Erkennen« und nicht davon, dass »Adam mit Eva geschlafen hat«. In der alten Semantik wurde im Sprachgebrauch ein legitimer Geschlechtsverkehr von einem nicht-legitimen unterschieden. In der Gegenwart heißt es in der allgemeinsten Weise: »ausgehen mit…«, was auch vieles offen lässt – nämlich, ob es überhaupt zu Sex kommt oder nicht. Dieser Ausdruck hat sehr vage Konturen. Zum einen wird die Sexualität enttabuisiert, aber zugleich ist Sex haben auch sehr unwahrscheinlich. »Sex haben« ist geläufig, geschieht in jeder Beziehung und stellt eine Erwartung beider Partner in einer Intimbeziehung dar. Während Sex in der alten Semantik ein Exzess war, geht in der modernen Gesellschaft nach dem Sex das alltägliche Leben weiter: »Sex haben« ist folgenlos.

16 Siehe den Beitrag von Pflitsch im vorliegenden Band.

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Die Liebesbeziehung wird in der soziologischen Tradition hauptsächlich als Dyade analysiert. Stützend auf seine sozialtheoretische Forschung über die Figur der dritten Person arbeitet Joachim Fischer (Dresden) in seinem Beitrag deren Bedeutung und Anwendungsmöglichkeit für die Liebessemantik aus. Der Dritte ist nach dieser Auffassung mit verschiedenen Gestalten immer schon in einer Liebesbeziehung mitgegeben. Ein Liebespaar konstituiert sich schließlich durch die Exklusion des Dritten. Denn »Ich liebe dich« meint »nur dich«. In diesem Sinne wird der zu exkludierende Dritte immer schon vorausgesetzt. In einer Liebesgeschichte kann der Dritte oft als verbietende Instanz, aber auch als Vermittler auftreten. Darüber hinaus potenziert sich die Liebesdyade im Blick des Dritten. Der Dritte kann einen Konkurrenten darstellen, welcher die Beziehung (zer-) stört und zum Fremdgehen verführt. Der Dritte kann hingegen auch ein Stabilitätsfaktor sein wie ein Kind. Fischer stellt plausibel dar, dass die doppelte Kontingenz bei der Konstruktion der Sozialität zur dreifachen Kontingenz erweitert werden soll, auch in der Intimbeziehung. Frauke A. Kurbacher (Berlin/Wuppertal) weist auf die Parallelität zwischen dem Liebesphänomen und der Interkulturalität hin und schlägt »Haltung« als Schlüsselbegriff zur Erschließung beider Phänomene vor. Der gemeinsame Nenner der Liebesphänomene jenseits der kulturellen Unterschiede findet sich im Verhältnis zwischen Personalität und Interpersonalität. Haltung ist erstens als eine spezifische Stellungnahme, zweitens als Zusammenschluss menschlicher kognitiver, praktischer und emotionaler Fähigkeiten zu verstehen, und drittens als grundlegende menschliche Bezüglichkeit, als ein Umgang mit jemandem oder etwas. In jeder Person und jeder Kultur entzieht sich allerdings dieser Person und dieser Kultur auch etwas. Dieses Inkommunikable bestimmt zugleich jedoch die Identität dieser Person bzw. dieser Kultur auch mit. Haltung erscheint als ein Konzept und ein Phänomen, das nicht auf der Basis der Gemeinsamkeit, sondern auf der Basis der Differenzen den Austausch und die Interaktion mit dem Anderen sucht und ermöglicht. Dies könnte zur Revision der zu reduktionistisch gefassten Subjekt-Person-Theorie in der neuzeitlichen Philosophie führen. Ulrich Bachmann schlägt im Anschluss an Max Weber ein Drei-EbenenModell (Werte – Ideen – praktische Regeln) zur Analyse und Beschreibung für die Durchsetzung der modernen Liebe vor und versucht somit verschiedene Befunde über die romantische Liebe zu integrieren. Den Durchbruch der romantischen Liebe in Westeuropa sehen Luhmann (1982) und Tyrell (1987) um 1800. Hingegen hat sie sich laut Borscheid (1983) und Mahlmann (1991) erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt. Über die Rolle der Liebe in der Gegenwart gibt es verschiedene Meinungen. Luhmann vertritt die These der Triviali-

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sierung des romantischen Liebesideals, wogegen Ulrich Beck der romantischen Liebe eine immense Bedeutungssteigerung attestiert (vgl. Beck 1990: 220f.). Bachmann zufolge findet sich Becks Analyse auf der Ebene des Wertes. Hingegen bezieht sich Luhmanns These auf die Ebene des Ideenkomplexes und dessen Institutionalisierung. Mahlmann und Borscheid fokussieren auf die Ebene der Ideen und Handlungsregeln sowie der zwischen diesen Ebenen vermittelnden Prozesse der Institutionalisierung. Im zweiten Teil dieses Bandes geht es um den Kulturvergleich des Zusammenspiels der »globalen« und »lokalen« Liebessemantik. Hier wird die Frage aufgegriffen, welchen Einfluss der »Westen« mittels globaler Massenmedien wie übersetzten Romanen, Gedichte, akademischen Schriften, Kino- und Fernsehfilmen über Liebe hat. Können wir womöglich von einer cross-cultural »Hybridisierung« der modernen Liebessemantik reden? Wie bei Hegel und Weber geht ein Kulturvergleich üblicherweise von Osten nach Westen. Takemitsu Morikawa (Luzern) analysiert den Wandel der Liebessemantik in Japan zu der Zeit der Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert. Japanologen nehmen immer noch an, dass die Japaner vor dem Kontakt mit dem Westen keine »echte« Liebe kannten. Gegen diese verbreitete Meinung vertritt er mit der Analyse der Diskurse unter den japanischen Intellektuellen und der Rezeption sowie Modifikation der »westlichen« Liebessemantik zu jener Zeit die Ansicht, dass Japans zunehmend intensiviertere Kontakt mit westlichen Mächten nicht unbedingt die dortige Liebessemantik in die Richtung zur Aufwertung der Emotion modifizierte und somit die Autonomisierung der Intimbeziehung förderte. Stattdessen führte sie vielmehr zur Kontrolle der Emotion durch die moralische Vernunft. Mit anderen Worten war es in den Diskursen der japanischen Intellektuellen – die meisten waren vom asketischen Christentum beeinflusst – zu jener Zeit – anderes als das theoretische Modell Niklas Luhmanns – nicht gelungen, den Gegensatz zwischen höherer und niedrigerer, geistiger und sinnlicher Liebe abzuschaffen und »romantic love«, »companion love« und Sexualität zu integrieren. Dies ist vor allem dadurch belegt worden, dass die repräsentativen Liebesromane in der Meiji-Taishô-Zeit (1868-1925) mit einer Tragödie enden. Diese verkehrte, spiritualistische Interpretation der modernen Liebe unter den japanischen Intellektuellen zeigt sich deutlich am Beispiel der Rezeption von André Gides La Porte étroite (1909) im Japan der 1920er Jahre. Der übersetzte Roman wurde nicht als Kritik an der fleischlosen Liebe in der patriarchalen Gesellschaft verstanden, sondern als Lob an die spirituelle Liebe. Dies bedeutet auf der Strukturebene, dass die segmentäre Einheit zu jener Zeit nicht abgeschwächt, sondern verstärkt worden war.

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Daran anschließend geht Meiyao Wu auf die Transformation der Liebessemantik in China von 1898 bis 1948 ein. Auch zu jener Zeit stimulierten übersetzte, ausländische Schriften die Transformation der Liebessemantik in China. Chinesische Intellektuelle waren zu jener Zeit stark durch Ellen Key, einer feministischen Pädagogin, beeinflusst. Ihre Ideen der Liebe erschienen oft in bedeutenden Zeitschriften wie Ladies’ Journal (Fu Nue Za Zhi, 1915-1931), OstMagazine (Dong Fang Zhi Za, 1904-1948) oder Chinese Educational Review (Jaoyu Zhazi, 1909-1948). Darüber hinaus waren die Gedichte von Dante Alighieri, William Shakespeare, Johann Wolfgang von Goethe und Platos Konzept der Liebe ebenfalls sehr beliebt und verbreitet in der chinesischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite zeigen »Liebesgeschichten« aus dem zeitgenössischen China, dass die geistige und die sinnliche Liebe immer noch getrennt gehalten wurden. Zusammen mit Morikawa soll in Wus Beitrag auf folgende bedeutende Ergebnisse hingewiesen werden: 1. Die moderne Liebessemantik wird zumeist auf die Grundfigur »Freie Liebe/Arrangierte Ehe« reduziert. Dies wird auch im Beitrag von Fuchs über Indien bestätigt. Die vergleichende Beobachtungsperspektive auf »Westen« und »Nicht-Westen« verengt den Sinnkomplex der romantischen Liebe sehr. Dies erweist sich auch dadurch, dass Wu selbst die romantische Liebe mit der »freien Liebe« gleichsetzt wie viele Ostasiatische Intellektuelle bei der Behandlung des gleichen Problems so tun. 2. Zur Legitimation und Begründung koppelt sich der Begriff der freien Liebe mit dem Begriff von Moral, Natur – im gegebenen Fall – Zivilisation, die aus dem semantischen Pool des Konfuzianismus leicht mobilisierbar ist, wie Morikawa zeigt. Diese Moralisierung bzw. Naturalisierung der freien Liebe wurde zwar zur Kritik an den alten Verwandtschafts- bzw. Familienstrukturen eingesetzt. Jedoch weist sie die Liebe auf eine neue Beschränkung. Die freie Liebe »übersieht, dass ǹNatur‹ immer auch ein Sperrbegriff gewesen ist, der Einzigartigkeit, also Individualisierung ausschließt« (Luhmann 1982: 139). Daraus lässt sich schlussfolgern, dass der Liebesbeweis in der ostasiatischen Variante der modernen Liebessemantik eher dem Konzept der Perfektion einer Person entspricht, während sich in der westeuropäischen Semantik das Moment der Einzigartigkeit des/der Geliebten institutionalisiert hat. Wie Morikawa zeigt, passt das Konzept der Perfektion der konfuzianistischen, semantischen Tradition, es ist aber nicht mit der Einzigartigkeit der Person vereinbar. Hier könnte man deutliche Hemmnisse in der konfuzianistischen Semantik für die Individualisierung sehen. 3. Die Übersetzungen von japanischen Intellektuellen und Populärwissenschaftlern wie Honma Hisao (18861981), Kurata Hyakuzô (1891-1943) und Kuriyagawa Hakuson (1880-1923), die in Japan über die moderne Liebe diskutierten, wurden in jungen chinesischen in-

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tellektuellen Kreisen viel gelesen und leisteten einen großen Beitrag zur dortigen Diskussion über die moderne Liebe. Falls ein Zentrum der Weltgesellschaft als Produktions- und Modifikationsstandorts von neuem Wissen und neuen Informationen definiert wird, erweist sich damit, dass die Weltgesellschaft nicht nur ein Zentrum besitzt, sondern dass sie aus einem komplizierten Netzwerk von mehreren Zentren besteht. Wie oben erwähnt, darf man dabei die Rolle von lokalen Akteuren nicht übersehen. Welchen Wandel die Liebessemantik in China in den letzten 20 Jahren erfahren hat, interessiert Annet Dippner (Berlin). Sie analysiert das Fernsehdrama »Alles außer Liebe« und arbeitet die neue Liebessemantik bzw. den neuen Liebesentwurf in China seit den 1990er Jahren heraus. Fernsehdramen genießen in China, wie Telenovelas in Südamerika, eine große Popularität und sprechen eine breite Mehrheit der chinesischen Bevölkerung mit eher geringem Bildungsniveau an. Seit den 1990er Jahren werden die traditionellen Liebesgeschichten immer rarer. Parallel zum ökonomischen Aufschwung und dem damit einhergehenden Auseinanderklaffen des sozialen Gefüges gewinnt der konsumorientierte Aspekt der Liebes- und Paarbeziehung ebenfalls seit den 1990er Jahren stark an Einfluss. Als Reaktion auf die Fokussierung auf materielle Aspekte entwickelte sich auf der anderen Seite durch die Reformierung romantischer Konzepte auch eine Gegensemantik von Liebe, welche die »Reinheit des Gefühls« betont. Das neue Konzept der »romantischen Liebe« in China stellt ein Symbol für ein humanistisches Gut, das einerseits der durchsetzenden kapitalistischen Marktwirtschaft und anderseits den – teils konfuzianistisch-traditionellen teils sozialistischen – gesellschaftlichen Zwängen gegenüberstehet. Dies steht für eine Utopie der Außeralltäglichkeit, Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte der jüngeren Generation. Diese gegenwärtige chinesische romantische Liebe zeigt ein gutes Beispiel von Rekontextualisierung und Modifizierung der Semantik im globalen Prozess auf der lokalen Ebene. Chinesische Liebesdramen zeigen aber kein Happy End, die Liebe bleibt eine Utopie. Das Dilemma zwischen der idealisierten, romantischen Liebe und der ökonomischen Rationalität deutet immer noch auf eine starke Existenz der segmentären Einheiten hin. Bernhard Fuchs (Wien) behandelt verschiedene Formen von Rezeption und Modifikation der Liebessemantik in Kulturtransfer-Prozessen von melodramatischen Genres, vor allem in Bollywood-Filmen und Romanen (Bollytristik). Die Filmrezeption ist als eine kreative kulturelle Aktivität zu betrachten, vor allem auch in transkulturellen Zusammenhängen, wo eine Auseinandersetzung mit heterogenen Traditionen stattfindet, die zur Transformation von Identitäten und kreativen Umdeutungen führt oder aber in einer oberflächlichen Aneignung von Versatzstücken verharrt. Die Globalisierung des Bollywood-Films bringt in die-

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sem Sinne unterschiedliche Konzepte von Liebe in Umlauf. Diesen Vorgang illustriert Fuchs mit einigen von Bollywood inspirierten Romanen. Transferprozesse zwischen Kino und Literatur verlaufen in beide Richtungen. Im Sinne der Polysystemtheorie von Itamer Even-Zohar sind die Felder der Bedeutungskonstruktionen in ihrer dynamischen Beziehung diachron zu betrachten. Auch wenn es bereits Ende der 1970er Jahre frühe Vorläufer der Bollytristik gab, so ist das verstärkte Auftreten der Bollywood-Romane ein Echo der Globalisierung der indischen Filmindustrie, die sogar zu einem generellen Wandel des Indienbildes beigetragen hat. Der Beitrag von Fuchs ist umso spannender, weil er die Annahme zugrunde legt, dass die Stratifikation (Kastensystem) die indische Gesellschaft immer noch dominant prägt und dass segmentäre Einheiten wie Verwandtschaftsstrukturen die Ausdifferenzierung des Intimsystems verhindern. Hier in Indien werden die Diskurse über die moderne Liebe oft auf die Grundfigur »Freie Liebe vs. Arrangierte Ehe« reduziert, welche zugleich, wie in Japan und China, als Generator zur »Indianness« fungiert. Mit dem Argument für die Entstehung des zärtlichen Liebesgefühls im Eheleben nach einer Arrangierten Heirat diskutiert man den kulturellen Unterschied von Japan und China einerseits und dem Westen andererseits. Der Bollywood-Konsum verursacht jedoch keinen signifikanten »Gesellschaftswandel«, obwohl Moralisten die Massenmedien als Gefahr für die Gesellschaft betrachten. Wie in Japan, China und Indien koppelt sich auch der Liebesdiskurs in arabischen Ländern mit dem Moraldiskurs, ja sogar mit dem Diskurs über die kulturelle Identität. Andreas Pflitsch (Berlin) thematisiert die Konstruktion des Fremden in der literarischen Kommunikation anhand von Romanen des libanesischen Schriftstellers Rashid al-Daif. Die Konstruktion des Fremden behandelt er nicht zuletzt auch im Dialog mit seinem deutschen Kollegen Joachim Helfer. Daif geht es um die Entstehungsbedingungen und die Konstruktion von Vorstellungen der »europäischen Moderne« und »libanesischer Tradition«. Al-Daif und Helfer begegneten sich im Literatur-Austauschprogramm »West-östlicher Diwan«. Helfers Homosexualität wurde zu einem zentralen Aspekt des von al-Daif 2006 publizierten Buches. Das Liebesmodell Helfers war ihm offenbar fremd. Es wurde als anormal und defekt angesehen, so dass eine Kurierung nötig ist. Wenig später erschien eine deutsche Übersetzung des Buches mit Anmerkungen Helfers (Die Verschwulung der Welt). Mit belehrenden Kommentaren weist Helfer auf die vermeintlichen Vorurteile und Fehleinschätzungen al-Daifs hin. »Er sieht hinter den Verblendungszusammenhang einer durch rigide Moral, lästige Traditionen und archaische Verhaltensmuster geprägten Gesellschaft, dem offenbar auch ein aufgeklärter Intellektueller, wie unser Autor einer ist, nicht entkommen kann.« (243) Helfer begeht dabei aber einen Fehler: Er setzt Protago-

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nist, Erzähler und Autor gleich und sieht die Ausführungen als Tatsachenbericht. Die ironische Selbstbefragung und satirische Überspitzung al-Daifs (»Die entscheidende Bruchlinie zwischen Abendland und Morgenland verlaufe auf dem Feld des Erotischen«; die Moral sei »das eigentliche Schlachtfeld zwischen westlicher Moderne und uns Arabern« und »das Bett [...] ein Kriegsschauplatz zwischen arabischer ›Tradition‹ und westlicher Moderne!« [Helfer/al-Daif 2006: 14]; zit. nach S. 236 im vorliegenden Band) haben Helfer nicht erreicht. Wie entstand diese unreflektierte, naive Reaktion Helfers? Pflitsch deutet an, dass vermeintliche Gräben zwischen den Kulturen nichts anderes sind als allgemeinmenschliche Obsessionen und Ängste sowie gegenseitige Projektion. In den Beiträgen zur Liebessemantik in Europa geht es um neuartige Entwicklungen, also Phänomene nach der romantischen Liebe, und um deren Verhältnis zu neuen Medien. Sylka Scholz (Dresden) präsentiert Teilergebnisse aus ihrer Untersuchung über die kulturellen Legitimationsmuster zur Sicherung von Kontinuität und Stabilität in Paarbeziehungen in den Ehe- und Beziehungsratgebern in 50er Jahren und 2000er Jahren: Das Fazit der Analyse von 20 Ratgebern aus einem 800 Bücher umfassenden Sample lautet, dass der Wandel der Liebessemantik deutlich geringer auffällt als die Pluralisierung der privaten Lebensformen. 1) die Liebe gilt als Voraussetzung für eine Paarbeziehung, wenn auch verschiedene Beziehungsformen mittlerweile möglich sind. 2) Das Zwei-PhasenModell der Liebe (erst romantische, leidenschaftliche Liebe, dann reife, wahre Liebe) bleibt als Konstruktionslogik der Liebe bestehen. 3) Die Verknüpfung von Liebe und Sexualität seit der Romantik ist erhalten geblieben. 4) Die Verschiedenheit von Männern und Frauen gilt als Grundlage für die Liebe. Die aktuellen Ratgeber verfestigen die dichotomen Geschlechterrollen. »Die Analyse der Ratgeber zeigt, dass die moderne Liebessemantik, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hat, auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterhin bedeutsam ist. Die Liebesehe, die eine sexuelle Beziehung einschließt, gilt in den Ratgebern als Leitbild einer Paarbeziehung. Zwar verliert die Ehe ihre Monopolstellung und entwickelt sich von einer sozialen Norm zu einer individuellen Option, dennoch kann in den Augen der RatgeberautorInnen die Ehe eine Paarbeziehung am besten auf Dauer stellen.« (265) Die zentralen Dimensionen der romantischen Liebe sind demnach weiter bedeutend. Karoline Boehm (Wien) präsentiert das Ergebnis ihrer Forschung über die polyamore Beziehung resp. Bewegung in Wien. Polyamore Lebensformen sind in den USA in den 1990er Jahren als »conscious and loving life style« entstanden und verbreiten sich seit einiger Zeit immer mehr auch im deutschsprachigen Raum (Zell-Ravenheart 1990: 1). Der Begriff »Polyamorie« steht für die Möglichkeit, »im Wissen und Einvernehmen aller Beteiligten« »sexuelle und/oder

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Liebesbeziehungen zu mehreren Partnerinnen und Partnern gleichzeitig einzugehen« (Klesse 2007: 316). Boehm geht darauf ein, ob und wieweit in den Semantiken in der polyamoren Beziehung das romantische Liebesideal aufgeht. Maxime von »Selbstverwirklichung und persönlicher Wachstum« sowie »die Findung des eigenen Selbst« liege immer noch im Zentrum in polyamoren Semantiken (282), aber die Identitätsfindung sei »von der Bindung und ihrer Vergänglichkeit zu einer einzelnen Person entkoppelt« (282). Der Beitrag Boehms zeigt, dass sich das romantische Liebesideal sogar in den polyamoren Semantiken niederschlägt, wenn und sofern es beim Prinzip der Mitfreude darum geht, »das positive Empfinden des Partners/der Partnerin nachzuvollziehen und anzuerkennen« und sich mit ihm/ihr »für das Erlebnis zu freuen« (vgl. Anapol 2010: 121). Im Speziellen lässt sich in der Polyamorie die Wiederaufwertung der Freundschaft erkennen. Die daraus zu folgernde Konsequenz soll aus der Sicht des Herausgebers heißen, dass die polyamoren Semantiken die quantitative Bestimmtheit der romantischen Liebe, der zufolge romantische Beziehungen zu mehreren Personen zur gleichen Zeit ausgeschlossen sind, (Tyrell 1987; Hahn 2008: 43) in Frage stellen werden. 17 Alexander Schmidl (Salzburg) und Stefan Wellgraf (Frankfurt/O.) gehen auf das Verhältnis von neueren, auf Computer und Internet basierten Medien ein. Die Partnersuche bei einer Partnerbörse im Internet scheint, im Gegensatz zu den üblichen Vorstellungen einer romantischen Liebe, etwas sehr Rationalistisches zu sein. Schmidl analysiert in seinem Beitrag die »Selbstbeschreibung« von aus drei deutschsprachigen Ländern stammenden Paaren, die sich auf diese Weise erfolgreich kennen gelernt haben. Es zeigen sich kleine Unterschiede: Österreicher lernen sehr rational kennen, das effektive Treffen wird dann aber als sehr romantisch beschrieben. Schweizer sehen die hohe Punktzahl »als göttliches Zeichen«. Deutsche können sich schon verlieben, ohne sich je gesehen zu haben (Liebe auf den ersten Klick). Das ist in der Schweiz und in Österreich undenkbar. Kunden ist der Widerspruch zwischen dem Rationalen und dem Romantischen sehr wohl bewusst. Sie beschreiben ihre Geschichte ab dem ersten Treffen romantisch (Schicksal, Authentizität). Erfolgsgeschichten folgen »beinahe alle einem Skript« (293). Die Verbreitung der modernen Technik ist nicht immer mit Entzauberung der Liebe gleichzusetzen. Ob die räumliche Kopräsenz eine notwendige Bedingung zur Entstehung der Liebe bleibt oder nicht, hängt von der Art der Medienkultur ab.

17 Merkwürdigerweise hat Giddens diese Bestimmung auch in seiner Definition der partnerschaftlichen Liebe in der Postmoderne nicht in Frage gestellt.

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Basierend auf Beobachtungen und Interviews mit Jugendlichen in Berlin bietet Wellgraf einen Einblick in die Ausdifferenzierung und die mediale Transformation von Liebespraktiken in einer europäischen Großstadt. Anlehnend an die Subjekttheorie von Andreas Reckwitz geht er von zwei miteinander verflochtenen dominierenden Typen der gegenwärtigen Liebessemantik aus: dem romantischen und dem konsumistischen. Der Autor stellt in seiner Betrachtung unterschiedlicher Liebesformen von Berliner Jugendlichen sowie der detallierten Analyse eines Online-Flirts fest, dass sowohl der soziale Status als auch der Migrationshintergrund eine entscheidende Rolle bei der Diversifizierung von Liebesformen spielen. »Verschiedene Liebesformen bieten dabei unterschiedliche Antworten für in spezifischen Lebensumständen entstehende soziale Bedürfnisse.« (319) Trotzdem erweist sich romantische Liebe als ein besonders wirkmächtiges Element in der Transformation von Liebeskulturen. Scholz, Boehm, Schmidl und Wellgraf bestätigen trotz der pluralisierten Lebensformen auf der Praxisebene die fortwährende Gültigkeit der romantischen Liebe auf der semantischen Ebene im gegenwärtigen Europa. Zum Schluss kommen wir nach Süd- und Nordamerika. Edgar Roberto Kirchof (Universidade Luterna do Brasil) diskutiert über die MPB (Musica Popular Brasileira). Die MPB entstand Ende der 1960er Jahre und ist heute nicht nur in Brasilien, sondern weltweit ein bekannter und beliebter Musikstil. Ursprünglich wurde die MPB überwiegend von der brasilianischen Mittelschicht gehört, jedoch wurde dieser Stil heute durch die internationale Vermarktung zu einem heterogenen und globalisierten Massenphänomen. Kirchof fokussiert auf die Liebessemantik in der Lyrik von Buarque de Hollanda (Sänger, Schriftsteller). Dort spiegelt sich die bei der MPB typische Vielfältigkeit wider. Denn der Dichter sucht seine Inspiration in verschiedenen literarischen Traditionen, wie etwa in der eher platonischen Tradition der Trobadordichtung und der Romantik. Allerdings sind diese semantischen Güter in der Differenzierung der brasilianischen Gesellschaft eingebettet – sowohl die Charakterisierung der Figuren als auch die Beschreibung der Orte sind lokal geprägt. Das Zusammenspiel von semantischen Gütern und Gesellschaftsdifferenzierung lässt sich deutlich in kristallisierten Frauenfiguren (Hausfrau, Piranaha und deren Synthese) einerseits und Familienformen (Patriarchale Familie, bürgerliche Kleinfamilie) anderseits erkennen. Trotz dem mit der Industrialisierung und Urbanisierung begleiteten Wandel der Familienformen von der patriarchalen Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie bleiben die Tabus der Jungfräulichkeit für Frauen und der Männlichkeit für Männer bestehen. Kirchof demonstriert an einem sehr interessanten Beispiel das Zusammenspiel zwischen globalen, semantischen Elementen und lokalen Traditionen.

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Fehmi Akalin (Frankfurt/M.) fragt mit dem Beispiel der neuen USamerikanischen Liebesfilme danach, in welchem Bedingungsverhältnis Liebe als Kulturmuster und Liebe als soziale Praxis stehen. Beeinflussen medial vermittelte Liebenskonzepte in Romanen, Filmen, TV-Serien und Songs unsere Liebespraxis (Kontrollhypothese) oder spiegeln die Liebessemantiken in den Medien unsere Praxis wider (Reflexhypothese)? Akalin schlägt vor, Intim- und Filmkommunikation separat, als Funktionssysteme mit je eigener Codierung und Programmierung zu definieren. Beide Systeme können sich beobachten und irritieren, sich aber nicht gegenseitig steuern. Filme sind Teile des Kunstsystems, das die Funktion der Unterhaltung innehat. Der Code lautet interessant/langweilig. Wie die Codewerte zugeordnet werden, wird auf der Ebene der Programmierung geregelt. Anders als Codes sind Programme variabel und umweltoffen. Beim beobachteten Intimsystem ist nur relevant, was sich im Kontext des Liebesfilms als interessant oder langweilig arrangieren lässt. »Als realistisches Genre beobachtet der Liebesfilm dabei Realitätskonstruktionen ihrer intimsystemischen Umwelt und benutzt diese als Medien für künstlerische Formung, er kopiert oder importiert diese Konstruktionen also nicht einfach, sondern transformiert sie, codiert sie um und ordnet sie systemspezifisch an«. Mit dem Fazit: »Aus diesem Grunde erscheint es plausibler, nicht von einer direkten Wirkung von Medienbotschaften auf das Handeln von Rezipienten auszugehen, sondern einem mehrstufigen Prozessmodell den Vorzug zu geben« (367) stimmt Akalin mit Bachmann und Scholz überein.

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Teil I: Zur Theorie der Liebes- und Intimitätssemantik

Was heißt: »Sex haben«? Zur Semantik der zeitgenössischen Intimität J EAN C LAM

Die Sexualisierung der Intimität und ihrer Semantiken bestimmt die Gegenwart der intimen Kommunikation. Sie ist im Heute ein offenkundiger Prozess. Besonders beeindruckend ist diese Sexualisierung heute, weil sie gleichzeitig mit einem Aufstieg der Intimität zur sozialen Zentralität geschieht. Dabei muss man die These von diesem Aufstieg richtig fassen: sie ist ein grundlegendes intimitätssoziologisches Theorem, von dem alles auszugehen hat, was sich mit den heutigen Formen intimer Kommunikation beschäftigt. Wir meinen, dass sich diese Sexualisierung semantisch an prägnanten Weisen des Sagens ausmachen lässt. Die Formel »Sex-haben« ist eine davon und könnte den Bezugsrahmen der neuen (sexualisierten) Semantik ziemlich adäquat betiteln. Mein Beitrag schlägt eine soziologische Annäherung an die Semantik des »Sex-habens« vor. Dabei geht es um die Herausstellung der Eigentümlichkeit der Figur von Sexualität, die sich in der Semantik des »Sex-habens« niederschlägt und von allen anderen Ausformungen ähnlicher Sexualisierungen unterscheidet. Die Emergenz realer Formen der sozialen Kommunikation, in denen die neue Semantik Geltung und Gebrauch hat, scheint besonders voraussetzungsreich zu sein, d.h. besonders unwahrscheinlich. Ein Indiz dafür ist deren Einzigartigkeit: während sie gewiss einige Motive mit anderen betont sexuell orientierten sittlichen Kulturen vormoderner und moderner Zeiten gemeinsam hat, kennt keine dieser Kulturen die generalisierenden Formen der heutigen Sexualisierung der Kultur. Die Generalisierung ist auch das Problematische an der neuen Semantik und Praxis der sexualisierten Intimität. Denn der generalisierte Anspruch am »Sexhaben« stößt an zwei Grenzen: zum einen, an die des Zugangs, an dessen noch recht hoher Selektivität sehr viele (Sex-Exkludierte) scheitern; zum anderen, an

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die der nicht-abarbeitbaren Anwartschaft der (unmodernen/periphermodernen) Peripherien der Weltgesellschaft zur neuen Semantik. Um zu diesen Problemen vorzustoßen, muss zunächst die Gestalt des neuen Intimitätsregimes ausgehend von seiner Semantik nachgezeichnet werden. Dies ist die Kernbemühung der folgenden Überlegungen, nicht aber die Klärung der Probleme, die sich im Horizont des neuen Regimes abzeichnen. Die semantische Analyse, die ich vorschlage, ist eine beschreibende und interpretierende. Sie geht von der gängigen Benennung der sexuellen Tätigkeit im besagten Ausdruck (des »Sex-habens«) aus und versucht, alle mitschwingenden Bedeutungen und Unterstellungen zu identifizieren und darzustellen. Dieses Vorgehen rekonstruiert die verschiedenen Momente, in denen sich die Intimitätsund Sexualitätskultur unserer Gegenwart implizit artikuliert. Das Vorgehen benötigt eine gewisse interpretatorische Insistenz, erweist sich aber als sehr lohnenswert. Es zeigt sich nämlich, dass semantische Ansätze, seien sie auf historische Epochen oder auf die Gegenwart bezogen, zu allererst einen empfindlichen Sinn für das benötigen, was sich in bestimmten Wendung des Sagens sedimentiert. Die semantische Materie liegt eigentlich immer vor. Worauf es ankommt, ist das Gespür für die wirkenden Unterscheidungen, die sie birgt, d.h. für das wahrscheinlich gewordene Unwahrscheinliche, das sich in ihr bindet und verdichtet.

S CHWIERIGKEIT EINER SYSTEMTHEORETISCHEN K ONSTRUKTION DER I NTIMITÄT Als Erstes soll es uns um die Widerständigkeit der Intimität als Objekt eines systemtheoretischen Ansatzes gehen sowie um ihre Sonderstellung unter den anderen Subsystemen der sozialen Kommunikation. Das soziale System »Intimität« erscheint in der Tat in allen Darstellungen der Theorie, die es als solches verstehen will, als ein sekundäres. Es wird von einer Art recht begrenzten, unsicheren »Passendheit« in das Gesamtgefüge der Theorie belastet. Es ist nämlich kein einfaches Unterfangen, Intimität als ausdifferenziertes Subsystem der sozialen Kommunikation wie Recht, Politik, Religion, Wirtschaft, Wissenschaft, nach demselben theoretischen Paradigma zu konstruieren. Zu viele strukturelle Eigenheiten zeichnen die intime Kommunikation, wenn man sie gegen die rechtliche, politische, etc. hält, aus, als dass eine schlichte Anwendung der Theorie auf sie gelingen kann. Schon bei Fragen nach der Operation, der leitenden Unterscheidung, dem Code, der Kontingenzformel, den Kopplungen zu anderen Subsystemen und vor allem zur anderen (basalen) Autopoiesis des Bewusstseins, stockt

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die Theoriebildung 1. Dies heißt nicht, dass eine systemtheoretische Durchdringung dieser Art der dualen Kommunikation zum Scheitern verurteilt ist, sondern, dass sie eben nur über besonders inventive Anpassungen die kommunikationelle Materie der Intimität mit dem theoretischen Begriffsrahmen und der spezifischen Intellektionsweise einer soziologischen Systemtheorie in einer heuristisch ergiebigen Weise erschließen kann. Unsere These ist hier, dass es zwei ziemlich sichere Stücke einer Systemtheorie der intimen Kommunikation gibt. Diese beiden theoretischen Stücke haben relative Evidenz und Robustheit und fallen aus dem Rahmen der allgemeinen Schwierigkeit und Widerständigkeit der Theoriebildung heraus. Wir würden sie folgendermaßen kennzeichnen: x

x

das Theorem der Autonomisierung – wenn nicht der formalen Ausdifferenzierung und operativen Autopoietisierung – der Liebeskommunikation zu Beginn der Neuzeit. die Zuverlässigkeit und Ergiebigkeit des systemtheoretischen Ansatzes bei der Semantik, wenn es um intime Kommunikation geht.

Dies heißt insgesamt, dass die Systemtheorie jene Schwierigkeit der Integration der Intimität in ihr Paradigma letztlich berücksichtigt, ohne jedoch sich Rechenschaft über diese Schwierigkeit zu geben. Es ist eine Art implizite Berücksichtigung, die sich allerdings relativ streng am Beispiel Luhmanns selbst orientiert, der der Intimität nicht mehr als eine (beeindruckende und Bahn brechende) Studie gewidmet hat (vgl. Luhmann 1982), die auffälligerweise in das Genre der Studien zur historischen Semantik gehört und sich nicht etwa in die Reihe der Subsystem-Soziologien der späten Jahre von Luhmanns Schaffen eingliedert. Wir tun es Luhmann und den meisten Systemtheoretikern, die sich für die Intimität interessiert haben, gleich und orientieren uns bei unserem Ansatz an der Semantik. Dies heißt, dass wir uns nicht für die ganz andere Problematik einer Bewältigung der theoretischen Schwierigkeiten interessieren, die sich aus der Anwendung des systemtheoretischen Paradigma auf die Intimität ergeben.

1

Zur Unterscheidung zwischen basaler und derivativer Autopoieis siehe Clam 2001: 45-79.

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S EXUALISIERUNG

DER I NTIMITÄT UND IHRER

S EMANTIK

Die Sexualisierung der Intimität und ihrer Semantiken ist keine nebensächliche oder akzidentelle Entwicklung im Bereich der sozialen Ausdifferenzierung, sondern eine prägende Gestaltungspotenz aller Kommunikation, die alle Zielverfolgungen, die sich in den verschiedenen ausdifferenzierten Systemen abspielen, auf einen eudamonistischen Letztzweck hin orientieren und in Mittel-Mittelzweck-Zweck-ketten ordnen. Alle Operationen der Kommunikation sind in eine auf diesen Letztzweck hin aufbauende Architektur eingelassen. Glück sowie alle erdachten, gesteigerten einzelnen Glückserfahrungen werden stets als Sache eines Lebensgenusses projiziert, der sich nirgendswo vorstellen und realiter vollziehen lässt als in den intimen Sphären einer Genussprivatheit. Die intime Kommunikation zu zweit, sei sie auf Fragmente atmosphärischen und hedonistischen Wohlseins reduziert oder eher auf ganze Lebensabschnitte von reinen Beziehungen gestreckt und verstetigt, ist immer Kernbestandteil des Letztzweckes aller vom zeitgenössischen Individuum verfolgten Verhaltensziele. Die durchgängige Intimisierung der Konsumkultur ist das beredteste Zeugnis von der beschriebenen Entwicklung 2. Nun wird diese zu sozialer Zentralität aufkommende Intimität sexualisiert. Dies heißt, dass damit alle Vollzugsstile von intimisierten Atmosphären, Verhaltungen und Zielverfolgungen selber sexualisiert werden. Es vermischen sich in den Materien und Gesten der Kommunikation intimisierte und sexualisierte Momente, die für den Gesamtentwurf des individuellen Handelns und Erlebens entscheidend sind. Ich gehe hier nicht auf das Detail dieser Entwicklungen ein, die ich an anderer Stelle genau beschrieben habe (vgl. Clam 2007). Wichtig ist es erstmals, die soziologische These zur zeitgenössischen Intimität und Intimisierung zu formulieren und so zu erläutern, dass im Folgenden auf sie Bezug genommen werden kann. Wir wollen im Folgenden am Leitfaden ihrer Semantik einen wichtigen Aspekt der zeitgenössischen intimen Kommunikation beschreiben. Hierzu bedarf es einer Verständigung, die unsere Entscheidung, von einer einzigen Redeweise (»Sex-haben«) auszugehen, erklärt und rechtfertigt. So fragen wir: Welches ist das Objekt einer semantischen Studie? Wo ist es zu finden?

2

Dies habe ich ausführlich beschrieben in meinem Aufsatz: »Was ist ein psychisches System? Von der Exteriorisierung der Kommunikation zur Geminierung der Individualität« (vgl. Clam 2006a), inzwischen als letztes Kapitel meines Buches: »Die Gegenwart des Sexuellen. Analytik ihrer Härte« (vgl. Clam 2011).

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Historische – und dazu gehört auch die gegenwartshistorische – Semantik hat relativ eindeutige Objekte: es sind die Diskurse, die in der sozialen Kommunikation umlaufen und die hermeneutischen Deutungsrahmen eines jeden Bedeutungsentwurfs/Sinneffekts, der in der Kommunikation stattfindet, ausmachen. Diese Diskurse sind vornehmlich sprachliche, können aber auch bildliche oder gar institutionelle, d.h. in den Sinn von Institutionen hineintextierte sein. Die Liebesdiskurse der Gegenwart sind natürlich alle jene Diskurse, in denen es thematisch und ausdrücklich um Liebe geht; aber auch all jene Diskurse oder Teildiskurse, die indirekt mit Liebe zu tun haben, aber die Bedeutungsentwürfe, die in der Liebeskommunikation vollzogen werden, auf irgendeine Weise mit semantischer Substanz nähren (technische, vor allem kommunikations-, konsumtechnische Diskurse können von Belang sein).

»S EX - HABEN «

ALS EINE SEMANTISCHE

E MERGENZ

Es wird in der Liebesinteraktion, gestern wie heute, Vieles gesagt. Es wird auch um sie – vor ihr, nach ihr,… – und über sie vieles gesagt. Theoretisch ist immer dasjenige Gesagte am interessantesten, das eine »semantische Emergenz« in sich sammelt, d.h. das in sich als sprachlichem oder sonstigem Ausdruck die ganze Materie einer Bedeutung sammelt, die das Aufkommen neuer, anderer Sinngebungen und Sinngebungsweisen kündigt, d.h. einen Inflexionspunkt auf der historischen Trajektorie der betreffenden Semantik bildet. Meine These ist hier: die Redeweise »Sex-haben« ist ein solcher Ausdruck. Es sammelt in sich die ganze Dichte eines grundlegenden semantischen Wandels. Um dies zu zeigen, muss man die im Ausdruck gesammelte Semantik des Neuen gegen den Horizont der alten Semantik halten, die verlassen wird. Das heißt, dass man es am besten tut, indem man stets beide Semantiken mit einander kontrastiert. »Sex-haben« ist an sich kein bezeichnendes semantisches Objekt. Bezeichnend ist eher die Art, wie es sich als Bedeutungsentwurf, d.h. als Weise des Intendierens, der Auffassung und der Rede von der Liebe normalisiert. Was semantisch-soziologisch relevant ist, das sind die sozialen Geschicke dieser Redeweise, vor allem die Tatsache, dass sie von einer äußerst schockierenden, ja aufgeilenden, zu einer ganz schlichten und die Wirklichkeit benennenden wird 3.

3

Um dies historisch-empirisch zu zeigen, muss man die Liebesdiskurse der letzten Jahrzehnte durch streifen, Belege suche, etc. Dies tue ich hier nicht, sondern gehe von sicheren Intuitionen aus, welche Voraussetzung für jedes Verstehen eines semanti-

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Die Benennung des Liebesaktes, die sich von dessen »Sagen« und Schildern tief unterscheidet, hat historisch-semantisch eine herausragende Bedeutung (vgl. Cryle 2001). Das hat damit zu tun, dass das Sagen und Schildern des Liebesaktes oder des Vollzugs des Geschlechtsverkehrs in den europäischen Gesellschaften bis ins 20. Jahrhundert hinein recht unüblich und bestimmten, Genderspezifischen Interaktionskreisen oder einer literarischen Gattung, der erotischen Erzählung, vorbehalten waren. Die erotische Literatur selbst benutzte dafür durch alle Kulturen hindurch, in denen sie sich etablieren konnte, relativ stereoptypische Szenarien und Ausdrucksweisen. Nicht anders verfuhren jene Kreise, die sich zur Belustigung erotische Machenschaften und Geschichtchen erzählen. Man muss das späte Aufkommen einer ganz auf die Qualitäten und Intensitäten des sexuellen Empfindens ausgerichteten Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abwarten, bis ein Schildern des sexuellen Tuns und Erlebens zustande kommt, das nicht bei Zugrundelegen von musterhaften Abläufen und Erfahrnissen stereotypisch arbeitet. Selbst die libertine Literatur des französischen 18. Jahrhunderts von Crébillon fils und Casanova bis Laclos und Sade kennt dieses detaillierte, die Fühlqualitäten erspürende, bei ihnen lange verweilende Schildern der sexuellen Annäherungen und Verwirklichungen nicht 4 . Somit bleibt die bloße Benennung des sexuellen Tuns mit der in ihr impliziten knappen Andeutung seines Handlungsganzen die oft einzige Anzeige seines Vollzugs. Deswegen ist sie für eine Beobachtung der Semantik der Intimität besonders relevant. Von der religiösen Erzählung der Bibel und deren Wortwahl her ist im Abendland über lange Jahrhunderte die Bezeichnung der copulatio durch den Standardausdruck des »fleischlichen Erkennens« oder des »Erkennens im Fleisch« bestimmt. Eine solche Ausdrucksweise sagt äußert wenig vom sexuel-

schen Entwurfs sind, d.h. von solchen Verständlichkeiten, über welche die jeweils kommunizierenden Individuen und sozialen Gruppen verfügen müssen, damit die von ihnen getätigte Kommunikation gelingt, d.h. Anschluss und Resonanz in der Gesellschaft findet. 4

Die Tatsache ist an sich recht überraschend. Denn das Nicht-Schildern, das oft einem stereotypischen Schildern entspricht, rührt hier nicht von einem Mangel an literarischer Lizenz, die vor massiv offenkundigem Sex halt machen würde. Ein Sade hat nirgends auf die Empfindlichkeiten seiner Zeitgenossen Rücksicht genommen und wäre, vom Grad seiner Aufgeschlossenheit und Bereitschaft, alles Sexuelle direkt anzuzeigen her gesehen, durchaus in der Lage, solches Schildern zu liefern. Dass er es nicht tat, ist an sich bedeutsam.

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len Vollzug selbst und wirkt auf uns Heutige als extrem sublimierend 5. Sie wird auch meistens archaisierend gebraucht und deutet auf die Unerträglichkeit der Evozierung des Sexuellen in unserer kulturellen Tradition hin. Ironisch ist ihr Gebrauch, wenn man damit auf die überzogene Prüderie heuchlerischer Ohren anspielt. In starkem Kontrast dazu heißt im Sprachgebrauch der Gegenwart, durch die westlichen Sprachen und Kulturen hindurch, die Anbahnung oder die Vollendung einer sexuellen Paarung, die bezeichnenderweise der Anbahnung oder Knüpfung einer Beziehung parallel läuft, sehr allgemein: ausgehen mit, sortir avec, go out with – letzteres als Synonym von dating. Es bezeichnet die intime Paarbildung im allgemeinsten und lässt Vieles offen: ob Liebe, anbrechende, mäßige, starke, passionnierte dabei ist oder nur schlichtes Gefallen oder Anmachen; ob sonstige intime Gefühle schon wirken oder nicht; ob man dabei Sex hat oder nicht. Der Ausdruck hat sehr vage Konturen und wird als solcher gebraucht. Seine schillernde Vieldeutigkeit ist das Interessante an ihm. In »ausgehen mit« ist Sex-haben jedoch die Dimension, die am meisten schillert, nicht die Liebe. Dies ist klares Anzeichen dafür, dass der Ausdruck keineswegs euphemisch ist, als ob dessen Unbestimmtheit dazu dienen würde, das Sexuelle nur anzudeuten und dessen klare oder brutale Anzeige zu vermeiden. Hingegen herrscht bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein eine prüde Verschleierung des Sexuellen – die an das libertine »gazer« erinnert 6 –, und sich z.B. in der journalistischen Berichterstattung der amerikanischen/ englischen Presse niederschlägt, welche den Ausdruck »intimacy took place« benutzt, um zu sagen: »Es ist zum Geschlechtsverkehr gekommen«. Eine solche Verschleierung zeigt nochmal, wie semantisch bedeutsam schon die bloße Benennung des Sexualaktes ist. Zum Status der Liebe wäre, von hier ausgehend, Vieles zu sagen, vor allem zur Veraltetheit ihrer Muster und zur Verabschiedung der Semantik der Passion zugunsten einer Semantik der intimen, egalitären Verständigung und Harmonie

5

Der selbe Akt der copulatio heißt jeweils anders, je nach seinen normativen Kontexten. Wenn der Sexualakt außerhalb der Ehe, d.h. sitten- und gesetzeswidrig stattfindet, dann heißt er fornicatio und wird »wantonly« vollzogen – wie es die religiöse Formel des Ehesakraments in der anglikanischen Kirche verwerfend ausdrückt. Siehe dazu Sanchez 1637.

6

»Gazer« (eine Gaze darauf legen) ist die Standardbezeichnung für die Verschleierung des Sexuellen in der libertinen Literatur des 18. Jahrhunderts. Näheres zum Verfahren findet man bei Peter Cryle (2001).

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bei emotional und sexuell unverbrauchten Besetzungen. Liebe als solche ist aber hier nicht der Fokus unseres Interesses.

S EMANTISCHE ANALYSE

DES

AUSDRUCKS »S EX - HABEN «

Gehen wir nun die implizierten Bedeutungsmomente des Ausdrucks »Sexhaben« als Benennung einer sexuell tätigen Intimität durch und versuchen wir, sie durch Kontrastierung mit der Hintergrundsemantik ihrer Emergenz sowie durch Kontextualisierung ihrer eigenen, neuen, emergenten Momente zu verdeutlichen. Was sagt man also, wenn man »Sex-haben« sagt? a) Zunächst sagt man die völlige Normalität der Sache: Sex-haben ist nichts Außerordentliches und hat eine sozial durchgängige, in der sozialen Kommunikation stets mitkonstruierte, für das Selbstverständnis der liberalen Gesellschaften des Westens sehr wichtige Wahrscheinlichkeit. Der Vollzug von Sex soll geläufig sein, was heißt, er soll nicht als prinzipiell unwahrscheinlich, schwierig zu erlangen entworfen werden. Er soll vielmehr in jeder intimen Beziehung ohne weiteres möglich und gängig sein, soll ein primärer Bestandteil davon sein. Und dies an sich, unabhängig vom rechtlichen Status der intimen Beziehung selbst. Solange man rein sexuell begehrend oder intim fühlend, d.h. in freier intimer, gegebenenfalls liebender Einstellung den Vollzug von Sex will, soll dieser, gleichgültig ob vor-, nach- oder außerehelich, ohne Behinderung stattfinden können. b) Sex-haben ist eine Sache, die jeder kennt, sie ist für niemanden schleierhaft oder unpräzise: Es gibt ein generalisiertes Wissen von dem, was Sex ist und wie man es macht oder hat. Die Generalisierung dieses Wissens wird in der sozialen Kommunikation nachdrücklich unterstellt und damit gewissermaßen gefordert. Sie wird institutionell ins Werk gesetzt u.a. durch die Einführung der Sexualaufklärung im schulischen Unterricht. Sie wird sozietal und kulturell verbreitet über die Szenarien, Inhalte und Formate intimer Kommunikation, welche die Medien erfinden und in Umlauf setzen. Ihren Publiken wird dabei stets eine selbstverständliche Akzeptanz dieser sexuellen Objekte zugemutet. Dies ist ungeheuerlich entfernt von der bisherigen Unterstellung und sittlichen Normierung des Nicht-Wissens um Sex, vor allem bei Frauen und Sexunerfahrenen 7. Bei der

7

Der Roman der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnt diese Normierung des Nicht-Wissens vor allem bei Frauen als psychisch zerrüttend darzustellen, vor dem Hintergrund des Wissens- und Begehrensasymmetrie gegenüber den Männern in der Ehe. Siehe dazu exemplarisch Maupassants Roman »Une vie«.

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zeitgenössischen entgegengesetzten Normierung des generalisierten Wissens um den Sex wird ganz im Gegenteil keine Rücksicht auf Einfältige, Minderjährige, Kinder, etc. genommen. Die in allen möglichen Foren der Gesellschaft stattfindende Abwägungzwischen Rücksichtnahme auf Sexscheue, -überforderte, exkludierte einerseits, und Ermächtigung einer sexbejahenden Liberalität andererseits, wird eindeutig, fast implizit-automatisch zugunsten letzterer entschieden. Dabei wird nach den Nachteilen, die den am Sex und seiner öffentlichen Unterstellung Leidenden entstehen, nicht gefragt. Der hohe Schmerzpreis der Liberalität und der Gesichtspunkt ihrer Opfer kommen erst in einer späten, »reaktionären« Literatur zur Aussprache, deren paradigmatische Vertreter die Romane Michel Houellebecqs sind (vgl. Houllebecq 1999; 2000; 2002; 2005). c) Sex-haben ist etwas, das jeder macht: Es unterstellt eine Generalisierung der Praxis, deren Charakteristik nicht nur in der Unterstellung einer sexuellen Aktivität bei allen Sexwilligen, sondern in der Erweiterung der Sexwilligkeit und -fähigkeit in alle Richtungen innerhalb einer Bevölkerung, d.h. vor allem in die Richtung sehr junger und sehr alter Individuen liegt. Insofern verdoppelt sich die Unterstellung der Generalisierung der Praxis unter den Individuen, die als mögliche Praktizierer gelten, um eine Generalisierung der Sexualkompetenz auf alle Altersgruppen mit der strikten Ausnahme von Kindern. Jedoch fällt dieser Ausschluss der Jüngsten aus der Betreibung des Sexes nicht mit einem Ausschluss aus jedem Wissen um ihn. Man führt schon sehr junge Kinder in Sachen Sexualität ein, meistens zu ihrem eigenen Schutz vor möglichem Missbrauch. d) Sex-haben ist etwas, das nicht um jeden Preis versteckt werden muss: Sex braucht nicht in einer undurchbrechbaren Intimität statt zu finden. Es werden Formen des Mitwissens toleriert. Es ist nicht unüblich, dass Kinder, Nachbarn, Kollegen, Unbekannte wissen, mitbekommen, dass da (an diesem Ort), die (jene Personen), Sex-haben. Das direkte, reale, offenkundige, ausgesprochene Wissen Dritter um das Sex-haben von Eltern, Verwandten, Nachbarn, (übergeordneten und untergeordneten) Arbeitskollegen, Unbekannten ist Bestandteil des neuen Intimitätsregimes. Dieses integriert, im scharfen Gegensatz zum alten, die gewissermaßen stets mitgedachte, eben unkomplizierte, nicht skandalisierte noch skandalisierende Anwesenheit Dritter. Das hat zur Folge, dass emotional heftige/zornige Reaktionen auf solche Anwesenheit immer mehr ihrer Erregungsfeder entbehren (so wie man heute einen Bettler nicht mehr im Zorn abweisen kann 8). Es wird nicht einmal als schlimm empfunden, wenn Dritte durch Zufall

8

Der Niedergang der Regulierung des Bereichs der Sexualität durch starke Affekte und ihre emotionsgeladenen gewaltbereiten Reaktionen ist ein soziologischer Prozess, der

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oder halb intendierte Gelegenheit zuschauen. Das Drängen aller möglichen sexuellen Motive (wie nackter Körper und sexuell konnotierter Interaktionen) in den öffentlichen Raum macht die Duldung der Mitanschauung Dritter zu einer Art allgemein geübter Toleranz. Es wird sogar immer mehr bei dieser kaum noch als prevers empfundenen »Triardisierung« der Interaktion von einer Erhöhung des sexuellen »excitment« relativ schlicht berichtet. Dies führt ebenfalls zu einer erhöhten Toleranz für eine allgemein, mild transgressive Sexualität, die es als lustig-reizvoll empfindet, an halb öffentlichen Orten Sex zu haben. e) Sex-haben sagt, dass Sex eine lustvolle, leichte Sache ist: Lust ist Normalerwartung und Normalanspruch am Sex. Sie schwingt im Semantem als etwas Unkompliziertes, stets mit dem Sex Mitgegebenes. Sexuelle Lust wird als leichte, leichtmachende Lust verstanden und erlebt. Sex ist gut, tut gut, weil er diese Lust so einfach gibt. Sexlust wird dargestellt als schöne, hygienische, rekreative, sportliche Lust 9 . Im Gegensatz dazu stehen Ernsthaftigkeit, Dramatik, Beschwerlichkeit, Schuldhaftigkeit der alten Sexualität, Merkmale also, die alle im Bereich der Semantik des Sex-habens verfliegen. Die Semantik des leichten Sexes führt zu einer Art Parenthetisierung des Sex-habens. So heißt es: »Wir haben uns getroffen, haben Sex gehabt, bin dann nach Hause gefahren«. Sex wird so leicht, dass es folgenlos und parenthetisch wird. Er findet in einer Art offener Klammer innerhalb des alltäglichen Lebensablaufs statt, die dann wieder zu geht und das Leben zu seinen gewohnten Vollzügen zurück kehren lässt. f) Sex-haben ist notwendig; jeder hat Sex in seinem Leben; das Leben eines jeden umfasst ein Sexualleben: Zum Leben eines jeden Individuums gehört Sex und Sex-haben. Nicht nur ist Letzteres notwendig, damit das Individuum sich wohlfühlen kann; sondern jedes Individuum hat als ein ihm Eigenes ein Sexualleben. Ein Begriff von »Sexualleben« (vie sexuelle) kommt im Laufe des 20. Jahrhunderts auf. Er ist in historisch-semantischer Perspektive überaus wichtig. So werden fiktionale oder nicht fiktionale, schlicht berichtende »Sexualbiographien« geschrieben, die sich als Literatur geben wie z.B. La vie sexuelle de Catherine Millet. Der Begriff sowie die Umstände seines Aufkommens bedürfen einer eingehenden Interpretation, die ich an anderer Stelle versucht habe (vgl. Clam 2006b). Es sei hier in aller Kürze auf das Wesentliche verwiesen: Sexualleben ist etwas, was das moderne Individuum aus der Beschaffenheit seiner In-

von Durkheim und Simmel hervorgehoben und expliziert wird. Die Abweisung des Bettlers im Zorn ist ein Beispiel Simmels aus der »Philosophie des Geldes«. 9

Diese Auffassung von Sexualität erleichtert die Übergänge zu immer freieren Formen sexueller Praxis, wie z. B. Gruppensex und Partnertausch. Siehe dazu Welzer-Lang 2005.

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dividualität heraus hat 10. Es ist ein wesentliches modernes Individualitätsattribut. Es gehört zur Willkürmacht des Individuums, das Sexualleben, das sein eigenes ist, so zu gestalten, wie es will. Die Bestimmung des Intimen und des Sexuellen in ihren Semantiken und ihren Praktiken durch das Soziale, welche bis in die Postmoderne die Regel war, ist im Verfall begriffen. Das Individuum muss sich in ihnen und durch sie als Ergebnis seiner Selbstwahl (choix de soi) entwerfen. Dabei geht es um die Wahl der sexuellen Identität, Orientierung, Praktiken, der Bedeutung, die solchen Praktiken gegeben wird. Andererseits tendiert in diesem Entwurf das Sexualleben dazu, ein SexualLEBEN zu sein, d.h. der Ausschnitt des Lebens zu sein, in dem am intensivsten gelebt wird und in dem man sich am lebendigsten fühlt. Die Öffnung des Sexuallebens für den laufenden Eintritt von sehr hohen Genießenspotenzialen, die nicht mehr durch Triebverzichthaltungen und Schuldgefühl abgewehrt werden, hält für alles sexuelle Begehren die Möglichkeit von Gratifikationen parat, die man sich früher nicht erlaubte. Die Einbürgerung und Verallgemeinerung des Begriffs eines Sexuallebens, das nicht vorwiegend auf nicht gratifiziertes, hoch gespanntes sexuelles Begehren, sondern auf reale und laufende Genießensgratifikationen verweist, zeigt, wie sehr man sich von den sozialen, kulturellen und religiösen Landschaften entfernt hat, in denen dem Individuum kein Sexualleben als eigene biographische und persönlichkeitstragende, individuierende Dimension zuerkannt wird. g) Jeder weiss, wie es zum Sex-haben kommt: Sex-haben ist ein Syntagma der intimen Kommunikation. Es gehört als Modul sozusagen zu ihrer Syntax und kommt in stereotyper Weise an bestimmten Stellen ihrer syntaktischen Verkettungen vor, wie im Ausdruck: »Wir hatten Sex«. Sex wird in der intimen Kommunikation erwartet und in ihr auf Wegen realisiert, die skriptmäßige Qualität haben. Dies hat eine Analogie mit der alteuropäischen Liebessemantik, in der die Liebeserklärung (die »déclaration«) ihre Einbahnungswege fordert, auf denen sie sich probabilisiert und plausibiliert: über Anzeichen wie »trouble« in Blick und Haltung, Ambiguisierung von Zusammensein, Aufbau von unausgesprochenen Mitwisserschaften (complicités) über Beiwohnen oder Kooperation an einem sachlichen oder gesellschaftlichen Tun. Jedoch, im Gegensatz zu diesen Skrip-

10 Das Sexualleben hat die Tendenz, eine Sekundärintimität, eine zweite, Nebenebene des Intimen zu entfalten, die komplementär zu einer Hauptebene, auf der das Individuum sein Individuumsleben mit den entsprechenden biographisch stabilen Zeitrahmen, den dauerhaften Beziehungen, etc. stiftet. Sex-haben befreit diese Ebene von belastenden, exklusiven Rücksichten auf Sexualität und vom Druck des Sexualbedürfnisses. Es macht das Individuum frei für intime Entscheidungen gamischer, d.h. eheähnlicher Qualität.

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ten, hat Sex-haben nur noch eine recht niedrige Kontingenz, eine marginale Unwahrscheinlichkeit. Der erste Geschlechtsverkehr bildet heute eher den Beginn der intimen Beziehung als das, worin sie nach langen Wegen gipfelt. Nicht die Ausreifung und Vertiefung der Beziehung führt zu ihrer Besiegelung im ersten Beischlaf, sondern der erste Beischlaf bildet die normale Hinführung zur Beziehung 11. Sex-haben gilt daher als Probe der Intimisierung der Beziehung: er markiert den Zeitpunkt, an dem in einer beginnenden Beziehung die Partner sich selbst gegenüber bekunden, dass sie eine Beziehung haben. Sie signalisieren sich selbst und einander, dass sie bereit sind, dass »etwas« zwischen ihnen anfängt 12. h) Sex-haben heißt oft: es ist (halt) zum Sex-haben gekommen: Sex-haben braucht keine besonderen Vorkehrungen, die es mit einem besonderen Zauber belegen und aus der Unwahrscheinlichkeit heraus berufen. Es kommt vielmehr auf eine bloße Zulassungsentscheidung an – man braucht es nur zuzulassen und es geschieht nach einfachem normalisiertem Skript. Die Entscheidung der Zulassung mag sehr individuell und »intim« sein und doch kann man, selbst wenn man es wollte oder es gerne wünschen würde, das Sex-haben nicht so zauberhaft inszenieren, dass es wie wundersam aus den Fluten geboren wird. Der syntagmatische, in der Intimkommunikation eingebaute Normalanspruch des Sexhabens kann nicht leicht neutralisiert werden. Nein sagen zum Sex, wenn man in die intime Kommunikation schon eine Strecke weit engagiert ist, wird schwierig. Es wird oft nicht verstanden und lässt verschiedenartige Zweifel und Fragen aufkommen. i) Sex-haben unterstellt, dass es als solches die Erwartung der beiden intimen Partner ist: Die alte, sehr stark Gender-orientierte Differenzierung, die auf dem Wege zum Sex-haben das Neinsagen der Frau als ein mächtiges Hindernis gestellt sein lässt, ist das erste, das in der zeitgenössischen Intimkommunikation hinfällig wird: diese kann sich nämlich nicht entfalten, wenn an GenderUngleichheiten und -Asymmetrien festgehalten wird 13. Die Unterstellung durch-

11 Dies ist die These Jean-Claude Kaufmanns, des bekannten Intimitätsforschers, in seinem Buch: Premier matin: »Comment naît une histoire d’amour« (vgl. 2004). Sie wird aufgrund empirischer Befragungen belegt. 12 Wir sehen von all den Fällen ab, bei denen man den Sex bloß rekreativ betreibt und es bei einem (one night) stand belässt oder es zu mehreren stands kommen lässt, die aber alle ebenso rekreativ bleiben wie der erste und keine Perspektive auf Beziehungsanbahnung eröffnen. Dies tangiert nicht die Tatsache, dass der mit dem Beischlaf gemachte Anfang erstmals probeweise geschieht. 13 Ein Zeugnis dieser Symmetrisierung gibt die Verständigung über den Modus des anzustellenden Sexes. Sie wird belegt in der Semantik der Verhütung und der Beschüt-

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gängiger Symmetrie in Begehren und Genießen der Geschlechter ist eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen. Sex-haben ist also nicht gendred, wie es in vielen Kulturen und durch lange historische Perioden bis in unsere Gegenwart hinein war und ist. Es ist z.B. nicht (eher) Sache des Mannes, der Sex hat, während seine Partnerin sexuell gehabt/besessen wird. Im Semantem »Sex-haben« spricht die Gleichstellung der Ansprüche von Mann und Frau sowohl an sexuellem Begehren als auch an sexuellem Genießen. Nicht nur der Mann soll begehren und genießen, während die Frau nur genießt, weil sie nicht den Sex als solchen begehren darf, sondern zum Genießen sozusagen akzidentell kommt, indem sie sich vom Mann verführen lässt. Nicht nur der Mann ist Triebträger und nicht nur er ist der Aktuierer der Sexualität der Frau – in ihrer bloß genießenden Dimension, der sie nur nachgibt 14. Die Vergegenwärtigung dieser in der traditionellen Kultur Europas gängigen Vorstellungen wirkt schockierend und zeigt, wie sehr unsere heutige Kultur sich von ihnen entfernt hat. k) Sex-haben heißt mitunter: man will guten Sex haben: Sex-haben ist, für Mann und Frau, ein (Sex) Machen (make sex, faire l’amour), das auf hohe Genießensintensitäten aus ist. Durch diese aktive, auf Gütequalitäten bedachte Anstellung von Sex wird die geschlechtliche Verbindung desingularisiert. Sexhaben als Guten-Sex-Haben bricht strukturell die monopolare Ausrichtung auf einen Partner und vergegenwärtigt immer die Möglichkeit anderer Sexbetreibensweisen, die aufgrund einer (imaginierten oder realen) Variation der Partner in ihrer Güte variieren, d.h. auch in ihrer Güte gesteigert werden können. Denn die Qualität des Verkehrs kann bei einem Partner nicht so sehr variieren wie bei unterschiedlichen. Dies heißt, dass die Vorstellung von »guten Sex haben« notwendig eine gewisse Variabilität der Partner appräsentiert. Ein Partner, der Sex gibt und nimmt, kann gewiss der Liebespartner sein und dadurch Mängel der Genießensleistung durch affektive Momente wett machen; er kann aber das herr-

zung. So heißt es typisch: »Wir haben lange immer wieder Sex gehabt, bevor wir uns dazu entschlossen haben, es ›ohne‹ (Präservative) zu machen«. Überlegung, Abwägung und Handlung sind hier Sache des intimen gleichberechtigten, durchwegs symmetrisch konstruierten Paares. Symmetrie wird hier normativ moralisch getönt und bringt es mit sich, dass der weniger weitgehende Wunsch (traditionell der Frauenwunsch) respektvoll berücksichtigt wird – und dem weitergehenden (traditionell männlichen) sein Maß auferlegt. 14 Begehrende Frauen sind Sex wollende Frauen, die durch diese Zulassung des Begehrens in ihrem Körper und Gefühl schon als erniedrigte gelten. Die Bejahung des leiblichen Begehrens des eigenen Ehemannes durch die Ehefrau ist eine sehr späte Errungenschaft der christlichen Moraltheologie.

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lich Erratische, Selbstgenügsame, Per-se-Bestehende der Handlungs- und Erlebenssphäre des guten-Sex-habens nicht brechen. Diese ist eine phantasmatische Potenz, der er nichts anhaben kann. Es ist viel eher so, dass es diese ist, die von sich aus die Verquickung von Liebe und Sex behindert. Mögen die Partner auf Vereinigung und Fusion so sehr bedacht sein, wie sie auch mögen, es ist ihnen und der Liebe im allgemeinen nicht möglich, die Autonomie des Sexes zu brechen und die Problematik des guten-Sex-habens als eine Vielheit von Partnern und Erfahrungen stets appräsentierend aus dem Weg zu räumen. Letztere Problematik bildet vielmehr den Horizont, darin die Liebesanbindung von Individuen in einem Paar den Lockerungen durch guten-Sex-haben von vornherein ausgesetzt ist. »Wir haben guten sex gehabt« neutralisiert nämlich die gefühlsmäßige Dimension des Exzesses, die der modernen Liebe als Passion zur Herrschaft über die Affektwelt der modernen Individualität verholfen hat 15. Das sexuelle Genießen des Sex-habens besiegelt keine einzigartige gamisch-intime Verbindung, sondern bleibt durchwegs mixisch, d.h. in seinen interindividuellen Verbindungen wechselhaft entworfen und verstanden 16.

R OBUSTHEIT

DES

S EX - HABENS

Zuletzt müssen in dieser Aufzählung jene semantischen Momente des Sexhabens Platz finden, die keinen kennzeichnenden Ausdruck in der Wendung der Rede haben. Es geht um jene Momente, die durch alle hier aufgezählten Diskursbruchstücke sprechen, jedoch in keinem allein zur klaren Konstellation kommen. Ich will ein Moment vor allem in den Vordergrund stellen, das nicht nur dahin gehört, sondern ein Schlüsselmoment darstellt, von dem aus die gesamte besprochene Semantik interpretiert werden muss. Es ist das Moment der Robustheit des Sex-habens, das nichts fürchtet, noch zu fürchten hat, was es hemmen oder unsicher machen könnte. Man kann (den guten, normalen, nicht den gefährlichen, ungeschützten, gewaltsamen) Sex haben, wann man will, so

15 Luhmann spricht von einem »Gebot des Exzesses« (1982: 83), das die moderne Liebe auszeichnet. Die moderne Liebe wird als Intimkommunikation ausdifferenziert und dadurch autonomisiert oder gar autopoietisiert. Sie ist daher mehr denn je Liebe, von allem Anderen, allen anderen sozialen Rücksichten und Kommunikationsweisen abgelöst. Liebe kann nicht mehr mäßig sein, kann von nichts Anderem gemäßigt werden. Sie wird in ihrer Intensität von vornherein ins Exzessive gesteigert. 16 Die Unterscheidung zwischen Gamos und Mixis habe ich eingeführt in: Clam 2007: 248ff.

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viel man will, ohne dass es sich negativ auf das Leben oder die Gesundheit des Individuums auswirkt. Sex-haben kann nur positive, körperlich wohltuende, genussreiche, psychisch stimulierende und ausgleichende Folgen haben. Es lässt die Körper und die Seelen, aber wichtiger noch die Körper, unversehrt. Dies kontrastiert sehr scharf mit der alten Semantik und ihrem dynamischen Kern selbst, der jegliche sexuelle Betätigung, die für sich vorgenommen wird, mitschwerer Schuld verband und dadurch über sie fatale Folgen verhängte: peinigende Geschlechtskrankheiten, unerklärliches Darben, Zersetzen von Kraft und Gesundheit mit tödlichem Ende 17. Das Moment der Robustheit des Sex-habens gegenüber allen möglichen Anfechtungen, das in allen Schattierungen der besprochenen Semantik spricht, ist entscheidender Bestandteil der Emergenz des neuen Intimitätsregimes: die Folgenlosigkeit des Sexes auf die es habenden Körper, vor allem auf die es habenden Frauenkörper. Sex-haben macht nicht schwanger, nicht krank, nicht alt, nicht dick, nicht unförmig, verfleckt nicht das Gesicht, die Haut, hinterlässt keine Spuren, die das Individuum als Sexhingegebenen stigmatisieren. Man könnte mit einer Bemerkung abschließen, die sich von den Problemstellungen inspiriert, die sich an der Psychoanalyse orientieren. Die neue Formel des Begehrensregimes der Intimität lässt sich nämlich mit den Mitteln der überkommenen psychoanalytischen Theorie fast nicht erschließen. »Sex-haben« als gängige und integrierte Form sexualisierter Intimität widerstrebt massiv allen Annahmen dieser Theorie zur Kardinalfunktion der Sexualität als einer des Ermangelns, Verdrängens, Aufschiebens und Scheiterns. Vollzugsmäßig gelingende Sexualität zeichnet sich, für die Theorie, nur auf dem Grund des nicht gelingenden (nach Lacan sogar gar nicht gegebenen) Geschlechterverhältnisses. Dabei scheinen neue Robustheitspotentiale überall zu entstehen, die der angenommenen konstanten Anfälligkeit des Sexuellen entscheidendes Terrain abgewinnen. Eine solide Folgenlosigkeit des »Sex-habens« scheint sich zu etablieren. Sie ermöglicht eine vereinfachende Abspaltung und Verselbständigung der sexuellen Motive, die sie von allen anderen intimen Motiven scheiden und damit eine Vielzahl von kommunikativen Lagen durch Trivialisierung ihrer erotischen Ambivalenz entlasten. Dies stellt letztlich die Annahme eines nur mit äußerster Not und Dürftigkeit belegten Gelingens des Sexuellen in Frage. Das Festhalten der psychoanalytischen Theorie an ihrem »düsteren« Sexualitätsparadigma erscheint, wenn man die Anzeichen der neuen Entwicklung so hinnimmt, als dokt-

17 Eine Spur dieser Phantasmatik findet sich noch bei Michel Houellebecq, in dessen Romanen alle sexuell gezeichneten Personen von schweren Krankheiten getroffen werden und oft daran sterben.

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rinär und fraglich. Neue analytische Lektüren der Phänomene sind nötig, um die verschiedenen Entwicklungen ins rechte Licht zu rücken.

L ITERATUR Clam, Jean (2001): »The Specific Autopoiesis of Law: between Derivative Autonomy and Generalised Paradox«, in: Jiri Priban/David Nelken (Hrsg.), Law’s New Boundaries: The Consequences of Legal Autopoiesis, Aldershot: Ashgate, S. 45-79. Clam, Jean (2006a): »Was ist ein psychisches System? Von der Exteriorisierung der Kommunikation zur Geminierung der Individualität«, in Soziale Systeme 12, Heft 2, S. 345-369. Clam, Jean (2006b): »Le roman de la vie sexuelle. Le dire et le faire de l’intimité contemporaine«, Vortrag am Centre Marc Bloch, Berlin. Clam, Jean (2007): L’intime: Genèses, régimes, nouages. Contributions à une sociologie et une psychologie de l’intimité contemporaine, Paris: Ganse Arts et Lettres. Clam, Jean (2011): Die Gegenwart des Sexuellen. Analytik ihrer Härte, Wien/ Berlin: Turia und Kant Verlag. Cryle, Peter (2001): The Telling of the Act. Sexuality as Narrative in Eighteenthand Nineteenth-Century France, Newark: University of Delaware Press. Houellebecq, Michel (1999): Extension du domaine de la lutte, 2e éd., Paris: J’ai lu. Houellebecq, Michel (2000): Les particules élémentaires, Paris: Flammarion. Houellebecq, Michel, (2002): Plateforme, Paris: Flammarion. Houellebecq, Michel (2005): La possibilité d’une île, Paris: Fayard. Kaufmann, Jean-Claude (2004): Premier matin: Comment naît une histoire d’amour, Paris: Pocket. Luhmann, Niklas (1982): Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sanchez, Thomas (1637): De sancto matrimonii sacramento, Lyon: Liber IX (De debito coniugali). Welzer-Lang, Daniel (2005): La planète échangiste. Les sexualités collectives en France, Paris: Payot.

Dritte oder Tertiarität in Liebesdyaden Zur Sozialtheorie dreifacher Kontingenz J OACHIM F ISCHER

Geboten wird eine Sozialontologie von Liebesdyaden, die die dritte Figur als konstitutiv für sie einbezieht. Das ist eine sozialtheoretische Dienstleistung, die die Steigerung kultursoziologischer Beobachtungs- und Beschreibungsmöglichkeiten kulturspezifischer »Liebessemantiken« ermöglichen soll. Systematisch operierende Sozialontologie verschont naive sozialkonstruktivistische Beschreibungsversuche vor Verkürzungen. Die Überlegung wird in drei Teilen entfaltet: Zunächst wird das Problem des Dritten bzw. die Figur des Dritten (1.) in der Liebessemantik einerseits (1.1) und in der neueren Sozialtheorie andererseits (1.2) entfaltet. Dann – im Hauptteil – wird eine systematische Phänomenologie des Dritten in Liebesdyaden aufgewiesen (2); abschließend ziehe ich aus diesem Befund, dass der Dritte selbst in Dyaden, also in den puren Zweierbeziehungen der Liebe vielfältig konstitutiv ist, Konsequenzen (3) – einerseits für die Analyse kultureller Liebessemantiken (3.1), andererseits für die Sozialtheorie insgesamt (3.2). Die Reflexionen haben den Status einer Grundlagenreflexion auf Liebesdyaden – aus Anlass von ihnen. Beiläufig sind sie eine Fundamentalkritik der Luhmannschen Sozialtheorie »doppelter Kontingenz« – was in der Titelthese von der »dreifachen Kontingenz« anklingt.

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1. D AS P ROBLEM

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1.1 Das Verlangen nach dem Dritten in der radikalen Liebesdyade (R. Musil: Der Mann ohne Eigenschaften) Begonnen werden soll mit einer berühmten mitteleuropäischen Liebessemantik der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts im Narrativ von Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«: Die Kritik des kritischen Gesellschaftsroman hat ihren Quellpunkt in einem Liebesroman, der in der Utopie einer Liebesdyade ruht, der Semantik einer reinen Geschwisterliebe als Neuanfang von aller gelingenden Gesellschaft überhaupt (»Ins Tausendjährige Reich«). Der Fluchtpunkt von Musils Gesellschaftsroman der europäischen Moderne, der die parallele Aktion zweier imperialer Gesellschaften um ihre je angemessene moderne Repräsentation fingiert, der symbolische Fluchtpunkt dieses Gesellschaftsromans ist ein Liebesroman, die Liebe zwischen den sich wiederfindenden Geschwistern Ulrich und Agathe, die als eine verbotene Geschwisterliebe alle utopischen Erwartungen der Epoche, des Erzählers und des Lesers bündelt. Dieser Geschwisterinzest wird in den zu Lebzeiten Musils veröffentlichten Teilen des Romans hinausgezögert, und da der Roman nach 1942 insgesamt unvollendet geblieben ist, weiß man nicht, ob der reale sexuelle Vollzug der alle Dritten exkludierenden Geschwisterliebe tatsächlich das narrativ aufgebaute Gewicht eines Anfanges des Tausendjährigen Reiches, eines Eintritts in die Erlösung der Moderne bzw. des in den »anderen Zustand« erhalten hätte. Es ist allerdings ein frühes Kapitel aus den zwanziger Jahren mit dem Titel »Reise ins Paradies« erhalten, in dem es tatsächlich zum Vollzug dieses Liebesinzests kommt. In einem italienischen Gasthof geben die Geschwister Agathe und Ulrich ihrem in Gesprächen und Vorstellungen lang aufgebauten und aufgestauten spirituellen Verlangen nach, »immer wieder voneinander entzückt. Die Skala des Sexuellen mit Variationen durchmessend« – wie es in dem Kapitelentwurf wie in einer Regieanweisung heißt. »Agathe lehnte halb ohnmächtig an Ulrichs Brust. Sie fühlte sich in diesem Augenblick von ihrem Bruder in einer so weiten, stillen und reinen Weise umarmt, dass es nichts Ähnliches gab. Ihre Körper bewegten sich nicht und wurden nicht verändert, dennoch floss ein sinnliches Glück durch sie, dessengleichen sie noch nie erlebt hatten. […] Wo immer sie sich berührten, sei es an den Hüften, den Händen oder einer Strähne Haars, drangen sie ineinander ein. Sie waren beide in diesem Augenblick überzeugt, dass sie den Scheidungen des Menschentums nicht mehr untertan seien […] und es drang die Erfüllung nicht bloß an bestimmten, sondern an allen Stellen des Leibes auf sei ein« (Musil 1978: 1412). Aber durch diese beglückende Erfahrung des »anderen Zustandes« in der sinnlich-

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spirituellen vollkommenen Dyade wächst in seiner Wiederholung das Verlangen nach Differenz, nach Geheimnis voreinander, nach Differenzgeneratoren. Das Stubenmädchen etwa, aber auch ein ebenfalls im Gasthof abgestiegener Kunsthistoriker tauchen nun in den Phantasien und Gesprächen der beiden auf. Das erscheint wie eine notwendige Konsequenz der radikalen Liebe zwischen den Geschwistern, denn schon gleich am Beginn des Kapitels – so der Erzähler – »bemerkte man [in ihrem schönen Zimmer, in dem sich die Erfüllung abspielen wird] rechts von der Tür, hochgelegt und nahe einer Zimmerecke, an einer ganz unverständlichen Stelle ein ovales Fenster, von der Größe und Form einer Kabinenluke; es war undurchsichtig-farbig verglast, beunruhigend wie ein heimlicher Beobachtungspunkt« (Musil 1978: 1408). Gegen Ende des Kapitelentwurfs der »Reise ins Paradies« – und diese damit abbrechend – wird Ulrich sagen: »›Wir müssen uns nach einem Dritten umsehn. Der uns zuschaut, beneidet oder Vorwürfe macht‹. Er blieb vor ihr stehn und sagte langsam: ›Zwischen zwei einzelnen Menschen gibt es keine Liebe […]. Wir sind einem Impuls gegen die Ordnung gefolgt. Eine Liebe kann aus Trotz erwachsen, aber sie kann nicht aus Trotz bestehen. Sondern sie kann nur eingefügt in eine Gesellschaft bestehn.‹« (Musil 1978: 1426) 1 1.2 Neuere Sozialtheoriedebatte: Identität, Alterität und Tertiarität – die systematische Einbeziehung des Dritten Diesen aus einer äußerst intensiven, äußerst prominent platzierten und sehr elaborierten Liebessemantik kommenden Ruf nach dem Dritten, das Begehren nach der Figur des Dritten im dyadischen Liebesbegehren nehme ich zum Anlass, nach dem Status des Dritten in Liebesdyaden überhaupt zu fahnden. Bevor ich das angehe, verknüpfe ich diesen Status des Dritten in der Intimität mit einer neueren Theorieentwicklung innerhalb der soziologischen Theorie und Sozialontologie, um ihm ein Gewicht, einen Resonanzraum zu geben. Seit ungefähr zehn Jahren verdichten sich in den Kultur- und Sozialwissenschaften systematische Erkenntnisinteressen an der Figur und Funktion des »Dritten«. Indiz für diese Theorieinnovation sind zwei 2010 zeitgleich erschienene Bände zur »Figur des

1

Der Verfasser hat die Grundsatzproblematik des Dritten für die Sozialtheorie u. a. in der Auseinandersetzung mit dem Musilschen Roman entdeckt. Seine universitäre Abschlussarbeit 1978 handelte über »Die Funktion des Dritten in Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹« ebenso wie ein nicht abgeschlossenes literaturwissenschaftliches Dissertationsprojekt (1982). Ein Nachklang dieser Reflexionen in Fischer (2004).

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Dritten« einerseits, der aus einem von Albrecht Koschorke initiierten Graduiertenkolleg in Konstanz hervorging (Esslinger u.a. 2010), und zu »Theorien des Dritten« (Bedorf u.a. 2010) andererseits, ein davon unabhängig entstandener Band, den der Sozialphilosoph Thomas Bedorf (Bedorf 2003), der Verfasser selbst (Fischer 2000) und Gesa Lindemann (Lindemann 2006a, 2006b) als sozialphilosophische und soziologische Theoretiker nach einem bereits längerem Diskussionsvorlauf organisiert haben. In beiden Bänden bündelt sich eine vielsträhnige Debatte in der Soziologie (Freund 1976), Ethnologie (Breger/Döring 1998), Rechtswissenschaft, Psychologie, Literaturwissenschaft (Koschorke 2002) und Philosophie (Hartmann 1981; Waldenfels 1997), die zunehmend systematischer eine Position des »Dritten« bestimmt, in der seine – prinzipiell von »ego« und »alter ego« unterschieden – konstitutive, bisher oft übersehene Funktionen für Subjektbildung, Sozialitätsgenese und Wissenserzeugung erkannt werden. Natürlich kommt es dabei zum Rekurrieren (Fischer 2000; Bedorf 2003) auf Drittentheorie-Pioniere wie Simmel (Fischer 2010) und Freud (Lang 2000; Tuschling 2009), Sartre, Lévinas und Serres. Vorausgesetzt wird dabei die grundlegende Bedeutung der Intersubjektivitätstheorie (Husserl 1991) oder Interpersonalitätstheorie für die Sozial- und Kulturwissenschaften (Dilthey 1970) und für die kommunikative oder relationistische Wende der Philosophie des 20. Jahrhunderts (Apel 1976; Siep 1979). In verschiedenen relationalen Modellen rekurriert diese Intersubjektivitäts- oder Kommunikationstheorie prominent bisher auf die ego-alter-Dyade (in den Leitbegriffen der »doppelten Kontingenz« (Parsons 1968), des »Kampfes um Anerkennung« (Hegel 1980; Honneth 1994), der »praktischen Intersubjektivität«, der »symbolischen Interaktion« (Mead 1973), des »kommunikativen Handelns« (Habermas 1995), des Verhältnisses von »Identität und Alterität« (Eßbach 2000)). Die systematische Reflexion nun auf den Status des »Dritten« (was meint: der (oder die) Dritte, der/die »personale« Dritte, nicht »das« Dritte wie Sprache oder System oder Diskurs oder soziale Ordnung) kann offensichtlich das Verständnis von Subjekt, Sozialität und Wissen verändern und eröffnet neue Beobachtungs- und Beurteilungsmöglichkeiten. Bereits die Kategorie des »Anderen« bündelt ja eine Fülle von sozialen, relationalen Aspekten und Funktionen – nämlich Herr und Knecht oder Über- und Unterordnung, aber auch Kooperation oder Arbeitsteilung, Tausch, Vertrauen, Konflikt, Fürsorge, womit auf diese Weise sozial- und kulturwissenschaftliche Anschlüsse möglich werden. Die Kategorie des Dritten, und zwar im Sinne der Figur des Dritten, generiert nun allerdings originäre Konfigurationen, die nicht auf Dyaden zurückgebracht werden können, er bietet »formal soziologische Bereicherungen«, wie Simmel bereits als Drittentheoriepionier festhielt (Simmel 1983) – den Beobachter oder Voyeur, den Beauftragten oder Stellvertreter, den

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Übersetzer, den Boten, den Mediator, den Richter, den Rivalen, den Hybriden, den Fremden, den Sündenbock, den Parasiten, den lachenden oder begünstigten Dritten, den Koalitionär oder Verbündeten – also einen Reichtum von ÜbereckFigurationen, die – wie gesagt – nicht auf die Dyade von ego und alter ego zurückgeführt werden können, nicht in der »doppelten Kontingenz« aufgeklärt werden können, originäre Figurationen, die umgekehrt aber auch nicht beim Auftauchen einer vierten oder fünften Figur sich steigern bzw. überboten werden. Der Dritte verkörpert offensichtlich – so wie der Andere, aber über ihn hinausgehend – gesellschaftsbildendes Potential, ein originäres Potential, aus denen Gesellschaften operative und ausdifferenzierende Möglichkeiten ihrer Ordnung gewinnen: er bildet den sozialtheoretischen Dreh- und Angelpunkt, wenn es im Sozialen um die prinzipielle Möglichkeit von Anwesenheit/Abwesenheit (der Dritte als abwesende Figur, über die man spricht: Klatsch (Tuschling 2009)), aber auch um die Möglichkeit von sozialer Inklusion und Exklusion (zwischen ego und alter ego gibt es nicht das Phänomen von Inklusion und Exklusion), schließlich auch die Möglichkeit des problematischen Übergang von der konkreten Interaktion zur generalisierten, institutionalisierten Kommunikation (der Meadsche »generalisierte Andere« ist in Wahrheit ein »generalisierter Dritter« (Fischer 2010), wie bereits Berger/Luckmann (1980) indirekt herausgearbeitet haben); auch der für die Vergesellschaftung so bedeutende Sprung von der mikrosoziologischen auf die makrosoziologische Ebene läuft über die Figur des Dritten – nämlich über die Figuration der Stellvertretung. Es bleibt denkwürdig, dass der große Niklas Luhmann in seiner Soziologie, in seiner Sozialtheorie der sozialen Systeme die Beobachtung nicht gesehen hat, die Georg Simmel bereits in der Gründung der Soziologie vollzogen hatte: »diese ungeheuer vergesellschaftende Wirkung«, die von den Figuren und Funktionen des Dritten ausgeht und die ganze gesellschaftliche Teilsystembildungen wie das Recht, die Ökonomie des Marktes, die Politik, der Medien, aber eben auch des Intimsystems ermöglicht. Nur in seiner Rechtssoziologie hat Luhmann die unhintergehbare Funktion des Dritten gesehen – das nämlich die im Rechtssystem kommunikativ aufeinander Eingestellten immer die Erwartungen eines Dritten, nämlich des Richters in Konfliktfällen mit erwarten (vgl. Luhmann 1972: 1981). Aber diese Theorieberücksichtigung des Gerichts, also der institutionellen Verkörperung des Schieds-Richters im Simmelschen Sinn – diese partielle Mitberücksichtigung des dritten Akteurs ist nicht konstitutiv geworden für Luhmanns Soziologie insgesamt. Er lässt alle soziale Systembildung – wie bereits zuvor Talcott Parsons (1968) – grundsätzlich allein über die »doppelte Kontingenz« zwischen ego und alter ego laufen (Luhmann 1984) und verfolgt die Ausdifferenzierung funk-

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tionsspezifischer sozialer Teilsysteme wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Intimsystem, Wissenschaft über symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die je »Erwartungserwartungen« zwischen ego und alter ego steuern sollen (seien damit nun psychische Systeme oder selbst soziale Einheiten wie Organisationen gemeint). Damit bleibt er letztlich dem dyadischen Schema von ego und alter ego, von Ich und Du, von Identität und Alterität, zwischen denen sich das soziale Kommunikations-System als das Dritte bildet, verhaftet. Simmel hingegen hat – wie parallel zu ihm nur Freud, nimmt man diesen mit der Aufdeckung der ödipalen Konstellation als sozialtheoretischen Pionier (vgl. Freud 1930: 1975) – bereits am Startpunkt der Soziologie die Vergesellschaftung im Blick des Dritten gesehen, hat beobachtet und markiert, dass die Vergesellschaftung über Identität und Alterität hinaus selbst »Tertiarität« (Fischer 2005) entdeckt und deshalb mit dieser »dreifachen Kontingenz« (Fischer 2010; 2013) operiert.

2. P HÄNOMENOLOGIE

DES

D RITTEN

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Nun könnte man einräumen, dass es durchaus Kommunikationen und Interaktionen gibt, bei denen Dritte relevant sind, dass aber gerade die »Zweierbeziehung«, die Paarbeziehung per definitionem davon frei sei, weil es hier – entsprechend einer jeweiligen Liebessemantik – doch zuerst und zumeist um die tatsächliche Bezugnahme von »Ich und Du« aufeinander geht, um das tatsächlich feine und feinste Erwarten der Erwartungen des Anderen, um das Ineinander der zweien. Sieht man aber genau hin, sind gerade die Zweier- und Intimbeziehung von Dritten umzingelt, durch sie mediatisiert und dynamisiert. Ich fächere diese Dritten in Liebesdyaden, in Zweierbeziehungen im Folgenden auf, gleichsam in einer Art Phänomenologie der Liebesfigurationen, eine Art Zwischenebene zwischen der semantisch-diskursiven Ebene der »Liebe« und ihrer praktischoperativen Ebene: im Gegenzug zu einer konstruktivistischen oder dekonstruktivistischen Soziologie ist das durchaus als eine Art Ontologie der Figurationen als Voraussetzung für eine soziokulturenvergleichende Liebessemantik gemeint, als eine Sozialontologie der Dritten in Dyaden, die nicht zu verwechseln ist mit einer Metaphysik des Sozialen, sondern wie in Michael Theunissens legendärem Jahrhundertbuch »Der Andere« als »Studien zur Sozialontologie« gemeint (Theunissen 1977), diesmal aber unter Fokussierung auf den Dritten, die dritte Figur. »Nichts ist bedeutender in jedem Zustande als die Dazwischenkunft eines Dritten«, lässt Goethe in den »Wahlverwandtschaften« Charlotte zu ihrem Ehemann Eduard sagen, bevor sie sich zwei Gäste auf ihr Gut einladen, die dann al-

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les verwandeln (Goethe 1972). Und sieht man genau hin, ist die Dazwischenkunft des Dritten schon vor jedem Intimverhältnis mitgegeben, und zwar in Gestalt der verbietenden Instanz, des Verbotes des Inzests, das, in welcher Gestalt es soziokulturspezifisch auch immer in einem Dritten inkarniert und repräsentiert ist, dafür sorgt, dass sich die ersten Kandidaten für eine sexuelle Intimbeziehung in der häuslichen Gemeinschaft, die Geschwister, nicht kriegen, ebenso wenig wie Mutter und Sohn oder Vater und Tochter. Das minimale und universale Gesetz der Untersagung der sich aufdrängenden Intimbeziehungen verweist die Subjekte in ihrer Liebe von Beginn an auf ein Stattdessen von möglichen Partnern – auf die Ausheirat. Ist der Dritte als Verbotsinstanz in jedem konkreten sinnlichen Intimsystem strukturell immer schon vorausgesetzt, so ist er als Vermittler – ich gehe jetzt zu einer anderen Figuration über – zugleich für das tatsächliche Zustandekommen einer Liebesbeziehung äußerst relevant. 2 Diese Erststeuerung der Blicke von Zweien füreinander durch den vermittelnden Dritten wird nicht nur in der mythologischen Figur von Eros, von Amor kultiviert, dessen abgeschossener Pfeil überhaupt in bestimmten Situationen den begehrenden Blick des Einen auf den potentiellen Partner entzündet und bannt, sondern reale dritte Personen sind für das Zustandekommen und den Bestand von Paarbeziehungen von insgesamt hoher Relevanz. Das betrifft nicht nur das Institut der aus den Familien- und Verwandtschaftsstrukturen heraus arrangierten Ehe, die durch alle Schichten und Stände der stratifikatorischen Gesellschaft von der ehelichen Zusammenlegung von Vermögen bis hin zu ganzen dynastischen Reichsgründungen (»tu, felix Austria, nube«) gesellschaftsrelevant war, sondern diese Figuration des Dritten als Vermittlers von Intimbeziehungen setzt sich auch unter der modernen Bedingung fort, dass die beteiligten Partner nominell und vom Bewusstsein her selbst die Entscheidung zur Paarung treffen. Dritte handeln jetzt als Vermittler gleichsam im Auftrag der potentiellen Partner, indem sie vom Stress, vom Augenblicksfuror der Kontaktanbahnung entlasten (Döring 2009). Hier sind natürlich alle arrangierenden Geselligkeitsformen zu sehen, alle Tanzfeste (gleich ob Tanzmeister oder DJ), alle auch transnationalen – Kontaktvermittlungen (commercial match making) durch Medien (die ersten Kontaktanzeigen sind mit dem Aufstieg bürgerlicher Zeitungen bereits 1738 nachweisbar) bis hin zu den von einem Dritten organisierten wechselseitigen, rasch wechselnden Partnervorstel-

2

Hier wie in einigen folgenden Punkten lehne ich mich an den instruktiven Aufsatz »Dritte in Zweierbeziehungen« des Dresdner Soziologen Karl Lenz (2010) an, der zu dem erwähnten Band »Theorien des Dritten« gehört – ich erweitere allerdings das Spektrum der Dritten und akzentuiere insgesamt etwas anders als Lenz.

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lungsrunden des speed dating. Auch die Beziehungsratgeber-Literatur gehört zu den vermittelnden Dritten. Dritte übernehmen Botendienste in der Phase der instabilen Kontaktanbahnung und sind zugleich wichtige Informationsressourcen und Empfehlungsgeber hinsichtlich der Partnerwahl. Kommt es nun zur Paarbildung, zum Intimsystem, ist die Funktion des Dritten nicht beendet – man könnte sagen, jetzt hebt sie erst richtig an. Liebespaare konstituieren sich nämlich durch Schließung, sei es zumindest für die intimen Momente oder grundsätzlich, sie bilden sich in der sorgfältigen Ausschließung von Dritten. Die in der »romantischen Liebe« zugespitzte Codierung, wie Hartmann Tyrell sie herausgearbeitet hat (Tyrell 1987), formuliert eine scharfe Differenz zwischen dem Anderen und den Dritten: »Ich liebe dich« meint »nur dich« und meint damit mit die bekennende Nichtliebe, die postulierte Gleichgültigkeit gegenüber allen Dritten, auch die Rangabstufung gegenüber Eltern, Geschwistern, Freunden. Natürlich wissen wir, das nicht alle Soziokulturen der MonoGamie als sozialer Praktik folgen, aber man kann doch so weit gehen, dass alle Soziokulturen – gleich ob sie Polygamie zulassen – doch die grundsätzliche Realmöglichkeit des Exklusiven der Paarbeziehung kennen, die explizite emphatische Grenzziehung gegenüber den Dritten. Alle Soziokulturen kennen das Auftauchen dieser prinzipiellen Möglichkeit der ausschließlichen Selektion des Anderen, einfach weil diese Liebes-Figuration mit der rauschhaften Entdeckung und betörenden Steigerung der Individualität der Beteiligten verbunden ist: indem im Liebesgefühl der Andere der wichtigste signifikante Andere wird, wird die Erwartung erwartbar, selbst für einen Anderen Höchstrelevanz zu erhalten, es wird erwartbar, dass die eigene existentielle Individualität, die Unersetzbarkeit und Unaustauschbarkeit wie in sonst keiner sozialen Beziehung erheblich wird. Die relationale Individuierung von Personen in einem kommunikativen Geflecht spielt sich exklusiv, exkludierend ab. Auf diese rituelle Exkludierung der Figur des Dritten in Liebesdyaden, die ja zugleich die entscheidende gesellschaftliche Grenzziehung zwischen einem Privaten und einem Öffentlichen bildet, wären alle Liebessemantiken hin zu beobachten, auf die je verschiedenen Grenzziehungen zwischen dem privaten und dem öffentlichen Raum, den territorialen Schwellen der Blick-Entzogenheit des Paares in der Beischlafnische. So entscheidend die Exklusion des Dritten ist, so verlangt die Liebesdyade umgekehrt wieder nach dem Dritten als Zuschauer des Paares – der Dritte, der uns zuschaut oder beneidet, sagt Ulrich zur Schwester – also als Bewunderer, als Konfirmator – was für ein schönes Paar sie sind, wie gut sie zueinander passen – eine Belle-Alliance-Erfahrung über Eck. Noch in der zur Schau gestellten sexualisierten Intimität der pornographischen Szene bestätigt der Blick des Voyeurs

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den Agierenden, dass sie eine gute Figuration bilden, so wie sie sich im Ineinander wechselseitig sinnlich zur Erscheinung bringen. Hat man soweit gesehen, dass sich die Liebesdyade durch Exklusion des Dritten einerseits überhaupt konstituiert, andererseits durch die Spiegelung als Einheit in seinem Blick potenziert, so ist die Funktion des Dritten auch damit nicht erschöpft: erst jetzt wird er ein latentes Dauerthema, das die Dyade mitgestaltet, und zwar, je mehr die Intimbeziehung auf Dauer angelegt ist. Die Theorie des »triangulären Begehrens« (Girard) postuliert sogar, dass der Rivale am Anfang des erotischen Verlangens nach dem Subjekt-Objekt steht, ihm das Liebesbegehren verdankt (vgl. Koschorke 2002; Kraß 2010). Ist die Liebe einmal etabliert, so ist klar, dass das wechselseitige Vertrauen, das Treueversprechen eine Abwehrformel gegenüber dem latenten Nebenbuhler, gegenüber den Dritten ist. Das Auftauchen von Dritten als Rivalen bzw. Konkurrenten im fortgesetzten Leben der Liebe, gleich ob in der Ehe oder in nichtehelichen Zweierbeziehungen, ist eine dauernde Bedrohung der Paarbeziehung, gleich wie er die Aufmerksamkeit des einen anderen Partners bindet, ob durch Zeitbeanspruchung, emotionale Nähe oder eben durch sexuellen Austausch (vgl. v. Matt 1991). Dabei muss sich das Sich-Einlassen auf einen Fremden, das Fremdgehen in der Zweierbeziehung im Verborgenen abspielen – »offen gelebte Dreierbeziehungen kommen nur äußerst selten vor« (wie Lenz nüchtern konstatiert). Die Verborgenheit des Fremdgehens (einschließlich der gesamten Prostitution als Dauer-Drittenphänomen von Zweierbeziehungen) erklärt sich daraus, dass mit dem Manifestwerden der Nebenbuhlerei die in der Liebesbeziehung erreichte Höchstrelevanz der Beteiligten füreinander gefährdet wäre, die Gesten und Rituale des Benehmens und Respekts vor der unersetzlichen Kostbarkeit des jeweils Anderen würden beschädigt, und dieser Vertrauensbruch durch den Seitensprung zum Dritten hin führt die Gefühle der Eifersucht, der Wut, der Kränkung mit sich (Buunk/Dijkstra 2006). Damit ist das Spektrum der Drittenfiguren in Liebesdyaden immer noch nicht erschöpft. Es fehlt ja noch das, woran die meisten zuerst denken würden – wenn auch nicht die Kultursoziologen der Liebe: das Kind als Frucht der Liebesbeziehung. Zwar steuern nicht alle Liebesdyaden auf das kindliche Dritte zu, aber zweifellos ist diese Figur des Dritten nicht bloß eine Nebenfolge der Liebe – dazu wird sie von der Gesellschaft um ihrer Fortsetzung willen schlicht zu sehr erwartet und evoziert, durch die Liebesdyaden hervorgezogen und hervorgelockt und bietet diesen wiederum die einmalige Gelegenheit, der Gesellschaft eine Gabe entgegenzuhalten – die Drittenproduktion (Bürgin 1998). Wo das Kind in der Dyade auftaucht, durch Zeugung und Empfangen, durch extrakorporale Befruchtung, durch Adoption in einer Liebesbeziehung, übernimmt es in jedem Fall

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die Funktion der Transzendenz der immanenten, exklusiven Liebesbeziehung (Allert 1997). Im Kind öffnet sich das exkludierende Paar wieder zur Vergesellschaftung, setzt deren Zukunftsmöglichkeit in der Generationenfolge fort. Im Kind, in dessen Geburt, dessen Adoption und dessen Sozialisation objektiviert sich die Liebesdyade in einem neuen Subjekt und institutionalisiert die eigene Binnenbeziehung auch zugleich als ein Durchgangsstadium für das neue Subjekt in der Gesellschaft, für die sog. Reproduktion des Sozialen. Wie immer man diese Transformation der Dyade im Kind nennen möchte – nennen wir sie einfach trianguläre Familiarität (Fivaz-Depeursinge 2001) -, wenn sich das Intimsystem innerhalb der familiären, ödipalen Konstellation fortsetzt, dann macht wiederum der Neuankömmling angesichts der für ihn unerreichbaren wechselseitigen Zuwendung der Eltern die unhintergehbare Erfahrung des Exkludiertseins, der Eifersucht: Exklusion und Inklusion gibt es nur in und ab der Triade. Ich möchte eine letzte Drittenfigur in Liebesdyaden erwähnen: den Hermaphroditen, den Androgynen, den Transsexuellen. Es ist zwar vielleicht nicht politisch korrekt, aber der weit überwiegende Stoff aller Liebessemantiken in allen Kulturen ist nun einmal die Zweigeschlechtlichkeit, die Differenz der Geschlechter, die sexuelle Heterogenität, die zwar sozial konstruiert sein mag, die vor allem aber selbst in ihrem natural in aller Vergesellschaftung vorgefundenen Anlehnungspotential als unerschöpfliche Metaphernquelle in der Semantik der Gesellschaftskulturen und Weltaneignungsmuster strukturiert. Und diese Zweigeschlechtlichkeit als Basis der Liebesdyaden zieht notwendig das Phantasma des Überganges zwischen den Geschlechtern mit sich, die faszinierte Aufmerksamkeit auf die Verkörperung der Differenz in einer Figur, eben in der Drittenfigur des Hermaphroditen, der Intersexualität, des Zwitters zwischen beiden Geschlechtern, der die Merkmale beider Geschlechter in sich trägt und außen zeigt, der in sich die Differenz erfährt und auskostet, des realen Transvestiten oder gar des Transsexuellen, der von der einen geschlechtlichen Kleidung in die andere sich umzieht oder gar von einer Geschlechtskörperhülle in das Geheimnis der anderen hinüberschlüpft – einem Phantasma, dem auch Robert Musil die Geschwisterliebe zwischen Agathe und Ulrich in ihren Verschmelzungsmomenten des anderen Zustandes nachgehen und nachgeben lässt.

3. K ONSEQUENZ Das Resultat der sozialontologischen Beobachtung: Die Liebesdyaden konstituieren sich in multiplen Drittenfigurationen, die Dyade selbst operiert kommunikativ unter der Voraussetzung von Dritten und operiert auf verschiedenen Ebe-

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nen, in verschiedenen Phasen mit ihnen, um sich überhaupt zu bilden, zu stabilisieren, sich zu sortieren, sich zu exkludieren und zugleich als Paar zur Erscheinung zu bringen. Ich will abschließend noch zwei Konsequenzen andeuten, einmal bezogen auf die vergleichende Semantik der Liebe, einmal bezogen auf die Sozialtheorie generell. 3.1 Konsequenzen für die Semantik der Liebe Die kulturenvergleichende Beobachtung von Liebessemantiken sollte in den jeweiligen Soziokulturen und Epochen die mitlaufende »Tertiarität« (Fischer 2008) zwischen Identität und Alterität, die Metaphern, Begriffe und Praktiken des vielfältigen Einschlusses und Ausschlusses von Dritten immer schon mit beobachten. Die Liebe, das Intimsystem ist umzingelt von Dritten, in einem nichttrivialen Sinn, und insofern sollte die Analytik in den Liebesnarrationen und -konsultationen nach den Positionen des Dritten in Dyaden fahnden. Der/die Dritte ist in den Liebesdyaden offensichtlich immer schon miterwartet. Der vielfältige Dritte in Dyaden, der Umgang mit ihm, die Kunst, ihn zu umgehen, ist offensichtlich der Katalysator, vielleicht sogar der Generator der Intimität und zugleich die Brücke des Intimsystems in das Gesellschaftssystem insgesamt. Zugleich ist der/die Dritte vielfältig – es gibt nicht die eine Figur des Dritten, sondern deren mehrere: Verbieter, Vermittler, Rivale, Voyeur, Kind, Hermaphrodit. Die komplette Sozialontologie des Dritten verschont die Kultursoziologie der Liebe vor sozialkonstruktivistischen Verkürzungen. 3.2 Konsequenz für eine Sozialtheorie dreifacher Kontingenz Eine Gesellschaftstheorie – als kultivierte Selbstbeobachtung und -beschreibung von gegenwärtiger Gesellschaft – ist immer nur so gut wie ihre zugrundeliegende Sozialtheorie, und sie braucht eine gut aufgestellte Sozialtheorie, um komplex genug beobachten zu können. Eine klassisch dyadisch angelegte Sozialtheorie – die mit ego und alter ego, doppelter Kontingenz oder dem Kampf um Anerkennung, mit Identität und Alterität ansetzt – kann Mechanismen des Tausches, der Kooperation oder Arbeitsteilung, des Konfliktes, des Vertrauens, der Moral, der Fürsorge als Kernzonen komplexer Vergesellschaftung rekonstruieren: also Systembildungen der Ökonomie, der Verständigung, der Freundschaft, der Erziehung. Eine dyadische Sozialtheorie hat aber aus systematischen Gründen Schwierigkeiten, die Sphären von Markt, Recht, Medien, Politik als gleichursprüngliche Kernfelder einer komplexen Vergesellschaftung aufzuweisen. Letztere haben nämlich je eine triadische Grundfiguration und erscheinen somit aus

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dem Ansatz dyadischer Modelle in den Kultur- und Sozialwissenschaften oft als etwas Sekundäres, Parasitäres, Entfremdetes – gegenüber einer ursprünglichen Vergesellschaftung. Eine triadisch komplettierte Sozialtheorie als Basis der Kultur- und Sozialwissenschaften hingegen ermöglicht zu zeigen, dass Gesellschaften von Beginn an etwas aus dyadischen und triadischen Figurationen machen, sich in ihnen strukturieren und institutionalisieren. Dabei sind es vor allem die triadischen Figurationen, die zur Komplexitätssteigerung verhelfen, weil in ihren Kommunikationen Übereckerwartungen in den Erwartungserwartungen mit erwartet werden: Im Recht stellen Gesellschaften den schiedsrichternden Dritten systemhaft auf Dauer, der im Konfliktfall von ego und alter ego für sie – von ihnen erwartet – entscheidet (statt Moral) (vgl. Luhmann 1981), in den Medien den Boten und Übersetzer (vgl. Fischer 2006; Krämer 2008), der zwischen den füreinander nicht unmittelbar erreichbaren Akteuren ego und alter ego – von ihnen erwartet – Nachrichten und Meinungen verschiebt (statt unmittelbarer Verständigung), in der Politik Koalition oder Mehrheit, die Dritte – erwartbar – vorläufig in die Minderheit bringt (statt Freundschaft) (vgl. Sofsky/Paris 1994), in der marktförmigen Organisation der Ökonomie den begünstigten Dritten der Konkurrenz zwischen zweien: den lachenden Dritten (statt Tausch) (Simmel 1983): diese Figuration des begünstigten Dritten – wie Simmel sagt – »zwingt den Bewerber, der einen Mitbewerber neben sich hat und häufig erst dadurch eigentlicher Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahe zu kommen, sich ihm zu verbinden, seine Schwächen und Stärken zu erkunden und sich ihnen anzupassen, alle Brücken aufzusuchen oder zu schlagen, die das eigene Sein und Leisten mit jenem verbinden können.« Mit Simmel lohnt es sich – über Luhmann hinaus – die Sozialtheorie von doppelter Kontingenz auf dreifache Kontingenz umzustellen. Auch das Intimsystem der Liebe konstituiert sich über Drittenfunktionen entlang von Exklusion und Inklusion und der realen Drittenproduktion, der Generierung von dritten Personen (in den Nachkommen) – es ist geradezu wider den ersten Anschein ein paradigmatisches Kommunikationssystem der Übereckerwartungen. Der systematische Einbau des Dritten in die Sozialtheorie instrumentiert die gesellschaftstheoretisch interessierten Kultur- und Sozialwissenschaften so reich, dass sie die Komplexität von Vergesellschaftung unverstellt erreichen.

L ITERATUR Allert, Tilman (1997): Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform, Berlin/New York: de Gruyter.

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»Haltungswechsel«. Zur Interkulturalität und Interpersonalität des philosophischen Liebesbegriffs F RAUKE A NNEGRET K URBACHER

Z UR S ACHE Gemessen an Überlegungen, die darüber aufklären, was es philosophisch heißen kann, »Sex zu haben« oder wenn jemand von Liebe getroffen wird, scheint sich demgegenüber ein »Haltungswechsel« weitaus harmloser auszunehmen. 1 Aber in persontheoretischer Hinsicht, die hier als Basisperspektive für eine interdisziplinäre Betrachtung von Liebe und Kulturen im Vergleich angeboten sei, hat das Phänomen Haltung, das am Haltungswechsel spürbar wird, durchaus ein erhebliches aufklärerisches Potential und stetige Brisanz, die ich im Folgenden unter Ausbuchstabierung des Titels darlegen möchte. Der Beitrag befasst sich also mit einer spezifischen komplexen Verbindung von Personalität, Haltung und Liebe, die ich zu entfalten suche. Dabei erscheint Liebe nicht als ein Thema unter vielen, sondern als grundlegend für das Haltungsphänomen, das ich seinerseits für eine Neubestimmung der Person – auch im Hinblick auf einen möglichen interkulturellen Austausch – vorstelle. Liebe erschließt sich als praktische und theoretische Reflexion. Und andersherum gilt ebenso, dass Liebe diesen Reflexionswert und die Dimension des Interkulturellen nur erhält, wenn sie als Haltung gefasst wird. Wenn hier auch unter dem Begriff der Haltung – gemäß meiner Grundthese – Liebestheorien als potentielle Interpersonalitätsphilosophien aufgezeigt wer-

1

Vgl. die Beiträge von Jean Clam und Alexander Schmidl in diesem Band.

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den, die sich mit Blick auf eine Interkulturalität weiterentwickeln lassen, so ist gleichfalls zu bemerken, dass dies, wie naheliegend es auch erscheinen mag, philosophiehistorisch betrachtet keine Selbstverständlichkeit bedeutet. Gerade die semantische Tradition des Liebesbegriffs, an der zwar die Verbindung zur Subjekt- und Persontheorie augenfällig wird, hat weniger Interpersonalität als vielmehr eine Reduktionsgeschichte des Selbstbegriffs befördert. Dafür spielt die im Christentum zentrale Gottesliebe eine maßgebliche Rolle und ihre nicht nur weltliche Situierung. Durch die christliche Prägung des Abendlandes, in ihrem Subjekt- wie Liebesverständnis entscheidend durch den Kirchenvater und ersten Autobiographen Augustinus‘ beeinflusst (vgl. Augustinus: 1987), 2 wird das Selbst im Moment seiner Initiierung zugunsten einer außerweltlichen Gottesliebe sogleich zurückgenommen. Auch alle spätere, sogar säkulare Entfaltung dieses Selbst in abendländischer Tradition bleibt an seine weltliche Verleugnung gebunden. Nicht von ungefähr lässt sich daher fragen, inwiefern sowohl eine Präferenz scheiternder Liebesvorstellungen im Abendland in Theorie wie in ästhetischer Umsetzung – allen voran in Literatur und Musik – wie auch entleerte Vorstellungen reiner Subjektivität jenseits aller lebensweltlichen Konkretion ihre gedankliche Ausrichtung von diesem frühen Christentum her weit über die Neuzeit, Romantik und Moderne hinaus bis heute erhalten. 3 In dieser Hinsicht bildet der Vorschlag einer Auffassung von Liebe als Haltung ein kritisches handlungsorientiertes Gegenkonzept, das sich gleichwohl produktiv vor dem Hintergrund dieser problematischen Liebes- und Subjekttradition abhebt. Für die Erörterung dieses komplexen Verhältnisses zwischen Liebe, Haltung, Person respektive Personen und Interkulturalität werde ich in fünf Schritten vorgehen. In einem ersten Zugriff widme ich mich methodisch dem Zusammenhang von Liebe, Kulturen und Haltung sowie dem problematischen Hintergrund, den die philosophische Überlieferung des Subjekts und der Person dafür bildet und genau daher auch eine Neufassung des Personalen erfordert. In einem zweiten Schritt äußere ich Mutmaßungen zu Formen von Interpersonalität, die mit Haltung perspektiviert ist und gebe eine Arbeitsdefinition von Haltung. Dies leitet

2

Das Liebesphänomen ist im christlichen Kontext zwischen Immanenz und Transzendenz angesiedelt, das Augustinus zugunsten der Transzendenz entscheidet. Mit seinen Confessiones gilt er auch als ein Vorläufer der Gedanken von Innerlichkeit und Individualität.

3

So lassen sich u.U. dann auch noch die produktiven Selbst-Irritationen des frühromantischen und romantischen Ich, die mit der Entdeckung desselben als ästhetischem einhergehen, in dieser Traditionslinie rezipieren (vgl. neben den einschlägigen Arbeiten von Manfred Frank insbesondere Bohrer: 1989).

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dann in einem dritten Schritt zur Phänomenalität von Liebe und Freundschaft über, die ich in zwei abschließenden Etappen als Haltungswechsel unter den Maßgaben von existentieller Brüchigkeit und denen des Interkulturellen reflektiere. Meinen Ausführungen liegen insbesondere Reflexionen über Platon, Aristoteles, Augustinus, Kant, Hannah Arendt und Bernhard Waldenfels zugrunde. 4

B EFRAGUNG Zunächst ist, wenn Liebe interkulturell betrachtet sein soll, 5 die methodische Frage zu stellen, wie sich überhaupt in interkultureller Perspektive über Liebe sprechen lässt. Auf welcher Basis und von wo aus geschieht dies? Diese Fragen drücken umso mehr, als ihren möglichen Antworten zwei zugleich auftauchende divergierende Momente zunächst entgegen stehen. Da ist einmal die gegebene Vielfältigkeit der verschiedenen Kulturen sowie die Vielgestaltigkeit persönlichen Liebeserlebens und die je individuelle Differenziertheit solcher Erfahrung auf der einen Seite und demgegenüber auf der anderen offenbar die Hoffnung oder sogar der Anspruch auf mögliche Allgemeingültigkeit oder Allgemeinheit, – kurz: auf etwas, worüber wir doch – bei aller Unterschiedlichkeit – gemeinsam befinden und uns verständigen können. Insofern befinden sich hier Differenz und Gemeinsamkeit anlässlich der Liebesthematik in interkultureller wie auch interdisziplinärer Perspektive gegenüber; ihre Divergenz geht im weitesten Sinn zurück auf die Frage nach dem Verhältnis von Besonderheit, Singularität, Konkretem, Kontingentem, gegenüber einem möglichen Allgemeinen und Allgemeingültigem von Personen. Wie vermittelt sich beides im Liebesphänomen oder in Interkulturalität – wenn es sich überhaupt vermittelt – und was hat Haltung damit zu tun? Zur Behandlung dieser Frage sei weder bei den verschiedenen Kulturen, also weder beim Kulturbegriff, noch bei einem konkreten Kulturvergleich, und auch

4

Hier sind im Besonderen Platons Symposion, Aristoteles’ Nikomachische Ethik, Augustinus’ Confessiones, Kants Kritik der Urteilskraft, Arendts Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation und ihre Vita activa sowie Bernhard Waldenfels’ Schattenrisse der Moral, Ordnung im Zwielicht und Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden zu nennen.

5

Dieser Rahmen war mit dem Generalthema der Veranstaltung, auf die dieser Sammelband zurückgeht, gegeben und spiegelte sich in ihrem Titel: »Semantische Traditionen der Liebe und Ausdifferenzierung der Intimität. Divergenz und Konvergenz im Kulturvergleich.«

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nicht sogleich beim Liebesbegriff oder besonderen Formen von Liebe begonnen, sondern ich möchte vor allem fragen, welche Vorstellungen von Person wir eigentlich verhandeln, wenn wir sowohl vom Interkulturellen als auch von Liebe sprechen. Das ist insofern wichtig und plausibel, als beides, Kultur – welche auch immer, und ebenso Liebe – in welcher Form auch immer, von einzelnen oder auch mehreren Personen gelebt, erlebt – kurz: realisiert werden. Der gemeinsame Nenner von Liebesphänomenen und Interkulturellem findet sich also offensichtlich in Personalität, deren jeweilige Vorstellung auf das Liebesverständnis zurückwirkt und umgekehrt. Insofern es dabei nie nur um eine einzelne Person geht, ist somit implizit auch nach dem Verhältnis von Personalität zur Interpersonalität gefragt. Doch genau in diesem Punkt des Interpersonalen hat der Personbegriff einen recht problematischen und lückenhaften theoretischen Hintergrund in abendländischer Tradition, obwohl gleichzeitig angenommen werden kann, dass das Personale selbst mit dem Liebesphänomen konstitutiv, in grundierender Weise verbunden ist (vgl. Kurbacher 2006). 6 Diese philosophischen Überlegungen bezüglich der Liebesthematik in interkultureller Perspektive verhalten sich im Zusammenhang eines international und interdisziplinär ausgerichteten Interesses als eine Art Grundlagenreflexion zum Thema, eben insofern mit der Frage der Personalität nach der Basis einer jeden solchen Befragung geforscht ist. Wenn wir Liebe in erster Linie als zwischenmenschliches Verhältnis verstehen und erst in zweiter Linie als Relation, mit der auch Sächliches, Abstraktes oder Nicht-Personales gemeint sein kann, dann ist mit der Liebesthematik implizit immerzu auch schon nach der Person und nach Personen im Plural und ihrem Verhältnis zueinander gefragt. Und damit geht es um das »Zwischen«, sowohl eingedenk jeglichen komparatistisch angelegten Forschungsinteresses, als auch bezüglich der philosophischen Fragen nach Liebe und Interkulturalität und ihrer spezifischen Relation.

M UTMASSUNGEN UND ARBEITSHYPOTHESEN SPEZIFISCHEN P ROBLEMATIK

ZU EINER

Um so ein »Zwischen« scheint es sich in grundlegender Weise immer beim Kulturvergleich zu handeln, und von daher tritt die Frage nach einer möglichen Interkulturalität, oder vorsichtiger formuliert: nach dem Interkulturellen auf den

6

Angeregt durch Arendts Überlegungen spanne ich einen ideengeschichtlichen Bogen zwischen verschiedenen Liebestheorien und stelle aber über Arendt hinausgehend diesen Versuch in einen persontheoretischen Rahmen.

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Plan. Um einen dezidiert konstitutiven Wert des »Zwischen«, des »Inter«, scheint es sich ganz und gar beim Liebesphänomen zu handeln, das sich allein schon von daher zur näheren Betrachtung anbietet oder sogar nach ihr verlangt. Als personales Geschehen aufgefaßt, weisen also das Interkulturelle genauso wie Liebe auf Interpersonalität. Anders gesagt heißt dies, dass über die Analyse von Liebeskonzeptionen Aufschluß sowohl über das Personsein und als auch über das Miteinander von Personen erhofft werden kann. Von hierher erschließt sich, dass wir uns nicht nur kulturell, sondern uns über unser Personsein überhaupt, das immer ein Dasein zusammen mit und unter Anderen und in Bezug auf Andere bedeutet, aufklären, wenn wir nach Liebeskonzepten fragen. Es geht um das Verhältnis von Person zu Person. Gleichzeitig kann konstatiert werden, dass es dieses Verhältnis »zwischen Personen«, das konkret vorgestellt immer die Relation von individuierten Personen in spezifischen Kontexten untereinander meint, philosophisch überhaupt erst eigens zu reflektieren gilt. 7 Inwiefern hat dies nun mit Haltung zu tun, mit möglichen Haltungswechseln, und was wird dabei überhaupt unter Haltung verstanden? Wie vermitteln sich

7

Aus philosophischer Sicht wäre hier vielleicht die Trias aus Subjekt, Selbst und Person als philosophische Vorstellungen zu nennen, die aus verschiedenen Perspektiven auch verschiedene Blicke auf das Phänomen Liebe eröffnen. Kurz gefasst ließe sich sagen, dass bei allem, was diese Termini zu leisten vermögen, ihnen gleichwohl auch eine je spezifische Problematik anhaftet. Subjekt und Selbst der philosophischen Tradition stehen unter dem Vorbehalt entleerter Abstraktion und der Personbegriff aufgrund seiner hochgradigen kulturellen Sedimentierungen unter dem der potentiellen Ideologisierung. In eben dieser Weise hat László Tengelyi den Begriff jüngst auf der Tagung »Person – anthropologische, phänomenologische und analytische Perspektiven« vom 28. - 30. März 2012 an der Bergischen Universität Wuppertal skeptisch reflektiert. Vom angekündigten von Inga Römer und Matthias Wunsch herausgegebenen Sammelband dieser Veranstaltung ist einiger Forschungsertrag zu erwarten. Der genannte Vorbehalt gegenüber dem Personbegriff ist berechtigt, da die Person jene ist, die grundsätzlich in Konkretion vorgestellt wird. Genau dies ist jedoch auch der Grund, hier von diesem Begriff auszugehen, der jederzeit kritische Reflexion erfordert. Tengelyi hat in seinem Vortrag »Die Person und das Selbst« die Vorstellung des »Erlebnissubjekts« stark gemacht. Dieser Vorschlag könnte u.U. Annahmen zum Subjekt und Selbst aussichtsreich mit solchen zur Person verbinden, und zwar durch den Anspruch auf das Erlebnis mit dem eine Anreicherung bezüglich des Konkreten gedacht werden kann, ohne vom theoretischen Anspruch abzurücken. Grundsätzlich kann aber angemerkt werden, dass letztlich keine Vorstellung und kein Begriff vor Ideologisierung gefeit ist. Darum bedarf es andauernder kritischer Reflexion.

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Haltung und Haltungswechsel? Der Haltungswechsel weist auf eine spezifische Problematik und erschließt sich zweifach, zum einen thematisch als Insignum von Haltung und zum anderen philosophie-historisch aus der Notwendigkeit einer Revision der zu reduktionistisch gefassten Subjekt- und Persontheorie. 8 Genau deswegen haben Freundschafts- und Liebesvorstellungen als implizite Interpersonalitätskonzeptionen solchen konstitutiven Wert für einen Haltungsbegriff, den ich seinerseits zur Bestimmung eines interpersonal verfassten Personbegriffs unterbreite. 9 Dafür ist der Blick auf eine bestimmte Problematik zu erhellen, auf die eine »Philosophie der Haltung« in ihrem Rückgriff auf Liebeskonzeptionen reagiert. Es ist zu klären, warum Interpersonalität philosophisch so wenig bedacht ist. Die Gründe liegen in der defizitären Bestimmung des bloßen Subjekts in der Tradition der Neuzeit und Moderne, das zugleich folgenreich den Begriff der Person prägt. Die problematischen Lücken beziehen sich auf eine fehlende Einbeziehung von Konkretion und Kontingenz, Emotionalität, Leiblichkeit und aus all dem folgt eine Unterbelichtung der Beziehung von Menschen untereinander. Dieses Defizit ist jedoch keineswegs bloßes Ergebnis einer gedankenlosen Blindheit oder Ignoranz, sondern beruht weitgehend auf dem philosophischen Anliegen einer Suche nach Objektivität und Allgemeingültigkeit. Alles Einschreiben von Kontingenz ins Theoretische sieht sich daher unmittelbar auch den Fragen und Möglichkeiten von Vermittlung und Verbindlichkeit als eigener Anforderung gegenüber, sowie jeder Bezug auf Allgemeingültigkeit eigene Antworten auf die Frage nach dem Status des Besonderen und Einzelnen suchen muss – und bestenfalls auch finden kann. Unter historischem Blickwinkel wurde in kritischer Weise spätestens nach den Greueln der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert deutlich, dass es an Vorstellungen und Theorien mangelt, die – anders als die klassische Philosophie – nicht das einzelne Subjekt zentrieren, sondern das Verhältnis zwischen Personen reflektieren, das Verhältnis von Person zu Person. 10 Genau hierin und im Weltbezug ist die neuzeitliche und moderne Philosophie latent unterbestimmt. Daraus folgen mindestens drei zunächst als theoretische Lücken auszumachende Probleme. Das erste betrifft das Selbstverhältnis. Es handelt sich um das Problem ei-

8

Diese These habe ich an anderer Stelle eingehend ausgeführt (vgl. hierzu: Kurbacher 2005: XI-XIV; 1-66).

9

Dieses Unterfangen steht im größeren Zusammenhang meiner Habilitationsschrift zu einer »Philosophie der Haltung«.

10 Ansätze in moralphilosophischer Hinsicht finden sich insbesondere bei Axel Honneth (vgl. Honneth/Rössler 2008).

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ner Vorstellung von Person, die maßgeblich vom Subjektbegriff abgeleitet ist, und der damit eine isolierte Einzelheit anhaftet, sowie eine mangelnde Einbindung von situativen Umständen, Faktizität und Zufälligkeit. Daraus folgt ein zweites, die Interpersonalität im Besonderen betreffendes Problem, nämlich das der »Person unter Personen« als einer fehlenden Perspektive auf Gemeinschaft und Pluralität, und als drittes ist das Problem fehlender Perspektiven auf das Verhältnis von »Person mit Person« (Husserl 1973: 598) 11 als Schwierigkeit einer fehlenden Reflexion auf die interindividuelle Ebene des Zwischenmenschlichen oder auch als Schwierigkeit einer philosophischen Erfassung derselben, zu benennen. Aufgrund der immer deutlicher werdenden Defizite bisheriger Subjekt- und Persontheorien auf dem Feld des Emotionalen, Leiblichen und Intersubjektiven wurden kritische Überarbeitungen notwendig. Sie haben insbesondere die Denkfiguren des Anderen, Dritten und Fremden in kritischer Absicht hervorgebracht. In eine solche kritische Überprüfung und Neuerung reiht sich auch mein Unterfangen ein, das jedoch nicht direkt an eine dieser Figuren anschließt, sondern den Begriff und das Phänomen von Haltung vorstellt, für das wiederum Strukturen der Liebes- und Freundschaftsphänomene grundlegend sind, die ihrerseits unter dem positiven Vorbehalt stehen, Auskunft über Interpersonalität zu geben. 12 Nun könnte angenommen werden, dass das subjekt- und persontheoretische Problem einfach ein philosophisches Spezialproblem ist, es ist aber doch merklich auch ein interdisziplinäres – spätestens dann, wenn andere Disziplinen die Problembefunde der Auswirkungen eines letztlich nicht mehr tragfähigen Subjekt- oder Personverständnisses zur Analyse und Behandlung bekommen – wie etwa die Phänomene von »Entfremdung« und »Beschleunigung«, um nur zwei

11 Diese Formulierung aus dem Jahr 1933 gebraucht Husserl in einer Beschreibung der Nahbeziehung Liebe als »innigstes miteinander Einigwerden« im Kontext seiner Überlegungen zu einer »Phänomenologie der Intersubjektivität«. 12 Gleichwohl, trotz ihrer Fundierung in Freundschafts- und Liebestheorien, darf Haltung nicht als bloße »Empathie« missverstanden werden, sondern ist strukturell zu denken. Freundschaft und Liebe zeigen menschliche Beziehungen selbstzweckhaft als höchste Auszeichnung an. Es ist diese Figur, die Autonomie und Freiheit in sich birgt bei aller gleichzeitigen Fragilität der beteiligten Personen und ihres Verhältnisses. Diese Relation wird formal beschreibbar als vorrangige Affirmation, die ebenso auf menschlicher Fähigkeit wie Bedürftigkeit beruht und hierher ihren Eigenwert und ihre Einzigartigkeit gewinnt und in ethischer Perspektive als »Nicht-Indifferenz des Ethischen« und als »Ja vor dem Ja und Nein« benannt wurde (vgl. Waldenfels 2006b: 45, 49).

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aktuelle Beispiele für die derzeitige Soziologie und Psychologie zu nennen. 13 Unsere Konzepte prägen auch unsere Umsetzungen. Welches Verständnis wir selbst, persönlich wie gemeinschaftlich oder gesellschaftlich von uns und unserem Personsein haben, hat genuinen Einfluss auf unseren Umgang mit uns selbst, Anderen und Welt, und ist daher nicht zu unterschätzen. Aber diese persönlichen Selbst- und Gesellschaftsauffassungen sind nicht nur durch Diskurse über das Personsein konturiert, sondern gerade auch in der christlich geprägten Hemisphäre durch die Vorstellungen von Liebe als höchstem Wert, Maßstab und Lebensform. Auch insofern gilt es, sich in kritischer Absicht über das eigene Liebesverständnis aufzuklären. Während Neuzeit und Moderne das »autonome Subjekt« propagieren, tritt spätestens zusammen mit den Kritiken an den überkommenen Konzeptionen des Subjektiven und Personalen das »fragile Subjekt« hervor. 14 Beide Momente sind in einem Versuch der Neubestimmung von Personalität zusammenzubringen, denn für eine Vorstellung von verantwortlicher Philosophie bedarf es einer Eigenständigkeit und Autorschaft, der überhaupt erst Verantwortung zuschreibbar wäre, wie es aber auch der Anerkenntnis der Fragilität alles Personalen bedarf, um dessen willen Verantwortlichkeit nötig ist. Haltungsphilosophisch laufen diese Aspekte von Selbständigkeit wie Brüchigkeit beider Konzeptionen zusammen, einfach weil diese Doppelseitigkeit, oder plastischer und auf die Ambivalenz zielend ausgedrückt: »Doppelgesichtigkeit« auch der Erfahrung eigener

13 Hier müsste u.U. differenziert werden, dass »Entfremdung« natürlich spätestens seit Marx‘ Analysen Präsenz in philosophischer Reflexion hat, gleichwohl wird derzeit angesichts der Bedingungen des medialen Zeitalters neu über dieses Phänomen nachgedacht, das eine problematische Allianz mit dem zeitlichen Phänomen der Beschleunigung eingeht. (Vgl. hierzu Jaeggi 2005; Jaeggi/Wesche 2009; Rosa 2009: 23-54.) 14 Genau dieser Aspekt dürfte noch stärker in die Persondebatte eingehen, die immer noch sehr – auch kantianisch lesbar – durch Selbstbestimmung geprägt ist. Vgl. etwa Gerhardt 1999 u. Quante 2007: 1: »Menschen [...] führen ihr Leben im Lichte von mehr oder weniger selbst gewählten Wertvorstellungen und mehr oder weniger expliziten Lebensentwürfen. Wir alle versuchen, unsere Existenz als Menschen in einer sozialen Umwelt als ein individuelles Leben zu gestalten, in dem sich manifestiert, wer wir sind und wer wir sein wollen.« Dieser Auffassung bedürfen wir auch weiterhin, sie ist unverzichtbar, aber es bedarf gleichzeitig eines Verständnisses, dass diese Stärke nur als eine Seite der Medaille sieht, die grundlegend auf ihre andere Seite, die der Verletzlichkeit und Bedürftigkeit der Person, bezogen ist. Für diese Aspekte des Pathischen vgl. Waldenfels 2006a.

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Standpunkthaftigkeit wie Gebrochenheit entspricht. Doch hierüber kann eine Arbeitsdefinition von Haltung weiteren Aufschluss geben.

H ALTUNGSDEFINITION Statt eines Verständnisses des Subjekts oder einer von ihm abgeleiteten Vorstellung der Person, vertrete ich die Auffassung, dass Begriffe und Vorstellungen von Person, Ich, Anderer, etc. in Bezüglichkeiten, in Verhältnissen allererst entstehen. Diese grundsätzlich modulierbaren, flexiblen Verhältnisse können freilich durch Wiederholungen, evaluative Selbst- und Fremdbezugnahmen sowie durch Fremd- und Eigeninterpretationen durchaus einen stabilen Charakter erlangen, bleiben aber grundsätzlich beweglich, offen – oder haltlos. Weiterhin beziehe ich die Position, dass wir uns als Menschen grundlegend durch Bezogenheit auszeichnen, als auch, dass wir immerzu in solchen konkreten, spezifischen Relationen stehen, uns darin vorfinden und befinden und auch jederzeit solche Bezüge ausbilden. Dies ist im Begriff und mit dem Phänomen Haltung ausgedrückt und umschrieben, der so eine anthropologisch grundlegende Bezüglichkeit allen menschlichen Existierens bezeichnet. Daher spreche ich von einem weiten und engen Verständnis des Begriffs, dem der Bezüglichkeit überhaupt und dem der spezifischen Stellungnahme, den wir umgangssprachlich besser unter Haltung kennen (vgl. Slaby 2008: 183-188; Kurbacher 2005: 247ff.). 15 Beide – das enge und das weite Verständnis von Haltungen – tauchen letztlich immer zusammen auf. Weiterhin verstehe ich Haltungen als Zusammentreffen aller menschlichen Fähigkeiten, emotional, rational, sinnlich, volitiv und leiblich in interpersonaler Wechselwirkung. Es gilt demnach, dass wir uns stets halten, in Haltungen befindlich sind. Alles an uns spricht sozusagen, sagt etwas über uns und unsere verschiedenen Verhältnisse, die Relationen zum eigenen Selbst, zum Anderen, den Anderen und dem Anderen und Welt aus. Haltungen vermitteln immer Selbst-, Fremd- und Weltbezüge in verschiedenen, variierenden Gewich-

15 Das rationale Moment betonend, können Haltungen auch als Urteile aufgefasst werden. Dies trifft zumeist implizit zu, wo von Einstellungen oder ausdrücklich von mentalen Auffassungen gesprochen wird. Jan Slaby macht dieses Moment an Haltung stark. Ich würde im Gegenzug jedoch darauf verweisen, dass sowohl für den Haltungsbegriff als auch bereits für den des Urteilens der Zusammenschluss von Rationalität, Emotionalität, Sinnlichkeit und Leiblichkeit konstitutiv ist. Ein performatives Haltungsverständnis, wie ich es damit vorlege, wird auch von Fegter, Geipel u. Horstbrink vertreten (vgl. Fegter/Geipel/Horstbrink 2010).

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tungen. Sie sind qualifizierende, reflexive Bezugnahmen, über die in individueller wie auch in überindividueller Weise gesprochen werden kann und die performativ passive wie aktive Momente zeitigen. Das Haltungskonzept ist so eines, das den Umgang mit den eigenen Umgangsweisen praktisch reflektiert. Zur notwendig gewordenen Neubestimmung der Person unter Personen und mit Personen ist aus all diesen Gründen der Begriff und das Phänomen Haltung so tragend und grundlegend. 16

16 Aus dieser Bestimmung wird erhellt, dass es sich bei Haltung um ein anderes Konzept handelt als die durch Bourdieu geprägte Konzeption des habitus, die dezidiert die überindividuelle Perspektive und ihre Milieuverfasstheit und Milieuprägung beleuchtet, während das Moment des Besonderen und Individuellen von hier her – aber übrigens auch aus der Tradition des lateinischen habitus-Begriffs überhaupt – schwerlich in den Blick genommen werden kann. Anders dagegen die vermittelnde Vorstellung von Haltung, die sich eher an der griechischen – und hier besonders durch Aristoteles bedachten – hexis und hexis prohairetike orientiert. Zu bemerken ist weiterhin, dass zwar auch bei Bourdieu die Inkorporiertheit des habitus eine Rolle spielt, die Auffassung von leibhaftigen Haltungen jedoch im Gegensatz zur Vorstellung des französischen Soziologen stärker ein Moment der Freiheit und Gestaltbarkeit aufgreift als eine Form körperlicher Determination. Insofern steht die hier vorgebrachte Haltungsannahme, die sowohl ein individuelles Moment wie ein plurales impliziert, einem flexiblen arendtschen »Bezugsgewebe« zwischen Menschen weitaus näher. Siehe hierzu auch die triftige Kritik von Takemitsu Morikawa an Pierre Bourdieus habitusKonzeption und auch Judith Butlers reduziertem Verständnis von Freiheit im Vergleich zur Auffassung Hannah Arendts: »Die Individualität ist dann nur als Abweichung und Subversion vom Allgemeinen möglich, hat aber an sich keinen Wert. Jede Einzelhandlung bedeutet lediglich mal eine gute, mal eine schlechte Realisierung einer Habitusform. Für [...] Bourdieus Habituskonzept immanente Weltanschauung bedeuten Individualität und Freiheit nur Abweichungen vom Allgemeinen; solche Theorie ist nicht in der Lage, die Individualität eines Einzelphänomen[s] positiv zu bewerten und zu verstehen. Infolgedessen blendet sie die Pluralität von Menschen [...] aus. [...] In dieser Hinsicht bleibt aber Butler nicht weit entfernt von Bourdieu, und zwar in dem Sinne, dass sie Freiheit nur als Abweichung und Subversion versteht.« (Morikawa 2010: 509). Als Beleg dafür wird auf Bourdieu selbst verwiesen: »Die Soziologie behandelt alle biologischen Individuen als identisch, die als Erzeugnisse derselben objektiven Bedingungen mit denselben Habitusformen ausgestattet sind« (vgl. Bourdieu 1987: 111). Gleichwohl tragen Bourdieus Überlegungen Relevantes und Reflektierenswertes für das überindividuelle Moment von Haltungen aus (vgl. hierzu auch Krais/Gebauer 2002 sowie Bohn 1991).

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Nun ist im weiteren dritten Schritt danach zu fragen, warum das Liebesphänomen konstitutiv für Haltungen ist, und was noch seine Besonderheit ausmachen kann, wenn Bezüglichkeit überhaupt die grundlegende Struktur des Personalen bildet.

Z UR P HÄNOMENALITÄT VON F REUNDSCHAFT IN IHRER V ERSCHRÄNKUNG MIT H ALTUNG

UND

L IEBE

Wenn menschliches Bezogensein immer als haltungsverfasstes zu verstehen ist, stellt sich die Frage nach Haltung im Sinne einer gelingenden Performanz letztlich als die nach einem gelingenden Leben. Im abendländischen Zusammenhang stehen für solche idealen menschlichen Grundhaltungen Konzeptionen von Liebe als Bejahung aus Freiheit. 17 Und die Konzepte und Phänomene von Freundschaft und Liebe gewinnen gerade vor dem Hintergrund der reduktionistischen Tradition des Subjekts und der Person, von denen her sich kaum Konturen für eine Philosophie des Zwischenmenschlichen abzeichnen, ganz eigene Relevanz. Denn es fragt sich so, wo vielleicht Anhaltspunkte und Aufschluss über Interpersonalität gefunden werden können, und nicht nur in dieser Hinsicht bieten sich die Nahbeziehungen von Liebe und Freundschaft schon durch die ganze Philosophiegeschichte hindurch an. Entgegen der üblichen Grenzziehung zwischen Freundschaft und Liebe behandele ich beide zunächst vor solcher Unterscheidung nicht nur zur Bestimmung zwischenmenschlicher Beziehung, sondern zur Reflexion menschlicher Bezüglichkeit überhaupt, die an beiden – Freundschaft wie Liebe – signifikant

17 Diese Auffassung beschreibt formal noch einmal den anthropologischen Umstand einer grundgegebenen menschlichen Bezüglichkeit, von der ich ausgehe. Hier zeigt sie sich als Beginn einer grundlegenden Affirmation aus. Einen Gegenpol dazu bildet nun keine Negation, sondern das Problem der Indifferenz als versuchtes Unterlaufen dieser Grundzustimmung. In dieser Weise interpretiere ich auch die strukturelle Überlegung von Waldenfels eines »Ja vor dem Ja und Nein«, mit der er nicht nur die Unmöglichkeit von Neutralität bei allen philosophischen Bemühungen um Urteilsaufschub bedenkt, sondern letztlich einen grundlegenden ethischen Zuspruch, von dem eine Absage an mögliche moralische Indifferenz gedacht werden kann, d.h. entgegen der Möglichkeit und dem tatsächlichen Vorkommen von moralischer Indifferenz, ließe sich dieselbe philosophisch doch als Positionierung auffassen, der sich jede Indifferenz gerade zu entziehen versucht (vgl. hierzu auch Waldenfels 2006b: 45-52; Heinrich: 1982; zur Differenzierung von Indifferenz Kurbacher 2005: 66-69).

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hervortritt (vgl. auch Kurbacher 2008: 47). Beide Phänomene lassen sich letztlich nur konkret fassen, sie sind auf Umsetzungen angewiesen – ansonsten blieben sie bloße Lippenbekenntnisse – und sie bilden zwei spezifische Formen von Umgang aus, über die aber überhaupt etwas über das Bezogen-sein auf etwas und jemanden – kurzum über Haltung zu erfahren ist, und zwar in prototypischer Weise. Dieser Stellenwert kommt den Nahbeziehungen Freundschaft und Liebe zu, weil im westlichen Kulturkreis mit beiden – Freundschaft wie Liebe – Bezugnahmen aus Freiheit, freiwillige Verhältnisse im besten Sinne verstanden werden. Hier stehen der platonische eros, wie er im Mythos der eros erscheint, als eine Überschreitungsfigur im Hintergrund, und die aristotelische philia als Figur der Reziprozität und gegenseitigen Spiegelung (vgl. Platon: 2000: 83-87; Aristoteles: 2000: 313-315). Auf diese antiken Konzepte von eros und philia geschaut, beschreiben beide Modelle nicht zwei divergierende, sondern eher komplementäre Bewegungen des Liebesgeschehens und zwei Momente des Liebesphänomens (vgl. Kurbacher 2011: 315-320). Freundschaft als philia umschreibt dabei eine reziproke, erfüllte, gegenseitige Form menschlicher Beziehung, Liebe als eros hingegen eine sehnsüchtige, unerfüllte Figur und Bewegung des Strebens und Begehrens. 18 Sie beide zeichnen Freundschafts- und Liebeshaltungen besonders durch eine grundlegende Affirmation und eine praktische Konkretion aus, die entscheidend für Haltung ist, und die es zu betrachten gilt. Im Liebes-Freundschaftsgeschehen bin ich schon immer durch den Anderen affiziert, auf ihn bezogen. Angelehnt an die Figur des eros ist diese Bezogenheit als Streben und Begehren immer auch schon als sinnliche angenommen und kann als Affektion durch den Anderen ebenso als Responsivität gedacht werden, mit der ich mich auf den Anderen hin selbst überschreite. Und zugleich, und für dieses Moment steht die aristotelische philia Pate, gilt jene Verbindung als höchste, die um des Anderen willen selbst besteht und eingegangen wird und

18 Dieser strukturelle Unterschied zur Erfassung des Liebesphänomens schließt aber keineswegs das parallele Vorkommen beider Momente aus, Liebe scheint vielmehr durch beide Bewegungen konstitutiv gekennzeichnet. Im christlichen Kontext erfahren beide Konzeptionen eine moralische Aufladung, unterschiedliche Gewichtung und Bedeutungsverschiebungen, die noch einmal einer ganz eigenen Betrachtung bedürften. Erst da wird das erotisch-sexuelle Moment zum Unterscheidungskriterium. Meine Überlegungen greifen strukturell vor solche inhaltlichen Differenzierungen zurück. Zur antiken Bestimmung der Begriffe vgl. Gödde 2009, zur Differenzierung und Kombination beider Konzeptionen vgl. Kurbacher 2008, zur damit einhergehenden Affekttheorie Flick/Hornung 2009 und Dickhaut/Rieger 2006, zum Unterschied der Begriffe bei Arendt vgl. Tömmel 2011.

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keinen Abhängigkeits- oder Funktionszusammenhang bezeichnet. Es gibt keinen der höchsten Nahbeziehung vorgelagerten Zweck, wenngleich Lust und Nutzen Aspekte von Liebe und Freundschaft sein können, ist ihre Basis doch frei und in Selbstzweckhaftigkeit gegründet. 19 Von der Antike bis heute gilt der Selbstzweck, die Beziehung um des Anderen (selbst) willen als höchste Auszeichnung. In Liebe und Freundschaft bin ich auf den Anderen in seinem von mir differenten, spezifischen So-sein verwiesen und auch bezogen, und bestätige dieses durch meinen Zuspruch, meine tätige Freundschaft und Liebe, ohne dass damit Veränderlichkeit ausgeschlossen wäre. Im Gegenteil, die Nahbeziehung erweist sich in gemeinsam verbrachter Zeit, geteiltem Leben, das eben so wenig wie die beteiligten Protagonisten als unveränderlich angenommen werden kann. Diese Form positiver Annahme des Anderen hat auch Grund und Widerhall im Verhältnis zur eigenen Person, von der ich wiederum in Form einer praktischen Reflexivität durch den Umgang mit dem Anderen überhaupt weiß. Im Miteinander erfahre ich nicht nur den Anderen, sondern auch mich selbst. Liebe und Freundschaft können als gegenseitige Selbstbildungen begriffen werden. Das gute Selbstverhältnis und diese Form höchster Hinwendung und Wertschätzung des Anderen gehen zusammen, wie auch die Kenntnis vom Anderen mit der von der eigenen Person in der gemeinsamen Beziehung als drittem Moment zwischen zwei Personen. Solche Affirmation im Geschehen der Haltungen von Freundschaft und Liebe hat zwei Seiten, zum einen, die des auch logisch nachvollziehbaren Bezogenseins als eine an sich positiv beschreibbare Struktur, insofern sie ist und immer schon annimmt, worauf sie bezogen ist und damit implizit auch sich selbst annimmt, sowie die Beziehung, die im Bezogensein verwirklicht wird. 20 Aber das logische Moment allein reicht zur Beschreibung und zum Erfassen der Haltung in Nahbeziehungen nicht aus. Und so zeigt die Grundlegung im Freund-

19 Dieser Gedanke schließt Abhängigkeit und Nutzen nicht aus, die menschlicher Existenz unzweifelhaft angehören, sondern bezieht sich lediglich auf das Begründungsmoment und die ursprüngliche Motivation. 20 Martin Buber denkt solche Bezüglichkeit sowohl im Rahmen der von ihm ausgearbeiteten Dialogizität als auch in den Grundbewegungen von Distanzierung und Beziehung (vgl. Buber 2009). Arendt spricht wiederholt vom »Bezugsgewebe« zwischen Menschen, dass sich für sie im Sprechen, Handeln und Urteilen niederschlägt, dass sie jedoch in persontheoretischer Hinsicht nicht näher ausführt und auch gerade nicht im Besonderen auf Nahbeziehungen reflektiert. Grund dafür ist ihre kritische Distanz zur philosophischen Tradition und ihre Vorbehalte gegenüber dem Liebesphänomen (vgl. Arendt 2006b: 222, 308f.).

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schafts- und Liebesbezug zum Anderen an, 21 dass hier auch etwas praktisch realisiert sein muss, da dieses Verhältnis als konkrete Bezugnahme auf das Materiale angewiesen ist, und eine Form des Zusammenlebens und der Verwirklichung bezeichnet. 22 Freundschaft und Liebe zeigen Haltung in freier Bezüglichkeit, die daher interpersonal personbildenden Charakter hat, weil sie gerade keine Zweck-MittelRelation beschreibt, die Personen zu einem am Zweck orientierten Mittel degradieren würde, die dann auch nur von diesem Zweck her reduziert verstanden werden könnten. In Liebe und Freundschaft erfahren wir, was es bedeutet, im besten Sinn auf etwas oder jemanden bezogen zu sein. Nur in Freundschaft und Liebe wird das Zwischen, der Bezug selbst explizit, weil er nicht funktional, sondern frei ist. 23 Von diesem Zwischen her lassen sich auch Bezüge zur Kulturalität und Interkulturalität denken. Was aber bedeutet für all dies – für die Personwerdung, Zwischenmenschlichkeit und die Phänomenalität von Freundschaft, Liebe und Interkulturalität – für die Möglichkeit des Haltungswechsels, der nun in einem vierten Zugriff betrachtet sein soll?

H ALTUNGSWECHSEL So wie uns Welt in den vielen Funktionszusammenhängen des Gebrauchs zumeist ganz unproblematisch wie selbstverständlich und damit in Unauffälligkeit gegeben ist, die erst durch eine Störung aufbricht, so wird auch Haltung zumeist erst am Haltungswechsel – wie etwa aufgrund von Irritation oder einer Krise – thematisch. Da, am Haltungswechsel, tritt Haltung, Verschiedenheit, Bezüglichkeit überhaupt hervor. Doch wenn wir darauf schauen, dass Haltung in sich hochdifferenziert als Komplex aus allen menschlichen Kräften besteht, und überdies als Relais zwischen Personen fungiert, in denen sich unsere lebenswelt-

21 Wegen der terminologischen Verwendung groß geschrieben. Der Andere wird als Konstitutivum der steten Selbstwerdung begriffen. 22 Dieser Umstand öffnet den Blick auf Phänomene der »Vergegenwärtigung« und der Gegenwart, die mit Blick auf das Zwischenmenschliche vor allem bei Martin Buber und Hannah Arendt Präsenz erhalten haben (vgl. Buber 1978: 33-37). Hannah Arendt überdenkt überhaupt die zeitliche Struktur menschlicher Bezüge (vgl. Arendt 2006b: 222-241). 23 Freilich taugt er gleichwohl zu keiner Ontologisierung, da er sich als konkretes »Dazwischen« immer wieder Theoretisierungen entzieht.

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lichen Netze entspinnen, dann bedeutet Personsein zwischen Personen letztlich steten Haltungswechsel. Wir verstehen ihn zumeist nur bezogen auf einen engen Begriff von Haltung als dezidierte Änderung der eigenen Einstellung. Aber mit Blick auf die binnentheoretische Differenziertheit von Haltung in mentale Einstellung, emotionale Disposition, willentliche Entscheidung, sinnliche Präferenz und Körperhaltung sowie die Bezüglichkeit auf Selbst, Andere, Anderes und Welt, wird Haltung als steter, wenn vielleicht auch häufig kaum merklicher Haltungswechsel, als Beweglichkeit, als fluide, performative personale Struktur in verschiedenen Praktiken der Personalisierung präsent. Haltungswechsel reflektiert insofern die beiden für Haltungen kennzeichnenden Momente: Standorthaftigkeit wie Fluidität – Standpunkthaftigkeit, indem wir dezidiert Haltung beziehen und Fluidität, indem wir Haltungen vollziehen. Haltungen realisieren ein Drittes zwischen Personen, wie im Falle der Liebe und Freundschaft. Indem wir über und in Haltungen aber auch unser Leben leben, sind Haltungen nicht allein etwas von uns zu Trennendes, sondern wir verkörpern in der Tat auch unsere Haltungen. Wir sind ihr leibhaftiger Ausdruck und nehmen Haltungen nicht nur wie eine Hülle an, sondern sind sie im Moment ihrer Umsetzung. Das läßt Liebe auch als existentiell aufscheinen. Während der Haltungswechsel zunächst »nur« philosophiehistorisch als eine Änderung der Aufmerksamkeit der gesamten philosophischen Innung seit dem 20. Jahrhundert bis heute aufschien – vielleicht besonders ersichtlich am anhaltenden, quer durch alle philosophischen Strömungen verlaufenden Interesse an Emotions- und Körpertheorien –, wirft er nun ein Licht auf die Flexibilität des Personalen, das für den weiten Haltungsbegriff als Modulierung der verschiedenen eigenen Kräfte im interpersonalen Zusammenspiel greifbar wird und für den engen Begriff davon als ausdrückliche Haltungsänderung – auch im Sinne von Umkehr oder Innovation. Das partielle Verfestigen von Haltungen im Haltungsvollzug gehört ebenso zur Haltungsstruktur, wie auch die Möglichkeit zu ihrer Veränderung und Modifikation, an der sie und ihre Beweglichkeit zumeist erst kenntlich werden. Mit beidem ist letztlich auf eine grundlegende Haltlosigkeit hingewiesen, denn die Möglichkeit verschiedener Haltungen zeigt an, dass wir nicht auf bestimmte festgelegt sind, und dass der Boden unserer Haltungen ein Abgrund von Haltlosigkeit ist, die sich zugleich jedoch auch als Freiheitsperspektive beschreiben lässt. An dieser Stelle ist dann noch einmal über die spezifische fragile, poröse Struktur von Haltungen nachzudenken. Auch sie hat wiederum Bezug zum Liebesphänomen, dieses Mal einen philosophiehistorischen. Vor dem Ausblick, in dem dies betrachtet sein soll, seien noch Blicke auf drei Phänomene geworfen, die hierfür eine konstitutive Rolle spielen. Es sind die Phänomene von Stabilität und Fragilität, sowie das einer existentiellen Brüchigkeit.

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S TABILITÄT UND F RAGILITÄT – Z UM V ERHÄLTNIS H ALTUNG UND U RTEILSKRAFT

VON

Angesichts der Fragilität all unserer Beziehungen und insbesondere unserer Liebesbeziehungen, aber auch unserer Verbindungen zwischen Ländern und Kulturen ist der Wunsch nach Dauer und Stabilität keineswegs bloß ein philosophischer. Das beurteilende, evaluative Moment unserer Selbst- und Fremdbezugnahmen scheint am ehesten als Anwärter für eine mögliche Stabilität von Haltungen bereit zu stehen. Doch die Urteilsstruktur, die hierfür zur Untersuchung steht, hat selbst beide Momente inne. Denn die dafür maßgebliche Autonomiefigur der Urteilskraft beschreibt u.a. eine Reflexion darauf, dass der Grund alles Logischen selbst wiederum kein logischer ist. 24 Von hierher ergibt sich eine mögliche Übergängigkeit zum Ethischen, die im Falle der Haltung, die lebenspraktisch ausgerichtet ist, ohnehin vorliegt. Diese Übergängigkeit liegt darin, dass unterschwellig immer nach einem »Wie« jeglicher Haltung, nach dem »Wie« einer Lebensweise und Lebensform gefragt ist und damit implizit auch nach einem möglichen besseren Leben. Urteilskraft schreibt dem Theoretischen Kontingenz ein, und zwar genau dann und nur dann, wenn sie als ästhetisch-reflektierende verstanden wird. Darüber wird es möglich, jene besondere Einzelheit auch theoretisch in den Blick zu nehmen, den Theorie mit ihrer jahrhundertelangen Aufmerksamkeit auf das Allgemeine und Allgemeinheitsfähige nahezu notwendig unterbelichten musste. Darum werden pluralistische und weltgeöffnete Wege aufgezeigt, die gerade nicht bloß universalistisch mißverstanden werden können. Die entscheidende – und oft übersehene – zur Reflexion hinzutretende Komponente im ästhetisch-reflektierenden Urteil ist die Rückbindung an die Sinnlichkeit, Emotionalität und damit auch an eine leiblich zu verstehende Körperlichkeit, Historizität und Erfahrung einer spezifischen Person in Situation und im affizierten Bezug auf jemanden oder etwas. Nur deswegen wird der Blick vom ästhetisch-reflektierenden Urteilen auf Haltungen mit ihren Ausrichtungen auf das Lebenspraktische möglich.

24 Dies ist maßgeblich von Jacques Derrida als Unentscheidbares, das aller Entscheidung innewohnt, reflektiert worden. (Vgl. Derrida 1996; Kurbacher 2005: 106-115.)

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B RÜCHIGKEIT Bei allem Zugewinn, der hier aus dem Liebesphänomen für das Persontheoretische in interpersonaler Absicht gewonnen werden kann (vgl. Quante 2011: 603620) 25, existiert ironischerweise jedoch auch, wie eingangs bemerkt, eine semantische Tradition von Liebe, die – entgegen dem bisherigen positiven Vorbehalt – keine Interpersonalität, sondern ausgerechnet die problematische Reduktionsgeschichte des Selbstbegriffs erwirkt hat. Es handelt sich um die christliche Grundlegung des Liebesbegriffs durch Augustinus in einer Form der Abwendung von der Welt oder sogar Weltlosigkeit, auf deren Problematik Hannah Arendts kritische Lesart aufmerksam macht. Die augustinische Liebeskonzeption spielt so bei der problematischen Zentrierung des Subjekts im Abendland, jenseits des Konkreten und Interpersonalen eine nicht unerhebliche Rolle. Der Kirchenvater beider großen christlichen Konfessionen initiiert durch seine Auffassung der außerweltlichen Platzierung des Liebesziels – in Gott – und nicht wie bei der philia im konkreten Anderen, eine Struktur positiv geforderter Selbstverleugnung, in der das Selbst unter Absehung von Emotionen und Leiblichkeit in Selbstreflexivität präsent und auch nicht unproduktiv bleibt, aber die Initialzündung für ein okzidentales Subjektverständnis liefert, dem die Selbstentfremdung sozusagen so widersprüchlich wie positiv eingeschrieben ist. 26 Das Abrücken vom eigenen Selbst wird zur positiven Hinwendung. Was in religiöser Hinsicht als glückende Rückbindung zu einer höheren Instanz, zu Gott, als religio im Wortsinn verstan-

25 Siehe insbesondere die Vorstellung Quantes einer »Identifikation in Relation«, die er auf Basis evaluativer Selbstverhältnisse bedenkt. 26 Es steht natürlich außer Frage, dass diese Folge der Weltlosigkeit keineswegs zwingend ist, sondern theologisch wie philosophisch die Vorstellung Gottes, im Besonderen eines personalen Gottes, auch immer wieder Anlass für ein Immanenzdenken und damit für Hinwendungen zur Welt auf göttlicher Grundlage ist. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die schwierige, durch Augustinus geschaffene Ausgangslage in all ihrer Problematik ebenso kreativ und innovativ für philosophisches Denken war. Arendts kritische Anfragen an den christlichen Denker dürfen aber durchaus als kritische Anfrage an abendländisches Christentum überhaupt gelten, dessen beide großen Konfessionen auf dem Denken dieses Kirchenvaters beruhen und damit aus ihrer Sicht vermutlich mit dem schwierigen Erbe einer Weltabgewandtheit belastet sind, die von Augustinus positiv gefordert wird und deswegen als konstitutiv erachtet werden kann. Allein deshalb bedürfen beide christlichen Konfessionen aus Arendts Sicht dringend einer kritischen Selbstaufklärung. Aus diesem Grund argumentiert sie auch in ihrer Dissertation mit Paulus gegen Augustinus (vgl. Arendt 2006a, 20f.).

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den werden kann, wird u.U. zum Problem für die weltliche Verbindlichkeit zwischen Personen. Von daher fragt Arendt den christlichen Denker und mit ihm die eigene abendländische Tradition jedoch scharf an, wie es dann um eine Nächstenliebe bestellt sein soll, wenn sowohl, das mit Aristoteles grundlegende und noch positiv angenommene Selbstverhältnis als guter Grund für alle anderen Relationen unterbunden wird, als auch das Interesse am Anderen als faktisch gegebene, weltliche Person. Die alleinige Auszeichnung der Gottesliebe als höchste, wirft aus Arendts Sicht alle weltlichen Verhältnisse, selbst die von Liebe und Freundschaft, in Funktionalität zurück. So ist ex negativo noch einmal die Relevanz unserer eigenen wie gemeinsamen Liebesauffassungen für ein mögliches Selbstverständnis wie für die Fragen eines gemeinsamen – auch interkulturellen – Zusammenlebens unterstrichen. Wie verhält sich nun all dies zur Frage nach dem Interkulturellen? Dies sei abschließend behandelt, wobei es sich allerdings eher um eine neue Eröffnung, einen Ausblick handelt, denn um einen Schluss.

Z UR I NTERKULTURALITÄT Interkulturalität ist im haltungsphilosophischen Kontext – wie überdies Liebe u.a. auch – eine Frage der Grenzen und der Ordnungsbildung wie auch ihrer Öffnung. Die Frage danach rekurriert auf Anthropologisches, insofern der Mensch als immerzu ordnungsbildendes, ordnungsüberschreitendes und auch ordnungszersetzendes Grenzwesen beschrieben werden kann.27 Am Phänomen und auch Umstand des Interkulturellen kann ersichtlich werden, dass eine moderne Konzeption der Person nicht nur vor der Aufgabe einer Verankerung derselben im Interpersonalen steht, um den Zusammenhang zwischen Personen auch theoretisch fassen zu können. Sie muss hinsichtlich einer notwendig gewordenen Philosophie der Verantwortung, die eben auch verantwortlich mit dem zu Denkenden umgeht, das Inkommensurable alles Personalen mit umfassen. Damit steht jeder Neuentwurf von Personalität vor der Schwierigkeit, dem Theoretischen das Konkrete und Kontingente einzuschreiben, das sich per se solchen Versuchen widersetzt und entzieht. Bezüglich der daran anschließenden Frage nach dem Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem, in dem

27 Hierfür hat Helmuth Plessner durch seine philosophische Anthropologie gültig die Auffassung vom Menschen als Grenzwesen geprägt, – eine Vorstellung, die Bernhard Waldenfels aufgreift und zugleich den damit gegebenen Ordnungszusammenhang in seiner Brüchigkeit produktiv reflektiert (vgl. Waldenfels 2006a: 15; und ders. 1987).

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das Singuläre nie aufgeht, lässt sich vorerst festhalten, dass, wenn es auch zurecht von daher Skepsis an Universalität gibt, es jedoch verantwortungsphilosophisch auch keine vollständige Abkehr von ihr in Form der Allgemeingültigkeit geben kann. Die Allgemeinheit oder auch Gemeinsamkeit – und dies ist vor allem auch für Fragen der Interkulturalität entscheidend – wird hier jedoch nicht vorgelagert angenommen, sie bildet nicht den Ausgang, sondern nichts weiter als ein mögliches Etappenziel. Es handelt sich so um ein aufklärerisches Haltungskonzept, das erst über die konkrete, gemeinsame Interaktion auf Basis von Differenzen eventuell mögliche Gemeinsamkeiten aufscheinen lässt. Die Bezüglichkeit, das Zwischen, was sich immer erst zwischen konkreten Personen vollzieht und herstellt, bildet das mögliche Gemeinsame. Letztlich ist das Zwischen der Ort des Personalen selbst, also genau da, wo es jahrhundertelang nicht vermutet wurde. 28 Und Liebe und Freundschaft lassen ahnen, wie sich dieses Zwischen, in dem wir uns immerzu befinden, freiheitlich anfühlt, leben und gestalten lässt. Mit dem Gedanken des »Zwischen« lässt sich jedoch auch darauf reflektieren, dass wir weder im gänzlichen Besitz einer Haltung – und somit der eigenen Person –, noch einer Kultur sind. Dafür ist nicht zuletzt der anthropologische Gedanke einer menschlichen Gebrochenheit konstitutiv. War soeben mit Augustinus auf eine problematisch widersprüchliche Grundlegung des Individuellen in der Selbstverleugnung als Selbstzerrissenheit hingewiesen, so gibt es nun aber auch in jedem Bezogensein eine existentielle Gebrochenheit, die nicht einfach mit einer Selbstzerrissenheit durch Selbstverleugnung gleichzusetzen ist. Denn kein Bezug ist vollständig, sondern durch spezifischen eigenen Entzug gekennzeichnet. Dies wird in der neueren Phänomenologie und genauer in der »Phänomenologie des Fremden« bei Bernhard Waldenfels gerade auch durch das Kulturelle deutlich: Niemand gehört seiner Kultur ganz an, und keine Kultur ist vollständig homogen. In jeder Person und jeder Kultur entzieht sich dieser Person und dieser Kultur etwas. 29 Von sich aus, so ließe sich weiterdenken, weist so alles Kulturelle von selbst schon auf Interkulturalität, wie von jeder Person bereits auf Zwischenmenschlichkeit verwiesen ist. Aber auch im Liebeskontext hat die-

28 Hierzu scheint auch ein Gedanke Heinrich Hünis bezüglich Aristoteles sehr nachdenkenswert: »Miteinander im Verhältnis stehen tut nur das, was sich zueinander verhält: nur als da sie Prägende übersteigt das Verhältnis seine Glieder«. Also nur im Verhältnis gewinnt das Verhältnis selbst einen Status, nicht aber unabhängig von ihm. Dieser Gedanke kann davon abhalten, den Status eines »Zwischen« philosophisch zu überhöhen (vgl. Hüni 1992: 87: § 24 »Der Vorrang der Wirklichkeit als Bewegung«). 29 Vgl. auch Waldenfels’ Kapitel: »Zwischen den Kulturen« (Waldenfels 2006a: 109132).

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se Art einer theoretischen wie phänomenalen Lücke ihren Ort. 30 Im Unsagbarkeitstopos der Liebe, der seit der Antike virulent ist, wird genau auf jene grundlegende Unfassbarkeit des Phänomens reflektiert. Dem Phänomen zum Schutz und um der je nur individuell zu füllenden Besonder- und Eigenheit jedweder Liebe willen, scheint hier offenbar ein per se spezifischer Freiraum auf und gibt dem Sprechen von personaler Fragilität eine eigene Dignität. Zugleich zeigt sich in diesem offenen Spielraum aber unsere ebenso personal gegebene Standpunkthaftigkeit, die sich genau in der Konkretisierung unserer Nahbeziehungen, unserer Existenz in Bezügen überhaupt vollzieht. 31 Die darin, im Vollzug von Haltung auftauchenden Lücken schaffen eine Struktur potentieller Offenheit, derer die interpersonale Begegnung bedarf – eine Offenheit, in der die und das Andere begegnen und das Fremde einbrechen kann –, mit allen Irritationen, Vorzügen und Problematiken, die solchen Ereignissen eigen sind. Darin, dass diese Öffnung auf Basis von anthropologischer Gebrochenheit gedacht wird, erscheint Haltung noch einmal mehr als phänomenologisches Konzept, das nicht von einer angenommenen Gemeinsamkeit ausgeht, die der unabsehbaren, unfassbaren Besonderheit und Singularität des Anderen, einer anderen Person, wie einer anderen Kultur, – letztlich auch der eigenen Person als Ereignis Abbruch tun würde. Solche Gemeinsamkeit kann nur in der Besonderheit des jeweiligen Verhältnisses zwischen Personen immer erst gefunden werden oder entsteht erst in ihr. Haltung erscheint dann als ein Konzept und Phänomen, das auf Basis der Differenzen den Austausch und die Interaktion mit dem Anderen sucht und möglich sein lässt. 32 Die Unterschiede im Nahbezug wie im Interkulturellen bilden die Möglichkeiten des konkreten Austausches zwischen Personen in Haltungen, ge-

30 Zu diesem Aspekt einer konstitutiven Lücke für alles theoretische Denken, für das ich u.a. durch Kant und Jacques Derrida inspiriert wurde (vgl. Kurbacher 2003: 185-195). 31 Gemäß des hier Dargelegten kann für andere Bezüge – außerhalb denen von Freundschaft und Liebe – Freiheit nicht in gleicher Weise veranschlagt werden, weil die funktionalen Momente in anderen Beziehungen einen anderen konstitutiven Stellenwert haben. So lässt sich zwar auch ein freies und freundschaftliches Arbeitsverhältnis denken und erleben, aber seinen Ausgang und seine Motivation nimmt es eben aus dem funktionalen Zusammenhang der Arbeit. 32 Hier steht eine Auffassung von phänomenaler Ereignishaftigkeit im Hintergrund, die an Thesen von László Tengelyi und Hans-Dieter Gondek bezüglich der sogenannten »neuen Phänomenologie« in Frankreich anschließt, und die mein Kollege Philip Flock treffend mit einer »Phänomenologisierung des Phänomens« umschreibt. Für konstruktive Gespräche zum Thema danke ich an dieser Stelle Philip Flock und Inga Römer (vgl. auch Gondek/Tengelyi 2011: 29ff.).

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rade weil ihre Interpersonalität an dieser Stelle nicht weiter theoretisch, sondern nur mehr praktisch klärbar ist. Liebe und Freundschaft geben uns die Andeutung einer bestmöglichen Praxis, nämlich die einer freien Bezugnahme.

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Romantische Liebe zwischen Ideen, Institutionen und Interessen Zur Ausdifferenzierung der erotischen Wertsphäre nach Max Weber U LRICH B ACHMANN

Innerhalb der soziologischen Wissenschaftsgemeinde besteht wohl Einigkeit darüber, dass die romantische Liebe ein Signum der modernen Gesellschaft ist (vgl. Hahn 2008: 40ff.). Aber schon bei der Durchsicht der soziologischen Literatur, die sich mit dem Phänomen der »Liebe« beschäftigt, findet man sehr schnell eine Vielzahl heterogener Befunde hinsichtlich des historischen Entstehungszeitraums, des Durchbruchs, des Kulturerfolgs und der Veränderungstendenzen der romantischen Liebe. So diagnostiziert Niklas Luhmann in seiner bekannten Studie zur Liebessemantik »Liebe als Passion« die Trivialisierung und schließlich den Niedergang (bzw. die Ersetzung) des romantischen Liebesideals in der gegenwärtigen, funktional differenzierten Gesellschaft (vgl. Luhmann 1982: 190ff.). Durch zunehmende Demokratisierung der Liebe und damit einhergehender medialer Stereotypisierung verliert die Vorstellung romantischer Liebe ihre Funktion, geschlechtliche Liebesbeziehungen zu begründen und zu stabilisieren, so Luhmann. Ulrich Beck hingegen attestiert derselben Gegenwartsgesellschaft eine immense Bedeutungssteigerung der romantischen Liebe, die sie letztlich an die Stelle der Religion treten lässt (vgl. Beck 1990: 220ff.). Er beobachtet, ganz im Gegensatz zu Luhmann, eine zunehmende Überhöhung und Vergötzung der romantischen Liebe, die sich im Zuge der Individualisierungstendenzen der modernen Gesellschaft zu einer irdischen Nachreligion emporschwingt. Wie kommen so heterogene Befunde bezüglich des Phänomens der Liebe zustande? Ein Ziel der hier vorgestellten Überlegungen ist die Integration

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einiger dieser disparat nebeneinanderstehenden Befunde zur romantischen Liebe in ein theoretisches Modell. Zu diesem Zweck wählt die folgende Analyse einen dreifachen Zugang zu dem Phänomen der ›Liebe‹: Erstens geht sie von einem Mehr-EbenenAnalysemodell aus, zweitens nimmt sie eine differenzierungstheoretische, aber zugleich auch handlungstheoretische Perspektive auf »Liebe« ein und drittens orientiert sie sich dabei an dem weberianischen Forschungsprogramm. Erstens nehmen die unten ausgeführten Überlegungen den von Burkart (1998) und Lenz (1998; 2009) gemachten Vorschlag auf, »Liebe« mithilfe eines Mehr-Ebenen-Modells zu analysieren: »Eine Soziologie der Liebe sollte auf mehreren Ebenen angesiedelt sein – und wenn möglich, sollten diese Ebenen verknüpft werden: Liebe als Kulturmuster (Semantik, Ideen) auf der einen, Liebe als Gefühl auf der anderen Seite; dazwischen Liebe als Praxis, als Interaktion, als Austausch« (Burkart 1998: 29). Lenz spricht im Hinblick auf diese Ebenen von verschiedenen »Realisierungsstufen« der Liebe und unterscheidet die Diskursebene von der Ebene der Beziehungsnormen (vgl. Lenz 2009: 281). Allerdings fehlt bei beiden Autoren eine konsistente, theoriegeleitete Auswahl der verschiedenen zu analysierenden Ebenen. Ihre Verknüpfungen miteinander bleiben unklar, und da sie nicht in ein allgemeines theoretisches Modell integriert sind, eignet ihnen der Charakter von ad hoc gewählten Ebenen. Diesem Problem begegnet die folgende Analyse, indem sich die Auswahl der zu analysierenden Ebenen und ihre Verknüpfungen untereinander an dem weberianischen Forschungsprogramm orientiert. Zweitens wählt der Aufsatz einen differenzierungstheoretischen Zugang: Bei den Klassikern wie Weber, Simmel, Durkheim, Parsons oder Luhmann wird das Thema der »Liebe« stets aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive behandelt und nach dem Ordnungswert von Liebe für moderne Gesellschaften gefragt. Besonders deutlich ist dies bei Luhmann (1982; 1997): Bei ihm gehört Liebe zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien. Seine Medientheorie und insbesondere seine Theorie der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien versteht er als Antwort »auf die Frage, wie soziale Ordnung möglich sei« (Luhmann 1997: 316). Während Parsons und vor allem Luhmann diese Frage jedoch in einer funktionalistischen bzw. systemtheoretischen Theoriesprache zu beantworten versuchen, wird in diesem Aufsatz ein an Weber orientierter, handlungstheoretischer Beantwortungsversuch vorgeschlagen. Drittens kreist der Aufsatz um die Frage, wie man das Phänomen der »Liebe« im Anschluss an Max Weber theoretisch, aber auch historisch-empirisch fassen kann. Die doppelte Bedeutung der Präposition »nach« im Titel des Aufsatzes verweist darauf, dass diese Analyse zwar im Anschluss an die von Weber selbst

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gewonnenen Einsichten anschließt, aber nicht bei ihnen stehen bleibt. Dies begründet sich nicht nur durch den immensen zeitlichen Abstand zu Weber und dem damit einhergehenden wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf das Phänomen der Liebe, sondern ebenfalls dadurch, dass sich bei Weber selbst keine ausgearbeitete Analyse des Phänomens oder gar eine Soziologie der Liebe findet. Doch aus diesem quantitativen und nominalen Fehlen einer Soziologie der Liebe auf deren inhaltliche Irrelevanz zu schließen, würde dem weberschen Werk nicht gerecht werden (vgl. Lichtblau 1996: 280ff.; Schwentker 1988; Schwinn 2001: 159ff.). Im Gegenteil: Man muss darauf achten, an welchen Stellen Max Weber seine wenigen Äußerungen zu Erotik und Liebe platziert. Innerhalb seiner Religionssoziologie führt er den Themenkomplex von Liebe und Erotik in seiner berühmten Zwischenbetrachtung ein. 1 In dieser Zwischenbetrachtung entfaltet Weber sein der neukantianischen Wertlehre entlehntes Modell der Ausdifferenzierung verschiedener kultureller Wertsphären und verdeutlicht deren inneren Spannungen und ihre konfliktären Verhältnisse zueinander. 2 Mit der Platzierung im Kontext der Zwischenbetrachtung thematisiert Weber die Erotik aus einer differenzierungstheoretischen Perspektive: Einerseits stellt er den Prozess der Ausdifferenzierung der erotischen Sphäre dar, andererseits behandelt er die erotische Sphäre in ihrem spannungsreichen Verhältnis zu den anderen Wertsphären und hier insbesondere in ihrem Verhältnis zu der religiösen Wertsphäre. Die in diesem Aufsatz vorgestellte, an Max Weber orientierte Analyse der erotischen Wertsphäre und mit ihr des Phänomens der Liebe erhebt nicht den Anspruch, neue historisch-empirische Erkenntnis zutage zu fördern. Vielmehr stehen eine theoriegeleitete Systematisierung von etablierten Befunden, deren Zuordnung zu verschiedenen Analyseebenen und deren systematische Relationierung im Zentrum. Der Erkenntniswert liegt aber nicht nur in dieser Systematisierung, Zuordnung und Relationierung, sondern zugleich in der Integration verschiedener, teilweise widersprüchlicher Thesen zum Durchbruch und zur Verän-

1

Und dies sowohl in der frühen Fassung der Zwischenbetrachtung »Religiöse Ethik und Welt« in Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Weber 1980: 348ff.) sowie in der späten Fassung der Zwischenbetrachtung »Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung« in den »Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie« (vgl. Weber 1988a: 536ff.)

2

Zu dem Versuch diese Texte und die in ihr zum Ausdruck kommende spezifische Perspektive auf Differenzierungsvorgänge für die aktuelle differenzierungstheoretische Diskussion fruchtbar zu machen vgl. Schwinn 2001

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derung der romantischen Liebe, in ein theoretisches Modell. Darüber hinaus versucht der Aufsatz, vor allem im Rahmen systemtheoretischer Ansätze gewonnene Erkenntnisse für eine Weiterführung der Überlegungen Max Webers zur Ausdifferenzierung der erotischen Wertsphäre fruchtbar zu machen.

D AS VON

ALLGEMEINE M EHR -E BENEN -M ODELL ZUR ANALYSE W ERTSPHÄREN

Im Folgenden wird das an Weber orientierte Mehr-Ebenen-Modell zur Analyse von Wertsphären vorgestellt. Was kann man mit Max Weber unter einer Wertsphäre verstehen? Wertsphären sind überindividuelle Sinnzusammenhänge oder Ideenkomplexe, die von einem dominanten Wert regiert werden. Diese Sphären werden autonomiefähig, wenn sie um einen Wert mit Selbstzweckcharakter zentriert sind. Den Selbstzweckcharakter erhalten die Werte, wenn sie reflexiv werden und die Vorstellung der Geltung des Wertes zur Ursache der Handlungen von Akteuren wird. Der dominante Wert einer Sphäre muss also zu einem Wert werden, um dessen Willen Akteure handeln (vgl. Schluchter 2006: 307ff.). An diesen kurzen Ausführungen zum Begriff der Wertsphäre wird die Analysestrategie Webers deutlich: Wertsphären werden nur dann autonomiefähig, wenn sich das Handeln relevanter Akteure sinnhaft an den obersten Werten orientiert. Daher steht der subjektive Sinn, den die Akteure ihrem sozialen Handeln und ihrem Sich-Aneinander-Orientieren zugrunde legen, im Zentrum einer verstehenden und dadurch erklärenden Soziologie nach Max Weber (vgl. Schwinn 2006: 40). Im Hinblick auf dieses subjektiv sinnhafte Handeln und die sozialen Beziehungen von Akteuren lassen sich zwei zentrale Bezugsprobleme identifizieren: das Problem der Handlungsorientierung und das Problem der Handlungskoordination. Ersteres bezieht sich darauf, wie überhaupt Handeln subjektiven Sinn gewinnt, zweites hingegen darauf, wie dieses subjektiv sinnhafte Handeln koordiniert wird. Entlang dieser beiden Probleme kann man auch die Soziologischen Grundbegriffe Webers lesen: Während bis zum dritten Paragraphen die Erörterungen Webers zum Sinn- und Handlungsbegriff das Problem der Handlungsorientierung bearbeiten und in der Formulierung vier idealtypischer Handlungsorientierungen münden, tritt ab dem dritten Paragraphen in den Erörterungen zur sozialen Beziehung, Ordnung und Verband das Problem der Handlungskoordination in den Vordergrund (vgl. Weber 1980: 1ff.; Schluchter 2000: 86ff.).

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Im Hinblick auf diese beiden Bezugsprobleme lassen sich zwei Prozesse beobachten, die diese Probleme bearbeiten: der Prozess der Interpretation und der Prozess der Institutionalisierung. Der Prozess der Interpretation vermittelt zwischen der Ebene des obersten Wertes einer Wertsphäre und der Ebene der Ideen. Durch Interpretation wird ein Ideenkomplex gewonnen, der als Sinnzusammenhang den subjektiven Sinn des Handelns orientiert. Im Zentrum des Prozesses der Interpretation steht die kulturelle Dimension der Sphärenbildung. Der Prozess der Institutionalisierung vermittelt zwischen der Ebene der Ideen und der Ebene der Regeln. Durch Institutionalisierung werden Handlungsorientierungen in Form von Handlungsregeln auf Dauer gestellt. Das subjektiv sinnhafte Handeln der Akteure wird durch diese Systematisierung intersubjektiv erwartbar und damit koordinierbar. Im Zentrum des Institutionalisierungsprozesses steht die strukturelle Dimension der Ordnungsbildung (vgl. Abbildung 1.). Die verschiedenen analytisch zu unterscheidenden Ebenen oder Dimensionen werden im Folgenden detaillierter vorgestellt und dienen dann in einem zweiten Schritt dazu, verschiedene Befunde zum Phänomen der »Liebe« und der Ausdifferenzierung der erotischen Wertsphäre zu systematisieren. Abbildung 1: Das allgemeine Modell zur Analyse von Wertsphären

soziales Handeln

Interpretation

Wert

Koordinationsfunktion

Orientierungsfunktion

Motivationsfunktion

Institutionalisierung

Ideen legitimiert

kulturelle Dimension der Sphärenbildung (Problem der Handlungsorientierung)

legitimieren

Regeln

strukturelle Dimension der Ordnungsbildung (Problem der Handlungskoordination)

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D ER S INN

DES SOZIALEN H ANDELNS : GESCHLECHTLICHE L IEBESBEZIEHUNGEN Ausgangspunkt der Analyse einer verstehenden und dadurch erklärenden Soziologie ist immer das soziale Handeln der Akteure und damit der subjektive Sinn, den sie diesem beimessen bzw. das sinnhafte Sich-Aneinander-Orientieren in sozialen Beziehungen. Welches soziale Handeln ist von Erkenntnisinteresse? Welche soziale Beziehung soll im Fokus der Analyse stehen? Der alleinige Verweis auf durch Liebe sinnhaft bestimmte soziale Beziehungen ist zu unspezifisch, um als Ausgangspunkt der Analyse zu dienen. So unterscheidet z.B. Simmel (1985) neben der geschlechtlichen Liebe die allgemeine Menschenliebe und die christliche Nächstenliebe und Fromm (1990) differenziert im Hinblick auf Liebe die erotische Liebe von der Elternliebe, der Nächstenliebe, der Mutterliebe, der Selbstliebe und der Gottesliebe. »Liebe« in dieser allgemeinen Bedeutung kann also eine ganze Reihe verschiedener sozialer Beziehungen sinnhaft bestimmen. Dies sieht man deutlich an dem Begriff der Familie. Denn bei der »Familie« handelt es sich, entgegen der vielfachen Verwendung des Begriffs »Familie« in der familiensoziologischen Forschung, nicht um eine natürliche Einheit des Zusammenlebens, sondern um eine synthetische Einheit aus verschiedenen sozialen Beziehungen (vgl. Tyrell 2006: 145ff.). In der Familie werden verschiedene, durch »Liebe« sinnhaft bestimmte soziale Beziehungen gekoppelt. Die Kernfamilie ist eine Kopplung von geschlechtlicher Liebesbeziehung und durch Elternliebe bestimmter Elternschaft. In Großfamilien kommen noch die durch »Solidarität« gekennzeichneten Verwandtschaftsbeziehungen hinzu. Die Differenz der durch erotische/geschlechtliche und elterliche Liebe bestimmten sozialen Beziehungen ist eine sinnhafte Differenz. Der differente Sinn wird z.B. darin deutlich, dass eine geschlechtliche Liebesbeziehung kündbar ist und Sexualität impliziert, die Elternschaft aber gerade nicht kündbar ist und keine Sexualität impliziert. Diese sinnhafte Differenz sehend, führt Max Weber beide Formen sozialer Beziehungen auch an differenten Stellen seiner Zwischenbetrachtung ein: Zuerst bearbeitet er das Verhältnis zwischen religiösen Gemeinschaften und Sippengemeinschaften (vgl. 1988a: 542ff.) und erst an späterer Stelle folgt das spannungsreiche Verhältnis der Religion zu geschlechtlichen Liebesbeziehungen (vgl. 1988a: 556ff.). Dass es sich bei der »Familie« um eine Kopplung zweier sinnhaft unterschiedlich bestimmter sozialer Beziehungen handelt, sieht man an dem zunehmenden Auseinandertreten beider Beziehungsformen: Denkt man an lebenslange, kinderlose Liebesbeziehungen und an alleinerziehende Elternteile, sieht man

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sehr deutlich, dass beide Beziehungsformen auch zunehmend ohne die andere empirisch vorzufinden sind (vgl. Tyrell 2006: 146). »Liebe« in diesem allgemeinen Sinne kann demnach soziales Handeln und soziale Beziehungen ganz verschiedenartig sinnhaft bestimmen. Deswegen beziehen sich die folgenden Ausführungen nur auf die geschlechtliche bzw. erotische Liebesbeziehung. Was nun den spezifischen Sinn geschlechtlicher Liebesbeziehungen ausmacht, wird Gegenstand der anschließenden Erörterungen sein.

D IE ANALYSEEBENE

DER

W ERTE

Wertsphären können sich nur in dem Maße um einen obersten Wert herum ausdifferenzieren, wie sich relevante Akteure in ihrem Handeln an diesen obersten Werten sinnhaft orientieren. Werte müssen im Handeln der Akteure Selbstzweckcharakter erhalten, also zu Werten werden, um deren willen die Akteure handeln. Die Vorstellung der Geltung des Wertes muss zur kausalen Quelle der Handlungsmotivation werden, soll eine Wertsphäre autonomiefähig werden (vgl. Bachmann 2011: 160ff.). 3 Die Reflexivität des Wertes Der dominante Wert einer Wertsphäre erfüllt für das Handeln der Akteure eine doppelte Funktion (vgl. Lepsius 2009: 38f.): Er motiviert das Handeln der Akteure und zugleich legitimiert er innovative Handlungsweisen. Damit ein Wert autonomiefähig wird und die Motivationsfunktion und Legitimationsfunktion erfüllen kann, muss er reflexiv werden. Unter der Reflexivität eines Wertes soll

3

Bereits die bekannte zirkuläre Definition von Kluckhohn (1951: 395) von Wert als „conception of the desirable“ bezieht sich auf die Differenz von faktisch vorhandenen und gerechtfertigten Wünschen/Wünschenswertem, an die sich die begriffliche Unterscheidung von (körperlichen) Bedürfnissen und Werten anschließen lässt. Diese Unterscheidung liegt auch den beiden Handlungstypen von zweck- und wertrationalem Handeln zugrunde: Während die kausale Quelle der Motivation des zweckrationalen Handelns die (körperlichen) Bedürfnisse sind, liegen dem wertrationalen Handeln Werte als kausale Quellen der Handlungsmotivation zugrunde. Davon ist die teleologische Struktur beider Handlungstypen zu unterscheiden, d. h., beide Handlungstypen weisen eine Zweck-/Ziel-/Wunsch- und Mittel-/Überzeugungs-Struktur auf. Zu den Möglichkeiten eines verstehenden Erklärens der Handlungstypen Webers vgl. Morikawa 2001: 242 ff.

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hier eine bestimmte Form der Selbstbegründung verstanden werden. Der Wert, dessen eigentliche Funktion die Begründung anderer Sachverhalte ist, wird auf sich selbst angewandt (vgl. Luhmann 1997: 372ff.). Damit wird die Begründung des Wertes in den Wert selbst verlegt, d.h., die Begründung des Wertes liegt dann nicht in einem außerhalb des Wertes liegenden Objekt oder in der Eigenschaft eines Objektes. Durch diese Selbstbegründung erhält der Wert Selbstzweckcharakter. Er wird zum Wert an sich, zu einem Wert, der um des Wertes willen erstrebt wird. Denkt man an die logische Möglichkeit, dass sich ein Wert immer durch Berufung auf einen anderen Wert kritisieren lässt, dann ermöglicht die Reflexivität des Wertes gerade das Ende eines solchen Begründungsregresses. Um diese zentrale Eigenschaft des dominanten Wertes einer Sphäre zu verdeutlichen, verwendet Max Weber die Göttermetapher: Werte sind wie Götter, denen man dient, die aber ihrerseits nicht mehr an einem weiteren Ziel oder Zweck ausgerichtet sind (vgl. Weber 1988b: 608). Luhmann schreibt dazu, Werte »ermöglichen einen Verzicht auf Begründungen« (Luhmann 1997: 343). Mit der Reflexivität des Wertes geht zugleich einher, dass ein solcher reflexiver oberster Wert sich gegenüber Anforderungen anderer Werte freimacht, moralische Ansprüche neutralisiert und so seine Autonomie ermöglicht. In dem berühmt gewordenen Bild des Kampfes der Götter klingt aber zugleich ein zweites Charakteristikum des dominanten Wertes einer Sphäre an: Durch die reflexive Schließung des Wertes entwickelt er eine Universalzuständigkeit. Jede beliebige Situation kann unter der Perspektive dieses Wertes betrachtet werden. Luhmann würde davon sprechen, dass Werte, denn die Codes der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien sind Werte, es erlauben, Welt unter einer ganz spezifischen Differenz zu beobachten (vgl. Luhmann 1997: 360, Fn. 299). Mit dieser Universalzuständigkeit wird der Anspruch der Werte auf Realisierung im Handeln grenzenlos und sie beanspruchen universelle Geltung für jedes Handeln. Das Reflexivwerden des Wertes der Liebe zeigt sich darin, dass das 18. Jahrhundert noch voll von »guten Gründen« gegen die Liebe gewesen war und auch die Gründe für die Liebe vielfältig waren (vgl. Tyrell 1987: 572). Aber im Zuge der Romantik, um 1800, wird die Begründung des Wertes der Liebe auf Selbstbegründung umgestellt (vgl. Luhmann 1982: 51f.). Zuvor hatte die Begründung für die Liebe in etwas dem Wert der Liebe Externem, wie z.B. den Eigenschaften (Perfektion, Schönheit, Reichtum, Jugend oder Tugend) des Liebesobjektes, gelegen. Nun kehrt sich das Begründungsverhältnis von Liebe und Liebesobjekt um: Die Schönheit des Objektes ist nicht mehr der Grund der Liebe zu ihm, sondern im Gegenteil, die Schönheit des Liebesobjektes ist die Folge der Liebe zu

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ihm. 4 Der Grund der Liebe liegt nun in der Liebe selbst und zur Begründung der Liebe genügt fortan die bloße Tatsache, dass man liebt. Der Wert der Liebe wird reflexiv. Durch die Reflexivität des Wertes der Liebe wird die Frage »warum liebst Du mich?« durch die Petitio Principii »weil ich Dich liebe« (also dadurch, dass man das zu Beweisende im Beweis in Anspruch nimmt) beantwortbar: Die Frage »commits a category mistake. It erroneously assumes that love is something that can be explained or justified, rather than something that itself provides an explanation or justification by forming the basis of the lover’s existence.« (Oakes 1989: 236) Durch dieses Reflexivwerden und die dadurch ermöglichte Selbstbegründung gelingt es dem Wert der Liebe, sich von den Ansprüchen anderer Werte freizumachen. Mit der Reflexivität gehen eine Abweisung der Zuständigkeit anderer Werte und ein Zurückweisen der Verantwortung anderen Werten gegenüber einher: Nicht zu lieben ist dann lediglich eine Frage der Liebe und keine des Geldes oder des Glaubens, kein Rechtsverstoß, nichts Unmoralisches oder gar ein krimineller Akt, auch wenn andere durch das Nichtlieben zutiefst verletzt werden. Dieses durch Selbstbegründung ermöglichte Freiwerden von fremden Wertansprüchen lässt den Wert der Liebe autonom werden. Frei von fremden Ansprüchen ist er frei zu einer eigengesetzlichen Entwicklung und einer sich entwickelnden Universalzuständigkeit. Der Anspruch der Liebe wird monopolitisch (vgl. Tyrell 1987: 571): Andere Formen sozialer Zweierbeziehungen, in denen die Individualität des anderen ebenfalls zentral ist, werden entwertet und nicht mehr als gleichwichtig neben der geschlechtlichen Liebesbeziehung geduldet. Besonders deutlich tritt dies im Fall der Freundschaft zutage: Nach der Hochkonjunktur der Freundschaft im 18. Jahrhundert geht mit der Durchsetzung des Universalanspruchs der Liebe eine fortschreitende Desavouierung von gleichgeschlechtlichen Freundschaften (Verdacht der Homophilie) und verschiedengeschlechtlichen Freundschaften (Verdacht der sexuellen Beziehung) einher (vgl. Schmidt 2000: 88). Die Motivationsfunktion des Wertes Der wertrationale Handlungstyp ist von zentraler Bedeutung für die Sphärenbildung. Die wertrationale Handlungsorientierung ist gerade dadurch gekennzeichnet, dass Werte in ihr nicht mehr Mittel zum Zweck sind, nicht als Zwischenglieder für einen weiteren Zweck auftreten. Vielmehr stellen sie sich im subjek-

4

Dies darf allerdings nicht mit dem Sachverhalt verwechselt werden, dass der Wert der Liebe stets über den Beziehungspartner vermittelt wird, d. h., der Wert der Liebe ist stets objektvermittelt, jedoch nicht objektkonstituiert.

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tiv gemeinten Sinn der Akteure als Endzweck des Handelns dar. Die reflexive Schließung von Werten und der damit einhergehende Begründungsverzicht ermöglichen diesen Endzweckcharakter des Wertes. Wenn Werte zum Endzweck des Handelns werden, vermögen sie ein immenses Motivationspotential freizulegen. Werte sind unersättlich und die Wertrealisierung im Handeln der Akteure unerschöpflich. Wertrationales Handeln läuft sich nicht in einem zuvor gesetzten Zweck fest. Die Wertrealisierung kennt keine Stoppregeln, sie kommt nie an ein Ende, da ihr Sinn nicht in einem außerhalb des Handelns liegenden Erfolg, sondern im Erleben des Handlungsvollzugs bzw. im Erleben der Wertrealisierung selbst liegt. Das Motivationspotential des wertrationalen Handelns ist ein wesentliches Kriterium für die Dynamisierung der Ausdifferenzierung von Wertsphären, denn sofern ein Wert im Handeln der Akteure diesen Selbstzweckcharakter gewinnt, vermag er eine immense Handlungsmotivation freizusetzen. Gerade weil Weber einen affektuellen Handlungstyp kennt, mag es auf den ersten Blick verwundern, die Ausdifferenzierung der erotischen Wertsphäre in Zusammenhang mit dem wertrationalen Handlungstypus zu bringen. An verschiedenen Stellen verweist Weber jedoch auf die engen Beziehungen und Gemeinsamkeiten des affektuellen und des wertrationalen Handelns (Weber 1980: 12f.; ders. 1988a: 556ff.). Weber verbindet beide Handlungstypen mithilfe des Begriffes der Sublimierung: »Eine Sublimierung ist es, wenn das affektuell bedingte Handeln als bewußte Entladung der Gefühlslage auftritt: es befindet sich dann meist (nicht immer) auf dem Wege zur ›Wertrationalisierung‹« (Weber 1980: 12). Demnach ist das zentrale Differenzierungskriterium beider Handlungstypen die Bewusstheit der Orientierung an den letzten »Richtpunkten des Handelns«. Gemeinsam ist ihnen jedoch im Gegensatz zum zweckrationalen Handeln ihre Eigenwertorientierung, d.h. die Tatsache, »daß für sie der Sinn des Handelns nicht in dem jenseits seiner liegenden Erfolg, sondern in dem bestimmt gearteten Handeln als solchen liegt« (Weber 1980: 12). Zugleich bezeichnet Weber die Entwicklungstendenz der erotischen Wertsphäre als Sublimierung und grenzt sie damit (zusammen mit der ästhetischen Wertsphäre) von den Sphären ab, die Rationalisierungstendenzen aufweisen (vgl. Weber 1988a: 536ff.; Schluchter 2006: 311). Sublimierung meint hier den Prozess des Einbaus von Konventionen, die die auf direkte Befriedigung drängende Sexualität hemmen. Zwar benötigt die erotische Wertsphäre die »naturale und organische Basis der Geschlechtlichkeit«, Sublimierung bedeute aber gerade die »Hinwegentwicklung vom unbefangenen Naturalismus des Geschlechtlichen« (Weber 1988a: 558). Durch die Hemmung der direkten, mehr oder weniger »unbewussten« Befriedigung der Sexualität im Sinne eines auf direkte Abreaktion aktueller Affekte gerichteten, affektuellen Handelns wird die Sexualität zur Erotik sublimiert.

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Dadurch kommt es zu einer »Steigerung« des spezifisch außeralltäglichen »Sensationscharakters« und letztlich der »Sonderstellung der Erotik« (Weber 1988a: 558f.). Die Erotik erhält einen »Wertakzent« und wird in die Sphäre des bewusst Erstrebten, bewusst Gepflegten und des bewusst Genossenen erhoben. Im Prozess der Sublimierung gewinnt also das ursprünglich auf sexuelle Befriedigung gerichtete, affektuelle Handeln mehr und mehr Eigenschaften eines wertrationalen Handelns. Die Besonderheit des erotischen Handelns gegenüber anderem wertrationalen Handeln, wie z.B. in der religiösen Wertsphäre, liegt darin, dass die Wertorientierung nicht unmittelbar, sondern objektvermittelt stattfindet. Der oder die Geliebte steht im Zentrum des Handelns des Liebenden, allerdings ist es nicht das Objekt oder seine Eigenschaften, das die Liebe zu ihm konstituiert. Vielmehr kehrt sich, wie ich oben versucht habe zu zeigen, mit dem Reflexivwerden des Wertes der Liebe das Begründungsverhältnis von Liebe und Liebesobjekt um. Die positiven Eigenschaften des Liebesobjektes sind nicht mehr der Grund der Liebe zu ihm, sondern im Gegenteil, die positiven Eigenschaften sind Folge der Liebe zu ihm. Der Wertbezug des, sich durch Sublimierung dem wertrationalen Handlungstypus nähernden, erotischen Handelns ist zwar objektvermittelt, aber nicht objektkonstituiert. Das Reflexivwerden versetzt den Wert der Liebe mehr und mehr in die Lage, die für die Dynamisierung der eigengesetzlichen Entwicklung der erotischen Wertsphäre so zentrale Motivationsfunktion zu erfüllen. Durch das Reflexivwerden wird der Wert der Liebe zum Selbstzweck, zu einem Wert an sich: Liebe um der Liebe willen und nicht auf etwas anderes hin. Die Liebe wird zum letzten Zweck des Handelns, ihr wird unbedingter Wert beigelegt, sie wird zum Summum Bonum, zum höchsten Ziel des Handelns. Einerseits werden damit alle legitimierenden Gründe und Motive eliminiert, nicht lieben zu wollen. 5 Zugleich wird der Wert der Liebe so, wie er in der Romantik um 1800 konzipiert wird, mit dem Versprechen auf das höchste Glück ausgestattet. 6 Der Wert der Liebe enthält ein innerirdisches, diesseitiges Erlösungsversprechen, er verspricht ein Ende des Leidens und den Gipfel des privaten Glücks. Die Liebe wird zum Wichtigsten im menschlichen Leben (vgl. Kluckhohn 1966: 579).

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Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der Präferenzcodierung des romantischen Codes (Luhmann 1997: 360f.). Wobei bei ihm unklar bleibt, welchen Sinn die Rede von Präferenzen haben kann, wenn man nicht zugleich auch von Akteuren und deren Motiven spricht.

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Ähnlich dem religiösen Heil liegt eine der vielen Parallelen von Religion und Liebe, die Weber in seiner Zwischenbetrachtung herausarbeitet.

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Der Glauben an den Eigenwert der Liebe und das dadurch freigesetzte Motivationspotential zeigt sich in einem nie-zu-Ende-Kommen der Wertverwirklichung des wertrationalen Handelns. In Bezug auf Liebe offenbart sich dieses darin, dass das Sich-Trennen einer geschlechtlichen Liebesbeziehung oder die Scheidung einer Ehe nicht die Aufgabe des Strebens nach der Liebe bedeutet, sondern vielmehr den Bruch mit der falschen Form der Wertverwirklichung, in der sich das Glücks-/Erlösungsversprechen der Liebe eben nicht realisieren lässt. D.h. die meisten Akteure verlassen eine geschlechtliche Liebesbeziehung nicht, um das Joch der ewigen Wiederkehr des immer Gleichen abzustreifen, sondern ganz im Gegenteil: um frei zu sein für eine bessere, schönere, glücks- und erfolgversprechendere Beziehung. Trotz steigender Scheidungsziffern und allen Unkenrufen zum Trotz nimmt das Motivationspotential des Wertes nach wie vor zu. Dafür sprechen nicht nur die sehr hohen Wiederverheiratungszahlen, sondern zugleich auch die Tatsache, dass, wenn man die heute existierenden verschiedenen Formen geschlechtlicher Liebesbeziehungen betrachtet, man trotz steigender Scheidungszahlen zu dem Schluss kommt, dass die Bereitschaft, sich in geschlechtlichen Liebesbeziehungen zu binden, eher zu- als abgenommen hat (vgl. Klein 1999). Die Legitimationsfunktion des Wertes Neben diesem Motivationspotential erfüllt der dominante, oberste Wert einer Wertsphäre auch eine Legitimationsfunktion für das Handeln von Akteuren. Innovative oder neuartige Handlungsweisen stellen in der Wahrnehmung der sozialen Umwelt des Handelnden zunächst immer ein abweichendes Verhalten dar. In der Etikettierung als abweichendes Verhalten kommt zum Ausdruck, dass ein solches Handeln im Widerspruch zu habitualisierten, anerkannten oder tradierten Handlungsweisen steht und als solches stets einem erhöhten Sanktionsdruck ausgesetzt ist. Durch den Hinweis auf den Wertbezug seines Handelns kann der vermeintliche Abweichler sein neuartiges Handeln nicht nur vor sich, sondern vor allem vor seiner sozialen Umwelt legitimieren. Die Legitimation des Handelns durch den Wertbezug kann also den Sanktionsdruck der sozialen Umwelt abwehren oder doch zumindest mindern. Ganz unabhängig von dem Inhalt der neuartigen Handlungsweise ist die durch den Wert ermöglichte Wertbegründung ein wesentliches Mittel zur Durchsetzung von Neuerungen, zum Durchbrechen traditioneller Gewöhnung und zum Aufheben von Sanktionsschranken. »Die Brechung der Tradition gelingt immer am besten im Namen traditionell akzep-

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tierter Wertvorstellungen, auch wenn die Neuerung die tradierte Wertvorstellung auflöst.« (Lepsius 2009: 39) 7 Liebe wird ab dem Jahr 1800 mehr und mehr zum einzigen Grund, geschlechtliche Beziehungen einzugehen, aufrechtzuerhalten und zu beenden. Letztlich wird Liebe auch zum einzigen legitimen Grund der Partnerwahl und der Eheschließung. Im Zuge der stetigen Übernahme der Legitimation werden andere Eheschließungsgründe, wie z.B. finanzielle oder objektiv-sachliche, als Zweckehen diskreditiert, oder im Falle von rechtlichen Gründen oder arrangierten Ehen als Schein- oder Zwangsehen rechtlich sanktioniert.

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Die durch das Reflexivwerden des Wertes ermöglichte Universalzuständigkeit steigert zugleich das Problem der Handlungsorientierung: Jede beliebige Situation kann unter der Perspektive des Wertes betrachtet werden. Der Anspruch der Werte auf Realisierung im Handeln wird grenzenlos und sie beanspruchen universelle Geltung für jedes Handeln. Doch gerade in der Tatsache, dass sich jede Situation und jedes Handeln unter der Perspektive dieses Wertes betrachten lässt, liegt auch die große Schwäche des Wertes. Denn aus der von ihm in Anspruch genommenen Universalzuständigkeit folgt, dass er für die Ausbildung von konkreten Handlungsorientierungen in spezifischen Situationen den Akteuren keine Kriterien oder Anhaltspunkte für ihr Handeln an die Hand gibt. Auch wenn die obersten Werte der Sphären Handeln motivieren und der Bezug auf sie Handeln legitimieren kann, verbleibt ihre Spezifikations- und Direktionsleistung für konkretes Handeln gering (vgl. Schwinn 2009: 44). Aus der über das Reflexivwerden des Wertes ermöglichten Universalzuständigkeit des Wertes resultiert gerade das Problem der Handlungsorientierung. Oberste Werte dienen eben nicht als Kriterien der Handlung, sondern als deren motivationale Prämisse. Damit aus den dominanten Werten Handlungsorientierungen werden, müssen sie gedeutet werden. In dem Prozess der Interpretation werden die obersten Werte zu Ideen spezifiziert, an denen sich konkretes Handeln orientieren kann. In den durch die Ideen bereitgestellten Interpretationen wird der Sinngehalt des

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Mit der Legitimationsfunktion lässt sich die interaktionistische Perspektive der „Vocabularies of Motives“ verbinden (Gerth/Mills 1953: 114ff.). Werte sind hier Bestandteil der „Vocabularies of Motives“, mit denen Akteure nicht nur zukünftige, sondern auch bereits vollzogene Handlungen rechtfertigen – vor sich selbst wie vor der sozialen Umwelt. Sie erlauben Motivzuschreibungen und fundieren die Erwartungsbildung.

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Wertes in Sinnzusammenhängen expliziert. Unter Sinnzusammenhang soll hier ein Ideenkomplex verstanden werden, der einen Verweisungszusammenhang bildet, in dem die eine Idee auf die anderen Ideen verweist. Der Verweisungszusammenhang zeigt sich dann darin, dass die eine Idee die andere sinnhaft fordert, d.h., man kann A nicht ernsthaft gesagt haben, wenn man zugleich B verweigert. Im Gegenteil: Das Ausbleiben von B oder C entwertet rückwirkend und zwangsläufig A, diskreditiert die Wahrhaftigkeit von A und stellt alles infrage. In Bezug auf die romantische Interpretation der Liebe zeigt sich der Sinnzusammenhang dann z.B. darin, dass jemand, der wirklich liebt, auf Dauer den sexuellen Kontakt nicht verweigern kann, oder er hat eben nicht wirklich geliebt. Auf der Ebene der Ideen wird durch die Explikation des Sinngehaltes des Wertes ein handlungsorientierendes Kulturmuster gewonnen. Bei der Analyse der Ebene der Ideenkomplexe und der Prozesse der Interpretation lassen sich verschiedene Fragenkomplexe differenzieren: Fragen nach dem Begründungszusammenhang, dem Entstehungszusammenhang und dem Wirkungszusammenhang der Ideen. Der Begründungszusammenhang von Ideen Im Zentrum des Begründungszusammenhangs stehen die inhaltlichen Beziehungen des dominanten Wertes zu den ihn interpretierenden Ideen und die kognitive Struktur des Ideenkomplexes als einem Sinnzusammenhang selbst. Werte sprechen nicht unmittelbar zu den Akteuren. Sie erfordern Auslegungen, Interpretationen und Deutungen. Ideen sind in dieser Hinsicht Interpretationen des obersten Wertes und repräsentieren insofern niemals vollständig dessen möglichen Sinngehalt, d.h., Ideen sind gegenüber dem potentiellen Sinngehalt des Wertes selektiv. Der Wert wird dabei niemals nur durch eine Idee interpretiert und konkretisiert. Vielmehr handelt es sich immer um einen »Ideenkomplex« von mehr oder weniger sinnhaft miteinander in Beziehung stehenden Ideen. In ihrer Verbindung stellen die Ideen einen Sinnzusammenhang bereit, an dem sich konkretes Handeln seinem subjektiv gemeinten Sinn nach orientieren kann. Im Kontext der Frage nach dem Begründungszusammenhang ist es zentral, die Ideen in ihrem Sinngehalt und ihren Relationen zueinander zu bestimmen, d.h., sie ihrer kognitiven Struktur, ihrer inneren Sinnkonstruktion nach zu entfalten. Im Folgenden wird der den Wert der Liebe interpretierende Ideenkomplex vorgestellt, wie er vor allem im Rahmen der Romantik im 19. Jahrhundert entwickelt worden ist (vgl. Kluckhohn 1966; vgl. Burkart 1998; vgl. Lenz 2009). Liebe wird dabei über die folgenden Ideen interpretiert:

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a) affektive Zuneigung: Liebe ist hohes Gefühl, ergreifende Emotionalität, tiefe Empfindung. Durch diese Emotionalisierung wird Liebe in einen scharfen Kontrast zur Vernunft und rationalem Handeln gesetzt. b) Sexualität: Liebe ist sexuelle Leidenschaft, körperliche Begierde. Für Luhmann ist dieser Einbezug der Idee der Sexualität in den Ideenkomplex der romantischen Liebe die entscheidende Veränderung im 18. Jahrhundert (vgl. Luhmann 1982: 53ff.). Während z.B. die Literatur des mittelalterlichen Minnesangs einen scharfen Gegensatz zwischen dem reinen, hohen Gefühl und der bloßen Befriedigung sexueller Lust, also körperlicher Bedürfnisse sieht, versöhnt die romantische Interpretation von Liebe diese beiden Aspekte. Im Ideenkomplex der romantischen Liebe wird durch den Einbau der Sexualität ein Bezug zur Körperlichkeit der Akteure hergestellt, der gegenüber konkurrierenden Konzepten, wie z.B. der Freundschaft, die historische Durchsetzung der romantischen Liebeskonzeption begünstigt. Vor allem Luhmann hebt diesen Aspekt unter dem Terminus des symbiotischen Mechanismus hervor: Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien müssen einen Bezug zur Körperlichkeit herstellen (vgl. Luhmann 1997: 378ff.; Luhmann 2009: 262ff.). c) Dauerhaftigkeit: Wahre Liebe steht nicht nur am Beginn einer geschlechtlichen Beziehung, sondern sie ist zeitlich unbegrenzte, ewige Liebe und die durch sie getragene Beziehung ist dauerhaft stabil, ohne dass es zusätzlicher äußerer Beziehungsstabilisatoren bedürfte. d) Ehe: Liebe ist die einzige legitime Begründung einer Ehe und Liebe soll in der Ehe ihren Fortbestand haben. Durch die Gleichsetzung von Liebe und Ehe wird die Dauer der Ehe nur noch durch die Dauer der Liebe begründbar. 8 Durch die im Ideenkomplex hergestellte Kopplung von Ehe und Liebe wird der Ideenkomplex der romantischen Liebe in bereits existierende institutionalisierte Strukturen integriert. Gleichzeitig erhält die Ehe dadurch aber eine neue sinnhafte Deutung, denn zuvor wurde der Ehe, wie Weber schreibt, kein »erotischer Wert« beigemessen, sondern ein wirtschaftlicher, ständischer, politischer, dynastischer oder religiöser Sinn zugeschrieben (vgl. Weber 1980: 364). Zu dieser neuen sinnhaften Deutung der Ehe als einer Liebesgemeinschaft gesellt sich die »Kasernierung der Sexualität in der Ehe«, d.h. die Beschränkung des legitimen Aus-

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Das eigentliche romantische Verständnis sieht in der Ehe auch nicht primär das rechtliche Verhältnis, sondern ein sittliches Verhältnis zwischen Mann und Frau. Ehe ist das durch Liebe begründete Verhältnis zweier Menschen (vgl. Schenk 1988: 126). „Liebe ist (für die Romantik) Ehe, auch ohne Trauung und bürgerliche (kirchliche) Zeremonien. Ehe bedeutet das Einswerden (Seelenvereinigung) von Mann und Frau in der Liebe“ (Schwab 1975: 286).

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lebens von Sexualität auf die durch Liebe getragene Ehe und den Ehepartner (vgl. Luhmann 1982: 149). 9 e) Elternschaft: Die durch Liebe begründete und durch Liebe getragene Ehe findet ihre Vollendung in der Elternschaft. Kinder vervollkommnen die Ehe. f) Reziprozität: Nur erwiderte Liebe ist wahre Liebe. Damit werden die geistigen wie sinnlichen Liebesfähigkeiten beider Partner wichtig, d.h., es kommt zu einer Aufwertung der Liebesfähigkeit und damit insgesamt des Stellenwertes der Frau für geschlechtliche Liebesbeziehungen. g) Schicksal: Die Liebe ist eine unbeeinflussbare Macht, unter deren Gnade man fällt (oder eben nicht) und die Zufälligkeit der Begegnung wird umgedeutet in die Notwendigkeit des schicksalhaften Füreinanderbestimmtseins. »Keine volle erotische Gemeinschaft wird sich selbst anders als durch geheimnisvolle Bestimmung füreinander: Schicksal in diesem höchsten Sinn des Wortes, gestiftet und dadurch (in einem gänzlich unethischen Sinn) ›legitimiert‹ wissen« (Weber 1988a: 562). 10 Dem durch sie Begnadeten bleibt nur die aufrichtige Anerkennung des liebenden Gefühls. Jegliche Techniken der Herbeiführung oder des Aufrechterhaltens gelten als verwerflich. Liebe wird im Hinblick auf diese Interpretation gegen Versuche der Technisierung der Mittel oder der instrumentellen Rationalisierung immunisiert. 11 h) Individualität: Liebe bezieht die »grenzenlos steigerbare Individualität« der sich Liebenden ein (Luhmann 1982: 178). Die Liebenden sind jeder für sich einmalig und füreinander unersetzbar. Daher ist auch ihre Beziehung einmalig. In der geschlechtlichen Liebesbeziehung wird der Sinn hervorgehoben, »welchen dies Einzelwesen in seiner Irrationalität für dieses und nur dieses andere Einzelwesen hat« (Weber 1988a: 560). Die romantische Liebe etabliert damit ein auf der Individualität des Gegenübers basierendes Vergemeinschaftungsprinzip, das zu dem christlichen Liebesbegriff der Caritas, der gerade nicht auf Individualität, sondern auf das Mensch-Sein an sich abstellt, und mit der christlichen Brüderlichkeitsethik im Widerspruch steht (Weber 1988a: 560)

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Weber verweist darauf, dass diese Reglementierung der Sexualität zugunsten der Ehe religiösen Ursprunges ist (Weber 1980: 363ff.).

10 In dieser schicksalhaften Begnadung liegt eine weitere Parallele von Liebe und Religion. 11 Aubert schreibt dazu: „If the choice of lover is a matter of chance, the finger of god may be seen in the selection which would not be the case if systematic methods were used. Nor would one’s fate be so clearly revealed if purely mundane and rational considerations determined the selection of spouse” (Aubert 1965: 214).

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i) Androgynie: Wahre Liebe ist ungeschlechtlich in dem Sinne, dass innerhalb einer Liebesbeziehung die Frauen ihre männlichen und die Männer ihre weiblichen Züge ausbilden sollen. In diesem Idealbild einer androgynen und gleichwertigen Liebesbeziehung wird die Vorstellung der Hierarchie der Geschlechter gebrochen und die Liebesbeziehung vollendet. In dieser spezifischen Kombination von Ideen, die den Wert der Liebe interpretieren, bilden die Ideen einen relativ kohärenten Sinnzusammenhang, in dem eine Idee auf die andere verweist (Tyrell 1988: 148). Der Verweisungszusammenhang des Ideenkomplexes der »romantischen Liebe« zeigt sich z.B. darin, dass man nicht ernsthaft lieben kann, aber zugleich die Heirat des Geliebten verweigert. Man kann einen anderen nicht ernsthaft lieben, aber zugleich dauerhaft den sexuellen Kontakt zu ihm verneinen. Dieser Verweisungszusammenhang zeigt sich gerade darin, dass die eine Idee die andere sinnhaft fordert, d.h., man kann jemanden nicht ernsthaft lieben, wenn man ihm aber zugleich die Heirat verweigert. Im Gegenteil, das Ausbleiben der Heirat oder des Geschlechtsverkehrs entwertet rückwirkend das Liebesgeständnis, diskreditiert es und stellt es infrage. In seinem Charakter als Verweisungszusammenhang ordnet der Ideenkomplex der romantischen Liebe Handlungsorientierungen, in dem Sinne, dass er sie zeitlich sequentialisiert. Der Entstehungszusammenhang von Ideen Die so bestimmten Ideenkomplexe weisen gegenüber den obersten Werten der Sphären eine geringere zeitliche Stabilität auf, d.h., sie sind historisch variabler als die obersten Werte der Sphären. In Wertsphären wird so die Identität der Sphäre bei gleichzeitiger historischer Wandelbarkeit der Sinngehalte realisiert. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von selbstsubstitutiven Ordnungen (vgl. Luhmann 2009: 228ff.). Diese historische Wandelbarkeit und Dynamik auf der Ebene der Ideen wird einerseits durch Faktoren bestimmt, die der kulturellen Dimension der Sphärenbildung endogen sind. Das über Prozesse der Interpretation vermittelte Verhältnis von Wert und Ideen weist eine eigenständige Dynamik auf: Nicht jeder Sinngehalt der obersten Werte ist gleichermaßen einer rationalen, logischen Explikation zugänglich, oder die Interpretation des Wertes durch bestimmte Ideen verhindert geradezu die weitere rationale, logisch konsistente Explikation des Sinngehaltes. Zugleich wird die Dynamik aber auch durch Faktoren bestimmt, die der kulturellen Dimension exogen sind. Diese Faktoren verweisen auf den zweiten Fragenkomplex: den Entstehungszusammenhang von Ideen.

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Im Kontext des Entstehungszusammenhangs rücken die Produzenten der Interpretationen in den Fokus der Analyse. Historisch gesehen sind diese Produzenten zumeist intellektuelle Eliten: Literaten, Künstler, Philosophen, Priester oder Propheten. Im Zentrum der analytischen Arbeit dieser Intellektuellen steht das »konsequente und systematische Zuendedenken gegebener Sinn- oder Wertgehalte« (Weiß 1992: 137f.). Ihre Interpretationsarbeit zielt auf eine Systematisierung von Sinnzusammenhängen und Handlungsorientierungen (vgl. Schluchter 1980: 10). Zugleich muss man danach fragen, welche Deutungsmacht diese Produzenten besitzen, d.h., wie groß ist ihre Chance, ihre Interpretation des Wertes auch gegen widerstrebende Deutungen durchzusetzen? Im Unterschied zu den später im Kontext von Institutionalisierungsprozessen zu erörternden Begriffen der Definitions- und Sanktionsmacht gehört zum Begriff der Deutungsmacht keine unmittelbare Sanktionsfähigkeit. Die interpretierenden Trägergruppen können daher keine direkte Folgebereitschaft für ihr Deutungsangebot (gewaltsam) erzwingen (vgl. Vorländer 2006: 17). Im Zentrum des Entstehungszusammenhanges von Ideen stehen also die Produzenten der Interpretation und ihr Kampf um die symbolischen Ausdeutungen des Sinngehaltes der obersten Werte. Für den Begründungszusammenhang des Ideenkomplexes der romantischen Liebe gibt es eine Vielzahl von Literatur und je nachdem auf welchen Autor sich diese Untersuchungen konzentrieren, ob Novalis, Schlegel, Fichte, Brentano, Günderode oder Schleiermacher variieren die Ergebnisse im Detail. Für den Entstehungszusammenhang erscheint es aber unstrittig, dass die spezifische romantische Interpretation von Liebe im Kontext der verschiedenen literarischen Zirkel der Romantik, vor allem der Jenaer-Romantik, entstanden ist (vgl. Kluckhohn 1966). Gemeinsam war den meisten Mitgliedern dieser Zirkel, ihr Universitätsstudium und damit die Zugehörigkeit zum Bildungsbürgertum. Durch ihre Tätigkeiten im Staatsdienst, an den Universitäten, als Hauslehrer oder als Schriftsteller lebten sie weitestgehend in gesicherten materiellen Verhältnissen, ohne dabei große materielle Reichtümer anzuhäufen, über deren Vererbung sie sich Gedanken machen mussten. Sie mussten daher in der Entwicklung ihres Liebesideals weitaus weniger auf real gegebene Sachzwänge und praktische, existenzsichernde Notwendigkeiten des Lebens Rücksicht nehmen, als dies z.B. eine am Existenzminimum lebende Arbeiterschaft gemusst hätte. Ebenso mussten sie bei der Wahl ihrer Ehepartner auch weniger dynastische-familiäre Interessen berücksichtigen. Gleichzeitig leistet die in diesen Kreisen entstandene und propagierte Idee der Liebesehe auch etwas für die sinnhafte Ausdeutung der eigenen Lebenssituation der Zirkelmitglieder: Viele Mitglieder des Jenaer Kreises waren vor ih-

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rer »Liebesheirat« in Konvenienz- oder Vernunftehen verheiratet (vgl. Schenk 1987: 127ff.). Die Propagierung des neuen Liebesideals legitimierte also zugleich auch ihre eigene Lebenssituation. Die Interpretation der Deutungsproduzenten ist also nie reiner Selbstzweck, sondern immer auch bis zu einem gewissen Teil von den sozialstrukturell bedingten Interessen und den Soziallagen der Deutenden mitbestimmt. Dies zeigt sich bei einem Blick in benachbarte europäische Länder: In kaum einem anderen Land hatte die Aristokratie einen so großen Einfluss auf die verschiedensten Aspekte der Kultur wie in Frankreich. Für Frankreich lässt sich daher eine sehr starke positive Orientierung des entstehenden Bürgertums an den Werten, Ideen, Lebensführungsmustern und Verhaltensweisen des Adels beobachten. Diese »Aristokratisierung des großen Bürgertums« (Münch 1986: 631) führte dazu, dass die Bourgeoisie im Hinblick auf die von ihm favorisierte Interpretation der Liebe sich wesentlich ausgeprägter an der höfischen Vorstellung der amour passion orientierte. Liebe ist hier Leidenschaft und gleichbedeutend mit einer Krankheit, einem Ausnahmezustand oder einem alles verzehrenden Feuer (vgl. Luhmann 1982: 71). Der Liebende ist »verrückt« nach der geliebten Person und er leidet, solange er nicht in seinem Lieben erhört wird. Diese Orientierung an der adeligen Vorstellung der amour passion hat Auswirkungen für das Verständnis von Liebe als dauerhafter Liebe und lebenslanger Ehe (vgl. Münch 1986: 638ff.). Da die Liebe zu einer Person entsteht, brennt, lodert und mit der Zeit verglüht, gleicht sie einem Strohfeuer. Liebe als Liebe hat zwar Bestand, nicht aber die Liebe zu dieser einen besonderen Person. Liebe zu einer bestimmten Person ist in dieser Interpretation nicht auf Dauerhaftigkeit ausgelegt und für die Ewigkeit bestimmt. Es ist naheliegend, dass die so verstandene Liebe in einer formell gestalteten Ehe nur schwer einen Platz findet. Die Interpretation der Ehe im Sinne der Gleichsetzung von Liebe und lebenslanger Ehe, wie sie in der Interpretation der deutschen Romantik vorherrschend war, findet sich deshalb in Frankreich nicht. Vielmehr ist die Ehe im Französischen als eine »Schicksalsgemeinschaft« im Kontext der Semantik zur Familie angesiedelt und dem Bereich der Routine zugeordnet, der maßgeblich von den Normen der standesgemäßen Heirat und von geschäftlichen Interessen bestimmt ist (vgl. Grutzpalk 2000: 61). Dieses kurze Beispiel zeigt, dass zwar die Ideen des Ideenkomplexes der romantischen Liebe in Europa kaum variieren, wohl aber ihre unterschiedliche Bewertung und Zusammensetzung. Im Hinblick auf die Interpretation kann man also durchaus national bestimmte Kontexte differenzieren, die zwar alle im gleichen Entwicklungszusammenhang hin zu einer Moderne stehen, sich aber in Abhängigkeit von der sozialen Zugehörigkeit der Deutungsproduzenten unter-

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scheiden: die Mitglieder des Bildungsbürgertums in Deutschland, in Frankreich das an aristokratischen Werten, Empfindungen und Vorstellungen interessierte (Wirtschafts-)Bürgertum (vgl. Grutzpalk 2000: 45ff.). Der Wirkungszusammenhang von Ideen Mit den Fragen nach dem Wirkungszusammenhang von Ideen rücken der Adressatenkreis und der Geltungskontext von Ideen in den Fokus der Analyse. Der Adressatenkreis von Ideen bezieht sich dabei auf die soziale Dimension der sinnhaften Interpretation des obersten Wertes. 12 Die Produzenten der Interpretationen müssen nicht mit dem Adressatenkreis der Ideen identisch sein, so richten sich z.B. eine Vielzahl religiöser Ideen an die Gesamtheit der Gläubigen. Auch wenn die Produzenten historisch oft eine Teilmenge der Adressaten sind, können Ideen auch gegenüber einem Adressatenkreis Geltung beanspruchen, der von den Interpretationsproduzenten differiert. So entwickelten die meist zölibatär lebenden, christlichen Interpreten religiöser Ideen (Mönche, Priester) Vorstellungen zur Sexualität, von denen Sie selbst ausgenommen waren. Neben dem Adressatenkreis von Ideen ist für deren »Wirken« auch die Ausdifferenzierung eines Geltungskontextes in der sachlich-situativen Dimension der sinnhaften Interpretation des Wertes entscheidend. Der Geltungskontext von Ideen erstreckt sich dabei auf ganze Aktivitäts- oder Lebensbereiche, d.h., Ideen beanspruchen immer gegenüber ganzen Klassen von Situationen Geltung. Neben dem Adressatenkreis ist für den Wirkungszusammenhang von Ideen von entscheidender Bedeutung, welche Lebensbereiche als relevant für die Ideenverwirklichung positiv ausgewählt bzw. welche als nicht relevant negativ abgewählt werden. Der Geltungskontext bezieht sich auf die Kontextbestimmung der Gültigkeit von Ideen. Hier ist entscheidend, inwieweit der Geltungskontext aus anderen Situationen ausgegliedert wird. Je diffuser die Situation im Hinblick auf die in ihr geltenden Ideen, desto mehr wird die Orientierungskraft einer Idee durch andere Ideen gebrochen und/oder geschwächt (vgl. Lepsius 1996: 59). Auch in Bezug auf den Ideenkomplex der romantischen Liebe wird ein Geltungskontext ausdifferenziert, für den die Ideen Geltung beanspruchen. Im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung kommt es vor allem im Bürgertum und der Industriearbeiterschaft zu einer Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte. Es setzt ein Prozess der zunehmenden Dekomposition des »ganzen Hauses« in pri-

12 Zu den verschiedenen Dimensionen von Sinn und deren unterschiedlichen Differenzierungspotenzialen vgl. Luhmann 1984: 111ff.

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vate, häusliche Lebensbereiche 13 einerseits und die Berufs- und Arbeitswelt ein. Das Liebespaar und die Kernfamilie beginnen sich immer mehr von der Nachbarschaft und der weiteren Verwandtschaft, von der dörflichen oder städtischen Gemeinschaft in die neu entstehende Privatheit zurückzuziehen. Das bürgerliche Heim gewinnt zusehends den Charakter eines Refugiums, in das man sich vor den Rationalitätszumutungen und den Konkurrenzkämpfen vor allem der wirtschaftlichen Sphäre zurückziehen kann. Aber der entstandene Geltungskontext des Privatraums grenzt sich nicht nur nach außen von anderen Sphären und Bereichen ab, auch nach innen differenziert er sich aus: Es kommt zu einer zunehmenden Abgrenzung der geschlechtlichen Liebesbeziehung und der familiären Beziehungen (Eltern-Kind) von nicht- verwandten Personen – Gesinde, Lehrlinge, Gesellen, Hausangestellte –, die im vorindustriellen »ganzen Haus« nicht nur Teil der Hausgemeinschaft gewesen waren, sondern auch denselben Status gehabt hatten wie Familienmitglieder (vgl. Schenk 1987: 150f.).

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Während bei den Fragen nach dem Begründungszusammenhang die zwischen dem Wert und den Ideen vermittelnden Prozesse der Interpretation im Zentrum der Analyse stehen, verweisen die Fragen nach dem Wirkungszusammenhang von Ideen auf den Prozess der Institutionalisierung und das Problem der Handlungskoordination. Vereinfacht gesagt, besteht das Problem der Handlungskoordination darin, dass vor dem Hintergrund doppelter Kontingenz Akteure in sozialen Beziehungen in die Lage versetzt werden müssen, begründete Erwartungen über die Handlungsorientierungen und das wahrscheinlich zu erwartende Handeln Alters ausbilden zu können, um ihre eigene Handlungswahl daran orientieren zu können. Durch den Prozess der Institutionalisierung werden aus den Ideen Handlungsregeln, Verfahren und Standards gewonnen, die die intersubjektiven Erwartungen strukturieren und Handlungen in spezifischen Kontexten systematisieren. Institutionalisierung verwahrscheinlicht so die erfolgreiche Handlungskoordination und ermöglicht dadurch Ordnungsbildung. Der Prozess der Institutionalisierung verbindet die Ebene der Ideen mit der Ebene der handlungsleitenden Regeln und kreist um die Fragen, unter welchen Bedingungen Ideen die Chance haben, zu Handlungsmaximen für eine Vielzahl von Akteuren zu werden und

13 In dessen Verlauf das Wort ›häuslich‹ eine ganz andere Bedeutung bekommt, als es noch im Kontext des »ganzen Hauses« hatte.

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wie Ideen in welchen Handlungskontexten bis zu welchem Grade verhaltensstrukturierend wirken (vgl. Lepsius 1995: 395). Während der Prozess der Interpretation sich auf die kulturelle Analysedimension der Sphärenbildung bezieht, fokussiert der Prozess der Institutionalisierung damit die strukturelle Dimension der Ordnungsbildung. Ordnungen sind überindividuelle, durch typisch gleichartig gemeinten Sinn der Akteure bedingte Muster sozialer Beziehungen, die im Zeitverlauf relativ stabile Regelmäßigkeiten aufweisen (vgl. Weber 1980: 14f.). Der typisch gleichartig gemeinte Sinn ist seinerseits durch die Orientierung der Akteure an Handlungsregeln bedingt. Im Hinblick auf die Prozesse der Institutionalisierung und der Ordnungsbildung ist also entscheidend, inwiefern aus den Ideen überhaupt praktisch anwendbare Verhaltensregulierungen gewonnen werden, die das geforderte Handeln spezifizieren (vgl. Lepsius 1995: 395). Handlungsregeln unterscheiden sich dabei nicht nur ihrem Inhalt nach, sondern zugleich auch ihrem Spezifikationsgrad nach. Damit Ideen in Handlungsmaximen, die die Chance auf Nachachtung bei einer Vielzahl von Akteuren haben, institutionalisiert werden, bedürfen sie einer Sanktionsinstanz. Diese Sanktionsinstanz setzt den Geltungsanspruch von Ideen durch und verteidigt diesen. Art und Stärke der Sanktionen unterliegen dabei selbst einem Institutionalisierungsprozess. Idealtypisch lassen sich Konventionen, bei denen die Sanktion die Form der Missbilligung hat und die Sanktionsinstanz das soziale Nahumfeld ist, von Rechtsnormen, bei denen die Sanktion die Form des psychischen oder physischen Zwanges durch einen organisierten Erzwingungsstab hat, unterscheiden. Der Übergang von Konventionen zu Rechtsnormen markiert dabei einen Schwellenwert der Institutionalisierung, in Hinblick auf den sich verschiedene Institutionalisierungsgrade der Sanktion unterscheiden lassen. Entscheidende Kriterien sind dabei: die Herausbildung von Sanktionsinstanzen, die Monopolisierungen der Sanktionsgewalt durch diese Instanzen, die Existenz eines Erzwingungsstabs, förmliche Verfahrensweisen der Feststellung von Normbrüchen, die Normierung der Sanktionsinhalte im Verhältnis zu den Normbrüchen und die Kodifizierung solcher Normierungen (vgl. Popitz 1980: 32). Für den Prozess der Institutionalisierung von zentraler Bedeutung ist ebenfalls, dass sich eine Trägerschicht für die Institutionalisierung der Ideen herausbildet. Trägerschichten unterscheiden sich von dem Adressatenkreis der Ideen dadurch, dass sie ein vitales Interesse an der Durchsetzung der Ideen, d.h. der Institutionalisierung dieser Ideen in Handlungsregeln haben. Dieses Interesse ergibt sich daraus, dass Ideen einen Leistungsbezug für die sozialstrukturell bedingten Interessen der Trägergruppe haben. Im Prozess der Institutionalisierung

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findet daher nicht nur der Sinngehalt der zu institutionalisierenden Idee Eingang in die Handlungsregel, sondern stets auch die Interessen der Trägerschicht der Institutionalisierung. Handlungsregeln realisieren somit nie den vollständigen Sinngehalt der Ideen, sondern sind »Konglomerate« aus Ideen und Interessen und insofern gegenüber den Ideen selektiv. Der entscheidende Effekt der Institutionalisierung liegt in der Tatsache begründet, dass die Befolgung der Handlungsregeln bis zu einem gewissen Grad unabhängig von kontingenten Motivlagen gemacht wird. Nur sehr wenige Akteure, wie z.B. die Interpretationsproduzenten, sind in der Lage und willens, ihr Handeln beständig an Ideen und Idealen auszurichten. Die Motivationskraft von Werten und Ideen ist im Hinblick auf die Quantität der durch sie zu motivierenden Akteure begrenzt. Auch wenn die Intensität der erzeugten Motivation immens ist, ist die Anzahl der rein durch die Orientierung an Werten und Ideen zu motivierenden Akteure gering. 14 Institutionalisierung als der Prozess der Ausbildung von Handlungsregeln, die kontrafaktisch durch Sanktionen stabilisiert sind, macht die Befolgung der Regeln und damit die Orientierung an Ideen und Wert von situativ kontingenten Motiven der Akteure unabhängiger. Ob der Akteur die Regel aus traditionaler Gewöhnung, aus zweckrationalem Kosten-Nutzen Abwägungen, oder aus wertrationalem Glauben heraus befolgt, ist für die faktische Befolgung der Regeln und damit für die Ordnungsbildung zweitrangig. Der Prozess der Institutionalisierung wird damit zu einer notwendigen Voraussetzung für die Inklusion großer Teile der Bevölkerung in die erotische Wertsphäre. Die Institutionalisierung des Ideenkomplexes der romantischen Liebe Mit der analytischen Unterscheidung von Wert, Ideen und Handlungsregeln und den beiden vermittelnden Prozessen der Interpretation und der Institutionalisierung wird deutlich, dass die Institutionalisierung der Ideen der (literarischen) Interpretation zeitlich nachgeordnet ist. Zugleich muss beachtet werden, dass der Ideenkomplex der romantischen Liebe nicht zeitgleich und nicht in allen seinen Aspekten Niederschlag in beziehungsbezogenen Handlungsregeln, seien diese

14 Max Weber schreibt dazu in seinen Soziologischen Grundbegriffen: »Stets ist (im Sinn unserer Terminologie) wertrationales Handeln ein Handeln nach ›Geboten‹ und ›Forderungen‹, die der Handelnde an sich gestellt glaubt. Nur soweit menschliches Handeln sich an solchen Forderungen orientiert, – was stets nur in einem verschieden großen, meist ziemlich bescheidenen, Bruchteil der Fall ist, – wollen wir von Wertrationalität reden.« (Weber 1980: 12f.)

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konventioneller oder rechtlicher Art, gefunden hat. Die beziehungsrelevanten Orientierungsvorgaben des literarisch entwickelten Ideenkomplexes werden über verschiedene Institutionalisierungsniveaus auf der Ebene der Handlungsregeln umgesetzt. Die folgende Darstellung orientiert sich dabei an der oben ausgeführten Differenzierung von Handlungsregeln als Konventionen und Rechtsnormen, der Herausbildung einer Trägerschicht und Durchsetzung des Geltungsanspruchs mittels einer (organisierten) Sanktionsinstanz. Um die Inklusionseffekte zu realisieren, bedürfen Handlungsregeln und die durch sie institutionalisierten Ideen einer Sanktionsmacht, die ihren Geltungsanspruch durchsetzt und verteidigt. Art und Stärke der Sanktionen sind ein Element des Institutionalisierungsprozesses. Für Rechtsnormen, also solche Normen, für deren Geltendmachung ein Erzwingungsstab eintritt, der mithilfe psychischen und physischen Zwanges Folgebereitschaft erzwingt, lässt sich im Hinblick auf die Ehe eine historische Veränderung der Sanktionsinstanz beobachten. Von der europäischen Antike bis in das Mittelalter war die Eheschließung fest in die ökonomischen, politischen oder dynastischen Interessen der beteiligten Familienverbände eingeschlossen. Aber spätestens in der frühen Neuzeit hat sich die (katholische) Kirche und das kanonische Recht in allen (katholischen) Ländern Europas durchgesetzt. Die Kirche beansprucht das Jurisdiktionsmonopol: Nur sie definiert die rechtlichen Voraussetzungen gültiger Ehen, nur sie alleine konnte Ehen für ungültig erklären und damit den Weg für eine Wiederverheiratung freigegeben. Die primäre rechtliche Zuständigkeit für (katholische) Ehen und Ehekonflikte lag bei kirchlichen Instanzen, lediglich die Frage der Gütertrennung und der Versorgungspflichten wurde in der Regel weltlichen Gerichten überlassen (vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003: 541ff.). Allerdings tritt der sich herausbildende Staat in seinem Bestreben, die legitime Anwendung physischer Gewaltsamkeit zu monopolisieren, sehr bald in Konkurrenz zur Kirche. Eine gewisse Zeit hält sich staatlicher und kirchlicher Kontrollanspruch die Waage: Im Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 wird die Ehe zwar als ein vertragsrechtliches Verhältnis definiert, bei dem der Staat die Gerichtsbarkeit über Eheangelegenheiten, wie die Ehescheidung, innehält. Gleichzeitig wurden aber nur solche Ehen als gültige Ehen betrachtet, die zuvor kirchlich getraut wurden. 1875 wird dann die staatlich getraute Zivilehe in ganz Deutschland verbindlich, die kirchliche Trauung hingegen fakultativ (vgl. Schenk 1987: 146ff.). In Frankreich wurde bereits mit der Französischen Revolution 1792 und dann durch den Code civil 1804 das Eherecht säkularisiert und die Zivilehe als die allein rechtlich gültige Ehe eingeführt. Der Code civil und damit die staatliche Zivilehe galt auch während weiten Teilen des 19. Jahrhunderts für viele linksrheinische Gebiete (»Rheinisches Recht«). Die Rechtsinstitution der Ehe geht damit,

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was ihren formalen Beginn, die Hochzeit, ihre rechtliche Ausgestaltung des Verhältnisses der Ehegatten, als auch das Scheidungsrecht angeht, vollständig in den Zuständigkeitsbereich des Staates über, der damit zur alleinigen Sanktionsinstanz wird. Die Trägergruppe der Institutionalisierung ist das Bildungsbürgertum am Anfang des 19. Jahrhunderts, also Beamte, Gelehrte, Künstler aber auch Kaufleute und Unternehmer. Um 1800 befand sich das Bürgertum in der prekären sozialen Situation einer mangelnden Integration in eine umfassende Sozialordnung. »Die Ideen [der romantischen Liebe] hatten für das Bürgertum die Funktion, neue Stützen des Daseins zu schaffen, die seine Lage erträglich machten« (Rosenbaum 1982: 308, [Anm.] UB). Die Propagierung des neuen romantischen Liebesideals war damit ein Teil des Prozesses der Selbstverständigung des Bürgertums und der Konstituierung des Bürgertums als sozialer Klasse. Insofern war der Entwurf des neuen Liebesideals Bestandteil der Legitimierung des sozialen und politischen Führungsanspruches, mit dem man sich gegenüber dem als dekadent diskreditierten Adel und der einfachen Arbeiterschaft, dem Pöbel distanzieren konnte. Der Ideenkomplex war in dieser Hinsicht also auch ein Vehikel, an das sich die Interessen großer Teile des Bürgertums anhaften konnten. Aber selbst in der Trägerschicht des Bürgertums benötigten die Ideen der romantischen Liebe relative lange Zeit, um institutionalisiert, also um zu Handlungsregeln mit dem Anspruch auf Geltung zu werden. Dies kann man an der Norm der Liebesheirat beobachten: Die Verbindung der Ideen von Liebe und Ehe fordert auf der Handlungsebene von den Akteuren, den Partner zu wählen und zu heiraten, zu dem man sich affektuell und sexuell hingezogen fühlt, den man also liebt. Hier lässt sich historisch eine Veränderung von elternarrangierten (Zwangs-)Ehen, bei denen objektiv-sachlich Kriterien die Partnerwahl dominierten, über Konvenienz- oder Vernunftehen, bei denen die Eltern ein Mitspracheund Vetorecht besaßen, zu der auf freier, selbstbestimmter und gegenseitiger Liebe beruhenden Neigungsehe, feststellen. Für die Interpretation der Liebe als Ehe und die daraus folgende Norm der Liebesheirat als eine Konvention zeigt Borscheid (1983), dass selbst im Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts die Ehe nicht einfach von objektiv-sachlichen Überlegungen entkoppelt und für die romantische Liebe als Eheschließungsmotiv freigegeben wurde. Das Bildungsbürgertum und erst recht das Wirtschaftsbürgertum ab der Mitte des 19. Jahrhunderts favorisierte die »vernünftige Liebe«, die einerseits die affektuelle Zuneigung zu dem zukünftigen Ehepartner betont, aber zugleich offenbleibt für die Abwägung materieller Vor- und Nachteile der Eheschließung. Dies zeigt sich auch auf der Ebene der Rechtsnormen: Noch im BGB von 1900 wurde der Bedeutung von Geld- und Mitgiftheiraten im Bürgertum Rechnung getragen, indem

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es den Besitzstand der Familien mithilfe des Besitzrechtsregisters – ähnlich dem Grundbuch – für jedermann einsehbar machte. Damit sollten Mesalliancen oder die Vorspiegelung falscher Tatsachen unterbunden werden. Heute ist die Norm der Liebesheirat soweit institutionalisiert, dass Zwangsehen (in Deutschland seit 2005 bzw. 2011 mit eigenem Gesetz) und Scheinehen gesetzlich verboten und Zweckehen bzw. Vernunftehen moralisch diskreditiert sind. Die zunehmende Institutionalisierung der Norm der Liebesheirat offenbart sich aber nicht nur bei den Eheschließungen, sondern ebenfalls bei der Ehescheidung. Seit der Umstellung des Ehescheidungsgesetzes von dem Schuldprinzip auf das Zerrüttungsprinzip im Jahre 1976 gelten auch die Abwesenheit von Liebe und das damit einhergehende Scheitern einer Ehegemeinschaft als Scheidungsgrund. Zuvor musste die Schuld eines der Ehepartner am Scheitern der Ehe, z.B. durch Ehebruch, nachgewiesen werden. In Frankreich wurde bereits mit dem, im Zuge der Französischen Revolution, im Jahr 1792 eingeführten Eherecht die Ehe als privatrechtlicher Vertrag ohne religiöse Dignität konzipiert. Den Partnern stand es im Prinzip frei, den Ehevertrag wieder zu lösen: Stimmten die Partner überein, konnte die Ehe geschieden werden und bei »Unvereinbarkeit der Gemüter und Charaktere« war dies auch auf einseitigen Wunsch eines Ehegatten möglich (Gestrich/Krause/Mitterauer 2003: 548). Durch diesen »Unvereinbarkeitsverdacht« wurde das Zerrüttungsprinzip vorweggenommen und die Ehe nicht mehr »als eine auf Dauer angelegte Zeugungs- und Hilfsgemeinschaft« angesehen (Schwab 1967: 219). Allerdings wurde dieses liberale Scheidungsrecht der Revolution bereits 1804 durch den Code civil wieder in Teilen zurückgenommen, vor allem die einseitige Aufkündigung der Ehe bei mangelnder Übereinstimmung wurde nun verwehrt (Gestrich/Krause/Mitterauer 2003: 548). Letztlich dauerte es in Frankreich bis ins Jahr 1975, als das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip abgelöst wurde und eine Scheidung in gegenseitigem Einverständnis aufgrund der Abwesenheit von wechselseitiger Liebe möglich wurde. Auch die Idee der Dauerhaftigkeit der Liebe und der durch sie begründeten, lebenslangen Ehe benötigte mehr als hundert Jahre, bevor sie rechtlich verankert wurde: Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 war der Hauptzweck der Ehe die Erzeugung und Erziehung von Kindern, insofern sah die Ehescheidungsgesetzgebung neben anderen Scheidungsgründen wie Ehebruch, Gewalttätigkeit, Trunkenheit, Verschwendung usw. eine Scheidung bei Kinderlosigkeit (in gegenseitigem Einvernehmen) der Ehe vor. Die Ehescheidungsgesetzgebung des Allgemeinen Preußischen Landrechts war damit gegenüber der des BGBs von 1900 weitaus liberaler und großzügiger. Durch die Abkehr von der im Allgemeinen Preußischen Landrecht vorgesehenen, einvernehmlichen Scheidung und die Einführung des Schuldprinzips wurde die Scheidung im BGB von 1900

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maßgeblich erschwert und der Idee der Dauerhaftigkeit der Liebe und der durch sie begründeten Ehe Ausdruck gegeben (vgl. Schenk 1988:97ff). Nach wie vor gilt die Ehe im deutschen Recht als ein Kontrakt auf Lebenszeit, d.h., es gilt der Grundsatz der lebenslänglichen Ehe. Eine durchaus ähnliche Entwicklung lässt sich auch für Frankreich feststellen: Die im Rahmen der Französischen Revolution, 1792 eingeführte liberale Ehescheidungsgesetzgebung wurde ansatzweise im Code civil von 1804 durch Napoleon zurückgenommen. Nach dem Sturz Napoleons und der nachfolgenden Restauration wurde die Ehe dann als eine auf Dauer angelegte, lebenslange Verbindung betrachtet, die nicht durch Scheidung aufgelöst werden konnte. Erst 1884 kehrte man in Frankreich dann wieder zu der Gesetzgebung des Code civil zurück (vgl. Gestrich/Krause/Mitterauer 2003: 548). Ähnlich verhält es sich mit der Idee der Individualität und der Idee der Androgynität von Liebe. Mahlmann (1991) analysiert 29 nicht-konfessionelle Eheratgeber aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert. In diesen Ratgebern werden ähnlich der Responsen Literatur, die Weber in der Protestantischen Ethik untersucht, konventionelle Handlungsregeln formuliert, die für die Ratsuchenden in ihrer Situation umsetzbar sind. Entgegen dem literarischen Ideal, das keine Vorsorge für den Beziehungsalltag trifft, handelt es sich dabei um Handlungsmaximen, die Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse der Liebenden nehmen. Hier zeigt sich, dass bis in die Nachkriegszeit die geliebte Person nicht in ihrer Individualität begriffen wird, sondern eine Orientierung an den Geschlechtscharakteren vorherrscht. Es steht »nicht die individuelle Person im Zentrum, sondern die Person in ihrer Gattungsqualität als Mann oder Frau und speziell als Gatte und Gattin« (Mahlmann 1991: 291). Gleiches lässt sich für die Idee der Androgynität sagen. Die Idee der Androgynie, also der Ungeschlechtlichkeit der Liebe, fand lange Zeit keinen Niederschlag in rechtlichen Regeln. Auf der Ebene der Handlungsregeln war die romantische Liebe in Deutschland bis Anfang dieses Jahrhunderts mit rechtlichen Regeln verbunden, die vielmehr an der Idee der polaren Geschlechtscharaktere orientiert waren. Nach der in der Mitte des letzten Jahrhunderts beginnenden Entkriminalisierung der Homosexualität dauerte es bis in das Jahr 2001, bis der Ehe, als dem Rechtsinstitut für gegengeschlechtliche Beziehungen, in Form des Lebenspartnerschaftsgesetzes ein Rechtsinstitut für gleichgeschlechtliche Beziehungen an die Seite gestellt wurde. Auch wenn die eingetragene Lebenspartnerschaft der Ehe nicht in allen Aspekten rechtlich gleichgestellt ist, so kann man dies doch als den institutionellen Ausdruck der Idee der Androgynie der Liebe verstehen. An diesen wenigen Beispielen erkennt man, dass der Prozess der Institutionalisierung anderen Gesetzmäßigkeiten folgt als der Prozess der Interpretation.

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Insofern stellt er eine eigene Dimension der Analyse dar, die nicht mit der der Interpretation gleichgesetzt werden darf.

D AS

INTEGRATIVE P OTENZIAL DES M EHR -E BENEN -A NSATZES Der oben vorgestellte Mehr-Ebenen-Ansatz zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass man mit ihm in der Lage ist, das Phänomen der »Liebe« und mit ihr die Ausdifferenzierung der erotischen Wertsphäre differenziert zu erfassen und zu analysieren. Vielmehr ist er auch in der Lage, scheinbar heterogene Befunde zum Thema »Liebe« und scheinbar widersprüchliche Thesen bezüglich der Veränderung romantischer Liebe zu integrieren. In der soziologischen Literatur findet man widersprüchliche Thesen hinsichtlich der historischen Etablierung und dem Durchbruch romantischer Liebe: Luhmann (1982) und Tyrell (1987) verorten diesen um das Jahr 1800, wohingegen Borscheid (1983) und Mahlmann (1991) zu dem Ergebnis kommen, dass von einem Durchbruch und Kulturerfolg der romantischen Liebe bis mindestens zum Beginn des 20. Jahrhunderts keine Rede sein kann. Ausgehend von der Annahme, dass der Roman ab dem 17. Jahrhundert zu einem zentralen »Lern- und Orientierungsfaktor in Liebesangelegenheiten« wird, untersucht Luhmann vor allem Romanliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts (vgl. Luhmann 1982: 12). Ein zentrales Ergebnis dieser Semantikstudien ist, dass die spezifische romantische Liebesemantik um 1800 zum Durchbruch kommt und ab da beginnt, ein System für Intimbeziehungen zu begründen. Erst in der Fassung der romantischen Liebe wird der Code der Liebe reflexiv. Durch diese semantische Verschiebung gelingt es dem Kommunikationsmedium »Liebe«, einen Kommunikationszusammenhang selbstreferentiell zu schließen. Diese operative Schließung ermöglicht dann die Ausdifferenzierung eines Systems für Intimbeziehungen. Zeitgleich mit der Ausdifferenzierung eines Systems für Intimbeziehungen setzt eine mediale Verbreitung der romantischen Liebe ein, die zu einer »Demokratisierung der Liebe im Sinne einer für alle gleichermaßen bereitgehaltenen Möglichkeit« (Luhmann 1982: 175) führt. Die damit einhergehende Inklusion großer Teile der Bevölkerung führt zu dem von Tyrell diagnostizierten ungeheuren Kulturerfolg der romantischen Liebe seit dem 19. Jahrhundert (vgl. Tyrell 1987: 591). Dieser These eines historisch frühen Durchbruchs und Kulturerfolges der romantischen Liebe und mit ihr der Ausdifferenzierung eines Systems für Intimbeziehungen stellen sich Borscheid (1983) und Mahlmann (1991) entgegen. Ausgehend von der Annahme, dass die Eheratgeberliteratur als eine Art

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»Transmissionsriemen« zwischen dem romantischen Ideal und der Handlungspraxis dient, untersucht Mahlmann 29 Eheratgeber aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert daraufhin, inwiefern in ihnen Aspekte des romantischen Liebesideals in situativ umsetzbare Handlungsmaximen transformiert werden. Ein zentrales Ergebnis ihrer Studie ist, dass die romantische Liebe »wie sie in der Literatur propagiert wurde, in den Ratgebern keine Protagonisten fand« (Mahlmann 1991: 287f.). Im Hinblick auf die Idee der Individualität als ein zentraler Teil des romantischen Ideenkomplexes kommt Mahlmann zu dem Schluss, dass »nicht die individuelle Person im Zentrum, sondern die Person in ihrer Gattungsqualität als Mann oder Frau und speziell als Gatte und Gattin« (Mahlmann 1991: 291), also die Orientierung der Ehepartner an geschlechtsspezifischen Rollen, steht. Borscheid (1983) konzentriert sich in seiner Untersuchung auf den Aspekt des romantischen Leitbildes, dass Liebe, verstanden als affektiv-sinnlich-sexuelle Zuneigung, zum einzigen legitimen und motivierenden Grund der Partnerwahl und der Eheschließung wird. Bei der Durchsicht des Beibringens-Inventars 15 der württembergischen Stadt Nürtingen, von 1800 bis 1900, stellt er keine wesentliche Veränderung des Partnerwahlverhaltens fest. Er kommt zu dem folgenden Schluss: »Die ausschlaggebende Bedeutung sachlicher Kriterien bei der Partnerwahl hielt über das gesamte 19. Jahrhundert an« (Borscheid 1983: 127), und weiter: »Geld und ›eine gute Partie‹ waren trotz Romantik und neuem Eheideal eindeutig vorrangige Ziele, wenn man sich im 19. Jahrhundert auf den Heiratsmarkt begab« (Borscheid 1983: 129). Beide kommen, entgegen Luhmann, zu dem Schluss, dass von einem Durchbruch und Kulturerfolg der romantischen Liebe frühestens ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts gesprochen werden kann. Die beiden Thesen hinsichtlich des historischen Durchbruchs und dem Kulturerfolg der romantischen Liebe scheinen sich auf den ersten Blick zu widersprechen. Dieser Widerspruch löst sich aber auf, wenn man beachtet, auf welchen analytischen Ebenen des oben vorgestellten Mehr-Ebenen-Modells die Autoren argumentieren. Luhmann argumentiert im Wesentlichen auf den beiden Ebenen von Wert und Ideen und dem die beiden Ebenen vermittelnden Prozess der Interpretation. In seiner differenzierten Analyse der Ideengeschichte zeichnet er anhand ausgewählter Romanliteratur die semantische Ausgestaltung des Wertes, also den Begründungszusammenhang der Ideen, nach. Welche soziale Reichweite und Verhaltens- bzw. Kommunikationsrelevanz diese neuen Ideale

15 Bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches, 1900, wurden aus Gründen des Erbrechtes Bürger verpflichtet, bei der Heirat ein detailliertes Verzeichnis des gesamten Besitzes, das sog. Beibringens-Inventar, den Mann und Frau, jeder für sich in die Ehe einbrachten, anfertigen zu lassen.

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in der Wirklichkeit erlangten und ob sie auf der Ebene der Handlungsregeln auch praktiziert wurden, darauf gibt Luhmann keine Antwort. Er versteht seine Studie »Liebe als Passion« als eine wissenssoziologische Semantikstudie und insofern stellt sich auch die Frage nach der direkten Handlungsrelevanz der Ideen für ihn erst einmal nicht (Luhmann 1982: 9). Mahlmann und Borscheid argumentieren demgegenüber für ihre These eines wesentlich späteren Durchbruchs des romantischen Liebesideals auf einer anderen Ebene als Luhmann: Sie fokussieren auf die Ebenen der Ideen und der Handlungsregeln sowie der zwischen diesen Ebenen vermittelnden Prozesse der Institutionalisierung. Ihr Erkenntnisinteresse richtet sich auf die Handlungsrelevanz der Ideen, ihre Ausgestaltung zu Handlungsregeln und ihre konkrete Gestaltung in bestimmten Kontexten für bestimmte Trägerschichten. In der Verortung in dem an Weber orientierten MehrEbenen-Modell verwundern die unterschiedlichen Befunde nicht. Im Gegenteil – sie lassen sich in das Modell integrieren: Prozesse der Interpretation folgen anderen Logiken als solche der Institutionalisierung. Die direkte Umsetzung der in Interpretationsprozessen gewonnenen Ideen ist zumeist nur für eine elitäre Minderheit möglich. Handlungsregeln, zumindest wenn sie mit dem Anspruch der Geltung gegenüber einer größeren Gruppe ausgestattet werden sollen, müssen gegenüber den Ideen immer auch die praktischen Bedürfnisse und Lebenssituationen der Akteure berücksichtigen. 16 Daraus folgt, dass die Ausbreitung von Handlungsregeln immer sozialstrukturelle Gegebenheit zur Voraussetzung hat, die für die verschiedenen sozialen Milieus und Gesellschaftsklassen zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich sind. Prozesse der Interpretation zeigen eben andere Dynamiken als Prozesse der Institutionalisierung und beide müssen nicht immer parallel laufen, sondern können gegeneinander variieren. Beide Prozesse können deswegen auch in relativer Unabhängigkeit voneinander analysiert werden und je nachdem, wo der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses liegt, unterschiedliche Ergebnisse zutage fördern. Auch zur Veränderung der romantischen Liebe lassen sich scheinbar gegensätzliche Thesen in der Literatur finden: Der These des Niedergangs der romantischen Liebe von Niklas Luhmann steht die These der Bedeutungssteigerung der romantischen Liebe von Ulrich Beck gegenüber. Luhmann ist der wohl prominenteste Vertreter einer These des Niedergangs der romantischen Liebe. Ihm zufolge wird im Verlauf der »Demokratisierung der Liebe im Sinne einer für alle gleichermaßen bereitgehaltenen Möglichkeit« (Luhmann 1982: 175) der romantische Ideenkomplex trivialisiert. Die verstärkte

16 Weber spricht in diesem Zusammenhang in der Religionssoziologie davon, dass die Ideen für die Gläubigen etwas »leisten« müssen.

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mediale Verbreitung des romantischen Liebesideals verschärft diesen Trend zur Trivialisierung noch weiter. Einerseits ist diese Trivialisierung notwendige Voraussetzung für die Inklusion der gesamten Bevölkerung in das Intimsystem, da nur wenige in der Lage sind, sich an den anspruchsvollen Anforderungen des »ursprünglichen« romantischen Liebescodes zu orientieren. Andererseits führt die Trivialisierung des romantischen Liebesideals zu einem stereotypisierten, auf wenige Merkmale reduzierten romantischen Ideenkomplex, zu einer Art »kleineLeute-Romantik«, die schon »durch Konsum von Buch und Film befriedigt werden kann« (Luhmann 1982: 190). Gleichzeitig findet aber auch eine Überhöhung der romantischen Liebe statt. »Nur wenige zwar können danach leben, aber alle können davon träumen.« (Luhmann 1982: 191) Trivialisierung, Stereotypisierung und Überhöhung führen dazu, dass die romantische Liebessemantik ihre Funktion, geschlechtliche Liebesbeziehungen zu begründen und zu stabilisieren, nicht mehr erfüllen kann. Dies begründet den Niedergang der Romantik und leitet schließlich den Umbruch zu einer sich neu entwickelnden Semantik der Intimität ein. In einer funktional differenzierten Gesellschaft als einer Umwelt von ständig wechselnden, unpersönlichen Beziehungen beruht diese neue Semantik der Intimität auf der Differenz von unpersönlichen und persönlichen Beziehungen und thematisiert das Problem, »einen Partner für eine Intimbeziehung finden und binden zu können« (Luhmann 1982: 197). Ulrich Beck hingegen attestiert der modernen Gesellschaft eine immense Bedeutungssteigerung der romantischen Liebe (vgl. Beck 1990: 220ff.). Trotz beständiger Enttäuschungen, potenzierten Anforderungen und gestiegenem Konfliktpotential bleibt es dem Menschen der modernen Gesellschaft wichtig, zu lieben. Unter der Bedingung moderner, enttraditionalisierter und individualisierter Verhältnisse stellt die Liebe einen »postchristlichen, innermodernen« und »nachtraditionalen Sinn« bereit, der die innerweltliche Erfüllung, Befreiung und Erlösung im Hier und Jetzt verspricht. Im Anschluss an den instruktiven Vergleich von Religion und Erotik, den Weber in seiner Zwischenbetrachtung entwickelt, spricht Beck deshalb von der Liebe als der »irdischen Religion«. Liebe gewinnt im Relevanzsystem vieler Akteure den Stellenwert, den bislang nur die Religion in Anspruch genommen hatte. Tyrell spricht von einer »Revolutionierung des persönlichen Relevanzsystems« (Tyrell 1987: 571), an deren Ende die Liebe Höchstrelevanz für das Handeln der Akteure erhält. Doch da dieser Höchstrelevanzanspruch der Liebe monopolistisch ist, tritt sie in Substitutionskonkurrenz zur Religion und letztlich in ein Verhältnis der historischen Beerbung (vgl. Tyrell 1987: 572; vgl. Beck 1990: 224). In der Konsequenz werden Liebesfragen zu existentiellen Fragen und es setzt eine massenhafte Suche nach der einzigartigen Liebe ein, die nach Misserfolgen und Enttäuschungen nicht aufgegeben, sondern

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mit gesteigerter Anstrengung fortgesetzt wird. Gerade hierin zeigt sich, so Beck, die immense Bedeutungssteigerung der Liebe in modernen Gesellschaften, sodass von ihrem Niedergang nicht die Rede sein könne. Während Luhmann also einen Funktions- und damit einen Bedeutungsverlust der romantischen Liebessemantik beobachtet, attestiert Beck der modernen Gesellschaft eine Bedeutungssteigerung der romantischen Liebe. Dieser Widerspruch lässt sich aber meines Erachtens auflösen, wenn man die beiden Thesen auf den oben unterschiedenen Analyseebenen verortet. Beck argumentiert weitestgehend auf der Ebene des Wertes und blendet die den Wert interpretierenden Ideen größtenteils aus. Mit dem Reflexivwerden des Wertes und der dadurch ermöglichten »Selbstbegründung« einer »Liebesliebe« entwickelt dieser ein immenses Motivationspotential. Ähnlich dem religiösen Heil, wird der Wert der Liebe mit dem Versprechen auf die größten irdischen Glücksgüter ausgestattet: Er verspricht die innerweltlich zu erreichende Erlösung vom weltlichen Leiden. Beck spricht vom nachreligiösen Liebeserlösungsglauben (vgl. Beck 1990: 230). Damit erhält der Wert der Liebe im Relevanzsystem vieler Akteure Höchstrelevanz und damit eine zentrale Bedeutung für ihr Handeln. Insofern kann Beck von einem Bedeutungszuwachs der Liebe und von der Liebe als irdischer Religion sprechen. Luhmanns These vom Niedergang der romantischen Liebe bezieht sich auf die Ebene des wertinterpretierenden Ideenkomplexes und seine Annahme der Trivialisierung auf Prozesse der Institutionalisierung. Der Umbruch vollzieht sich dabei auf der Ebene der wertinterpretierenden Ideen, die Trivialisierung hingegen in dem Übergang von Ideen zu Handlungsregeln. Im Prozess der Institutionalisierung werden aus Ideen Handlungsregeln gewonnen, die in spezifischen Situationen Geltung gegenüber dem Handeln beanspruchen. Um die praktische Umsetzbarkeit dieser Handlungsregeln zu gewährleisten, müssen im Prozess der Institutionalisierung auch immer die materiellen Gegebenheiten sowie die Interessen der Trägerschicht bei der Ausgestaltung dieser Regeln berücksichtigt werden. Handlungsregeln sind damit gegenüber dem potentiellen Sinngehalt des dominanten Wertes einer Sphäre zweifach selektiv. Erstens realisieren die den Wert interpretierenden Ideen niemals vollständig den möglichen Sinngehalt des Wertes. Zweitens fließen in die Institutionalisierung, d.h. die Formulierung von Handlungsmaximen auch immer praktische Rücksichtnahmen im Hinblick auf die Trägerschicht der Institutionalisierung ein, die ihrerseits den Sinngehalt von Handlungsregeln verändern. Die Kette Wert – Ideen – Regeln ist also durch eine doppelte Selektivität von Regeln, gegenüber dem Wert gekennzeichnet. Insofern kann man auch davon sprechen, dass mit dem Prozess der Institutionalisierung eine Trivialisierung des Sinngehaltes der romantischen Liebe einhergeht.

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Diese kurzen Ausführungen lassen das analytische und integrative Potential eines an Max Weber orientierten Mehr-Ebenen-Modells erahnen. Um zu einer angemessenen Analyse des Phänomens der Liebe und einem adäquaten Verständnis der Ausdifferenzierung der erotischen Wertsphäre zu gelangen, muss man verschiedene Ebenen und Prozesse berücksichtigen. Die kulturellsymbolische Dynamik der Interpretationsprozesse kann durch Institutionalisierung nicht vollständig gezähmt und kontrolliert werden. Gleichzeitig werden aber die ordnungsbildenden Effekte der Werte nicht über Interpretationen, sondern maßgeblich über Institutionalisierungsprozesse generiert. Für die Analyse von Ausdifferenzierungsprozessen werden stets beide Prozesse benötigt. Um das analytische wie integrative Potential des oben vorgestellten Ansatzes weiter auszubauen, müssen auf den verschiedenen Ebenen die Eigenlogiken und Eigengesetzlichkeiten theoretisch wie historisch noch stärker entfaltet werden: Welche Konsequenzen folgen aus dem Reflexivwerden des Wertes? Welche eigenständige symbolische Logik weist die Ebene der Ideen auf? Welche objektiven Zwänge und materiellen Rücksichtnahmen ergeben sich bei der Übersetzung der Ideen in Handlungsregeln, die auf der symbolischen Ebene der Ideen nicht im Vordergrund steht? Wie beeinflusst der Sinngehalt der Werte die sphärenspezifische Logik der Ordnungsbildung? Neben diesen Eigengesetzlichkeiten und Eigenlogiken der einzelnen Ebenen verliert ein an Weber orientiertes MehrEbenen-Modell aber auch nicht den theoretisch begründbaren Zusammenhang der einzelnen Ebenen und ihr Verhältnis zueinander aus dem Blick. Damit erweist sich das Modell im Hinblick auf einen soziologischen Zugang zu dem Phänomen der Liebe gegenüber anderen Vorschlägen (vgl. Burkart 1998; Lenz 2009) als theoretisch versierter und zugleich als geeigneter, historischempirische Forschung anzuleiten.

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Teil II: Divergenz und Konvergenz im Kulturvergleich

»Ren’ai«. Fehlgeburt der modernen Liebe im Meiji/Taishô-Japan? T AKEMITSU M ORIKAWA

1. V ORWORT Im vorliegenden Beitrag geht es um die zwei japanischen Begriffe der Liebe und die daran anschließenden Semantiken: Ren’ai und irokoi. Renai (im Folgenden abgekürzt als ai) wurde in dem letzten Viertel des 19. Jahrhundert als Übersetzung von dem englischen Wort »love« ins japanische eingeführt und später durchgesetzt. Heutzutage ist es üblich, love/Liebe/amour im Sinne der Zweierbeziehung mit ai auszudrücken. Dagegen hat sich der Begriff iro bzw. kôshoku in der literarisch gepflegten Tradition in Japan, insbesondere seit dem 17. Jahrhundert entwickelt. Die japanische Frühe Neuzeit seit dem 17. Jahrhundert bis zur MeijiRestauration 1868 wird üblicherweise als Edo-Zeit bzw. Tokugawa-Zeit bezeichnet. Man beschrieb diese Gesellschaft als eine Ständegesellschaft aus vier Hauptständen – Samurai, Bauer, Handwerker und Kaufleute. Handwerker und Kaufleute wurden zusammen als chônin (Stadtbewohner, Bürger) bezeichnet und verwaltet. Ich nenne sie im Folgenden »Altbürger« bzw. »Unterstadtbürger«, weil sie sich hauptsächlich in der Unterstadt des Edos (heutigen Tokios) niederließen. Hingegen wohnten Samurais, die politische und die Verwaltungselite in der Oberstadt. Hier ist es nötig, einen Blick auf zwei Subkulturen in der neueren Geschichte Japans zu blicken. Üblicherweise werden sie als Yamanote- und

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Shitamachi-Kultur bezeichnet. 1 In seinen Anfängen zu Beginn des 16. Jahrhunderts siedelte das Tokugawa-Shôgunat seine Vasallen in einem hügeligen Gebiet, westlich der Edo-Burg (der heutige Kaiserpalast in Tôkyô) an, Daimyôs (feudale Fürsten) bauten dort ihre eigenen Residenzen. Dieses Viertel heißt yamanote (Oberstadt). Handwerker und kleine Kaufleute (chônin) hingegen durften sich nur in den sumpfigen Niederungen an den Flüssen Sumida und Tone und an ihrer Mündung östlich der Burg ansiedeln. Ihr Wohngebiet heißt shitamachi (Unterstadt) (vgl. Seidensticker 1983: 8-11, vgl. 185-251). Diese räumliche Siedlungsaufteilung teilte die Kultur der Edo-Zeit, aber auch späterer Zeiten, in zwei gegensätzliche Subkulturen ein. In der Meiji-Zeit beschleunigte sich der Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung nach Tôkyô. Die meisten Neuankömmlinge – Samurai und Bauern aus der Provinz – erhofften sich dort Karrierechancen. Sie ließen sich westlich der alten Oberstadt nieder. Idealtypisch lassen sich die Kultur der Samurai und Bauern und die chônin-Kultur durch Anbzw. Abwesenheit des Ethos der Askese unterscheiden (vgl. Takeuchi 2003: 179ff.). Für die erstere gilt Bescheidenheit, Ernsthaftigkeit und Selbstdisziplin als Tugenden. Man kann sagen, dass sie mehr vom Konfuzianismus geprägt ist. Im Gegensatz dazu sind für die chônin-Kultur Luxus, Verspieltheit und Ironie kennzeichnend. In der alten und der neuen Oberstadt Tôkyôs war die Kultur der Samurai und Bauern dominant. Hingegen lebte die chônin-Kultur weiterhin in der Unterstadt, wenn sie auch im Zuge der Modernisierung durch das Bündnis der westlichen Kultur mit der Kultur der Samurai und Bauern (Yamanote-Kultur) immer mehr verdrängt wurde. Das politische System des ganzen Landes war segmentär differenziert. Abgesehen von dem von dem Shôgunat direkt beherrschten Territorium wurde das Land in ca. 300 Lehen, das han hieß, geteilt. Das politische System wurde zwar segmentär differenziert, aber das Land wurde über die Grenzen jedes Territorialstaates hinweg durch den funktionierenden Zentralmarkt – zuerst in Ôsaka, dann auch in Edo – sowie durch das gemeinsame Währungssystem ökonomisch integriert. 2 Handel und Geldwirtschaft wurden dank den konkurrierenden feudalen Fürsten bereits vor der Gründung von Tokugawa Shôgunat im Jahre 1603 erfolgreich gefördert, was auch nach der Pazifizierung des Landes fortgesetzt wurde. Im 17. Jahrhundert konzentrierte sich das wirtschaftliche Gedeihen auf die Großstädte, aber das Wirtschaftssystem drang bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhun-

1

Zur Differenzierung zwischen der Yamanote- und Shitamachi-Kultur siehe bereits: Morikawa 2013: 107, 110, 133, 200, 234f.

2

Die Münzhoheit gehörte einzig zum Shôgunat, wenn auch jeder Daimyô Papiergeld als Hilfswährung einführte, die nur in seinem Territorium gültig war.

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dert immer weiter in die »rural areas« ein. Insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert inkludierte das Wirtschaftssystem immer größere Bevölkerungsanteile jenseits der Stratifikation. Das Gedeihen von Städten und die Kommerzialisierung der Bücherproduktion ermöglichten die Ausdifferenzierung der Liebessemantik, die sich von anderen menschlichen Beziehungen unterscheidet. Ein marktorientiertes Verlagsgewerbe entstand in Japan zuerst in Kyôto, in den Jahren von Kan’ei (1624-1644). Zur endgültigen Etablierung entsprechender Unternehmen kam es in der Genroku-Epoche (1688-1704) (vgl. Suzuki 1980: 119). Zugleich setzte sich die Lesegewohnheit zum Vergnügen allmählich durch (vgl. Nagatomo 1982: 167-168). Das Zentrum der Kultur lag in der Edo-Zeit in der Unterstadt, vor allem in ihrem Vergnügungsviertel – das bekannteste Vergnügungsviertel war Yoshiwara in Edo. Die iro-Semantik ist unter der kulturellen Führung der alten Bürger, aufgrund des Gedeihens vom Vergnügungsviertel, als Ort der Interaktion 3 und der konsumorientierten Bücherproduktion, für die durchsetzende extensive Lesegewohnheit entstanden. Diese lässt sich anhand des Beispiels Tsutaya – eines der bekanntesten Verlage und Buchhändler – veranschaulichen. Dieser Verlag stand gerade neben dem Eingangstor des Vergnügungsviertels Yoshiwara. Er etablierte sich durch den Verkauf des Vergnügungsviertelführers und später wurde er durch Ukiyo-e-Bilder bekannt. Das Verhalten des Menschen und die Ereignisse wurden dort nicht nur im Bild von Ukiyo-e-Bilder, sondern auch in Schriften zum Reflexionsgegendstand sowie mit Phantasie erzählt, gut verkauft und konsumiert. 1868 erfolgte die Meiji-Restauration, die Äquivalenz der bürgerlichen Revolution in Japan. Diese wurde aber nicht durch die Altbürger, sondern vorwiegend durch die unteren Samurai aus der Provinz herbeigeführt. Die revolutionäre Regierung ergriff eine radikale Reformpolitik, einschließlich der Abschaffung der feudalen Privilegien. Das Motto »Bunmei-kaika (Zivilisation und Aufklärung)« bringt den damaligen Zeitgeist zum Ausdruck. Im Vergleich mit der Situation in der Frühen Neuzeit beschrieben die MeijiVerfassung (1889) und »kyôiku chokugo (Kaiserliches Erziehungsedikt)« (1890) die Einheit des neuen japanischen Nationalstaats mit moralischen und politischen Termini. Diese Semantik ermöglichte es, seit der Meiji-Restauration die alten Territorialstaaten von Daimyôs zu überwinden, das neue einheitliche politi-

3

Schmidt (2000) zufolge differenziert sich die persönliche Beziehung unter den folgenden Rahmenbedingungen: a) Differenz von psychischem und sozialem System, b) Differenz von Interaktion und Gesellschaft und c) funktionale Differenzierung der Gesellschaft (vgl. 78f.).

144 | TAKEMITSU M ORIKAWA

sche System zu etablieren und die ganze Bevölkerung des Landes als »Japaner« zu inkludieren. Die Souveränität war dem Kaiser zugewiesen und er wurde zugleich als Oberhaupt der Staatsreligion, d.h. Shinto verehrt. Der Reichtum konzentrierte sich auf die »neue« Oberschicht, die aus der alten Aristokratie, der Daimyôs und den Siegern der restaurativen Revolution, im Jahr 1868 hervorgegangen ist. Die japanische Gesellschaft in der Meiji-Taishô-Zeit (1868-1925) zeigte primär Züge der stratifizierten Gesellschaft (vgl. Eisenstadt 1996: 26, 46).

2. D ER W ANDEL DER L IEBESSEMANTIK IN JAPANISCHEN L ITERATURGESCHICHTE

DER

Die Liebessemantik in Japan erreichte bereits vor der Landesöffnung im Jahr 1853 ein hohes Niveau an Reflexivität. Dies einerseits dank der literarischen Tradition seit Genji monogatari und Ise monogatari 4, andererseits dank der seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durchsetzenden Kommerzialisierung der Literatur und der damit einhergehenden Gewohnheit der extensiven Lektüre. Der wegen der Differenz von psychischem und sozialem System erforderliche Liebesbeweis wurde reflektiert und eine persönliche, intime Zweierbeziehung konnte von anderen funktionsorientierten Beziehungen unterschieden werden. Wie sich beispielsweise in den Dramen des Chikamatsu im beginnenden 18. Jahrhundert zeigte, war es verwerflich, den Geliebten bzw. die Geliebte für Geld oder Macht zu verraten (vgl. Chikamatsu 1703; ders. 1720). 5 Die Ehe aus Liebe wurde von der Ehe unterschieden, die durch äußere Umstände – etwa aus ökonomischen bzw. politischen Gründen – erzwungen wurde. Der Liebesbeweis wurde bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Ideal (wie in der Geschichte des Prinzen Genji) über den Exzess (passion) (wie in Romanen des Ihara Saikaku und Dramen des Chikamatsu Monzaemon) auf Dauerhaftigkeit (wie in Ninjôbon Romanen) umgestellt (vgl. Ihara 1682; ders. 1686a, b; Tamenaga 1837-39/42). Bereits in der Geschichte des Prinzen Genji lässt sich der erste Ansatz zur Paradoxierung der Liebe erkennen. Das hohe Niveau der gesellschaftlichen Reflexion, dank der extensiven Lesegewohnheit und des Büchermarkts, förderte die Evolution der Liebessemantik weiter. Die Erweiterung des Publikums führte dazu, dass die Bevölkerung immer mehr in das System der Intimkommunikation inkludiert wurde. Wie in allen anderen, älteren, lokal verdichteten Gesellschafts-

4 5

Entstanden im 10. Jahrhundert. Liebessemantik in der Genroku-Epoche (vom ausgehenden 17. und bis ins beginnende 18. Jahrhundert) ausführlicher in Morikawa 2012.

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systemen war es auch in Japan zu jener Zeit noch undenkbar, dass die sexuell fundierte, intime Zweierbeziehung darin einen Platz findet (vgl. Luhmann 1982: 38f.). Der Raum der Interaktion, der Liebe, der Erotik und der Sexualität differenzierte sich daher durch die Einrichtung des Vergnügungsviertels räumlich von der Ehe aus und fand dort seinen Platz. In diesem Viertel entwickelte sich zunächst die Semantik der Geselligkeit, genannt iki, welche das Sich-Einlassen auf eine Beziehung regulierte (vgl. Morikawa 2011). Dort gedieh auch die Kunst der Liebe, ars amandi, ebenso wie die Coquetterie und die Galanterie (vgl. Luhmann 1982: 113). Sogar anständige Mädchen und Frauen folgten dieser Mode aus dem Vergnügungsviertel (vgl. Ihara 1965: 57; Buyô 1994: 376). Kôshoku ichidai otoko 6 ist wahrscheinlich das erste und bekannteste Werk zum einen des Schriftstellers Ihara Saikaku, zum anderen einer literarischen Gattung, die Sexualität, Erotik und Liebe im Vergnügungsviertel thematisierte und in Form der Fiktionsprosa sublimierte. Yonosuke blieb kein isolierter Text, bis 1710 sind 93 Titel nachzuweisen, die mit den Schriftzeichen »kôshoku« beginnen, daneben gibt es noch eine größere Zahl anderer Titelanfänge und Titelbestandteile, die ebenso auf einen derartigen Inhalt hinweisen (vgl. May 1983: 126). Yonosuke gab den Anstoß dazu, dieses Genre zu etablieren und damit die soziale Reflexion in Form der Erzählprosa dauerhaft zu institutionalisieren. Der gepriesene Held des Romans, Uki Yonosuke, strebte ein Leben lang nach Liebe und Sexualität. Im Vordergrund der Darstellung steht einerseits die Reflexion über das Verhalten der Menschen und andererseits werden Sitten und Gewohnheiten im Vergnügungsviertel thematisiert. Er entstammte weder dem Hofadel (kuge) noch der Samurai-Schicht. Er ist ein Bürger (chônin), der nach der japanisch-feudalen Rangordnung dem dritten oder vierten Stand angehörte. Dies bedeutet eine wesentliche Erweiterung der Einsetzbarkeit des Liebescodes. Nach der ständegesellschaftlichen Norm diente die Sexualität ausschließlich der Zeugung von Erben und Erhaltung der Familie und war nur dadurch legitimiert (vgl. Kischka-Wellhäusser 2004: 35ff.). Yonosuke genoss ein Leben lang Liebe, Geselligkeit, Erotik und Sexualität mit zahlreichen Frauen und Freunden, aber er gründete weder eine Familie, noch zeugte er Kinder. Seine Lebensführung war damit eine große Rebellion gegen die herrschenden feudalen Normen. Im Verlauf der Geschichte erbte er ein großes finanzielles Vermögen, mit dem er sich die Gesellschaft von Kurtisanen ohne finanzielle Sorgen leisten konnte. Damit eröffnete sich ihm ein Handlungsspielraum jenseits von ökonomischer Sorge, politischer Macht und sozialem Rang. Die Schaffung dieses Spielraums bedeutete zugleich die Differenzierung der (noch) als feudal beschriebenen Gesellschaft

6

Im Folgenden abgekürzt mit Yonosuke.

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und Interaktion. In diesem Raum wurde Interaktionssemantik nicht nur ermöglicht, sondern benötigt, gerade weil sie den Spielregeln der restlichen Gesellschaft ausgesetzt werden sollte. Diese Interaktionssemantik heißt iki. 7 In der Kulturgeschichte ist es üblich, sie als altbürgerliches Ideal zu betrachten. Die Differenzierung des Liebescodes von anderen Medien wie Macht, Geld, sozialem Rang, lässt sich im Yonosuke an verschiedenen Episoden festmachen (vgl. Morikawa 2012): Die Gesellschaft (einer Kurtisane) durfte man nicht erzwingen. Frauen, die den Umgang mit Yonosuke pflegen, sind zumeist Kurtisanen mit tayû-Rang, denn nur sie besaßen die Freiheit, sich auf eine Beziehung einzulassen oder sie abzulehnen. Die politische, ständische oder finanzielle Autorität durfte keine wesentliche Rolle spielen. Der Samurai in der Episode Kurtisane Takahashis verhielt sich als Gast entgegengesetzt zu den Geselligkeitsregeln jener Zeit, denn er war ungeduldig, aufdringlich und autoritär. Wie in dieser Episode beispielhaft gezeigt wird, erhielt eine solche Person eine Absage der Kurtisane. Einer iki-hafte Person, d.h. eine Person, die sich in der Semantik der Geselligkeit jener Zeit auskennt, wie etwa Yonosuke und Takahashi, widerstrebt eine solche autoritäre Haltung. Wer, wie dieser Samurai, diese Regeln der intimen Geselligkeit und Liebe nicht kennt, hat es nicht verdient, sie für sich zu gewinnen (vgl. Ihara 1965: 215ff.; ders. 1996: 198ff.). Der Differenzlogik zufolge gibt es in einem solchen abgetrennten Interaktionsraum, wie in dem der französischen Salongesellschaft und dem des japanischen Vergnügungsviertels, einen Spielraum für die weitere Evolution der Liebessemantik (vgl. Albrecht 1995; Höfer/Reichardt 1986). Denn plaisir als anthropologische Vorgabe entkommt zwar jedem Zweifel, aber amour wird angezweifelt. Es war unumstritten, dass das Interesse der Gäste im Freudenviertel am plaisir lag. Gerade deshalb, weil man allen Gästen Interesse an plaisir unterstellen konnte, kam es dazu, dass die Differenz plaisir/amour eine wichtige Rolle spielte (vgl. Luhmann 1982: 108f.) und es dabei auf die Differenz von vorgetäuschter und wahrer Liebe ankam. Es ist bekannt, dass zahlreiche Techniken im Vergnügungsviertel entwickelt wurden, um die wahre Liebe von der vorgetäuschten zu unterscheiden und die Liebe auf die Probe zu stellen, wie beispielsweise durch Tätowierungen und ähnliches. 8 In den Dramen von Chika-

7

Zur Iki-Semantik siehe zunächst eine philosophische Schrift des Baron Kuki (Iki no Kôzô. Erste Erscheinung: 1930) (auf Deutsch Kuki 1999). Es ist seit Kuki Shûzô bekannt, dass diese Semantik im Vergnügungsviertel entstanden ist. Auch Morikawa 2011.

8

Hatayama Kizans Shikidô ôkagami (Große Spiegel der Erotik) zählte 6 übliche Bräuche zu jener Zeit auf, die Kurtisanen zum Beweis ihrer echten Liebe verwendeten: 1.

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matsu Monzaemon wurden gerade die Differenz der vorgetäuschten und wahren Liebe und der Exzess als Liebesbeweis thematisiert. In Shinjû ten no amijima 9 geht es beispielweise darum, ob die Liebe der Heldin Kurtisane Koharu eine vorgetäuschte oder eine wahre Liebe ist, und diese Frage fasziniert das Publikum. Der Liebesbeweis erfolgt über den Entschluss, gemeinsam zu sterben, weil sie nicht mehr zusammen sein durften. Diese Absicht halten die Geliebten in einem Schwurbrief fest. Daraus ist es ersichtlich, dass zur Liebessemantik zu jener Zeit die auf dem gegenseitigen Schwur basierte Treue gehörte. Zweierbeziehung aus Liebe und Heirat aus anderen äußeren Zwängen konnte man aber schon damals voneinander unterscheiden. Braun behandelt den Liebestod in der deutschen Literatur des Mittelalters, wobei mir der folgende Satz universell zu gelten scheint: »Der Liebestod treibt einen Grundzug des Liebescodes ins Extrem, der darin besteht, die Intensität der Liebe qua Relationierung sichtbar werden zu lassen. Die Liebenden negieren die Institution der Ehe, die Vernunft und die Moral, sie ordnen Herkunft und Sozialstatus, ja selbst ihr Leben dem Gefühl füreinander unter. Diese Semantik – am Präferenzcode entlang erzeugt – ist geeignet, zur Passion hinzuführen, mit der sich Liebe der rationalen Kontrolle entzieht und zum Exzess wird« (Braun 2001: 233). Das Hauptmotiv der Tragödie jener Zeit in Japan ist der Konflikt zwischen der persönlichen Intimwelt auf der einen Seite und dem Ständesystem, dem Geld, der politische Einheit, vor allem aber der Familie als ökonomischpolitische Einheit auf der anderen Seite. 10 Die von einem Zufall ausgelöste Liebe steigert sich an den ständischen, familiären Hürden und führt zumeist zu einem tragischen Ende, weil sich die Liebe immer noch außerhalb der Gesellschaft bzw. gegen die ständischen gesellschaftlichen Ordnungen abspielte. Bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert erfasste die extensive Lesegewohnheit auch Frauen. Das Genre ninjôbon – populäre Liebeserzählung – etablierte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von 1815 bis 1843 erschienen zumindest 207 Titel – Titel mit der Angabe des Erscheinungsjahrs. Dies bedeutet durchschnittlich sieben Titel pro Jahr. Wenn man die Titel ohne Angabe des Erscheinungsjahrs mitrechnet, steigt diese Zahl wesentlich an. In diesem Genre werden Leben, Verhalten und Liebe in der Unterstadt dargestellt. Es leuchtet ein, dass

Ausreißen der Fingernägel, 2. Tätowierung, 3. Abschneiden der Haare, 4. Abschneiden der Finger, 5. Verletzung der eigenen Beine durch einen spitzen Gegenstand, 6. Schwurbrief. (zit. nach Ishii 1967: 186f.; auf Deutsch siehe Stein 1997: 374f.) 9

Auf Englisch: The Love Suicides at Amijima, 1721, in: Chikamatsu 1961. siehe auch Morikawa 2012: 399.

10 Auf Japanisch nennt man dies den Konflikt zwischen ninjô und giri.

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die meisten Figuren darin Kaufleute, Musikerinnen, Tänzerinnen, Dienstmädchen, aber auch Kurtisanen waren. Ninjôbon-Hefte wurden am Anfang für junge Frauen mit einem geringeren Bildungsniveau geschrieben und von diesen gelesen. Aber sie erfassten allmählich auch Frauen des gehobenen Standes. Dies machte Moralisten im gehobenen Stand große Sorgen. Sie kritisierten das Vergnügungsviertel, den Theatergang und die Romanlektüre als Ursache des Sittenverfalls sehr heftig (vgl. Buyô 1994: 375f.). Eine Liebesgeschichte in dem Ninjôbon-Roman verläuft wie folgt: Ein Mann und eine Frau lernen sich zufällig kennen und lieben. Sie werden in einer relativ früheren Phase physisch intim. Das Glück dauert nicht lange. Denn sie sehen sich bald einer Situation konfrontiert, in der sie – aus Gründen wie Armut, Versetzung, Verbannung, Ständeunterschiede etc. – nicht mehr zusammen sein können. Nach einem langen Leiden – zumeist wegen einer Trennung – wird ein Durchbruch – oft als Folge einer tugendhaften Tat der Heldin – herbeigeführt. Die Geschichte endet mit einem Happy End, entweder durch Heirat oder zumindest durch lebenslängliches Zusammenleben, wie dies in einem Unterhaltungsroman und -film üblich ist. Die Liebessemantik interessiert sich somit im Gegensatz zur Passion in den Dramen des Chikamatsu mehr für die Dauer. Die Leitdifferenz der Liebessemantik ist nicht mehr die von Vernunft/Gefühl bzw. plaisir/amour, sondern vergängliche Welt/dauerhafte Liebe. 11 Zugleich wurde der Begriff von kôshoku durch shûnshoku (frühlingsfärbig) ersetzt. Erzählungen nach dem Muster von Ihara Saikaku wurde immer mit kôshoku betitelt, aber der Titel einer ninjôbon-Romane begann üblicherweise mit shunshoku.

3. B UNMEI / YABAN . D IE L EITDIFFERENZ

IN DER

M EIJI - ZEIT

Bisher habe ich versucht, das Niveau der Komplexität und Reflexivität der Liebessemantik bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Japan zu rekonstruieren. Als nächsten Schritt werde ich die Aufmerksamkeit auf das Stichwort in der Epoche »bunmei kaika« richten, um den semantischen Wandel der Liebe in der MeijiTaishô-Zeit zu verstehen. Denn dieser Begriff prägte das breite Begriffsfeld zu jener Zeit entscheidend mit, auch in Hinblick auf den weiteren Wandel der Liebessemantik. Die Leitdifferenz hieß hier bunmei/yaban (Zivilisation/Barbarei).

11 Der »ukiyo«-Begriff, den man üblicherweise mit »floating world« bzw. »vergängliche Welt« übersetzt, entstand spätestens im 17. Jahrhundert. Dieser Begriff bedeutet, dass Ordnungen und Sosein in dieser Welt nicht ewig bestehen, und er markiert, dass die Kontingenz der Welt den Edo-Bürgern zu jener Zeit immer bewusster wurde.

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Die japanischen Intellektuellen zu jener Zeit haben den politischen, ökonomischen und sozialen Wandel seit der »Öffnung des Landes« weder als Verwestlichung, noch als funktionale Differenzierung beschrieben. Die Beobachtung und Beschreibung, diesen Wandel der Gesellschaft als Verwestlichung aufzufassen, wurde erst nach der Rezeption der Neo-Romantik seit dem fin de siècle ermöglicht (vgl. Morikawa 2013). Der Leitbegriff zu jener Zeit, d.h. nach der MeijiRestauration bis zum Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, hieß bunmei kaika, nämlich Zivilisation und Aufklärung; anders gesagt meint dieser Begriff den Prozess der Zivilisierung. 12 Es war Fukuzawa Yukichi (1834-1901), der größte Denker der Meiji-Aufklärung, der in Seiyô Jijô [Things Western] den englischen Begriff »Civilisation« mit einem konfuzianischen Wort bunmei übersetzte (Fukuzawa 1866; siehe auch Schad-Seifert 1999). Er führte dieses Wort in der Übersetzung von Robert und William Chambers Political Economy for Use in Schools, and for Private Instruction ein. Darin heißt es: »It is shewn by history that nations advance from a barbarous to a civilised state. The chief peculiarity of the barbarous state is that the lower passions of mankind have there greater scope, or are less under regulation, while the higher moral qualities of our nature are little developed, or have comparatively little play. In that state the woman is the slave instead of the companion of her husband, the father has uncontrolled power over his child and generally the strong tyrannise over and rob the weak. From the consequent want of confidence between men there can be no great combinations for the general benefit, in short no institutions. In the state of civilisation all is reversed; the evil passions are curbed and the moral feelings developed woman takes her right place, they are protected; institutions for the general benefit flourish.« (Chambers 1852: 6) 13 Es ist deutlich, dass das Konzept der Zivilisation – offensichtlich in der schottischen Aufklärung verwurzelt – hier den moralischen Fortschritt bedeutet. Nur wenn sich die Moral von jedem Bürger verbessert, verfeinert und kultiviert sich die Gesellschaft, und nur dann kann eine Nation gedeihen. Die gemeine Leidenschaft sollte unter die Selbstkontrolle, im gegebenen Fall unter fremde Obhut gebracht werden. Das Konzept der Zivilisation bedeutet nicht den Entzug der Kontrolle, sondern die Selbstkontrolle und die Selbstdisziplin. Diese Idee wurde von fast allen Meiji-Intellektuellen in seiner Generation geteilt. Zum Beispiel heisst es in einem anderen, in Japan zu jener Zeit viel gelesenen Buch Self Help von Samuel Smiles: »Civilization itself is but a question of the person-

12 Das Wort erinnert mich an das bekannte Buch von Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation. 13 Zu Chamber-Rezeption durch Fukuzawa siehe Schad-Seifert (1999: 87-104).

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al improvement of the men, women and children of whom society is composed.« (Smiles 2002: 8) Wie gesagt, stammt das Wort bunmei, das den Begriff »Civilisation« belegt, aus Texten des Konfuzianismus. Es kommt aus dem Buch der Geschichte (᭩⤒, Shangshu) und dem Classic of Changes (᫆⤒, I Ging). 14 Nach Auffassung des Konfuzianismus haben alle Menschen eine angeborene Güte in sich. Gute und schlechte bzw. böse Menschen unterscheiden sich darin, inwieweit ihre Güte kultiviert ist. Bei guten Menschen ist die Güte im hohen Maß gepflegt und kultiviert, während diese Tugend bei schlechten Menschen unterentwickelt bleibt. Die guten, kultivierten Menschen müssen deshalb den schlechten, unkultivierten, gemeinen Menschen helfen, ihre Güte zu kultivieren. Dieser Semantik zufolge sollte die soziale Hierarchie der moralischen Hierarchie entsprechen (vgl. Weber 1988: 514ff.). Dies ist aber nichts anderes als ein Prinzip der Schichtung. Die kultivierte Güte strahlt als Tugend aus dem Inneren des Menschen heraus (vgl. Watanabe 2010: 408f.). Das Wort bunmei bedeutet ursprünglich das Leuchten der kultivierten menschlichen Güte und kaika benennt deren Kultivierung. Die Zivilisation ist die Kultivierung des moralischen Geists und der moralischen Gefühle. Dieser Prozess sollte die konfuzianischen Ideale, vor allem das Humanitätsideal jin (ern), in die Realität umsetzen. Der Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei entspricht jenem zwischen Gut und Böse in diesem gerade erwähnten Sinne. Japanische Intellektuelle in der frühen Meiji-Zeit beobachteten und beschrieben die große Transformation der Gesellschaft, als bunmei kaika. Dies bedeutet die Kultivierung der moralischen Gefühle und den kognitiven und ethischen Fortschritt der Menschen und der Gesellschaft in Richtung der konfuzianischen Ideale. Die Leitdifferenz dieser Semantik ist weder Ost/West, noch Inland/Ausland oder Christ/Buddhist resp. Konfuzianer, sondern zivilisiert/ barbarisch. Die Leitdifferenz spiegelte sich in jedem Diskurs über die gesellschaftlichen und politischen Reformen nach der Meiji-Restauration. Die Diskurse über die Familienreform waren auch in diesem Begriffsfeld bestimmt.

14 »ᩥ᫂அୡ㸪㖽㗓㚲⪙ࠋ௨㐨㡰Ẹ㸪ⓒ⋤୙᫆« (»Chiao-shih I-lin«. zit. nach. d. Ausgabe von Kyôto 1692, Nachdruck, in: Wakoku hon shoshi taisei. Bd. 6 (Tôkyô: 1976), 283. Hier folge ich dem Argument in Watanabe 2010: 408 f.

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4. D ISKURS

ÜBER DIE

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F AMILIENREFORM

Unter den japanischen Intellektuellen galt die Reform des Familienrechts als aktuelles Problem seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, wobei vor allem versucht wurde, die Konkubinen in der Aristokratie abzuschaffen (vgl. KischkaWellhäusser 2004: 53-107). Mori Arinori (1847-1889) war der Autor, der sich damit beschäftigte. Er arbeitete später als Minister des Bildungsministeriums (im Amt: 1885-1889) und versuchte, seinen Plan zu verwirklichen. Seine Saishô ron (On wives and concubines) (1874) ist einer der berühmtesten Essays für die Familienreform. Es wird gesagt, dass sein Denken über die intime Beziehung modern sei, weil er sich auf die Gleichstellung von Männern und Frauen ausrichtete. Aber man müsse genau beobachten, wie er argumentiert: »When righteousness does not prevail, the strong oppress the weak, and the smart deceive the stupid. In extreme case, immorality becomes an amusement providing a source of livelihood as well as of pleasure. Among the customs common among barbarians, mistreatment of wives by their husbands is especially intolerable to wives.« (Mori 1976: 189, vgl. auch 253) Diese Passage zeigt offensichtlich, dass seine Diskurse über die Familienreform von dem Begriffsfeld von bunmei geprägt wurden. Moris Plan der Familienreform war ein Teil seiner allgemeinen Moralreform. Er beginnt seinen Essay mit dem folgenden Satz: »The relation between man and wife is the fundamental of human morals.« (Mori 1976: 104) Es soll ja aber heißen, dass die gleiche Logik der Moral nicht nur die Beziehung zwischen »Mann und Frau«, sondern auch die Beziehungen im politischen Körper und schließlich die ganze Menschheit regulieren soll und dass es keinen qualitativen resp. funktionellen Unterschied zwischen verschiedenen menschlichen Beziehungstypen gibt. In der zivilisierten Gesellschaft herrscht die moralische Tugend, gemäß derer sich alle entsprechend ihrer Rolle und ihrem Status korrekt verhalten. Er beobachtet den Zustand der japanischen Familien zu jener Zeit als moralisch verwerflich. Gegen das weit verbreitete Vorurteil, dass die Blutlinie der Familie eine sehr wichtige und heilige Rolle in der japanischen Gesellschaft von jeher gespielt hat, haben immer mehr Sozial- und Wirtschaftshistoriker darauf hingewiesen, dass die Blutlinie wegen der verbreiteten Gewohnheit der Erwachsenen-Adoption mehr fiktiv als real im japanischen Familiensystem war. Die Erwachsenen-Adoption ermöglichte einer Familie, ihren Nachfolger von außen zu rekrutieren, und verlieh ihr damit mehr Anpassungsfähigkeit an die sich wandelnde Umwelt und mehr strategische Entscheidungsfähigkeit zugunsten des Wohlstands der ganzen Familie (vgl. Eisenstadt 1996: 200; Fauve-Chamoux / Ochiai [Hrsg.] 2009). Im gleichen Essay verlangt er die Verehrung der Blutlinie:

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»[h]onoring the blood line is the foundation upon which morality is customarily based in Western countries. This is not invariably the case in Asian lands, especially in our country where honoring the blood line is treated most lightly.« (Mori 1976: 143) »Let me here point out an instance in which morality is not clear because the blood line is not honored.« (Mori 1976: 144) Es ist sehr interessant hier zu bemerken, dass Mori sowie andere Intellektuelle der frühen Meiji-Zeit die japanische Gesellschaft als moralisch verfallen und barbarisch ansahen und die europäischen »zivilisierten«, patriarchalen Gesellschaften, in denen die Blutlinie vermeintlich geehrt wurde, somit als moralisch besser wahrnahmen. 15 Ihre Beobachtung war richtig. In der Tat wurde der Patriarch in den europäischen Ländern im 19. Jahrhundert verstärkt, vor allem in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts (vgl. Perrot 1994; Siedler 1977). Die japanischen Reformer nahmen diese Tendenz zudem als Zivilisierung wahr. Die Reform der Familie zielte auch auf die Erziehung der Kinder ab. Man erwartete von Frauen und Müttern, dass sie die Rolle der Erzieherin einnahmen. Diese Rollenerwartung war in der japanischen Sozial- und Kulturgeschichte neu. Die Erziehung der Kinder wurde bis zu diesem Zeitpunkt – zumindest in der gehobenen Schicht – nicht als die Aufgabe der Mütter angesehen (vgl. KischkaWellhäusser 2004: 80f.). Mori sah die Kindererziehung nicht als private Angelegenheit, sondern als nationale Aufgabe und verlangte von Frauen die Rolle der Erzieherin: »As children respond to their mother just like a reflection in a mirror, if the mother’s disposition is not pure, then the children, reflecting this, also cannot be pure.« (Mori 1976: 252) Diese Idee wurde von den anderen Intellektuellen zu jener Zeit geteilt. Nakamura Masanao (1832-1891) sagte zum Beispiel: »When I previously discussed reforming the character of the people, I explained that we cannot renew the minds of the people and raise them to a high level unless we rely on the two main divisions of education. One is ›religious‹ and ›moral‹ education« (Nakamura 1976: 401). »Now to develop fine mothers, there is nothing better than to educate daughters. Let us take the case of a woman endowed with moral and religious education who is married and gives birth to a child […]. It is not excessive even to say that the foundations for his virtues of bravery, endurance, and perseverance of a later day were laid while he was still playing in his cradle and receiving his mother’s milk.« (Nakamura 1976: 402) Aus dieser Idee wurde in Japan seit 1899 die Girls’ High School eingerichtet.

15 Für die erste Generation der Meiji-Intellektuellen war es völlig fremd, in einem Wilden eine moralische Überlegenheit zu sehen. Dies wurde nur nach der Einführung der romantischen Semantik seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts ermöglicht.

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Das Ziel dieser Institution lag darin, gute Ehefrauen und weise Mütter zu schaffen (vgl. Kischka-Wellhäusser 2004: 65-71).

5. I WAMOTO Y OSHIHARUS F RAUENIDEAL UND K ITAMURA T ÔKOKUS LOVE Nun kann ich endlich auf den Wandel der Semantik von Liebe und Intimität in der Meiji-Taishô-Zeit eingehen. Die Meiji-Intellektuellen verurteilten fast alle Konventionen, Bräuche und Kulturen in der Tokugawa-Zeit als barbarisch, mit der Begründung, dass sie die menschliche Natur – die angeborene Güte im oben genannten konfuzianischen Sinne – verzerrten. Auch das Vergnügungsviertel wurde als barbarisch und unmoralisch getadelt. Es wurde auch als unmoralisch betrachtet, ins Theater in diesem Viertel zu gehen und Ninjôbon-Liebesromanen zu lesen. Die Zeitschrift Jogaku Zasshi wurde 1885 gegründet und bis 1904 monatlich bzw. zweiwöchentlich publiziert. Von Beginn an hatte sie eine Auflage von etwa 2500 Exemplaren. Sie zielte auf die Aufklärung und die sittliche Verbesserung der Frauen ab, doch auch auf gleiche Rechte für sie – über die Bildung und die Selbstdisziplin. 16 Iwamoto Yoshiharu (1863-1942) – ein Schüler von Nakamura Masanao – übernahm diese Zeitschrift 1886, kurz nach ihrer Gründung. Für den gerade oben genannten Zweck richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Lesegewohnheiten der Frauen (vgl. Schamoni 1983: 125f.). So wie alle MeijiIntellektuellen und Christen war er überzeugt, dass jede unterstädtische Kultur, die aus der Edo-Zeit stammte, moralisch verwerflich sei, und er sah darin ein großes zu behebendes Problem. 17 Ninjôbon-Liebesromanzen beschrieben vorwiegend das Leben und die Liebe der Altbürger in der Unterstadt und sie wurden nicht nur gern von den Frauen in der Unterstadt, sondern auch von den Frauen in der gehobenen Schicht gelesen (vgl. Schamoni 1975: 27ff.). Um dieses »Problem« zu bekämpfen, bot Iwamoto Frauen moralisch guten Lesestoff mit der neuen idealen Frauenfigur an. In seinem Essay Risô no kajin (Ideale Frauen) (1888) kam Iwamoto zur Einsicht, dass der Typ der Heldin in Ninjôbon-Romanzen für den Sittenverfall unter Frauen mitverantwortlich sei. Stattdessen schlug er einen neuen Typ der Heldin für eine »zivilisierte Nation« vor. Dies ist ein Schulmädchen resp. eine Studentin mit ei-

16 Weiter über Jogaku Zasshi siehe Kischka-Wellhäusser 2004: 108-323. 17 Über das Christentum als Hintergrund in Jogaku Zasshi siehe Kischka-Wellhäusser 2004: Kap.3.

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ner guten Ausbildung, und natürlich mit einer guten moralischen Bildung. Es ist leicht, hier die Wirkung des Begriffsfeldes von bunmei zu sehen, die mit der von der Regierung und von Intellektuellen geförderten Familienreform übereinstimmte. In der fiktionalen Literatur in der Meiji-Zeit wurden Frauen passiver dargestellt als in Ninjôbon-Romanen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden aktive, unabhängige und selbstsichere Frauen als »okyan« und »hari ga aru« bezeichnet. Solche temperamentvolle Frauen wurden nicht nur in der fiktionalen Literatur, sondern auch im wirklichen Leben, zumindest unter den unterstädtischen Bürgern, zunehmend beliebt. Sie erhielten Jungennamen wie Yonehachi, Adakichi, u. dgl. Autoren im Jogaku Zasshi-Magazin postulieren, dass Frauen feminin und passiv beschrieben werden sollen. Erst in diesem Zusammenhang muss man Kitamura Tôkoku (1868-1894), Schriftsteller und Dichter zu jener Zeit, beobachten. Denn er wird als Pionier der modernen Liebe in der japanischen Geistesgeschichte betrachtet. Es hat sich die allgemeine Annahme durchgesetzt, dass er das Wort »renai« resp. »ai«, dessen Bedeutung sich heutzutage etabliert hat, eingeführt hat (vgl. Yanabu 1982: 87105; Yanabu 1991: 74-84; Saeki 2011). Demzufolge war die Liebe den Japanern bis in die Meiji-Periode unbekannt. Sie kannten nichts anderes als sexuelle Begierde und die Fleischeslust. Andererseits verherrlicht er »ren‘ai«. Sein folgender Satz wurde oft zitiert: »Love is the secret key of life. After there is love there is life. What meaning would existence have if one were to remove love.« (TZ 1.: 254; zit. nach Brownstein 1981: 98) Kitamura argumentiert, dass es in Japan iro gab, aber nicht ai – die Liebe vermeintlich im »europäischen Sinne«, wie er sie verstanden haben mag. Ich gehe an dieser Stelle nicht darauf ein, ob seine These richtig oder falsch ist. Stattdessen möchte ich gerne hier die Frage stellen, was genau er unter »Liebe« verstand und wer und was von der Liebe ausgeschlossen ist. Denn je weiter die funktionale Differenzierung fortschreitet, desto größere Bevölkerungsanteile werden in jedes Funktionssystem inkludiert. Dieses allgemeine Theorem gilt auch für das Intimsystem. Dementsprechend soll der Liebescode für den Zugang zur Intimität auch für die allgemeine Bevölkerung praktizierbar werden. In der Moderne muss man weder adelbürtig sein, noch braucht man eine besondere Technik, die man nicht einfach lernen kann, um zu lieben und geliebt zu werden. Kann die Liebe im Sinne Kitamuras mit der modernen Anforderungen der Vollinklusion zurechtkommen? Kitamura unterschied nicht nur ai-Liebe von der iro-Liebe, sondern auch er verstand die ai-Liebe, d.h. die vermeintlich »moderne« Liebe sehr spirituell und

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religiös. 18 Die Keuschheit und die Jungfräulichkeit werden zunächst als die wesentlichen Voraussetzungen für eine ai-Liebe betrachtet: »Noble love has its origins in unstained, untainted chastity. To proceed from chastity to love conforms to the highest morality. But love that is unchaste from the beginning is carnal love, which floats here and there on waves of desire; it is no value, no beauty whatsoever.« (TZ 2: 26; zit. nach Brownstein 1981: 104) Frauen, die keine Keuschheit bewahren, werden somit von vornherein von der Möglichkeit ausgeschlossen, geliebt zu werden. Die ai-Liebe ist bezeichnend für die Unterscheidung von der iro-Liebe. Gerade iro nimmt die Position des Gegenbegriffs ein. 19 Kitamura kritisierte, dass die letztere nichts anderes als eine fleischliche Liebe, nämlich ein Begehren sei. »Consider the distance separating love and lust in literature: lust indulges the lowest kind of bestiality in man, but love can express the beauty of his spiritual life. Depicting lust follows man into the animal realm of his own depravity, but depicting true love endows him with beauty and gives him a soul. Writers who become the teachers and purveyors of lust prompt man to become the lowest kind of animal, and injure love, the most exquisite, beautiful thing in literature.« (TZ 1: 277; zit. nach Brownstein 1981: 112) Lieben und Geliebtwerden gehören zur menschlichen, natürlichen Disposition – im Sinne der angeborenen Güte. Aber die iro-Liebe in der Edo-Zeit »dislodged love from its natural position.« (TZ 1: 277; zit. nach Brownstein 1981: 112) Die Natur gilt bei ihm als moralische Instanz. Die Undifferenziertheit der Naturordnung und der gesellschaftlichen Ordnung sowie die Natur als moralische Instanz kennzeichnen – im Allgemeinen gesagt – eher die Denkweise der Vormoderne. Wie bereits erwähnt, galt die Keuschheit als wesentliche Voraussetzung für eine ai-Liebe. Ai-Liebe wurde zunächst als spirituelle und platonische Liebe ver-

18 Über den Zusammenhang von Liebe und Religion in der deutschen Romantik siehe Kluckhohn (1966). Kitamura Tôkokus Liebe ist zwar christlich, aber nicht »modern«. Denn: Die moderne Liebe beansprucht die Höchstrelevanz. Wenn man seine Frau (nur) wie »Nachbarn« liebt, ist er in der modernen Gesellschaft kein guter Ehemann. 19 In der deutschsprachigen Japanologie ist die iro-Liebe seit langem als Wollust, also als Fleischliebe diskreditiert worden. Davon ausgehend hat man propagiert, dass Japaner keine echte »Liebe« kannten. Aber dieses Argument von Japanologen erinnert mich daran, dass Europäer in der kolonialen Zeit Einheimische in Südostasien (aber nicht nur dort) mit der Begründung massakrierten, dass nur die getauften Menschen die Seele haben und die Einheimischen dort infolgedessen keine Seele haben sollen. Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass es keine Fleischliebe im christlichen Sinne gibt, wo man von Geist und Fleisch im christlichen Sinne nicht unterscheidet.

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standen. Was auch immer Sexualität und Erotik andeuten, wird als ein Zeichen des Verfalls und der Animalität abgewertet. Zur gleichen Zeit jedoch – es klingt sehr paradox – wurde die ai-Liebe in der Beziehung zwischen (Ehe-)Mann und (Ehe-)Frau angelegt. Ein Kontakt oder ein Versuch des Kontakts außerhalb der Familie wurde hingegen als anstößig betrachtet. Der iki resp. sui genannte kulturelle Code zur Kontaktanbahnung außerhalb der Familie wurde abgelehnt, weil er sich im Vergnügungsviertel entwickelt hatte. In der Meiji-Zeit wurden die Bevölkerung und das Leben in der Unterstadt immer weniger in der fiktionalen Literatur dargestellt. Stattdessen wurde mit wachsender Beliebtheit das Leben in der Oberstadt beschrieben. Wie Iwamoto forderte, wurden Studenten, High-School-Mädchen und junge Ehepaare, Beamte, Lehrer, Offiziere usw., also Personen mit oberstadtbürgerlichen Berufen, mehr und mehr zu Hauptfiguren in Romanen und Novellen. In vielen Romanen und Novellen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wurde die ai-Liebe so beschrieben, als ob sie nur dann zwischen einem Jungen und einem Mädchen entsteht, wenn sie in einer Familie so nah wie Bruder und Schwester zusammen leben. Wenn die Liebe bei einem Ehepaar thematisiert wird, wird sie so dargestellt, als ob sie immer schon existiert hätte. 20 Das Muster »Boy meets girl by accident and fall in love« 21 wurde in den Romanen in diesem Zeitraum nicht gerne gebraucht. Aus Sicht der Differenzierungstheorie ist darin impliziert, dass diese Liebe keine Kraft hat, die Grenze zwischen segmentären Systemen von Familien zu überwinden und ein eigenes funktionales System der Intimität

20 Siehe z.B. folgende Novellen bzw. Romane: Futabatei 1887 (auf Englisch ders. 1967); Kosugi 1903 [1999]; Itô 1906 (auf Englisch ders. 1995); Tokutomi, Roka 1898-1900 [1971]; Ozaki 1897-1902 (auf Englisch ders. 1905); Higuchi 1896 (auf Englisch dies. 1981). 21 »Mit diesem selektiven Verhalten zur Geschichte ersetzt man – und das entspricht der reflexiven Geschlossenheit des Liebesgeschehens – den Startmechanismus der vernünftigen Überlegung und der galanten Kunstfertigkeit durch den Startmechanismus Zufall. Dessen Einfügung in den Code bringt eine wichtige Neuerung: die Paradoxierung von Zufall als Notwendigkeit, Zufall als Schicksal oder auch Zufall als Freiheit der Wahl. Mit diesem Einbau wird [...], einer Vergrößerung der Kontaktkreise Rechnung getragen [...]. Während sich höfische und dann galante Liebe selbstverständlich nur an Damen wenden konnte, die ›man‹ schon kannte, so daß die Wahl auf Vorinformationen gestützt werden konnte, wird jetzt mit der Symbolmarke ›Zufall‹ auch der Anfang einer Liebesbeziehung gesellschaftlich ausdifferenziert, nämlich grundlos gesetzt, ins Voraussetzungslose gebaut.« (Luhmann 1982: 180f.)

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zu generieren. Das Geheimnis der Sprengkraft der modernen Liebe liegt in der Passion, aber dieser Zünder wurde im Begriffsfeld der Zivilisation entschärft. Es lässt sich literaturhistorisch beweisen, dass die meisten repräsentativen Liebesromane zu jener Zeit ein schlechtes Ende hatten, während die NinjôbonRomane in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit einem Happy End abschlossen. Tokutomi Roka (1868-1927) schrieb eine Tragödie eines liebenden Paares in Hototogisu (Little Cuckoo). Sie müssen sich zugunsten der Mutter des Ehemanns und aufgrund von Intrigen scheiden lassen. Der Held Kawashima Takeo, Leutnant zur See, liebte seine Frau Namiko aus seinem tiefsten Herzen, aber aus seiner Liebe kam keine relevante Handlung hervor, um den bösen Willen der anderen abzuwehren und ihre Ehe zu retten. Die Heldin Namiko ist – wie Iwamoto postulierte – noch passiver als ihr Mann dargestellt worden. Sie starb zum Schluss einsam an Tuberkulose. Izumi Kyoka (1873-1939) kritisierte die Verehrung der Blutlinie und die Ehepraktiken als Bündnis-Strategie von der neuen Oberschicht und oberen Mittelschicht in Yamanote aus der Perspektive der alten Edo-Bürger-Schicht in On’na keizu (Genealogie der Frauen). Er kritisierte sie in diesem Roman nicht durch das westliche Prinzip der Liebesheirat. Es war ein junger Mann aus der alten Unterstadt, der im Roman die neue obere Mittelschicht dafür kritisierte, keine Heirat mit einer geliebten Person eingehen zu dürfen. Im bekannten Fortsetzungsroman Konjiki Yasha (Ozaki 1897-1902) geht es anscheinend um den Gegensatz von Geld und Liebe, weil die Heldin Miya ihren Verlobten Kankichi verließ und sich freiwillig für einen reichen Bankier entschied. Er predigte vor ihr, dass die Liebe (ai) das Wichtigste im Leben ist, um sie zurückzugewinnen. Genauer gelesen, lässt sich aber herausfinden, dass es in diesem Roman um den Gegensatz von einem Medium (Geld), das über die Grenze jedes segmentären Systems hinaus funktionierte, und dem segmentären System der Familie, in dem die ai-Liebe platziert ist, geht. Miya und Kankichi wohnten wie eine Familie zusammen, weil Miyas Vater Kankichi – der Sohn seines verstorbenen Freundes – wie seinen eigenen Sohn aufgezogen und gepflegt hatte. Hier kann man auch erkennen, dass die Liebessemantik in der Meiji-Zeit keine Kraft hatte, die segmentäre Systemgrenze zu überwinden. Die ai-Liebessemantik bietet keinen Code für den Start einer intimen Beziehung und macht sie so unmöglich. Es ist auch typisch, dass der junge Held und die junge Heldin in der Erzählung Schwierigkeiten haben, eine Beziehung anzufangen, nicht nur wegen äußeren Umständen, sondern auch als Folge ihres Habitus (vgl. z.B. Futabatei, 1887). Weil der Flirt und die Initiative zu einem Kontakt im neueren oberstädtischen Bürgertum negativ beurteilt wurden und weil die aiLiebessemantik solche Handlungen als Zeichen der Animalität und Barbarei

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nach dem Code der Zivilisation/Barbarei negativ auslegt, bekommen die Hauptfiguren Schwierigkeiten, den ersten Schritt zu wagen. Es überrascht deshalb nicht, dass die Zahl der arrangierten Ehen zu dieser Zeit anstieg (vgl. Blood 1967). Zum Schluss möchte ich die anthropologische Konnotation in der aiLiebessemantik erwähnen. Es ist leicht zu erkennen, dass sich die Leitdifferenz in der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, d.h. die Differenz von hoch/niedrig bzw. gehoben/gemein sich in der sozialen Differenzierung von Samurais und chônin widerspiegelte. Diese hierarchische Differenz kann in der anderen anthropologischen Differenz von Geist/Körper, Denken/Fühlen, ri/jou gesehen werden. Luhmann (1982) zufolge ist es notwendig, diese Hierarchie abzuschaffen und Emotionen auf der semantischen Ebene aufzuwerten, um die Inklusionsmöglichkeit für eine intime Beziehung zu erweitern; mit anderen Worten, um es zu ermöglichen, dass jeder jeden ohne Ansehen der sozialen, moralischen und persönlichen Eigenschaften lieben kann, und jeder von jedem geliebt werden kann. 22 Die Aufwertung der Emotion und passion erfolgte in Japan am Ende des 17. Jahrhunderts und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, z.B. in Romanen von Ihara Saikaku und in Dramen von Chikamatsu Monzaemon, und in der kritischen Interpretation der konfuzianischen Texte von Ito Jinsai (1627-1705) (Yoshikawa 1983: 51-56). 23 Die positive Würdigung der Emotionen wurde seither unter den unterstädtischen Bürgern gepflegt. Jedoch verunglimpft Kitamua diese literarische Tradition seit der Edo-Zeit (TZ 1, 277). »Tôkoku’s conception of love was developed through essays published in The Woman’s Magazine (Jogaku Zasshi] between February and October of 1892. He intended in part to present his ideal as the morally proper alternative to traditional Japanese conceptions, which he rightly saw as a legacy of the Tokugawa period. But it was not enough to simple present this alternative; he had to thoroughly discredit the legacy itself, which continued to thrive, above all in contemporary fiction.« (Brownstein 1981: 110)

22 Deshalb legt Luhmann in der Evolution der Liebessemantik in Westeuropa besonders der amour passion viel Bedeutung bei und gab seinem Buch den Titel »Liebe als Passion«. 23 Itô selbst schrieb rückblickend, dass ihm sein Theatergang zur tieferen Erkenntnis des wirklich lebenden Menschen verhalf. Er erwähnte nicht direkt Chikamatsu, aber die beiden lebten weder räumlich, noch zeitlich, noch gedanklich weit entfernt. Dazu Watanabe 2010: 142.

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S CHLUSSBEMERKUNG Diese ai-Semantik setzte sich Schritt für Schritt durch und überwältigte die alte iro-Semantik. Darüber hinaus spielten auch erzieherische Einrichtungen wie Mädchenoberschulen eine unentbehrliche Rolle für die Durchsetzung der aiLiebe. Hinzuzufügen ist, dass Iwamoto selbst auch eine Mädchenschule betrieb. Darüber hinaus fungierten Zeitschriften als Verbreitungsmedien. Neben der Jogaku zasshi Zeitschrift erschienen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreiche Zeitschriften für Frauen und Familie. Ich zähle hier nur bekannte Titel auf: Katei zasshi (Zeitschrift für die Familie) (1892-98, gegründet v. Tokutomi Sohô 24), Nihon no katei (Familie in Japan) (1895-1900), Katei zasshi (Zeitschrift für die Familie) (Nachfolge 1903-1909, gegründet v. Sakai Toshihiko), Katei no tomo (Familienfreunde) (1903-1908), Katei jogaku kogi (Vorlesungen für die Frauenerziehung zu Hause) (1906-1907) (vgl. Koyama 1999: 30). Interessant ist erstens, dass die Familie in diesen Medien als Raum präsentiert wird, der von der Sexualität abgekoppelt ist. Zweitens glaubten nicht wenige Gründer der Zeitschrift an den zivilisatorischen Fortschritt, wie oben dargelegt worden ist. Tokutomi Sohô war bspw. einer der aufklärerischen Journalisten zu jener Zeit und Sakai Toshihiko war Sozialist. Sie teilten den kognitiven und ethischen Fortschritt der Menschheit. Paradoxerweise konnte man die Familie als den ganz sauberen und ordentlichen, von der Sexualität freien, – im kleinbürgerlichen Sinne – moralischen Raum nur deshalb präsentieren, weil man den Raum der Sexualität anderswo vorsah. Das Vergnügungsviertel blieb bis zur Reform, die von der US-Amerikanischen Besatzungsmacht nach dem Pazifischen Krieg durchgeführt wurde, bestehen. Es verlor aber den Glanz des kulturellen Zentrums der Edo-Zeit und wurde bis zu seiner Auflösung als Symbol des Sittenverfalls immer weiter abgewertet. Ich möchte zum Schluss die Rezeption von einem bekannten Roman des Andre Gide, La porte étroite erwähnen (Koyano 2005: 172 f.). Jérôme – der Held und Erzähler im Roman – liebt seine 2 Jahre ältere Kusine Alissa. Auch sie liebt ihn. Weil sie puritanistische Predikte sehr ernst nehmen und in ihrem Bann gefangen bleiben, bleibt ihre Beziehung immer platonisch bzw. spirituell. Jeden Versuch einer körperlichen Annährung versagt sie sich. Zum Schluss starb Alissa an ihrer Enthaltsamkeit einsam in Paris. Die Übersetzung ins Japanische erfolgte 1923. Eigentlich hatte Gide in diesem Roman die Absicht, die fleischlose, spirituelle Liebe – puritanistischer Prägung – eines jungen Paares in der patriarchalen Gesellschaft, und auch die Herrschaft des Christentums zu kritisieren.

24 Brüder des oben genannten Schriftstellers Tokutomi Roka.

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Aber in Japan wurde dieser Text gerade umgekehrt als Lob der spirituellen Liebe interpretiert. 1935 bezeichnet ein japanischer Essayist und Literaturkritiker Ishikawa Jun diesen Roman als »ein hochwertigen Liebesroman«. In dieser Interpretation manifestiert sich das Liebesideal der japanischen Oberstadtbürger – Fehlgeburt der modernen Liebe – eindeutig.

L ITERATUR a) Quellen Murasaki shikibu: Genji monogatari (Geschichte des Prinzen Genji), entstanden im 11. Jahrhundert (auf Deutsch: Dies. [1995], Die Geschichte vom Prinzen Genji. 2 Bde., Frankfurt a.M./ Leipzig: Insel). Unbekannte: Ise monogatari, entstanden im 10. Jahrhundert (Auf Deutsch: Unbekannte [1981], Das Ise-monogatari. Kavaliersgeschichten aus dem alten Japan, aus dem Original übertragen und komm. von Siegfried Schaarschmidt, Frankfurt a.M.: Insel). Chiao-shih I-lin, zit. nach. d. Ausgabe von Kyôto 1692, Nachdruck, in: (1976), Wakoku hon shoshi taisei, Bd. 6, Tôkyô. Chikamatsu, Monzaemon (1703): Sonezaki shinjû (Doppelselbstmord aus Liebe in Sonezaki). Chikamatsu, Monzaemon (1720): Shinjû ten no amishima (Doppelselbstmord aus Liebe auf dem Amishima-Insel). Ihara, Saikaku (1682): Kôshoku ichidai otoko. (auf Deutsch: Ders. [1965]: Yonosuke. Der dreitausendfache Liebhaber. Wiesbaden: Horst Erdmann). Ihara, Saikaku (1686): Kôshoku gonin on’na. Ihara, Saikaku (1686): Kôshoku ichidai on’na. Ihara, Saikaku (1692): Seken munazanyô (Auf Englisch: Ders. [1965]: This Sheming World, Tôkyô: Tuttle). Tamenaga, Shunsui (1837-39/42): Shunshoku sode no ume (Frühlingsfarbene Pflaume im Ärmel). Buyô, Inshi (1994 [1816]): Seji kenbunroku (Beobachtung der Gegenwart), (Nachdruck Tôkyô: Iwanami). Chambers, Robert and William (1852): Political Economy for Use in Schools, and for Private Instruction. Edinburgh. Fukuzawa, Yukichi (2002 [1866]): Seiyô jijô (Things Western), Nachdruck,Tôkyô: Keio University Press.

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