»Die Vernunft ist praktisch«: Fichtes Ethik und Rechtslehre im System [1 ed.] 9783428512980, 9783428112982

Recht und Ethik gehören zu den Hauptbausteinen der praktischen Philosophie Fichtes. Sie sind besondere Disziplinen in je

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»Die Vernunft ist praktisch«: Fichtes Ethik und Rechtslehre im System [1 ed.]
 9783428512980, 9783428112982

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Carla De Pascale · „Die Vernunft ist praktisch"

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 17

„Die Vernunft ist praktisch'6 Fichtes Ethik und Rechtslehre im System

Von Carla De Pascale

Duncker & Humblot · Berlin

Italienische Ausgabe Etica e diritto. La filosofia pratica di Fichte e le sue ascendenze kantiane (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Monografia 26), il Mulino, Bologna 1995

Deutsche Übersetzung Stefan Monhardt

Die Übersetzung dieses Buches wurde angefertigt mit Unterstützung des Segretariato Europeo per le Pubblicazioni Scientifiche Via Val d'Aposa 7-40123 Bologna - Italy www.seps.it

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-11298-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Für meinen Vater

Inhaltsverzeichnis

Einführung: Fichte und seine Zeit

9

Erster Teil Die Funktion der Wissenschaft

35

Erstes Kapitel: Die Philosophie als Wissenschaft

37

1. 2.

37 43

Das „System" der Wissenschaft Die Funktion des „Strebens"

Zweites Kapitel: Zum Verhältnis von Moral und Recht beim frühen Fichte

55

1. 2.

55 73

Die Moralkonzeption der Jugendschriften Naturrecht und Vernunftrecht Zweiter Teil Das System der Sittenlehre

Erstes Kapitel: Die Grundlegung der Sittenlehre 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Die Sittenlehre als Wissenschaft Ethik/Sittenlehre versus Moralphilosophie Die theoretischen Kernfragen der „Sittenlehre" Die Ichheit und das Wollen Die „Realität" der moralischen Handlung Freiheit und Notwendigkeit des Handelns Die Triebe

Zweites Kapitel: Die konkrete Ethik

87 89 89 94 101 107 111 119 128 135

1. Das Böse 135 2. Phänomenologie des Bewußtseins 140 3. Die Gewißheit der Pflicht und das „Materiale" des Sittengesetzes . . 143

8

Inhaltsverzeichnis

4. Die „Bedingungen der Ichheit" 5. Der Atlas der Pflichten

149 154

Drittes Kapitel: Moralphilosophie, Sittenlehre und Religionsphilosophie

167

1. 2. 3.

167 179 186

Das Bild und das Absolute Die „Freiheitsprodukte" Die Individualität und ihre Bedeutung Dritter

Teil

Das System der Rechtslehre

193

Erstes Kapitel: Die Grundlegung der Rechtslehre

195

1. 2. 3.

195 199

4. 5.

Die Rechtslehre als „Wissenschaft" Recht und Freiheit Der körperliche Leib als ,medium' der Kommunikation für die Menschen Urrecht und Zwangsrecht Ephorat und repräsentative Verfassung

205 210 220

Zweites Kapitel: Theorie und Praxis des Rechts

231

1. 2. 3. 4.

231 237 241 247

Rechtsgesetz und Sittengesetz Grenzen und Unzulänglichkeiten des Ephorats Die „Muße" Die Kultur zwischen „realem" und „idealem" Staat

Literatur

255

Personenregister

281

Einführung: Fichte und seine Zeit* Die fruchtbarsten Jahre von Fichtes Wirken - zwischen 1790 und 1810 — fallen in eine ereignisreiche Zeit der deutschen Geschichte, in der geistige Entwicklungen, die sich im Lauf des 18. Jahrhunderts mehr oder minder stark abgezeichnet hatten, plötzlich zur Reife gelangten. Dieser geschichtliche Abschnitt war mehr als andere ein Brutkasten für eine Reihe künftiger Veränderungen, ein Schmelztiegel für Ideen, Anregungen und Entwürfe, die sich auch auf der Ebene der Institutionen auswirken konnten. Darüber darf die außenpolitische Situation nicht vergessen werden, denn diese Jahre bedeuteten auch eine entscheidende Zuspitzung im fortdauernden Konflikt mit Frankreich. Der Konflikt warf zwar für einige Zeit seine Reflexe nicht auf die gesamte intellektuelle Elite Deutschlands (nur gewisse Kreise, die engere Beziehung zu französischen Emigranten unterhielten oder ganz allgemein einem feudal-ständischen Weltbild näherstanden, wurden stärker von ihm beeinflußt). Und noch weniger hatte dieser Konflikt auf Fichtes Schaffen irgendeinen ausschlaggebenden Einfluß. Doch die Koalitionskriege zogen sich immerhin über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren hin, und vor allem begann mit dem Anfang des neuen Jahrhunderts der von Napoleon initiierte Eroberungskrieg sein Gesicht vollständig zu zeigen. Dieses Ereignis bestimmte Denken und Werk Fichtes nun allerdings entscheidend: genauso wie ein Jahrzehnt zuvor die französische Revolution. * Mein besonderer Dank gilt Professor Dr. Claudio Cesa, der mich vor dreißig Jahren in diesen Autor eingeführt und meine Studien seither geduldig begleitet und geführt hat. Bedanken möchte ich mich bei denjenigen, die mir 1995 bei der Publikation der italienischen Ausgabe meiner Arbeit geholfen haben: bei Professor Dr. Paolo Prodi für die Aufnahme des Bandes in die Monographienreihe des Italienisch Deutschen Historischen Instituts in Trient, bei Professor Dr. Pierangelo Schiera für die nunmehr zwanzig Jahre währende Unterstützung meiner Forschungsarbeit und bei Frau Dr. Giuliana Nobili Schiera für ihre Freundschaft und die Lektorierung des Bandes. Dankbar bin ich außerdem Professor Dr. Giorgio Cracco, der dieses Buch in die deutsche Schriftenreihe des Instituts aufgenommen hat, Stefan Monhardt für die aufmerksame Übersetzung und Friederike Oursin für die kompetente redaktionelle Betreuung. - Die Anmerkungen stammen im wesentlichen aus dem Jahr 1995 und wurden nur in wenigen Fällen aktualisiert. In dieser Arbeit wird, soweit möglich, nach der G A zitiert, auch wenn sich dadurch Uneinheitlichkeiten in der Schreibung einzelner Begriffe ergeben und manche Freiheiten des 18. Jahrhunderts reproduziert werden. Hervorhebungen sind stets solche des Originals; Textgrundlage der Zitate ist die zuerst genannte Ausgabe.

Einführung

10

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, Fichtes intellektuelle Biographie erschöpfend darzustellen. Einige ihrer Stationen aber, bei denen besonders deutlich wird, in welchem Maß der Philosoph in die Geschehnisse seiner Zeit verwickelt war, sollen hier nachgezeichnet werden. 1762, unmittelbar vor dem Ende des Siebenjährigen Krieges im sächsischen Rammenau geboren, Sohn eines Bandwirkers mit großer Familie, besucht Johann Gottlieb Fichte, dem der Baron von Miltitz - ein freigebiger Adliger aus der Umgebung - den Abschluß seiner Schulbildung ermöglicht hat, zunächst die Universität Jena, wechselt dann nach Leipzig und schließlich nach Wittenberg. Er geht keinem geregelten Studium nach: unter dem Druck wirtschaftlicher Schwierigkeiten und durch einen keineswegs einfachen Charakter gelenkt, wechselt er von 1785 an häufig seinen Wohnsitz, um Stellungen als Hauslehrer anzunehmen - ein Schicksal, das er mit vielen künftigen Intellektuellen der Elpoche, von A.W. Schlegel bis Schleiermacher und Hegel, teilt. Klopstock und Lessing gehören zu den ersten Autoren, die der jugendliche Fichte liest, wenig später treten Wieland, Rousseau und Montesquieu an ihre Seite. 1789 plant er, ein Buch „über FürstenErziehung" zu schreiben 1, und dieses - dann allerdings nicht ausgeführte - Vorhaben verdient in allgemeiner Hinsicht als auch in bezug auf spezifische Inhalte seiner Philosophie Beachtung. Einen Herrscher zur Einsicht in seine eigene Rolle und die ihn erwartenden Aufgaben zu bringen, so daß er in richtiger und dem Zweck angemessener Weise sein Volk oder die Nation zu lenken vermag, ist ein klassisches Thema der Aufklärung, dem auch Fichte nicht ausweichen möchte, wenn er auch sein ursprüngliches Buchprojekt beiseitegelegt hat. Tatsächlich läßt sich in der „Zurückforderung der Denkfreiheit" klar der Widerhall dieses Themas erkennen, das Fichte aus der Tradition aufnahm 2 und mit Stoff, der dem Geist seiner Zeit mehr entsprach, neu bearbeitete. Das Thema führt dort auf etwas indirektem Weg zum Hauptgegenstand der Abhandlung. Etwas indirekt, weil es sich hier um eine subtile Darbietung der Kunst des „als ob" handelt: der Autor wendet sich einerseits an die Völker, die noch nicht um ihre Rechte wissen, andererseits aber an die Herrscher, die nur noch darauf warten, sich in der Wissenschaft des Regierens bilden' zu lassen. Es muß ergänzt werden, daß der Kern dieser Abhandlung - eben eine „Zurückforderung der Denkfreiheit" - offenkundig widerruft, was Fichte nur wenige Monate zuvor in drei kurzen Entwürfen geschrieben hatte, um die Arbeit der Zensur zu unterstützen, die Friedrich Wilhelm II. in Preußen angeordnet hatte (sie wurde mit dem Religionsedikt vom 9. Juli 1788 eingeführt, mit dem Zensuredikt vom Dezember des gleichen Jahres fortgesetzt und erreichte ihren Höhepunkt mit der Einrichtung einer

1

FG, 5, S. 208.

2

Angefangen mit den „Kronprinzenvorträgen" von C.G. Svarez (1791/92).

Einführung

Kommission, die die Überwachung auf sämtliche Publikationen ausweitete3). Die anfangs von der Zensur verweigerte Druckerlaubnis zum „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" und das gleiche Los, das jene Abhandlung traf, die unter dem gelehrten Publikum dann als zweites Stück von Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" bekannt werden sollte, müssen ihn offenbar zur Einsicht gebracht haben4. Auf dem Titelblatt der „Zurückforderung" findet sich die Angabe: „Heliopolis, im letzten Jahre der alten Finsterniß (1793)". Der Name der mythischen Sonnenstadt, die hier fiktiver Druckort und, mehr noch, Ort einer neuen Utopie ist, beschwört den Anbruch eines Zeitalters der Gerechtigkeit herauf. Die Ablehnung der Auffassung, die Monarchie gründe sich auf göttliches Recht; die Widerlegung der Vorstellung einer durch ererbtes Recht übertragenen und fortgeführten Herrschaft; die Uberzeugung, daß die höchste Aufgabe des Herrschers in der „Beschützung" der Rechte der Untertanen besteht und in der „Rückgabe" dieser Rechte, wo ihnen diese entrissen worden waren 5; endlich das Wiederaufgreifen der friderizianischen Formel vom Herrscher als primus inter pares , die sich hier in einen neuen Horizont einfügt, in dem das Individuum bereits den Wert des Selbstbewußtseins entdeckt hat: Das sind die kennzeichnenden Punkte dieses Pamphlets. In reicherer Gestalt und ausführlich begründet werden sie im „Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution" erneut erscheinen - dem Werk, das die seit kurzem mit dem „Versuch" über die Offenbarung erlangte Berühmtheit des Autors festigte und ihn, im guten wie im bösen Sinn, zu einem Bezugspunkt der politischen Kultur der Zeit machte. Der „Beitrag" erschien - anonym - 1793, als sich die Scharen der Intellektuellen in Deutschland und in ganz Europa 6 , von denen die Ereignisse in Frankreich enthusiastisch begrüßt worden waren, bereits stark gelichtet hatten. Innerhalb kürzester Zeit stand Fichte mit seiner Stimme fast isoliert da. Doch die Resonanz seines Werks war stark; sie konnte nicht anders ausfallen, denn hier war ein Weltbild dargestellt, dessen theoretisch-politische Grundzüge in ausdrücklicher und deutlicher Weise hervortraten. In ihm wurde einerseits eine zugleich spezifische und umfassende Antwort auf die in und außerhalb Deutschlands vom konservativem Lager erhobenen Vorwürfe gege3

Vgl. X. Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 117 ff., sowie GA, I I 2, S. 175 ff.

4

Zusätzlich zu X. Léon, Fichte et son temps, ein Werk, auf das ich allgemein zu biographischen Auskünften über Fichte verweise, siehe nun insbesondere E. Fuchs (Hrsg.), Fichte im Gespräch, sowie E. Cassirer, Kants Leben und Lehre. 5 6

GA, I 1,S. 186 / SW, VI, S. 28.

Zusätzlich zu den in 1. Tl., 2. Kap., Anm. 24 gegebenen bibliographischen Hinweisen vgl. G. Rudé , Revolutionary Europe.

Einführung

12

b e n 7 , u n d andererseits w u r d e bereits m i t einem gewissen systematischen Anspruch erneut vorgetragen, was sich allgemein als Ideologie des D r i t t e n Standes bezeichnen ließe. Diese allgemeine Bezeichnung hat den Vorteil, daß das D e n k e n des A u t o r s politisch nicht präziser verortet werden muß, u n d sie signalisiert vor allem, daß hier Ideen u n d theoretische Anregungen aus mannigfaltigen Quellen gleichzeitig nebeneinander bestehen: von Kants Aufklärungsaufsatz bis zu Rousseaus „ D u contrat social", v o m „ E m i l e " bis zu den Hauptschriften des Physiokratismus. Es handelt sich also nicht n u r u m eine Aufforderung, sich aus dem „Reich der Finsterniß" zu befreien; u n d es handelt sich auch nicht allein u m eine politische Legitimation u n d rechtlichinstitutionelle Rechtfertigung der Revolution als eines historischen Ereignisses 8 wie auch als eines exemplum

für eine moderne politische Theorie.

D e r A n s p r u c h von Fichtes Untersuchung war noch ehrgeiziger. Sie wollte die Instrumente aufzeigen, die der alten O r d n u n g u n d ihrem Fortdauern i n der Gegenwart ein E n d e setzen konnten - u n d damit den Standesprivilegien, deren Ursprung i m D u n k e l der Zeiten lag, u n d den zahlreichen Schranken zwischen den Ständen, die noch i m m e r jeglichen Versuch sozialer M o b i l i t ä t verhinderten. 9 E r öffnete damit den Weg für die Schaffung, w e n n nicht Ausweitung

7

Den nächsdiegenden Anlaß bildete die Schrift von A. W. Rehberg, Untersuchungen über die französische Revolution nebst kritischen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften, welche darüber in Frankreich erschienen sind (1793), die der „Beitrag" Punkt für Punkt widerlegt. Umfangreiche Auszüge aus Rehberg finden sich im kritischen Apparat der von R. Schottky besorgten Ausgabe vom „Beitrag". Rehberg war in die Fußstapfen von Burke getreten, dessen „Reflexions on the French Revolution" (1790) sofort enorme Verbreitung gefunden hatten. 8 Eine Rechtfertigung, zu der Fichte „auf vernünftigem Weg" gelangt; vgl. GA, I 1, S. 214 / SW, V I S. 53. Es ist hinzuzufügen - doch darauf wurde bereits hingewiesen - , daß der ,Beweis' der Legitimität des Begriffs der Revolution nicht notwendig impliziert, daß Fichte jakobinischen Idealen anhing - wie allerdings nicht wenige Interpreten glaubten: von X. Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 166 ff. und besonders S. 203-206 (und vor ihm R. Strecker, Fichtes Staatsphilosophie) bis M. Guéroult , Fichte et la Révolution française, von M. Buhr, Revolution und Philosophie, S. 44 ff. bis B. Willms, Die totale Freiheit, S. 21 ff. (wenn auch mit Vorbehalten); vgl. auch ders., Einleitung, zu seiner Ausgabe der Fichteschen „Schriften zur Revolution", sowie A. Philonenko, La liberté humaine. 9 Bestimmte Vorschläge Fichtes - ob in den Schriften der Jugendzeit oder in den vom Autor selbst als „populär" bezeichneten Werken - sind nicht nur theoretische Vorschläge, sondern stellen ein Echo laufender Debatten dar, begleiten das Heranreifen politischer Entscheidungen oder nehmen künftige Maßnahmen vorweg. Ein Beispiel dafür findet sich schon beim Vergleich der genannten Vorschläge Fichtes mit den unmittelbaren Auswirkungen - der Abschaffung der Standesschranken oder zumindest deren beträchtlicher Abschwächung - , die sich aus dem von Freiherr vom Stein veranlaßten Edikt zur Bauernbefreiung ergaben (aufgrund dessen Bürgern der Erwerb adligen Landbesitzes und der Aristokratie die Ausübung des Handels gestattet wurde).

Einführung

einer neuen Klasse; mit der Freiheit der Initiative, die sich mit ihr verband, mit der größeren Möglichkeit des Zugangs zu den öffentlichen Amtern 10 , die einer Gesellschaft, der große Umformungen bevorstehen, ihre Lebendigkeit zurückgibt. Um zumindest mit einigen Hinweisen auf die Einzelheiten der Ausführungen einzugehen, sei an die Abschnitte erinnert, die die Sklaverei verurteilen, die Institution der Leibeigenschaft 11, das Recht, Güter ebenso wie Ansprüche auf Personen zu erben, welches die Grundlage der privilegierten Stellung der Aristokratie, des hohen Klerus und des Militärstandes bildete. Von daher die Zustimmung zu den Plänen für eine Säkularisation der Güter im Besitz der kirchlichen Hierarchie und der Vorschlag einer Wiederverteilung des Grundbesitzes des Klerus wie auch des weltlichen Adels 12 . Die Verurteilung der Konzentration des Grundeigentums erfolgte im Namen eines jedermann zustehenden Rechtes auf Besitz von Boden - in einer noch weitgehend von der Landwirtschaft bestimmten Wirtschaft erste Quelle des Lebensunterhalts. Die Verurteilung fiel umso stärker aus, da Fichte auf der Ebene der ökonomischen Theorie Modelle heranzog, die vorwiegend aus dem Physiokratismus stammten. Hinzu kam sein persönliches und ziemlich negatives Urteil über den „schwindelnden Handel unseres Zeitalters" 13 und schließlich eine Geste der Verachtung gegenüber dem „Luxus unseres Jahrhunderts" 14 . Kritik dieser Art

10

Dieses Thema ist ein topos des zeitgenössischen Denkens und wird in Hegels Begriff eines „allgemeinen Standes" münden. (Doch noch bis zum Ende des 18. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts wird von vielen die Frage aufgeworfen, ob die Schaffung eines autonomen Standes von Staatsdienern zweckmäßig sei oder die Bürokratie nur auf der Ebene eines „Nebenstandes" anzusiedeln sei.) Hinzu kommt aber auch ein historisches Faktum, nämlich die Schaffung eines autonomen Beamtenstandes zehn Jahre später als Teil einer ebenfalls durch vom Stein veranlaßten umfassenderen Verwaltungs reform. 11

Auch hier finden sich genaue historische Bezüge, nicht nur in dem Edikt, das vom Stein ein Jahrzehnt später erlassen wird (am 1. Oktober 1807) - zu ihm siehe oben, Anm. 9 - , sondern auch in den Bauernaufständen der 1790er Jahre. 12 Auch hier ist die Prägung durch den in Frankreich eingeschlagenen neuen Weg nicht zu verkennen, und gleichzeitig ist dies eine Art Vorahnung der von Frankreich veranlaßten Umgestaltung in den linksrheinischen Gebieten ab 1797. 13 14

G A , I 1,S. 3 1 8 / S W , VI, S. 181.

GA, I 1, S. 323 / SW, VI, S. 187. R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 121-122, verweist zu diesem Thema auf Ch. Garve, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben (1792), der das Bild eines durch die Industrie hervorgerufenen Verfalls zeichnet; der Luxus nämlich löste die Grenzen zwischen den Ständen auf, während der Reichtum zuvor statisch war. Doch abgesehen davon, daß der ,Luxus 4 die Zielscheibe der Kritik seitens konservativerer ökonomischer Lehren bildete (für jemanden wie F. List etwa stellte sich dagegen dieses Problem nicht), bleibt es eine historische Tatsache, daß es während dieser Zeit in Preußen eine Krise der Uberproduktion (besonders von Luxusartikeln) gab.

Einführung

14

erscheint einerseits ziemlich aktuell - denkt man an die zeitgenössische Debatte für und wider den Merkantilismus - , andererseits aber bereits vollkommen überholt, denn die ,antikapitalistische' Polemik 15 hatte schon in ihren frühesten Äußerungen 16 ihr eigentliches Ziel in der Organisation der industriellen Arbeit und deren sozialen Auswirkungen ausgemacht - während sich dieses Problem für Fichte, der in der Untersuchung der landwirtschaftlichen Arbeit verhaftet blieb, praktisch nicht stellte. Den Hintergrund des Werkes bildet eine umfassende Reflexion über Natur- und Vernunft recht, die ihrerseits die Grundlage und Voraussetzung für eine Lehre von den Grundrechten darstellt. Diese ist der Rahmen für jedes der behandelten Themen und wird in dieser Darstellung hier nur aus einem praktischen Grund mit einem spezifischen Gegenstand direkt in Beziehung gesetzt: der Ablehnung des Krieges. Der praktische Grund besteht in der weiten Verbreitung und Resonanz der pazifistisch-kosmopolitischen Einstellung vom letzten Teil des 18. Jahrhunderts bis zu den ersten Anfängen des neuen Jahrhunderts 17 . Fichtes Ablehnung des Krieges ist um so entschiedener, als sie Verurteilung des Despotismus bedeutet. Beide Positionen verbinden sich und rechtfertigen sich gegenseitig, insofern nach Ansicht des Autors der absoluten Herrschaft im Inneren immer ein Expansionsdrang nach außen entspricht, der auf die Errichtung einer weltumspannenden Monarchie zielt. Der Krieg dient nie den Interessen eines Volkes, sondern nur denen seines Herrn. Daß sich gleichzeitig mit den Entwicklungen in Frankreich auch die Einstellung dazu bei den Intellektuellen und der weiteren Öffentlichkeit gewan15 Die sich dann im 19. Jahrhundert entfalten wird. Sie ging zunächst von reaktionärer und konservativer Seite aus - bei unterschiedlicher Schwerpunktsetzung - und dann von Autoren, die sich der geschichtlichen Entwicklung bewußt waren, aber eine unmenschliche Organisation der Arbeit bekämpften. Auf der einen Seite stehen etwa Werke von A Müller, Elemente der Staatskunst (1809), sowie ders. Versuch einer neuen Theorie des Geldes (1816), oder der Aufsatz von F. von Baader, Uber das sogenannte Freiheitssystem oder das passive Staatswirthschaftssystem (1802) - wenn auch, wie gesagt, mit Unterschieden in den jeweiligen Konzeptionen. Auf der anderen Seite findet sich ein buntes Spektrum, das von noch physiokratisch geprägten Positionen wie bei W. Godwin , Enquiry Concerning Political Justice and its Influence on Morals and Happiness (1793) bis zu bereits sozialistischen' Lehren wie L. de Sismondi, La richesse commerciale (1803), sowie ders., Nouveaux principes de l'économie politique (1819) reicht. 16

Etwa L. Krug, Betrachtungen über den National-Reichtum des Preussischen Staats und über den Wohlstand seiner Bewohner (1805), die R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 122 ff. und 128, eben wegen der in ihnen bereits enthaltenen Kritik am industriellen System zitiert. 17

Zu der ein reicher Strom von „Philosophie des Krieges" ein immer stärkeres Gegengewicht bildete (vgl. M. Mori , La ragione delle armi; A Philonenko, Essais sur la philosophie de la guerre, sowie J. Kunisch / H. Münkler [Hrsg.], Die Wiedergeburt des Krieges).

Einführung

delt hatte, mußte Fichte selbst bemerkt haben; so wie er auch leicht voraussehen konnte, daß die Publikation seiner Abhandlung ihn in Schwierigkeiten bringen konnte. Daher die anfängliche Anonymität - die freilich nicht länger als einen halben Tag gewahrt blieb - , und daher die unterbliebene Abfassung des angekündigten dritten Teils des Werkes. Sie ist mit dem bloßen Verweis auf die neuen akademischen Verpflichtungen des Philosophen nicht zureichend zu erklären; die Tatsache, daß ihn Persönlichkeiten wie Goethe oder C.G. Voigt, Geheimrat des Weimarer Herzogs, ausdrücklich baten, auf das Projekt zu verzichten, darf nicht unterschätzt werden. Es wird sich zeigen, daß es für diese Bitte ganz bestimmte Gründe gab, doch am Anfang stand auch eine von erzkonservativen Kreisen mit ganzer Kraft geführte Rufmordkampagne; die Zeitschrift „Eudämonia" etwa hatte sich darin hervorgetan, den Jakobinismus' des Philosophen 18 zu verbreiten - und gewiß nicht zu seinem Ruhm. Die Berufung nach Jena 19 auf den Lehrstuhl von Reinhold, einem der angesehensten Kantianer, bedeutete für Fichte einen glänzenden Beginn seiner akademischen Laufbahn. Zusammen mit den aufsehenerregenden politischen Stellungnahmen Fichtes und der zunehmenden Beachtung seiner Person, die die Resonanz der Vorlesungen über „Wissenschaftslehre" mit sich brachte, mußte ein solches Debüt schließlich die Wirkung eines Brennspiegels haben. Tatsächlich wurden die Gemüter der Gegner noch mehr aufgebracht. Sie warteten nur auf eine Gelegenheit, ihre Stimme erneut und lauter zu erheben, und der Philosoph unterließ es nicht, wiederholt eine solche Gelegenheit zu bieten. Zunächst mit seinen „Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" 20 , dann, indem er eine zweite Vorlesung zu diesem Thema ankündigte und dabei die Zeit auf die Stunde des Gottesdienstes ansetzte21. Voigts Aufforderung, die Publikation des letzten Teils des „Beitrags" zu unterlassen, muß als eine Art 18

Der sich schon nach dem Erscheinen des ersten Teils des „Beitrag" gegen den Vorwurf des „Demokratismus" verteidigen mußte; vgl. FG, 5, S. 237. 19

An die Universität, an der er - auch darin gleich vielen in seinen sozialen Lage - Theologie studiert hatte. 20

Der Inhalt dieser Vorlesungen ist nicht gänzlich neutral, wie sich in einem späteren Kapitel zeigen wird. Ein Thema, das weniger wohlgesinnte Geister aufbringen konnte, war z.B. Fichtes Kritik an Rousseaus ,passiver4 Haltung gegenüber den Dingen der Welt. Zu beachten ist auch der außerordentliche Erfolg dieser Vorlesungen, zu deren Hörern von Anfang an Persönlichkeiten wie Schiller oder Wilhelm von Humboldt gehörten. 21 So konnte die „Eudämonia" leicht eine Kampagne gegen den Philosophen eröffnen, der als „deutscher Vernunft-Götzendiener" anstatt des Gottesdienstes „eine Art von öffentlichem Vernunft-Gottesdienst" halte; FG, 1, S. 181 ff. Schon im Juni 1794 (etwa einen Monat vor dem 9. Termidor) hatten zudem Gerüchte kursiert, Fichte habe öffentlich geäußert, es werde in zwanzig oder dreißig Jahren weder Könige noch Fürsten mehr geben; FG, 1, S. 114 und 121 ff. Der zweite Vorlesungszyklus begann im November desselben Jahres. Zur „Eudämonia" vgl. auch X. Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 534-549.

Einführung

16

von Gegenleistung betrachtet werden, die von Fichte als Ausgleich für die vom H o f erteilte Erlaubnis 22 , die Vorlesungen am Sonntagnachmittag zu halten, verlangt wurde; dennoch hatte man sich von Jena aus, um etwas gegen Fichte zu unternehmen, an das Oberkonsistorium von Weimar gewandt, das seinerseits diese Vorlesungen als einen bewußt gegen den öffentlichen Gottesdienst gerichteten Schritt interpretierte. In der Zwischenzeit war Fichte in eine Auseinandersetzung mit einigen der mächtigsten studentischen Orden geraten (die Orden waren Vorläufer der Burschenschaften). Diese Auseinandersetzung verlief so heftig, daß er um seine Unversehrtheit fürchten mußte und sich für einige Zeit aus Jena entfernte. Fichte war bei diesen verwickelten Vorgängen, von der Regierung zum Teil unterstützt, zum Teil benutzt, mit der Reform verschiedener Bräuche dieser Orden befaßt; jedenfalls lenkte er damit erneut auf sich und auf die Rolle, die er sich selbst zugeteilt hatte, die Aufmerksamkeit des Weimarer Hofes und forderte dessen Bemühung heraus. Es sollte das vorletzte Mal sein. Die folgenden Ereignisse, bei denen Goethe nicht länger zur Vermittlung bereit war, beendeten die Jenaer Periode. Nicht einmal drei Jahre später kam es zum berühmten Vorwurf des Atheismus. Der casus belli war die Publikation eines erklärtermaßen skeptischen23 Beitrags in der Zeitschrift „Philosophisches Journal", die Fichte gemeinsam mit Niethammer herausgab. Fichte hatte diesem Beitrag einen eigenen Aufsatz 24 beigegeben, der die negativen Wirkungen des ersten in gewisser Weise ausgleichen sollte. Fichtes Schrift kreist gänzlich um die Auffassung, der Glaube an eine „moralische Weltordnung" beruhe auf philosophischen Grundlagen. Daraus ergab sich eine intensive Debatte, an der viele teilnahmen, ob sie nun auf den Kern der Sache eingingen oder sich tout court zum einen der beiden feindlichen Lager schlugen. Die Auseinandersetzung löste eine Flut von Schriften zu diesem Thema aus, mehr oder minder Gelegenheitswerken. Natürlich nahm auch Fichte weiter an der Diskussion teil und ließ Überlegungen streng philosophischen Inhalts mit Beiträgen abwechseln, die sich als politische Agitation bezeichnen ließen. Zum einen wollte er nämlich erläutern, wie er über einen Gegenstand dachte, der organisch zu seinem philosophischen „System" gehörte, zum anderen war er überzeugt, Opfer einer seit längerer Zeit von der konservativen „Partei" angezettelten Intrige zu sein, die sich nicht

22

Sie war Gegenstand eines offiziellen Reskripts von Herzog Karl August.

23

Mit diesem Begriff soll hier die allgemeine philosophische Haltung des Autors des von Kant geprägten F.K. Forberg - und im besonderen seine Position gegenüber dem Problem der Existenz Gottes zusammengefaßt werden. Forberg vertrat die Ansicht, daß es sowohl unmöglich sei, Gottes Existenz mit Sicherheit zu behaupten, als auch, sie mit Sicherheit zu leugnen. Sein Aufsatz trug den Titel „Entwicklung des Begriffs der Religion" (jetzt in: Dokumente zum Atheismusstreit), S. 23-38. 24 „Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche WeltRegierung"; GA, I 5, S. 415-453 / SW, V, S. 191-238.

Einführung

nur gegen ihn selbst, sondern gegen die gesamte „moderne" Philosophie (seit Kant) richtete. Fichte glaubte, noch immer auf mächtige Helfer zählen zu können und sich weiterhin großen Ansehens im akademischen und intellektuellen Umfeld zu erfreuen. So wagte er sich bei dieser Polemik weit vor: Er drohte mit seiner Demission für den Fall, daß er keine angemessene Genugtuung erhalte. Das Angebot der Demission wurde angenommen, und keiner der Kollegen, die Fichte ihre Unterstützung zugesagt hatten, folgte dem Philosophen in seiner Entscheidung. Seit einiger Zeit waren Verhandlungen im Gang, um Fichte an die Mainzer Universität zu holen. Die Stadt war von Frankreich ,befreit 4 worden 25 , und ihrer alten Universität stand nun eine dem neuen politischen Kurs entsprechende völlige Umstrukturierung bevor 26 . Als diese Verhandlungen scheiterten, fand Fichte Aufnahme bei Friedrich Schlegel in Berlin. Diese Stadt wurde schließlich Ausgangspunkt einer neuen Phase seines Wirkens. In den letzten Jahren seines Jenaer Aufenthalts hatte Fichte ein wichtiges erstes Wegstück zurückgelegt, um den Plan der detaillierten Entfaltung eines Systems des Wissens auszuführen. Dieser Plan war zwar in seinen Ergebnissen originell, nicht jedoch in seinen Beweggründen - womit natürlich äußere Gründe gemeint sind, nicht die eng mit den Inhalten des Systems verbundenen. Es sei hier nur knapp die große Tradition der Enzyklopädien erwähnt, auf die diese Idee zurückgeht (von Leibnitz' Projekt über die zahlreichen allgemeinen und speziellen Wörterbücher, die in England und Frankreich florierten, bis zur „Encyclopédie"), ohne die Veränderungen außer acht zu lassen, die diese Idee während ihrer Entwicklung im Lauf der Zeit erfahren hatte, und ohne die neuen Ziele zu übersehen, zu denen sie gelangen sollte (das Beispiel schlechthin ist Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", bei der „System" und „Enzyklopädie" schließlich zu einem unicurn verschmelzen 27). 25 Die von Custine gegründete kleine Mainzer Republik war ziemlich kurzlebig (1792/93). Die Stadt blieb jedoch weiterhin, von einer kurzen Zeit abgesehen, ebenso wie die anderen linksrheinischen Gebiete unter französischer Verwaltung. Preußen hatte zusammen mit anderen deutschen Staaten mit Frankreich 1795 in Basel einen Separatfrieden geschlossen, in dem es den Rhein als Ostgrenze Frankreichs anerkannte. Osterreich selbst hatte schon vor Campoformio geheim die französische Hoheitsgewalt über diese Gebiete anerkannt. 26

Die Einladung zur Zusammenarbeit in dieser Richtung und das Angebot, die Leitung der neuen Einrichtung zu übernehmen, erging direkt von F.W. Jung, dem Bureauchef der Mainzer Zentralverwaltung für das Bildungswesen, und von C.-C. Perret, noch in Jena Fichtes Schüler und nun Geheimsekretär Napoleons. 27

Bewußt ist hier die Frage nach der noch komplizierteren Entwicklung des Begriffs des Systems im allgemeinen ausgespart. Eine andere, nicht minder eingehende Studie als die vorliegende wäre erforderlich, um zu verstehen, wie sich dieser Begriff von den großen metaphysischen Entwürfen der Vergangenheit bis zur Transzenden2 De Pascale

Einführung

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Als zweites, mindestens ebenso entscheidendes Moment ist anzuführen, daß sich die ,neue' Konzeption der modernen Wissenschaft (die sich zwar seit mehr als einem Jahrhundert gefestigt hatte, im Lauf des 18. Jahrhunderts dann aber an Intensität wie Selbstbewußtsein gewann, nicht nur auf philosophischem Gebiet, sondern in allen Wissensbereichen) bereits entschieden auf eine zunehmende Spezialisierung der Disziplinen und zudem auf die Schaffung neuer Wissenschaften zubewegte28. Fichtes Denken hatte, wenn auch innerhalb der Grenzen seiner besonderen Perspektiven, eine klare Ahnung des neuen Horizonts bekommen, in den die Probleme der „Wissenschaft" gerückt waren, und er war entschlossen, sich an ihnen zu versuchen. Das zeigt sich auch daran, daß das Thema des Verhältnisses der,Wissenschaft von der Wissenschaft überhaupt' (die für Fichte die Philosophie ist) zu den besonderen Wissenschaften grundlegender Bestandteil seiner Konstruktion ist. Nachdem er mit der ersten Fassung der „Wissenschaftslehre" den Aufbau des Systems in den wesentlichen Zügen entworfen und dessen Fundament gelegt hatte, wandte sich Fichte noch in Jena den besonderen Wissenschaften zu, und unter ihnen zuerst der Rechtslehre und der Sittenlehre 29. Er wollte sich unmittelbar darauf mit der Religion befassen, doch kaum hatte er sich an die Arbeit gemacht, da zerbrach ihm der Gegenstand sozusagen in den Händen 30 . Mit dem ersten Lärm des Atheismusstreits mußte alle Sachlichkeit und Tiefe der Analyse in den Hintergrund treten. Viel beschäftigte er sich hingegen mit den beiden anderen Wissenschaften, mit Rechts- und Sittenlehre. Das wichtige Resultat seiner Untersuchung muß hier schon zu Beginn hervorgehoben werden: Fichte behauptet eine klare Trennung dieser Disziplinen aufgrund der radikalen Verschiedenheit ihrer jeweiligen Gegenstände. Dieses Thema war nicht neu,

talphilosophie von Kant an entwickelt hat. Und um zu verstehen, welchen Einfluß wenn überhaupt - die Entwicklung der Idee der „Enzyklopädie" darauf hatte. Ein Vergleich zwischen dem methodologischen Ansatz der französischen Enyklopädisten und der deutschen Philosophie unmittelbar vor Hegel (von Fichte an, aber auch unter Berücksichtigung seines Einflusses auf F. Schlegel, Novalis und Schelling, was den Begriff der „Enzyklopädie" und die in dieser Richtung gehenden - und zu einem kleinen Teil realisierten - Entwürfe betrifft) bietet die Einleitung von C. Cesa zu G.W. Hegel, Enciclopedia, it. Übers. 1975, besonders S. X X I I I - X X I X . 28

Man denke an die zu dieser Zeit weitgehend gefestigte Emanzipation der Rechtslehre von der Theologie oder an die Entstehung autonomer Wissenschaften wie der Ästhetik, der politischen Ökonomie oder auch der Anthropologie. Zur letzteren ist daran zu erinnern, daß Fichte, nach Kant und über Kant hinausgehend, Themen und Probleme der Anthropologie des 18. Jahrhunderts wieder aufnahm, die durch die deutsche Aufklärungsphilosophie zur Würde einer selbständigen Disziplin aufgestiegen war. 29 30

Vgl. die „Grundlage des Naturrechts" und „Das System der Sittenlehre".

Und er wurde dadurch - wie er selbst in einem Brief an Lavater bemerkte - vom Nachdenken über die wesentlichen Punkte abgelenkt; GA, I I I 3, S. 208 f.

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es war fast ein Jahrhundert zuvor von Thomasius31 klarsichtig exponiert und während der Aufklärung hier und dort erneut aufgegriffen worden 32 . Doch dann blieb es im wesentlichen unbeachtet, bis Kant es wieder aufgriff 3 . Die Weiterführung der Reflexion auf den Spuren Kants, die Revision von Kants Thesen, was insbesondere den wissenschaftlichen Status der Moral und eben die definitive Systematisierung des Themas der Trennung zwischen den Sphären der Moral und des Rechts betrifft, müssen zu den denkwürdigsten Resultaten dieser Periode gerechnet werden. In enger Verbindung mit dem letztgenannten Punkt (und als dessen wichtigste Konsequenz) stand eine noch viel schwierigeres Problem, das Fichte auch in der Folgezeit wiederholt angehen und thematisieren sollte - wobei er allerdings immer nur zu Teilresultaten gelangte, nie zu definitiven Schlußfolgerungen, die den Anforderungen systematischer Kohärenz gerecht werden konnten. Dieses Problem ergab sich aus dem Bewußtsein, daß die Unterscheidung zwischen den beiden Bereichen auch eine ohne Nachsicht und Ausflüchte durchgeführte Reflexion über die weder wenigen noch unbedeutenden Felder verlangte, auf denen sie sich überschnitten oder auch nur tangential berührten. Der Moralphilosophie galt Fichtes Aufmerksamkeit, seit er sich in Kants Schriften versenkt hatte (mit deren Lektüre hatte er ja begonnen, um Antwort auf die Fragen zu finden, die ihn seit seiner Jugend bedrängten 34), doch stand das Recht von Anfang an nicht minder im Zentrum seiner Interessen. Schon das Grundthema des „Beitrags" hatte einen spezifisch rechtlichen Aspekt, aber auch an die besondere Ausbildung während des Studiums muß erinnert werden 35 . Die Untersuchung der Grundlagen einer Wissenschaft des Rechts erfolgte von Beginn des Jahres 1795 an, und einige Monate später hielt er die ersten Vorlesungen zu diesem Thema 36 .

31

Vgl. F. Battaglia, Cristiano Thomasio filosofo e giurista; W. Schneiders, Naturrecht und Liebesethik, sowie M A Cattaneo, Staatsräsonlehre. 32

Im Gefolge der Verbreitung der französischen Ideen' in Deutschland, aber auch der breiten Resonanz, die hier einige Themen der Mailänder Aufklärung fanden, vor allem in C Beccaria, Dei delitti e delle pene. 33 Im Kapitel zur „Grundlage des Naturrechts" werden wir sehen, daß auch diejenigen unmittelbaren Nachfolger Kants, die behaupteten, seiner Lehre zu folgen, nicht einmal die Möglichkeiten wahrgenommen zu haben scheinen, die diese Trennung auf der Ebene der Theorie bot. 34

Vor allem die nach dem Verhältnis von Determinismus und Freiheit (ein Thema, mit dem er sich seit den „Aphorismen über Religion und Deismus" von 1790 auseinandersetzte). 35 Im Bewußtsein seiner unzureichenden theologischen Kompetenz war Fichte 1787 zum Studium der Rechtswissenschaft übergewechselt. 36 Aus demselben Jahrstammen die Aufzeichnungen „Zur Recension der Naturrechte für das Niethammersche Journal"; GA, I I 3, S. 395-406.

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Die Aufgabe, die er nun vor sich sah, war von wahrhaft großer Tragweite, ging es doch darum, die neuesten Resultate der deutschen Naturrechtsphilosophie die Schriften von T. Schmalz, J.B. Erhard, L.H. Jacob, G. Hufeland und C.E. Schmid 37 - soweit möglich aufzunehmen und zu systematisieren, sie gleichzeitig aber auch, wo nötig, zu widerlegen; und dabei durften die großen Leistungen der bereits ,klassischen' Autoren - von Hobbes bis Locke, von Montesquieu bis Rousseau - aber auch die Ergebnisse der rechtlich-politischen Theorie und Praxis in unmittelbarer Nähe 38 nicht vernachlässigt werden. In einer wissenschaftlichen' Arbeit konnten nach Fichtes Auffassung die historischen Umstände der Gegenwart keinen Platz finden; daß sich so häufig ein Widerhall aktueller Probleme wahrnehmen läßt, daß der Autor anscheinend so oft eine Antwort auf Fragen sucht, die in diesen Jahren regelmäßig verhandelt wurden, zeigt jedoch, daß er auch sie berücksichtigen mußte. *

Ein Beispiel, das an dieser Stelle genügen mag, bietet das Problem der Funktion einer Konstitution (noch vor dem ihrer konkreten Inhalte); ein m.E. besonders instruktives Beispiel, weil sich in ihm eine theoretische Fragestellung - über die sich gerade eine lebhafte Debatte in ganz Europa entfaltete - mit einer konkreten historischen Situation vereint. Die rasche Aufeinanderfolge verschiedener Konstitutionen in Frankreich im Lauf ziemlich kurzer Zeit oder die Auswirkungen der fortschreitenden Auflösung des Heiligen Römischen Reichs39 auf die deutschen Staaten führten zu einem Komplex von Fragen, von denen viele in Fichtes Werk sichtbare Spuren hinterließen. Solche Spuren der theoretischen Diskussion oder der historischen Situation vermischen sich in diesem Werk nun aber mit dem besonderen Blickwinkel und der besonderen Fragestellung Fichtes. Die daraus resultierende Lösung ergibt sich häufig aus der Kombination dieser vielfältigen Elemente. Von daher, um beim Beispiel zu bleiben, die Idee einer Verfassungsurkunde als Grundgesetz des Staates; der Entwurf von Maßnahmen zur Sicherung der Stabilität dieses Grundgesetzes und die Einführung geeigneter Anderungsverfahren; der Vorschlag einer repräsentativen Verfassung; die Forderung eines Gegengewichts zur absoluten Macht des Herrschers. Weil es in der politischen Situation Deutschlands 37

Auf die Blüte von Werken zum ,Naturrecht' gegen Ende des Jahrhunderts ist hier nicht eigens hinzuweisen; bezeichnend ist allenfalls, daß die Beschäftigung mit diesem Gegenstand auch für Denker, denen man bislang kein besonderes Interesse an diesem Gegenstand unterstellt hätte, zu einer Art von Pflichtübung wurde - etwa für F.W.]. Schelling, Neue Deduktion des Naturrechts, die gleichzeitig mit Fichtes Werk erschien. 38 39

Im Juni 1796 liest er Sieyès in deutscher Übersetzung.

Man befand sich noch nicht vor einer sozusagen offiziellen Veränderung der institutionellen Situation und damit noch nicht in einer Phase der Verfassungsgründung, doch daß das Ende des Reichs bevorstand, blieb niemandem verborgen; tatsächlich stand dieses Problem mit der Veränderung und Vereinfachung der politischen Geographie der deutschen Staaten, die bereits im Gang war, schon auf der Tagesordnung.

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noch keine Erfahrung mit einer Verfassungsurkunde gab, wurden diese Fragen häufig mit der Debatte über die Rechtskodifikation verknüpft 40 . Verknüpft mit einer Diskussion, die nicht nur die einzelnen Inhalte betraf, die in die in Vorbereitung befindlichen Gesetzbücher aufzunehmen seien (falls diese wirklich verabschiedet werden sollten); in der es nicht nur um ein Für oder Wider die Schaffung moderner Gesetzbücher ging. (Gegen die Kodifikation erhoben sich zu dieser Zeit zahlreiche Stimmen - im Namen des alten Gewohnheitsrechts oder jedenfalls zur Verteidigung eines „Rechtspartikularismus", der sich auch aus der Überlagerung zahlreicher und verworrener Rechtssammlungen ergab 41; diese Stimmen fanden starke Unterstützung in dem während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neuerwachten Interesse an den englischen Institutionen. Fichte seinerseits hegte keine Zweifel an den Vorteilen einer Kodifikation, die an den Regeln der Vernunft und zugleich den Zielen der Rationalisierung orientiert war.) Verknüpft waren diese Fragen - so beim preußischen Gesetzbuch, das 1794 in Kraft trat („Allgemeines Landrecht für die königlich-preussischen Staaten") - mit einer Diskussion über spezifische Themen verfassungsmäßiger' Natur, die in das Gesetzbuch Eingang gefunden hatten, weil es noch keine Verfassungsurkunde gab (das bezeichnendeste Beispiel ist der Widerstand, den Friedrich Wilhelm II. dagegen leistete, sich durch die Aufzählung von Grundrechten in der „Einleitung" des „Allgemeinen Landrechts" binden zu lassen42). In den Jahren seiner Lehrtätigkeit in Jena hatte Fichte eine Reihe von Schülern herangezogen, denen eine bedeutende Zukunft bevorstand. Unter den Namen seiner eifrigsten Hörer ragt zunächst der Friedrich Schlegels und, etwas später, der von Novalis hervor. Doch auch außerhalb des akademischen Lebens mußte sich in einer kleinen Stadt das Beziehungsgeflecht einer gut aufeinander eingespielten Gruppe von Intellektuellen um die Persönlichkeit mit der größten Autorität verdichten. Nacheinander baute Fichte lebhafte Verbindungen zu Hölderlin, Schelling und Caroline Schlegel auf. Auch andere Namen, wie der Herbarts, müßten erwähnt werden; doch hier soll vor allem daran erinnert werden, welch wichtige Rolle Fichte für die Bildung derjenigen spielte, die später den ersten Romantikerkreis ins Leben riefen. Von Bildung ist hier mit Absicht die Rede, denn zweifellos wurde Fichte im vollen Sinn des Wortes zum „Lehrer" einiger Begründer der romantischen Bewegung - von F. Schlegel und Novalis vor allem43 - und zum wichtigen äußeren Bezugspunkt 40

Hier ist der Widerhall der alten Idee von Svarez zu erkennen, dem geplanten preußischen Gesetzbuch auch die Rolle einer Konstitution zuzuweisen. 41 Vgl. G. Tarello, Le ideologie; E.-W Böckenförde, Gesetz und Gesetzgebende Gewalt; W. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland. 42 43

R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, S. 30.

Sie sind zudem die philosophischsten Geister der Gruppe (abgesehen von Schelling, bei dem die Dinge offensichtlich wesentlich komplizierter liegen), die aus-

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der Gruppe. Freilich ein äußerer Bezugspunkt, denn es ist unrichtig, Fichte zu den Romantikern zu zählen (wie es dennoch bisweilen geschieht) oder ihn auch nur als ihren Ahnherrn zu bezeichnen. Umgekehrt läßt sich offenkundig nur ein sehr kleiner Teil der romantischen Theorien auf Fichtes Philosophie zurückführen. Wenn in der deutschen Literatur Begriffe wie „Streben" oder „Tätigkeit" auftauchen, ist nicht notwendig und ausschließlich an Fichte zu denken; der gesamte Sturm und Drang kommt als wesentlich wahrscheinlichere Quelle in Frage. Und ebenso weit ist Fichtes rechtlich-politisches Denken von dem der Romantik in ihrer früheren wie späteren Phase entfernt. Ungeachtet einiger weniger Ubereinstimmungen zeichnen sich in der romantischen Auffassung und in Fichtes Philosophie unterschiedliche Konzeptionen ab. Doch derart generelle Probleme sind hier nicht zu behandeln. Der Hinweis auf den Kreis der Jenaer Romantik ist für Fichtes intellektuelle Biographie wichtig, denn der Umzug der Gruppe nach Berlin (der auch eine Ubergangsphase in der Entwicklung der Romantik markiert) legte den Grund zu Fichtes Entscheidung, ebenfalls dorthin zu wechseln. Dabei ist nicht an einen unmittelbaren kausalen Zusammenhang zu denken, doch nach Jena und nach dem Schwinden der mehr oder minder vertrauenswürdigen Mainzer Möglichkeiten sah Fichte ein ungewisses Schicksal vor sich 44 ; die Ermunterungen und das Hilfsangebot von selten einer in sich geschlossenen und verbündeten Freundesgruppe 45 waren eine Quelle der Sicherheit. Und dann war das neue Ziel Berlin - die Geburtsstätte des bedeutendesten kulturellen und politischen Experiments einer nicht weit zurückliegenden Vergangenheit, ein Ort, an dem sich jetzt einige neue Verheißungen für die Zukunft vernehmlich machten 46 . Tatsächlich blieb Fichte nicht nur mit der Absicht in Berlin, eine weitere Darstellung der „Wissenschaftslehre" auszuarbeiten - wenn diese auch einen entscheidenden Abschnitt der Neuformulierung des Systems bedeutet - , und nicht nur mit der Absicht, das Verhältnis von Glauben und Vernunft unter teilweise gewandelter Perspektive wiederum zu durchdenken 47 . Er blieb auch drückliche Zeugnisse vom Einfluß von Fichtes Unterricht auf ihr Denken hinterlassen haben. Vgl. besonders F. Schlegel, Philosophische „Fragmente" (1796), sowie ders., Transzendentalphilosophie (so der Titel der an der Universität Jena im Wintersemester 1800/01 gehaltenen Vorlesung, publiziert in: Philosophische Vorlesungen, 1800-1807) und Novalis' Fichte-Studien der Jahre 1795-1796. 44

In einem Brief an Reinhold aus dem Mai 1799 spricht er z.B. noch davon, daß er um seine Sicherheit in den deutschen Staaten fürchte, und steigert sich vielleicht zu sehr in die Rolle des Opfers hinein, wenn er ausruft, er sehe für sich keinen „anderen Weg, als den nach Frankreich"; GA, I I I 3, S. 353-363. 45 Zu ihr gehörten auch Tieck und Schleiermacher, der für eine gewisse Zeit sehr enge Beziehungen zu Fichte unterhielt. 46 47

Friedrich Wilhelm III. hatte 1797 den Thron bestiegen.

1800 erschien „Die Bestimmung des Menschen", ein weiterer wichtiger Moment in der Entwicklung seiner Philosophie.

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mit der Absicht, aktiv am politischen Leben teilzunehmen und einen Teil seiner Kraft der Untersuchung gesellschaftlicher Fragen zu widmen. Der Wunsch, überall beteiligt zu sein und eine führende Rolle zu spielen, brachte Fichte nach einigen Monaten zurückgezogenen Lebens dazu, einen angesehenen Rang in der von I.A. Fessier geleiteten Freimaurerloge Royal York anzunehmen. Fichte war schon seit längerer Zeit Freimaurer, doch der Vorgang ist dennoch bezeichnend, weil er diesmal in der Tätigkeit an der Spitze der Loge eine Möglichkeit erblickte, einen Ort der Macht und der kulturellen Bedeutung umzuformen in eine neue Kanzel für seine eigene weltliche Predigt - und das in einer Stadt wie Berlin. Die Episode fand ein rasches Ende 48 , hinterließ aber eine bedeutende Spur in der Schrift „Philosophie der Maurerei. Briefe an Konstant" von 1802, die die in der Loge gehaltenen Vorträge wiedergibt. Im Zentrum des Werks steht ein weiteres Mal das Nachdenken über das Thema der Bildung, die Erziehung und Formung des,ganzen' Menschen sein soll. Eine Organisation wie die der Freimaurerei würde es nach Fichtes Ansicht erlauben, ein solches Ziel zu erreichen, das von der Gesellschaft als ganzer verfehlt wird: Die Gesellschaft ist nämlich - mit vollem Recht - auf die Spezialisierung ausgerichtet, die zugleich Voraussetzung und Folge der Arbeitsteilung ist, die ihrerseits wiederum das unabdingbare Instrument gesellschaftlichen Fortschritts darstellt. Fichtes Absicht, die Loge zum Zentrum einer moralischen Reform zu machen, die sich dann auf die gesamte Gesellschaft ausdehnen sollte, ist ganz klar: Was in der Gesellschaft eine Summe einseitiger „Bildungen" ist - weil dort nur der Fortschritt des Ganzen verfolgt wird - , kann durch die Schule der Freimaurerei vollkommene und vielseitige Bildung werden (die der Philosoph als „Bildung zur sittlichen Freiheit" bezeichnet), die harmonisch von der Gesamtheit der einzelnen verfolgt wird 4 9 . 48

Eben durch die Ablehnung von Fichtes Plan einer grundlegenden Reform der bestehenden Organisation und Verfahrensweise, durch die aus der Loge ein Propagandainstrument der Transzendentalphilosophie gemacht werden sollte. 49 Es ist unmöglich, die zahlreichen Diskussionsfäden, die sich in dieser hier knapp zusammengefaßten These ausmachen lassen, zusammenzutragen und zu verbinden. Hier nur ein Hinweis auf einige der Ebenen, die detaillierte Untersuchung erfordern würden, um alle bemerkbaren Spuren genau herauszuarbeiten: das Gebiet der Ästhetik vor allem (Wilhelm von Humboldts Reflexionen über die Bildung im antiken Griechenland und Werke Schillers wie das Gedicht „Die Künstler" oder „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" - mit der Fähigkeit der Kunst, die natürliche und die sittlich-ideale Komponente des Menschen wieder zu Harmonie zu bringen - gehören zu den repräsentativsten Beispielen); das Gebiet der politischen Ökonomie mit dem zentralen Problem der Arbeitsteilung und der Diskussion über deren gesellschaftliche Auswirkungen; das Gebiet der Politik schließlich, bei dem die Rolle der „Disziplinierung", die anfangs auf den Bereich der Pädagogik und die Diskussion „welche Art von Erziehung und wozu" beschränkt schien, sich als gänzlich als zum politischen Horizont gehörig erweist (vgl. P. Schiera, Disciplina, disciplinamento, mit Bibliographie für den deutschen Sprachraum, sowie G. Oestreich, Strukturprobleme).

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Nachdem Fichte eine „Kritik der französischen Konstitution" geplant hatte (die Aufzeichnungen dazu stammen aus dem Januar 1800, zwei Monate nach dem Staatsstreich des 18. Brumaire, der mit der Auflösung des Direktoriums endete, und einen Monat nach der Konstitution des Jahres VIII), entstand „Der geschlossene Handelsstaat". Ein äußerst ungewöhnliches Werk, in dem sich die künftigen Entwicklungen von Fichtes politischer Philosophie ankündigen, das zugleich aber auch in zwei oder drei Leitideen verankert ist, die sich von den Jugendschriften an finden. Darunter vor allem die enge Verbindung zwischen Aneignungsrecht, Eigentumsrecht und Recht auf Arbeit sowie die zentrale Rolle, die dem Begriff der Arbeit zukommt. Fichte selbst zeigte sich mit seiner Schrift zufrieden und widmete sie dem preußischen Finanzminister K.A. Struensee von Karlsbach 50. Eine Besonderheit dieses Werkes besteht darin, daß in ihm heftiger Tadel am merkantilistischen System einhergeht mit einer ebenso scharfen Kritik des Liberalismus 51. An einer der Hauptthesen des Liberalismus wird aber festgehalten, nämlich der, daß der Reichtum einer Nation nicht in der Menge des umlaufenden Goldes oder Silbers besteht (sondern in der Arbeit als Wert). Zu erklären ist dies wahrscheinlich mit der gemeinsamen physiokratischen Wurzeln der Polemik gegen den Merkantilismus 52 , in der sich Adam Smith und Fichte (eingedenk der Lehren Quesnays, Turgots und Mirabeaus) endlich einmal einig sind. Schon in der „Grundlage des Naturrechts" war die Erörterung der ökonomischen Organisation des Staates von der These ausgegangen, daß das „Lebenkönnen" absolutes und unveräußerliches Eigentum eines jeden sei. 50 Fichte sandte das Buch nicht nur an Struensee (seinerseits Verfasser der: Abhandlungen über wichtige Gegenstände der Staatswirtschaft, 1800), sondern auch an den preußischen Politiker Graf von Schulenburg und an König Friedrich Wilhelm III. 51

Adam Müllers kaustische Rezension in der ,,Berlinische[n] Monatsschrift" kritisierte eben diesen letzteren Aspekt. I m Namen eines laisser faire, das Müller selbst einige Jahre später gänzlich ablehnen wird (vgl. oben, Anm. 15), nennt er den „Handelsstaat" eine „Träumerei". Struensee, dem Fichte das Werk nicht nur als Zeichen der Verehrung gewidmet hatte, sondern auch in der Hoffnung, für seine Ideen Gehör zu finden, war seinerseits gänzlich an der Idee des Freihandels orientiert. (Der zentrale Punkt seiner Uberzeugungen bestand in der Liberalisierung des Getreidehandels und der freien Zirkulation von Gold und Silber. Dafür hatte er während seiner politischen Tätigkeit unter Friedrich Wilhelm II. gekämpft und war dabei unterlegen. Nur durch die Machtübernahme durch Wilhelm III. wurde es ihm ermöglicht, sein Programm einer Finanzreform wiederaufzunehmen.) Weshalb Fichte in Struensee einen Bezugspunkt für sich sah, ist nicht leicht zu erklären, will man sich nicht die Interpretation von H. Brunschwtg, La crise de l'état prussien, anschließen, der klar darstellt, daß das wirkliche Problem Preußens nicht einfach im übermäßigen Eingreifen des Staates in die Wirtschaft bestand, sondern vor allem in der falschen Form dieses Eingreifens. Erforderlich gewesen wäre vor allem eine Reform in dieser Richtung, die das starke Ungleichgewicht besonders in der Produktion wieder hätte ausgleichen können. 52 Vgl. X. Léon, Fichte et son temps, Bd. 2/1, S. 80, sowie in „Der geschlossene Handelsstaat" die Einleitung von H. Hirsch.

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„Lebenkönnen" ist also ein Recht, das vom selben „Eigenthumsvertrag" garantiert werden muß, der die Grundlage des Staatsbürgervertrags bildet. Unter den fundamentalen Einrichtungen sieht der Vereinigungsvertrag zu diesem Zweck auch eine „Unterstützungsanstalt" vor. Weil die Erträge des Bodens die Hauptquelle des Lebensunterhaltes darstellen, spielen die „Producenten", die Landbauern also, eine Hauptrolle in der Wirtschaft, Seite an Seite mit dem Stand der Künstler und Fabrikanten und dem Kaufmannsstand. „Der geschlossene Handelsstaat", der diese Fragestellung wieder aufgreift und vertieft, geht ebenfalls von diesem Punkt aus. Und zwar deswegen, weil dies die ökonomischen Leitlinien eines vernunftgemäßen' Staates sind; diese Linien zu ziehen, ist aber auch hier Aufgabe der „Philosophie" - diesen Titel trägt das erste Buch des Werkes. Die Suche danach, was in einem vernunftgemäßen Staat „Rechtens" ist, führt zur Analyse seiner ersten Bedingung: daß jeder das Seine habe; Aufgabe des Staates ist es, jedem das Seinige zu geben und zu bewahren 53. Um dieses Ziel zu verwirklichen, muß ein sich positiv verstärkender Kreislauf zwischen den drei wirtschaftlichen Hauptzweigen entstehen, bei dem der Landwirtschaft größtmögliche Freiheit zur Expansion eingeräumt wird, weil sie die Hauptproduzentin des Reichtums ist; bei dem sichergestellt ist, daß die Menge der hergestellten Güter die Nachfrage ausreichend befriedigt, aber nicht darüber hinausgeht, um eine Überschwemmung des Warenmarktes zu verhindern; bei dem schließlich gleichzeitig eine korrekte Zirkulation der Produkte der Landwirtschaft und des Handwerks und eine gerechte Bestimmung der Preise sichergestellt ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft hinsichtlich der Zusammensetzung der beiden letzteren Stände (wobei auch darüber zu wachen ist, wie sich die Zahl ihrer Angehörigen jeweils zum objektiven ,Bedarf' der Gesellschaft verhält 54 ) wie auch hinsichtlich der Gesamtmenge der umlaufenden Waren. Die „Politik" 5 5 - die nicht Wissenschaft ist, sondern Klugheit, Suche nach den zweckmäßigsten Mitteln in einer bestimmten geschichtlichen Situation - erfordert die Abschließung des Staates für den Handel, erfordert also, Privatpersonen den Handel mit 53

Auch das ALR sah eine staatliche Verpflichtung vor, für Arbeit zu sorgen oder, falls dies unmöglich war, Unterstützung sicherzustellen. Doch der vorhandene Stand der Organisation verhinderte nicht nur, dieser Verpflichtung nachzukommen, sondern auch die Einführung irgendeiner Art von Fürsorge. 54

Mit der Frage nach der Rolle der (vorwiegend im Sinn von Wirtschaftszweigen verstandenen) Stände in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft hatte sich Fichte schon in den „Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" beschäftigt. Dort forderte er noch, jeder müsse die Möglichkeit haben, seinen Beruf und damit die Standeszugehörigkeit selbst zu wählen. In den folgenden Werken verwandelt sich diese freiwillige Entscheidung Zug um Zug in eine durch den Staat aufgezwungene (vgl. L. Fonnesu, Diritto, lavoro e „Stände", sowie Z. Batscha / J. Garber [Hrsg.], Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft). 55

Sie wird im dritten Buch des Werkes untersucht.

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dem Ausland zu untersagen 56; dieser soll allein dem Staat vorbehalten bleiben. Diese Vorkehrung vermag einer Nation am wirkungsvollsten ihre politische Unabhängigkeit zu sichern, wobei diese wiederum direkte Folge der auf der Ebene der Produktion erreichten Unabhängigkeit ist. Dies scheint Fichte der Weg, um die bestehende Anarchie im Handel vollständig zu beseitigen und gleichzeitig den inneren Frieden zu sichern; denn die wahre Ursache für Kriege ist häufig die Kollision wirtschaftlicher Interessen. Damit sind wir auf dem Gebiet der „Zeitgeschichte" angelangt (sie ist Gegenstand des zweiten Buches). Die Besonderheit mancher historischer Umstände schlägt hier klar auf die Argumentation durch, etwa dort, wo Fichte die Frage der Steuern untersucht. Notwendig für das Funktionieren des Staates, dürfen sie nicht für andere Zwecke verwendet werden; ihre Erhöhung in neuester Zeit diente jedoch nach Fichtes Ansicht dazu, die militärische Stärke der Regierungen gegenüber andere Staaten zu vergrößern. Bemerkbar macht sich die geschichdiche Situation schließlich dort, wo Fichte den Unterschied zwischen den Voraussetzungen seiner theoretischen Konstruktion und der geschichtlichen Wirklichkeit betont: Bislang haben sich die Staaten darauf beschränkt, den Besitz der Bürger zu schützen, wo dieser bereits vorhanden war, ohne in dem, was doch ihre primäre Aufgabe darstellt, weiterzugehen. Dieses Werk wurde ausführlicher als andere behandelt, nicht nur, weil seine Inhalte dem Autor selbst wichtig waren 57 , und nicht allein wegen der besonderen Stellung, die es unter den ökonomischen Lehren seiner Zeit einnimmt 5 8 , sondern besonders deswegen, weil Fichte hier ein altes Thema des 18. Jahrhunderts aufgreift, das des Wohlstands des einzelnen und der Nation insgesamt - nachdem die moderne' Philosophie jahrzehntelang eine Polemik gegen den Eudaimonismus geführt hatte. Beherrschendes Problem dieses 56

Und eine Landeswährung („Landesgeld") zu schaffen. Die Handelsfreiheit wird dargestellt als Zustand eines allgemeinen Krieges aller gegen alle bzw. als die Freiheit, sich gegenseitig in den Ruin zu treiben. 57 Der in der späteren „Rechtslehre" mit einigen Modifikationen auf das Thema zurückkommen wird. 58 Abgesehen von den bereits genannten Kennzeichen seiner ökonomischen Theorie ist auf einige Besonderheiten hinzuweisen, die Hirsch in der Einleitung zu „Der geschlossene Handelsstaat", herausgearbeitet hat; zunächst die Lehre vom symbolischen Geld, in der Fichte bereits den Grund zu einer quantitativen Theorie des Geldes legte, und dann seine Überlegungen zum Wert, die in gewissem Maß die Grenznutzenlehre vorwegnehmen, wenn auch nicht ohne Widersprüche. Bis hierher berufe ich mich auf einen Fachwissenschaftler, ohne selbst zum Kern des Problems Stellung nehmen zu können. Ich möchte innerhalb dieser knappen Andeutungen zur Geschichte der ökonomischen Theorien jedoch zumindest noch auf Friedrich List verweisen, der hinsichtlich der Theorie der Landeswährung und - was bedeutender ist - hinsichtlich einer Politik der Beseitigung der inneren Zollschranken (mit der Absicht einer Verstärkung der äußeren Zollschranken) in gewissem Maß Fichte verpflichet scheint.

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Werkes sind letzdich Wohlstand und materielles Glück. Sie müssen selbstverständlich mit dem intellektuellen und geistigen Besitz harmonieren, doch um mit ihm harmonieren zu können, müssen sie erst einmal vorhanden sein. Fichtes Beschäftigung mit Geschichtsphilosophie verdient unter den Arbeiten der Berliner Zeit besondere Aufmerksamkeit, mehr noch als wegen ihrer spezifischen Ergebnisse wegen der Themenwahl selbst. Er versuchte sich damit an einem entscheidenden Gegenstand philosophischer Reflexion in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (besonders in Frankreich), der seine Anziehungskraft noch während eines beträchtlichen Teils des folgenden Jahrhunderts ausüben und noch lange ein allgemeines Ansehen genießen sollte. Zudem mußte er angesichts der Voraussetzungen seines Denkens zuinnerst die Auffassung von der wesentlichen Rolle einer philosophischen Reflexion über Geschichte oder einer philosophischen Betrachtung der Geschichte teilen 59 . Auch die harschen Bemerkungen zur Situation der eigenen Zeit und die Polemik gegen die zeitgenössischen Weltbilder, die einen beträchtlichen Teil der „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" ausmachen, beziehen sich absichtlich auf das von den französischen philosophes begründete Modell der Geschichtsphilosophie. Die Adaptation dieses Modells in Deutschland 60 hat bei ihm anscheinend nicht die gleiche Zustimmung gefunden. Fichte ist wie gewöhnlich außerordentlich sparsam mit Zitaten und gibt damit einer Quellenforschung keinerlei Anhaltspunkte, doch die generelle Ausrichtung seines Denkens zu diesem Gegenstand führt zu der Ansicht, daß der Philosoph mit den „Grundzüge[n]" gedanklich anbindet an die großen geschichtsphilosophischen Entwürfe in der Art von Condorcets „Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain" von 179461. Es muß nicht hinzugefügt werden, wie sehr seine Auffassung der geschichtlichen Entwicklung zwar mit dem Denken der Aufklärung in Einklang steht, vor allem jedoch von seiner eigenen philosophischen Anschauung bedingt ist. Aus ihr ergibt sich die Einteilung der Weltgeschichte in fünf große Epochen, die alle im wesentlichen aufgrund eines einzigen und fundamentalen Kriteriums gedeutet werden: dem des Raums, der in ihnen der Vernunft zugestanden wird. Das ist 59 Das belegen auch die in vielen seiner Werke erscheinenden Überlegungen zum Unterschied der Arbeit des Geschichtsschreibers und des Philosophen (auch und besonders des Philosophen, der über die Weltgeschichte nachdenkt). 60

Die Herders sicher weniger als die Kants, doch auch gegenüber einem gewissen ,Pessimismus' Kants hat Fichte immer Distanz bewahrt. 61

Natürlich hätten sich auch andere Autoren nennen lassen: von Turgot, Esquisses (1750) - Fichte kannte seine Lehre - bis zu Voltaire, Essai sur l'histoire générale et sur les moeurs et l'esprit des nations depuis Charlemagne jusqu'à nos jours (1756), der den Ausdruck „philosophie de l'histoire" prägte und 1765 eine „Philosophie de l'histoire" verfaßte; doch dies wäre eine wenig ergiebige Bemühung gewesen, weil es ihr an Anhaltspunkten im Text fehlt.

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leicht zu erklären. Wenn die Geschichte tatsächlich im wesentlichen in einer Entwicklung zum Besseren besteht, in einer fortschreitenden und beständigen Verbesserung also, und wenn die Vernunft bei jedem menschlichen Handeln als solchem zugegen ist - und deswegen auch bei jedem den Lauf der Geschichte bestimmenden Handeln - , dann müssen alle Epochen der Geschichte von ihrer Anwesenheit gekennzeichnet sein. Der Hauptunterschied wird darin bestehen, wie sich der Verstand in jeder geschichtlichen Phase jeweils verhält, und welches Verhältnis sich jeweils zwischen der besonderen Erscheinungsweise der Vernunft und dem Maß garantierter Freiheit einstellt. Darin besteht der „Grundzug" eines Zeitalters, sein „Grundbegriff" (während die Gesamtheit der einzelnen ,Ideen', die die Epochen der Geschichte leiten, den „Weltplan" bildet). Die erste Epoche der Weltgeschichte ist durch einen bloßen „Vernunftinstinct" gekennzeichnet; es handelt sich um ein Zeitalter absoluter „Unschuld" mit einem ganz undeutlichen Bewußtsein der Freiheit - „ohne Einsicht der Gründe" 62 . Das zweite Zeitalter ist das der „Despotie", in der Freiheit nur die wenigen oder sehr wenigen besitzen, die befehlen (die „kräftigeren Individuen der Gattung" 63 , die sich der Herrschaft bemächtigt haben); das dritte Zeitalter ist das der Befreiung von der äußeren und Zwang ausübenden Autorität durch das Erwachen der Vernunft, deren Ausübung bislang nur der Besitz weniger war. Doch die Vernunft hat mit der Vernichtung der Autorität zugleich auch sich selbst vernichtet, und dieses Zeitalter (das nach Fichte mit dem gegenwärtigen zusammenfällt, jedoch bereits seinem Ende zugeht) wurde zum Zeitalter der „vollendeten Sündhaftigkeit" und einer leeren, nur ,negativen' Freiheit. Die vierte, schon zu erahnende Epoche ist durch das Bewußtsein der Vernunft 64 und einen wiedererlangten Freiheitssinn gekennzeichnet; das letzte Zeitalter wird das der entfalteten Vernunft und der vollendeten Freiheit sein65. 62

Es ist die Epoche des „Urvolks" oder „Normalvolks". Mit seiner Existenz muß auch die eines „wilden" Volkes postuliert werden - wenn auch nur für einen begrenzten Zeitabschnitt und ohne daß die Lage seiner Heimat von Bedeutung wäre - , um den Konflikt in die Welt zu bringen und die historische Dynamik in Gang zu setzen (analog dem Verhältnis von Ich und Nicht-Ich). 63 Dabei ist auch daran zu erinnern, daß Fichtes Geschichtsphilosophie auch Individuen vorsieht, die der Entwicklung ihrer Zeit voraus sind und deswegen einen Anstoß zur Uberwindung dieser Epoche geben können. Auf einem ähnlichen Mechanismus basiert auch die - durch Hegel berühmt gewordene - These vom Niedergang einzelner Länder, die mit ihrer Zeit nicht Schritt halten können und deswegen in der Führung des historischen Prozesses durch andere ersetzt werden. 64 65

D.h. durch die Herrschaft des „Begriffs".

Zudem das Zeitalter des Erlöschens des Staates - der Institution, in der die menschlichen Beziehungen das geringste Maß an „wahrer Freiheit" besitzen und das Menschengeschlecht am meisten „gebunden" ist. Geschichtlich war die erste Verfassungsform der orientalische Despotismus; in der zweiten, typisch europäischen, waren allgemein die „bürgerlichen", nicht aber die „politischen" Rechte garantiert; daß es bei der Rechtsausübung keine Privilegien gibt, stellt der „absolute" Staat sicher.

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Hier sind einige Bemerkungen zur Auffassung des Geschichtsverlaufs als eines im wesentlichen linearen Fortschreitens notwendig, weil sich dahinter ein Problem verbirgt, auf das im Lauf der Untersuchung zurückzukommen ist. In Fichtes Denken gibt es nebeneinander ein Modell solch linearer Entwicklung und ein durch das Moment der Diskontinuität bestimmtes Modell. In der Geschichtsphilosophie läßt sich am besten die Beteiligung beider Modelle erkennen (wenn m.E. auch das erstere bedeutend vorherrscht - vor allem, wenn man anerkennt, daß es korrigiert oder auch nur komplexer gemacht wird durch eine in gewisser Weise ,dialektische' Auffassung, die besonders im äußeren Aufbau des Modells, seinem formalen Aspekt wirksam ist 66 ). Das zweite Modell stützt sich auf einige explizite Behauptungen Fichtes. Die zeitliche Abfolge der unterschiedlichen Epochen muß seiner Ansicht nach z.B. nicht notwendig auch der Stufenleiter der Weltalter entsprechen. Oder er räumt ein, daß einige „Grundzüge" verschiedener Zeitalter auch gleichzeitig erscheinen oder einander überlagern können, und sieht dabei die Möglichkeit von Rückschritt und Wiederkehr in der Geschichte vor (mit einem parallelen und entsprechenden Verhalten des Begriffs und seiner Wirkungsweise in jeder der verschiedenen Situationen). Das erste Modell wird jedoch durch weitere Elemente unterstützt: die unterschiedlichen Geschichtsperioden sind zwar a priori entworfen, entsprechen aber zu einem Gutteil bestimmten historischen Abschnitten, die in der geschichtlichen Wirklichkeit aufeinander folgten; zudem erscheinen die verschiedenen Verhaltensweisen der Vernunft, die den verschiedenen geschichtlichen Phasen entsprechen, in einer Gesamtsicht zu einer aufsteigenden Stufenleiter angeordnet, bei der das eigentliche „Reich der Vernunft" mit dem letzten Zeitalter der Geschichte zusammenfällt - die das erstrebte Ziel der Menschheit ist, ebenso wie die Sittlichkeit aller das Ziel jedes tugendhaften Verhaltens ist 67 .

Dies ist nach Fichtes Ansicht die Verfassungsform seines, des gegenwärtigen Zeitalters, in dem bei Ländern mit fortgeschrittenerem Entwicklungsstand bereits Elemente der folgenden Phase zu ahnen sind. 66 Allgemein ist in Fichtes Denken ein Vorgehen in den Schritten These, Antithese und Synthese ganz üblich. Hier werden die fünf Zeitalter der Weltgeschichte nun nach einem „fünffachen" Modell entwickelt (die Bezeichnung stammt von Fichte, erscheint jedoch nicht in diesem Werk), das manche Anklänge an ein dialektisches Verfahren hat. Den Ausgangspunkt dieses Modells bildet das letzte Zeitalter der Geschichte (dessen Ziel zugleich das Ziel der Geschichte überhaupt ist). Von hier aus schreitet es durch aufeinanderfolgende Entgegensetzungen fort: vor allem durch den Gegensatz zwischen dem letzten und dem ersten Zeitalter, der im vierten Zeitalter das Moment seiner Schlichtung findet. Dieses Zeitalter muß seinerseits mit der ersten »versöhnt' werden; daraus geht die dritte Epoche und in ähnlicher Weise die zweite hervor. Fichte vereint also die ,Form' einer a priori, ohne Bezug auf die Erfahrung entworfenen philosophischen Konstruktion mit dem ,Stoff einer in ihrer chronologischen Abfolge geschilderten Entwicklung. 67 Der Autor selbst ist sich über die Möglichkeit im klaren, die Frage in nicht einseitiger Weise zu stellen, wie eine andere Stelle zeigt, an der er das Problem der „Fünffach-

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D i e „ G r u n d z ü g e " , die Fichtes neue öffentliche Rolle in Berlin bekräftigten 6 8 , enthielten schon die Voraussetzungen für einen beträchtlichen Teil seines späteren Schaffens. Dieses erlebte jedoch auch unerwartete Entwicklungen infolge der plötzlichen Änderungen der historischen Situation. M i t dem Vormarsch der Truppen Napoleons, den Niederlagen von Jena u n d Auerstädt, der i m m e r greifbareren u n d näherrückenden Gefahr eines Einzugs der Franzosen i n Berlin waren die Erhebung gegen die Fremden u n d der Befreiungskrieg bereits Themen des Tages. D r i n g l i c h e r n o c h war eine andere Zielsetzung, die sich aus der Unmöglichkeit ergab, den beiden eben genannten Begriffen - „ E r h e b u n g " u n d „Befreiung" - das A t t r i b u t zuzuschreiben, das ihnen von Rechts wegen hätte z u k o m m e n müssen: das des „nationalen". Weit hinter den anderen europäischen Staaten zurück, hatte Deutschland - zusammen m i t Italien - den Schritt z u m Nationalstaat noch zu vollziehen. Dies ist i m wesentlichen das Thema der „Reden an die deutsche N a t i o n " . Stellten die „ G r u n d z ü g e " die Gegenwart als Zeitalter des Egoismus dar, so schildern die „Reden" die selbstzerstörerischen heit" behandelt; „Die Anweisung", in: GA, I 9, S. 104-114 und 144 ff. / SW, V, S. 463475 und 511 ff. Fichte präzisiert dort einleitend, daß es sich bei den fünf Weltansichten, die er darstellen will, eben um fünf „Sicht"weisen handelt, daß diese Einteilung also nicht das Objekt betrifft, sondern nur die besondere Perspektive, unter der ein Objekt betrachtet wird, das trotzdem ein einziges ist und sich selbst gleich bleibt. Diese fünf Weltansichten werden einerseits gleichgesetzt mit den „verschiedenen möglichen Stufen und Entwicklungsgrade[n] des innern geistigen Lebens", andererseits hebt Fichte hervor, daß sie außerhalb jedes zeitlichen Bezugs bleiben müssen. Das endliche Subjekt begreift sie allerdings in einem ,,allmählige[n] Fortschritt" - und dies bildet die „Regel" und entspricht dem „gewönlichen Gang" der Dinge, wenn auch nicht „absolut" und „ohne Äusnahme" (vgl. die Ausführungen oben zu den Erscheinungen der Umkehr, des Stehenbleibens usw.). Diese fünffache Perspektive fächert sich in eine aufsteigende Skala auf. Die unterste Stufe bildet die Auffassung, die nur die unter die Sinnenswahrnehmung fallende Welt für wahr hält; die oberste Stufe bildet die „wissenschaftliche" Auffassung. Zwischen ihnen stehen die Stufen der Identifikation der Welt mit ,,ein[em] ordnende[n] und gleichende[n] Gesetz für die Freiheit mehrerer" (auf dessen außerordentliche Nähe zum „abstrakten Recht" bei Hegel ich hinweisen möchte), der „gewöhnlichen Sittenlehre", der „wahren und höheren Sittlichkeit" und schließlich der Religion. Da der Atheismusstreit oben bereits erwähnt wurde, sei auf die detaillierte und komplexe Beziehung hingewiesen, die Fichte zwischen Religion und Wissenschaft herstellt: „die Wissenschaft... geht über die Einsicht, daß schlechthin alles Mannigfaltige in dem Einen gegründet und auf dasselbe zurückzuführen sey, welche schon die Religion gewährt, hinaus zu der Einsicht des Wie dieses Zusammenhanges ... Die Religion ohne Wissenschaft, ist irgendwo ein blosser, demohngeachtet jedoch unerschütterlicher Glaube: die Wissenschaft hebt alle Glauben auf und verwandelt ihn in Schauen". Der wissenschaftliche wie der religiöse Gesichtspunkt „sind lediglich betrachtend und beschauend, keinesweges an sich thätig und praktisch", während der Gesichtspunkt der höheren Moral praktisch zu sein vermag. 68

Viele Persönlichkeiten befanden sich unter den Hörern dieser Vorlesungen wie übrigens auch der im Lauf des Jahres 1804 über die „Wissenschaftslehre" gehaltenen (bemerkenswert die Teilnahme des Ministers Altenstein an deren drittem Zyklus). Vgl. auch R. Lauth, Uber Fichtes Lehrtätigkeit, sowie W. Förster, Fichte in Berlin.

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Auswirkungen dieses Egoismus. Notwendig ist also, das Zerstörte von Grund auf wiederaufzubauen: aus Deutschland eine Nation zu machen und aus den Deutschen ein Volk, das diesen Namen verdient; den Stolz eines Volkes wiederaufzurichten, das von einem Feind besiegt worden ist 69 , der nicht allein wie der schlimmste Barbar die Waffen der Eroberung einsetzt, sondern zuvor sogar noch Verrat geübt hat. Napoleon ist tatsächlich nicht nur Eroberer, sondern auch der Verräter der Ideale der Revolution; er verdient nicht einmal, bei seinem Namen genannt zu werden 70 . Im Lauf eines sich immer mehr ausweitenden Krieges hatte es Fichte nicht an Gelegenheit gefehlt, über die ,Werte' des Patriotismus nachzudenken und die Art der Beziehung zwischen ihm und dem Kosmopolitismus neu zu überdenken 71 . Und kurz zuvor hatte er, der Ubersetzer Dantes und Verehrer der italienischen Kultur, sich in die italienische Geschichte vertieft und die Lehre Machiavellis72 erneut durchdacht - des Staatstheoretikers, der in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt 73 und jetzt aufgrund von ganz anderen Kriterien als während der Aufklärung gedeutet wurde. In zwei Hauptrichtungen entfalteten sich die „Reden", beide sind durch die eben genannten Gründe motiviert. Zum einen implizierte das Werk eines vollkommenen Wiederaufbaus vor allem die Fähigkeit, tief auf die menschliche 69 Nach dem August 1806 hatte Fichte sich als Redner auf dem Schlachtfeld vorgeschlagen, doch die Behörden hatten das Angebot zurückgewiesen. 70 Eine Mitte 1806 verfaßte kurze Aufzeichnung Fichtes zu Napoleon trägt den Titel „ I n Beziehung auf den Namenlosen", in: GA, I I 10, S. 83-85 / SW, VII, S. 512516. 71

Zwischen 1806 und 1807 veröffentlicht Fichte zwei Dialoge mit dem Titel „Der Patriotismus und sein Gegentheil". 72

Etwa eineinhalb Jahre, nachdem Fichte seine Stelle an der Erlanger Universität innehatte, hatte er darum gebeten, seine Tätigkeit zeitweise nach Königberg verlegen zu dürfen. Während dieser Zeit arbeitete er am Aufsatz über „Machiavelli" - einer Ubersetzung von Auszügen aus einigen Kapiteln des „Principe" mit einer Einleitung. Wohlüberlegt war die Wahl der Auszüge und der Aufbau des Werks: die Auswahl wird mit dem Schlußkapitel des „Principe" - dem Aufruf an Lorenzo de' Medici - eröffnet, der abschließende Abschnitt der Einleitung trägt den Titel: „In wiefern Machiavellis Politik auch noch auf unsere Zeiten Anwendung habe". 73

Vgl. Λ. Elkan, Die Entdeckung Machiavellis, sowie G. Procaca, Studi sulla fortuna del Machiavelli. Ein Vergleich zwischen dem Deutschland seiner Gegenwart und dem Italien Machiavellis findet sich auch in G.W.F. Hegel, Die Verfassung Deutschlands, in: Werke, Bd. 1, S. 558 f. Daneben ist daran zu erinnern, daß, vielleicht aufgrund der in dieser Schrift erläuterten Voraussetzungen, Hegel sich keineswegs durch die Niederlage Preußens erschüttert zeigte oder besondere Begeisterung für den folgenden Befreiungskrieg an den Tag legte. Eine besondere Ähnlichkeit mit Hegels „Theseus" findet sich in einem Brief Fichtes an Altenstein vom April 1807, in dem der Autor den Gedanken ausspricht, ein Friede in Europa sei nicht denkbar, bevor Deutschland „unter Einem Haupte" vereint sei (zitiert in: FG, 5, S. 337).

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Verfassung selbst einzuwirken. Diese Aufgabe konnte auch hier wieder nur der Erziehung anvertraut werden. Sie mußte nunmehr nicht allein eine Erziehung der Massen, sondern nationale Erziehung sein: Erziehung von Deutschen und zu Zwecken, die den Deutschen dienen. Fichte spricht hier nicht mehr - oder nicht mehr allein - vom Menschen als endlichen Vernunftwesen, und nicht vom Menschengeschlecht, wie noch in den „Grundzügen", sondern er spricht vom Deutschen und seinem möglichen künftigen Schicksal. Nicht vom Menschen als faber sut , sondern vom Deutschen als Erbauer seines eigenen Schicksals; nicht von den ,Grundzügen' des Menschen und der Gattung, sondern den ,Grundzügen' des deutschen „Volkes" (an dieser Stelle wird das Volk zum historisch-politischen Bezugspunkt in Fichtes Schaffen 74). Hier liegt der offensichtlichste Widerspruch dieses Werks, denn seine letzte Perspektive ist auch hier wieder die Errichtung des ,Reichs der Zwecke', des „Vernunftstaates", des „Kulturstaats". Doch gerade die Kultur erscheint nicht länger als das, was sie für Fichte bislang war, nämlich als das angemessenste Mittel zur Überwindung der Unterschiede zwischen den Menschen. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Rolle, die jetzt der Sprache, dem Vehikel der Kultur schlechthin, zugewiesen wird. Was wir hier vor uns haben, ist eine phantasievolle Unterscheidung zwischen lebenden und toten Sprachen 75, wobei das deutsche Volk, unmittelbarer Erbe des „Urvolks", als einziges eine lebende Sprache besitzt - Reflex seiner Fähigkeit, den „Begriff" wirksam werden zu lassen. Daraus erwächst die Möglichkeit einer wirklichen ,Wende': Die Deutschen, die zu Beginn des Werkes als ein Volk der Besiegten beschrieben werden, gezwungen, nur zu „gehorchen", werden zu Trägern eines neuen Ideals. Die andere Richtung von Fichtes Untersuchung betrifft die überlegte Wahl der Ziele. Nicht nur eine Bestimmung des Feindes, dessen Porträt mit einer Tinte gezeichnet wird, die unauslöschliche Spuren hinterläßt, sondern auch ein weiter Kreis von eindrucksvollen Angriffszielen; der Kampf gegen alles ,Französische' verwandelt sich in die Ablehnung einer ganzen Kultur, die Ablehnung des ,Geistes' eines Volkes (der in Frankreich esprit ist und niemals wird „Geist" sein können).

74

Zusammen mit dem Begriff „Nation" hat der Begriff „Volk" zwei alternative Bezugspunkte der anderen juristisch-politischen Werke völlig ersetzt: Gesellschaft und Staat. Bemerkenswert ist m.E., daß in der „Grundlage des Naturrechts" Volk und Nation nur genannt werden, um die „Gemeine" in ihrer Verschiedenheit vom „Gemeinwesen" zu bestimmen. Das Volk gibt es genau dann, wenn es den Staat nicht gibt, oder zumindest ist von ihm in diesem Werk sozusagen nur als vom Gegenstück, als der ,anderen Seite' des Staates (der aus Herrscher und Bürgern besteht) die Rede; vgl. 3.Tl., 1. Kap., S. 228 f. und Anm. 103. 75

Fichte hatte sich schon 1795 in der Abhandlung „Von der Sprachfähigkeit" an diesem Thema versucht, war dabei aber zu vollkommen anderen Ergebnissen gelangt; in den ,,Grundzüge[n]" kehrte er erneut darauf zurück und definierte Sprache als „die Bedingung des gesellschaftlichen Zusammenlebens des Menschen"; GA, I 8, S. 298 / SW, V I I , S. 133.

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Die ersten Jahre nach dem Frieden von Tilsit 76 stellten auch für Fichte eine relativ ruhige Zwischenzeit dar. Was sein philosophisches Schaffen betrifft, bestehen die bedeutendesten Ereignisse in einer erneuten Beschäftigung mit der Untersuchung und Behandlung von Gegenständen, die bislang schon Thema seines Forschens waren 77 . Was hingegen sein akademisches und öffentliches Wirken betrifft, besteht das wichtigste Ereignis in der Beteiligung am Projekt der Gründung der Berliner Universität. Wohlbekannt ist die Wichtigkeit der Gründung dieser Universität für die politisch-kulturelle Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert 78 . Weniger bekannt ist, mit welchem Engagement Fichte diese sich ihm bietende Gelegenheit nutzte, sein Ansehen zu stärken und endlich eine ,Bildungseinrichtung 4 nach Kriterien zu schaffen, die er seit mindestens zwanzig Jahren erarbeitet hatte 79 . Es sind an dieser Stelle nicht alle Phasen seines Streits mit Kollegen - vor allem mit Schleiermacher, aber auch mit W. von Humboldt - und mit hohen Beamten, die für die Durchführung dieses Unternehmens eingesetzt waren, zu schildern. Sein Entwurf für eine Organisation des Studiums - der allzu sehr das Gepräge seiner eigenen Philosophie trug - wurde jedenfalls nicht angenommen. Als Fichte, der als einer der ersten Lehrer berufen worden war, schon im Juli 1810 zum Rektor gewählt wurde, hatte er bereits eine beachtliche Zahl von Gegnern gesammelt. Die Konflikte mit Kollegen und eine fast identische Wiederholung der Dynamik der einstigen Auseinandersetzung mit den studentischen Orden von Jena veranlaßten ihn ziemlich rasch zum Rücktritt. Doch ein neuer Krieg, der diesmal endgültig zur Befreiung von der französischen Herrschaft führen sollte, stand vor der Tür. Fichte wird etwas später, 1814, durch eine Typhusepidemie ums Leben kommen. Sein letztes Werk - eine nicht leicht zu interpretierende „Staatslehre", die in ihrem ersten Teil eine Geschichtsphilosophie vorstellt, deren Züge sich von der mehr als ein Jahrzehnt zuvor entworfenen beträchtlich unterscheiden - kehrt auf das Problem des Krieges zurück. Natürlich in einem anderen Geist als die ersten Jugendschriften 76

Während derer Preußen die kurze, aber intensive Zeit der Reformen von Stein, Hardenberg, Scharnhorst und Gneisenau erlebte, die in vieler Hinsicht in eine ähnliche Richtung gingen wie Fichtes Vorschläge. 77

Von den weiteren Entwürfen und Fassungen der „Wissenschaftslehre" bis zu den Werken über Sitten- und Rechtslehre. Wie die beiden Fassungen der „Tatsachen des Bewußtseyns" aus den Jahren 1812/13 belegen, vernachlässigt er dabei aber die Beschäftigung mit wichtigen neuen Themen nicht. 78

Vgl. Ρ Schiera, Laboratorium der bürgerlichen Welt, S. 24 ff.

79

Das belegen etwa seine Aktivität in der Berliner Freimaurerloge und die Erwartungen, die er in neue Einrichtungen - wie die Mainzer Republik - setzte. Zu erwähnen ist auch der Plan für eine vollkommene Umstrukturierung der Erlanger Universität, den Fichte 1805 dem Minister Hardenberg vorlegte. Dieser billigte den Entwurf, der dann jedoch aufgrund der unmittelbar darauffolgenden Kriegsereignisse nicht umgesetzt wurde. 3 De Pascale

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und in Übereinstimmung mit den neueren Werken 80 . Im Vergleich zu diesen sind nur die Akzente leicht verändert; und der Unterschied ist der zwischen sozusagen am Rande des Schlachtfelds verfaßten rhetorischen Musterstücken 81 und einem ausgereifteren Versuch theoretischer Reflexion. Fichte unternimmt es nun, den Begriff des „wahren" Krieges zu entwickeln: eines Krieges, den ein Volk für seine Unabhängigkeit, zur Wiedererlangung seiner Freiheit führt, und der deswegen „nicht gegen das Recht" ist.

80

Schon in der Einleitung zum Aufsatz über Machiavelli hatte Fichte ein besonderes Interesse für dessen „Arte della guerra" gezeigt. 81 Wie im Fall zweier Manuskripte aus dem Jahr 1806: „Anwendung der Beredsamkeit für den gegenwärtigen Krieg" und „Reden an die deutschen Krieger zu Anfange des Feldzuges 1806", in: GA, I I 10, S. 71-74 und 79-81 / SW, V I I , S. 505-508 und 509-512.

Erster Teil Die Funktion der Wissenschaft

Erstes Kapitel Die Philosophie als Wissenschaft 1. Das „System" der Wissenschaft Während sich die Kompetenz der besonderen Wissenschaften auf die Erforschung begrenzter Gebiete des menschlichen Wissens erstreckt, hat für Fichte die Wissenschaftslehre - die Wissenschaft aller Wissenschaften, das Wissen, dem jedes besondere Wissen entspringt - das gesamte „System" 1 menschlichen Wissens zum Gegenstand. Dieses Wissen existiert unabhängig von der Wissenschaft, deren Gegenstand es ist und von der es „in systematischer Form aufgestellt" - es ließe sich auch sagen ,dargestellt' 2 - wird. Doch weil die Wissenschaftslehre dem Wissen nicht nur die Form zu geben vermag (sonst wäre sie nicht mehr als eine Logik 3 ), sondern auch den Gehalt, der in dem Bewußtsein der ,,nothwendige[n] Handlungsart des menschlichen Geistes" besteht, stellt sich zwingend die Frage, wie der Philosoph unter den möglichen Handlungsarten des menschlichen Geistes die notwendigen erkennen kann, diejenigen also, die geeignet sind, die Welt der Wissenschaft und nicht die der Kontingenz zu bilden. Die Antwort auf diese Frage bestimmt unvermeidlich Fichtes gesamte Philosophie und prägt deren künftig vorherr-

1

Der Aufsatz „Über den Begriff" will die Grundzüge der Philosophie als eines wissenschaftlichen System des Wissens beschreiben; vgl. besonders GA, I 2, S. 136 und 130 / SW, I, S. 65 f. und 59. Bekanntlich setzten sich die Zeitgenossen fast ausschließlich mit Fichtes erster Wissenschaftslehre auseinander, die sofort im Zentrum einer lebhaften Debatte stand. Aber auch die Fichteforschung des 20. Jahrhunderts hat den Schriften, aus den die „Wissenschaftslehre" von 1794 besteht, die meiste Aufmerksamkeit geschenkt, und es läßt sich sagen, daß diese Tradition sich weitgehend bis vor etwa fünfunddreißig Jahren fortgesetzt hat. Die „Münchner Schule" um Reinhard Lauth, den Hauptinitiator der Gesamtausgabe von Fichtes Werken, hat den Anstoß für eine Zuwendung der Forschung zu den späteren Fassungen der Wissenschaftslehre gegeben. Zur Situation in Italien vgl. L. Pareyson, Fichte; G. Duso, Contraddizione e dialettica; C Cesa, Fichte e l'idealismo trascendentale, S. 19-57; ders., Le origini dell'idealismo; Ρ Salvucci, La costruzione delPidealismo; F. Buzzi, Libertà e sapere, sowie C Cesa, Introduzione a Fichte. 2 Hier kommt ein nicht nur terminologisches Problem zum Vorschein. Zur Frage der „Darstellbarkeit" der Philosophie vgl. die grundlegenden Ausführungen von L. Pareyson, Fichte, S. 125 ff.

3

GA, I 2, S. 137-140 / SW, I, S. 66-70.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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sehende Ausrichtung, wenn sie auch von einigen gegenläufigen Tendenzen abgeschwächt wird: Daß die Intelligenz den richtigen Weg findet, verdankt sie den „ dunkle[n] Gefühle [n]", einer inneren Stimme, die sich noch nicht zum Bewußtsein erhoben hat 4 . Diese wenigen Stichworte zu Beginn wurden mit voller Absicht einem der ersten Texte Fichtes entnommen, der einer noch ganz propädeutischen Sphäre innerhalb einer sich über mehr als zwanzig Jahre erstreckenden Arbeit des Forschens, Konstruierens und Rekonstruierens angehört. Wir erhalten damit aber schon eine Reihe wichtiger Hinweise, die uns in das Gebiet dieser Untersuchung einführen können. Zunächst der Begriff des „Systems". Weil man sich ihm mit einiger Vorsicht nähern muß, sind zunächst vielleicht einige Überlegungen darüber angebracht, was dieser Begriff nicht bezeichnen soll. Vor allem darf er nicht dazu verleiten, dem Werk, in dem er theoretisch erörtert wird - „Über den Begriff der Wissenschaftslehre" - , zu große Autorität zuzumessen. Es ist nicht schwer, denen beizupflichten, die das Schematische von Fichtes Verfahren in dieser Schrift hervorgehoben haben. Zu einer solchen Einschätzung führt zudem die Berücksichtigung des nicht allein propädeutischen 5 , sondern auch programmatischen Werts dieser ersten Arbeit, die Gehalt und Form der Wissenschaftslehre erläutern sollte. In einer »programmatischen' Untersuchung kann sich sicherlich nicht der ganze Reichtum des Gehalts zeigen, und tatsächlich läßt sich m.E. behaupten, daß die Werke des Jahres 1794 vor allem das notwendige wechselseitige Verhältnis von Form und Gehalt des Wissens herausstellen. Es ist folglich zwar legitim, sich auch auf diese Texte zu stützen, um eine „Gesamtidee" 6 von Fichtes Philosophie zu skizzieren, doch das Ergebnis wird nicht viel mehr als eine ideale Umrißlinie sein; wir erhalten damit eine gänzlich formale Beschreibung, die auf ihre tatsächliche Kohärenz zu überprüfen ist, sobald darin das gesamte Spektrum der besonderen Gehalte des Wissens eingeführt ist. Spricht man von einem „System des Wissens" bei Fichte, darf schließlich auch nicht vergessen werden, daß

4 Daß dieses „dunkle Gefühl" handeln und wirksam sein kann, ist gewährleitet durch die in jedem Menschen vorhandene „Grundanlage der Vernunft". Nicht einmal sie muß dem Menschen bewußt sein; entscheidend ist, daß er dank der Vernunft auf jeden Fall in der Lage ist, zur Stufe des Selbstbewußtseins zu erheben, was ihm zunächst nur von einer solchen inneren Stimme eingeflüstert worden war. 5

In der Vorrede zur zweiten Auflage von „Über den Begriff" definiert Fichte seine Abhandlung als „Schrift, in welcher über das Philosophiren in der Wissenschaftslehre - selbst philosophirt wird, und die daher zu einer Einleitung in dieses System dient"; GA, I 2, S. 159 / SW, I, S. 32. 6

Vgl. R. Lauth, Fichtes Gesamtidee.

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

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Fichte selbst diese Bezeichnung keineswegs bevorzugt hat - in den späteren Schriften taucht sie sogar praktisch nicht mehr auf 7 . Warum also dem Begriff des „Systems" noch besonderes Gewicht zumessen? Was bleibt, nach dieser Reihe von Einschränkungen, an Wichtigem übrig? Es bleiben zwei für das Verständnis von Fichtes Philosophie absolut grundlegende Momente, die darüber hinaus entscheidend dazu beitragen, den Gesamtrahmen der vorliegenden Untersuchung zu skizzieren. Beginnen wir mit dem zweiten Aspekt, der engen Verbindung, die im System zwischen der Wissenschaft der Wissenschaften und den besonderen Wissenschaften besteht8. Es soll dabei nicht so sehr darum gehen, ob der Fortgang von Fichtes philosophischem Forschen seinem Programm tatsächlich entspricht; nicht darum also, ob es Fichte gelungen ist, in alle die Einzeldisziplinen einzudringen, in die er sein System gegliedert hat, ob er in jeder von ihnen seine Untersuchung vollständig durchgeführt hat oder ob insbesondere die in einem Teilbereich erzielten Ergebnisse mit denen aus einem anderen Teilbereich oder gar den Endergebnissen seiner gesamten Philosophie kohärent sind. Untersucht werden soll hier hingegen gerade die erwähnte Verbindung, die Vorstellung einer Gliederung zwischen den einzelnen Teilen und zwischen Teilen und Ganzem, die einen wichtigen Schlüssel zur Deutung enthalten kann 9 . Es ist nicht nötig, die Aussagen des Philosophen wörtlich zu nehmen und ihm in seiner theoretischen Erörterung der desiderata zu folgen; aber es gibt keinen Grund, Fichte kein Gehör zu schenken, wenn er immer wieder fordert, in jedem Teilbereich sei dem Umstand Rechnung zu tragen, daß es 7

Auch an weitere mögliche Ursprünge des Begriffs wäre zu denken - etwa die enzyklopädistische Konzeption, von der die Kultur der Zeit nach wie vor durchdrungen war; so sehr eine Auseinandersetzung Fichtes mit ihr nahegelegen hätte, so wenig läßt allerdings sich in seinem Werk, wenn ich recht sehe, irgendeine Wertschätzung oder besonderes Interesse dafür erkennen. Zu erinnern wäre auch an die klassischen Theoriekonstruktionen more geometrico, die im Hintergrund von Fichtes Philosophie stehen und die auch er gebührend berücksichtigen mußte. Wahrscheinlich haben beide Komponenten, entsprechend adaptiert, zur Herausbildung von Fichtes Begriff des „Systems" beigetragen. Die Art und Weise, wie er jeweils formuliert wird, und die durchaus bedeutenden Abweichungen zwischen erster und zweiter Fassung der Schrift „Uber den Begriff" zeigen darüber hinaus, daß er schon an sich nicht eindeutig ist; vgl. hierzu die Anregungen für die Forschung bei L. Pareyson, Fichte, S. 121-125. 8 „... der Begriff der Wissenschaftslehre ... ist ... der Ort für alle wissenschaftlichen Begriffe"; GA, I 2, S. 127 / SW, I, S. 55. 9 „Man kann an allen Theilen des transscendentalen Idealismus sich üben, von jedem aus in den Gesichtspunct desselben einzudringen suchen: hat man aber nicht die vollständige Reihe der Gründe erkannt, den ganzen Umfang desselben geschlossen; so versteht man es wohl halb oder historisch, findet sich etwa dadurch angezogen, findet es nicht ganz uneben und dergl., aber ein entschiedenes Urtheil dafür oder dagegen ist in diesem Zustande nicht möglich"; „Rükerinnerungen", in: GA, I I 5, S. 108 / SW, VI, S. 337 f.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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sich eben um einen Teilbereich handelt, der mit den anderen Bereichen in Verbindung steht und zugleich eine eigene spezifische Autonomie besitzt. Dies umso mehr, als Fichte große Mühe darauf verwendet, die verschiedenen Bereiche getrennt zu halten. Wenn sich letztlich auch alles, indem es sich wechselseitig bedingt, miteinander verbindet und wieder vereinigt - oder der Philosoph zumindest ständig dieses Endergebnis anstrebt - , so darf doch die Kehrseite nicht vernachlässigt werden: Man denke an die Unterscheidung zwischen Moral und Recht, die innerhalb der deutschen Diskussion durch Fichte endgültig geklärt wird, oder an Fichtes wiederholte Versuche, die Sphäre der Moral durch ihre Abgrenzung von der Religion zu bestimmen. Diese Idee der Gliederung nicht aus den Augen zu verlieren, heißt also, den nichtigen' und dem (besonderen) betrachteten Gegenstand gemäßen Beobachtungspunkt einzunehmen. Mit der Veränderung des Beobachtungspunktes - relativ zu einem gegebenen Gegenstand - verändert sich wahrscheinlich auch das „System" insgesamt in gewissem Maß, weil jedesmal eine andere Seite von ihm beleuchtet wird 1 0 . Warum also nicht versuchsweise annehmen, Fichtes Werke ließen sich (abgesehen von der sozusagen natürlichen Entwicklungslinie jedes philosophischen Denkens, die sich bei Fichte besonders deutlich zeigt) nach ihrer ,Gattung' anordnen, aufgrund ihres jeweiligen Gegenstandes und dessen Behandlung also - statt allein dem zeitlichen Nacheinander der einzelnen Werke und Themen zu folgen? Das wird es erlauben, ohne in den Schwierigkeiten der ,Chronologie' steckenzubleiben, einige zentrale Begriffe herauszuarbeiten - obwohl die vorliegende Studie ihnen sowohl in ihrer logischen als auch in ihrer zeitlichen Abfolge nachgeht 11 - , sie miteinander zu vergleichen und sie vor allem, nachdem ihr Zusammenhang klar geworden ist, in ihrem selbständigen Gehalt zu erfassen. Vor einem praktischen Beispiel für die möglichen Resultate eines solchen Ansatzes ist aber das andere Moment zu betrachten, das beim frühen Fichte durch den Begriff „System des Wissens" bezeichnet wird. Dieses Moment erweist sich als eine weitere Konsequenz des gerade behandelten - der engen

10 Diese Aussage findet sich in markanter Formulierung auch im gerade zitierten Text: „Ehe nicht das ganze System vollendet dasteht, ist alles, was wir vortragen können, nur ein Theil. Die Theile, auf welche dieser letztere sich stützt, müssen freilich schon vor euch liegen; sonst haben wir keine Methode; aber es ist nicht nothwendig, dass sie in derselben Schrift vor euch liegen, die ihr jetzt eben leset; wir setzen euch als bekannt mit unseren vorherigen Schriften voraus; wir können nicht alles auf einmal sagen"; GA, I I S. 117 / SW, V, S. 341 f. 11

Denn abgesehen von der Diskussion über die mehr oder minder ausgeprägte Gliederung von Fichtes Philosophie in verschiedene Phasen, handelt es sich hier zweifellos um ein Denken, das unablässig die einmal erreichten Resultate der Prüfung unterzieht und sie im Licht neuer Einsichten, die jedesmal einen weiteren Baustein zum „System" hinzufügen, wieder erörtert.

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

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Beziehung, die die besonderen Wissenschaften untereinander und mit der Wissenschaft überhaupt verbindet. Weil jede Wissenschaft „Eins, ein Ganzes" ist, muß sie auch eine „systematische Form" besitzen; muß also aus einer Reihe logisch miteinander verknüpfter Sätze bestehen, die sich alle auf einen „einzigen" und absolut „gewissen" Grundsatz zurückführen lassen. Weil der Grundsatz, von dem jede besondere Wissenschaft ausgeht, seinerseits nun aber seinen Grund in etwas anderem hat - in jener Wissenschaft überhaupt, die in sich alle besonderen Disziplinen enthält - , entsteht zwischen den einzelnen Wissenschaften ein einigendes Band, das bewirkt, daß sie nicht gegeneinander abgeschlossene Welten bleiben, die nicht miteinander kommunizieren können („... alles, was Satz irgend einer Wissenschaft seyn soll", muß „schon in irgend einem Satze der Wissenschaftslehre enthalten" sein12). In diesem ,Aufstieg' der besondere Wissenschaften zur Wissenschaftslehre, in diesem Rückgang auf den ersten unbeweisbaren Grundsatz können wir das zweite konstitutive Moment des Begriffs „System" erkennen: „Auf ihn [den ersten unableitbaren Grundsatz] gründet sich alles Wissen, und ohne ihn wäre überhaupt kein Wissen möglich; er aber gründet sich auf kein anderes Wissen, sondern er ist der Satz des Wissens schlechthin" 13 .

Wenn die „systematische Form" 1 4 durch die Wirkung eines ersten, unableitbaren Grundsatzes gegeben ist, dann gibt dieser Grundsatz der Wissenschaftslehre zugleich mit ihrer Form auch den Gehalt. Da gewisses Wissen dann zu erlangen ist, wenn eine gegebene Form und ein gegebener Gehalt unauflöslich miteinander verbunden sind, kann der Gehalt des ersten Grundsatzes seinerseits nur ein absoluter Gehalt sein, der sämtliche möglichen Gehalte umfaßt. Das bedeutet, daß die Wissenschaftslehre als „Grund" aller Wissenschaften ein einziges und vollendetes System des menschlichen Wissens darstellt; ein einziges System, weil es nur einen ersten Grundsatz gibt 15 ; ein vollendete System, weil sich in ihm das menschliche Wissen erschöpft. In ihm ist also der „Grundsatz, von welchem wir ausgegangen" sind, gleichzeitig auch 12 GA, I 2, S. 123 / SW, I, S. 51. Zudem: „Die Wissenschaftslehre soll aber nicht nur sich selbst, sondern auch allen möglichen übrigen Wissenschaften ihre Form geben, und die Gültigkeit dieser Form für alle sicher stellen".

» 14

GA, I 2, S. 121 / SW, I, S. 48.

„Eine allgemeine Wissenschaftslehre hat ... für alle möglichen Wissenschaften die systematische Wissenschaftslehre ist selbst eine Wissenschaft. Auch Grundsatz haben, der ... zum Behuf ihrer Möglichkeit S. 120 / SW, I, S. 47. 15

die Verbindlichkeit auf sich, Form zu begründen". „Die sie muß daher zuförderst einen vorausgesetzt wird"; GA, 12,

Und es ist nicht möglich, daß ein anderer Grundsatz auftaucht, um ein neues System des Wissens zu begründen, es sei denn, dieser neue Grundsatz und dieses neue System stellten den absoluten Widerspruch zu ihm dar.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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„das letzte Resultat": Es zeigt sich, daß die Wissenschaftslehre „diesen Kreislauf wirklich vollendet, und den Forscher gerade bey dem Punkte verläßt, von welchem sie mit ihm ausging"; „verlangen, daß er [dieser Kreislauf] gehoben werde, heißt verlangen, daß das menschliche Wissen völlig grundlos sei" 16 . Einzigkeit und Vollständigkeit als grundlegende Eigenschaften der Wissenschaftslehre sind das Spiegelbild eines in sich zusammenhängenden Systems, einer Ganzheit im Zeichen der Notwendigkeit (sei sie qualitativ oder quantitativ). Es muß so sein, denn es ist „der Grund" des menschlichen Wissens, die absolute „Form" - und der absolute Gehalt - „aller möglichen Wissenschaften". In diesem Bild eines in sich geschlossenen Kreises fehlt notwendig die Vorstellung einer Dynamik, die in der Lage wäre, die idealen Grenzen dieses Kreises zu überschreiten, die Vorstellung einer Bewegung, die sich in vielfältige Richtungen zu bewegen vermöchte, kurz: die Vorstellung der Freiheit. Umgekehrt ist diese bekanntlich aber Ausgangs- und Zielpunkt von Fichtes philosophischer Konzeption: Durch einen Akt der Freiheit hebt das Wissen an; und in einem Akt der Freiheit beginnt der menschliche Geist eine Reflexion (bestimmt sich selbst zu ihr) 17 . „[Die Wissenschaftslehre] ... ist, als solche, nicht etwas, das unabhängig von uns, und ohne unser Zuthun existiere, sondern das erst durch die Freiheit unsers nach einer bestimmten Richtung hin wirkenden Geistes hervorgebracht werden soll . . . - 1 8 .

Das Wissen mündet in das Reich der Freiheit. Und frei ist dieses Wissen selbst sozusagen per definitionem, aufgrund seiner Entstehung (der Selbstbestimmung), aufgrund seiner Entwicklung (es duldet keine nicht von ihm selbst ausgehende Bestimmung, kein äußeres autoritatives Prinzip), auf-

16

GA, I 2, S. 131 und 133 / SW, I, S. 59 und 62. Am eindringlichsten hat dieses Thema Lauth erforscht, vgl. R. Lauth, Die Verschränkung, S. 22. Lauths Arbeiten zu diesem Gegenstand verzeichnet C. De Pascale , Una recente interpretazione di Fichte. Zum Einfluß K.L. Reinholds auf Fichte und dessen Kritik an Reinhold vgl. auch WH. Schräder, Reinhold und Fichte, in: K. Hammach er I A. Mues (Hrsg.), Erneuerung der Transzendentalphilosophie, S. 331-334, zudem R. Lauth, Fichtes und Reinholds Verhältnis, S. 129-159. Zur Reinhold-Forschung vgl. V. Verra, Reinhold e le lettere sulla filosofia kantiana; A. Klemmt, Reinholds Elementarphilosophie; A. Pupi, La formazione della filosofia di Reinhold; M. Bondeli, Das Anfangsproblem bei Reinhold. Zur italienischen Forschung vgl. auch das Kapitel über Reinhold in: G. Durante, Gli epigoni di Kant, S. 19-41. Siehe zuletzt auch die Arbeiten von F. Fabhianelli, z.B.: Elementarphilosophie und Wissenschaftslehre: zwei Modelle der Transzendentalphiloso phie, in E. Fuchs / M. Ivaldo / G. Moretto (Hrsg.), Der transzendentalphilosophische Zugang. 17

„Die Wissenschaftslehre entsteht ... durch eine Bestimmung der Freiheit; welche leztre hier insbesondre bestimmt ist, die Handlungsart des menschlichen Geistes überhaupt zum Bewußtseyn zu erheben"; GA, I 2, S. 142 / SW, I, S. 71 f. 18

GA, I 2, S. 119 / SW, I, S. 46.

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

43

grund der unendlichen Skala der Richtungen, in die es sich potentiell bewegen kann. Schließlich auch aufgrund des von ihm erreichten Endergebnisses, das niemals ein bestimmtes oder ein materiales Wissen („Wissen von Etwas") ist, sondern „... das zum Wissen von sich selbst, zur Besonnenheit, Klarheit und Herrschaft über sich selbst gekommene allgemeine Wissen": „Sie [die Wissenschaftslehre] ist auf keine Weise unser Gegenstand, sondern unser Werkzeug, unsre Hand, unser Fuß, unser Auge; ja nicht einmal unser Auge, sondern nur die Klarheit des Auges" 19 .

Vollkommen umgekehrt verhält es sich in den besonderen Wissenschaften, die auf den Erwerb einer Quantität an bestimmtem, begrenzten Wissen ausgerichtet sind. Am Schnittpunkt zwischen der Wissenschaftslehre - als Wissen vom Wissen überhaupt - und den besonderen Wissenschaften wird erneut das Prinzip der Freiheit wirksam: Wenn einerseits das Moment der Bestimmung/ Bestimmtheit 20 untrennbar verbunden ist mit dem besonderen Bereich, den jede einzelne Disziplin als ihr spezifisches Untersuchungsfeld abgrenzt, so muß sich andererseits die besondere Wissenschaft frei bewegen können, indem sie, stets um neue Erkenntnisse bemüht, den Umfang ihres Forschens unendlich ausdehnt. Die den besonderen Wissenschaften eigene Unendlichkeit ihres Gegenstandes21 - offenkundiges Zeichen für das freie Handeln des Wissens - kann am besten die Unterschiedlichkeit der Gesichtspunkte jeder einzelnen Wissenschaft und die mögliche Unterschiedlichkeit ihrer Resultate rechtfertigen. 2. Die Funktion des „Strebens" Wenn bislang bei der Beschreibung des gesamten „Systems des Wissens" mehr das Moment der Gliederung als das der Einheit betont wurde, rechtfertigt 19

„Darstellung der Wissenschaftslehre", in: GA, I I 6, S. 141 / SW, II, S. 9 f.

20

Eine Untersuchung mit weitem Horizont, die eine Vielzahl von Erscheinungsweisen der Bestimmung einbezieht und deren Subjekt wie deren Objekt betrachtet (innerhalb eines Vergleichs Fichte/Maimon), bietet K. Hammacher, Fichtes praxologische Dialektik. 21

GA, I 2, S. 137 / SW, I, S. 66: „Man hat also von einer erschöpfenden Wissenschaftslehre keine Gefahr für die ins Unendliche fortgehende Perfektibilität des menschlichen Geistes zu besorgen; sie wird dadurch gar nicht aufgehoben, sondern vielmehr völlig sicher und ausser Zweifel gesetzt, und es wird ihr eine Aufgabe angewiesen, die sie in Ewigkeit nicht endigen kann". Hier liegen die Wurzeln von Fichtes „Kultur zur Freiheit": In diesem Ausdruck ist die enge Verbindung zwischen der Perfektibilität des Wissens und der Perfektiblität der menschlichen Welt bündig bezeichnet.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

44

sich dies durch die spezifische Fragestellung dieser Studie. Hier soll der praktische Teil von Fichtes Philosophie betrachtet werden und die Aufmerksamkeit auf einigen ihrer konkreten Resultate liegen. Im Zentrum stehen also weniger die Ausführungen zur theoretischen Beschreibung dieses Teils oder die diesen vorangehende Formulierung, die die zwischen einem theoretischen und praktischen Teil der Wissenschaftslehre getroffene Unterscheidung bezeugt22, als vielmehr die wichtigsten Ergebnisse aus dem weiten Bereich der „besondren Wissenschaften", die dem System entspringen. Der dafür geeignete Beobachtungspunkt wird die oben bezeichnete Schnittstelle zwischen Wissenschaftslehre und besonderen Wissenschaften sein. An dieser Stelle wird das „System" lebendig, indem es sich der Besonderheit der praktischen Wissenschaften öffnet (der Wissenschaften, die das menschliche Handeln untersuchen) und in der Erfahrung der verschiedenen Momente seiner Sonderung auch die Bestätigung der von ihm selbst entworfenen theoretischen Konstruktion findet oder zu finden versucht 23. Die hier gewählte Perspektive - über den Verweis auf das persönliche Interesse an diesen Themen hinaus - theoretisch zu begründen, ist eine einerseits leichte, andererseits komplizierte Aufgabe. Nicht schwer ist diese Wahl zu rechtfertigen, weil der Philosoph selbst diesen Weg nahelegt. Ausgehen kann man dabei schon von seinem Hinweis auf den absoluten Vorrang des praktischen Teils seines Systems auch für das Verständnis der ,Philosophie. Die Aufgabe gestaltet sich aber schon weitaus schwieriger, sobald man die Kurskorrektur berücksichtigt, die Fichtes Philosophie selbst von Anfang an erfordert hatte, deren Richtung aber im Lauf der Zeit immer deutlicher wurde; sie besteht in der Behauptung, die Philosophie selbst als solche sei praktisch 24 . Die Forschung hat dieses Thema in den letzten Jahren diskutiert,

22

Eine zudem von Fichte aufgrund der Notwendigkeit, zu einer erneuten Vereinigung der Teile zu gelangen, ziemlich rasch aufgegebene Unterscheidung. 23

Ernst Cassirer hat sehr scharfsinnig beobachtet, daß das Stichwort „System" nicht nur auf ein Problem der formalen Konstruktion hinweist, sondern daß sich in ihm ein sehr wichtiger theoretischer Gehalt verbirgt: „Daß das Wissen überhaupt System, nicht Aggregat sein müsse, folgt nunmehr mit Evidenz aus dem obersten Vernunftzweck selbst. Nur dann, wenn kein Einzelinhalt sich der durchgängigen und eindeutigen Bestimmung durch das Gesetz des Ganzen entzieht, ist dieser Zweck wahrhaft realisierbar"; E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie, S. 137 f. 24 Vgl. unten, 2. Tl., 1. Kap., S. 109 f. Doch das Problem des praktischen Charakters der Vernunft war an sich in Fichtes Denken bereits präsent. In der Rezension des „Aenesidemus" heißt es: „Wenn das Ich in der intellectuellen Anschauung ist, weil es ist, und ist, was es ist ...: die Vernunft ist praktisch ... insofern sie beides zu vereinigen strebt"; „Aenesidemus", in: GA, I 2, S. 65 / SW, I, S. 22. Abgesehen von der Schwierigkeit der Scheidung in zwei Teile, ist es eines der Ziele der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre", die gegenseitige Abhängigkeit von theoretischer und praktischer Vernunft und die absolut zentralen Stellung des praktischen Vermögens

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

45

und die neuesten Interpretationsansätze, die sich auch aus der Edition und Interpretation der postumen Manuskripte (häufig theoretischen Inhalts) ergaben, neigen auf der Grundlage sehr subtiler Analysen dazu, das theoretische Moment aufzuwerten und jedenfalls die Fragestellungen, die das Verhältnis von theoretischem und praktischem Teil der Philosophie betreffen, in diesen weiten Kontext zu stellen25. Die Entwicklung in der Interpretationsgeschichte von Fichtes Philosophie ist in diesem Fall besonders deutlich. Andererseits ist die Schwierigkeit offensichtlich, einen umfassenden Gesichtspunkt für die Betrachtung der Art der Beziehung zwischen praktischer und theoretischer Philosophie in Fichtes Denken zu finden 26. In erster Linie deswegen, weil ständig neue Fassungen und Darstellungen seiner allgemeinen' Lehre aufeinanderfolgen, und dann wegen der gewiß nicht linearen Entwicklung der besonderen Wissenschaften', mit denen der Philosoph sich befaßt hat - um von den zahllosen Schwierigkeiten auf dem Gebiet der ,Anwendung' jeder Spezialdisziplin gar nicht zu sprechen. Ein weiteres Problem besteht im Verhältnis zwischen der praktischen Philosophie tout court und der Ethik als einem ihrer Teile. Die angedeutete Entwicklung innerhalb der Interpretation von Fichtes Philosophie wird an diesem Punkt noch deutlicher. Der Großteil der Forscher hält inzwischen eine Deutung überholt, die in Fichtes Denken einfach einen ,Panmoralismus' oder einen ,moralischen Idealismus' sieht 27 , und lehnt ebenso die Bezeichnung „praktischer Idealismus" 28 zur Kennzeichnung seiner Philosophie insgesamt ab. In einer Untersuchung zur Bedeutung des Begriffs des „Praktischen" 29 hat Claudio Cesa gezeigt, daß es aus mehreren Gründen angebracht ist, insbesondere beim frühen Fichte zwischen seiner praktischen Philosophie und seiner Moralphilosophie zu unterscheiden; er hat zugleich aber auch gezeigt,

zu beweisen. Die Stelle in GA, I 2, S. 399 / SW, I, S. 263 f. stellt trotzdem die prägnanteste Zusammenfassung dieses Themas dar. 25

Vgl. z.B. C. Cesa, Die Krise der Moralphilosophie, sowie M.J. Siemek, Praktische Vernunft, S. 395-410. 26 Das Kapitel zu Fichte in: N. Hartmann, Philosophie des deutschen Idealismus, S. 40-106, stellt weiterhin eine der erheilendsten Untersuchungen zu diesem Thema dar. Die Editions- und Rezeptionsgeschichte von Fichtes Werken zeigt aber, daß man bei den Ergebnissen, zu denen der Autor seinerzeit gelangt ist, nicht stehenbleiben darf. 27

Eine Auffassung, die - um nur das Beispiel Italiens zu nennen - in der Fichteforschung der frühen Nachkriegszeit en vogue war, vgl. z.B. A. Ravà , Lo stato come organismo etico; E. Opocher, Fichte e il problema dell'individualità; A. Ravà , Diritto e stato, sowie vom selben Autor eine Reihe von Beiträgen, die gesammelt sind bei E. Opocher (Hrsg.), Studi su Spinoza e Fichte 28

Dazu M.J. Siemek, Fichtes W.L.

29

C. Cesa, Zum Begriff des Praktischen bei Fichte.

46

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

aus welchen Gründen es in der Vergangenheit möglich war, von einigen eigenen Hinweisen Fichtes besonders in der „Sittenlehre" ausgehend, beide miteinander zu identifizieren. Eine der zentralen Auffassungen, die Fichte in diesem Werk vertritt, besteht zudem darin, daß auf dem Gebiet der besonderen Wissenschaften diese Wissenschaft absoluten Vorrang vor der anderen verdient. Und zwar deswegen, weil diese Wissenschaft absolut notwendig ist (wenn auch aufgrund der Endlichkeit des Menschen nicht zureichend), wo immer es eine Form menschlichen Lebens gibt; deshalb geht der „Grundsatz", auf den sie sich gründet, jedem anderen Organisationsprinzip der menschlichen Gemeinschaft voraus. Auch weil ich dem im Kern zustimme, wird in dieser Untersuchung unter den „besondren Wissenschaften", denen Fichtes Bemühung galt, hauptsächlich und besonders seine Ethik betrachtet (wenn ich mir auch bewußt bin, daß zahlreiche andere gute Gründe dafür sprechen, statt dessen der Wissenschaft vom Recht den Vorrang zuzugestehen, weil das Recht die Vorbedingung jeglichen menschlichen Zusammenlebens darstellt und deswegen die Rechtslehre - wenn auch aus anderen Gründen - den Platz an der Spitze einer idealen Rangleiter der praktischen Wissenschaften verdient). Um das Bild der Beweggründe für die in dieser Untersuchung gewählte Perspektive zu vervollständigen, ließe sich schließlich noch der Versuch unternehmen, zwischen der Entscheidung, den praktischen Teil des Systems zu betrachten, und der weiteren Entscheidung, die Ethik zum bevorzugten Beobachtungspunkt zu machen, eine Verbindung herzustellen. Das verbindende Element könnte dabei der Begriff des „Strebens" darstellen, der auf der einen Seite den praktischen Teil der Wissenschaftslehre beherrscht 30 und auf der anderen Seite eine unverzichtbare Voraussetzung für die Konstruktion der Ethik als Wissenschaft bildet. Abgesehen von ihrer Bedeutung als selbständiger Wissenschaft, bezeichnet die Ethik tatsächlich ein Schlüsselmoment von Fichtes gesamter Theorie: das Moment, in dem sich der Begriff des Strebens gleichsam verwirklicht, das Moment, in dem er konkrete Gestalt annimmt, wirksam wird, in dem es ihm gelingt, sich dem Realen einzuprägen. Der Begriff „Streben" wird seinerseits eine bedeutende Rolle spielen; zunächst deswegen, weil die theoretische Philosophie in ihm den zentralen Kern des praktischen Teils der Wissenschaftslehre erkannt hat, und zweitens, weil er für eine Vielzahl von Gebieten wichtig und durch eine fundamentale zweifache Bedeutung gekennzeichnet ist: Er besitzt nicht nur einen praktischen, sondern auch einen theoretischen Aspekt. Fichtes Ethik läßt sich m.E. durchaus auch als

30 Zur Rolle des Strebens in Fichtes Philosophie vgl. die eingehende Studie von L. Pareyson, La deduzione del finito.

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

47

eine Darstellung der Bandbreite der möglichen konkreten Bedeutungen des Begriffs „Streben" auffassen. N i c h t zufällig folgt i n der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" auf den Paragraphen, i n dem dieser Begriff erörtert w i r d , das, was ein scharfsinniger Forscher als ,Trieblehre' bezeichnet h a t 3 1 ; u n d die „Sittenlehre" erläutert unter anderem auf praktischer' Ebene u n d i n konkreter Weise eben die enge V e r b i n d u n g zwischen Streben u n d Trieb. Diese Verbindung steht nicht n u r i m Z e n t r u m des sogenannten praktischen Teils (in diesem Sinn ist die Sittenlehre die Lehre davon, wie die Triebe „erzogen" werden können), sondern ist zugleich schon an sich auf der theoretischen Ebene wichtig: Das Streben verweist nicht n u r auf die praktische' Sphäre, der Trieb ist nicht allein M o t o r des Handelns; das Streben ist auch u n d vor allem ein Streben, das dem reflexiven Denken selbst i n n e w o h n t 3 2 ; der Trieb ist auch, oder geradezu in primis, dieser Stelle der Überlegung

finden

ein „Vorstellungstrieb" 3 3 .

An

schließlich auch Fichtes Reflexionen

über seine Philosophie als einen gleichzeitig kritischen u n d praktischen Idealismus ihren genauen O r t - eine Formulierung, bei der nicht vergessen werden darf, daß die Dimension des „Realismus" notwendig zusammen m i t der des „Idealismus" vorhanden sein m u ß 3 4 . Bekanntlich hat der A u t o r über

31 Ρ Naumanns, Fichtes ursprüngliches System, S. 130 ff. Auf den Begriff des Triebs ist später zurückzukommen. Hier sei nur an die bedeutende Rolle erinnert, die er in der deutschen Aufklärungsphilosophie spielt (diese Bezeichnung hier im weitestmöglichen Sinn gefaßt, unter Einschluß des Leibnizschen Erbes bei Wolff und Thomasius, der Psychologie Baumgartens und der Willenslehre bei Crusius, der KantKritik von Platner und auch Jacobi). Sehr wahrscheinlich hat Fichte den Begriff dieser Tradition entnommen. Allerdings war ihm ganz bewußt welche Probleme sich aus seiner Verwendung im Kontext einer Philosophie ergeben konnten, die Fortsetzung und Ergänzung von Kants Philosophie sein wollte. Die folgenden Arbeiten gehen auf dieses Thema in allgemeiner Form ein: M. Wundt, Die deutsche Schulphilosophie; H.M. Wolff y Weltanschauung der deutschen Aufklärung; G. Tonelli, Da Leibniz a Kant; A. Lamacchia, Le origini del pensiero critico; M. Casula, La metafisica di Baumgarten; N. Merker, Die Aufklärung in Deutschland, M.A. Raschini, L'illuminismo tedesco e Kant; R. Ciafardone, Lilluminismo tedesco; S. Carboncini, Crusius und die LeibnizWolffsche Philosophie, und ihre Einleitung zu C.A. Crusius, Die philosophischen Hauptwerke, Bd. 4; L. Fonnesu, Antropologia e idealismo; Revue germanique internationale 18 (2002). 32 „Ein sich selbst producierendes Streben ..., das festgesetzt, bestimmt, etwas gewisses ist, nennt man einen Trieb* 1; GA, I 2, S. 418 / SW, I, S. 287. 33 „Dieser Trieb ist ... die erste und höchste Aeusserung des Triebes, und durch ihn wird das Ich erst Intelligenz"; GA, I 2, S. 424 / SW, I, S. 294. 34 Vgl. vor allem GA, I 2, S. 303 f. / SW, I, S. 147. Das Hendiadyoin britischer und praktischer Idealismus' bezeichnet genau das Moment, auf das es Fichte am meisten ankommt, nämlich seine Uberzeugung, daß es innerhalb des theoretischen Teils der Wissenschaftslehre die Alternative (die einzige in der Philosophie mögliche) zwischen dem dogmatischem Realismus (oder, wie Fichte auch sagt, dem „materialen Spinozism") und dem dogmatischem Idealismus nicht entschieden werden kann;

48

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

dieses Verhältnis von ,Idealismus' u n d ,Realismus' wiederholt nachgedacht u n d hat bei der Erläuterung ihrer Beziehung die beiden Begriffe miteinander verflochten u n d verschieden kombiniert. W i l l man Fichtes Bezeichnung seiner Philosophie als „Real-Idealismus" oder „Ideal-Realismus" nicht als bloße Definitionsformeln ansehen, dann besteht ihr Sinn eben in der Suche nach einer Gemeinschaft u n d gegenseitigen Abhängigkeit von idealer u n d realer Tätigkeit des Denkens; w o b e i Fichte größte Anstrengung darauf verwendet, den Leser daran zu hindern, den Schwerpunkt auf n u r einen der beiden Begriffe zu legen, w e i l sie nur zusammen, nur in ihrer wechselseitigen Beziehung betrachtet dieser Philosophie präzise K o n t u r verleihen 3 5 . GA, I 2, S. 310 / SW, I, S. 155 f.; vgl. dazu I. Schüssler, Die Auseinandersetzung des Idealismus und Realismus in Fichtes Wissenschaftslehre. Eines der Hauptziele der „Ersten Einleitung" ist es dann, die Besonderheit einer philosophischen Position darzustellen, die sich dessen bewußt ist, vor der unumgänglichen Wahl zwischen „Idealismus" und „Dogmatismus" zu stehen, und zugleich entschlossen ist, einen selbständigen Weg zu gehen. Der „kritische Idealismus" (oder „transcendentale Idealismus" oder „Kritische[r] quantitative[r] Idealismus" - Formulierungen, die stets verdeutlichen, daß an den Kantischen Voraussetzungen zwar festgehalten wird, das philosophische Forschen aber weiter voranschreitet) ist diejenige Philosophie, die den zwischen Ich und Nicht-Ich bestehenden „Wechsel" beweisen kann, wenn sie auch, indem sie innerhalb der Grenzen der Theorie verbleibt, den „Grund" dieses Wechsels nicht beweisen kann; GA, I 2, S. 328 / SW, I, S. 178. Zur Definition des „transcendentalen Idealismus" vgl. auch GA, I 2, S. 411 ff. / SW, I, S. 280 ff.; zum Unterschied zwischen „qualitativem" Idealismus und „quantitativem" Idealismus, vgl. GA, I 2, S. 334 ff. / SW, I, S. 185 ff. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf den zentralen Begriff des Quantum im Beweisgang der „Wissenschaftslehre" von 1801 (hier immer als „Darstellung" zitiert). Obwohl eine Auseinandersetzung mit der Problematik hier nicht einmal andeutungsweise möglich ist, möchte ich die Hypothese vorschlagen, daß der Begriff des „Quantitierens", der in dieser Schrift am Ende der allgemeinen Beschreibung der absteigenden Phase (vom absoluten Wissen zum Gewußten) hervorgehoben wird, die Funktion erfüllt, die ganz enge Verbindung zwischen Freiheit und Sein zu bekräftigen, wobei das Sein (des Wissens) sozusagen das Gebiet darstellt, auf dem die Freiheit (des Wissens) sich bestimmt, indem sie sich quantitiert. Zu Beginn der aufsteigenden Phase bezeichnete Fichte als letztes Ziel des Aufstiegs die Erlangung des absoluten Wissens als organischer Einheit von Denken und Anschauen (von Sein des Wissens und Freiheit des Wissens), die sich in einem Punkt vereinen. Genauso wird am Ende eines Wegs, der seinen Gipfel (d.h. das reine „durch") gestreift und die Abgründe, die sich hinter der Freiheit auftun, erfahren hat, die Definition der Wissenschaftslehre bekräftigt (sie ist das absolute Wissen des absoluten Wissens) und die Notwendigkeit des Ubergangs von der Unbestimmtheit der Freiheit zu ihrer Möglichkeit, sich zu bestimmen (d.h. seine „Quantitabilität"), klargestellt. Diese Klärung ist unabdingbare Voraussetzung dafür, weitergehen und den Blick auf die materiale Bestimmtheit der Freiheit richten zu können. 35 Der Aufsatz von C. Cesa, Schelling e Tidealismo, erläutert den Begriff „Idealismus" besonders in bezug auf Schellings Philosophie; die - erweiterte Fragestellung erlaubt dem Autor aber auch, das Problem für den Bereich der klassischen deutschen Philosophie überhaupt zu untersuchen und auch auf Fichte einzugehen.

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

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Nachdem die Stellung, die der Begriff des Strebens an der Spitze einer idealen Genealogie der besonderen Wissenschaften beanspruchen kann, hervorgehoben wurde, soll er nun näher analysiert werden. Er läßt sich beschreiben als Ort der Synthese, der wie ein Brennpunkt verschiedene wesentliche Elemente bündelt, die alle durch eine zielgerichtete Bewegung, durch das „Streben" nach einem Zweck gekennzeichnet sind. Er markiert vor allem den Moment des Übergangs zwischen dem theoretischen und dem praktischen Teil der Wissenschaftslehre, der zugleich ein Dreh- und Wendepunkt des Systems ist; diese seine Bedeutung bleibt im wesentlichen unverändert, auch wenn später im „System" - verstanden als bloße formale Konstruktion - die Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Teil der Philosophie selbst verschwinden wird 3 6 . Es handelt sich hier um das Problem der ,Kommensurabilität': doch nach der Feststellung der ,Differenz' oder auch des konstitutiven ,Widerspruchs' - zwischen dem denkenden Ich (dem erkennenden Ich) und dem Objekt des Erkennens 37 schwindet noch nicht das „Streben" nach Kommensurabilität, d.h das Bedürfnis, die beiden Größen ähnlich zu machen. Dieses „Streben" selbst, das durch einen Akt der Entscheidung - einen Akt der Freiheit - wirksam wird, rechtfertigt es nicht allein, sondern fordert, daß eine Verbindung zwischen Identität der Vernunft und Vielheit des Mannigfaltigen gefunden wird. Vom „Streben" selbst wird schließlich ein (theoretischer) Ort aufgezeigt, an dem die eine Vernunft die zersplitterte Realität mit sich zu erfüllen vermag, und zumindest partiell die

36

Es ist eine der Hauptthesen von L. Pareyson, Fichte (die in der Fichte-Forschung der letzten fünfundzwanzig Jahre bestätigt wurde), daß schon in einigen Schriften aus dem Zeitraum 1796-1798 eine neue Struktur der Wissenschaftslehre erkennbar sei, die sich von der vorangehenden eben durch die fehlende Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Teil abhebe. Die Texte, an denen sich diese Neuorientierung am besten zeigen lasse, seien die „Zweite Einleitung" von 1797, dazu die „Erste Einleitung" aus demselben Jahr und die allgemeinen theoretischen Teile in „Naturrecht" und „Sittenlehre". Schon in „Zweite Einleitung" ist die Ichheit klar definiert: „Die Ichheit (in sich selbst zurückgehende Thätigkeit, Subject-Objectivität, oder wie man will) wird urprünglich dem Es, der blossen Objectivität, entgegengesetzt; und das Setzen dieser Begriffe ist absolut, durch kein anderes Setzen bedingt, thetisch, nicht synthetisch" (wobei die Entgegensetzung der beiden letzten Attribute fundamental für das Verständnis des Problems ist); GA, I 4, S. 255 / SW, I, S. 502; vgl. auch „Versuch einer neueren Darstellung", in: G A I 4, S. 21 β f. / SW, I, S. 528. Bereits zu dieser Zeit glaubt Fichte den Unterschied von Ich und einzelner Individualität ein für allemal geklärt zu haben: „... Ichheit und Individualität sind sehr verschiedene Begriffe ... Durch den ersteren setzen wir uns allem, was außer uns ist, nicht bloß Personen außer uns, entgegen; und wir befassen unter ihm nicht nur unsre bestimmte Persönlichkeit, sondern unsre Geistigkeit überhaupt ..."; GA, I 4, S. 257 / SW, I, S. 504. 37

Vgl. G. Duso, Contraddizione e dialettica. Den Widerspruch zu beseitigen, würde bedeuten, zugleich die Freiheit aufzuheben - darauf wird Fichte auch in der „Darstellung" hinweisen; GA, I I 6, S. 184 / SW, II, S. 53 f. 4 De Pascale

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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Schaffung eines (räumlich-zeitlichen) Ortes ermöglicht, an dem eine solche Ubereinstimmung praktische und wirksame Realität werden kann. Nicht dem ,Buchstaben', wohl aber dem ,Geist' nach kann und muß sich dieses „Streben" in seiner starken Bedeutung aber bereits im Kern des theoretischen Teils ausfindig machen lassen. Das Hindernis, das das Nicht-Ich als Objekt darstellt, und die Grenzen des von ihm beanspruchten Raums - das ist der Teil des Raumes, in welchen das Ich nicht eindringen kann - stellen ebenso viele Schranken dar, die Vernunft einerseits bei ihrem Fortschreiten auf dem Weg zur Erkenntnis aufhalten, sie andererseits aber zu einem weiteren Erkenntnisakt antreiben, ja mehr noch: sie dazu bestimmen. Nur unter Berücksichtigung dieser - wenn auch nicht expliziten - Rolle des Strebens ist es möglich, den Begriff der „Wechselbestimmung" 38 richtig zu interpretieren und jeden Beiklang von ,Mechanizismus' von ihm fernzuhalten. In Fichtes Konzeption der „Wechselwirkung" 39 entfaltet sich die Dynamik von Aktion und Reaktion nicht nur in der wechselseitigen Beeinflussung von Ich und Nicht-Ich, sondern viel mehr noch in einer unendlichen Vermehrung der Momente von Aktion und Reaktion beim fortlaufenden Niederreißen der Schranken zwischen Ich und Nicht-Ich. Mit anderen Worten: Das Wissen (das erkennende Ich) weiß um so mehr, je mehr es ihm gelingt, sich sein Objekt anzueignen, und je enger sich die Grenzen um das Objekt seines Wissens zusammenziehen. Dieses Objekt bietet dem Wissen immer größere Teile seines „Stoffs" (seiner „Materie") dar, und das Wissen nimmt sozusagen auf und eignet sich an, was zuvor nur Stoff, nur äußeres Objekt war 40 .

38 Die „Wechselbestimmung" wird in der „Grundlage" der W L eigens untersucht; vgl. GA, 12, 290 ff. / SW, I 131 ff. Aufgrund der inneren Dynamik der gesamten Konstruktion folgt darauf ein unvermittelter Ubergang von der „Wechselbestimmung" zur „Wechselwirkung"; zur letzteren vgl. GA, I 2, S. 410 f. / SW, I, S. 279. 39 40

Vgl. GA, I 2, S. 290 ff. / SW, I, S. 131 ff.

Zur Stützung dieser These läßt sich zumindest eine Stelle anführen, an der der Begriff des „Anstoßes" - von dem der praktische Teil der „Grundlage" ausgeht - ausdrücklich als Beispiel für das Objektive in seiner weitesten Bedeutung gebraucht wird: „das auszuschließende objektive [auszuschließend, damit das Ich sein kann] braucht gar nicht vorhanden zu seyn; es darf nur bloß, daß ich mich so ausdrücke, ein Anstoß für das Ich vorhanden seyn; d.h. das subjektive muß, aus irgend einem nur ausser der Thätigkeit des Ich liegenden Grunde, nicht weiter ausgedehnt werden können". Weil noch kein Nicht-Ich außer dem Ich und keine Bestimmung im Ich angenommen ist, wird „die bloße Bestimmbarkeit des Ich" vorausgesetzt, seine Aufgabe, sich zu bestimmen; eine Aufgabe, der es nachkommen kann, da die „Spontaneität" seiner Tätigkeit gegeben ist; GA, I 2, S. 354 f. / SW, I, S. 210 f. Vgl. auch „Grundriß", in: GA, I 3, besonders S. 143, 155-158. Zum Begriff „Anstoß", siehe P.-P. Oruet, L'„Anstoss" fichtéen, S. 390, wo die Bedeutung von „Anstoß", „choc premier", präziser bestimmt wird als „impulsion originaire" und „mise en branle absolument originaire". W Metz , Kategoriendeduktion, S. 304 f.

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

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A u c h diese potentiell unendliche Bewegung, durch die das Wissen seine Aufgabe erfüllt, zu erkennen - also fortlaufend die Schranken nach vorne zu verschieben, die sein Erkennen hemmen u n d es dadurch gleichzeitig zu ihrer Ü b e r w i n d u n g treiben - , ist offensichtlich v o m Streben beherrscht 4 1 . U n d noch ein weiteres Element w i r k t an der Bildung dieses Begriffs m i t ; es gehört bereits zum allein praktischen Teil des Systems, in dem das Denken gezwungen ist, aus sich selbst herauszutreten u n d sich m i t „ F a k t a " , m i t „ H a n d l u n g e n " auseinanderzusetzen. Klar ist dabei aber auch, daß es trotz allem das Denken ist, das denkt, u n d daß es nicht n u r unbestritten Protagonist dieser Szene bleibt, sondern auch der ausschließliche Standort, von dem aus alles übrige betrachtet w i r d . D o c h n u n werden „ F a k t a " 4 2 ins Bewußtsein erhoben, m i t denen sich zu messen das I c h entschlossen ist, um, indem es auf sie w i r k t , auch auf sich selbst einzuwirken. W e n n seine Aufgabe in der V e r w i r k l i c h u n g seiner selbst besteht, u n d w e n n es andererseits eine beständige Wechselbeziehung gibt zwischen dem W i r k e n auf die äußere Welt (und ihrer Veränderung) u n d

41

Diese potentiell unendliche Bewegung, die den Erkenntnisprozeß kennzeichnet, hat ihre raison d'être in der Eigenschaft des Ich, gleichzeitig endlich und unendlich zu sein: „Insofern das Ich durch das Nicht-Ich eingeschränkt wird, ist es endlich, an sich aber, so wie es durch seine eigne absolute Thätigkeit gesezt wird, ist es unendlich. Dieses beide in ihm, die Unendlichkeit, und die Endlichkeit sollen vereinigt werden. Aber eine solche Vereinigung ist an sich unmöglich". Klar ist, daß eine andere Lösung als die bisher vorgeschlagenen gesucht werden muß: „Lange zwar wird der Streit durch Vermittlung geschlichtet; das unendliche begränzt das endliche. Zulezt aber, da die völlige Unmöglichkeit der gesuchten Vereinigung sich zeigt, muß die Endlichkeit überhaupt aufgehoben werden; alle Schranken müssen verschwinden, das unendliche Ich muß als Eins, und als Alles allein übrig bleiben". Für Fichte liegen die Dinge jedoch anders. Die Kopräsenz beider Aspekte, so offensichtlich paradox sie auch ist, kann nicht beseitigt werden, sie „muß" behauptet werden, auch wenn die Theorie sie nicht zu rechtfertigen vermag. Es bleibt nur der Rückgriff auf ein intuitives Vorgehen, das uns die Möglichkeit der Koexistenz der beiden Gegensätze, die jedoch auch Korrelate sind („keine Unendlichkeit, keine Begrenzung; keine Begrenzung, keine Unendlichkeit"), mittels der Ähnlichkeit mit dem Verhältnis von Licht und Schatten aufzeigt; auch diese stehen zueinander in einem Verhältnis, das sich als umgekehrt proportional bezeichnen ließe: „Licht, und Finsterniß sind überhaupt nicht entgegengesezt; sondern nur den Graden nach zu unterscheiden. Finsterniß ist bloß eine sehr geringe Quantität Licht. - Gerade so verhält es sich zwischen dem Ich, und dem Nicht-Ich"; GA, I 2, S. 301 / SW, I, S. 144 f. 42 Oder „etwas in unserem Geiste ursprünglich, unabhängig von unsrer Reflexion vorhandnes"; GA, I 2, S. 363 / SW, I, S. 220; vgl. zudem GA, I 2, S. 385 / SW, I, S. 247 ff. Gerade der Umstand, daß sich die „Fakta" nicht aus der Grundstruktur der Wissenschaftslehre beseitigen lassen, unterscheidet diese von aller „FormularPhilosophie". Vgl. auch „Naturrecht", in: GA, I 3, S. 316 f. / SW, III, S. 5 f. Die bekannte Vorstellung, daß die Wissenschaftslehre „soll seyn eine pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes" (GA, I 2, S. 365 / SW, I, S. 222) war bereits im programmatischen Aufsatz „Uber den Begriff" klar vorhanden (GA, I 2, S. 126/ SW, I, S. 54).

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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dem Wirken auf sich selbst (und dem Sich-Verändern) - dann umfaßt das Kantische Sein-sollen gleichzeitig die Wirkung des Ich auf sich selbst und die des Ich auf das Nicht-Ich, indem es das Nicht-Ich an dem Streben nach diesem Ziel beteiligt 43 . Es ist schwer zu sagen, welcher dieser für den Begriff des Strebens konstitutiven Aspekte als vorrangig zu betrachten ist. Jedem von ihnen kommt zweifellos eine unverzichtbare Funktion zu. Doch nachdem seine Komponenten einmal analysiert wurden, ist für die Fragestellung dieser Arbeit seine Gesamtbedeutung viel wichtiger. Von ihr her fällt ein Licht auf Fichtes ganze praktische Philosophie, die durchzogen ist von der Dynamik einer ständig wiederholten Suche nach Verwirklichung. Daß die Verwirklichung nie erreicht wird, ist unvermeidlich - die theoretischen Voraussetzungen verlangen es44; so, wie auch eine lange Reihe scheiternder Versuche unvermeidlich ist, die sich alle aus der allgemeinen Situation ergeben, daß es kein soziales Leben geben kann, bei dem die interpersonalen Beziehungen ausschließlich vom Gebrauch der Vernunft geregelt werden. Wo die Vernunft sich nicht verwirklichen kann, dort verwirklichen sich weder Sittlichkeit noch Freiheit - mit den Konsequenzen, die wir später noch betrachten werden. Doch der Akzent darf hierbei nicht auf dem Moment des Scheiterns liegen; genauer: nicht hierin besteht das Scheitern. Weil es unmöglich ist, daß die Vernunft - ausschließlich die Vernunft - in der Welt der Menschen herrscht, also in einer Welt endlicher Wesen, muß vielmehr das „Streben" nach dieser Verwirklichung unsere Aufmerksamkeit auf sich lenken 45 . Auf welch mannigfaltige Weise dieses Streben jeweils handelt, indem es sich der Vielfalt äußerer Umstände anpaßt, die es teils bedingen, teils hemmen: dies muß uns vor allem interessieren. Und damit auch die Zahl der Versuche, die von der endlichen Vernunft zu einem doppelten Zweck unternommen werden: erstens dem allgemeinen Zweck, die eigene Endlichkeit so weit wie möglich nicht

43 „... die reine in sich selbst zurükgehende Thätigkeit des Ich ist in Beziehung auf ein mögliches Objekt ein Streben, und zwar, laut obigem Beweis, ein unendliches Streben. Dieses unendliche Streben ist ins unendliche hinaus die Bedingung der Möglichkeit alles Objekts: kein Streben, kein Objekt"; G A I 2, S. 397 / SW, I, S. 261 f. 44 „Die Erfüllung des Strebens nach uneingeschränktem Setzen seiner selbst würde die Aufhebung jeder Entgegensetzung, des Objekts überhaupt, bedeuten. Da mit der Aufhebung der bewußtseinskonstitutiven Differenz Bewußtsein nicht Bewußtsein wäre, bleibt die Erfüllung des Strebens unerreichbares Ideal ..."; A. Schurr, Philosophie als System, S. 76. 45

„Alles vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eignen Gesetze es zu beherrschen, ist lezter Endzweck des Menschen; welcher lezte Endzweck völlig unerreichbar ist und ewig unerreichbar bleiben muß, wenn der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu seyn, und wenn er nicht Gott werden soll"; „Bestimmung des Gelehrten", in: GA, I 3, S. 32 / SW, VI, S. 299 f.

1. Kap.: Die Philosophie als Wissenschaft

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nur ihrer unendlichen Aufgabe anzupassen, sondern auch dem Teil von ihr, der das Unendliche widerspiegelt; und zweitens zu dem besonderen Zweck, auf jedem der unterschiedlichen Gebiete ihres Wirkens diejenige bestimmte Handlung nicht zu versäumen, von der sie glaubt, daß sie sich am besten in die ideale Reihe aufeinanderfolgender Handlungen einfügt, die jeden Menschen und die gesamte menschliche Gemeinschaft ihrem unendlichen Ziel näherbringen können.

Zweites Kapitel Zum Verhältnis von Moral und Recht beim frühen Fichte 1. Die Moralkonzeption der Jugendschriften Eine Analyse derjenigen „besonderen Wissenschaften", zu denen Fichte spezifische Überlegungen angestellt und denen er vor allem eine systematische' Form gegeben hat, erscheint als der geeignetste Weg, der Fragestellung dieser Arbeit nachzugehen. Nicht ganz vernachlässigt werden sollen dabei allerdings für unser Thema einschlägige Anregungen, Hinweise, Andeutungen, aber auch breitere Ausführungen in den „populären" Schriften (wie Fichte sie später nennen wird). Eine Untersuchung der beiden praktischen Wissenschaften, denen Fichte innerhalb seiner Philosophie entscheidende Bedeutung zumaß - Rechtslehre und Sittenlehre - , kann nicht auf die Einbeziehung der populären' Schriften aus den Jahren 1793/94 verzichten, zumindest um in die Problematik einzuführen. Diese Werke ermöglichen einen Einblick in ein bereits relativ reifes Stadium von Fichtes Philosophie (gemessen an seiner späteren Position diesen Gegenständen gegenüber); und sie ermöglichen es, die Kernpunkte der Wissenschaftslehre zu verstehen, die sich bereits in Fichtes frühem Denken klar abzeichnen: die Idee der Freiheit im Sinn ,sittlicher Autonomie' und den Versuch, den Begriff des Menschen als eines „endlichen Vernunftwesens" näher zu bestimmen und in seinen vielfältigen Implikationen zu erfassen. Die sogenannten „jakobinischen" Schriften Fichtes erwiesen sich bereits als hilfreich, um einige zentrale politische Begriffe dieser Philosophie in der Phase ihrer Herausbildung zu erfassen und auch, um Fichtes Denken in seinen historischen Kontext zu stellen. Doch die Untersuchung, die jetzt unternommen werden soll, erfordert einen anderen Zugang. Im Fall der „Zurückforderung" interessiert die Grundidee wesentlich mehr als die historische Situation, in der dieses schmale Werk erschien 1, oder das ungewöhnliche biographische Geschehen, dessen Protagonist Fichte zu dieser Zeit war 2 . Hier stellte sich 1

Sie ist gekennzeichnet etwa durch das von Wöllner erlassene Edikt und die unmittelbar zuvor an Kant geübte Zensur (vgl. oben, Einführung, S. 109 f.). 2 Wir hatten gesehen (vgl. auch X. Léon, Fichte et son temps, Bd. 1, S. 117 ff., daß Fichte, noch kurz bevor ihn selbst und Kant das entsprechende Schicksal traf, die von der Regierung erlassenen Edikte begrüßt hatte.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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nicht n u r erneut das klassische Thema der Gewissens- u n d Denkfreiheit (so aktuell die Frage i n diesen Jahren erneut geworden war) u n d ergab sich nicht n u r die konkrete M ö g l i c h k e i t , seine Gedanken p u b l i k zu machen. Vielmehr u n t e r n i m m t es Fichte schon zu diesem frühen Z e i t p u n k t , den Grundsatz der Identität des I c h u n d den Begriff der Willensfreiheit als Äußerung der Selbständigkeit (der moralischen Freiheit) des I c h philosophisch zu bestimmen 3 . „Frei denken zu können ist der auszeichnende Unterschied des Menschenverstandes vom Thierverstande. Auch im letztern sind Vorstellungen; aber sie folgen n o t w e n dig auf einander, sie bringen einander hervor, wie eine Bewegung in der Maschine die andere nothwendig hervorbringt. Diesem blinden Mechanismus der Ideenaßociation ... thätig zu widerstehen; durch eigne Kraft, nach eigner freier Willkühr seiner Ideen=Reihe, eine bestimmte Richtung zu geben, ist Vorzug des Menschen, und je mehr einer diesen Vorzug behauptet, desto mehr ist er Mensch. Das Vermögen im Menschen ..., durch welches er frei will\ ... ist die nothwendige Bedingung, unter welcher allein er sagen kann: ich bin, bin selbständiges Wesen" 4 . D i e Selbständigkeit des Denkens, die zugleich Selbständigkeit des Wollens ist 5 , entfaltet sich i n einem sozusagen autoevidenten Prozeß unter dem Befehl der schon erwähnten „inneren Stimme": „[Der Mensch] ... trägt tief in seiner Brust einen Götterfunken, der ihn über die Thierheit erhöht, und ihn zum Mitbürger einer Welt macht, deren erstes Mitglied Gott ist, - sein Gewissen. Dieses gebietet ihm schlechthin und unbedingt - dieses zu wollen, jenes nicht zu wollen; und dies frei und aus eigner Bewegung, ohne allen Zwang außer ihm. Soll er dieser innern Stimme gehorchen - und sie gebietet dies schlechterdings - so muß er auch von außen nicht gezwungen ... werden ... er ist frei, und muß frei bleiben; nichts darf ihm gebieten, als dieses Gesetz in ihm, denn es ist sein alleiniges Gesetz - und er widerspricht diesem Gesetze, wenn er sich ein anderes aufdringen läßt ..." 6 . U n t e r derselben Perspektive läßt sich auch der „Beitrag" lesen - o b w o h l sich gezeigt hatte, daß dieses Werk eine spezifische A n t w o r t auf das Erfordernis darstellt, die Legitimität der Idee der politischen Revolution nachzuweisen. D o c h das theoretische Instrumentarium für eine erfolgreiche D u r c h f ü h r u n g 3

G. Gurwitsch, Fichtes System der konkreten Ethik, hat in Fichtes Reflexion über Ethik drei Phasen erkannt: die eines panlogistischen Intellektualismus (bis zur „Sittenlehre" einschließlich), die mystisch-romantische (vom Atheismusstreit bis zur „Bestimmung des Menschen" und, zum Teil, der Schrift „Sonnenklarer Bericht") und eine letzte, die in der zweiten Fassung der „Sittenlehre" von 1812 gipfelt und von einem rein sittlichen Spiritualismus gekennzeichnet ist. 4

GA, I 1, S. 175 / SW, VI, S. 13 f.

5

Im „Beitrag" heißt es: „... wer ... seinen Verstand frei macht, der wird in kurzem auch seinen Willen befreien"; GA, I 1, S. 250 / SW, VI, S. 99. 6 GA, I 1, S. 173 f. / SW, VI, S. 11 f. Kant hatte das Gewissen schon definiert als „Instinkt, ... über unsere Handlungen rechtskräftig zu urteilen"; I. Kant, Vorlesung über Ethik, Bd.l, S. 83 und 161 ff.

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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dieses Beweises entstammt i m G r u n d e gänzlich dem Problemkreis, m i t dessen Eingrenzung w i r oben bereits begonnen hatten: „ [Das Gesetz des Sollens, das Sittengesetz finden wir] ... in unserm Selbst ... und zwar in unserm Selbst, in so fern es nicht durch äußere Dinge vermittelst der Erfahrung geformt und gebildet wird, (denn das ist nicht unser wahres Selbst, sondern fremdartiger Zusaz) sondern in der reinen, ursprünglichen Form desselben; - in unserm Selbst, wie es ohne alle Erfahrung seyn würde" 7 . I n dieser Gegenüberstellung von reinem I c h u n d Erfahrung sind zwei große T h e m e n von Fichtes Philosophie zusammengefaßt. Das ist erstens die A b n e i g u n g gegen jede F o r m von Empirismus, die sich noch auf die letzten Ausläufer dieser Richtung erstreckt. Undifferenziert werden mit einem einzigen U r t e i l sehr unterschiedliche geistige Richtungen verdammt: beispielsweise jede F o r m v o n „Popular-Philosophie", die sich auf das unzuverlässige K r i t e r i u m des „gesunden Menschenverstandes" 8 gründet, oder jede Theorie, die i n gewissem Umfang von einem Autoritätsprinzip bestimmt w i r d 9 .

7 GA, I 1, S. 219 / SW, VI, S. 58 f. Der Gleichklang zwischen dieser Passage und unzähligen anderen in den theoretischen Werken ist sofort zu erkennen (vgl. z.B. „Zweite Einleitung", in: GA, I 4, S. 219 / SW, I, S. 467: „... und so zeigt sich der transscendentale Idealismus zugleich als die einzige pflichtmäßige Denkart in der Philosophie, als diejenige Denkart, wo die Speculation und das SittenGesetz sich innigst vereinigen"). Zur Beziehung zwischen Sittengesetz und innerer Erfahrung - einem in der „Sittenlehre" dann breit ausgeführten Thema - heißt es im „Beitrag": „... das Daseyn eines solchen Gesetzes in uns [ist], als Thatsache, so wie alle Thatsachen, unserm Bewußtseyn ... durch die (innere) Erfahrung gegeben ... ; wir werden durch Erfahrung in einzelnen Fällen ... uns einer innern Stimme in uns bewußt ... ; die Erfahrung liefert uns einzelne Aeußerungen ... dieses Gesetzes ..., aber sie bringt es darum nicht hervor. Das kann sie schlechterdings nicht"; GA, I 1, S. 219 / SW, VI, S. 59. 8 Die Polemik liegt bereits in der impliziten Entgegensetzung von Verstand und Vernunft. Wie schon Kant machte Fichte den Kampf gegen die „Popular-Philosophie" und deren Vertreter in Deutschland - von Garve bis Nicolai - zu seiner Sache; sein Werk ist voll ähnlicher polemischer Stellungnahmen. Erneut sei hier auf die Stelle in der „Grundlage" hingewiesen (GA, I 2, S. 363 / SW, I, S. 220), an der Fichte den von jeder „Formular-Philosophie" angerichteten Schaden, in Beziehung setzt zu dem einer „Popular-Philosophie", die sich wissentlich auf das Gebiet der Tatsachen des Bewußtseins beschränkt (vgl. dazu auch „Beitrag", in: GA, I 1, S. 212 / SW, V I , S. 50 f.). In dieses Bild der Polemik gegen den Empirismus fügt sich auch Fichtes Kritik an der empfindsamen Moralphilosophie, die schließlich in seine Kritik an der Popularphilosophie einmündet. Im übrigen ist Fichte mehr als Kant geneigt, auf das unmittelbare sittliche Gefühl als unwiderlegliches Zeugnis für die Güte menschlicher Handlungen zu vertrauen. Im Unterschied zu den englischen Moralisten bleibt er allerdings nicht stehen bei etwas, das wiederum nur eine Tatsache des Bewußtseins ist, sondern fordert, es der Verifikation durch einen „wissenschaftlichen" Beweis zu unterziehen (wir werden sehen, daß eben dies das Hauptziel der ersten beiden Teile der „Sittenlehre" ist).

9 GA, I 1, S. 210 f / SW, VI, S. 48-50. In diesem Zusammenhang erscheint oft die Gestalt des „Jesuiten" als Beispiel einer ,autoritären' Haltung (im Sinn von:

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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Zweitens w i r d hier bereits ein G r u n d t h e m a der

Wissenschaftslehre

gestreift, das später in der „Sittenlehre" gezielt erörtert w i r d : D o r t ist das I c h das ganze Ich, u n d seine - wie w i r sehen werden, n u r künstlich getrennten - Bestandteile gehen aus einer ununterschiedenen ursprünglichen Einheit hervor, die erst durch die Erfordernisse des reflektierenden Denkens zur Spaltung gezwungen w i r d 1 0 . A u f der Ebene des Praktischen müssen diese ,Teile' wieder zu ihrer harmonischen „Uebereinstimmung" gebracht werden. D e r Mensch „an sich" 1 1 - eine Gesamtheit aus Materie u n d Form, Sinnlichkeit u n d Vernunft - hat den spezifischen Zweck, die Ubereinstimmung wiederherzustellen, w o b e i die Vernunft größtmöglichen Raum einnehmen soll 1 2 . Dieselbe Situation u n d dasselbe Erfordernis spiegeln sich auch i n der weiteren Sphäre der menschlichen Gemeinschaft, die ebenfalls nach innerer H a r m o n i e u n d nach H a r m o n i e zwischen sich u n d den Ideen der Vernunft

allem persönlichen und selbständigen Forschen nach der Wahrheit abgeneigt und all denen feind, die so eingestellt sind). Schon bei I. Kant, Vorlesung über Ethik (die sich aufgrund ihrer Gattung für einen Vergleich mit den populären 4 Schriften des frühen Fichte anbietet) kehrt das Adjektiv „jesuitisch" - mit offensichtlich abschätziger Konnotation - regelmäßig wieder. 10 Diese Vorstellung findet sich schon in der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre", wird aber noch weitere Entwicklung erfahren: „Also Subjekt ist das, was nicht Objekt ist; und weiter hat es bis jetzt gar kein Prädikat; und Objekt ist das, was nicht Subjekt ist, und weiter hat es bis jetzt auch kein Prädikat". „Nun kann es [sc. das Ich] nur setzen entweder das Subjekt oder das Objekt, und beide nur mittelbar"; GA, 12, S. 338 f. / SW, I, S. 189. 11 Diesen Begriff wird die erste der „Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" ausführen; GA, I 3, S. 27-33 / SW, VI, S. 293-301. Fichte möchte damit nicht die abstrakte Form „Mensch" bezeichnen (nicht nur das reine Ich, wie er ausdrücklich präzisiert), sondern die ,gesamte' psycho-physische Entität, die sich in ihrer Ganzheit, aber auch in ihrer Vereinzelung betrachtet, ohne noch ihre Beziehung zu anderen Menschen zu bedenken, ohne zu sehen, daß sie sich innerhalb einer Gemeinschaft von Freien, notwendig Interagierenden befindet. 12

„Diese ursprüngliche, unveränderliche Form unsers Selbst nun begehrt die veränderlichen Formen desselben, welche durch Erfahrung bestimmt werden, und hinwiederum die Erfahrung bestimmen, mit sich selbst einstimmig zu machen, und heißt darum Gebot - sie begehrt dies durchgängig für alle vernünftige Geister, da sie die ursprüngliche Form der Vernunft an sich ist, und heißt darum Gesez - sie kann dies nur für Handlungen, die bloß von der Vernunft, nicht von der Naturnothwendigkeit abhängen, d.i. nur für freie Handlungen begehren, und heißt daher Sittengesez. Die gewöhnlichsten Benennungen seiner Aeußerung in uns, unter denen es auch der Ununterrichtetste kennt, sind: das Gewissen, der innere Richter in uns, die Gedanken, die sich unter einander anklagen und entschuldigen, und dgl"; G A I 1, S. 219 f. / SW, VI, S. 59 f. Vgl. I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 14: „Intellektuale Gründe [eine der beiden Arten von Gründen, auf denen die Moralität basiert] sind die, da alle Moralität aus der Übereinstimmung unserer Handlungen mit den Gesetzen der Vernunft abgeleitet wird". Zur „Harmonie" vgl. auch „Sittenlehre", in: GA, I 5, S. 79 / SW, IV, S. 70 f.

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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sucht 13 . Es wurde zuvor schon angedeutet, daß die Definition des Menschen als eines „endlichen Vernunftwesens" und eine eingehende Untersuchung dieses Themas mit vollem Recht zu Fichtes „Beitrag" gehören und in diesem Werk ein unverzichtbares Element darstellen. Diese Definition ist weit weniger banal, als es den Anschein haben könnte. Sie bildet einen Kernpunkt von Fichtes Philosophie, ein Merkmal, an dem sich deutlich ihre Eigenart gegenüber anderen Philosophien, nicht zuletzt gegenüber dem Kantischen Kritizismus zeigt. Wenn sich auch nicht sicher eine Grenzlinie zwischen der Konzeption des frühen Fichte und der Kants ziehen läßt und es zwischen beiden, insbesondere auf dem Gebiet der praktischen Philosophie, unzählige Berührungspunkte gibt, scheint mir gerade dieses Unterscheidungsmerkmal von gewisser Relevanz zu sein. Es steht wohl mit einem anderen Moment in Zusammenhang, das beide Denker voneinander trennt, d.h. mit dem Kantischen „Rigorismus". Wir werden es im folgenden ausführlicher behandeln, einstweilen dafür aber weiter diese abgenutzte Bezeichnung verwenden. Kants sogenannter „Rigorismus" hat seinen Ursprung vielleicht in einem äußersten Versuch, sich von den Fesseln des „radikalen Bösen" zu befreien 14 , und läßt sich vielleicht als ein solcher erklären. Dieses Böse, das jedenfalls im Menschen wohnt, behindert ihn bei seinen Versuchen, sich zu einem „heiligen" Leben zu erheben, wenn es diese Versuche nicht geradezu verhindert. Mag Fichte auch ein Bild des Menschen zeichnen, das damit größte Ähnlichkeit aufweist, so ist er doch ganz überzeugt, Kants Dualismus überwunden zu haben. Deswegen wirkt bei Fichte die Situation, in welcher der Mensch sich vorfindet, etwas weniger komplex, wird die Aufgabe anscheinend mit heitererem Geist angegangen. Auch hier besteht diese ,Aufgabe' darin, ein an sich unerreichbares Ziel zu erreichen (das „unendliche Ziel"); doch dieses Ziel, die „Moralität", ist den Möglichkeiten des endlichen Wesens zumindest ,angepaßt'. Es ist ein fernes, aber mögliches Ziel, soweit ein „endliches" Wesen seine Endlichkeit teilweise nach dem Modell der Unendlichkeit zu formen vermag, indem es seinen anderen Bestandteil zu Hilfe nimmt, der die Merkmale der Unendlichkeit in sich trägt: die Vernunft. Kants Mensch dagegen, dem allzu häufig seine ursprüngliche Begrenztheit, in der das radikale Böse besteht15, zur Last gelegt wird, trägt noch zusätzlich schwer daran, daß ihm ein Ziel gewiesen wird, das mit der „Heiligkeit" zusammenfällt. Ein Ziel, das er nicht nur nicht

»

Vgl. auch „Bestimmung des Gelehrten", in: GA, I 3, S. 40 / SW, VI, S. 310.

14

Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Problem bietet das erste Kapitel von I. Kant, Die Religion. 15

Auch Fichte spricht von einer ursprünglichen „Beschränktheit" des Menschen. Zum Unterschied beider Konzeptionen vgl. unten, 2. Tl., 1. Kap., S. 120 f. und 2. Kap., S. 138 f. Vgl. allgemein N. Pirillo, L'uomo di mondo fra morale e ceto.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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erreichen kann, sondern das überdies nicht einmal teilweise seines ist 1 6 . Zwar gibt es i n Kants Menschen auch eine Tendenz zur Tugend, eine Fähigkeit zu tugendhaftem Verhalten 1 7 . D o c h „ T u g e n d " ist nicht „ M o r a l i t ä t " 1 8 ; sie bedeutet Anwesenheit des ,Guten' neben der Anwesenheit des ,Bösen' 1 9 , während sich am entgegengesetzten P u n k t die G i p f e l einer übermenschlichen Vollkommenheit erheben („Das Gesetz m u ß heilig i n uns ... sein" 2 0 ). D i e U n Vollkommenheit, die das „endliche Vernunftwesen" kennzeichnet, wie es Fichte auffaßt, ist eine A r t niederer Stufe auf der weiten Leiter perfektibler Wesen, die den Kosmos bildet. Eine solche Unvollkommenheit bedeutet weder Anwesenheit des Bösen noch Abwesenheit des G u t e n -

höchstens

Mangel an ihm. Anders als bei Kant, der glaubt, daß der Mensch „... nicht allein kein positives Gutes hat, sondern daß er auch positives Böses hat. Allein alles moralische Böse entspringt doch aus Freiheit, denn sonst wäre es nicht moralisches Böse. So sehr auch die Natur Hang dazu hat, so entspringen doch die bösen Handlungen aus Freiheit ..." 2 1 .

16

„Das Ideal der Heiligkeit ist, nach der Philosophie genommen, das vollkommenste Ideal, denn es ist ein Ideal der größten reinen sittlichen Vollkommenheit. Weil aber solche von dem Menschen nicht kann erreicht werden, so gründet es sich auf den Glauben eines göttlichen Beistandes"; I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 13, vgl. auch ders. y Grundlegung, S. 414 und 439, sowie ders. y Kritik der praktischen Vernunft, S. 32 und 82. Ferner: „Tugend ist diejenige Stärke der moralischen Gesinnungen unter den Hindernissen der entgegengesetzten bösen Neigungen, da die ersten allemal das Ubergewicht behalten. Also heilige Wesen sind nicht tugendhaft, weil sie keine Neigung zum Bösen zu überwinden haben, sondern ihr Wille ist dem Gesetz adäquat"; ders., Vorlesung über Ethik, S. 308. Zu Themen wie der Rolle des Gesetzes oder dem Wert der Tugend beim vorkritischen Kant, vgl. Kap. 1 bei S. Landucci, La „Critica della ragion pratica". Uber die natürliche Tendenz zum Bösen beim Menschen als Gattung vgl. auch I. Kant, Die Religion, S. 28 f. 17 „Demnach muß man an Tugend glauben"; I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 114. An anderer Stelle spricht Kant von der „... ursprüngliche[n] moralische[n] Anlage in uns überhaupt"; ders., Die Religion, S. 49. 18

Vgl. I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 91. Ebd., S. 80.

20

Ebd. Vgl. I. Kant, Die Religion, S. 49, zur „Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt" und zur Frage des „Begriffes der Freiheit, welcher allererst aus diesem Gesetze hervorgeht". In C. De Pascale , La natura umana, habe ich zu zeigen versucht, welche Schwierigkeiten sich einerseits für eine Definition der Natur des Menschen durch Kants ,dualistische' Sicht ergeben und wie der Dualismus andererseits dann aber für die Bestimmung dieses Begriffs nicht so fruchtbar zu werden vermag, wie er das versprochen hatte. 21

I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 80. Wie dem Menschen das Attribut der „Heiligkeit" nicht zukommt, so vermag auch das „Teuflische" die Sphäre des Menschlichen nicht zu berühren („Teuflisch nennen wir das, wenn das Böse bei Menschen so weit getrieben wird, daß es den Grad der menschlichen Natur überschreitet ..."); deswegen ist nach Kant der oben erwähnte Hang nur ein indirekter („Daß der Mensch

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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Fichte würde niemals akzeptieren, von einem natürlichen Hang des Menschen zum Bösen zu sprechen. Hier wurden einige der Aspekte angedeutet, mit deren Hilfe sich der Kontext des Problems des „Rigorismus" rekonstruieren läßt und die geeignet sein können, Unterschiede und Annäherungspunkte zwischen den Positionen von Kant und Fichte festzustellen. Vorläufig sei zumindest markiert, in welche Richtung eine solche Überlegung grundsätzlich zu gehen hätte. Vor allem darf sie den wichtigen historisch-theoretischen Zusammenhang, in dem der Kritizismus steht, nicht vernachlässigen. Kants „kopernikanische Wende" wäre auf dem Gebiet der Moral nicht möglich gewesen, ohne aus dem Gesichtskreis des „du sollst" entschlossen jegliches Objekt zu entfernen. Jede Form von Kompromißbereitschaft hätte schließlich den Kampf gegen den Eudaimonismus, den Kant energisch durchführen wollte, wirkungslos gemacht. Das bedeutet jedoch nicht - und mit diesem Gesichtspunkt beschäftigt sich die aktuelle Kantforschung intensiv - , daß der Philosoph, nachdem er das Feld von den für verhängnisvoll erachteten Lehren gereinigt hatte, sich nicht seinerseits etwa mit dem Problem des „Glückseligkeit" auseinandersetzen sollte. Freilich war dieses Problem nun außerordentlich komplex geworden, denn er mußte sich den Einflüssen einer ganzen Tradition entziehen und eine Theorie entwerfen, in der diese Fragestellung mit der Lehre vom kategorischen Imperativ vereinbar war. Dies kann auch erklären, warum das Thema der Glückseligkeit, dessen Rolle in Kants Philosophie so schwierig zu beschreiben ist, im Fall Fichtes keine sonderliche Schwierigkeit bereitet. Es ist, als hätte dieses Problem sich in der Zwischenzeit absetzen und dabei seine größte Brisanz abstreifen können. Bei der Analyse des „Systems der Sittenlehre" wird sich zeigen, daß Fichte die Glückseligkeit als unabdingbare Komponente des Lebens betrachtet, auf die das Individuum auf der Suche nach seiner moralischen Vervollkommnung nicht notwendig verzichten muß. Das Problem der „Inhalte" seiner Ethik hingegen und das Problem ihrer Vereinbarkeit mit dem kategorischen Imperativ scheint Fichte wesentlich größere Schwierigkeiten bereitet zu haben: ein zweiter wichtiger Gesichtspunkt für das hier skizzierte Gesamtbild, auf den wir zurückkommen müssen. In diesem Fall hat Fichte kein definitives Resultat in der Hand (sofern man nicht der Ansicht ist, er sei einfach zur vorkantischen Position zurückgekehrt); er zweifelt nicht an der notwendigen Allgemeinheit des sittlichen Gebots, gleichzeitig aber befürchtet er weiterhin, dieses Gebot könnte dann nicht imstande sein, sich in konkret sittliches Handeln umzusetzen. Fichte erlebt die ganze Auswirkung des Widerspruchs, der sich aus einem allgemeinen Sittengesetz

mittelbare Neigung zum Bösen hat, ist menschlich und natürlich ...", doch er hat „keine direkte Neigung" zu ihm oder „zum teuflischen Laster"; ders. y Vorlesung über Ethik, S. 278).

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1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

ergibt, das, um gültig zu sein, wirksam sein muß - wirksam aber nur sein kann in bezug auf die Kette der zahllosen verschiedenen Handlungen, aus denen das Leben jedes Individuums besteht. Für die menschliche Unvollkommenheit läßt sich nach Fichte stets Abhilfe schaffen, sofern der Wille dazu vorhanden ist. Es genügt, wenn das Individuum - in dem freilich das Streben wirksam ist - nicht vergißt, daß für sein Wesen zwei unterschiedliche Bestandteile konstitutiv sind; wenn es beide ,arbeiten' läßt und sich dessen bewußt ist, daß die Situation des endlichen Vernunftwesens eben darin besteht, innerhalb dieses genau festgelegten Bereichs handeln zu können und zu müssen, und daß eine Überschreitung dieser Grenzen nicht einmal das Attribut des ,Menschlichen' verdienen würde (ein Bewußtsein, welches das Gegenteil quietistischen Abwartens oder passiver Resignation darstellt): „Jeder Grundzug derselben [der menschlichen Natur] ist gut, und nur durch ihre Ausartung werden sie schädlich" 22 . All dies wird ausführlicher in dem eigens der Ethik gewidmeten Kapitel zu erörtern sein, doch hier sollte gezeigt werden, welche Rolle diese Vorstellung beim frühen Fichte spielt. In seiner weiteren Entwicklung ergeben sich nämlich einige Verschiebungen, und es wird dann nicht allein zu fragen sein, was sich in der pessimistischer' gewordenen Sicht Fichtes geändert hat, sondern auch,

22 „Beitrag", in: GA, I 1, S. 287 / SW, VI, S. 143. Eine davon verschiedene Vorstellung vertritt I. Kant, Die Religion, S. 51 f., an der Stelle, wo er energisch die Auffassung der antiken Philosophen bekämpft. Diese „verkannten ... ihren Feind" (der bekämpft werden muß, um die „Tugend" zu erlangen): Er ist „nicht in den ... sich ... unverhohlen jedermanns Bewußtsein offen darstellenden Neigungen zu suchen ...", sondern ist „ein gleichsam unsichtbarer, sich hinter Vernunft verbergender Feind", den Kant darum auch mit der „Bosheit (des menschlichen Herzens)" gleichsetzt. Der Autor beschließt seine Kritik mit einer sehr schwerwiegenden Feststellung: „... so finden wir: daß ... wir davon anfangen müssen, das Böse, was schon Platz genommen hat ..., aus seinem Besitz zu vertreiben: d.i. das erste wahre Gute, was der Mensch thun kann, sei, vom Bösen auszugehen ...". Einer solchen Behauptung hätte Fichte nicht zustimmen können. Es ergibt sich sogar der Eindruck, daß die „Sittenlehre" in ihrem Kern auf eine Widerlegung dieser Kantischen Position zielt. Ein anderes Problem, auf das hier nur aufmerksam gemacht werden kann, ist das der Wurzeln von Kants Konzeption eines unerforschlicherweise zum Bösen (und nicht nur zum Guten) neigenden Willens. Nachdem feststeht, daß die propensio zum Bösen weder aus einer fehlerhaften Operation des Verstandes hervorgeht (an dessen richtigem Arbeiten Kant nicht zweifelt), noch aus der „Schwäche" der physischen Natur des Menschen (der sich die Willenskraft erfolgreich entgegensetzen kann), kann sie nur dem Willen entspringen (da auch der Rekurs auf die Lehre von der Erbsünde ausgeschlossen ist, weil diese ein „theologisches" und damit „heteronomes" Prinzip darstellt). Wenn Kant in „Die Religion" explizit zu diesem Schluß kommt, dann läßt das die Vermutung zu, daß für ihn, anders als für Fichte, „Wille" nicht gänzlich identisch mit „Vernunft" identisch ist. Sein Resultat erinnert darüber hinaus an Crusius und dessen Auffassung des Verhältnisses von Wille und Vernunft; eine Untersuchung dieses Problems steht jedoch noch gänzlich aus.

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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welche Gründe zu dieser Änderung geführt haben; ob diese nur in einer veränderten Weltanschauung zu suchen sind, oder ob sie mit einer darüber hinausgehenden Konzeption in Zusammenhang stehen, die sich, ohne gänzlich aus dem Nichts zu entstehen, von einem bestimmten Augenblick an bemerkbar macht. Die Bezeichnung „endliches Vernunftwesen" faßt prägnant eine Vielfalt von Aspekten der Philosophie Fichtes zusammen. Zunächst spiegelt sich in dieser Formel das bereits erwähnte Problem der Notwendigkeit einer „Ubereinstimmung" zwischen Endlichem und Unendlichem, einer „Harmonie" des Menschen mit sich selbst - die erster, aber unverzichtbarer Baustein der kosmischen Harmonie ist. Zu sagen, daß der Mensch nach Ubereinstimmung mit sich selbst sucht, bedeutet aber nichts anderes, als zur Kenntnis zu nehmen, daß die „vernünftige Natur" nicht einziger konstitutiver Aspekt der „menschlichen Natur" ist; bedeutet, zu akzeptieren, daß auch ein ,Anderes' in ihr anwesend ist: die „sinnliche Natur", die zwar geformt und erzogen werden muß, der aber ihre eigenen Rechte - vor allem ihr Existenzrecht - nicht verweigert werden dürfen. Bekanntlich liegt zwischen dem frühen und dem späteren Fichte eine ziemlich kurze Zeitspanne, und ,der erste Fichte' wird zudem niemals völlig vom ,zweiten' verdrängt, sondern taucht unvermutet immer wieder auf; doch wenn es einen Unterschied zwischen beiden gibt, dann besteht er nicht einfach im Ubergang von einer »individualistischen' zu einer ausschließlich auf die Allgemeinheit konzentrierten Phase. Wenn es diesen Unterschied gibt, dann besteht er vielmehr darin, daß der junge Fichte - sicherlich in einem Enthusiasmus, der später erlöschen, und einem Optimismus, der angesichts der Wirklichkeit bald verblassen sollte - all seine Kraft daran setzte, die „vernünftige Natur" des Menschen zu untersuchen und ihre Rechte hervorzuheben. Er ist überhaupt nicht daran interessiert, die unbestreitbare Rolle der anderen Komponente in Frage zu stellen. Er ist sich über sie gänzlich im klaren, wie wir gesehen haben, doch zu diesem Zeitpunkt beschäftigt ihn der erstere Aspekt des Problems. Kant hatte bemerkt: „Viele haben behauptet, daß im Menschen kein Keim zum Guten, sondern zum Bösen ist, und nur der einzige Rousseau [hat] angefangen ... das Gegenteil zu behaupten" 23 .

Fichte denkt an diese berühmten Vorgänger: Kant, der bereit ist, zumindest einen Keim der Güte im Menschen zuzugestehen, und Rousseau, den er in der Zeit der Arbeit am „Beitrag" ausdrücklich als sein Vorbild bezeichnet. 23

I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 114. Die Arbeiten von J. Starobinski wie von A. Philonenko haben zu einem erheblichen Wandel in der Gesamtinterpretation von Rousseaus Denken beigetragen. Zum hier behandelten Problem vgl. L. Fonnesu, Rousseau e la filosofia (über die Studie von A. Philonenko, Jean-Jacques Rousseau et la pensée du malheur).

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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Zugleich denkt er aber auch an die Empörung beinahe aller deutschen Intellektuellen gegen die Resultate der ,Anwendung' dieser Themen jenseits des Rheins24. Fichte entscheidet sich, für die Allgemeingültigkeit der „Menschenrechte" einzutreten - abgesehen von falschen und verhängnisvollen ,A n W e n d u n g e n ' .

Wenn Fichte sich später der Analyse der notwendig negativen Auswirkungen einer nicht durch die Vernunft gebändigten Sinnlichkeit zuwendet, muß er seiner Darlegung wohl oder übel eine andere Färbung geben. (In der Zwischenzeit hatte er bereits die - einstweilen freilich nur programmatisch 25 formulierte - Idee in die Diskussion geworfen, daß es notwendig sei, die erwähnte Harmonie innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu erreichen.) Die Aufgabe besteht nunmehr darin, konkret zu bestimmen, wie sich die potentielle Angleichung beider Elemente Schritt für Schritt verwirklicht, und danach ihre erfolgte Durchdringung darzustellen. Diese hat ihren Ort nicht in einem übermenschlichen Himmel, sondern gehört mit vollem Recht zu den menschlichen Möglichkeiten, und Fichte möchte ihr tägliches Wirken in der Welt beschreiben. Der vernünftigen Natur des Menschen kommen einige unveräußerliche Grundrechte zu. Die ersten, die einem dabei in den Sinn kommen, wenn sie der Reihe nach aufgezählt werden sollten, sind - genau betrachtet - nichts anderes als unmittelbare Gleichsetzungen mit dem Begriff der „Vernunft", welcher Grundlage der gesamten Darlegung ist. Tatsächlich ist als erstes an das Recht der Freiheit zu denken. Freiheit ist spontane Selbsttätigkeit und auf der Grundlage des Gesetzes, das sie sich selbst gegeben hat, selbständig wirkende Vernunft. Dieses Gesetz ist seinerseits Spiegelbild jenes „Naturrechts", das jedem Menschen als vernünftigem und von freiem Willen beseelten Wesen zukommt. Bei der „vernünftigen Natur" des Menschen, fallen Pflicht und Recht in dem Punkt zusammen, wo das Sittengesetz unbedingt befiehlt, die Grundrechte der Menschheit zu schützen. Diese Rechte kommen jedem Menschen als Vernunftwesen zu, und zugleich stellen sie verbindliche Pflichten für ihr dar 26 . 24 Vgl. - zusätzlich zu M. Boucher , La révolution, und R. Ayrault , Romantisme allemand - V. Verra , La rivoluzione francese; ders., Critica e rivoluzione; M. Espagne , Revolutionsverständnis, S. 76-103; ders Rezeption Fichtes in Frankreich, und E. Bello (Hrsg.), Filosofia y Revoluciôn. 25 26

In der erwähnten „Bestimmung des Gelehrten".

Sie ließen sich zusammenfassen als (materiales) Recht auf Leben - das in erster Linie Recht auf Eigentum und Arbeit und folglich Recht auf Gleichheit im Sinn sozialer Gerechtigkeit ist - und als Recht auf Selbsterhaltung des geistig-intellektuellen Teils des Menschen (und also Recht auf Glückseligkeit, das eine der Konsequenzen des Rechts auf Gerechtigkeit darstellt). Mit diesem Fragenkomplex habe ich mich auseinandergesetzt in C. De Raseale, Droit à la vie.

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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Schon in der „Zurückforderung" war hervorgehoben worden, daß die Übertretung des Sittengesetzes notwendig die Gestalt des ,Widerspruchs' annehmen muß, denn dieses Gesetz des Menschen ist identisch mit dem „Gesetz in ihm", das dem Menschen durch die Stimme des Gewissens gebietet27. Es ist deswegen unmöglich, daß er sich ein anderes Gesetz aufdrängen läßt; es ist ein Verbrechen, wenn irgendein anderer ihm ein solches aufnötigen will. Nur außerhalb des Wirkungskreises des Sittengesetzes, nur innerhalb der Sphäre der „freien Willkühr", im Bereich des „Erlaubten" 28 sind die Rechte des Menschen veräußerlich. Das heißt: Sie können unter der Bedingung veräußert werden, daß der Inhaber dieser Rechte derselbe ist, der die Entscheidung trifft, sie zu veräußern oder ganz oder teilweise auf sie zu verzichten, um dafür (im Regelfall) andere Rechte übertragen zu bekommen. An dieser Stelle öffnet sich Fichtes Denken dem Problem der Vertragslehre, auf das später zurückzukommen ist. Für die Ebene der Moral relevant ist hingegen ein zweifaches Ergebnis: Erstens ist der autonome Wille des endlichen Vernunftwesens Gesetz, das auf einem Recht basiert, welches als ein „Urrecht" unveräußerlich ist. Zweitens darf auch der Verzicht auf weniger zwingende Rechte, die Bereiche betreffen, zu denen das Sittengesetz schweigt, niemals von außen, sondern stets nur vom legitimen Inhaber dieser Rechte veranlaßt sein. Der Mensch, „Executor" der ihm vom Sittengesetz eingeräumten Rechte29, hat gleichzeitig die ebenso unabweisbare Pflicht zur eigenen sittlichen Vervollkommnung. Das heißt, der Mensch - sittliches Subjekt, das sich zugleich aber auch seiner Unvollkommenheit als sittlichen Subjekts bewußt ist - hat die Pflicht, in seinem auf die Erreichung des selbstgesetzten Ziels gerichteten Eifer nicht nachzulassen, hat die Pflicht zum freien sittlichen Handeln 30 . Infolgedessen wird er mit dem Erreichten nie gänzlich zufrieden sein und wird im Hinblick auf das Endziel jedesmal die Zwischenziele, die er sich gesetzt hatte, weiter nach vorne verschieben; sie werden für ihn GA, I 1, S. 173 f. / SW, VI, S. 11 f. 28

Vgl. I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 57 ff. und 89,267, sowie ders., Metaphysik der Sitten, S. 239 ff. GA, I 1, S. 263 / SW, VI, S. 113. 30

Vgl. I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 317: „Die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechtes ist die größte moralische Vollkommenheit, sofern sie durch die Freiheit des Menschen bewirkt wird, wodurch alsdann der Mensch der größten Glückseligkeit fähig ist. Gott hätte die Menschen schon so vollkommen machen und jedem die Glückseligkeit ausgeteilt haben können. Allein alsdann wäre es nicht aus dem inneren Principio der Welt entsprungen. Das innere Principium der Welt aber ist die Freiheit. Die Bestimmung des Menschen ist also, seine größte Vollkommenheit durch seine Freiheit zu erlangen. Gott will nicht allein, daß wir sollen glücklich sein, sondern wir sollen uns glücklich machen, das ist die wahre Moralität". 5 De Pascale

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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nützliche M o m e n t e i n einer beständigen u n d gänzlich bewußten D y n a m i k der Annäherung an das letzte Z i e l 3 1 . D o c h was ist das Recht auf Freiheit, w e n n nicht vor allem Recht auf Wahrheit u n d selbständiges Forschen nach ihr? Dieses M o m e n t ist für Fichte wesentlich 3 2 . Es bestätigt nicht nur, daß - wie w i r bereits gesehen haben - jegliches Prinzip der A u t o r i t ä t außer Kraft gesetzt werden kann ( „ . . . [es g i b t ] ein unveräußerliches Recht, über jene festgesetzten Resultate hinaus zu untersuchen

, . . " 3 3 ) , sondern eröffnet

sehr w i c h t i g e Perspektiven für

Fichtes

Philosophie. M a n denke allein an den zentralen Begriff der „ M i t t h e i l u n g " - eine neue F o r m v o n „Wechselwirkung", die über das einfache u n d beschränkte erzieherische Verhältnis zwischen Lehrer u n d Schüler weit hinausgeht, u m sich zu einem dichten u n d unendlich weiten Netz v o n Beziehungen auszuweiten, die v o n einem gegenseitigen Geben u n d N e h m e n von Erkenntnissen i n H i n b l i c k auf eine „ C u l t u r zur Freiheit" gekennzeichnet sind 3 4 . D a b e i ist n i c h t allein an die Rolle des Intellektuellen zu denken (des „ G e l e h r t e n " , der i n Fichtes D e n k e n trotzdem eine wichtige F u n k t i o n erfüllt) oder an hochspezialisiertes, v o n wenigen an wenige weitergegebenes Wissen. 31

Vgl. I. Kant, Vorlesung über Ethik, S. 201: „Der Mensch fühlt sein Leben durch Handlungen ... Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, daß wir leben, und desto mehr sind wir unseres Lebens bewußt". - „Die Zeit ... wird nur mit Handlungen ausgefüllt"; „... das Leben ist das Vermögen der Selbsttätigkeit". 32

J. Widmann hat in seiner Rezension zu B. Willms, Die totale Freiheit, darauf aufmerksam gemacht, daß diese grundlegende Forderung nach freier Erforschung der Wahrheit unverändert noch in der Wissenschaftslehre von 1804 erscheint. 33 „Zurückforderung", in: GA, I 1, S. 183 / SW, VI, S. 24. Vgl. auch GA, I 1, S. 190 / SW, VI, S. 33. Diese Idee der freien Forschung, eine Konstante in Fichtes Denken, wird in der VI. der in Erlangen gehaltenen Vorlesungen „Ueber das Wesen des Gelehrten" eigens untersucht; GA, I 8, S. 103-110 / SW, VI, S. 400-411. 34 Mitteilung, „das süßeste Commerzium der Menschheit", ist „das freie und frohe Geben und Nehmen des Edelsten, was sie [sc. die Menschen] haben"; „Zurückforderung", in: GA, I 1, S. 177 - vom „würdigsten Tauschhandel ... der Menschheit" spricht die etwas abweichenden Lesart in: SW, VI, S. 16. Im selben Zusammenhang hat Fichte sogar eine vernünftige „Deduktion" des urprünglichen Rechts auf Mitteilung, genauer, die des Teilaspektes des Rechts auf „freies Nehmen" versucht; vgl. auch GA, I 1, S. 183. Wichtig ist hier seine Schlußfolgerung: „Das Recht des freien Nehmens alles desjenigen, was brauchbar für uns ist, ist ein Bestandtheil unserer Persönlichkeit; es gehört zu unserer Bestimmung, frei alles dasjenige zu brauchen, was zu unsrer geistigen und sittlichen Bildung offen für uns da liegt; ohne diese Bedingung wäre Freiheit und Moralität ein unbrauchbares Geschenk für uns. Eine der reichhaltigsten Quellen unserer Belehrung und Bildung ist die Mittheilung von Geiste zu Geiste. Das Recht aus dieser Quelle zu schöpfen, können wir nicht aufgeben, ohne unsre Geistigkeit, unsre Freiheit und Persönlichkeit aufzugeben ...". Diese Auffassung erscheint unverändert, wenn auch in einem anderen theoretischen Zusammenhang, fünfzehn Jahre später in den „Reden".

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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Hier geht es vor allem um den Antrieb zur Erforschung des „Wahren", die wiederum die Voraussetzung für die Weiterentwicklung des kulturellen Niveaus einer Gesellschaft insgesamt ist. Fichte vermag, darin noch ganz ,Aufklärer', zwischen der Vervollkommnung der Gesellschaft allgemein und der Vollkommnung ihrer Kultur, ihrer Erziehung, ihrer Bildung niemals einen Unterschied zu machen. Absichtlich wurde das Moment der Globalität hervorgehoben: Denn wie Fichte auch immer über den am Ausgang des 18. Jahrhunderts so heftig diskutierten Begriff des „Genies" denken mag - ihn interessiert vor allem die Vervollkommnung der Gesellschaft »insgesamt'. Daraus ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten für seine Philosophie, und tatsächlich wird dieses Problem den Prüfstein dafür bilden, ob die Beziehung zwischen Ganzem und Einzelnem im Gleichgewicht zu bleiben vermag oder nicht. Ein Antrieb zur Erforschung des Wahren also, von welcher Person, Sache oder Tatsache der äußeren Welt er auch ausgehen und welche Richtung er auch einschlagen mag - denn letzte Quelle dieses Antriebs ist allein das Innere des Subjekts selbst. In dieser seiner Bewegung führt der Antrieb zu einer neuen Aufforderung (zu erkennen, zu handeln), wobei sich die Reaktionen auf die Antriebe vervielfachen und eine Art sich kontinuierlich verlängernder und ausweitender Spirale bilden, die eine immer größere Zahl denkender Subjekte einbezieht: „Die Lehre von den Pflichten, Rechten und Aussichten des Menschen über das Grab ist kein Kleinod der Schule ..."

Denn: „Wozu sind jene Einsichten, wenn sie nicht allgemein ins Leben eingeführt werden? Und wie können sie eingeführt werden, wenn sie nicht wenigstens der größern Hälfte Antheil sind?" 35 .

Es zeigte sich, daß dem Ideal der Mitteilung - die nicht allein Mitteilung theoretischer Erkenntnisse, sondern auch wechselseitiges Weitergeben und 35 „Beitrag", in: GA, I 1, S. 203 f. / SW, VI, S. 39-40. Diese Passagen vermitteln den Eindruck, daß Fichtes pädagogische Konzeption alles andere als elitär ist; sie verdankt viel dem Denken Pestalozzis. Zur Stützung dieser Interpretation ließe sich auch auf Fichtes Ausführungen über die „Kinderwärterinnen" verweisen, die sich ebenfalls an der soeben genannten Stelle finden. Fichte meint, „die Zeit muß kommen", in der auch sie die Lehre von den Rechten und Pflichten des Menschen lehren können. Zudem wird diese Vorstellung in den „Reden" ausführlich erläutert und bekräftigt. Die Frage kompliziert sich aber, wenn die spezifische Funktion des Gelehrten in der Gesellschaft betrachtet wird. Einstweilen läßt sich dazu sagen - und diese Aussage kann sich auf die weite Bedeutung der Begriffe Bildung und Kultur stützen - , daß jedem, wenn auch auf seinem Niveau, die Aufgabe der Bildung der anderen und seiner selbst zukommt, dem Gelehrten aber im höchsten Maß die Aufgabe, sich die „Mittheilungsfertigkeit" anzueignen.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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Überprüfen von Erfahrungen ist - ein sehr weiter Begriff von „Bildung" zugrunde liegt 36 , der wesentlich und vorrangig ,Selbstbildung' und fortwährende Übung des kritischen Vermögens meint: „... niemand wird cultivirt, sondern jeder hat sich selbst zu cultiviren. Alles bloß leidende Verhalten ist das gerade Gegentheil der Cultur; Bildung geschieht durch Selbstthätigkeit, und zweckt auf Selbstthätigkeit ab" 3 7 . „Die Cultur läßt sich dem Menschen nicht so aufhängen, wie ein Mantel auf die nackten Schultern eines Gelähmten. Gebrauche deine Hände, greif zu und halte fest, und schmiege das Gewand in alle die eignen Biegungen deines Wuchses: oder du wirst ewig Blößen geben und frieren. Was ich bin, verdanke ich zuletzt mir selbst, wenn ich für mich etwas b i n " 3 8 .

Sicherlich kommen uns auch von außen die Mittel zu, uns zur Kultur zu erheben. Es ist bezeichnend für die Weltanschauung des jungen Fichte, daß er die Ansicht teilt, die „Mittel zur Cultur", die uns die Gesellschaft gebe, seien „ungleich mehrere und ungleich brauchbarere" als die vom Staat bereitgestellten. Und er kommentiert: „Beider Einfluß auf unsre Cultur verhält sich, wie ihr beiderseitiges Gebiet" 39 . Die Auseinandersetzung mit den zuletzt angedeuteten Themen und besonders dem Begriff der gesellschaftlichen Mitteilung nimmt auch in den „Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten" bedeutenden Raum ein 40 . Dieses Werk soll nicht eigens analysiert werden; bei der Untersuchung der Moral- und Rechtskonzeption des frühen Fichte wird es aber weiterhin zusammen mit den anderen ,populären' Schriften dieser Periode heranzuziehen sein. Hier seien die wesentlichen Inhalte der Schrift angedeutet, um deren Gesamtintention und ihren Stellenwert innerhalb dieser Phase zu ver36

Der auch dem Beitrag der Erfahrung stark Rechnung trägt.

37 „Beitrag", in: GA, I 1, S. 244 / SW, VI, S. 90. 38 „Beitrag", in: G A I 1, S. 283 f. / SW, VI, S. 138 f. Vgl. auch GA, I 1, S. 205207 / SW, VI, S. 42-44, wo noch besonders ausgeführt wird: „Alles unser Lehren muß auf Erweckung des Selbstdenkens abzielen, oder wir bringen in unsrer schönsten Gabe der Menschheit ein sehr gefährliches Geschenk". 39 „Beitrag", in: GA, I 1, S. 284 / SW, VI, S. 139. Im Hintergrund steht dabei eine von Fichte sehr deutlich gezogene Grenze zwischen „Gesellschaft" und „Staat"; im folgenden Abschnitt, der sich mit dem Recht befaßt, wird darauf zurückzukommen sein. Zum besonderen Gesichtspunkt, unter dem hier das Verhältnis von Gesellschaft und Staat untersucht wird - dem der Kultur und ihrer Weitergabe - vgl. vorläufig GA, I 1, S. 288-291 / SW, VI, S. 144-147, zudem K. Hahn, Staat, Erziehung und Wissenschaft. 40 GA, I 1, S. 41, 45 ff., 55 ff. / SW, VI, S. 310 f., 315 ff., 330 ff. Hinzuweisen ist auf die mit einem wichtigen Kommentar versehene französische Ubersetzung von J.-L. Vieillard-Baron: J.G. Fichte, Conférences sur la destination du savant (1794); vgl. dort S. 94-96 zur Komplexität und Vielfalt der Bedeutungen des Begriffs „Bestimmung".

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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deutlichen. Am Begriff der Mitteilung zeigt sich m.E. klar, was sich als eine allgemeine Grundidee dieser Vorlesungen bezeichnen läßt: der praktische Charakter der Vernunft'. Der Austausch von Erkenntnissen, wie er beim Gelehrten stattfindet (der umso mehr ein Gelehrter zu sein vermag, je mehr er in der Lage ist, die äußere Welt zu verändern und zu vervollkommnen und sich selbst - durch die Wirkung dieser äußeren Welt auf ihn - zu verändern und zu vervollkommnen) ist greifbarer Beweis für eine Vernunft, die praktisch wird und nur praktisch sein kann, ist Hinweis zudem auf einen noch viel umfassenderen Zusammenhang zwischen Erkennen und Handeln, Wissenschaft und Leben 41 . Abgesehen von der Darstellung bereits erzielter Ergebnisse - hierzu zählen weitere Überlegungen zur Unmöglichkeit, die Ichheit (auf diskursivem Weg) zu begreifen und neue Stellungnahmen zugunsten des Gefühls des Wahren - , läßt sich als eine erste ,Innovation' gegenüber den vorangehenden Schriften eine genauere Auffassung des Menschen als sozialen Wesens feststellen: d.h. eine neue systematische Verortung zweier bereits vorhandener Vorstellungen - die der Bestimmung des Menschen „an sich" und die der Bestimmung des Menschen „in der Gesellschaft" - , die Fichtes Denken einen bedeutenden Schritt voranbringt. Schon im „Beitrag" war die Unterscheidung zwischen dem Zweck des Menschen an sich und dem Zweck des Menschen als Menschen (als eines Teils der Sinnenwelt42) eingeführt worden. Es ist aber, wie wir hervorgehoben hatten, eine der Hauptintentionen gerade dieser Schrift, dem „endlichen Vernunftwesen" (oder dem Menschen an sich) präzise Kontur zu verleihen. Fichte war sich schon zu diesem Zeitpunkt sehr wohl darüber im klaren, daß der „Mensch an sich" nicht existiert, daß es den Menschen nur in Beziehung und im Verhältnis zu anderen Menschen gibt, und wahrscheinlich ahnte er bereits die weiteren Implikationen dieses Problems - daß nämlich der „Mensch an sich" kein principium individuationis besitzen würde. Hier ging es ihm jedoch darum, daß der Begriff des Menschen als Voraussetzung unerschütterlich feststand und nicht Gefahr lief, sich in der verworrenen Welt der Vielen aufzulösen.

41

Stark hervorgehoben hat diesen Punkt R. Lauth in der Einleitung der von ihm zusammen mit H. Jacob und P.K. Schneider besorgten Ausgabe dieser Vorlesungen (J.G. Fichte, Von den Pflichten der Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/95). Die Synthese von Erkenntnis und Leben - wobei das „Leben" den Ausgangspunkt jedes wissenschaftlichen Forschens ist - bildet eine so entscheidende Voraussetzung für Fichtes Denken, daß der Philosoph es als notwendig empfand, bei jedem Kontakt mit einem neuen Publikum dieses Problem eigens zum Gegenstand einer Vorlesung zu machen. Tatsächlich markieren die drei Vorlesungszyklen zu diesem Thema - die im Kern eine Art Einführung in seine gesamte Philosophie darstellen - jeweils den Beginn seines Wirkens an den Universitäten von Jena, Erlangen und Berlin. 42

GA, I 1, S. 243 / SW, VI, S. 89.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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In der „Bestimmung des Gelehrten" ist dieses Problem nicht in Vergessenheit geraten. Die Voraussetzung bleibt bestehen. Mit dem Menschen an sich und seinem Zweck - der Übereinstimmung mit sich selbst - beschäftigt sich bereits die erste Vorlesung, die zudem auf theoretischer Ebene reiche Ideen zur weiteren Präzisierung des Verhältnisses von Reinem und Empirischem im Ich enthält 43 . Eher wird über das Problem rasch hinweggegangen, um die Auseinandersetzung mit einer anderen theoretischen Schwierigkeit aufzunehmen. Zu lösen ist nun die Frage der gesellschaftlichen Dimension, in deren Rahmen überhaupt erst sinnvoll davon gesprochen werden kann, daß der Mensch als Mensch die „Cultur zur Freiheit" zum Zweck hat. Als zentrales Problem dieser Vorlesungen erweist sich in der Tat das der interpersonellen Beziehungen, des Geflechts wechselseitiger Bindungen zwischen den Individuen, die sich bewußt sind, daß sie außerhalb der sie umgebenden Welt von Mitmenschen keine Individuen wären. Die zahlreichen Fragestellungen, die sich daraus ergeben, können hier nur angedeutet werden. An erster Stelle handelt es sich um das Thema der Interpersonalität. Es wird Fichtes Denken in den unmittelbar darauffolgenden Jahren weithin beanspruchen und erscheint in diesem Werk erst in seinem anfänglichen Entwicklungs-stadium 44 - als Einsicht, daß die Existenz des Anderen durch die Vernunft bewiesen (bzw. deduziert) werden muß 45 . Die Rolle zu verstehen, die dem Menschen in der Welt (der Menschheit in der Geschichte) anvertraut ist, da er Teil der Sinnenwelt ist und notwendig zu anderen Menschen in Beziehung steht, die ihrerseits weitere Quellen der Freiheit sind: darin besteht die Absicht dieses Werks, nachdem die genannte ,Voraussetzung4 (eine nähere Beschreibung des Menschen als Vernunftwesen) einmal geklärt und dann zur Seite gelegt ist und nachdem das Feld vom Problem des „Rechts" als notwendiger Institution 43

Erhellend dazu J.-L. Vieillard-Baron, in dem Anm. 40 genannten Kommentar, S. 99 ff. (Übrigens spricht Fichte bereits im „Beitrag" vom „reinen Ich" und von der „Form meines reinen Ich" - einer unveränderlichen Form; GA, I 1, S. 310 / SW, VI, S. 170. Daß der Begriff in dieser Schrift erscheint, ist sehr bedeutsam, denn er erlaubt es, die Grundrechte als unveräußerlich zu bestimmen: Dem „Recht, meine Pfhlicht zu thun" können keine veräußerlichen Rechte entspringen, sonst würde dieses Recht vollkommen umgeformt werden und gänzlich seinen Sinn verlieren, weil seine wesentliche Eigenschaft, eben die Unveränderlichkeit, beseitigt wäre.) 44

Darauf hat R. Lauth, Interpersonnalité, hingewiesen. Aus einer Perspektive, die die Entwicklung von Fichtes Philosophie insgesamt in den Blick nimmt, hat er dieses Thema erneut untersucht in ders., La costituzione trascendentale dell'esperienza sociale. Lauths Entscheidung, den Begriff „Interpersonalität" (statt „Intersubjektivität") zu verwenden, hat L. Pareyson im Vorwort zu R. Lauth, La filosofia trascendentale di Fichte, S. 8, hervorgehoben. C.K. Hunter, Interpersonalitätsbeweis, S. 13, hat darauf aufmerksam gemacht, daß in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten das Thema der Interpersonalität als konstitutives Element des Systems der „Wissenschaftslehre" auftritt. «

GA, I 3, S. 34 ff. / SW, VI, S. 302 ff.

2. Kap.: Zum Verhältnis von Moral und Recht

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befreit wurde (in Wahrheit mit dürftigen Andeutungen und eigentlich nur, indem die Lösung auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurde). Fichte beschäftigt sich hier denn auch nicht mit einer Rechtsgemeinschaft, sondern mit einer sozialen Gemeinschaft, ,wie sie ist' und wie sie aufgrund des Ziels der Menschheit werden soll. Eine Beschreibung der Gesellschaft ,wie sie ist' meint freilich auch hier keine empirische Behandlung des Problems und keine historische Analyse. Vielmehr handelt es sich erneut um das typische Verfahren der Transzendentalphilosophie, obwohl in einem ,populären' Werk nur die Endresultate der Untersuchung vorgestellt werden können. Eher kommt es hier zu einer Vermengung zweier verschiedener Auffassungen des Elements der Natürlichkeit, das seinerseits wiederum mit dem anderen Element, der Vernunft, zu ,Harmonie' gebracht werden muß. Die Natürlichkeit aber besteht in nichts anderem als dem realen Faktum, von der auch Rousseaus Überlegung ausgegangen war: der physische Ungleichheit zwischen den Bestandteilen einer sozialen Gemeinschaft. Bei Fichte lassen sich jedoch Zweifel gegenüber der Auffassung erkennen, die Änderung dieser Ausgangsbedingungen sei unmöglich. Es scheint, anders gesagt, als wolle er hervorheben, wie problematisch das Fortbestehen einer Situation der Ungleichheit im Reich des Sein-sollens ist. Der Wert des Menschen liegt nicht in dem, was er materiell ist, und deswegen darf der unaufhörliche „Wettstreit" der Vernunft mit der Natur kein Ende finden. In Fichtes Philosophie wird die Vernunft nicht müde, auf die Natur einzuwirken und sie zu verändern, und die Natur wiederum setzt - wie die Lehre vom Trieb nahelegt - dem Werk der Vernunft keine endgültigen Widerstände entgegen, oder setzt sie ihm nicht notwendig entgegen, mit Ausnahme des unvermeidlichen Anfangsmoments, in dem nichts ist außer Natur. Die Einführung einer geschichtsphilosophischen Perspektive hat die Funktion eines deus ex machina , auch wenn sie sicherlich mehr Probleme schafft als löst. Diese Dimension, die hier zum erstenmal klar hervortritt, erlaubt die Koexistenz zweier Denkmodelle, die einander entschieden widersprechen. Einerseits die Notwendigkeit der „Vervollkommnung ins unendliche" des Menschen als Menschen; andererseits die Notwendigkeit der „Vervollkommnung der Gattung". Doch Vervollkommnung des Menschen bedeutet nicht nur das unendliche Streben danach, sein eigener Zweck zu sein46; sie bedeutet zudem, daß der Mensch auf dem Weg seiner Vervollkommnung keine Hindernisse vorfinden darf, abgesehen von der natürlichen Veranlagung, von der er sich nicht befreien, die er aber seinen Zwecken unterwerfen kann. Das Problem kompliziert sich, sobald die Vervollkommnung der Gattung betrachtet wird, d.h. die Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft.

«

GA, I 3, S. 29 / SW, VI, S. 295.

1. Teil: Die Funktion der Wissenschaft

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Im „Beitrag" konnte Fichte ganz linear vorgehen. Erstens deswegen, weil er dort den harten Kern des Problems, das Moment der Natürlichkeit, nicht in Betracht zog; und zweitens, weil er selbst dort, wo er die Vision einer im wesentlichen von vernünftigen Wesen gebildeten Gesellschaft aufgab, seinen Blick auf die Gruppen einzelner richtete, die ein nicht naturgegebenes, sondern ,künstlich' durch die Geschichte geschaffenes Privileg besitzen, das durch die Kraft der Vernunft überwunden werden kann und muß. In der Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten muß er dagegen zwei konträre Erfordernisse berücksichtigen: die Wechselwirkung vernünftiger Wesen durch Freiheit 47 und die Entwicklung der Gesellschaft als ganzer 48. Hinsichtlich der ersteren befinden wir uns in einer Situation, die der des „Beitrag" ähnelt: eine Gesamtheit gleichermaßen mit Vernunft begabter Wesen, die nach dem Gesetz der Freiheit (der Sittlichkeit) handeln - damit ist das Bild einer Gesellschaft umrissen, in der das Problem des Verhältnisses zwischen dem Menschen als „Zweck" und dem Menschen als „Mittel" zu dem Zweck, der in der Gesellschaft besteht 49 , eine unmittelbare Lösung finden kann. Allenfalls ließe sich sagen, daß wir hier vor einer bloßen Tautologie stehen. Doch hinsichtlich des zweiten Erfordernisses, der Entwicklung der Gesellschaft insgesamt, gibt es keine Möglichkeiten der Versöhnung, denn anscheinend wird hier nicht viel mehr als so etwas wie ein mathematischer Mittelwert angestrebt. Nun fordert Fichte bekanntlich ein menschenwürdiges Leben für jeden 50 ; und bekanntlich impliziert die Vorstellung eines unaufhaltsamen, wenn auch durch Krisen und Verzögerungen gebremsten Fortschritts, auf der er weiterhin beharrt, daß die allgemeinen Bedingungen wie die der Einzelnen mit Gewißheit eine Verbesserung erfahren. Dennoch kommt es zu einer Art von Legitimation der Ungleichheit, wenn Fichte eine natürliche Gegebenheit - die physische Ungleichheit - mit einer Gegebenheit verknüpft, die bereits Resultat gesellschaftlicher Prozesse ist - der Arbeitsteilung, die

GA, I 3, S. 37 f. / SW, V I , S. 307.