Niemand ist eine Insel: Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik 3110247887, 9783110247886, 9783110247893, 2011028237

Die Frage „Was ist der Mensch?" beschäftigt seit Jahrhunderten das Denken. Exakte Definitionen als Antworten erweis

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Niemand ist eine Insel: Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik
 3110247887, 9783110247886, 9783110247893, 2011028237

Table of contents :
Einführung
No man is an island. Erwägungen zu John Donne’s Devotions upon Emergent Occasions XVII
I. Reformatorische Einsichten
„Da, wo man sich nicht erklären muss“. Heimat und Rechtfertigung: Historische Bemerkungen zu einem systematischen Zusammenhang
„Gerecht und Sünder zugleich“ – Zur Ontologie des homo christianus nach Martin Luther
Kampf ums Gerechtsein
Von Gott angesehen
Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens – Rechtfertigung. Ein Rückblick
Freude, die zum Herzen geht – Luthers theologische Grundannahmen in seinen Weihnachtspredigten
II. Philosophische und Psychologische Perspektiven
Warum haben nur Menschen Religion? Über Zeichen der Evolution, Bilder der Kultur und Symbole des Geistes
Anthropologie der Artikulation und theologische Anthropologie
Jacobis persönlicher Gott. Auch eine philosophische Theologie am Beginn der Moderne
Die Philosophie Ayn Rands – Bestimmung des Menschen als theologischer Anknüpfungspunkt
Der Mensch in seinen Beziehungen: Eine Verantwortungsethik und Verantwortungspsychologie des hohen Erwachsenenalters
Ist Schuld ein Gefühl?
Verzweiflung – psychopathologische Aspekte, existentielle Grenzerfahrung und neuer Wert
III. Ethische Konsequenzen
Fragen an einen Weggefährten
Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit des Menschen
Selbstbestimmung im medizinischen Kontext – gilt sie auch beim Hungerstreik im Freiheitsentzug?
Nachhaltigkeit leben – sapientiale Interpretation einer umwelt-ethischen Leitkategorie
Die Herausforderungen der Neurowissenschaften als Anfrage an das Verhältnis von Ethik und Technik
IV. Kirchlicher Auftrag
„Ich habe den guten Kampf gekämpft“ (II Tim 4,7). Ein theologischer Essay
Die Schrift als Buch der Kirche. Wege und Sonderwege katholischen Schriftverständnisses
„Bestimmung des Menschen“ – wie lässt sich heute darüber reden?
Ekklesiologie – Sensible Schnittstelle von Empirie und Theologie
Autorenverzeichnis

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Niemand ist eine Insel

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von Friederike Nüssel und Christoph Schwöbel

Band 156

De Gruyter

Niemand ist eine Insel Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik Festschrift für Wilfried Härle zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Christian Polke, Frank Martin Brunn, Alexander Dietz, Sibylle Rolf und Anja Siebert

De Gruyter

ISBN 978-3-11-024788-6 e-ISBN 978-3-11-024789-3 ISSN 0563-4288 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Niemand ist eine Insel : Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik / Christan Polke ... [et al.]. p. cm. - (Theologische Bibliothek Töpelmann, ISSN 0563-4288 ; Bd. 156) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-024788-6 (hardcover : alk. paper) 1. Theological anthropology - Christianity. 2. Philosophical anthropology. I. Polke, Christian. BT701.3.N54 2011 233.01-dc23 2011028237

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

” 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Am 6. September 2011 vollendet Wilfried Härle sein 70. Lebensjahr. Aus diesem Anlass haben sich Freunde, Weggefährten und Schüler zusammengetan, um sich in diesem Band eines Themas anzunehmen, das in vielem die Mitte von Wilfried Härles Bemühungen um eine gegenwartsnahe Systematische Theologie bildet. Dem Menschen als Person im Schnittfeld von Anthropologie, Theologie und Ethik galt schon das Interesse des Rechtfertigungsbuches von 1980, das Wilfried Härle gemeinsam mit Eilert Herms verfasst hat. Und dieses Thema spannt sich über die Werke der Dogmatik (32007) und Ethik (2011) bis hin zu den in den letzten Jahren erschienenen Aufsatzbänden über Fundamentaltheologie und Anthropologie. Insofern verstehen sich alle Beiträge auch als eine Auseinandersetzung mit den Arbeiten des Jubilars. Die Herausgeber bedanken sich bei den Autorinnen und Autoren des Bandes für ihre Mitarbeit an dieser Festschrift. Dank gebührt darüber hinaus den Herausgebern der TBT für die Aufnahme in die Reihe, Prof. Dr. Friederike Nüssel (Heidelberg) und Prof. Dr. Christoph Schwöbel (Tübingen). In hervorragender Weise konnten wir uns auf die Zusammenarbeit mit dem Verlag Walter de Gruyter (Berlin) verlassen, allen voran auf Herrn Dr. Albrecht Döhnert, Frau Dr. Sabine Krämer und Frau Sabina Dabrowski. Bleibt noch der Wunsch, der Band möge seine eigentliche Bestimmung finden und dem Jubilar zur Freude gereichen. Im Juli 2011

Die Herausgeber

Inhalt Christian Polke, Frank Martin Brunn, Alexander Dietz, Sibylle Rolf, Anja Siebert Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Christoph Schwöbel No man is an island. Erwägungen zu John Donne’s Devotions upon Emergent Occasions XVII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

I. Reformatorische Einsichten Athina Lexutt „Da, wo man sich nicht erklären muss“. Heimat und Rechtfertigung: Historische Bemerkungen zu einem systematischen Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Wilhelm Christe „Gerecht und Sünder zugleich“ – Zur Ontologie des homo christianus nach Martin Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Pilgrim W.K. Lo Kampf ums Gerechtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Manfred Marquardt Von Gott angesehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Oswald Bayer Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? . . . . . . .

123

Eilert Herms Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens – Rechtfertigung. Ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Sibylle Rolf Freude, die zum Herzen geht – Luthers theologische Grundannahmen in seinen Weihnachtspredigten . . . . . . . . . . .

181

VIII

Inhalt

II. Philosophische und Psychologische Perspektiven Hermann Deuser Warum haben nur Menschen Religion? Über Zeichen der Evolution, Bilder der Kultur und Symbole des Geistes . . . . . . .

205

Michael Welker Anthropologie der Artikulation und theologische Anthropologie

219

Christian Polke Jacobis persönlicher Gott. Auch eine philosophische Theologie am Beginn der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

233

Alexander Dietz Die Philosophie Ayn Rands – Bestimmung des Menschen als theologischer Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

261

Andreas Kruse Der Mensch in seinen Beziehungen: Eine Verantwortungsethik und Verantwortungspsychologie des hohen Erwachsenenalters .

289

Thomas Fuchs Ist Schuld ein Gefühl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

Hermes Andreas Kick Verzweiflung – psychopathologische Aspekte, existentielle Grenzerfahrung und neuer Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

III. Ethische Konsequenzen Johannes Fischer Fragen an einen Weggefährten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

343

Frank Martin Brunn Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit des Menschen . . . .

359

Brigitte Tag Selbstbestimmung im medizinischen Kontext – gilt sie auch beim Hungerstreik im Freiheitsentzug? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

383

Hartmut Rosenau Nachhaltigkeit leben – sapientiale Interpretation einer umwelt-ethischen Leitkategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Elisabeth Gräb-Schmidt Die Herausforderungen der Neurowissenschaften als Anfrage an das Verhältnis von Ethik und Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

429

IV. Kirchlicher Auftrag Konrad Stock „Ich habe den guten Kampf gekämpft“ (II Tim 4,7) Ein theologischer Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

453

Peter Neuner Die Schrift als Buch der Kirche. Wege und Sonderwege katholischen Schriftverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

467

Reiner Preul „Bestimmung des Menschen“ – wie lässt sich heute darüber reden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

487

Klaus Tanner Ekklesiologie – Sensible Schnittstelle von Empirie und Theologie

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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einführung Christian Polke, Frank Martin Brunn, Alexander Dietz, Sibylle Rolf, Anja Siebert Auf dem Weg zu einer lebensweltlichen Hermeneutik des christlichen Glaubens – mit diesen Worten hat Wilfried Härle vor rund zehn Jahren sein Selbstportrait in einem Sammelband über Systematische Theologie in Selbstdarstellungen überschrieben.1 Damit zieht der Verfasser der seit 1995 in drei Auflagen erschienenen Dogmatik 2 in treffenden Worten ein Fazit über seine bisherige theologische Arbeit und deren Anspruch. Gegenwartsrelevanz und gleichzeitig Treue zur christlichen Überlieferung kennzeichnen diese bis zum heutigen Tage. Immer stärker erwies sich schon damals und mehr noch in den seitdem erschienenen Schriften, wie sehr Härle diese Gegenwartsrelevanz des christlichen Glaubens in spezifisch reformatorischer Prägung herausstellt. Dazu gehörte nicht zuletzt das Bemühen, die lateinischen Schriften Martin Luthers in einer zeitgemäßen und zugleich theologisch präzisen deutschen Übersetzung einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen; ein Unterfangen, das im Rahmen einer wissenschaftlichen Kooperation in die dreibändige Lateinisch-Deutsche Studienausgabe mündete.3 Die hier lediglich abbreviaturhaft skizzierten Kennzeichen des theologischen Ouevres lassen sich zurück verfolgen bis in die Anfänge seiner theologischen Schriften. Schon in der 1969 unter Eberhard Wölfel in Bochum erarbeiteten Dissertationsschrift beschäftigte sich der junge Autor mit dem Verhältnis der Theologie des frühen Barth zur Theologie des großen Reformators. Nur scheinbar inkonsequent erscheint es, wenn der frisch Promovierte sich dann in seiner in Kiel eingereichten Habilitationsschrift mit dem Opus Magnum Karl Barths beschäftigte. Sein und 1

2 3

Vgl. Wilfried Hrle, Auf dem Weg zu einer lebensweltlichen Hermeneutik des christlichen Glaubens, in: Christian Henning/Karsten Lehmkhler (Hg.), Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Tübingen 1998, 352 – 372. Vgl. Wilfried Hrle, Dogmatik, Berlin/New York 32007. Vgl. Martin Luther. Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, hg. v. Michael Beyer, Wilfried Hrle, Johannes Schilling und Günther Wartenberg, 3 Bde., Leipzig 2006 – 2009.

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Gnade, so der Titel dieses nach wie vor lesenswerten Vorschlags zur Barth-Interpretation4, zeichnet die im Kern relationale Ontologie des großen Schweizer Theologen nach, und zwar mit einem kritischen Blick auf Defizite der methodologischen Selbstreflexion bei Barth. Relationale Ontologie – dieser bereits bei Wilfried Joest mit Blick auf Luther zu findende Interpretationsansatz wird später noch eine wichtige Rolle im Werk von Härle spielen. Dabei geht es um ein Wirklichkeitsverständnis, das den Menschen in ein grundlegendes Beziehungsgeflecht gestellt sieht, zu dem die Welt und der Mensch in seiner Selbstbeziehung ebenso sehr gehören, wie die noch grundlegendere Bezogenheit auf Gott als dem Ursprung aller Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund erfolgte bereits im Jahre 1980, in gemeinsamer Arbeit mit seinem Freund Eilert Herms, eine Gesamtinterpretation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses aus der Perspektive des Rechtfertigungsglaubens.5 Wenn nämlich gilt, dass (zumindest aus evangelischer Sicht) der Glaube an die Rechtfertigung des gottlosen Sünders allein aus Gnade im Glauben durch Gott in Jesus Christus das Zentrum der christlichen Religion bildet, dann muss sich dieser Glaube auch verständlich auslegen lassen hinsichtlich seiner Implikationen und Folgen für eine Ontologie, Anthropologie und Ethik, für die Geschichtsund Gesellschaftstheorie, sowie hinsichtlich seiner (eschatologischen) Zukunftshoffnung. Aus einem Blickwinkel von dreißig Jahren liest sich die Schrift Rechtfertigung wie ein programmatisches Dokument einer Strömung deutschsprachiger Theologie in der Gegenwart, die Zustimmung, aber auch Widerspruch erfahren hat. Für die theologische Vita Wilfried Härles lässt sich in diesem Zusammenhang auch an seine dezidierte Kritik an der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Römisch-Katholischen Kirche sowie an die damit zusammenhängende Stellungnahme der Theologieprofessoren6 erinnern. Dass es Härle dabei keineswegs um Fundamentalkritik an der ökumenischen Bewegung ging, sondern stets um die theologische Sache, belegt seine Mitarbeit in dem von Eilert Herms und dem damaligen Kurienkardinal Joseph Ratzinger initiierten ökumeni4 5 6

Vgl. Wilfried Hrle, Sein und Gnade. Die Ontologie in Karl Barths kirchlicher Dogmatik, Berlin 1975. Vgl. Wilfried Hrle/Eilert Herms, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1980. Vgl. Stellungnahme theologischer Hochschullehrer zur geplanten Unterzeichnung der Gemeinsamen Offiziellen Feststellung zur Rechtfertigungslehre, www.w-haerle.de/texte/Stellungnahme.pdf (zuletzt abgerufen 20. 06. 2011).

Einführung

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schen Forschungsprojekt zu fundamentaltheologischen Fragestellungen, dessen erste Arbeitsphase von 2001 bis 2006 sich mit den Themen des Offenbarungs-, Glaubens- und Kirchenverständnis befasste und dessen Ergebnisse 2008 veröffentlicht wurden.7 Rechtfertigungslehre und relationale Ontologie, dies sind im Kern die Grundprinzipien, aus denen Wilfried Härle in den letzten dreißig Jahre sukzessive seinen eigenen Weg beschritten hat. Sie prägen seine Systematische Philosophie8, das bereits erwähnte Lehrbuch zur Dogmatik sowie die in diesem Jahr zum Abschluss gebrachte Ethik9. Schon die Titel dieser Bücher zeigen an, dass es Härle stets um systematische Entfaltung zur Vermittlung in die Gegenwart ging, und das niemals nur in akademischer Hinsicht. Die Konzentration auf verständliche Wiedergabe und die Vorliebe für klare und präzise Sätze stellen einen der vielen Vorzüge dar, die dieser Theologie zu eigen sind. Hinzu kommt bei Härle ein hohes organisatorisches Talent bis hinein in Fragen des „leidigen Mammons“. So war er Mitherausgeber der Theologischen Realenzyklopdie ebenso wie der Zeitschriften Lutherische Monatshefte und Zeitzeichen, Mitbegründer des Theologischen Arbeitskreises Pfullingen (TAP) und dessen langjähriger Kassenwart. 1978 erfolgte – nach einer Dozentenstelle für Philosophie in Groningen (NL) – der erste Ruf auf eine Professur für Systematische Theologie (Dogmatik und Geschichte der Theologie) an der PhilippsUniversität Marburg. 17 Jahre hielt Härle dieser Fakultät die Treue, bevor er 1995 als Nachfolger von Wolfgang Huber die Ethikprofessur an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg übernahm. In diesen Jahren wendete sich Härle immer stärker ethischen Fragen zu. Diese bildeten zwar schon immer einen Teil seines Werkes; nun aber erfolgte die Ausarbeitung einer prinzipiellen Grundlegung der Ethik unter der Perspektive eines relationalen Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens. Die bereits in Marburg 1994 gegründete Arbeitsgruppe zur Relationalen Erkenntnistheorie und Ontologie (REO) wurde erweitert um die Fragen einer relationalen Ethik.10 Entscheidende 7 Vgl. Eilert Herms/Lubomir Zak (Hg.): Grund und Gegenstand des Glaubens nach römisch-katholischer und evangelisch-lutherischer Lehre, Tübingen 2008. 8 Vgl. Wilfried Hrle, Systematische Philosophie. Eine Einführung für Theologiestudenten, München/Mainz 21987. 9 Vgl. Wilfried Hrle, Ethik, Berlin/New York 2011. 10 Dokumentiert sind die Ergebnisse dieser beiden Arbeitsgruppen in: Wilfried Hrle (Hg.), Im Kontinuum. Annäherungen an eine relationale Erkenntnistheorie und Ontologie (MThSt 54), Marburg 1999; sowie: Ders. (Hg.), Ethik im

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Anstöße und Weiterführungen erhielt der Ansatz einer relationalen Ontologie und Ethik dabei durch Rückgriff auf die Philosophie von Charles Sanders Peirce und dessen zeichentheoretische Interpretation von Wirklichkeit. Dass bei der ethischen Arbeit das dogmatische und theologiegeschichtliche Interesse nicht auf der Strecke blieb, zeigen neben den Neuauflagen der Dogmatik auch der Aufsatzband zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre sowie die Edition von Quellentexten der neueren evangelischen Theologie.11 Fast zeitgleich mit dem Wechsel von Marburg nach Heidelberg übernahm Härle von Trutz Rendtorff den Vorsitz der Kammer für Öffentliche Verantwortung und wurde damit zu einem wichtigen ethischen Berater der Evangelischen Kirche in Deutschland. Wie bei vielen anderen, die zu dieser Zeit ähnliche Positionen übernahmen, ist auch für Wilfried Härle die Auseinandersetzung um die neuen Biotechnologien und die biopolitischen Optionen ein wichtiges Arbeitsfeld geworden. Dies hatte freilich den Vorteil, den Ansatz einer relationalen Ontologie erneut auf ihre anthropologische und ethische Orientierungsfähigkeit hin prüfen zu können.12 Härle kam hierbei zugute, dass er schon früh, unter anderem in den Auseinandersetzungen um die Kernenergie in den 1980er Jahren13, das interdisziplinäre Gespräch – insbesondere mit Naturwissenschaftlern – gesucht hatte. Zweifelsohne pflegt er bis heute eine heimliche Leidenschaft für diese Disziplinen. So dezidiert und engagiert Härle in den Folgejahren seine Überzeugung von der Menschenwürde vom allerersten (embryonalen) Anfang an vertritt, so sehr bemüht er sich doch, die gleichfalls mit engagierter Verve entgegengebrachten Kritiken argumentativ ernst zu nehmen. Dass selbst EKDDokumente dann nur noch einen Dissens bei gleichzeitigem Teilkonsens wiedergeben können, wie seinerzeit in Fragen der embryonalen Kontinuum. Beiträge zur relationalen Erkenntnistheorie und Ontologie (MThSt 97), Leipzig 2008. 11 Vgl. Wilfried Hrle, Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York 2008, sowie: Ders. (Hg.), Grundtexte der neueren evangelischen Theologie, Leipzig 2007. 12 Dazu siehe: Wilfried Hrle, Würde. Groß vom Menschen denken, München 2010; Ders., Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik, Leipzig 2007 und einige Beiträge in: Ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005. 13 Vgl. die immer noch lesenswerte und jetzt wieder Aktualität erlangte kleine Schrift: Wilfried Hrle, Ausstieg aus der Kernenergie? Einstieg in die Verantwortung, Neukirchen-Vluyn 1986.

Einführung

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Stammzellforschung, mag die einen erschrecken; man kann dies aber auch als ein Aushalten genau jenes „positionellen Pluralismus“14, für den sich Härle immer wieder stark gemacht hat, werten. 2005 gründete Härle gemeinsam mit dem Mediziner Claus Bartram das Interdisziplinäre Forum für Biomedizin und Kulturwissenschaften Heidelberg (IFBK). Ziel dieses – sich in den folgenden Jahren personell und thematisch ausweitenden – Forums war und ist es, interdisziplinär über Grundsatzprobleme wie Anwendungsfragen im Zusammenhang unterschiedlicher Menschenbilder und des Begriffs der Menschenwürde ins Gespräch zu kommen, und zwar so, dass diese bisher weitgehend isoliert geführten Diskurse miteinander verbunden werden. Das Projekt sollte in den folgenden Jahren einen wesentlichen Beitrag zum Profil der Heidelberger Universität im Kontext der Exzellenzinitiative leisten. Nicht unerwähnt bleiben soll schließlich die viel beachtete Studie Wachsen gegen den Trend aus dem Jahr 2008, mit der Härle durch das Bekanntmachen punktuell vorbildlich gelingender Gemeindepraxis ein Zeichen gegen die Phantasielosigkeit vieler Kirchenleitungen setzte, die in Zeiten sinkender Mitgliederzahlen und Kirchensteuereinnahmen lediglich auf Mangelverwaltung und geordneten Rückzug zu setzen scheinen.15 ***

„Niemand ist eine Insel…“ – der Titel dieser Festschrift, die dem Jubilar zur Vollendung seines siebten Lebensjahrzehnts zugeeignet ist, fügt sich somit in mehrfacher Hinsicht in sein Lebenswerk. Zum einen kennzeichnet er die sachliche Mitte, die mit den Stichworten von relationaler Ontologie und einer auf dem Boden der reformatorischen Rechtfertigungslehre entworfenen Anthropologie gerade umschrieben worden ist. Sucht man einen Beleg im Oeuvre des Autors, so ließe sich auf den entsprechenden Aufsatz im Sammelband Menschsein in Beziehungen verweisen, der ebenfalls mit diesem Leitmotiv spielt.16 14 Vgl. Wilfried Hrle, Aus dem Heiligen Geist. Positioneller Pluralismus als christliche Konsequenz, in: LM 37/1998, H. 7, 21 – 24. 15 Vgl. Wilfried Hrle u. a., Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärts geht, Leipzig 2008. 16 Vgl. Wilfried Hrle, „Born for Eternity“, in: Ders., Menschsein in Beziehungen (s. o. Anm. 12), 433 – 447. Bei diesem Text, der mit einem John Donne-

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„Niemand ist eine Insel…“ – dieses Zitat von John Donne charakterisiert zum anderen aufs trefflichste das theologische und kirchliche Engagement des akademischen Lehrers Wilfried Härle, das weit über die Grenzen der Universität hinaus reicht. Härle hat theologische Existenz immer so verstanden, dass sie sich in einer Mehrzahl von Öffentlichkeiten zu positionieren weiß: in der Kirche und den Gemeinden gleichermaßen wie in akademischen Institutionen und der breiteren gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Zeugnis davon geben die vielfältigen Aufgaben und ehrenamtlichen Tätigkeiten, die Härle selbst in den vergangenen dreißig Jahren übernommen hat. Einige haben hier bereits Erwähnung gefunden. Ergänzt werden könnten noch seine politische Beratungstätigkeit in der Enquete-Kommission des deutschen Bundestags „ Ethik und Recht der modernen Medizin“ (2002 – 2005) oder sein Einsatz für Erhalt und Verbesserung der Ausbildung des theologischen Nachwuchses im Rahmen des Evangelisch-Theologischen Fakultätentages, dessen Vorsitz Härle in den Jahren 1998 – 2002 innehatte. „Niemand ist eine Insel…“ – erst recht nicht der Mensch, um dessen Würde und dessen Bestimmung als Person in Verantwortung vor Gott und den Menschen es geht. Die Beiträge in diesem Band nehmen ein zentrales Motiv der Theologie Härles auf und gehen diesem auf eigene Weise nach. Dabei spiegelt sich in der Unterschiedlichkeit der Zugänge der Facettenreichtum wider, der die Arbeiten von Härle kennzeichnet. Das Titelzitat der Festschrift erläutert Christoph Schwçbel in seinem einleitenden Beitrag No man is an island – Erwgungen zu John Donne’s „Devotions upon Emergent Occasions XVII“. In einer detailreichen Rekonstruktion und Interpretation der in den Devotions entfalteten Theologie Donnes zeigt Schwöbel, wie Menschsein in christologischer, ekklesiologischer und eschatologischer Perspektive als konstitutiv relational zu begreifen und als noch zu vollendendes stets Menschsein im Werden ist. Die folgenden Beiträge der Festschrift sind dann in vier thematische Abschnitte untergliedert. Der erste Abschnitt enthält sieben Aufsätze, deren gemeinsamer Fokus sich durch die Überschrift Reformatorische Einsichten charakterisieren lässt. Athina Lexutt stellt in einer Auseinandersetzung mit der „Ost-Denkschrift“ der EKD (1965) und auf dem Hintergrund lutherischer Theologie den Zusammenhang von Heimat Zitat beginnt, obwohl sein Titel eine Formulierung von Martin Luther King Jr. aufgreift, handelt es sich in Teilen um einen Vortrag vor der EKD-Synode 2002, die das Thema „Was ist der Mensch?“ zum Schwerpunkt hatte.

Einführung

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und Rechtfertigung heraus und rückt von hierher das Suchen nach Heimat in den größeren Horizont der Gnadenzusage Gottes ein, von woher menschliche Beheimatungen begrenzt werden. Wilhelm Christe untersucht Luthers Formel „simul iustus et peccator“ auf ihren Erfahrungsbezug hin: In der Beschreibung von Identität und Nicht-Identität erhält die prozessuale Selbstwerdung des gerechtfertigten Sünders, dessen Identität im Werden ist, ihre theologische Deutung, die für die Selbstwahrnehmung des „simul iustus et peccator“ erhellend wirkt. Unterschiede und Anknüpfungspunkte zwischen der konfuzianischen und der lutherischen Gerechtigkeitslehre bilden das Thema der Abhandlung von Pilgrim W. K. Lo. Im Unterschied zum reformatorischen Verständnis wird Gerechtigkeit im Konfuzianismus nicht soteriologisch, sondern als Selbstkultivierung der Person verstanden. Manfred Marquardt konstatiert einen Übersetzungsbedarf des theologischen Rechtfertigungsbegriffs (angesichts seiner außertheologischen Begriffsverwendung) und nähert sich dieser Aufgabe am Beispiel der Gewährung von Ansehen und Anerkennung an. Das Evangelium von Jesus Christus zeigt, wie Gott die Menschen ansieht. Ausgehend vom Klagegebet Jes 64,1 setzt sich dann Oswald Bayer mit der Kategorie des Trostes auseinander, die er als Gottesprädikat, als Heil und als Kern der Christusbotschaft identifiziert. Trost muss zugesprochen werden, und solcher Zuspruch geschieht in der Christusoffenbarung, in der Gott sich als der vermittelt, der gewiss hält, was er zusagt. Am Beispiel der Rechtfertigungserfahrung und Rechtfertigungstheologie des Apostels Paulus aktualisiert Eilert Herms das gemeinsam von ihm und Wilfried Härle im Jahr 1980 erarbeitete Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens als die durch das Widerfahrnis der Rechfertigung geprägte spezifische Sicht der Wirklichkeit. Dieses spezifische aus der Rechtfertigungserfahrung gewonnene Wirklichkeitsverständnis wird als eine erweiterte Sichtfähigkeit des Herzens der Person beschrieben, das sich auf Gott hin ausrichten lässt und von hierher Gewissheit erfährt. Sibylle Rolf schließlich geht in einer Analyse von ausgewählten Weihnachtspredigten Martin Luthers dessen als relational und kommunikativ zu beschreibendem Wirklichkeitsverständnis nach. Dabei arbeitet sie vor allem die affektgesättigte, „zu Herzen gehende“ Sprache der Predigten des Reformators heraus. Die sechs Aufsätze des zweiten Abschnitts richten von theologischer wie nicht-theologischer Warte aus Philosophische und Psychologische Perspektiven auf die Anthropologie. Zu Beginn fragt Hermann Deuser nach der Bedeutung von Religiosität im Zusammenhang der menschlichen Evolution. Unter dem Titel „Warum haben nur Menschen Religion“

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wird in semiotischer Perspektive der Eigentümlichkeit von Religion und Gottesglaube als erfülltes Gewahrwerden und Erfassen seiner Selbst wie seines kreativen Grundes nachgegangen. Michael Welker setzt sich in seinem Beitrag mit den Impulsen auseinander, die in der jüngsten Zeit durch integrative Ansätze in der Anthropologie gegeben wurden. Im Zentrum seiner Beschäftigung steht dabei Matthias Jungs Anthropologie der Artikulation. Welker weist nicht nur nach, wie fruchtbar interdisziplinäre Ansätze für die Überwindung „cartesianischer Dualismen“ sein können, sondern zeigt darüber hinaus auf, worin die Rolle einer im expressiven Kontinuum (von Natur und Geist) denkenden, pneumatologisch orientierten theologischen Anthropologie in diesem Diskurs bestehen könnte. Dabei greift er auf die paulinische Anthropologie zurück und bezieht Ergebnisse eines interdisziplinären Forschungsprojekts unter dem Titel „The Depth of the Human Person“ ein. Christian Polke nimmt auf die neuzeitliche Debatte über die Personalität Gottes in einer Würdigung der Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis Bezug. Dessen Beitrag sieht er darin begründet, dass Jacobi den Gottesgedanken aus einer handlungstheoretischen Metaphysik der Person erschließt und es ihm so gelingt, die Vorstellung eines personalen Absoluten aus fundamentalanthropologischer Sicht und jenseits abstrakter Subjektivitätsparadigmen zu plausibilisieren. Sodann wird der philosophisch-ethische Ansatz Ayn Rands von Alexander Dietz kritisch gewürdigt. Dietz hält diesen hinsichtlich seiner Betonung der Notwendigkeit einer anthropologischen Bestimmungsvorstellung zur Begründung von Ethik für die theologische Ethik für anschlussfähig, zeigt zugleich aber auch Grenzen der philosophischen und anthropologischen Grundannahmen Rands auf. In seinem gerontologischen Beitrag beschreibt Andreas Kruse – das Titelzitat von John Donne aufnehmend –, warum ältere Menschen ihre Lebenserfahrung in die Gesellschaft einbringen sollten. Selbstverantwortung und Mitverantwortung zeigen sich dabei als zentrale Aspekte einer Verantwortungspsychologie und Verantwortungsethik des hohen Erwachsenenalters, die die Generativität des Menschseins reflektieren. Im Anschluss geht Thomas Fuchs den Phänomenen von Schuld und Gewissen in einer kulturanthropologischen und entwicklungspsychologischen Perspektive nach. Dabei entwickelt er im Gegensatz zur Neurobiologie und in Bezugnahme auf Martin Buber die These, dass wir Schuld in erster Linie als ein überpersönliches ethisches Phänomen verstehen müssen. Hermes Andreas Kick beschreibt vornehmlich aus psychotherapeutischer Sicht die Bewältigung von Verzweiflung als Grenzerfahrung als einen Weg durch Nähe und Distanz, der schließlich in eine Transzendierung

Einführung

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bisheriger Werte und, wenn die Bewältigung gelingt und Fluchtreflexen widerstanden werden kann, in eine persönliche existentielle Erlösungserfahrung münden kann. Der nächste, dritte Abschnitt widmet sich Ethischen Konsequenzen. Johannes Fischers Beitrag stellt eine ebenso eingehende wie einfühlsame Auseinandersetzung mit dem ethischen Ansatz von Wilfried Härle dar, nicht zuletzt unter Berücksichtigung von Kontroversen, die beide miteinander im Zuge ihrer gemeinsamen Arbeit in der Kammer für Öffentliche Verantwortung geführt haben. Frank Martin Brunn arbeitet in seinem Beitrag die Bedeutung der Christologie und der Soteriologie für das Verständnis von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde heraus. Dabei zeigen sich anthropologische Implikationen eines christlichen Verständnisses von Menschenwürde, die gegenüber naturalistischen, häufig polemischen Verkürzungen des Menschenwürdegedankens eine Betonung verdienen. Die Problematik der Patientenautonomie von Strafgefangenen erläutert Brigitte Tag an Hand von vier Schweizer Fällen von Hungerstreik im Gefängnis. Den juristischen Hintergrund dieser ethisch wie rechtlich brisanten Frage nach der Reichweite individueller Selbstbestimmung von Straf-, Untersuchungs- und Abschiebehäftlingen bildet in ihrem Beitrag das europäische und eidgenössische Recht sowie das ärztliche Standesrecht. Hartmut Rosenau wiederum widmet sich dem populären ethischen Begriff der Nachhaltigkeit. Nachdem er skizziert hat, dass die Zustimmung zu diesem Begriff wie die Vielfalt der Verständnisse von Nachhaltigkeit auf unterschiedlichen Menschenbildern und deren Schnittmengen beruhen, entwickelt er ein an der biblischen Weisheitsliteratur orientiertes Verständnis von Nachhaltigkeit als theologischen Beitrag zum Nachhaltigkeitsdiskurs. Schließlich begründet Elisabeth Grb-Schmidt, inwiefern die neuen Technologien, die durch die Neurowissenschaften ermöglicht werden und die in die Identität des Menschen selbst hineinreichen, dazu auffordern, das Verhältnis von Ethik, Wissenschaft und Technik neu zu reflektieren und zu bestimmen. Den Fokus des vierten Abschnitts und seiner Aufsätze bildet der Kirchliche Auftrag, in den sich theologische Arbeit stets gewiesen sieht. Konrad Stock geht in seinem Beitrag der metaphorischen Bedeutung nach, die das Motiv des Kampfes für den christlichen Glauben haben kann. Dabei umreißt er eine praxis pietatis als Weltfrömmigkeit. Aus der Sichtweise katholischer Fundamentaltheologie widmet sich Peter Neuner dem Zusammenhang von Schrift und Kirche. Hintergrund seiner Überlegungen sind einerseits die nicht immer ausreichend gewürdigte Tradition kritischer Schriftexegese im katholischen Bereich sowie an-

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dererseits Ausführungen Härles zur Thematik in der dem Verfasser des Beitrags zugeeigneten Festschrift. Rainer Preul entwickelt in seinem Beitrag den Bestimmungsbegriff im Blick auf eine zeitgemäße Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses. Dabei konkretisiert er den Bestimmungsbegriff auf biblischer Grundlage und bringt diese gegen einige zeitgenössische Denkgewohnheiten zur Geltung. Abschließend beschreibt Klaus Tanner, wie allgemeine kulturelle Entwicklungen Einfluss auf die Sozialgestalt und die Soziale Verortung der Kirchen nehmen. Er zeigt beispielhaft, dass der Wandel von Rechtsvorstellungen und Rechtsstrukturen sowie die zunehmende weltanschaulichen Pluralität die Lebenswirklichkeit der Kirche verändern, ohne dass dies ausreichend ekklesiologisch reflektiert wird.

No man is an island Erwägungen zu John Donne’s Devotions upon Emergent Occasions XVII

Christoph Schwöbel 1 „No man is an island“ Unter dem Titel dieser häufig zitierten Zeile John Donnes hat Wilfried Härle auf der EKD-Synode am 24. Oktober 2002 einen Vortrag gehalten, der in den Aufsatz mit dem Martin Luther King entlehnten Titel „Born for Eternity“ eingegangen ist, der in Härles Aufsatzband „Menschsein in Beziehungen“ veröffentlicht ist.1 Härle macht dort nicht nur darauf aufmerksam, wie oft diese Zeile in der Literatur aufgenommen wurde, sondern bietet auch eine Kurzinterpretation des Films „About a boy“ nach dem gleichnamigen Roman von Nick Hornby, in dem einer der Protagonisten, Will Freeman, Donnes negativer Aussage emphatisch entgegenhält: „Doch, ich! Ich bin eine Insel. Ich bin Ibiza“.2 Härle interpretiert den Film als „Beweis für die Richtigkeit des Satzes: ,Niemand ist eine Insel’ – und zwar in der Form eines indirekten Beweises“3. Als theologische These kann das so formuliert werden: „Es ist eines der Grundanliegen evangelischer Theologie, diesen Beziehungscharakter des Menschseins bewusst zu machen und als Grundlage für alles Nachdenken über das Wesen und die Bestimmung des Menschen zur Geltung zu bringen. Deshalb kann sie der These: ,Niemand ist eine Insel’ aus tiefster Überzeugung zustimmen.“4

In äußerster Knappheit: „Menschsein heißt In-Beziehung-Sein.“5 Allerdings qualifiziert Härle diese These sofort durch eine weitergehende 1 2 3 4 5

Wilfried Hrle, „Born for Eternity“, in: Ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, 433 – 447. A.a.O., 434. A.a.O., 433. A.a.O., 435. Ebd.

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Überlegung. Wenn gilt, dass alles Sein In-Beziehung-Sein ist, dann muss noch genauer angegeben werden, „wie sich das Beziehungswesen Mensch von anderen Beziehungswesen unterscheidet, was also sein Spezifikum ist und seine Besonderheit ausmacht“.6 Ausgehend von der Beobachtung, dass die griechische Tradition, paradigmatisch wird Aristoteles genannt, den Menschen als Wesen bestimmt, das Logos hat, zeigt Härle, dass der Logos, wie sich vor allem an der Sprache zeigen lässt, kein ursprünglicher Besitz des Menschen ist, sondern ihm zugesprochen wird, wodurch der Mensch das wesentlich zur Verantwortung gerufene Lebewesen ist. Wird weiter gefragt, vor welchem Forum der Mensch letztgültig Verantwortung zu übernehmen hat, so wird in, mit und über den menschlichen Beziehungen, in denen wir Verantwortlichkeit zu praktizieren haben, die Beziehung zu Gott dem Schöpfer als der Horizont deutlich, in dem wir durch Gott angeredet und zur Verantwortung herausgefordert sind und damit eine auszeichnende Würde erhalten, die uns nicht von endlichen Instanzen zugesprochen und darum auch nicht von ihnen wieder abgesprochen werden kann. Damit die Aussage „Kein Mensch ist eine Insel“ sich nicht von einer Verheißung zu einer Gefährdung des Menschen verkehrt, wenn ihm die ihm zugesprochene Verantwortlichkeit und Würde auch wiederum von anderen Menschen abgesprochen würde, ist sie in einem Rahmen zu verstehen, in dem auch gilt, dass der Mensch durch sein bloßes Dasein als Geschöpf Gottes zur Ewigkeit berufen ist, „born for eternity“, wie es der neue Titel des Aufsatzes unter Aufnahme des Zitats von Martin Luther King formuliert. Die Aussage, dass der Mensch zur Gottebenbildlichkeit geschaffen und berufen ist, qualifiziert sein In-Beziehung-Sein, wie Härle es formuliert, „durch eine Beziehung und Gemeinschaft, in der der Mensch als Gottes Gegenüber in dieser Zeit zur verantwortlichen Gestaltung der Erde beauftragt und in Ewigkeit zur Gemeinschaft mit Gott berufen ist.“7 Sehr pointiert formuliert Wilfried Härle: „Was wir den Menschen, auch uns selbst, schuldig sind, ist die glaubwürdige Rede von der Bestimmung des Menschen zum ,Morgenglanz der Ewigkeit’ (EG 450,1) – nicht nur an Sterbebetten und Gräbern, aber auch dort.“8

Damit lokalisiert Wilfried Härles Argumentation mit sachlicher Notwendigkeit die Frage nach dem Menschsein in Beziehungen in dem 6 7 8

A.a.O., 435. A.a.O., 438. Ebd.

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Zusammenhang letzter Fragen, in dem das Zitat: „no man is an island“ bei John Donne steht. Die Aussage steht, so wie das Ganze der Devotions upon Emergent Occasions auf eine schwere, den Tod nahe bringende Krankheit zurückblickt, im Zusammenhang einer Meditation, die von der Totenglocke ihren Ausgang nimmt, die für einen Sterbenden erklingt. Angesichts des Läutens der Glocke meditiert der Kranke die Solidarität aller Menschen in der Kirche: vom Tod umfangen und zur Ewigkeit berufen. Und in beiden Hinsichten gilt: „no man is an island“.

2 Der Autor: John Donne Johne Donne wurde am 21. Januar 1572 als Sohn einer katholischen Familie in London geboren.9 Die Herkunft aus der recusancy, der katholischen Minderheit, die die Teilnahme am Gottesdienst der Kirche von England verweigerte und darum der Verfolgung, auch in Donnes eigener Familie, teilweise bis zum Martyrium, ausgesetzt war, bildet den Hintergrund der Vertrautheit mit katholischer Lehre und Frömmigkeit, die Donnes Auseinandersetzung mit dem Thema der Religion prägt, auch als er sich mit theologischer Kritik und satirischem Spott von der römischen Kirche abwendet. Nach dem Tod des Vaters durch die Wiederverheiratung der Mutter in einer wohlhabenden Familie aufwachsend, studiert Donne schon mit elf Jahren in Oxford, dann in Cambridge, ohne wegen seiner katholischen Religionszugehörigkeit einen akademischen Grad erwerben zu können. Sein Bruder Henry, Student wie er, wird, weil er einen katholischen Priester versteckt hatte, verhaftet und stirbt an der Pest im Gefängnis. Nach dem Jurastudium, unter anderem am Lincoln’s Inn in London, bereist John Donne Europa, zeitweise unter Sir Walter Raleigh an den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Spaniern bei Cadiz und auf den Azoren teilnehmend, um schließlich mit 25 Jahren im Staatsdienst in London tätig zu werden. 1601 heiratet er gegen den Willen seines Dienstherrn, des Lord Siegelbewahrers Sir Thomas Egerton, und gegen den Willen ihrer Familie heimlich Egertons Nichte Ann More und wird zusammen mit dem 9

Zur Biography Donnes vgl. Robert Cecil Bald, John Donne: A Life, Oxford 1970 und David L. Edwards, John Donne. Man of Flesh and Spirit, London/ New York 2001. Einen hervorragenden Überblick gibt Jonathan F.S. Post, Donne’s life: a sketch, in: Achsah Guiborry (Hg.), The Cambridge Companion to John Donne, Cambridge 2006, 1 – 22.

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Priester, der die Hochzeit vollzogen hatte, und dem Trauzeugen kurzzeitig inhaftiert, bis die Gültigkeit der Ehe festgestellt wird. Seine glänzend begonnene Karriere ist ruiniert, und er verdient den Lebensunterhalt seiner wachsenden Familie, immer von der Unterstützung von Freunden abhängig, mühsam als Anwalt auf dem Land, bis die Familie nach der Versöhnung mit Anne Mores Familie deren Mitgift erhält. 1601 wird er (später noch einmal 1614) ins Parlament gewählt, damals noch eine Aufgabe ohne Diäten. Nachdem er sich durch zwei anti-katholische Streitschriften, Pseudo-Martyr (1610) und Ignatius his Conclave (1611) einen Namen gemacht hat, wird er, ob auf Weisung oder mit dem Einverständnis des Königs, als Geistlicher der Kirche von England ordiniert. Wann genau er sich vom katholischen Glauben abgewandt und der anglikanischen Kirche zugewandt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Donnes Mitarbeit an dem unter dem Namen seines Förderers Thomas Morton, dem Dean of Gloucester und späteren Bischof von Durham, publizierten Werks A Catholike Appeale for Protestants (1609), einem Kompendium anti-katholischer Kontroverstheologie, gilt als gesichert. Doch auch als Protestant behält Donne ein geschärftes Bewusstsein für die Universalität der geglaubten katholischen Kirche, die sich in der römischen und in der anglikanischen Kirche manifestiert.10 Nach seiner Ordination wird Donne königlicher Hausgeistlicher, theologischer Lehrer (Reader in Divinity) an seiner alten juristischen Ausbildungsstätte Lincoln’s Inn (1616) und kann nun als Mitglied der Kirche von England 1618 auch den theologischen Doktorgrad der Universität Cambridge in Empfang nehmen. Mit Viscount Doncaster, der als Diplomat der englischen Krone bei den deutschen Fürsten tätig ist, hält er sich in Deutschland auf. Bei seiner Rückkehr wird er Dean von St. Paul’s Cathedral (1620 bis zu seinem Tod 1631), zusätzlich 1624 Pfarrer der Gemeinde St. Dunstan-in-the-West (1624) und erneut königlicher Hofgeistlicher bei Charles I. Nach einer schweren Krankheit im November/Dezember 1623 – die Gelehrten streiten, ob es Typhus oder ein wiederkehrendes Sieben-Tage-Fieber war – verfasst er Devotions upon Emergent Occasions. Am 31. März 1631 stirbt Donne, nun als Prediger hochgeehrt, wenige Tage nachdem er am 25. Februar 1631 die berühmte Predigt Death’s Duel in Whitehall in Anwesenheit des Königs gehalten hatte. 10 Vgl. dazu Alison Shell, Arnold Hunt, Donne’s religious world, in: Achsah Guiborry (Hg.), The Cambridge Companion to John Donne, Cambridge 2006, 65 – 82.

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John Donne gilt als wichtigster Vertreter der „metaphysical poets“, eine Bezeichnung, die Samuel Johnson populär gemacht hat.11 Seine Dichtung, sowohl die erotische, oft spielerisch Motive aus Ovid aufnehmende Dichtung seiner frühen Jahre, als auch seine gesellschaftskritischen Satiren und seine religiösen Werke sind von metaphysischen Beziehungen durchzogen, die durch die Technik des „metaphysical conceit“ literarisch Ausdruck finden, eine metaphorische Beziehung zweier Bedeutungsebenen, die, ursprünglich verschiedenen Bereichen zugehörig, so kunstvoll miteinander verwoben werden, dass sie dem Leser das Zugeständnis der Ähnlichkeit angesichts größter Unähnlichkeit abnötigen. Diese literarische Technik der überraschenden Beziehung im Kontrast der Oberflächenbedeutungen, den neoklassischen Dichtern der Folgezeit als Missbrauch der Metapher verpönt, ist jedoch – wie Donne in seinen theologischen Werken herausarbeitet – nicht ohne tiefe theologische Bedeutung und Begründung.

3 Die drei Bücher: Johns Donnes Theologie eines metaphorischen Gottes John Donnes Theologie und seine Frömmigkeit sind ganz auf die Sprache, die Kommunikation zwischen Gott und Mensch konzentriert. Gottes schöpferisches Wort schafft die Welt, in der Gott der Sohn Fleisch wird, und der Heilige Geist „enables us to apprehend, and to apply to ourselves, the promises of God in him“.12 Die Sprache ist das Medium der Beziehung zwischen Gott, der Welt und den Menschen. Der Charakter der Sprache, der Kommunikativität eignet allen Werken Gottes, und sie ist darum auch der Schlüssel zur menschlichen Existenz: Von Gott angeredeter und zur Antwort herausgefordert, lebt der Mensch inmitten einer Welt, die zeichenhaft verschlüsselt Gottes Anrede an den Menschen ist. In allem Geschaffenen ertönt die Stimme des Schöpfers und sein eigenes In-Beziehung-Sein versteht der Mensch erst dann wahrhaft, wenn er in allen Beziehungen seines Daseins Gottes Stimme hört und sich durch 11 Vgl. Helen Gardner, The Metaphysical Poets, Oxford 1961 (zuvor 1957 als Penguin book publiziert. Außer Donne zählen zu den „metaphysical poets“ z. B. George Herbert (1572 – 1631), Andrew Marvell (1621 – 1678) und Thomas Traherne 1636/37 – 1674. 12 John Donne, Sermons, hg. v. George R. Potter und Evelyn M. Simpson, 10 Bde, Berkeley/Los Angeles, 1953 – 1962, Bd. 3, Nr. 1, 52.

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sie zur Kommunikation mit Gott herausfordern lässt: in Lob und Dank wie in der Klage, im Bekenntnis der Sünde und der Verworfenheit wie im bekennenden Vertrauen auf Gottes unendliche Gnade. Die Außenwelt der Erfahrung in Raum und Zeit kommuniziert die Stimme Gottes, die in der Innenwelt des Menschen aufgenommen und beantwortet werden will. Die Leiblichkeit des Menschen13 ist so die Brücke zwischen der Erfahrung der Stimme Gottes in der Außenwelt und ihrem zur Antwort provozierenden Echo in der Innenwelt des Menschen, der Welt der Affekte, des Gewissens und der Rationalität. Donnes Frömmigkeit kann so die äußere Welt, in die der Mensch durch seine Leiblichkeit einbezogen ist, als Emblem der Anrede Gottes erfahren und die innere Welt als sinnlichen Ort der Austragung der Gottesbegegnung, in der Affekt, Wille und Vernunft durch die kommunizierten Zeichen der Anrede Gottes für den Menschen transparent werden. Die Bestimmtheit der Kommunikation Gottes in der geschichtlichen Lebenswelt und in der leiblichseelischen Innenwelt wird durch die Bibel transparent, die so das Medium zum Verständnis der Anrede Gottes in der Schöpfung und das Medium der geschöpflichen Antwort des Menschen ist, seiner responsorischen Existenz im Gespräch mit Gott. Alle Beziehungen, in denen der Mensch lebt, sind kommunikative Beziehungen. Für den Menschen gilt: InBeziehung-Sein heißt Im-Gespräch-Sein – mit Gott, mit der Außenwelt und mit sich selbst. Donnes Ermahnung an seine Predigthörer, ihr Leben als Sprechen von Gott, mit Gott und zu Gott zu führen, ist nichts anderes als seine Zusammenfassung der conditio humana.14 Eine präzise Zusammenfassung dieses Gottes-, Welt- und Selbstverständnisses hat Donne in den Essays in Divinity gegeben, die nach seinem Tod von seinem Sohn John Donne herausgegeben wurden.15 Die Worthaftigkeit wird im Wesen Gottes selbst verankert. Donne betont unter Anspielung auf Joh 19,23, wo die Soldaten bei der Kreuzigung Jesu

13 Vgl. den instruktiven Aufsatz der Romanautorin und Literaturhistorikerin Antonia S. Byatt: Feeling thought: Donne and the embodied mind, in: Achsah Guiborry (Hg.), The Cambridge Companion to John Donne, Cambridge 2006, 247 – 257. 14 Die Formel „of God, and with God and for God“ zu sprechen, wird in den Predigten formuliert (Sermons, Bd. VIII, Nr. 4, 119) und ist der Leitfaden, anhand dessen Helen Wilcox Donnes Erbauungsschriften vorstellt. Vgl. Helen Wilcox, Devotional Writing, in: Achsah Guiborry (Hg.), The Cambridge Companion to John Donne, Cambridge 2006, 149 – 166. 15 John Donne, Essays in Divinity, hg. v. Augustus Jessop, London 1855.

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Rock nicht teilten, die Unteilbarkeit des Wortes Gottes und seinen engsten Zusammenhang mit Gottes Wesen. „No garment is so near GOD as His word: which is so much His, as it is He. His flesh, though dignified with unexpressible privileges, is not so near God as His word: for that is Spiritus oris [Ps 33, 6]. And in the Incarnation the act was only of one person, but the whole Trinity speaks in every word.“16

Im Rahmen dieser Beziehung von Gott und Wort unterscheidet Donne nun in den Essays on Divinity und an anderen Stellen in seinem Werk, drei Bücher17: Zunächst werden die beiden Bücher des Lebens vorgestellt: „God hath two Books of life; that in the Revelation which is an eternal Register of His elect; and this BIBLE.“18

Um die Bedeutung des ersten Buches zu erklären verweist Donne auf Apk 3,5 („Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden, und ich werde seinen Namen nicht austilgen aus dem Buch des Lebens.“) und auf Jes 29,11: „Darum sind euch alle Offenbarungen wie die Worte eines versiegelten Buches, das man dem gibt, der lesen kann, und spricht: lies doch das!, und er spricht: ,Ich kann nicht, denn es ist versiegelt.’ Donne sagt darum von diesem ersten Buch des Lebens, dem „eternal Register“: „So far removed from the search of learning are those eternal decrees and rolls of God, which are never certainly and infallibly produced and exemplified in foro exteriori, but only insinuated and whispered to our hearts, Ad informandam conscientiam judicis, which is the conscience itself.“19

Das andere Buch des Lebens – Donne bezieht sich auf Jes 29,12, das Buch, das dem gegeben wird, der nicht lesen kann – ist die Bibel, die mit „inward humility and outward interpretations“ gelesen werden soll. Die Bibel besitzt Gewissheit, Würde und Suffizienz. Sie bedarf keiner zusätzlichen Bezeugung und keiner unabhängigen Vernunftgründe, denn ihr Gegenstand, „the next life“ übertrifft alle Beschäftigung mit diesem Leben und der Weg ihrer Mitteilung geht auf Offenbarung zurück. 16 A.a.O., 101. 17 Vgl. die Einleitung zu A. Raspas kommentierter Ausgabe der Devotions upon Emergent Occasions: John Donne, Devotions Upon Emergent Occasions, ed. with commentary by Anthony Raspa, Montreal/London 1975, Introduction XIIILVI, bes. XXVIIff. 18 Donne, Essays (s. o. Anm. 15), 11. 19 A.a.O., 12.

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Zudem bezeichnen in ihr, wie Donne unter Berufung auf Nikolaus von Lyra feststellt, nicht nur Worte Dinge (das hat sie mit anderen Büchern gemeinsam), sondern diese bezeichneten Dinge bezeichnen wiederum andere Dinge – die Grundannahme der typologischen Bibelauslegung.20 Jes 29,18 („Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen“) bezieht Donne auf das liber creaturarum, das Buch der Geschöpfe. Hier setzt er sich – wie Montaigne in den Essais (livre II, chapitre 12) – mit dem Anspruch der natürlichen Theologie des katalanischen Theologen Raimund von Sabunde in seinem Werk Theologia naturalis seu liber creaturarum (verfasst 1434/36) 21, das die Rede vom Buch der Geschöpfe populär gemacht hatte, auseinander, das Buch der Geschöpfe sei universal zugänglich und darum klarer als die Bibel. Allerdings stellt Donne in Frage, dass das Buch der Geschöpfe uns die Besonderheiten der christlichen Religion lehren könne und argumentiert mit Paulus (Röm 1,20) „yet St. Paul clears it thus far, that there is enough to make us inexcusable, if we search no further. And that further step is the knowledge of this Bible, which only after Philosophy hath evicted and taught as an Unity in the Godhead, shows also a Trinity.“22

Wie sind nun diese drei Bücher einander zuzuordnen? Das erste Buch des Lebens, in dem die Namen der Erwählten aufgezeichnet sind, erschließt sich nur dem „Flüstern“ des Herzens, dem forum internum des Gewissens. Es ist die Einsicht der Erwählten in den Stand ihrer Erwählung. Damit 20 A.a.O., 15 f.: „As then this life, compared to blessed eternity is but a death, so the books of philosophers, which only instruct this life have but such proportion to this Book; which hath Certainty (for no man assigns to it other beginning than we do, though all allow not ours); Dignity (for what author proceeds so sine teste? –and he that requires a witness believes not the thing but the witness;) and a Non notis (for hewhich requires reason believes himself, and his own approbation and allowance for reason). And it hath Sufficiency, for it either rejecteth or judgeth all traditions. It exceeds all others in the Object, for it considers the next life; in the Way, for it is written by revelation; yea, the first piece of it which was ever written, which is the Decalogue, by God’s own finger. And as Lyra notes, being perchance too allegorical and typic in this, it hath this common with other books, that words signify things; but hath this particular, that all things signify other things.“ 21 Raimund von Sabunde, Theologia naturalis seu liber creaturarum. FaksimileNeudruck der Ausgabe Sulzbach 1852. Mit literargeschichtlicher Einführung und kritischer Edition des Prologs und des Titulus I von Friedrich Stegmller, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966. Vgl. Walter Andreas Euler, Art. Raimund von Sabunde, in TRE 28 (1997), 125 – 129. 22 Donne, Essays (s. o. Anm. 15), 15.

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aber kennen sie im Gewissen das Ziel der Kommunikation Gottes mit der Welt und so auch das Ziel des Prozesses der Geschichte. Geschichte ist im Blick auf Gottes Zielsetzung Heilsgeschichte. Aber diese Einsicht bleibt für die Erwählten eine Herzenseinsicht, die nicht durch äußere Zeichen direkt bestätigt oder in eine allgemeine Theorie übertragen werden kann. Dennoch ist sie die Pointe dessen, was im Lesen der Bibel an Einsicht gewonnen werden kann, und sie erschließt die zielgerichtete Logik des Buches der Schöpfung. Alles, was aus der Perspektive dieser Herzenseinsicht erkannt werden kann, muss sich auf die Bibel stützen, die zugleich das in sich immer wieder ambivalente Buch der Schöpfung klar macht. Die Bibel ist so – wie Anthony Rasp formuliert23 – die „Brücke“ zwischen dem Buch der Geschöpfe und dem Verzeichnis der Erwählten. Sie bringt die Phänomene der leiblichen Welterfahrung im Zeichensystem der biblischen Überlieferungen, die typologisch aufeinander verweisen, zur Klarheit und verbindet sie mit der Herzenseinsicht in das Ziel des Weltprozesses, die jedoch niemals spekulativ verallgemeinerbar ist, sondern nur im Wissen der Erwählten um ihre Erwählung gegeben ist und in allen Anfechtungen im dauernden Dialog mit Gott, im Gebet, bewährt wird. Der Zusammenhang der drei Bücher erschließt dem Theologen und dem Dichter eine geordnete Welt kommunikativer Beziehungen, die im Reden und Handeln Gottes ihren Grund und ihr Ziel hat. In den Devotions findet das bestechenden Ausdruck im Blick auf Gottes Wort und im Blick auf Gottes Werk. Donne hält an der Priorität des Literalsinns fest, aber es ist gerade der Text in seinem Literalsinn und nicht eine Technik der Auslegung, die Gott als einen „metaphorischen Gott“ erschließt, der den Sinn seines Wortes und den Sinn seines Werkes auch auf dem Weg metaphorischer Übertragung mitteilt. So heißt es in der neunzehnten Expostulation: „My God, my God Thou art a direct God, may I not say a literall God, a God that wouldest be understood literally, and according to the plaine sense 23 „This bridge, the Bible, between the Book of Creatures and Register of the Elect was a work directly inspired by God. In Donne’s thought, God had it written by his amanuenses. …The amanuenses wrote by prototype and copy. At Fod’s command they recorded historical incidents occurring in biblical timest hat he considered exemplary for future generations of men. Man could use these incidents to identify the meaning of history in the present fort he benefit of his salvation. The whole Bible was made of telling facts, with a significance readily identifiable by the inspired heart in the spiritual world of the Register of the Elect God’s.“ Raspa, Introduction (s. o. Anm. 17), XXIX.

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of all that thou saiest? But thou art also (Lord I intend it to thy glory, and let no prophane mis-interpreter abuse it to thy dimunition) thou art a figurative, a metaphoricall God too: A God in whose words there is such a height of figures, such voyages, such peregrinations to fetch remote and precious metaphors, such extensions, such spreadings, such Curtaines of Allegories, such third Heavens of Hyperboles, so harmonious elocutions, so retired and so reserved expressions, so commanding perswasions, so perswading commandments, such sinews even in thy milke , and such things in thy words, as all prophane authors, seeme of the seed of the Serpent, that creepes; thou are the dove, that flies.“24

Die metaphorische Vielgestaltigkeit Gottes in seinem Wort hat zur Folge, dass es aus unterschiedlichen Gründen von unterschiedlichen Menschen geglaubt werden kann. Führt im einen Menschen „the reverent simplicity“ zum Glauben, ist es im anderen „the majesty of the Word“. Die Verschiedenartigkeit der Aufnahme, ermöglicht durch die Vielgestaltigkeit der Mitteilung, dokumentiert aber die Einheit der Menschheit, die in der Einheit Gottes und seines Wortes in seinen unterschiedlichen Wirkweisen begründet ist. „So Lord, thou givest us the same Earth, to labour on and to lie in; a house, and a grave, of the same earth; so Lord, thou givest us the same Word for our satisfaction, and for our Inquisition, for our instruction, and for our Admiration too; …“25

Dieser Zusammenhang zwischen dem literalen, einfachen Sinn und der metaphorischen Übertragung ist in der Einheit Gottes begründet, der sowohl „a direct God“, a „literall God“, als auch „a metaphoricall God“ ist. Es geht also streng genommen nicht um einen literalen und metaphorischen Textsinn, sondern um die literale und metaphorische Selbstmitteilung Gottes in seinem Wort. Diesen Zusammenhang kann Donne nun auch in den Werken Gottes aufweisen. „Neither art thou thus a figurative a Metaphoricall God in thy word only, but in thy workes too. The stile of thy works, the phrase of thine Actions, is Metaphoricall. The institution of thy whole worship in the old Law, was a continuall Allegory; types & figures overspread all; and figures flowed into figures , and powered themselves out into further figures; Circumcision carried a figure of Baptisme; & Baptisme carries a figure of that purity, which we shall have in perfection in the new Jerusalem. Neither didst thou speake, and worke in this language, onely in the time of thy Prophets; but since thou spokes in thy Son, it is so too. How often, how much more often doth thy Sonne call himselfe a way, and a light, and a gate, and a Vine, and a bread, than the Sonne of God, 24 Donne, Devotions (s. o. Anm. 17), Nineteenth Expostlation, 99. 25 Ebd.

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or of Man? How much oftener doth he exhibit a Metaphoricall Christ, than a reall, a literall?“26

Die Bedeutungsübertragung ist nach Donnes Verständnis ein Charakteristikum des Handelns Gottes, das so mit literarischen Kategorien beschrieben werden kann („stile“, „phrase“, „types“, „figures“, „language“). Gottes Handeln ist kommunikatives Handeln, das kommunkative Beziehungen schafft. Wiederum wird durch das christologische Beispiel unterstrichen, dass das nicht primär eine Eigenschaft ist, die Menschen an der Sprache Gottes in seinen Werken wahrnehmen, sondern eine Eigenschaft des Handelns Gottes selbst. Sein Handeln ist kreative Bedeutungsübertragung, schöpferische Sinnsetzung in der Beziehung seiner Werke. Das Handeln Gottes enthält so eine synchrone semantische Struktur der Bedeutungsbeziehungen dessen, was Gott in jedem Moment schafft, und eine diachrone semantische Struktur, in der durch die Mittel der Typologie und des figurativen Redens das Handeln Gottes im Alten Bund, in Christus und sein eschatologisches Ziel miteinander verbunden werden. Für Donne steht aber noch ein anderer Aspekt im Vordergrund. Gott ist nicht nur ein metaphorischer Gott in seinem Wort und in seinen Werken, sondern lädt dadurch die Menschen ein, auch zu Gott einen Zugang in der Sprache zu suchen, in der Gott zu ihnen spricht: „to make their access to thee in such a kind of language, as thou wast pleased to speak to them, in a figurative, in a Metaphoricall language“27

Da Gott auch in seinen Werken „a Metaphoricall God“ ist, befähigt und ermächtigt er die Menschen, in derselben Sprache sich auch an ihn zu wenden: die Phänomene ihres Lebens in der metaphorischen Sprache der göttlichen Selbstmitteilung in seinen Worten und Werken vor ihn zu bringen. Das begründet den Sprachgestus von Donnes Rede zu Gott in den Devotions, in denen die Symptome seiner Krankheit sprachliche Zeichen in seinem Gespräch mit Gott werden.28 26 A.a.O., 100. 27 Ebd. 28 Das frappierendste Beispiel für diesen Sprachgestus ist in den Devotions der Hautausschlag („spots“) als Symptom einer malignen Krankheit in der 13. Devotion (a.a.O., 67 – 70). In der Expostulation stellt er die Frage: „My God, my God, thou hast made this sick be thine Altar, and I have no other Sacrifice to offer, but my self; and wilt though accept no spotted sacrifice?“ (68) Die biblischen Zitate, die in heilsgeschichtlicher Reihenfolge angeführt werden, deuten auf die Heilsbedeutung des Ausschlags als Zeichen der Krankheit hin, als Zeichen der

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Die Devotions zeigen sehr deutlich, dass dies nicht zu einer Sprache führt, die in allegorischer Willkürlichkeit die Phänomene des Lebens deutet. Die phainomena des Lebens sind so eigentlich die legomena des göttlichen Wortes und des göttlichen Werkes, und sie erschließen sich in der Zuordnung der drei Bücher, des „Register of the elect“, der Bibel und des liber creaturarum.

4 Das Werk: Anlass und Struktur der Devotions upon emergent occasions Im Herbst 1623 erkrankt John Donne an einer lebensgefährlichen Krankheit. War es Typhus oder eine Virusinfektion, die im Herbst und Winter 1623/24 in London wütete? Die Beschreibung der Symptome, die Donne in seinem Werk selbst gibt, lassen keinen klaren Schluss zu. Nach seiner Genesung im Dezember macht sich Donne sofort an die Abfassung der Devotions. Schon Anfang Januar ist das Manuskript in der Druckerei. Die Devotions sind das Dokument einer durch die Krankheit veranlassten intensiven geistlichen Bemühung um das Verständnis des eigenen Lebens im Kontext der Kommunikationsgeschichte Gottes mit den Menschen. Im Paradigma der leiblichen Selbsterfahrung des Kranken wird die conditio humana zum Gegenstand der Meditation, der drängenden Anrede Gottes im Zusammenhang der typologisch interpretierten biblischen Zeugnisse in den „Expostulations“ und schließlich zum Thema des jede Devotion abschließenden Gebets. Präzise fasst es der volle Titel zusammen:

Heilsbedürftigkeit der menschlichen Existenz, die als ganze mit allen ihren Fehlern und Entstellung vom Sohn Gottes in der Inkarnation angenommen wurde. So kann der Kranke sagen: „Even my spotts belong to thy Sonnes body, and are part of that, which he came down to earth, fo fetch and challenge, and assume to himself.“ (69 f.) So aber ist der Ausschlag am Körper, ja auch der schlimmere Ausschlag der Seele ein Hinweis auf den erhöhten Menschgewordenen: „…these spotts upon my Breast, and upon my Soule shal appear to me at the Constellations of the Firmament, to direct my Contemplation to that place, where thy Son is, thy right hand.“ (70) Der Ausschlag wird so zum leiblichen Text, in den Gott seinen Namen eingeschrieben hat, um sich so dem Kranken zuzueignen: „The spots are but the letters, in which thou hast written thine owne Name, and conveyed thy selfe to mee“ (ebd.).

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„Devotions upon emergent Occasions, and severall steps in my Sickness: Digested into 1. Meditations upon our Humane Condition, 2. Expostulations, and Debatements with God 3. Prayers, upon the severall Occasions, to him.“

Die Reihenfolge der Kapitel folgt dem Verlauf der Krankheit. Nach dem plötzlichen Beginn der Krankheit (I), die sofort alle Lebensgeister schwächt (II), und den Kranken nötigt, das Bett aufzusuchen (III), wird der Arzt gerufen (IV). Angesichts der Bedrohung der „little World“ (19), die der Mensch in der Vielfalt der Aspekte seiner leiblichen und seelischen Konstitution ist, und die alle von Krankheiten bedroht sind, erscheint der Arzt als „Hercules“ (20), der dem Kranken, dessen Selbsthilfe versagt, Hilfe bringt. Der Arzt kommt (V), unterbricht die Einsamkeit des Kranken, aber er wird angesichts des Zustands des Kranken selbst von Furcht erfasst (VI) und wünscht sich eine medizinische Konsultation (VII). Der König sendet seinen Leibarzt (VIII). Nach dem Konsil verschreiben die Ärzte ihre Medizin (IX). Der Zustand des Kranken bessert sich nicht, die Ursache der Krankheit wird nicht erkannt. „The disease hath established a Kingdom, an Empire in mee, and will have certain Arcana Imperii, secret of State, by which it will proceed, & not be bound to declare them.“ (X, 52)

Stärkungsgetränke werden verabreicht, um die Ausdehnung der Krankheit auf das Herz des Kranken zu verhindern (XI). Um die Einwirkung von Dämpfen auf den Kopf einzudämmen, werden Täubchen als Fußwickel verschrieben (XII). Der Kranke entwickelt einen Hautausschlag (XIII). Die Ärzte interpretieren dies als die Krise der Krankheit (XIV), während der Kranke von konstanter Schlaflosigkeit geplagt wird (XV). Von einer naheliegenden Kirche hört Donne die Totenglocken, die nach dem kanonischen Recht der anglikanischen Kirche für einen Sterbenden geläutet werden: „passing bell“, um anzuzeigen, dass jemand im Sterben liegt, „death knell“, die die Todesstunde anzeigt und „funeral bell“, die zur Beerdigung ruft. Donne beginnt mit dem dritten Läuten (XVI) und behandelt dann das erste (XVII) und zweite Läuten (XVIII).29 Jede der Glocken illustriert einen Aspekt der Sterblichkeit des Menschen und seiner ewigen Bestimmung. Die Ärzte sehen nun Aussicht auf Besserung (XIX), was der Kranke so deutet: Land erscheint am Horizont 29 Vgl. die Kommentierung von A. Raspa in Donne, Devotions (s. o. Anm. 17), 170, Anm. 80 mit den Angaben zu den Constitutions and Canons of the Church of England.

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nach einer langen stürmischen Seereise. Sie beginnen den Reinigungsprozess des Körpers (XX). Wie Lazarus aus dem Grab, darf der Kranke aus dem Bett aufstehen (XXI). Die weitere Behandlung beginnt als Rehabilitation (XXII) und der Kranke wird vor einem Rückfall gewarnt (XXIII). Wie erklärt sich die dreistufige Struktur der Devotions? In der gelehrten Diskussion wird nicht nur der Einfluss der ars moriendi-Literatur diskutiert, sondern vor allem der Einfluss der Exerzitien von Ignatius von Loyola in ihrer Strukturierung durch die drei Seelenvermögen Erinnerung, Verstand und Wille.30 Anthony Raspa hat die Bedeutung der Ignatianischen Exerzitien für die Strukturierung der Devotions bestritten, obwohl er sie für Details für unbestreitbar hält.31 Besonders der ignatianischen Methode der evacuatio sensuum scheint Donne nicht zu folgen, der statt dessen in der Meditation der geschichtlichen Erfahrung des Buches der Geschöpfe folgt. Raspa fasst seinen Gegenvorschlag so zusammen: „In Devotions, this structure reconciles the aim of Ignatian meditation to Donne’s understanding of the two Books of Life and the Book of Creatures. The division of Meditation, Expostulation, and Prayer in his decotions … permitted him to create a literary work fusing biblical prototypes and their copies in the Book of Creatures into a literary form that had an aesthetic effect on the reader akin to the ascetic experience of Ignatius.“32

Folgen wir Raspas Beziehung auf die drei Bücher, die beiden Bücher des Lebens und das Buch der Geschöpfe, wie sie in den Essays in Divinity und an anderen Orten entwickelt wird, lässt sich im Anschluss an Raspa folgende Interpretationsthese formulieren. In der „Meditation“ beginnt Donne jeweils mit der Auslegung des Buchs der Geschöpfe anhand seiner eigenen leiblichen Erfahrung, die dann in der „Expostulation“ durch die Heranziehung von Schriftstellen in die Zeichenwelt der Bibel eingetragen wird, die prototypisch Donnes Erfahrung der Phänomene in die biblische Zeichenwelt integriert. Im abschließenden „Prayer“ wird der Dreischritt vollendet, indem Donne sich im Bewusstsein seiner Erlösungsgewissheit an Gott wendet und die Beschreibung der Phänomene, 30 Eine ausführliche und instruktive Diskussion bietet Sister Elizabeth Savage, John Donne’s Devotions upon Emergent Occasions. A Critical Edition with Introduction & Commentary, Salzburg Studies in English Literature. Elizabethan & Renaissance Studies 21, Salzburg 1975. Zur Ars Moriendi Tradition vgl. XXXVII-LVI; zur ignatianischen Tradition der Meditation LVII-LXXX. 31 Vgl A. Raspas Introduction, in: Donne, Devotions (s. o. Anm. 17), XXXIXXXIX. 32 A.a.O. XXXIX.

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die Eintragung in die biblische Zeichenwelt in das Gespräch mit Gott überführt, das die Gewissheit der Gnade angesichts größter Sünde zur Voraussetzung und zum Gegenstand hat. Das durch die drei Bücher gegliederte Zeichenuniversum – so könnte die These in verkürzter Form lauten – bestimmt die Struktur der Devotions und erklärt so ihre literarische und theologische Form. Versuchen wir nun die These an den anthropologischen Einsichten zu erproben, die die XVII. Devotion erkundet mit ihrer berühmtesten Zeile: no man is an island.

5 Menschsein in Beziehungen: die Meditation Die Sterbeglocke erklingt. Der Mensch, für den sie läutet, mag so krank sein, dass er nicht weiß, sie läutet für ihn. Donne selbst könnte sich in seiner Krankheit Illusionen über seinen Zustand machen und wüsste nicht, dass man die Sterbeglocke für ihn hat läuten lassen. Was für einen Unterschied macht es, für wen die Glocke läutet? Diese Frage, die Donne mit seiner Einleitung in die Meditation stellt, beantwortet er zunächst mit dem Verweis auf die Kirche. „The Church is Catholike; universall, so are all her Actions; All that she does, belongs to all. When she baptizes a child, that action concernes mee; for that child is thereby connected to that Head which is my Head too, an engraffed into that body, whereof I am a member. And when she buries a Man, that Action concernes me; …“33

Die Zusammengehörigkeit aller Menschen ist für Donne also zunächst keine allgemeine anthropologische Einsicht, sondern eine Einsicht, die sich erst aus der Meditation der Sterbeglocke als einer Kirchenglocke erschließt. Ist die Kirche universal, gehören alle ihre Glieder unabtrennbar zu ihr, gehört sie in gewissem Sinne auch allen ihren Gliedern, und alle ihre Handlungen, ob Taufe oder Beerdigung, betreffen alle. Über die Verbindung zu dem einen Haupt der Kirche, Christus, sind alle Glieder von der Taufe bis zum Tod mit diesem Haupt und so untereinander verbunden. Die Einheit der Menschheit ist hier zunächst eine Schlussfolgerung aus dem universalen Charakter der Kirche. Donne kann sie dann an einer ihm besonders naheliegenden Metapher explizieren: „All mankinde is of one Author, and is one volume; when one Man dies, one Chapter is not torne out of the booke, but translated into a better language; and 33 Donne, Devotions (s. o. Anm. 17), 86.

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every Chapter must be so translated; God emploies several translators; some peeces are translated by Age; some by sicknesse, some by warre, some by justice; but Gods hand is in every translation; and his hand shall binde up all our scattered leaves againe, for that Librarie where every book shall lie open to one another: …“34

Auf der Basis der Zusammengehörigkeit der Menschen als Glieder des Leibes der Kirche unter dem einen Haupt Christus kann Donne nun durch die Buch-Metapher die Menschheit als ein Buch, einen Band, geschrieben von dem einen Autor Gott betrachten. Der Akzent liegt weiter auf der Einheit der Menschheit. Allerdings ist diese Einheit nicht nur in der Zeit gegeben, sondern sie gilt auch für die Ewigkeit – allerdings in der Form, dass jedes Kapitel des Buches, jeder Mensch, in eine bessere Sprache übersetzt werden muss. Der Tod ist also nicht das Herausreißen aus der Einheit, sondern das über-setzt werden in eine andere Sprache. Donne hält hier geradezu am literalen Kern der Metapher der Übersetzung fest. Die unterschiedlichen Übersetzer, die Gott benutzt, die Todesursachen, haben eine streng instrumentale Funktion. Hinter ihrer Tätigkeit steht in letzter Hinsicht die Hand des einen Autors, der auch der letzte Kompilator ist, der die verstreuten Seiten neu zusammenbindet. Die Einheit der Menschheit ist ausgehend von der ekklesiologischen Metapher eine Größe der Schöpfung, aber auch des Eschaton. Durch die unterschiedlichen Übersetzungen hindurch, die ja doch als die vorübergehende Auflösung der Einheit des Buches in der Zeit erscheinen, wird am Ende die Einheit des Bandes von Gott wiederhergestellt in der Bibliothek, wo alle Bücher füreinander offenliegen. Ein erstaunliches Bild: die visio beatifica als lectio beatifica der füreinander aufgeschlagenen Bücher. Donne unterbricht den Gedankengang kurz, um in satirischer Form auf den Streit einzugehen, wer in der Gemeinde das Recht haben soll, die Glocken zu läuten. Wir sollten uns bemühen, die Glocken zu läuten, damit sie nicht nur dem gelten, dem sie läuten, sondern auch uns. Das Läuten der Glocke hat insofern eine unvermeidlich und alle in ihren Bann ziehende Anziehungskraft. Man kann sich von ihr ebenso wenig distanzieren, wie man die Augen von der aufgehenden Sonne wenden kann – zumal, wenn das Läuten anzeigt, dass ein Stück unserer selbst aus der Welt herausgeht. Die Einheit, ekklesiologisch, christologisch, schöpfungstheologisch und eschatologisch bestimmt, wird so zur Identifikation. Wenn wir so zueinander gehören in der einen Kirche, als Kapitel des 34 A.a.O., 86.

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einen Buches, jetzt und in Ewigkeit, dann läutet die Totenglocke, wann immer sie läutet, immer auch für jeden von uns. Damit ist Donne bei dem berühmtesten Bild dieser Meditation: „No Man is an Island, intire of it selfe; every man is a peece of a Continent, a part of the maine; if a Clod bee washed away by the Sea, Europe is the lesse, as well as if a Promontorie were, as well as if a Mannor of thy friends, or of thine owne were; Any Mans death diminishes me, because I am involved in Mankinde; and therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.“35

Frag nicht, für wen die Glocke schlägt, sie schlägt für dich. Das ist die Pointe des verneinten Bildes der in sich selbst eine Ganzheit bildenden Insel als Vorstellung des Menschseins. Jeder ist Teil des Kontinents, des Festlands, das etwas verliert, wenn ein Erdklumpen in die See gewaschen wird, oder eine Landzunge vom Meer verschlungen wie das Haus von Freunden oder gar das eigene. Jeder Tod eines Menschen verkleinert uns selbst, denn wir sind in die Menschheit einbezogen. Aber welchen Zweck hat es, in jeder Totenglocke das eigene Sterbegeläut zu hören? Ist es mehr als die Solidarität der Sterblichen, die Donne hier anspricht? Eignen wir uns nicht unberechtigterweise das Elend eines Anderen an? Ist das nicht ein unverzeihliche Begehrlichkeit zusätzlich zum eigenen Elend auch noch das fremde sich aneignen zu wollen? Donne deutet Leiden als Schatz, von dem kein Mensch genug haben kann. „No Man hath affliction enough, that is not matured, not ripened by it, made fit for God by that affliction.“36 Leiden (affliction), Anfechtung (tribulation) ist seinem Wesen nach ein Schatz, weil es uns näher zu Gott bringt; aber es muss auch in Umlauf gebracht werden, damit wir unserer Heimat, dem Himmel, immer näher gebracht werden. Darin liegt die Bedeutung der Glocke, sie bringt das Leid des Todes eines Anderen zu unserem Nutzen in Umlauf: „if by this consideration of anothers danger, I take mine owne into Contemplation, and so secure myself, by making my recourse to my God, who is our only securitie.“37 Die Glocke kommuniziert den möglichen Gewinn des Leiden eines anderen zu mir, wenn ich, aufmerksam geworden auf das Leiden des Anderen, meine eigene Bedrohung in Betracht ziehe und darum Zuflucht zu Gott nehme, der unsere einzige Sicherheit ist. Donne bleibt in der Beschreibung der Sicherheit gewährenden Gottesbeziehung bei der 35 A.a.O., 87. 36 Ebd. 37 Ebd.

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Finanzterminologie, nachdem er vorher vom Leiden als Goldbarren oder Goldstück gesprochen hat, das in Umlauf gebracht werden muss, damit es Gewinn bringt. Deutlich ist am Ende der Meditation: Die Phänomene des Menschseins in Beziehung, die auf der Basis des Verständnisses der Katholizität der Kirche erschlossen werden und im Bild des einen Buches der Menschheit, dann des Kontinents entfaltet werden, haben ihren Grund in der Gottesbeziehung. Auf dieser Basis erschließt sich die Wechselseitigkeit der Beziehung unter den Menschen: Sympathie wird zur Empathie und damit zur Idiopathie, zum Gewahrwerden des eigenen Leidens. Dieses hat aber gerade den Zweck angesichts der Ungesichertheit des Lebens, an die die Totenglocke erinnert, Halt in der Gottesbeziehung zu suchen. Darin liegt der Gewinn des durch die Totenglocke an mich kommunizierten Leidens des anderen, dass es in der Kontemplation der Bedrohtheit des eigenen Daseins genau den Reifungsprozess auslöst, der das Werden meines Menschseins auf den Weg zum Himmel ausrichtet. Es ist wohl nicht verfehlt, in dieser Schlusswendung der Meditation auch eine Selbstkommentierung dieses Textes zu lesen: Genau dies ist der Gewinn der geistlich durchgearbeiteten Leidensgeschichte Donnes für die Leser und Leserinnen seines Buches. Sein Leiden wird zum Text, der die eigene Existenz kontemplativ entschlüsselt: als Menschsein im Werden.

6 Menschsein im Werden: Expostulation Mit der Expostulation wechselt Donne in die Anrede Gottes. Ist die Meditation die Betrachtung der Phänomene des Menschseins im liber creaturarum, allerdings in der Klammer der Auffassung, dass in der Kirche als der neuen Menschheit Einheit, Verfassung und Ziel der Menschheit in der Schöpfung deutlich werden, so werden jetzt die metaphorisch entfalteten Phänomene in die biblische Geschichte eingetragen. „My God, my God, Is this one of the waies, of drawing light out of darknesse, To make him for whom the bell tolls, now in this dimnesse of his sight, to become a superintendent, an overseer, a Bishop, to as many as heare his voice, in this bell, and to give us a confirmation in this action?“38

Der Kranke ein Bischof, durch den Licht ins Dunkel getragen wird? Donne entfaltet die Wurzelmetapher des Sehens, die auch im Wort 38 A.a.O., 87 f.

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episcopos als „overseer“ liegt und die mit der Konfirmation auf das Amt des Bischofs anspielt. Die Glocke aber ertönt – und so muss der Wurzelmetapher des Sehens, die des Erklingens und Hörens zur Seite gestellt werden. „O my God, my God, what Thunder is not a well-tuned Cymball, what hoarseness, what harshness is not a cleare Organ, if thou bee pleased to set thy voice to it? and what Organ is not well plaied on, if thy hand be upon it? Thy voice, thy hand is in this sound, and in this one sound, I heare the whole Consort.“39

Nochmals mit der direkten, durch die Wiederholung noch intensiveren Anrede Gottes einsetzend, entfaltet Donne das Läuten der Glocke zum Ertönen eines Cymbals, zum Erklingen einer Orgel und schließlich zum Klang eines ganzen Orchesters, das aber nur eine Stimme kommuniziert: die Stimme Gottes in der Vielzahl der Stimmen des biblischen Ensembles. Nun erfolgt die Aufzählung der Stimmen aus der Schrift: Die Stimme des sterbenden Jakob, der seinen Söhnen im Segen zu hören gibt, was ihnen begegnen wird „in zukünftigen Zeiten“ (Gen 49,1), die Stimme des Mose, der die Israeliten vor seinem Tod segnet (Dtn 33,1), die Stimme des Jesaja, die den sterbenden Hiskia auffordert, sein Haus zu bestellen (II Reg 20,1), die Stimme des dem Tode nahen Apostels Petrus (II Petr 1,13 f.). Das Ertönen der Glocke wird so zum Testament, die uns den Zustand des Sterbenden als Erbschaft zueignet. Und schließlich. „I heare that which makes al sounds musique and all musique perfit; I heare thy Sonne himselfe saying, Let not your hearts be troubled; …“40 Hier allerdings, wo die Stimme des Sohnes ertönt, die jeden Ton zur Musik und alle Musik vollkommen macht, ist eine scharfe Dissonanz zu hören. Der Sohn sagt an, dass er vorausgehe, um in den vielen Wohnungen im Haus des Vaters eine Stätte zu bereiten, während der Klang der Totenglocke uns ankündigt, dass für uns eine Grabstätte bereitet ist. „But, O my God, my God since heaven is glory and joy, why doe not glorious and joyfull things leade us, induce us to heaven?“41

Wenn die Erbschaft des ersten Testaments Wein und Öl, Milch und Honig sind, der Zusammenschluss der Freunde und der Ruin der Feinde, friedvolle Herzen und freudvolle Angesichter, so dass die Menschen durch Herrlichkeiten und Freuden zu den Herrlichkeiten und Freuden 39 A.a.O., 88. 40 Ebd. 41 Ebd.

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des Himmels geleitet wurden, warum werden wir durch Disziplin und Abtötung, Trauer und Klage auf den Weg zum Himmel gewiesen? Donne stellt die anklagende Frage: „Why hast thou changed thine old way, and carried us, by waies of discipline and mortification, by the waies of mourning and lamentation, by the waies of miserable ends, and miserable anticipations of those miseries, in appropriating the exemplar miseries of others to our selves, and usurping upon their miseries, as our owne, to our owne prejudice?“42

Der anklagende Ton ist nicht zu verkennen und steht im dissonanten Kontrast zu der Steigerung der Stimmen der Heilsgeschichte zur perfekten Musik der Stimme des Sohnes. Donne trägt auf der einen Seite das Werden des individuellen Menschseins in die Heilsgeschichte ein. Menschsein ist im Werden im Ganzen der Heilsgeschichte und im Besonderen der Lebensgeschichte einzelner Menschen. Diese Integration, die die biblischen Typen der Segnung vor dem Tod zur Kontemplation des eigenen Endes durch das Erklingen der Totenglocke führt, ist keine parallel verlaufende Teleologie, die Positives mit Positivem verknüpft. Es ist aber auch keine dialektische Geschichte, die aus dem komparativen Kontrast von Negativem und Positivem entwickelt wird, per aspera ad astra. In seinen rhetorischen Fragen weist Donne die Notwendigkeit des Leidens zum Erreichen der Herrlichkeit und Freude des Himmels zurück. „Is the glory of heaven no perfecter in it selfe, but that it needs a soile of depression and ingloriousnesse in this world, to set it off ? Is the joy of heaven no perfecter in it selfe, but that it needs the sourenesse of this life to give it a taste? Is that joy and that glory but a comparative glory and a comparative joy?“43

Donne weist den ontologischen Komparativ der Beziehung von Irdischem und Himmlischen in der positiv-affirmativen und in der negativdialektischen Fassung zurück. Weder ist die Steigerung der Freuden des Lebens ein Vorgeschmack des Himmels, noch die Tiefe der Leiden ein Gegengeschmack der himmlischen Vollkommenheit. Dafür steht das Gottesverständnis, das nicht auf dem Weg des ontologischen Komparativs, des Vergleichs von Endlichem und Unendlichem erreicht werden kann.

42 A.a.O., 88 f. 43 A.a.O., 89.

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„I know, my God, it is farre, farre otherwise. As thou thy selfe, who art all, art made of no substances, so the joyes & glory which are with thee, are made of none of these circumstances; Essentiall joy, and glory Essentiall.“44

So wie das Wesen Gottes keine Zusammensetzung von Substanzen ist, die das geschöpfliche Dasein konstituieren, sondern jenseits der Kategorien, die für das Endliche gelten, transzendent gegenüber der Ordnung der geschaffenen Substanzen, so ist auch die Herrlichkeit des Himmels in Gottes Wesen begründet, als wesentliche Freude und wesentliche Herrlichkeit, und weder apophatisch noch kataphatisch auf die irdischen Freuden oder die irdische Depression und Freudlosigkeit bezogen. „But why then God, my God, wilt thou not beginne them here? pardon O God, this unthankful rashnesse; I that aske why thou doest not, finde even now my selfe, that thou doest; such joy, such glory, as that I conclude upon my selfe, upon all, They that finde not joy in their sorrowes, glory in their dejections in this world, are in fearefull danger of missing both in the next.“45

Wie ist dieses Paradox zu erklären, dass der, der Gott die Frage vorhält, warum er die wesentliche Freude und Herrlichkeit nicht schon auf Erden beginne, in dieser Frage findet, dass er es doch tut? Die Verknüpfung besteht weder in der komparativen Steigerung, der Akkumulation des Positiven, noch im dialektischen Kontrast, sondern genau in der Frage, die die Gottesbeziehung als die Beziehung des durch die Totenglocke im Konzert der biblischen Stimmen an Tod und Ewigkeit erinnerten Menschen als einzige Form der Teilhabe an Gottes essentieller Herrlichkeit und Freude selbst erkennt. Es sind nicht die Umstände (circumstances) des Lebens aus denen Gottes Herrlichkeit und Freude erfahrbar wird, sondern einzig und allein die in der anklagenden Frage an Gott als wahr angenommene Gottesbeziehung, die die Teilhabe an seiner wesentlichen, also allein in seinem Wesen verwirklichten Freude und Herrlichkeit ermöglicht, in den wechselnden Umständen des Lebens, so dass auch Freude in den Sorgen und Herrlichkeit in der Niedergeschlagenheit gefunden werden kann.46 Dieser Erfahrungsmodus, im 44 Ebd. 45 Ebd. 46 Es ist bemerkenswert, wenn auch nicht besonders überraschend, dass die Logik, die Donne hier anwendet, dem „Übergang von der Klage zur vertrauensvollen Gewißheit“ in den biblischen Klage- und Dankpsalmen entspricht, besonders im „exemplarischen Gebet“ von Ps 22, das Donne im Gebetsteil in christologischekklesiologischer Wendung zitiert. Vgl. Bernd Janowski, Konfliktgespräche mit

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Wesen Gottes und nicht in den substanziellen Eigenschaften des Geschaffenen begründet, ist derselbe in dieser Welt und in der himmlischen Herrlichkeit. Die Expostulation beschreibt das Menschsein im Werden in der Typologie der biblischen Heilsgeschichte, aber aus dieser Prozessstruktur ist das Ziel nicht ableitbar. Als Gemeinschaft mit Gott ist es transzendent zum Prozess des Werdens, der zu ihm führt.

7 Menschsein im Gespräch mit Gott: Prayer Mit dem abschließenden Gebet wenden wir uns – folgen wir der Interpretationsthese von den drei Büchern – vom Buch der Geschöpfe (Meditation) und dem Buch der Schrift (Expostulation) dem „eternal register of the elect“ zu, von dem der glaubende Mensch nur im Herzen, in seinem Gewissen weiß, dass er in ihm genannt ist. Donne nimmt hier das Reden Gottes in seinen drei Bereichen in der formellen Gebetssprache auf: „O eternall and most gracious God, who hast beene pleased to speake to us not only in the voice of Nature, who speakes in our hearts, and of thy word, which speakes to our eares, but in the speech of speechless Creatures, in Balaams Asse, in the speech of unbeleeving men, in the confession of Pilate, in the speech of the Devill himselfe, in the recognition and attestation of thy Sonne, I humbly accept thy voice, in the sound of this sad and funerall bell.“47

Schon in der Gebetsanrede an den ewigen und höchst gnädigen Gott bemerken wir den Übergang von der drängenden Anrufung Gottes zur formellen Disziplin des Gebets. Gott spricht zu uns nicht nur in unserem Herzen, dem Ort der Heilsgewissheit, und in seinem Wort, das wir im Hören vernehmen, sondern auch in den Geschöpfen, in Bileams Eselin, der Rede der Ungläubigen, ja sogar in der Rede des Teufels (Mt 4,6, Lk 1,3). So kann Gottes Stimme auch im Klang der Totenglocke gehört werden. Sie ruft dazu auf, in Donne’s Worten, „in another mans to consider mine owne condition“. 48 Dieses Bedenken der eigenen conditio humana, angeleitet durch den Sterbezustand des Anderen, führt zur Einsicht, dass sein Tod – so wahr der Tod der Sünde Sold ist – auch der Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen 22006, 348 – 365, 351 und 348. 47 Donne, Devotions (s. o. Anm. 17), 89. 48 Ebd.

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Tod des betenden Kranken ist: „as death is the end of sicknesse, it belongs to mee“. 49 Darum befiehlt der Beter, ob er nun lebt oder stirbt, seinen Geist in Gottes Hände und bittet Gott, dass er die Hingabe seines Lebens jetzt annehme. Der Fortgang des Gebets geht davon aus, dass diese Hingabe, das Zurückgeben des Lebens in die Hände des Schöpfers, aus denen es empfangen worden ist, angenommen wird. „And being thus, O my God, prepared by thy correction, mellowed by thy chastisement, and conformed to thy will, by thy Spirit, having received thy pardon for my soule, and asking no reprieve for my body, I am bold, O Lord, to bend my prayers to thee, for his assistance, the voice of whose bell hath called mee to this devotion.“50

Der Prozess des Menschseins im Werden ist hier am entscheidenden Punkt angekommen. Das Werden des glaubenden Menschen, beschrieben als Vorbereitung durch die Korrektur Gottes, als Reifwerden durch Gottes Züchtigung und als dem Willen Gottes Konformwerden durch das Wirken des Heiligen Geistes, das Werden, das der Vergebung gewiss ist, wird nicht in der Vervollkommnung der eigenen Gottesbeziehung vollendet, sondern in der Inanspruchnahme dieser Gottesbeziehung für den Anderen, für den, dessen Stunde geschlagen hat. Das Menschsein in Beziehung, das als zueinander gehören, aufeinander angewiesen sein und füreinander in Verantwortung genommen sein erfahren wurde, kommt zum Ziel im füreinander vor Gott eintreten: in der Fürbitte. Menschsein im Werden und Menschsein in Beziehung kommen im Menschsein im Gespräch mit Gott zum Ziel. Und so bittet der Kranke, der im Läuten der Totenglocke für den Anderen mit seinem eigenen Tod konfrontiert ist, für den Anderen, der nun gestorben ist: für die Vergebung seiner Sünden durch die Unendlichkeit der Barmherzigkeit Gottes, für die Erkenntnis seiner Verdienstlosigkeit, die ihn eingehüllt sein lässt in das Verdienst Christi. Die Wendung zur Fürbitte für den Anderen ist zugleich der sowohl christologische wie ekklesiologische Beschluss der Devotion, der an den ekklesiologisch-christologischen Anfang anknüpft. Das Menschsein im Gespräch mit Gott mündet ein in das Gespräch, in dem Christus unser Menschsein im innertrinitarischen Gespräch vertritt: „When thy Sonne cried out upon the Crosse, My God, my God why hast thou forsaken me? He spake not so much in his owne Person, as in the person of the Church, and of his afflicted members, who in deep distresses might feare thy 49 Ebd. 50 A.a.O., 90.

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forsaking. This patient, O most blessed God, is one of them; In his behalfe, and in his name, heare thy Sonne crying to thee, My God, my God, Why hast thou forsaken me? and forsake him not; but with thy left hand lay his body in the grave, (if that bee thy determination upon him) and with thy right hand receive his soule into thy Kingdome, and unite him & us in one Communion of Saints. Amen.“51

Es ist zu wünschen, dass eine Kirche, die der „Ambivalenz und Problematik der Tatsache, dass niemand eine Insel ist und dass wir stets in Beziehungen leben, von denen wir in hohem Maße abhängig sind“52 eingedenk ist, sich von der geistlichen Erkundung dieser Metapher durch John Donne inspirieren lässt, „die christliche Botschaft von der jedem Menschen mit seinem Dasein zugesprochenen Bejahung“53 in unserer Zeit so zu explizieren, dass die Verheißung des Evangeliums mitschwingt, wenn zitiert wird: No man is an island.

51 Ebd. 52 Härle, „Born for Eternity“, (s. o. Anm. 1), 446. 53 Ebd.

I. Reformatorische Einsichten

„Da, wo man sich nicht erklären muss“ Heimat und Rechtfertigung: Historische Bemerkungen zu einem systematischen Zusammenhang

Athina Lexutt 1 Heimat – Eingang Es ist eine merkwürdige Spannung: „Heimat“ als Begriff scheint aus der Mode gekommen; skeptisch beäugt und für die Ewig-Gestrigen reserviert; oder als irgendwo zwischen versponnen-romantisch und bieder anzusiedeln und für eine schnelle, globale und modulare Welt schlicht unpassend. Auf der anderen Seite begegnet das, was mit dem Begriff zu assoziieren ist, in jüngerer Zeit wieder vermehrt. Es gibt einen neuen deutschen Heimatfilm; und selbst, wenn er auch nicht besser als derjenige der 50er Jahre, als Sonja Ziemann und Rudolf Prack zum Prototyp des Idealpaares eines friedlichen und harmoniesüchtigen, naturgesättigten und aufblühenden Nachkriegsdeutschland avancierten, und selbst, wenn die Zielgruppe dieses Genres sich ebenfalls nur unwesentlich geändert zu haben scheint – er beschert den Fernsehsendern regelmäßig gute Quoten. Eine „Heimat“ betitelte Sonderheftserie einer großen Fernsehzeitschrift nimmt sich zwar seltsam aus zwischen Computer- und Bikerheften, zwischen Bildern von schnellen Autos und moderner Elektronik. Gleichwohl locken die schönen Fotos und die unberührte, heile Welt inmitten gravitätischer Berge und stiller Seelen, dichter Wälder und rauschender Wellen, inmitten rustikaler Hüttenromantik und knisternden Kaminfeuers, strahlenden Sonnenscheins und satten Grüns oder puderzuckriger Tannenspitzen und schneebedeckter Wiesen. Es locken die Gutmenschen und die Schönen, Sanften, und es lockt die Aussicht, dass am Ende immer alles gut wird. An dieser Stelle wird spätestens klar, dass mit dem Begriff „Heimat“ nicht nur das, so plakativ gebraucht, politisch unkorrekte „Deutschland“ vermieden, sondern einem tiefen Gefühl und einer noch tieferen Sehnsucht Ausdruck gegeben werden soll. „Heimat“ wird dann zum buchstäblichen Inbegriff eines Gegenpols zur

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Umtriebigkeit und Ruhelosigkeit, zum Gejagt- und Vertriebenwerden, zur Haltlosigkeit und zur Unbehaustheit. „Heimat“ wird zum Synonym für Geborgenheit und Heilsein, für Vertrauen, das sich über Vertrautheit erschließt, für Angekommen- und Angenommen-Sein, für den einzig geschützten Raum und eben den Ort, „wo man sich nicht erklären muss“1. Entgegen dem Anschein erlebt also „Heimat“ mindestens der Sache nach in der kulturellen und gesellschaftlichen Gegenwart und damit dann auch in der Erforschung, Bewältigung und Gestaltung derselben durchaus eine Renaissance.2 Die Frage etwa, wie und womit heranwachsenden Jugendlichen, die sich auf der Suche nach Sinngebung und Orientierung für ihr Leben befinden, eine „Heimat“ gegeben werden kann, spielt eine große Rolle, und die Prominenz des Themas in den Debatten um Migration und Integration muss kaum eigens erwähnt werden. Verschiedene Wissenschaften, etwa die Soziologie oder die Pädagogik, denken intensiv über „Heimat“ nach.3 Die Theologie indes hat dieses Thema noch nicht recht für sich entdecken können. Freilich wird auch hier, namentlich in praktisch-theologischen und religionspädagogischen Diskursen, darüber nachgedacht, jedoch fehlt es bisher, so mein Eindruck, an einer tiefer1 2

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Zugeschrieben Johann Gottfried Herder. Eine Bestandsaufnahme für den Beginn der 80er Jahre liefern Wilfried von Bredow/ Hans-Friedrich Foltin, Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls, Berlin / Bonn 1981. Die Autoren charakterisieren ihren Stil in diesem Werk als „manchmal etwas salopp“ (8). Das macht aber durchaus den Charme dieses Büchleins aus, das heute, 30 Jahre später, selbst schon so etwas wie eine kleine „Heimatkunde“ darstellt zu dem, was damals gedacht und geschrieben wurde. Es bietet einen Blick zurück in aus der Retrospektive immer bessere und heilere Zeiten, und die Facetten von „Heimat“, die es aufzeigt, von seelisch-irrationalen Momenten über kulturelle Requisiten bis hin zur Thematisierung in Film und Politik, verdeutlichen, in welchen Bereichen überall intensiver nachgeforscht werden müsste. Ein Beispiel für den – mehr oder weniger gelungenen – Versuch einer philosophischen Auseinandersetzung bietet, getragen von den seinerzeit aktuellen historischen Erfahrungen. Otto Friedrich Bollnow, Neue Geborgenheit. Das Problem einer Überwindung des Existenzialismus, Stuttgart / Köln 1955, hier besonders 160 – 191. Als Standardwerk für den Bereich der Literaturwissenschaft gilt die Untersuchung von Ina-Maria Greverus, Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologischer Versuch zum Heimatphänomen, Frankfurt/Main 1972; dort sind viele bemerkenswerte Beobachtungen aus Nachbarwissenschaften verzeichnet. Schließlich widmet sich Otto Kimminich, Das Recht auf Heimat, 3. neubearb. u. erw. Auflage Meckenheim 1989, der rechtlichen Seite des Problems vor allem im Verhältnis zum Völkerrecht.

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gehenden systematischen Durchdringung des Gegenstands, die von entsprechenden exegetischen und kirchenhistorischen Erkenntnissen flankiert würde4. Kann dies dieser Beitrag leisten? Nein, natürlich nicht. Er kann – und will – nicht mehr als einen kleinen Anstoß liefern, in welche Richtung eine solche Durchdringung gehen könnte, wenn sie bestimmte kirchenhistorische Beobachtungen berücksichtigt. Er will einen Zusammenhang aufdecken zwischen den zunächst nicht ausschließlich theologisch zu verstehenden Denk- und Wirklichkeitsräumen „Heimat“ und „Rechtfertigung“. Kirchen- und theologiegeschichtlicher Ausgangspunkt soll dabei der theologische Diskurs um den Begriff „Heimat“ beziehungsweise um das „Recht auf Heimat“ in der politisch-sozialhistorischen Gegenwart der 1950er und 1960er Jahre bis einschließlich der so genannten Ost-Denkschrift sein. Dass eine Reformationshistorikerin dann nicht bei diesen zeitgeschichtlichen Betrachtungen stehenbleibt, sondern den Blick in das 16. Jahrhundert, namentlich auf Luther, lenkt, hat seinen Grund darin, Lösungsansätze für die im Rahmen dieses Diskurses aufgeworfenen Probleme zu finden, die nicht in der aufgeladenen Atmosphäre der Zeit gefunden werden können, sondern die dort zu suchen sind, wo mit allem Ernst um den Raum gerungen wurde, „in dem man sich nicht erklären muss“, dort, wo die Erkenntnis der Rechtfertigung des Gottlosen die Pforten zum Paradies öffnete5 und damit das schuf, was „Heimat“ meint.

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Der 1985 erschienene, von Hartmut Kress verfasste TRE-Artikel (TRE 14, 778 – 781) ist allzu knapp, um der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Die Habilitationsschrift des späteren Bamberger Pastoralsoziologen Rudolf Lange (Theologie der Heimat. Ein Beitrag zur Theologie der irdischen Wirklichkeiten, Freilassing-Salzburg 1965) ist eingefärbt in Langes eigene Biographie als Heimatvertriebener und so durchsetzt einerseits von den Prägungen einer bestimmten Form römisch-katholischer Frömmigkeit (Lange war Diözesanpriester in Breslau), andererseits von den Erfahrungen des Verlustes (vgl. dazu Michael Hirschfeld, Katholisches Milieu und Vertriebene. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes 1945 – 1965 (FQKGO 33), Köln / Weimar u. a. 2002, 75). So sind auch seine exegetischen und kirchenhistorischen Beobachtungen (Lange, Heimat, 134 – 246) allenfalls ein erster Zugang, keineswegs jedoch erschöpfend und letztlich auch nicht wirklich hilfreich. So Martin Luther bekanntermaßen in seiner Rückschau auf den reformatorischen Durchbruch, vgl. Vorrede zu den lateinischen Schriften, 1545, WA 54, 185,12 – 186,16.

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2 Heimat – Historisch-systematische Zugänge 2.1 Die Diskussion des „Rechtes auf Heimat“ im Kontext der Ostdenkschrift In den 1950er und 1960er Jahren blühte nicht nur der deutsche Heimatfilm – kein Wunder nach der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, dem Krieg und deren verheerenden Folgen, die vielen Menschen elementarste Bestandteile von Heimat genommen haben: das Dach über dem Kopf, den Familienvater, die wirtschaftliche Absicherung, den Grund und Boden, Überzeugungen und Strukturen. Es blühte genauso eine heftige Kontroverse darüber, ob es ein Recht auf Heimat gibt. Dass dabei „Heimat“ ganz konkret gemeint und namentlich auf die nach dem Potsdamer Abkommen 1945 an die Volksrepublik Polen gefallenen Ostgebiete bezogen war, provozierte eine Vermischung von soziologischer, rechtlicher, politischer, moralischer und schließlich auch theologischer Diskussionsebene, welche die gesamte Debatte immer wieder neu anheizte, mit einem gewissen Pathos daherkommen und nie emotionslos sich gestalten ließ sowie stets von einer ungesunden Hermeneutik des Verdachts getragen war. Beinahe jeder Hinweis und jede Stellungnahme zum Problem wurde als ideologischer Ausdruck beargwöhnt, und die Protagonisten in diesen Verbalschlachten griffen nicht selten zu harten Geschützen und wurden von ebensolchen getroffen. Mit der Gründung der Bundeswehr 1955 sowie den in diesem Zusammenhang blühenden Diskussionen um Wiederbewaffnung und Atomrüstung einerseits und den etwa gleichzeitigen Volksaufständen in der DDR 1953 und Ungarn 1956 sowie ihren Folgen andererseits verschärfte sich die Problemlage und damit die Notwendigkeit einer Klärung der offenen Fragen. Der Mauerbau 1961 und das damit ganz offensichtliche noch nähere Heranrücken der DDR an die Sowjetunion tat ein Übriges, um im bundesrepublikanischen Westen das Verhältnis zum Osten grundlegend zu durchdenken und neu zu bestimmen. Nachdem der ostdeutsche Bruderstaat die Oder-Neiße-Linie bereits 1950, also nur ein Jahr nach seiner Gründung, als „Friedensgrenze“6 anerkannt hatte, stand die Bundesrepublik in ständigem Zugzwang, sich in dieser Frage zu positionieren. Wie bestens bekannt, dauerte es 20 Jahre, bis zu den Warschauer Verträgen, diese Position zu formulieren, ohne dass damit die hitzigen Diskussionen abgerissen wären. Bis heute scheint eine wert6

So der offizielle Sprachgebrauch.

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neutrale Sicht auf Flucht und Vertreibung unmöglich und belastet die deutsch-polnischen Beziehungen, die besonders an dieser Stelle immer noch und immer wieder von gegenseitigen Ressentiments und Vorurteilen bestimmt werden. Die heutzutage verständlicherweise etwas ausgedünnteren Reihen der Vertriebenenverbände haben kaum noch eine starke Stimme, die unmittelbar von Vertreibung, Flucht und Verlust der Heimat Betroffenen werden weniger; wenn von Heimat, vor allem aber Recht auf Heimat geredet wird, wirkt das in diesen nachfolgenden Generationen ungleich unglaubwürdiger und daher meist in gefährliche Richtung verdächtig. Bis zur Anerkennung der Oder-Neiße-Linie indes und vorgebracht von den Betroffenen selbst, bildete die Frage nach und das Pochen auf das Recht auf Heimat durchaus einen Haupttenor in der öffentlichen Debatte. Die Charta der Vertriebenen vom August 1950 forderte dieses Recht ausdrücklich als theologisch notwendig ein: „Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten. Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.“7 In der breiten Diskussion, die dieses Dokument hervorgerufen hat – und bis in unsere Tage hervorruft, was die weit divergierende Beurteilung ihrer Bedeutung namentlich im Jubiläumsjahr 2010 beweist8 –, ist diese theologische Verankerung gegenüber anderen Themen (etwa der Verzicht auf Revanchismus oder die europäische Dimension) wenig beachtet worden9, obwohl sie eine zentrale Rolle spielt und dem Ganzen 7 8

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Zit. nach http://www.bund-der-vertriebenen.de/derbdv/charta-dt.php3 (18. 03. 2011). Wer den Begriff googelt, wird leicht feststellen, wie breit die Palette der Diskussionsbeiträge ist; die im Netz bereitgestellten Dokumente, namentlich die Kommentare in den großen Zeitungen, sind ausgesprochen aufschlussreich. Vgl. auch http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2011/33306237_ kw06_sp_vertriebene/index.html (18. 03. 2011). Von Bredow / Foltin, Zwiespältige Fluchten (s. o. Anm. 2), 186 – 188, erwähnen diese theologische Rückbindung immerhin und zitieren in diesem Zusammenhang Worte eines Referates von Walther Knneth, das er auf einer von mehreren unter der Leitung von Kurt Rabl organisierten (und von ihm dokumentierten) Tagungen Ende der 50er Jahre gehalten hat: „Die wahre Heimat ist eben nicht Ergebnis menschlicher Leistungen und Entscheidungen, sondern kann zutiefst nur als Geschenk empfangen werden … Die Heimat dürfen

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ein Gewicht verleiht, das nicht zu unterschätzen ist und nicht als vernachlässigenswertes Zeitkolorit abgetan werden darf. Die Bezeichnung des Rechtes auf Heimat als eines von Gott gegebenen Grundrechtes ist in ihrer Deutlichkeit kaum zu übertreffen. Insofern verwundert es nicht, dass die EKD-Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“10, die später kurz und plakativ so genannte „Ostdenkschrift“ von 1965, diesem Thema einen eigenen Abschnitt widmete. Sie tat dies namentlich als Reaktion auf die „Lübecker Thesen“11, die darum auch eigens Erwähnung finden. Dort wurde das Recht auf Heimat ausdrücklich betont und zusammen mit der Forderung nach Rückgabe der Ostgebiete vorgebracht. Die Ostdenkschrift fragte nun dezidiert danach, ob es ein theologisch legitimierbares Recht auf Heimat geben kann, das sich etwa schöpfungstheologisch begründen ließe. Schon die Tatsache, dass diese Überlegungen nicht an erster Stelle stehen, verdeutlicht indes, welchen Stellenwert die Autoren der Denkschrift diesem Thema im Gesamt der Debatte einräumen. Erst nachdem die gegenwärtige Lage der Vertriebenen einerseits wie der Ostgebiete andererseits soziologisch und ökonomisch analysiert und vor allem völkerrechtliche Voraussetzungen geklärt worden sind, räumt man der theologischen Argumentationsebene überhaupt Raum ein. Damit wird unmissverständlich erklärt, dass in diesem Konglomerat von Perspektiven die theologische nur eine von mehreren und zudem eine untergeordnete wir so wenig verachten wie Vater und Mutter. Heimatverachtung ist Gottesverachtung. Diese Liebe und Ehre schulden wir der Heimat unabhängig von ihrem Wert und Wohlstand, unabhängig davon, ob sie sich im Glück oder tiefen Unglück befindet. … Verzicht auf das im Sinn unserer Darlegungen begründete Heimatrecht wäre gleichbedeutsam mit Untreue gegenüber dem Vermächtnis Gottes … Untreue gegen den Heimatanspruch ist daher immer auch Untreue am Menschen, mehr: ist Untreue an der Völkerwelt … Positiv ausgedrückt: das Ringen ums Heimatrecht ist nicht Ausfluß von Eigensucht und Eigenwilligkeit, sondern Konkretisierung der Treue zu Gottes Vermächtnis“ (ebd., 187 f.). Die in unserem Zusammenhang lesenswerten Tagungsbände unter dem Titel „Das Recht auf Heimat. Vorträge und Aussprachen (Studien über die Heimat und Heimatrecht 1 – 4)“ sind erschienen München 1958 – 1960. 10 Hg. von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, 6. Aufl. Hannover 1965. Im Folgenden zitiert als „Ostdenkschrift“. 11 „Das Evangelium von Jesus Christus für die Heimatvertriebenen“, in: Ostkirchliche Informationen 1965/I, Hannover 1965; vgl. dazu: Hartmut Rudolph, Evangelische Kirche und Vertriebene 1945 – 1972, Bd. II: Kirche in der neuen Heimat: Vertriebenenseelsorge – politische Diakonie – das Erbe der Ostkirchen (AKZG Reihe B, 12), Göttingen 1985, bes. 109 – 119.

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sein kann. Sie an vorderster Stelle in Anspruch zu nehmen hieße – noch völlig unabhängig von irgendeinem Ergebnis –, eine vornehmlich politische Frage, deren Antwort ebenfalls notwendig eine politische sein sollte, theologisch verstehen zu wollen, darin eine ungesunde und unangemessene Vermischung vorzunehmen und letztlich die theologischen Argumente für politische Zwecke zu missbrauchen. Die Denkschrift hingegen akzeptiert ausdrücklich das theologische Anliegen und die kirchliche Aufgabe, versteht sich aber in einem Konzert der Stimmen als eine, die geschichtliche, kulturelle, gesellschaftliche und namentlich rechtliche Rahmenbedingungen anzunehmen und sich in sie einzufügen hat. Das eingeforderte Recht hat stets andere Rechte zu berücksichtigen und darf nicht – etwa aus einer theologischen Überhöhung heraus – dazu dienen, dass anderswo und anderen gegenüber Rechte verletzt werden. In der Ausführung nun gibt es neben dem explizit theologisch konzentrierten fünften Kapitel einen bemerkenswerten Absatz im zweiten Kapitel, der ebenfalls berücksichtigt werden muss12. In Wahrnehmung der Brisanz der Debatte und der ideologischen Aufladung auf beiden Seiten mahnen die Autoren zu Umsicht. Sie stellen die Ereignisse, um die nun gerungen wird, in ihren größeren geschichtlichen Kontext und damit in einen, der – wie alles und wie immer – von Schuld und Vergebung lebt. So werden auch alle Fragen, denen sich dieses Dokument widmen will, unter das Vorzeichen von Frieden und Versöhnung gestellt, das anderen theologischen Bedingungen ausgesetzt ist, als würde man über etwas wie zum Beispiel „Gerechtigkeit“ nachdenken. In dem genannten Abschnitt ist es den Autoren nun darum zu tun, die anstehende Diskussion von dem Problem einer dahinter stehenden Gerechtigkeit Gottes zu entlasten, die theologische Überhöhung zu vermeiden, ohne die theologischen Implikate gering zu schätzen. Ob die Vertriebenen Schuld an ihrem eigenen Schicksal trügen und der Verlust der Heimat also die gerechte Strafe sei, so der Text, sei in dieser Pointierung die falsche Frage. Vielmehr müsse man allerdings sehen: „Aber wo Gott in dieser Weise in das Leben des einzelnen und eines ganzen Volkes eingreift, müssen wir vor dem Zorn und vor der Schuldverstrickung der Menschen erschrecken.“13 Immerhin also wird im Rückblick auf die geschichtlichen Ereignisse ein Handeln Gottes behauptet, was sicher zu diskutieren ist. Dafür, dass Gott selbst als der Handelnde in der Geschichte konstatiert wird, scheint das Motiv aber nicht das Herauslösen aus der persönlichen 12 Ostdenkschrift, 15. 13 Ostdenkschrift, 15.

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Verantwortung zu sein. Im Gegenteil geht es darum, den Einzelnen und das gesamte Volk zur Übernahme von Verantwortung und Schuld und darin zu Buße, Umkehr und Versöhnungsbereitschaft sowie Friedensdienst zu fordern. Nur in diesem Licht ist ein Aufeinanderzugehen möglich, das weder von Vergessen oder gar Verdrängen ermöglicht wird, noch ein simples Aufrechnen von Schuld im Sinne eines falsch verstandenen ius talionis provoziert.14 Im insgesamt umfangreichsten Kapitel der Denkschrift, dem fünften, werden nun unter dem Titel „Theologische und ethische Erwägungen“ Überlegungen angestellt, die den Ernst, mit dem bisher solche Diskussionen geführt wurden, berücksichtigen, ohne sich doch in dessen Sog hineinziehen lassen zu wollen. Es wird zu Recht konstatiert, wie sich in dieser Debatte „theologischer Gewissensernst und politische Leidenschaften“ sowie „theologische Argumente mit politischen Wünschen und Auffassungen“15 vermischen. Der gewählte Titel bietet bereits einen Weg aus diesem Dilemma, der gleich zu Beginn den weiteren Gang der Ausführungen bestimmen soll: „So erweisen sich Fragen der deutschen Ostpolitik als aktueller Anwendungsfall einer theologisch bestimmten politischen Ethik.“16 Indem das, was theologisch zu sagen sein wird, sofort unter das Etikett „Ethik“ gestellt wird, ist dem überhöhten, ja ontologischen Anspruch des Themas von vornherein eine klare Absage erteilt. Es geht um das rechte Handeln, nicht um die rechte Lehre. Freilich: Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Es wird aber der Blick auf das 14 Das Eingeständnis von Schuld, die Bitte um Vergebung und das Bewusstsein der nötigen Umkehr hat das Verhalten der evangelischen Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg von Anfang an geprägt. Wie es sich zunächst im Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 und dann im Darmstädter Wort 1947 eine Sprache suchte, mag sich im Einzelnen dem kritischen Urteil stellen; jedoch unterschied sich das Vorgehen der Evangelischen darin grundsätzlich von dem der römisch-katholischen Kirche, die sich mit dem Bekenntnis mindestens zu einer Mitschuld sehr viel schwerer tat. Dies ist an dieser Stelle deshalb wenigstens am Rande zu thematisieren, weil es im Bereich der römisch-katholischen Kirche auch erst im Nachgang zur Ostdenkschrift zu einem Schritt auf die polnische Situation zu kam und auch in diesem Fall wiederum als Entgegnung auf das Hirtenwort der polnischen Bischöfe. Dies hat sicher etwas mit einem unterschiedlichen Rechtfertigungsverständnis zu tun, das es der evangelischen Seite in ganz anderer Weise erlaubt, mit Verfehlung, Scheitern und Schuld umzugehen. Darüber weiter nachzudenken, wäre freilich ein Thema für sich, soll aber hier zumindest in den Komplex um Rechtfertigung – Heimat – Schuld und Vergebung eingeflochten werden. 15 Ostdenkschrift, 31. 16 Ostdenkschrift, 31.

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rechte Tun in der Welt gelenkt, das wiederum von Schuld und Gnadenzusage zugleich bestimmt ist und nicht losgelöst von den Weltzusammenhängen ein ewiges „wahr“ oder „falsch“ formulieren könnte. Die Stärke des Textes ist also darin zu sehen, die Fragen nach Heimat und Recht auf Heimat sofort und unmissverständlich in den Zusammenhang geschichtlicher Prozesse einzubetten und eine Lösung und Antwort ebenfalls als Teil dieses geschichtlichen Prozesses und nicht als Verwirklichung des Willens Gottes zu begreifen. Gleichwohl ist den Autoren klar, dass sich das Dilemma damit nur verschiebt und nicht etwa auflöst, denn es wird an den „Prinzipienstreit“17 erinnert, der von den extremen Gefahren des Fundamentalismus einerseits und der Willkür andererseits bestimmt ist. Die Debatte um das Heimatrecht, so die Denkschrift, scheine in den Kern dieses Streits zurückzuführen, nachdem es in der Auseinandersetzung um die Atombewaffnung schon fast dazu gekommen war, den „dynamische[n] Grundcharakter evangelischer Ethik stärker in Erscheinung“18 treten zu lassen. „Die Erfahrungen im Atomwaffenstreit“, so die Quintessenz der Denkschrift, „nötigen aber dazu, einer Verabsolutierung von Wahrheitsmomenten zu widersprechen und die ethische Erwägung vor einem lebensfremden Doktrinarismus zu bewahren.“19 Das ist eine deutliche Mahnung vor allem an die Vertriebenenverbände und all diejenigen, die sich in ähnlicher oder gleicher Weise reaktionär äußerten und sich dazu sprachlich und inhaltlich einer Ausschließlichkeit bedienten, die keinerlei Widerspruch duldete. Die Stärke der Denkschrift liegt darin, durchaus eine particula veri in diesen Äußerungen zu entdecken, die durch den Exklusivitätsanspruch indes sofort wieder verschleiert wird. Damit ist ein Grundtenor des Textes insgesamt angesprochen, der die Lage der Vertriebenen wirklich wahr- und ernstnimmt und ihre Anliegen in dieses Wahr- und Ernstnehmen einschließt. Es ist wohltuend, wie die Denkschrift dezidiert verständnisvoll auf das Klagen der Heimatvertriebenen reagiert, ebenso dezidiert eine daraus resultierende politische Forderung auf Rückgabe der Heimat indes ablehnt. Der Text ist um einen echten Dialog bemüht, der aus einer theologischen und kirchlichen Verantwortung heraus die politische, soziale und emotionale Lage beider betroffener Seiten zugleich berücksichtigt und den geschichtlichen Prozessen Rechnung tragen will. 17 Ostdenkschrift, 31. 18 Ostdenkschrift, 32. 19 Ostdenkschrift, 32.

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In diesem Sinne folgerichtig fragt er nun danach, ob die Inanspruchnahme bestimmter Theologoumena legitim ist, aus denen sich ein Recht auf Heimat ableiten ließe, und stößt damit auf die für unseren Zusammenhang zentrale Frage: „Zunächst ist zu fragen, ob biblischtheologisches Bedenken der Heimatfrage es zuläßt, von der Heimat als einem dem Menschen schöpfungsmäßig zugehörigen geschichtlichen und gesellschaftlichen Raum zu sprechen und jedem einzelnen ein unabdingbares Recht auf seine ihm ursprüngliche Heimat zuzuerkennen. Viele Äußerungen kirchlich-theologischer Art lassen sich nur in diesem Sinne einer naturrechtlich-seinsmäßigen Denkweise verstehen. Der gewaltsame Verlust der Heimat löst danach die mit theologischer Verbindlichkeit versehene Forderung nach Widerherstellung des alten Rechtszustandes und nach Rückführung in die alte Heimat aus.“20 Die Antwort der Denkschrift auf diese Frage fällt eindeutig aus: Ein Recht auf eine irdische Heimat lässt sich theologisch keinesfalls begründen, denn Heimat als irdisches Gut impliziert deren verantwortungsvollen Gebrauch ebenso wie die Bereitschaft zum Verzicht. Probleme um die irdische Heimat lassen sich daher auch ausschließlich unter Heranziehung irdischer Deutungs- und Werterahmen finden, alles andere ist unzulässig und verliehe einem irdischen Gut ein Gewicht, das ihm nicht zusteht. Insofern gehört es zur theologischen Verantwortung, die Dinge zu unterscheiden und Rechenschaft darüber geben zu können, über welche „Heimat“ gerade diskutiert wird. Denn sehr wohl kann, darf und muss im theologischen Kontext auch von der himmlischen, ewigen und an keinen irdischen Ort gebundenen Heimat gesprochen werden, die ausschließlich beim himmlischen Vater zu suchen ist, unabhängig von Nation, Volk, Staat, Reich und welchen Begriffen auch immer, die eine irdische Heimat bezeichnen wollen. Das Reich Gottes, das nicht von dieser Welt ist, ist das Ziel eines Christenmenschen, alle irdische Heimat kann auf dieser Pilgerreise lediglich eine vorübergehende Station sein. Gerade aus diesem Bewusstsein heraus aber und aus der Sehnsucht nach dieser himmlischen Heimat leitet die Denkschrift die Aufgabe für den Christen ab, „eine letzte Distanz sowohl zur Heimat wie zur Heimatlosigkeit zu gewinnen.“21 Ohne dass die Autoren dies explizieren würden, ist hier ein Element christlicher Freiheit angesprochen, das dem Christen das Überleben in einer von Widrigkeiten und unbeeinflussbaren Momenten bestimmten Welt ermöglicht sowie allererst ein Handeln in diesen ge20 Ostdenkschrift, 33. 21 Ostdenkschrift, 34.

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schichtlichen Prozessen. In Auseinandersetzung mit den „Lübecker Thesen“ wird eindrücklich vor einer Vermischung gewarnt, die eben eine solche Freiheit gefährdete. „Die Verfasser der Lbecker Thesen müssen daran erinnert werden, daß man gerade in politischen Fragen mit einer absoluten Argumentation vom Evangelium her zurückhaltend sein sollte. Nicht jedes kluge und vertretbare, auf Vernunft und Erfahrung beruhende politische Verhalten bedarf der theologischen Qualifizierung. Vor allem aber muß es als theologisch unerlaubt bezeichnet werden, die Vorstellung zu erwecken, als könne eine irdische Ordnung vollkommene Gerechtigkeit verwirklichen.“22 Damit wird impliziert – und später auch explizit gemacht23 – , es könne durchaus legitim sein, im Blick auf die Vertreibung von einem Unrecht zu sprechen und den Verlust der Heimat entsprechend leidenschaftlich zu beklagen. Die Denkschrift findet an dieser Stelle sogar zu einer eher überraschenden Schärfe, wenn sie die Vertreibung „als Unrecht und Verstoß gegen elementare sittliche Gebote“24 bezeichnet. Die Lübecker Thesen erliegen nach Ansicht der Autoren der Denkschrift jedoch der fatalen Verführung, aus diesem Unrecht neues Unrecht zu produzieren, wenn mit theologischem Exklusivitätsanspruch und unter Missachtung des geschichtlichen Kontextes daraus eine Verletzung der göttlichen Ordnung gemacht würde. Als ebenso fatal sieht es der Text an, wenn, motiviert durch den zweifellos notwendigen und theologisch angemessenen Willen zu Frieden und Versöhnung, jegliche politischen Ansprüche und Positionen verdrängt würden, wie es in den so genannten Bielefelder Thesen zum Ausdruck käme.25 Die Lösung des Problems müsse vielmehr darin gesucht werden, in der Verknüpfung beider berechtigter Interessen so vorzugehen, dass ein tatsächlicher politischer Neuanfang gemacht werden könne. Es gehe darum, eine neue Ordnung zu schaffen, die keinen Anspruch auf Ewigkeit – und darin wieder auf himmlische, göttliche Wahrheit – erhebe, sondern die in der Lage ist, die Anliegen aller Beteiligten in poli22 23 24 25

Ostdenkschrift, 37. Vgl. Ostdenkschrift, 39 f. Ostdenkschrift, 39. „Die Versöhnung in Christus und die Frage des deutschen Anspruches auf die Gebiete jenseits der Oder und Neiße. Eine vom Bielefelder Arbeitskreis der kirchlichen Bruderschaften zur Diskussion gestellte Thesenreihe“, in: JK 12 (1963); die entscheidenden Passagen finden sich in der Ostdenkschrift, 36 f. Vgl. dazu Rudolph, Evangelische Kirche und Vertriebene (s. o. Anm. 11), 104 – 109. Besonders aufschlussreich sind seine Beobachtungen zur These 17 der Bielefelder Thesen, vgl. ebd., 105, Anm. 126.

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tischer Vernunft und theologischer Verantwortung zu berücksichtigen. Daraus schließt die Denkschrift: „Die ethischen Erwägungen führen zu der notwendigen Konsequenz, in klarer Erkenntnis der gegenseitigen Schuld und ohne Sanktionierung von Unrecht, das nicht sanktioniert werden darf, das Verhältnis der Völker, namentlich das zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk, neu zu ordnen und dabei Begriff und Sache der Versöhnung auch in das politische Handeln als einen unentbehrlichen Faktor einzuführen.“26 Die Ostdenkschrift selbst kommt – anders als das Tübinger Memorandum, das in der Sache als Vorläufer der Denkschrift betrachtet werden kann27 – nicht zur expliziten Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als politischer Konsequenz des Gesagten. Jedoch kann man dies durchaus herauslesen, und die heftige Debatte, welche der Text ausgelöst hat, zeugt davon, dass er genau so auch verstanden wurde.28

26 Ostdenkschrift, 41. 27 Tübinger Memorandum 1962, in: Ludwig Raiser, Vom rechten Gebrauch der Freiheit. Aufsätze zu Politik, Recht, Wissenschaftspolitik und Kirche, hg. von K. Raiser, Stuttgart 1982, 41 – 47. Dort heißt es im 1. Kapitel: „Wir sagen nichts Neues, wenn wir die Ansicht aussprechen, daß zwar die Freiheit der in Berlin lebenden Menschen ein von der ganzen Welt anerkanntes Recht ist, daß aber das nationale Anliegen der Wiedervereinigung in Freiheit heute nicht durchgesetzt werden kann, und daß wir den Souveränitätsanspruch auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie werden verloren geben müssen.“ (43) Zum Weg vom Tübinger Memornadum zur Ostdenkschrift vgl. die geboten kurze Übersicht bei Martin Greschat, Vom Tübinger Memorandum (1961) zur Ratifizierung der Ostverträge (1972). Protestantische Beiträge zur Aussöhnung mit Polen, in: Friedhelm Boll / Wieslaw Wysocki u. a. (Hgg.), Versöhnung und Politik. Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er-Jahre und die Entspannungspolitik (ASozG, Beiheft 27), Bonn 2009, 29 – 51, bes. 29 – 35. 28 Einen recht guten Überblick über diese Debatte bietet das Bändchen „Deutschland und die östlichen Nachbarn. Beiträge zu einer evangelischen Denkschrift (PT Sonderband)“, hg. von Reinhard Henkys, Stuttgart 1966. Der Beitrag von Eberhard Stammler (Betroffenheit und Befreiung, 92 – 99), der etwa 400 Antwortbriefe auf die Denkschrift gesichtet hatte, zeugt davon, wo das eigentliche Problem in der anschließenden Debatte lag: „Am auffallendsten dürfte die Beobachtung sein, daß bei den Kritikern fast durchweg eine andere theologische Wertordnung zu finden ist, als sie die Denkschrift zugrunde legt. Während dieses Dokument dem Gedanken der Versöhnung den Primat zuspricht und von hier aus letztlich alle Erwägungen und Folgerungen ableitet, steht für die Kritiker das Recht als höchster theologischer Wert im Mittelpunkt. So tritt in dieser Diskussion gewissermaßen der Gott der Liebe und des Friedens dem Gott des Rechts und der Ordnung entgegen.“ (ebd. 96)

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2.2 Systematische Konsequenzen Was lässt sich nun aus den Äußerungen systematisch-theologisch ableiten im Blick auf einen möglichen Zusammenhang von Heimat und Rechtfertigung? Entscheidend sind vor allem zwei Elemente, die beide rechtfertigungstheologisch zurückgebunden sind. Das eine: Die Einsicht in Fundamentalbedingungen christlich begründeter Anthropologie und Ethik gibt allem Irdischen und Geschichtlichen sein Recht. Allerdings: sein begrenztes Recht. So unbedingt also Irdisches und Geschichtliches auch und gerade für Christen zur Geltung zu bringen ist, weil es kein Irdisches und Geschichtliches außerhalb des Wollens und Handelns Gottes gibt – mit allen notwendigen, systematischen Problemen und Konsequenzen, welche diese Aussage birgt –, so unbedingt muss darauf hingewiesen, ja daran gemahnt werden, in welchem Forum und unter Beachtung welcher Kontingenzen diese Geltung in Anschlag und zur Sprache zu bringen ist. Diese Kontingenzen nicht oder nur marginal zu berücksichtigen, bedeutete nicht nur eine Missachtung geschichtlicher und kultureller Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern im Letzten auch eine Missachtung der göttlichen Schöpfungsordnung selbst, die der Welt in dieser Welt und unter den Bedingungen dieser Welt Schutz und Treue garantiert. Ja, das wäre ein Zeichen hybrider Selbstüberschätzung und fehlender Anerkenntnis einer Welt, die als gefallene wahrgenommen und gelebt werden will; die Folge wäre eine babylonische Sprachverwirrung, so dass ständiges Aneinander-vorbei-Reden die Konflikte provozierte, die unter den Etiketten „Unterdrückung“, „Krieg“, „Neid“, „Terror“ etc. sichtbarer Ausdruck eines aus den Fugen geratenen Beziehungs- und Kommunikationszusammenhangs sind. Ein theologisches Verständnis dieses Sachverhaltes indes und die rechten theologisch-ethischen Konsequenzen daraus zu ziehen ist nur möglich, wenn Schöpfung, Sünde, Schuld, Versöhnung und Erlösung, das heißt der gesamte Spannungsbogen rechtfertigungstheologischer Erkenntnisse und Erfahrungen kognitiv und affektiv durchdrungen sind in dem Begreifen dessen, was es um Gesetz und Evangelium ist. Welt und Geschichte sind nur zu bewältigen in dieser Dialektik von Gesetz und Evangelium als theologischem Grund einerseits und als ethischem Strukturelement andererseits. Das zweite Element, das sich aus dieser historischen Beobachtung grundsätzlich ableiten lässt: Eine politische Ethik macht nur Sinn als genau dies: als politische Ethik, und nicht als Ethik der Politik. Will sagen: Jede theologisch begründete Ethik hat

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gleichsam zwei Bezugs- und Orientierungsgrößen, die weder als Alternativen zu begreifen noch gar gegeneinander auszuspielen sind, sehr wohl aber in einer dialektischen Spannung stehen: Gott und der Nächste. Die beiden Foren coram Deo und coram mundo wollen und müssen unterschieden werden, wobei zuletzt immer gilt, dass Gott mehr zu gehorchen ist als den Menschen. Wird politisch motiviertes Handeln theologisch unterfüttert beziehungsweise überhöht, ist dies ein Missbrauch des Wortes Gottes. Wohlbegründete Interessen in der Welt sollten aus sich selbst heraus evident, plausibel und argumentativ gesichert sein. Die Inanspruchnahme des Evangeliums für diese innerweltlichen Motive und Ziele durchbricht den personalen Charakter der Rechtfertigungszusage willkürlich. Das sine humanis viribus et operibus zugesagte Heil, das freilich auch und vor allem dem diesseitigen Leben eine Perspektive, Güte und Würde verleiht, wird verkürzt auf irdisches Wohlergehen und Glück, dem die eschatologische Spitze abgebrochen ist. Verlust, Scheitern, Zweifel und Verzweiflung werden negativ konnotiert und als Indizien für menschliches Versagen und Ungerechtigkeit gewertet. Letztlich werden Christus und sein Kreuz als Ermöglichungsgrund für das Aushalten in den Widrigkeiten des Lebens und für Hoffnung auf Leben mitten in Unzulänglichkeit, Bedrängnis und Tod entwertet. Freilich gilt es für den Christen in der Welt, in ihr und für sie auf das Evangelium zu hören und sich von ihm leiten zu lassen. Das heißt aber in erster Linie, diese zugesagte Freiheit als Freiheit zur Gestaltung, als Freiheit zur Knechtschaft im Dienst am Nächsten zu begreifen und nicht dadurch aufs Spiel zu setzen, dass man sich vor den Karren, namentlich: politischen Karren spannen lässt. Diese beiden grundsätzlichen Erkenntnisse, von denen die Ostdenkschrift durchzogen ist, lassen nun auch ebenso grundsätzliche Schlüsse zu im Blick auf das Verhältnis von Heimat und Rechtfertigung. Die Denkschrift war und ist an dieser Stelle, wie gezeigt worden ist, ganz eindeutig: Ein Recht auf Heimat im Sinne einer irdischen Heimat, ein Recht auf eigenen Grund und Boden, ein Recht auf Wiederbringung verlorener Heimat – das alles lässt sich theologisch aus nichts ableiten.29 29 Am Rande sei darauf hingewiesen, dass diese grundsätzliche Entscheidung natürlich auch in ganz anderer Richtung zu bedenken wäre, nämlich im Blick darauf, was dies etwa für die israelisch-palästinensischen Gebietsstreitigkeiten im Westjordanland bedeutet. Im christlich-jüdischen Dialog jedenfalls unserer Tage würden die Überlegungen zur theologischen Begründung eines Rechtes auf Heimat, die im Kontext der Ostgebiete angestellt wurden, möglicherweise

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Freilich ist zur Kenntnis und psychologisch wie pastoral ernstzunehmen sowie politisch in Anschlag zu bringen, welche Bedeutung all das hat, was sich um Herkunft, Volk und Nation rankt, und was es heißt, bestimmter Wurzeln – aus welchen Gründen auch immer – verlustig zu gehen. Unbedingt gilt es, an solchen Stellen nicht die Augen zu verschließen oder im Zuge vermeintlicher politischer Korrektheiten und durch schematische Täter-Opfer-Strukturen neue Verletzungen zu provozieren. Historischen Fakten, rechtlichen Übereinkünften, kulturell-nationalen Bedingungsfeldern und emotionalen Einfärbungen ist gleichermaßen Rechnung zu tragen. Das alles gilt es bei solchen Diskussionen zu berücksichtigen, und es kann der Ostdenkschrift nicht hoch genug angerechnet werden, dass sie sich um diese Rücksicht bemüht hat im Versuch, Hinweise für eine konstruktive Lösung zu geben. Die eigentliche Stärke jenseits dieser ethisch-politischen Implikate liegt indes darin, dem Nachdenken über „Heimat“ und was sich damit verbindet, überhaupt einen Raum und eine Stimme verliehen zu haben30, die vom belasteten Diskurs über das „Recht auf Heimat“ zu einem Diskurs über „Heimat“ ganz allgemein und theologischen Überlegungen dazu hätte überschwenken können. Dies ist leider so nicht geschehen, aber womöglich heute dringender denn je, wie die einleitenden Bemerkungen gezeigt haben. Dass eine Sehnsucht nach „Heimat“ eine anthropologische conditio ist und sich nicht, jedenfalls keineswegs notwendig, in einer geographisch zu lokalisierenden Heimat erschöpft, ist evident. Die Suche entspannend wirken und verhindern, dass auch an dieser Stelle, wie oftmals zu beobachten, theologische und politische Argumente einer letztlich unfruchtbaren Vermischung ausgesetzt sind. Wie sehr die Unterscheidungskunst vonnöten wäre, ist evident, denn nur durch sie kommt das eine wie das andere erst zu seinem vollen Recht! 30 Dies wird auch positiv hervorgehoben im Blick auf Thesen, die Karl Barth 1960 als Denkanstöße in die Diskussion brachte. Er fragte in der Monatszeitschrift „Der Remter“ danach, ob und in welcher Weise überhaupt vom Recht auf Heimat geredet werden könne, und er fragt dies vor dem Hintergrund a) der Schuldverstrickung in der Zeit des Nationalsozialismus, b) der Tatsache, dass die Vertriebenen, vor allem aber deren Kinder längst eine neue Heimat gefunden hätten, und c) der Beachtung möglicher Folgen im Falle einer Rückgabe der Ostgebiete [in: Der Remter 6 (1960), 140]. In der heftigen Diskussion, die seine Thesen auslösten (ebd. 212 – 230, 283 – 288 und 338 – 342) ist auch folgende Stimme zu hören: „Mein erster Eindruck […] ist ein doppelter: Schrecken – und Freude! […] Freude: Ist es nun endlich soweit, daß unsere nicht vertriebenen Brüder unsere Not zu der ihren zu machen beginnen, indem sie ins Gespräch mit uns treten? [Er] nimmt damit unsere Fragen ernst.“ (ebd. 225)

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nach einem Zuhause, einem Ruheort, einem Raum, der frei ist von jedweder Form von Selbsterklärungen und Selbstrechtfertigungen, provoziert paradoxerweise eine neue Form der Ruhe- und Rastlosigkeit in solchen Zeiten, in denen dieser Ort nicht mehr selbstverständlich identifiziert werden kann über den Geburtsort, das Heimatland oder die Familie. Nicht selten wird dieser Ort unter diesen Bedingungen schlussendlich im innersten Selbst gefunden und das Zurückziehen in sich zur einzigen Möglichkeit, dem Druck zu entgehen, sich und all sein Denken, Wirken und Reden verantworten und rechtfertigen zu müssen. Die Erfahrung, gewissermaßen ständig auf der Anklagebank zu sitzen und einer Phalanx aus Menschen und sogenannten Sachzwängen ausgeliefert zu sein, die permanent mit dem Finger auf einen zeigen und ständig etwas „von einem wollen“, treibt entweder in eine erzwungene Gleichgültigkeit, die einhergeht mit Hochmut, Arroganz und Verachtung, oder in ein klaustrophobisches Erstickungsgefühl, dem der Fluchtreflex unmittelbar folgt. Beiden Extremen gemeinsam ist die letzte Konsequenz aus diesen Gefühlen und diesem Verhalten: die Isolation. Das Heil und die Ruhe werden darin gesucht, sich selbst gegenüber allen Anklagen frei zu sprechen und den Ort, „an dem man sich nicht erklären muss“, in und bei sich selbst zu finden, sich selbst die notwendige Anerkennung zukommen zu lassen, auf die jeder Mensch angewiesen ist. Zudem fehlt es nicht an literarischen Ratgebern, wie eben diese Selbsterlösung und Heimatsuche am besten und zuverlässigsten gelingen kann. Das Mangelhafte daran wird indes schnell sichtbar, denn eine entscheidende Komponente sucht man in diesen Konzepten, die aus der Not nolens volens eine Tugend machen, vergebens: das extra nos. Anerkennung, Gnade, Barmherzigkeit, Sichfallen-lassen-Dürfen – wie immer man das Finden von Heimat in diesem weiten Sinn bezeichnen mag, es braucht dazu ein Gegenüber, das dies erlaubt und den Raum dafür schenkt. Der Mensch ist auf ein Gegenüber angewiesen, auf einen Anderen, der ihm das sagt und tut, was er sich selbst nicht sagen und tun kann. Gewiss ist es wichtig und nötig, dass der Mensch zu sich selbst „Ja“ sagen kann. Wertvoller und befriedigender ist es, wenn dies sein Gegenüber tut. Theologisch: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Um also Heimat zu erfahren, ist der Mensch auf Andere angewiesen, die ihm diese Heimat ermöglichen. Er kann sie nicht ausschließlich in sich selbst finden, sondern er wird erst dort zur Ruhe und zum Frieden und zum Heil kommen, wo ihm andere dies zulassen. In der Isolation findet er allenfalls Einsamkeit. Seligkeit, Paradies, ewiges Leben aber sind nur in der Gemeinschaft zu haben. Wiederum theologisch: in

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der Gemeinschaft mit Gott einerseits und in der Gemeinschaft mit den Mitgeschöpfen andererseits. Nun ist aber nicht vordergründig von dieser ewigen Heimat die Rede, sondern es stellt sich die Frage nach der irdischen Heimat, nach einer Möglichkeit, das in der Schöpfung Gesetzte und gegen alle Sünde ungebrochen Zugesagte unter den Bedingungen dieser Welt erfahren zu dürfen. Gibt es, so die Pointe, überhaupt so etwas wie Heimat in diesem weiten und existenziell elementaren Sinne in diesem Leben? Ja und nein. Und hier gilt es nun, genau zu differenzieren. Anders als vielfach die traditionelle Theologie behauptet, geht es gerade in dem „Nein“ nicht so sehr darum, diese Welt als eine Art Durchgangsstation zu missachten, die letztendlich nur zu überwinden ist bis zum Großen und Schönen und Eigentlichen, mit allen Konsequenzen für das Leben vor dem Tod.31 Die „Heimat“ ist eben genau nicht nur jene ewige und alles andere als gering zu achten. Ganz im Gegenteil ermöglicht die Zusage der ewigen Heimat eine Heimat in diesem Leben, ein Geborgen- und Angenommensein, ein Sich-nicht-erklären-Müssen, ein Ja Gottes zum Menschen, wo diesem von sich und anderen immer nur ein Nein begegnet. Das „Nein“ ist also nicht gleichzusetzen mit einer Absage an diese Welt, auch wenn diese niemals in einem letzten Sinn Heimat sein kann. Eine solche Absage wäre aus schöpfungstheologischer Perspektive nahezu ein Frevel, denn wenn in diesem Leben nicht diese Welt Heimat sein kann, was denn dann? Die Schöpfung und das dominium terrae definieren vielmehr diese Welt als Heimat des irdischen Menschen. „Definieren“ meint nun allerdings zweierlei: Diese Welt und keine andere ist definitiv für den irdischen Menschen Heimat. Sie ist dies aber begrenzt, eben: definiert. Dem irdischen Menschen in seiner irdischen Heimat sind Grenzen gesetzt, und diese Grenzen haben zur Konsequenz, dass sich, wie nun mehrfach konstatiert, kein Recht auf einen irdischen Raum ableiten lässt, wenn sich dieser nicht anderweitig: historisch, politisch, rechtlich, begründet. Insofern also gibt es keine Heimat beziehungsweise ist sie immer gefährdet und von zufälligen Komponenten abhängig. Gleichwohl ist das, was Heimat in jenem weiten Sinne meint, sehr wohl irdisch erfahrbar. Der Mensch lebt aus der Zusage der Heimat heraus und kann in aller Heimatlosigkeit dieser Welt diese Zusage erfahren. Insofern ist überall dort „Heimat“, wo ihm diese Zusage geschieht und er sie erfährt, wo er der steten Spannung zwischen Sünde und Gnade, Gesetz und 31 Ein Wort wie „Heimgang“ unterstreicht diese Bedeutung des Sterbens und des Todes als ersehnter Übergang in die eigentliche und ewige Heimat.

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Evangelium enthoben ist und zur Ruhe kommen darf – nicht bei sich, sondern bei und in Gott, der ihm die Rechtfertigung zuspricht. Daher kann und soll durchaus Kirche Heimat sein, ja, besteht ihre seelsorgerliche Aufgabe und sind alle ihre Funktionen darin gebündelt, dass sie in eben diesem Sinne Heimat sein und bieten soll. Wo sich der Einzelne als Glied der communio sanctorum begreifen darf, da lebt er in und aus der Rechtfertigungszusage, ohne Unterschied seiner Person, seiner Herkunft, seines Geschlechts. Im Bekenntnis, der gesprochenen Antwort auf die Rechtfertigungszusage, wird er in Geschichte, Sprache und Religion mit allen vereint, die mit ihm gemeinsam bekennen, wird also Heimat geschaffen, der Ort, wo man nicht sich erklären muss, sondern der persönlich verantwortete Glaube sich gegenüber Gott gemeinschaftlich erklärt. Heimat – so kann man nun pointiert zusammenfassen – ist im theologischen Sinne dort, wo die Rechtfertigungszusage mit allen Facetten, die hierbei zu bedenken und zu beachten sind – erfahren wird. Ein Blick auf Martin Luther soll nun klären, ob dieser Zusammenhang zwischen „Heimat“ und „Rechtfertigung“ sich bereits bei ihm systematisch nahelegt.

2.3 Heimat und Rechtfertigung bei Martin Luther – Eine erste Sichtung Damit kein falscher Eindruck entsteht: Es geht nicht darum, nun gewissermaßen noch schnell bei Luther nachzuschlagen, um die systematischen Erwägungen traditionell abzusichern, in dem fatalen Sinn „wenn Luther das schon gesagt hat, kann es ja nicht verkehrt sein“. Es geht vielmehr darum zu entdecken, ob die Frage nach Heimat und die Antwort durch die Rechtfertigungserkenntnis in einem untrennbaren sachlichen Zusammenhang stehen. Die Gefahr liegt ja nahe, diesen Zusammenhang als genau die theologische Unterfütterung beziehungsweise Überhöhung zu sehen, welche die Ostdenkschrift in anderer Perspektive aus sehr guten Gründen abgelehnt, ja vor der sie gewarnt hat. Mit dem Blick auf Luther soll nun überprüft werden, ob und in welcher Weise dieser Zusammenhang ein theologisches Fundament oder eben ein historisch zufälliges Akzidens darstellt. Als 1960 in den Heften der Zeitschrift „Der Remter“32 eine heftige Debatte um das Recht auf Heimat geführt wurde, gab es unter dem Titel 32 Der Remter war eine Monatszeitschrift, die sich intensiv um „Kultur und Politik

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„Zur Diskussion um das Heimatrecht. Eine Stimme von Martin Luther“ ein Zitat des Reformators, das – man könnte unterstellen: wohlweißlich – nicht nachgewiesen wurde.33 Die Recherche hat ergeben, dass es aus Luthers Obrigkeitsschrift stammt.34 Freilich wird das eigentliche Thema der Schrift, die Kunst der Unterscheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment, unterschlagen und als Spitze stehengelassen, dass die Liebe über allem Recht stehen müsse, die wiederum nach der goldenen Regel handeln soll. Das kann im Kontext der Debatte natürlich in zwei Richtungen interpretiert werden: Sollen die Vertriebenen Liebe über Recht setzen und auf ihre Heimat verzichten? Oder soll Polen Liebe üben und „unrechtes Gut wiedergeben“35 ? Wie dem auch sei, interessant ist allemal, dass Luther überhaupt in Anschlag gebracht wird, um ein tagespolitisches Problem lösen zu helfen.36 Was aber kann man nun tatsächlich mit Luther begründen? Und was nicht? Wenn Luther, so lässt sich leicht und schnell festhalten, über den deutschen Begriff „Heimat“ und die Begriffe aus dessen Wortfamilie redet oder über das lateinische „patria“, dann ist seine Aussage eindeutig und durchaus traditionell: Der irdische Mensch ist ein Pilger auf dem Weg in die ewige Heimat, die allein beim Vater im Himmel zu finden ist. Die Welt als Heimat anzusehen hieße, das wirkliche und wertvolle Ziel aus den Augen verloren zu haben und sich an irdische Güter zu klammern, anstatt den himmlischen entgegen zu streben. Doch resultiert für Luther daraus keineswegs ein contemptus mundi; die Unterscheidung zwischen Irdisch-Zeitlichem und Himmlisch-Ewigem geht nicht einher mit einer Geringschätzung des Ersteren, führt nicht dazu, an dieser Welt zu leiden. Im Gegenteil kommt beides zu seinem Recht und wird beidem der rechte Ort gewiesen: Das Himmelreich auf Erden kann nicht geschaffen werden; eben dies aber provoziert nicht Resignation und

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in Osteuropa“ (so der Untertitel) kümmerte und gerade in der kritischen Nachkriegszeit den Anliegen der Vertriebenen ein Forum bot. Der Herausgeber der Zeitschrift, Gerhard Glzow, war Vorsitzender des Ostkirchenausschusses und gehörte zu den Gründern des Ostkircheninstituts der Universität Münster. Er selbst äußerte sich in der Debatte u. a. in einem Aufsatz „Unsere evangelische Verantwortung für die heimatpolitische Lage“ (Der Remter (s. o. Anm. 30), 323 – 335), die sich der Ostkirchenausschuss vollständig zueigen machte und in den Königswinterer Thesen widergespiegelt sah (vgl. ebd. 341 f.). Der Remter (s. o. Anm. 30), 109. So 1523, WA 11, 278,27 – 279,29. So das Thema dieses Ausschnittes aus der Obrigkeitsschrift. Was in der Leserschaft nicht unbedingt auf positives Echo gestoßen ist, vgl. Der Remter (s. o. Anm. 30), 227 – 229.

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Trauer, sondern hilft, diese Welt als das zu tragen und zu ertragen, was sie ist. Sehr klar wird dies ersichtlich in einer Predigt Luthers über I Petr 2, die er 1539 gehalten hat; dort heißt es: „O ir lieben Christen (spricht er) die ir getaufft und zu dem königlichem und priesterlichem Reich Christi beruffen und bracht seid, Ich wil euch itzt viel ein anders sagen, denn ir und ich zuvor gedacht und getreumet haben, Wir sind ja in diesem Reich Bürger, Graven und Herrn, da Christus ist der höheste König uber alle Könige und Herrn, und darin eitel reichthumb, freude und alle seligkeit ist, on ende, Es gehet aber nicht zu weltlicher weise wie bey irdischen Königen und Herrschafften, Denn das müsset ir auch wissen, Ir seid nach der Welt nicht solche Herrn und Jünckern, wie Christus auch nicht nach der Welt ein König ist, und der Welt Reich sich nichts reimet mit seinem, Sondern ir müsset euch schetzen in der Welt Reich als fremdlinge und Geste. / Darumb vermane ich euch auch, nach dem ir nu Christen und Bürger worden seid dieses ewigen himlischen Reichs, das ir euch also darein schicket und hinfurder also lebt, als die nicht mehr dieses irdischen Welt Reichs sind, Und dis leben auff Erden nicht anders ansehet denn als ein Waller oder Pilger in das Land, da er durch reiset […] Spricht er doch bald hernach: Seid unterthan aller menschlicher Ordnung […] Wie reimen sich die zwey zusamen, In der Könige und Herrn Regiment leben und doch hie auff Erden Pilgerin sein? Wie können wir zu gleich hie auff Erden leben mit Weib und Kind, Haus und Hoff, Bürgerschaft, Oberkeit, und doch nicht hie daheimen sein? […] Christus und die Aposteln wollen hiemit das eusserlich menschlich leben und regiment nicht verworffen haben […], Sondern lassen es stehen und bleiben, wie es stehet, Ja, heissen sie dazu darunter bleiben, und des selben gebrauchen. / Aber das ist die unterscheid, Wenn wir also hie leben in solchen stenden und wesen, das wir dennoch dis leben nicht lassen unser Königreich und heubt schatz sein […].“37 Sehr genau also wird unterschieden, die Welt einerseits durchaus als Interim zwischen Schöpfung und Erlösung zu verstehen und sie andererseits deshalb zu verachten. Diese Welt, so Luther, ist im Gegenteil zu gebrauchen. Der Mensch, der sich als Pilger zu begreifen hat, weil er durch die Taufe berufen ist, ins ewige Reich einzuziehen, soll als Pilger eben nicht darben und leiden, sondern seinen Weg zur ewigen Heimat mutig und hoffnungsvoll gehen und dabei alles äußerliche Leben nutzen, ohne daran sein Herz zu hängen. Wichtig ist allein, dass er dieses äußerliche Leben eben als genau dies versteht, als äußerlich und als etwas, das er gebrauchen soll und nicht das umgekehrt ihn gebraucht. Wie der 37 WA 21, 341,13 – 342,17.

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Sabbat um des Menschen willen da ist und nicht der Mensch um des Sabbat willen, so ist die Welt insgesamt mit all ihren Gütern für den Menschen da und nicht der Mensch für die Welt. Insofern gehört auch der Einsatz für diese äußerlichen Dinge zum Äußerlichen und wird von Luther in aller Schärfe relativiert: „Honestum forte dices, si exemplum praestantissimum petam, quod pro patria, pro coniugibus et liberis, pro parentibus occubuerint, aut ne mentirentur aut proderent, exquisitos cruciatus pertulerint, quales Q. Scevola M. Regulus et alii fuerint. Quid vero in his omnibus nisi speciem externam operum monstrare poteris? An cor eorum vidisti? […] Sed ut sit hoc honestum apud homines, apud Deum tamen nihil est inhonestius, imo impiissimum et summum sacrilegium, nempe quod non pro gloria Dei egerunt nec ut Deum glorificaverunt, sed impiissima rapina Deo gloriam rapientes et sibi attribuentes nunquam magis inhonesti et turpes fuerunt, quam dum in summis suis virtutibus fulserunt.“38 Luther formuliert pointiert, dass beides: das Wahrnehmen dieser Welt und das Hinausschauen über ihre Grenzen, den Christenmenschen auszeichnen: „Sihe, das sol sein (wil S. Petrus sagen) eines jeden Christen wesen und wandel auff Erden, das er erstlich wisse sein Recht Heimat oder Vaterland, Welches geschicht durch den Glauben an Christum, durch welchen wir zu Gottes Kinder und Erben des ewigen Lebens und Bürger im Himel worden sind, Wie wir hievon auch singen: Nu bitten wir den heiligen Geist umb den rechten Glauben etc. wenn wir heim faren aus diesem Elend Welches eben mit diesem Text stimmet, da er uns heisst Pilgerin oder wallende, die allhie im elend sind und nu heim begeren und dencken zum Thor hin aus. Zum andern, Weil wir in diesem elend sein müssen und noch nicht daheim sind, so müssen wir dem Wirt alle ehre und der Herberge ir Recht thun und fur gut nemen, was uns widerferet.“39 Diese Welt mit Verachtung zu strafen hieße, den Wirt und die Herberge, also Gott und seine Schöpfung missachten. Und in dieser Welt und für diese Welt gilt es sich dann auch mit ganzer Kraft zu engagieren und sich nicht mönchisch oder scholastisch herauszuhalten: „Wie nu einer sich der sich 38 De servo arbitrio (1525), WA 18, 742,31 – 743,8. 39 WA 21, 433,3 – 13. Der bis heute im Gesangbuch bewahrte Pfingstgesang „Nun bitten wir den Heiligen Geist“ (EG 124) hat für Luther offenbar eine recht große Bedeutung gehabt, denn er hat nicht nur drei Strophen für ihn gedichtet, sondern gerade diese erste Strophe und ihre Formulierung des „Heimfahrens aus dem Elend“ öfter thematisiert, vgl. etwa im „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ (1519), WA 2, 697,5 – 8, oder in einer Predigt am Sonntag Jubilate (1544), WA 49, 392,15 – 19.

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ynn einer frembden stad setzet, nach der selbigen Stad ordnung und burgerecht sich mus halten, also mus es hie auch zugehen: Wenn ich nu an Christum gleube, so bin ich da heim ynn meinem vatterland, Aber mit dem leib und leben bin ich wie ein gast, darumb mus ich mich auch halten, wie sich andere leut hallten, der welt guts thun, gemeinen fried helffen schutzen, handhaben und hallten […] Ich habe hende, fusse und ein zunge, augen, ohren, die gehoren erunter, mit denen sol ich ein knecht sein und also leben, das ich den andern da mit nutzlich sey als ynn einem dienst.“40 Wie eng der Zusammenhang zwischen Rechtfertigung, ewiger Heimat und christlicher Freiheit ist41, wird an diesem Textausschnitt evident. Nur derjenige ist christlich frei und darin ein dienstbarer Knecht dem Nächsten gegenüber, der sein Herz nicht an die Welt hängt, aber in ihr zu leben und zu wirken weiß und willig ist. Luther wehrt sich allerdings dagegen, die wahre Heimat sozusagen ausschließlich erst für den Sanktnimmerleinstag zu erwarten; im Gegenteil: Das himmlische Jerusalem, die ecclesia triumphans und die patria coelestis sind – so setzt er sich mit dem vierfachen Schriftsinn auseinander – bereits hier und jetzt wirklich und in der Lage, die Gewissen aufzurichten; so legt er Gal 4, 26 aus: „Ideo sursum non intellige !macycij_r, ut Sophistae, de Ecclesia triumphante […] in coelis, sed de militante in terris. […] Distinguenda ergo est spiritualis et coelestis benedictio contra terrestrem, quae est, habere bonam politiam et oeconomiam, habere prolem, pacem, opes, fruges et alia corporalia commoda. Coelestis autem benedictio est liberari a lege, peccato et morte, iustificari et vivificari, placatum Deum habere, habere cor confidens, conscientiam hilarem, consolationem spiritualem, habere cognitionem Christi, prophetiam et revelationem scripturarum, habere dona Spiritussancti, laetari in Deo etc. Hae sunt benedictiones coelestes Ecclesiae Christi. / Quare Hierusalem, quae sursum est, id est, coelestis, est Ecclesia in hoc tempore, non !macycij_r futurae vitae patria vel Ecclesia triumphans, ut otiosi et ineruditi Monachi et Scholastici doctores nugati sunt […] His insulsis et nugacibus fabulis […] fecerunt, ut de nullis rebus conscientiae certo erudiri potuerint. Sed Paulus […] [n]ovam autem et coelestem, quae Domina sit et libera, constitutam esse divinitus, non in coelis, sed in terris, ut sit omnium nostrum mater, ex quo sumus generati et quotidie generamur. Ergo necesse st hanc matrem nostram, ut et eius generationem, esse in terris inter homines. Generat tamen in spiritu ministerio verbi et sacramen40 Predigt am Ostersonntag 1530, WA 32, 51,8 – 18. 41 Die Parallelen zum Freiheitstraktat sind auffällig.

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torum etc., non in carne.“42 Luther unterscheidet mithin zwischen fleischlich und geistlich, nicht zwischen himmlisch und irdisch, was gegenüber der Tradition eine völlig neue Sicht ermöglicht: Der geistliche Mensch kann im Hören und im Vertrauen auf das Evangelium sehr wohl das, was als himmlische Güter verheißen ist, im Bereich des Irdischen erfahren, ja er soll es und er soll daraus sein Leben in dieser Welt gestalten. In einer Predigt über Tit 2 aus dem Jahr 1531, in der er auf die Stelle aus dem 1. Petrusbrief rekurriert, macht Luther noch deutlicher, wo denn die eigentliche Heimat des Christen ist und wonach sich „wahre Heimat“ eigentlich richtet. „[E]s bürgert, wandelt und wonet sich mit uns Christen nicht in dieser Welt, Sondern im Himel ist unser Bürgerschaft, Wandel und Wonung. […] Darumb sollen wir uns auch also richten, als die nicht von dieser Welt sind noch darein gehören, Sondern anderswo hingehören, in ein ander Bürgerschaft und Reich, da wir ein bleibend Wesen haben. […] Ein Frembling heisst ein Einkömling oder Auslender, der an dem ort, da er wohnet, nicht Bürger ist von ankunfft und geburt, Sondern anders woher sein ankunfft hat, Summa: ein Frenbdling heisst, der nicht Einheimisch ist […]. Also sind die Christen Frembdlinge und Pilgrin in dieser Welt. Frembdlinge sind sie, Darumb, das sie nach der fleischlichen Geburt von Gott komen in diese Welt, aus nichts geschaffen, Und nicht in dieser Welt bleiben, Sondern müssen diese Welt lassen […] Pilgerin sind sie, Darumb das sie nach der geistlichen Geburt, da sie durch das Wasserbad im Wort aus dem heiligen Geist widergeboren sind, auff Erden sind als Geste, und ir Leben nur ein Walfart ist […] So wil nu S. Petrus anzeigen, das wir dis Leben nicht anders ansehen sollen, denn als ein Frembdling und Pilgerim das Land ansihet, darinne er ein Auslender und Gast ist. Ein Frembdling darff nicht sagen: Hie ist mein Vaterland, Denn er ist da nicht Einheimisch. Ein Pilgerim gedenckt nicht zu bleiben im Lande, da er wallet, und in der Herberge, da er uber nacht ligt, Sondern sein Hertz und Gedancken stehen anderswo hin.“43 Zuhause und Heimat also haben in diesem Sinne nichts mit weltlichem Geburtsort, mit Nation, ja nicht einmal mit Familie zu tun, sondern alle Menschen haben eine einzige geistige Heimat bei Gott. Jede irdische Wohnstatt, jede irdische, explizit ausgewiesene oder gefühlte Verbindung zu einer Nation oder einem Volk, einem Staat oder einer Stadt haben ihr Recht, aber sie haben dies ihr Recht allein als vorläufiges. Ein Recht auf irdische Heimat ist nicht abzuleiten und theologisch keineswegs begründbar, denn dies 42 WA 40 I, 662,25 – 663,28. 43 WA 34 II, 112,28 – 113,21.

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würde in letzter Konsequenz bedeuten, die Welt über den Himmel zu setzen, die Güter der Erde über die Güter Gottes. Luther trifft in seinen exegetischen Arbeiten selbstverständlich recht häufig auf das in den Schriften begegnende Phänomen „Heimat“, „Vertreibung aus der Heimat“, „Verheißung der Heimat“ und „Rückkehr in die Heimat“. Und er ist darin stets eindeutig: Die irdische Heimat ist nicht diejenige, die Gott verheißen hat. So deutet er: „[Abraham spricht] Sum eductus per Dominum, Deum coeli, qui plures habitationes et hospitia habet, quam illam regionem et patriam meam. Est Dominus coelorum, aliud ergo regnum mihi destinavit, quam patriam.“44 Es geht im Letzten um die rechte Zugehörigkeit als Konsequenz aus dem ersten Gebot. Wer Christus gehört, kann nicht gleichzeitig an etwas anderes sein Herz hängen. Freilich kann und soll er das, was die Welt bietet, gebrauchen und genießen; aber er muss wissen, dass all dies der Vergänglichkeit und Endlichkeit unterworfen ist und in der Vergänglichkeit dem Wandel, der Unzuverlässigkeit, der Untreue, der Lüge unterworfen sein kann. Im übrigen kann Luther in genau dieser Hinsicht formulieren, dass Gott nicht „daheim“ sei, wenn er seine Gnade entzieht, also nicht als der erscheint, als der er gewöhnlich und zuverlässig begegnet.45 In einer sehr übergreifenden, gleichwohl daran angelehnten Interpretation könnte man so weit gehen zu sagen: Heimat ist dort, wo und wenn Gott bei sich selbst ist, also sich als der erweist, der er ist, und der Mensch eben dies erfahren darf. Freilich erfährt er dies unter den Bedingungen der Sünde nur angefochten und in der dialektischen Spannung zwischen Gesetz und Evangelium. Das Evangelium indes lässt in aller und gegen alle Sünde und deren Folgen leben. Es gilt: „Dis stück sollen wir wol mercken, auff das wir unsern HERRN JHESUM CHRISTUM recht erkennen, sein und seines Euangelii und der heiligen Tauffe recht geniessen lernen, Nicht, das wir uns hie in dieser Welt ein ewig Leben bawen, demselben so nachgehen und anhangen, als were es unser Heubtschatz und Himelreich, und als wolten wir des HERRN Christi, des Euangelii und der Tauffe geniessen zu diesem Leben, an im reich und gewaltig werden, Sondern weil wir ja auff Erden leben müssen, so lang Gott wil, das wir also essen, trincken, freyen, pflantzen, bawen, haus und hoff, und was Gott bescheret, haben und brauchen als Frembdlinge und Geste in einem 44 Genesisvorlesungen (1535 – 45), WA 43, 315,39 – 316,1. 45 Vgl. in der Auslegung des 101. Psalms (WA 51, 220,23 – 27) sowie in der Vorlesung über das Hohelied (WA 31 II, 599,24).

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Frembden Lande und im Gasthofe […] Wer nu sein Hertz nicht richtet und schicket in jenes unvergengliche Leben und allein an diesem zeitlichen, vergenglichen Leben hangen bleibt, Der verstehet nichts, was Tauffe, Euangelium, Christus und Glaube sei […] Weil wir hie in dieser Welt leben, so ist jenes zukünfftige Leben zugedeckt und verborgen, Und mus allein mit den augen des Glaubens erkant und gefasset werden.“46 Gott, der schon nicht das erste Menschenpaar und nicht einmal den Brudermörder Kain schutzlos entlässt, gibt dem Menschen alles, was er auf seinem Pilgerweg braucht. Er gibt ihm aber vor allem etwas, was ihn diese Fremdlingschaft nicht als ständige Bedrohung erfahren und ihn seinen Pilgerweg zielstrebig fortsetzen lässt: Taufe und Evangelium sowie den Glauben an Christus als Unterpfand dessen, was Taufe und Evangelium verheißen. Kurz: die Erfahrung der Rechtfertigung aus Glauben, die sich in der Heilsgewissheit ausdrückt, welche auch in der absconditas Dei hält und trägt. Die Taufe und die Verkündigung des Wortes schaffen Gewissheit, dass wir in dieser Welt Fremdlinge sind, Gäste, Pilger, die ein anderes Ziel haben als irdisches Glück und Wohlergehen. Aber wir sind dies eben in dieser Welt und nicht von ihr losgelöst. Wenn also auch keine ewige Heimat in diesem Leben beschieden ist, so ist doch allein durch die Zusage des ewigen Lebens so etwas wie Heimat sehr wohl auch irdisch zu erfahren, nämlich jedesmal dann, wenn diese Zusage erinnert wird in den Beziehungs- und Kommunikationsräumen, die sich selbst aus dieser Zusage heraus verstehen und sich in sie hinein gestalten wollen. Diese Räume indes können nicht eingefordert werden, und es gibt auch keine Garantie für ihr Gelingen, sondern sie ereignen sich je und je neu und sind ein unverfügbares Geschenk aus der Wirkung des Heiligen Geistes. Heimat im theologischen Sinn, so könnte man an dieser Stelle konkludieren, ist dort, wo der Heilige Geist diese Erfahrung wirkt. Wo aber dieser Raum geschenkt wird, da werden Trost, Gewissheit und Freiheit erfahren: „Solchen trost sollen wir lernen, Denn so wir wöllen Christen sein und sonderlich Gottes wort füren, behalten und bekennen, so wirdt es nit mageln, anfechtung und widerwertigkeyt werden wir gnug haben. Wer nu hie nit friden will haben und daneben solcher künfftiger unnd ewiger wonung sich nit trösten will, der sitzt zwischen zweyen stülen nider, und ist nicht möglich, das er könne zu friden sein. Das aber wirdt unsere hertzen zu friden stellen, wenn wir sehen, wo unser Herr Christus hin gangen, und was er durch solchen gang außgerichtet hat, das er uns wonung gemacht unnd uns nicht stets hie nieden in der bösen, untrewen 46 WA 34 II, 113,30 – 118,20.

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welt will bleyben lassen, er will kummen und uns holen, auff das, wo er ist, wir auch sind und bleiben. Wer nach solcher freud nit ein verlangen hat und sich damit in allerley not unnd ander anfechtung nicht trösten will, dem ist weder zu rathen noch zu helffen.“47 Nach Luther gilt, so lässt sich zusammenfassen, auch und gerade im Blick auf die Heimat die Kunst des rechten Unterscheidens. So gilt, dass die irdische Heimat eine stets bedrohte und gefährdete ist und es keinerlei Garantie auf sie gibt. Und kein Recht. Jedenfalls kein von Gott gesetztes. Wie alles Weltliche und Irdische wäre es daher fatal, daran sein Herz zu hängen, darauf zu vertrauen und sich darauf zu stützen. Sich ausrichten soll der Christ dagegen an der ewigen, der himmlischen Heimat. Die Pointe dessen indes, was und wo und wann Heimat ist, das heißt Gewissensruhe und christliche Freiheit, bestimmt sich weder räumlichgeographisch noch zeitlich in der Spanne zwischen begrenzt und ewig. Heimat bestimmt sich relational48 : Woran der Christ sein Herz hängt, da ist er zuhause, da ist er angekommen, da ist seine Heimat. Und insofern kann er sehr wohl – und soll dies auch, denn genau das will das Evangelium in dieser Welt und für diese Welt leisten – bereits im Hier und Jetzt erfahren, was Heimat im theologischen Sinn bedeutet, nämlich sich in und durch die Rechtfertigungserfahrung angenommen zu wissen, getröstet zu sein und – sich nicht mehr erklären zu müssen, sondern erklärt worden zu sein durch die Mitte der Schrift: Jesus Christus.

3 Heimat – Ausgang Heimat ist dort, wo man sich nicht erklären muss. Die heftige und emotional aufgeladene Debatte der 50er und 60er Jahre über das Recht auf Heimat hat gezeigt, welche Sehnsucht die Vertriebenen angespornt hat, einen Ort zu finden, besser: wiederzufinden, wo ihnen genau dies auf der Basis von gemeinsamer Sprache, Geschichte und Kultur möglicherweise besser gelingen konnte als an den Orten, an denen sie unfreiwillig angekommen sind. Und welche Fehlgriffe sie sachlich und 47 Hauspostille 1544, am Tag Philipp und Jacobi, WA 52, 638,16 – 27. 48 Diese Relationalität macht – wenngleich nicht aus theologischer Perspektive – Greverus aus, wenn sie konstatiert: „[E]s soll nur auf den Bedeutungswandel des Begriffs Heimat im Verlauf seines Werdeprozesses hingewiesen werden, vor allem auf seinen Übergang von einem Ding zu einer Relation.“ (s. o. Anm. 3, 27) Vgl. dort auch weiter 28 – 55.

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verbal getan haben, sooft sie dieser ihrer Sehnsucht Ausdruck verliehen haben. So klangen viele Töne, die sie anspielten, reaktionär, revanchistisch und aggressiv und entbehrten der Sensibilität, die aus einer historischen Weitsicht und aus einer Anerkenntnis rechtlicher Vereinbarungen hätte geboren werden können. Ihre verständliche Klage über den Verlust der Heimat ging allzu schnell über in eine Anklage und Einklage. Und diese wurden legitimiert durch ein eingefordertes, von Gott geschenktes Grundrecht auf Heimat. Die Ostdenkschrift hat dagegen aufgezeigt, wie ausgeschlossen diese theologische Rückbindung ist und wie unsachgemäß daher. Ein Recht auf irdische Heimat wird bestritten. Statt dessen werden, ausgehend von rechtfertigungstheologischen Grundeinsichten, Strukturen aufgezeigt, die über Heimat konstruktiv nachdenken lassen. Dieser Zusammenhang zwischen Heimat und Rechtfertigung ließ sich auch bei Martin Luther nachweisen, so dass sich systematische Bezüge konstatieren ließen, die in der Auffassung gipfeln, dass im theologischen Sinn nur dann recht von Heimat geredet werden kann, wenn dieser Begriff relational gefasst wird. Dies schützt vor einer Überhöhung der Sache einerseits – und in diesem Zusammenhang davor, ein Recht auf eine geographisch bestimmbare Heimat theologisch begründen zu wollen – und andererseits vor einer Bagatellisierung der hinter dem Begriff stehenden Affekte und Befindlichkeiten. Ist nämlich einmal die Frage der Zugehörigkeit für den Christenmenschen entschieden, schärft dies alle Sinne für das, was irdische Heimat bedeutet und was nicht. Die irdische Heimat wird von dort aus relativ: Freilich werden gemeinsame Sprache, Geschichte, Kultur und nicht zuletzt Religion weiterhin eine zentrale Rolle für Heimat und Beheimatung spielen; Heimat aber wird vor allem dann dort sein, wo sich die Rechtfertigungserfahrung und in ihr die Erfahrungen von Gewissheit, Freiheit und Trost Platz greifen und an der patria coelestis Teil geben. Dass diese Grundeinsicht Konsequenzen auch auf unser heutiges Nachdenken über Heimat haben muss, ist evident. Insbesondere in den so brennenden Fragen nach Migration und Integration könnte die herausgearbeitete Unterscheidungskunst hilfreich sein, Möglichkeiten und Grenzen von entsprechenden Programmen und ihren Zielen zugleich zu bedenken. Aber auch in allen anderen Bereichen, in denen darüber nachgedacht werden muss, wie Menschen die eingangs angesprochenen Elemente Geborgenheit und Heilsein, Vertrauen, das sich über Vertrautheit erschließt, Angekommen- und Angenommen-Sein vermittelt werden kann, könnte das reformatorisch geformte und in der Denkschrift wieder begegnende Verständnis Wege aufzeigen, wie und wieweit dies

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gelingen kann. Hier ist vor allem die Kirche gefordert, ihr reformatorisches Erbe verantwortungsvoll zu verwalten. Sie kann und soll in der Welt Heimat sein im Bewusstsein, selbst den Gesetzen aller irdischen Heimat ausgeliefert zu sein – mehr noch aber im Bewusstsein, dass sie ein Ort zu sein hat, in dem die Zusage Gottes verkündet und gelehrt wird, und also ein solcher, wo man sich nicht erklären muss.

„Gerecht und Sünder zugleich“ – Zur Ontologie des homo christianus nach Martin Luther Wilhelm Christe 1 Bekenntnis versus Ontologie? „Gerecht und Sünder zugleich“ oder lateinisch „simul iustus et peccator“: In dieser abbreviativen Formel hat Martin Luther bekanntlich die spannungsgeladene Existenzweise des homo christianus zusammengefasst.1 Gerade deshalb ist diese Formel beziehungsweise der durch sie bezeichnete Sachverhalt oder besser „Existenzverhalt“ auch für Luthers Theologie insgesamt zentral. Die Formel „enthält das Ganze der Lutherschen Theologie“2, und in ihr laufen letztlich alle Linien seines Denkens zusammen. In unübersehbarer Spannung zur Erkenntnis der Zentralität der simul-Formel für Luther selbst stehen allerdings die Schwierigkeiten, die ihr genaues Verständnis und ihre Vermittlung im interkonfessionellen, aber auch innerevangelischen Gespräch bis heute mit sich bringen. Die Einwände sind zahlreich und gravierend: Stellt die Formel nicht einen logischen Widerspruch dar? Wie kann ein und derselbe Mensch gerecht und sündig zugleich, also Gott zugewandt und zugleich von Gott abgewandt sein? Und sollte sich diese Schwierigkeit auflösen lassen, beinhaltet die Formel dann nicht weiterhin eine theologische Ungereimtheit: Wenn Gott den Menschen gerecht spricht, ja sogar gerecht macht, warum befreit er ihn dann nicht auch von der Sünde, sondern belässt ihn in ihr? Muss man von der Wirkmächtigkeit seiner Gnade so gering denken? Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach der biblischen Basis für das simul: Steht der Verfechter des „sola scriptura“ damit selbst auf dem Boden der Heiligen Schrift? Wie sehr das simul iustus et peccator auch heute noch zwischen der römisch-katholischen und der lutherischen Kirche strittig beziehungsweise ungeklärt ist und auch innerevangelisch noch für 1 2

So wörtlich WA 56, 272,17; WA 57 I, 165,12; WA 2, 497,13; WA 37, 34,36 f; WA 40 I, 368,26. Rudolf Hermann, Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich“ (1930), Darmstadt 21960, 7.

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Diskussionen sorgt, zeigte von neuem die nun schon gut zehn Jahre zurückliegende Kontroverse um die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (1997). Auch durch die ihr angefügte „Gemeinsame offizielle Feststellung“ und deren „Anhang“ (1999) dürfte eine befriedigende Verständigung nicht erzielt worden sein.3 Führt man sich die anhaltende Strittigkeit von Luthers These „simul iustus et peccator“ vor Augen, so kann es nicht Wunder nehmen, dass man schon vor der „Gemeinsamen Erklärung“ auf evangelischer und katholischer Seite – anstatt weiter die inhaltlich differenten Positionen zum Konsens zu bringen – das Augenmerk auf die formale Eigenart der These bei Luther selbst, aber auch in der theologisch-systematischen Reflexion überhaupt lenkte. In dieser Hinsicht wurde geäußert, dass Luther mit seiner Aussage, wonach der Christ gerecht und Sünder zugleich sei, primär und vorrangig eine Bekenntnis- und Gebetsaussage und weniger beziehungsweise erst sekundär eine dogmatisch-ontologische Aussage über die Verfasstheit des homo christianus treffe. Stehe der Christenmensch vor dem Angesicht Gottes, so könne er all seine Gerechtigkeit nur Gott und nicht sich selbst zuschreiben, sich selbst habe er vielmehr ganz als Sünder zu bekennen. Am Ort des Gebetes msse man also als Christ zum simul iustus et peccator kommen, und auch der katholische Christ vollziehe diesen Schritt faktisch immer schon mit, wie es insbesondere das Bekenntnis vieler Heiliger zeige. Davon zu unterscheiden sei aber die sekundäre, keinesfalls zwingende, vielleicht sogar illegitime Ontologisierung dieser Formel zu einer Aussage über die Seinsstruktur des Christenmenschen. So führte schon Edmund Schlink 1957 aus, dass sich „die Aussage simul peccator et iustus als Aussage existenziellen Bekennens der Sünde und des Glaubens faktisch in der ganzen Christenheit, auch innerhalb der Römischen Kirche“, finde. „Dieselbe Aussage aber muss dem als Leugnung der neuschaffenden Gnade, insonderheit der Wiedergeburt in der Taufe, erscheinen, der sie als ontologisch-metaphysische Bestimmung des christlichen Seins miss-

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Wenn in diesem „Anhang“ nicht sogar die lutherische Position vom Sündencharakter der Konkupiszenz zugunsten ihrer Wertung als potentiellem „Einfallstor der Sünde“ aufgegeben wurde, kann im besten Fall davon gesagt werden, dass die konfessionell gegenteiligen Positionen einfach nebeneinandergestellt wurden, so dass jeder der Dialogpartner seine Auffassung darin wiederfinden kann.

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versteht.“4 Dem pflichtete Horst Georg Pöhlmann unter Berufung auf Wilhelm Link5 bei, wenn ihm zufolge das simul für Luther „kein theoretischer Lehrsatz, sondern ein praktischer Erfahrungssatz“ sein will, eine „Gebetserfahrung“, ein „Notschrei des Gebetes“, nicht aber ein „wohl ausbalanciertes theologisches Theorem“.6 Ebenfalls auf Link rekurrierend, aber wesentlich differenzierter hatte schon der katholische Theologe Otto Hermann Pesch auf dieser Linie argumentiert, wenn auch für ihn Luthers simul seinen ursprünglichen Ort im Gebet besitzt, eine „Gebetsrealität“ darstellt, die von ihrer sekundären dogmatischen Konzeptionalisierung abzuheben sei. Luther betreibe eine „existentielle Theologie“, deren unhintergehbarer Ausgangspunkt das Stehen des sündigen Menschen vor dem gnädigen Gott sei, so dass Luther von da aus zum simul iustus et peccator kommen msse, was aber in einem anderen „Theologiestil“, z. B. dem „sapientialen“, mehr objektivierenden des Thomas von Aquin, nicht zwingend, ja sogar unmçglich sei.7 In beiden Fällen sei man sich am Ort des Gebetes selbst aber einig, hier bekenne sich auch Thomas existentiell zum simul iustus et peccator. Die „Versöhnung“ der im Blick auf das simul sich hartnäckig haltenden Differenzen ist bei den genannten Autoren trotz aller Nuancierungen im einzelnen dennoch dieselbe: Auf der Ebene der religiösen Erfahrung coram deo, die Luther primär mit der simul-Aussage anziele, 4 5

6 7

Edmund Schlink, Die Struktur der dogmatischen Aussage als ökumenisches Problem, in: Ders., Der kommende Christus und die kirchlichen Traditionen, Göttingen 1961, 24 – 79, hier 78. Vgl. Wilhelm Link, Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, München (1940) 21955, 77 – 82, bes. 77 f: „Der Satz, dass der Mensch gerecht und Sünder zugleich sei, ist als Bekenntnis zu verstehen, d. h. in ihm spricht der Glaubende aus, wie er die Situation zwischen Gott und Mensch versteht, wenn er betend vor Gottes Angesicht tritt. Es ist eine Selbstaussage des Betenden, und was er ausspricht, ist keine objektive und allgemeine Deskription dessen, was der Mensch ist […]. Es ist vielmehr eine Wahrheit, die nur in der Subjektivität des Glaubens wahr ist, die für den nicht wahr ist, der nicht betend vor Gott steht. […] Bekenntnis ist immer, notwendig und an jedem Ort, das Doppelbekenntnis zu Gottes Heilen und unserer Heillosigkeit, zu Gottes Erbarmen und unserer menschlichen Erbärmlichkeit.“ Horst Georg Pçhlmann, Rechtfertigung, Gütersloh 1971, 362, 365. Vgl. ebd., 361 – 377. Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas von Aquin (1967), Darmstadt 21985, 531 – 534, 938 f; Ders., Hinführung zu Luther, Mainz (1982) 32004, 223ff; Ders., Simul iustus et peccator, in: Theodor Schneider / Gunther Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich. Ökumenische Klärungen, Freiburg i.Br. / Göttingen 2001, 146 – 167, hier 163 ff.

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können alle seine Formel im Grunde akzeptieren und mitsprechen, die Differenz liegt allein bei der theologisch nachrangigen, wenn nicht sogar unzulässigen Dogmatisierung beziehungsweise Ontologisierung der Formel. Für einen interkonfessionellen Konsens sei aber das Einverständnis auf der ersteren Ebene der Formel hinreichend. Die folgenden Ausführungen möchten nun nicht zur Frage der ökumenischen Konsensbildung hinsichtlich des simul iustus et peccator Stellung nehmen, sondern – dazu vorgelagert – einen Beitrag zur Klärung des Sinnes beziehungsweise des Status der Formel bei Luther selbst leisten: Es soll zum einen die Frage geklärt werden, inwiefern die Aussage, wonach der homo christianus „gerecht und Sünder zugleich“ ist, für Luther tatsächlich eine Bekenntnis- beziehungsweise Gebetsaussage darstellt, ja darin sogar wurzelt und die erwähnten Autoren also etwas Richtiges gesehen haben (2). Sodann soll gezeigt werden, wie Luther darüber hinaus mit der simul-Bestimmung sehr wohl eine zusammenfassende Aussage über die Ontologie des homo christianus trifft, das simul iustus et peccator also durchaus als dogmatisch-ontologische Prädikation veranschlagt werden muss, die zum angemessenen theologischen Verständnis jener Gebetserfahrung notwendig und unerlässlich ist (3). Dabei wird erkennbar werden, in welcher Weise Luther ontologische Aussagen macht: Dies muss nicht im Rahmen der traditionellen Substanzontologie erfolgen, welche sich an der „Substanz“ beziehungsweise dem Subjekt als dem Träger von bestimmten Eigenschaften orientiert, sondern kann auch innerhalb einer voluntativen, den Menschen ganzheitlich als von Willenstendenzen bestimmt erfassenden, oder einer relationalen, den Menschen als durch Relationen konstituiert begreifenden Ontologie geschehen. Dabei ist vom stark bibeltheologisch geprägten „Denkstil“ Luthers her von vorneherein nicht damit zu rechnen, dass er den ontologischen Sinn der simul-Formel systematisch oder gar monographisch expliziert, sondern dieser Sinn aus den verschiedensten Andeutungen und Hinweisen bei ihm rekonstruiert werden muss. Falls das gelingt, müsste für einen wie auch immer zu erzielenden interkonfessionellen Konsens in jedem Fall auch diese zweite „ontologische“ Linie bei Luther mitbedacht und ernstgenommen werden, zumal sich deren Rezeption im Kern auch in den lutherischen Bekenntnisschriften nachweisen lassen dürfte.

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2 Das simul iustus et peccator: eine Gebets- und Bekenntnisaussage In seiner Schrift gegen den altgläubigen Löwener Theologen Jakobus Latomus (1521) affirmiert Luther das simul iustus et peccator in der Form, dass er die These „Jedes gute Werk ist eine Sünde“ („omne opus bonum est peccatum“) gegen die von Latomus dagegen vorgebrachten Einwände verteidigt. Dabei meint Luther mit dieser These keineswegs, dass die guten Werke der Gläubigen manifeste Tatsünden oder eklatante Gebotsübertretungen wären, es also gar keine guten Werke gäbe. Luther ist vielmehr der Überzeugung, dass in den guten Werken der Glaubenden immer noch – zugleich mit der guten Willenstendenz – eine negative, ichsüchtige, gott- und nächstenfeindliche Willensmotivation mit im Spiel ist (die so genannte concupiscentia), welcher der Christ zwar nicht zustimmt und nachgibt, er tut ja das gute Werk, welche aber dieses Werk doch so infiziert und kontaminiert, dass es vor dem bis zum Herzen des Menschen vordringenden Gericht Gottes als Sünde gilt und so selbst der Rechtfertigung durch Christus bedarf, um vor Gott bestehen zu können. Das setzt natürlich voraus, dass jener im guten Werk noch kopräsente Widerstand gegen das Gute selbst schon als Sünde und nicht nur als Disposition und Hinneigung zur Sünde zu qualifizieren ist. Dies ist für Luther aber aufgrund des im Gesetz ausgesprochenen Verbots der Begierlichkeit (Röm 7,7) und der im Licht dieses Verbots erfolgenden Gewissenserforschung unabweisbar. Luthers Gesprächspartner Latomus hatte demgegenüber angenommen, dass sehr wohl von guten Werken, die nicht Sünde sind beziehungsweise in denen keine Sünde mehr simultan präsent ist, ausgegangen werden kann, besonders bei so vorbildlichen Christen wie Petrus und Paulus. Für Luther folgt daraus aber, dass ein solch exemplarischer Christ, sein sündenfreies gutes Werk vor Augen, mit folgendem Gebet vor Gott hintreten könnte: „Siehe Herr Gott, dieses gute Werk habe ich mit Hilfe deiner Gnade getan; in ihm ist kein Fehler oder irgendeine Sünde, und es bedarf nicht deiner verzeihenden Barmherzigkeit, die ich für dieses auch nicht erbitte; und nun will ich, dass du es mit deinem ganz wahren und strengen Urteil richtest. Auf dies hin kann ich nämlich vor dir rühmen, dass auch du es nicht verdammen kannst, wenn du gerecht und wahrhaftig bist. Ja, wenn du dich nicht selbst verleugnest, wirst du es nicht verdammen. Ich bin gewiss, dass es nicht mehr der Barmherzigkeit, die

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Geschuldetes erlässt, bei diesem Werk bedarf, […] sondern nur der Gerechtigkeit, die es krönt.“8 Nach Luther müsste Latomus, wenn er dieses Gebet unvoreingenommen hörte, kräftig erschrecken und ins Schwitzen geraten, weil ihm die innere Unmöglichkeit und Anmaßung, so betend vor Gott zu treten, aufginge: Der Mensch kann sich von Gottes verzeihender Barmherzigkeit nicht mit dem Verweis auf seine guten, durchaus in der Gnade Gottes vollzogenen Taten emanzipieren und vor Gott – zumindest im Blick auf dieses oder jenes gute Werk – kein Sünder mehr sein wollen. Im Gebet wird diese Unmöglichkeit und Anmaßung bewusst, und das Gebet macht offenbar, dass in einer Theologie ohne das simul peccator etwas „nicht stimmt“! Im Umkehrschluss bedeutet dies für Luther aber, dass der Mensch im betenden Stehen vor Gott sich selbst ausschließlich als Sünder zu bekennen hat, der in allem auf die Vergebung Gottes angewiesen ist und dessen gutes Werk jederzeit der Barmherzigkeit Gottes bedarf. Vor Gott stehend sich gleichsam trotzig zu rhmen, vermag der Mensch nur, wenn er sich auf Gottes Verheißungswort der Sündenvergebung stützt und dieses Wort gleichsam Gott selbst entgegenhält. So formuliert Luther parallel zum ersten Gebet, nun aber auf Gottes Wort bezogen, ein zweites, „richtiges“ Gebet: „Ich weiß, dass du dies [das Wort] nicht verdammen kannst, dies nämlich ist gerechtfertigt in sich selbst, nicht nur sich keiner [bösen] Sache bewusst; dies fürchtet nicht dein Gericht, es sucht auch nicht deine Barmherzigkeit; zuletzt können wir dies dir entgegenstellen, da es dir in allem gleich ist.“9 Von den beiden zitierten Textstellen aus dem sog. „Antilatomus“ her lässt sich also in der Tat die Behauptung erhärten, dass das simul iustus et peccator für Luther in der Situation des Gebetes, des Stehens coram deo verifiziert wird, ja wesentlich aus dieser Situation resultiert: Hier geht dem Menschen elementar auf, dass alle Gerechtigkeit, die er „hat“, die „vor Gott gilt“, ihm nur von Gott und seinem Wort, also bleibend ab extra zukommt, dass er Gott nichts Eigenes, und sei dieses auch in der einmal empfangenen Gnade gegründet, entgegenhalten kann, um vor ihm zu bestehen. Im Gebet wird der homo christianus der Wahrheit inne, dass er sich vor Gott nur als peccator, ja als totus peccator erachten kann und muss. Luther leugnet mit dem simul iustus et peccator beziehungsweise dem omne opus bonum est peccatum nicht – wie schon betont –, dass der Christ 8 9

WA 8, 79,21 – 28; zitiert nach der deutschen Übersetzung in LDStA 2, 277,9 – 19. WA 8, 81,12 – 15 (= LDStA 2, 281,5 – 9).

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gute Werke tut, sondern behauptet nur, dass wir unbeschadet ihrer innerweltlich-ethischen Valenz vor Gott auf sie nicht bauen und vertrauen können. Gott hat uns einerseits darüber aufgeklärt, worin materialethisch die guten Werke bestehen. Er hat uns andererseits aber ebenso darüber Gewissheit geschenkt, dass unsere guten Werke nicht ohne Sünde sind, „so dass wir uns mit nicht zweifelhaftem und trügerischem Bekenntnis (non dubia et fallaci confessione) in jedem Werk als Sünder erkennen können und als Menschen der Barmherzigkeit [Gottes] erwiesen werden“10. Es kann und muss also mit den eingangs angeführten Autoren konstatiert werden, dass Luthers simul iustus et peccator in dem Sinn eine „Gebetsrealität“ darstellt, dass der Ort des Gebets und des Bekenntnisses vor Gott der genuine Ort ist, an dem das simul dem Menschen in existentieller Erfahrung aufgeht: Die ehrliche Gewissensprüfung vor Gott lässt nichts anderes zu, sie sieht in allem Guten noch die unlautere Motivation mitschwingen und kann diese nicht als vor Gott „neutral“ einschätzen. Dabei steht für Luther solch tiefschürfende Introspektion nicht für sich, sondern als die Introspektion eines Christenmenschen sieht sie sich durch die Zeugnisse der Heiligen Schrift bestätigt, ja mehr noch: zu solch radikaler Selbstprüfung allererst herausgefordert und angeleitet! 11

3 Das simul iustus et peccator als ontologische Aussage über den homo christianus 3.1 Strukturmomente der Rechtfertigung Wenn wir jetzt in einem zweiten Schritt die ontologischen Implikationen der simul-Formel herausarbeiten, so ist dafür zunächst auf die wesentlichen Strukturmomente des Rechtfertigungsvorgangs nach Luther zu 10 WA 8, 82,7 – 9 (= LDStA 2, 283,9 – 11). 11 Vgl. WA 8, 98,15 f (= LDStA 2, 323,17 – 19), wo Luther sich für den Sündencharakter der auch nach der Taufe verbleibenden Konkupiszenz auf die „divina oracula“ und Paulus (= Schrift) sowie die „ipsa experientia quottidiana nostra et omnium sanctorum“ beruft. – Dass das Gebet ein wesentlicher Erkenntnisgrund des simul ist, hob schon Hermann, Luthers These (s. o. Anm. 2), 289, hervor: „Das Gebet ist also noch mehr als bloß die Haltung, die wir angesichts des Tatbestandes, dass wir als Sünder gerechtfertigt werden und als Gerechte Sünder bleiben, Gott gegenüber einnehmen. Es ist auch die Gestalt, in der wir dies simul als Wirklichkeit erleben.“ Vgl. ebd., 289 – 301.

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achten. Zwar ist Luthers Rechtfertigungslehre ein höchst komplexes, mit mancherlei Explikationsproblemen ringendes Lehrgebilde, dennoch lassen sich ihre fundamental-konstitutiven Elemente klar erkennen. In den Schmalkaldischen Artikeln, einem Text, der für Luther selbst höchste Verbindlichkeit besaß, da er ihn als persönliches theologisches Testament und als evangelische Bekenntnisgrundlage für das 1537 in Mantua geplante Konzil verfasst hat, führt er zur Frage, „wie man fur Gott gerecht wird“12, aus, „dass wir ‘durch den Glauben’ (wie S[ankt]. Petrus sagt) ein ander neu, rein Herz kriegen und Gott umb Christi willen, unsers Mittlers, uns fur ganz gerecht und heilig halten will und hält. Obwohl die Sunde im Fleisch noch nicht gar weg oder tot ist, so will er sie doch nicht rechnen noch wissen. Und auf solchen Glauben, Verneuerung und Vergebung der Sunde folgen denn gute Werke, und, was an denselben auch noch sundlich oder Mangel ist, soll nicht fur Sunde oder Mangel gerechnet werden eben umb desselben Christi willen, sondern der Mensch soll ganz, beide nach der Person und seinen Werken, gerecht und heilig heißen und sein aus lauter Gnade und Barmherzigkeit in Christo uber uns ausgeschutt und ausgebreit.“13 Nach diesem Text besteht der Vorgang der Rechtfertigung aus drei Momenten, wobei deren erstes selbst nochmals zwei Aspekte aufweist: Zunchst – und das blickt sozusagen auf den Initiationspunkt der Rechtfertigung – erhalten wir durch den Glauben ein anderes, neues und reines Herz, wie Luther mit einer Anspielung auf Act 15,9 darlegt. Wenn er fortfährt, dass Gott uns um Christi willen für ganz gerecht und heilig hält (reputare), dann wird man dies nicht additiv, als neuen Aspekt, sondern explikativ, als Verdeutlichung aufzufassen haben: Wir sind eben dadurch im Innersten neue Menschen geworden, dass Gott uns um Christi willen als gerecht und heilig ansieht, was freilich von uns im Glauben personal angeeignet werden muss.14 Dies stellt kein bloßes „Als ob“, keine Fiktion dar, sondern die „Reputation“, die wir bei Gott haben, ist eine Realität, ja die Realität schlechthin! Berücksichtigt man die Bedeutungsbreite des Bildes von dem durch den Glauben erneuerten Herzen bei Luther sonst15, wird man indessen nicht ausschließen können, 12 Die vollständige Überschrift des Abschnitts lautet: „Wie man fur Gott gerecht wird und von guten Werken“. 13 BSLK 460,6 – 19. 14 Die Wendung „durch den Glauben“ bezieht sich ja auf beide Nebensatzhälften! 15 Vgl. nur WA.DB 7, 10,6 – 27. Nach WA 8, 106,4 – 6 (= LDStA 2, 343,9 – 11) ist die iustitia fidei die „intima radix“ der guten Werke.

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dass er auch an dieser Stelle schon jenen innersten, mit dem Glauben aufs engste verbundenen Willensimpuls der liebenden Hingabe an Gott und das Gute mit im Blick hat, der dann zum Ausgangspunkt einer erneuerten Lebenspraxis wird.16 Nach dieser positiven Beschreibung wird dieses erste Moment nun negativ charakterisiert: Die imputatio der Gerechtigkeit wird als non-imputatio der Sünde, das heißt als Vergebung gefasst. Gott will die „im Fleisch“ noch verbleibende Sünde nicht anrechnen (non imputare). Die göttliche Vergebung bezieht sich mithin nicht so sehr auf einzelne Tatsünden in der Vergangenheit, sondern auf die so genannte Erbsünde, das sündige Sein des Menschen, das eben auch nach der Taufe beziehungsweise Rechtfertigung nicht beseitigt, sondern in gewisser Weise noch aktiv und lebendig ist, aber eben nicht angerechnet wird: Die Sünde ist vergeben, sie kann deshalb nicht mehr von Gott und vom ewigen Leben trennen. Als zweites Moment macht Luther dann die aus der solchermaßen doppelt strukturierten imputativen Rechtfertigung als Frucht folgende Lebenserneuerung in guten Werken geltend, was so zu verstehen ist, dass die Werke selbst nicht in den Begründungszusammenhang der Rechtfertigung eingehen. Nun fällt dabei aber sofort der Blick auf die Unvollkommenheit und Bruchstückhaftigkeit der christlichen Lebenspraxis – die Sünde ist ja noch nicht tot! –, und es muss deshalb als drittes Moment die non-imputatio nochmals veranschlagt werden: Die guten Werke können an sich – wegen der bleibenden Sünde – vor Gott nicht bestehen, ver16 Allein auf diesen Aspekt hin interpretiert die fragliche Textpassage Werner Fhrer, Die Schmalkaldischen Artikel, Tübingen 2009, 381ff, und begreift die imputatio dann konsequent als gesondertes Moment. Dass der Hinweis auf das neue Herz sich gleichwohl primär auf die im Glauben angeeignete imputatio iustitiae (Christi) und nicht schon auf die daraus folgende Lebenserneuerung bezieht, ja der Glaube selbst hier zunächst nicht als opus primi praecepti beziehungsweise als „Gläubigkeit“, sondern in seiner reinen Gerichtetheit auf die externe Gerechtigkeit anvisiert wird, zeigt die Interpretation von Apg 15,9 in der Disputation de iustificatione (1536): „Vocabulum purificandi est etiam in Actis vocabulum imputandi. Purificare cor est imputare cordi purificationem. Deus purgat gentes, hoc est, reputat eas purgatas, quia habent fidem, quamquam sunt realiter peccatores.“ (WA 39 I, 99,15 – 20) Dem folgt dann freilich ein anfängliches „realiter purgare“ durch den Heiligen Geist (WA 39 I, 99,24 – 29). Dass terminologisch hier die „Realität“ nur auf Seiten des peccatum remanens sowie der geistgewirkten Absage an das Böse zu stehen kommt, ist wenig glücklich, da auf diese Weise insinuiert wird, als ob die imputatio keine oder nur eine Realität minderen Ranges wäre, was ja mitnichten Luthers Auffassung ist.

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mögen zur Rechtfertigung „vor Gott“ nichts beizutragen, sondern es bedarf die auch ihnen anhaftende Sünde der göttlichen Nichtanrechnung um Christi willen. Nicht nur seiner Person, sondern auch seinen Werken nach ist der Mensch gerecht und heilig sola gratia propter Christum! Luther schreibt also der non-imputatio an dieser wichtigen Stelle (wie auch sonst immer wieder) eine doppelte Funktion zu: Er verortet sie einmal am Anfangspunkt der Rechtfertigung (Taufe beziehungsweise erstmalige Konstitution des Glaubens), begibt sich dann aber gleichsam in die Perspektive des schon getauften Christen, der immer wieder der Unzulänglichkeit seines christlichen Lebens ansichtig wird und zur non-imputatio der Sünde seine Zuflucht nimmt.17 Wie das Bleiben der Sünde beim Gerechtfertigten genauer zu verstehen beziehungsweise nicht zu verstehen ist, hatte Luther innerhalb der Schmalkaldischen Artikel bereits im Kontext der Bußthematik18 herausgestellt: Die Christen „haben“ und „fühlen“ die Sünde, das heißt die nach der Taufe als glaubenslose, ichsüchtige Konkupiszenz fortdauernde Erbsünde noch, sie bekämpfen sie aber und sagen ihr ab „durchs ganze Leben“19, indem sie ihr in bewussten Gedanken, Worten und Werken nicht zustimmen, sondern ein Leben nach den Maßstäben der menschlichen Gerechtigkeit führen, welches aber eben von jener permanenten Grundsünde noch verunreinigt wird und darum coram deo nicht zu rechtfertigen vermag. Die Christen sind zwar peccatores, aber – wie Luther andernorts hervorhebt20 – keine impii oder iniqui mehr! Davon zu unterscheiden ist aber der (offenbar nicht unmögliche) Fall schwerer, öffentlicher Tatsünde bei den Gerechtfertigten wie etwa bei König David, der sich des Ehebruchs, des Mordes und der Gotteslästerung schuldig gemacht hatte. Hier ist dann auch „der Glaube und Geist weg […] gewest“, die Sünde wurde aktiv „vollbracht“, weil dem bösen Hang und Trieb nachgegeben, der Stand des simul iustus et peccator also verlassen wurde. Um in ihn erneut einzutreten, sind Buße und Umkehr als neue Hinkehr zu Glaube und Evangelium erforderlich. 17 Eine andere Frage ist natürlich, ob die beiden Formen der non-imputatio nicht nur perspektivisch, sondern auch real verschieden sind, da Luther wegen des peccatum remanens Rechtfertigung als sich ständig („täglich“) wiederholendes Totalgeschehen denkt, in dem die Situation des Anfangs sich stets neu ereignet. Dazu WA 39 I, 94,37 – 95,8. 18 Vgl. BSLK 448,19 – 449,4. 19 Vgl. BSLK 447,20 – 27; Zitat 447,21 f. Eigentliches Subjekt dieses Geschehens ist für Luther der Heilige Geist! 20 Vgl. WA 1, 86,39; WA 56, 278,11 – 16.

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Fokussieren wir das Ganze auf das uns beschäftigende Thema der Ontologie des homo christianus: Im Vorgang der Rechtfertigung tritt der Mensch durch den Glauben unter Gottes gnädiges Urteil: Gott erachtet ihn um Christi willen für ganz gerecht und rechnet ihm die bleibende Sünde nicht zu. Daraus folgt, vermittelt durch eine in der imputatio gründende neue Willensausrichtung, eine Lebenserneuerung in guten Werken und im Kampf gegen die bleibende Sünde, welche aber gerade wegen des Bleibens der Snde niemals in die Rechtfertigung coram deo einzugehen vermag, sondern selbst auf diese dauerhaft angewiesen ist. Den guten Werken koexistiert immer und zu jeder Zeit (simul!) eine böse, zu Gott und dem Guten widerstndige Willensmotivation, die schon als solche, unabhängig vom Konsens zu ihr, Sünde im strengen Sinne, das heißt auf Vergebung angewiesen ist.

3.2 Zwei simultane Willensmotivationen Wenn Luther der Auffassung ist, dass in jedem guten Werk die Sünde noch präsent ist, dass man also im Tun des Guten sündigt, weil eine „selbstverkrümmte“ Willensmotivation noch mitschwingt, so musste schon – wie im Rechtfertigungskapitel der Schmalkaldischen Artikel möglicherweise angedeutet – vermutet werden, dass im homo christianus auch eine gute Willenstendenz wirksam ist, welche ja gerade das gute Werk hervorbringt und jene böse Willensausrichtung nicht zum Zuge kommen lässt. Und genau dies macht Luther auch ausdrücklich geltend: dass in der Person des Christen simultan zwei konträre Willensmotivationen aktiv sind, die einander feindlich gegenüberstehen und sich gegenseitig bekämpfen. Dafür beruft sich Luther immer wieder auf Röm 7,14 – 25 sowie Gal 5,17, wobei er Röm 7,14 – 25 ganz von Gal 5,17 her interpretiert, das heißt er sieht auch Röm 7,14 – 25 von Paulus beziehungsweise generell vom homo christianus und nicht vom vorchristlichen Menschen ausgesagt. So ergibt sich dann aus Röm 7, dass ein und derselbe Mensch Paulus, „der heilige Apostel, voll der Gnade“, zugleich (simul) Freude hat am Gesetz Gottes, zugleich (simul) aber dem Gesetz Gottes widerstreitet; er will das Gute nach dem „Geist“, nach dem „Fleisch“ aber will er das Gegenteil (contrarium). In seiner Entschiedenheit für das Gute ist immer auch eine repugnantia, eine resistentia mit im Spiel, der voluntas korrespondiert eine quaedam noluntas, so dass Paulus das Gesetz Gottes

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niemals voll und ganz erfüllt.21 Der Apostel und mit ihm alle Christen befinden sich deshalb im Zustand eines „gemischten Willens“: „Mixta sunt haec duo [voluntas und noluntas] in omni vita et opere nostro.“22 Luther nimmt demnach in der Tat zwei antagonistische Motivationen im Christenmenschen an: Die eine will Gottes Willen und Gebot, das heißt letztlich die ungeteilte Liebe zu Gott, „mit Lust und Liebe“ erfüllen und stellt sozusagen den reinen aus dem Glauben resultierenden Willensimpuls dar, die andere bildet dazu einen Gegenwillen und ist mit jener Grundsünde der glaubenslosen, in sich verkrümmten Konkupiszenz identisch. Dabei ist zum rechten Verständnis dieser Konzeption ein Vierfaches wichtig: Einmal, dass jene beiden konträren Willen sozusagen lücken- und pausenlos im Christen koexistieren, also ein strenges simul vorliegt. Denn der böse Gegenwille tritt nicht nur hin und wieder, etwa anlässlich bestimmter äußerer Versuchungen, sondern ununterbrochen (semper) auf, kommt er doch wesentlich aus dem Inneren, dem auch noch bösen Herzen des Christen, das seiner willentlichen Kontrolle nicht untersteht! Zweitens tut der homo christianus das Gute, nicht das Böse, er begeht (in der Regel) keine Tatsünde, sondern handelt nach ethischem Maßstab gut, nur seine innere Motivation ist noch geteilt! Es bleibt ein innerer Widerstand und ein ständig neu zu bestehender „Motivkonflikt“! 23 Drittens: Zwischen diesen beiden Motivationen herrscht ein Subordinationsverhältnis: Die böse Motivation ist zwar noch da, kommt aber nicht zum Zuge, sie ist peccatum regnatum, nicht peccatum regnans. 24 Der Christ ist kein willensschwacher, sondern ein willensstarker Mensch, weil er den in ihm noch vorhandenen bösen Trieben und Neigungen nicht nachgibt! Und schließlich: Da diese aber die gute Motivation gleichwohl tangieren und sozusagen „abbremsen“, erfüllt er nicht voll,

21 Vgl. WA 2, 412,14 – 29. Luther bezieht sich hier auf seine fast wortgleichen Ausführungen in einer Präparation zur Heidelberger Disputation (1518) zurück: WA 1, 367,15 – 30. 22 Vgl. WA 2, 413,16 – 18; Zitat 413,18. 23 So Risto Saarinen, Klostertheologie auf dem Weg zur Ökumene: Wille und Konkupiszenz, in: Christoph Bultmann / Volker Leppin / Andreas Lindner (Hg.), Luther und das monastische Erbe, Tübingen 2007, 269 – 290, hier 283 f. Siehe auch schon Hermann, Luthers These (s. o. Anm. 2), 190, wenngleich etwas abschwächend: „Es fehlt also offenbar nicht an [guten] Werken. Sie kommen auch aus einem gereinigten Herzen. Es fehlt ihnen nur das eine, dass der gute Wille noch nicht zur Vollendung gediehen ist.“ 24 Vgl. WA 8, 94,8 – 14 (= LDStA 2, 313,4 – 10).

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sondern nur partiell das Gesetz Gottes – und bleibt so von sich her Sünder! 25 Luther hat genau diese Theorie des „gemischten“ oder „gespaltenen“ Willens vor Augen, wenn er immer wieder sagt, dass der Christ teils gerecht und teils Sünder ist: „partim iustus et partim peccator“.26 Diese Partialperspektive des simul ist durchaus quantitativ gemeint: Die beiden Intentionalitäten liegen in einem bestimmten, das heißt asymmetrischen Mischungsverhältnis ineinander. Deshalb sind sie beide partial und nicht total. Sie bestimmen und erfüllen den Menschen nicht ganz, das heißt nicht ausschließlich (non totaliter). In anderer Hinsicht sind sie für Luther aber auch wieder total, weil sie alle Konstitutionsschichten der menschlichen Person, all ihre Fasern durchziehen (in tota persona) und sich nicht auf unterschiedliche Seelenvermögen aufteilen lassen.27 Nicht nur eine rebellische inferiore Sinnlichkeit, sondern auch der Geist und das Willenszentrum des Menschen sind noch von jenem inneren Widerstreben gegen das Gute erfüllt! Es ist deshalb die Person des Christen selbst, die diese beiden konträren Willen zugleich hat, ja ist! Der beschriebenen Koexistenz oder besser dem aufgezeigten Antagonismus der beiden Willensausrichtungen im homo christianus muss, das dürfte deutlich geworden sein, ontologische Qualität zuerkannt werden: Es handelt sich um das kontinuierliche, strukturelle Mit- und Gegeneinander der durch den Glauben geschaffenen Willensmotivation der Liebe und der durch die Sünde Adams anthropologisch-existential im Menschen bis zu seinem Tod verwurzelten Grundsünde der Konkupiszenz, die im noch simultan zum Glauben fortdauernden Unglauben gründet. 3.3 Zwei simultane Urteile Bekanntlich liegt der „Ursinn“ der simul-Formel bei Luther nun aber nicht in jenem soeben aufgewiesenen „partim iustus et partim peccator“ als dem In- und Gegeneinander zweier jeweils partialer Willensimpulse, 25 Vgl. WA 2, 413,6ff: „Sed non faciunt nec implent [sancti] hoc velle [= non concupiscere contra legem]: ideo manent peccatores et non unum saltem opus faciunt, in quo nihil sit debiti aut defectus a lege.“ 26 Vgl. nur WA 7, 137,14 – 20 (= LDStA 1, 181,28 – 35). 27 Zur Unterscheidung von „totaliter“ und „in tota persona, sed non totaliter“ vgl. Theodor Dieter, Der junge Luther und Aristoteles, Berlin / New York 2001, 330 ff.

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sondern in dem „totus iustus et totus peccator“: Der homo christianus ist ganz gerecht und doch zugleich noch ganz Sünder. Es war und ist ein Problem der Lutherforschung, wie diese beiden Aspekte der simul-Formel sachlich konsistent vereinigt werden können. Dabei bereitet innerhalb des Totalaspekts die argumentative Einholung des totus iustus keine Schwierigkeiten: Ist der Christenmensch empirisch betrachtet „partim iustus et partim peccator“, eben weil seine Entschiedenheit für Gott und das Gute eine partiale, gebrochene ist, so ist er doch von Gott her, in Gottes Urteil ganz gerechtfertigt und angenommen, sowohl als Person wie auch in seinen (guten) Werken. Dabei gründet diese Totalrechtfertigung, also das totus iustus, nicht in der partialen Neuwerdung, sondern darin, dass Gott ihn in Christus als gerecht erachtet, ihm die Gerechtigkeit Christi „imputiert“. Und dieses den Menschen ganz umschließende Urteil der Barmherzigkeit Gottes ist seinerseits so wirkmächtig, dass es jenes partiale Neuwerden im Menschen aus sich entlässt und in Gang setzt. Die Probleme setzen also nicht beim totus iustus, sondern vielmehr beim totus peccator ein: Wie soll der von Gott ganz gerechtgesprochene und auch schon anfänglich erneuerte, ja fortwährend erneuert werdende Mensch gleichwohl weiterhin totus peccator sein? Ist das nicht widersprüchlich? Nun ist aber von dem bereits Ausgeführten her eine Lösungsmöglichkeit schon in Sicht: Luther nimmt an, dass im homo christianus, weil er von zwei konträren Intentionalitäten bestimmt ist, der Wille zum Guten von der bösen Willensausrichtung kontaminiert und partialisiert wird. Aus diesem Grund erfüllt aber der Mensch letztlich das Gesetz Gottes nicht und steht vor dem heiligen Gott als peccator und zwar als totus peccator da! Diese Überlegung wird schlüssig von der Annahme aus, dass, wer das Gesetz Gottes nicht ganz und vollständig erfüllt, es gar nicht erfüllt! Wer das Gute nicht ganz tut, der tut es coram deo überhaupt nicht! Denn das Gesetz Gottes wird „non nisi puro et libero amore“ erfüllt28, und genau an dieser reinen, völlig frei und ohne jede Nebenabsicht gewährten Liebeshingabe an Gott gebricht es dem irdischen homo christianus! Luther hat die hier sichtbar werdenden Zusammenhänge in einem förmlichen Syllogismus zum Ausdruck gebracht29 : Wer weniger tut, als er soll, der sündigt. Der Gerechte tut aber, wenn er Gutes tut, weniger als er soll. Also sündigt er (auch) in allem Guten, ja er ist im Tun des Guten ein Sünder. Die zweite Prämisse der Konklusion (dass der Gerechte in allem 28 WA 2, 412,28 f. 29 Vgl. WA 1, 368,10 – 20.

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Guten weniger tut, als er soll) resultiert nun aber genau aus dem strukturell gespaltenem Willen des iustus, der es ihm unmöglich macht, der Mitte des Gesetzes, nämlich Gott aus ganzem Herzen und mit allen Kräften zu lieben (Dtn 6,4 f; Mk 12,29 f), voll Genüge zu tun. Wir verfehlen deshalb die vom Gesetz verlangte Ganzheit (totalitas) und stehen darum vor dem Gericht Gott ganz als Sünder dar.30 Es ist folglich jene durchaus partielle noluntas im Wollen des Guten, die uns vor Gott zu toti peccatores macht! Theodor Dieter kommentiert deshalb Luthers Gedankengang treffend: „Was nicht ganz vollkommen ist, ist ganz unvollkommen. Gibt es im Menschen einen Widerstand gegen Gottes Willen, so ist die vom Gebot geforderte Ganzheit nicht erreicht und das Gebot übertreten. Damit erweist sich der ganze Mensch als Sünder.“31 Dies bedeutet aber, dass der homo christianus in sich nicht nur simultan zwei konträre Willensmotivationen vorfindet, sondern er sich auch als unter zwei konträren Urteilen stehend erfährt: totus iustus und totus peccator.32 Diese gelten zwar vom selben Subjekt und zur gleichen Zeit.33 Sie gelten aber nicht in derselben Hinsicht, und aus diesem Grund liegt kein logischer Widerspruch vor: Das eine Urteil gilt, wenn der Mensch auf sich und seine Person, auf seine „qualitas“ blickt. Da kann er sich, an Gottes Gesetz gemessen und vor das Gericht Gottes gestellt, nur ganz als Sünder beurteilen. Das andere Urteil gilt im Blick auf Gott und seine Barmherzigkeit in Christus, in der er den Sünder ganz annehmen und bei sich für ganz gerecht erachten will.34 Insofern könnte man sagen: Das erste 30 Vgl. WA 1, 368,18 f: „Quod non ex totis viribus diligamus [Deum], supra probata est, Quia noluntas in carne et in membris impedit hanc totalitatem, ut non tota membra seu vires diligant Deum, sed resistit interiori voluntati Deum diligenti.“ Siehe auch WA 8, 95,25 – 33 (= LDStA 2, 315,37 – 317,7). 31 Dieter, Der junge Luther und Aristoteles (s. o. Anm. 27), 97. Vgl. ebd., 103. 32 Vgl. WA 8, 96,2 – 6 (= LDStA 2, 317,15 – 21). 33 Vgl. WA 39 I, 508,1: „Duo contraria in uno subiecto et in eodem puncto temporis.“ 34 Vgl. WA 38, 205,27ff: „Bin ich denn ja ein sunder, so bin ich doch ja kein sunder, Ein sunder bin ich jnn mir selbs ausser Christo, Kein sunder bin ich jnn Christo ausser mir selbs“; WA 39 I, 508,5ff: „Ita, in quantum Christianus, eatenus enim sum iustus, pius et Christi, sed quatenus respicio ad me et ad meum peccatum, sum miser et peccator maximus“; 552,13 – 553,3; 564,3 – 7: „Sic etiam revera sumus et totaliter peccatores, sed quod ad nos respiciendo et prima generatione, sed e contra quoad, quod Christus pro nobis datus est, sumus sancti et iusti totaliter, ita diverso respectu dicimur iusti et peccatores simul et semel“; WA 39 II, 141,1 – 6: „Christianus est dupliciter considerandus, in praedicamento relationis et qualitatis. Si consideratur in relatione, tam sanctus est, quam angelus, id est,

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Urteil (totus peccator) ist wahr, wenn ich von meiner im Glauben sich ereignenden Relation zu Gott und Christus absehe, oder es wäre wahr, wenn jenes andere Urteil (totus iustus) nicht gelten würde! Und schließlich: Ich bin totus peccator, weil ich von mir her jederzeit vom richtendem Gesetz Gottes betreffbar, wenn auch als Glaubender davon nicht betroffen bin. Das soeben aufgezeigte simultane Stehen des homo christianus unter zwei konträren Urteilen muss nun ebenfalls ontologisch, das heißt als dessen Sein zutiefst bestimmend interpretiert werden. Auszugehen ist dabei von der Beobachtung, dass Luthers Rechtfertigungslehre eine relationale Ontologie impliziert und von ihm mittels einer solchen entwickelt wird, auch wenn er diese Ontologie kaum expliziert, sondern immer nur andeutet. Ihr zufolge geht nicht ein schon in sich („substantial“) bestehendes Subjekt akzidentell bestimmte Relationen ein, sondern die Relationen, in denen das Subjekt steht, konstituieren dieses allererst, lassen es allererst es selbst sein beziehungsweise werden. Die Relation steht mithin zu den Relaten, zwischen denen sie sich „ereignet“, in einem gleichursprünglichen Verhältnis. Mit Gerhard Ebeling ist darauf hinzuweisen, dass Luther das relationale Sein des Menschen wesentlich von der coram-Relation her bestimmt sieht: vom Sein „vor“, „im Angesicht von“ beziehungsweise „gegenüber“ Gott und den Menschen sowie dem Angewiesensein auf das sich von dort her sprachlich vermittelnde Urteil. Der Mensch ist letztlich, was er gilt! 35 In diesem Sinne ist der Mensch ein forensisches Wesen, und das Urteil über ihn besitzt ontologischen Charakter.36 So ist nun auch der homo christianus durch eine neue Relation, die ein Urteil impliziert, ja ein Urteil ist, geradezu konstituiert. Er wird als christianus ins Dasein gerufen und im Dasein erhalten von dem schöpferischen Urteil der Barmherzigkeit Gottes, vom Wort der Verheißung und des Evangeliums, das er sich im Glauben gesagt sein lässt. Von diesem Urteil her ist er ganz gerecht, weil ganz von Gott angenommen! Andererseits ist es aber gerade das Urteil „totus iustus“, welches – im Blick imputatione per Christum […]. Sed christianus consideratus in qualitate est plenus peccato.“ 35 Damit ist natürlich nicht die egalitäre Gültigkeit und Wahrheit aller Urteile über einen Menschen behauptet, sondern ihre Strittigkeit in Gang gesetzt. 36 Vgl. Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen (1964) 4 1981, 120 – 136, 220 – 230; Ders., Luthers Wirklichkeitsverständnis, in: Ders., Theologie in den Gegensätzen des Lebens, Tübingen 1995, 460 – 475, hier 467 – 471.

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auf die Eigenwirklichkeit des Christen – das Urteil „totus peccator“ aus sich entlässt und den Christen als totus peccator konstituiert. Dies ist natürlich nicht so zu verstehen, als ob der homo christianus eben dadurch, dass er ein christianus wird, allererst auch zum Sünder würde. Sünder ist er ja bereits kraft seiner Herkunft als homo von Adam her, kraft seines alten Menschen, den er auch als neuer Mensch nicht schlagartig abzulegen vermag, sondern der ihn kraft seines Unglaubens und ichsüchtigen Wollens jene neue Relation, in der er als Christ im Glauben lebt, zugleich brechen und bestreiten lässt. Aber der homo christianus wird gleichwohl insofern durch das Urteil „totus iustus“ als totus peccator konstituiert, als er sich gerade im Horizont der göttlichen Vergebung erst eigentlich beziehungsweise tiefer und wahrer als unter dem Gesetz als Sünder erkennt und in diesem Sinne zum Sünder wird. Der Christ kann und muss im Licht der göttlichen Liebe sein Sündersein und Sündigen nicht mehr wie früher verdrängen und überspielen. Im Horizont der Vergebung wird das Sündersein unverstellt offenbar, aber auch ertragbar und annehmbar. Gerade der Christ entwickelt deshalb eine gesteigerte Sensibilität dafür, wie sehr er noch in die Sünde verstrickt und der göttlichen Vergebung bedürftig ist. In diesem Sinne kann Luther formulieren, dass wir sola fide nicht nur gerechtfertigt, sondern auch zu Sündern werden, ja dass der Christ und die christliche Kirche die rechten beziehungsweise größten Sünder sind.37 Dabei verhält es sich paradoxerweise so, dass der, der ausschließlich totus peccator ist, also der unbekehrte Sünder, zu jenem Urteil „totus peccator“ gar nicht in der Lage ist – die Sünde macht immer auch blind für die Sünde! –, dass aber der, der dazu in der Lage ist, also der homo christianus, nicht mehr schlechthin totus peccator ist, sondern auch totus iustus und partim iustus et partim peccator. Ein Widerspruch liegt hier allerdings nicht vor, weil mit unterschiedlichen Totalitätsbegriffen operiert wird: Der unbekehrte Sünder ist totus peccator im Sinne des „totaliter“, des ausschließlich Geltenden, wogegen der homo christianus totus peccator im Sinne von „in tota persona, sed non totaliter“, das heißt in allen Schichten seines Seins, aber nicht ausschließlich Sünder ist. Wir bestreiten zwar 37 Vgl. WA 56, 231,8ff: „Quia sicut per fidem Iustitia Dei viuit in nobis, Ita per eandem et peccatum viuit in nobis, i. e. sola fide credendum est nos esse peccatores“; WA 34 I, 276,6 – 12: „Non est homo in terris, qui sic peccator sit ut Christianus: plus sentit peccatorum quam ullus homo. Non est tam magna peccatrix ut Christiana ecclesia. […] Ideo Christianus et Christiana ecclesia sind die rechten sunder, quia vere agnoscunt peccata.“

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noch mit allen Fasern und Dimensionen unserer Existenz die neue Gottes- und Christusrelation, aber in keiner Dimension unserer Existenz mehr ganz! Gibt es doch für den Glaubenden noch die andere Totalität des göttlichen Rechtfertigungsurteils, welches ebenfalls die ganze Person umschließt und ein „partim iustus“, das wiederum alle Dimensionen unseres Daseins durchwirkt, zur Folge hat. Aber gerade dieser komplexe „Existenzverhalt“ nötigt zu dem Bekenntnis: Von mir her bin und bleibe ich totus peccator!

3.4 Ontologie und eschatologische Dynamik Luther hat den im Voraufgegangenen in seiner ontologischen Verfasstheit beschriebenen homo christianus heilsgeschichtlich präzise situiert: Der Christ als simul iustus et peccator, als von zwei konträren Willenstendenzen und zwei konträren Urteilen bestimmt, hebt sich einmal von seiner Herkunft, dem unbekehrten, glaubenslosen Menschen ab, der nur Sünder ist. In diesem gibt es kein simul zweier Willensausrichtungen, sondern nur die ichzentrierte Konkupiszenz, die in ihm unangefochten das Feld beherrscht, sich auch in bösen Taten durchsetzt oder (etwa aus Furcht vor Sanktionen oder Hoffnung auf Vorteile) zum bloß äußerlichen Vollzug des Guten gezwungen wird. Zum anderen unterscheidet sich der irdische homo christianus aber von seiner Zukunft, dem eschatologisch vollendeten Menschen, dessen Wille ebenfalls nicht (mehr) geteilt ist, sondern der ganz „geistlich“ geworden und vorbehaltlos an den Willen Gottes hingegeben ist. Luther nimmt diese beiden „Extreme“, zwischen die der simul iustus et peccator mit seinem „gemischten Willen“ gestellt ist, in den Blick, wenn er schreibt: „Quod si sit tota noluntas, iam est peccatum ibi mortale et aversio. Tota autem voluntas in hac vita non est.“38 Dabei begreift Luther den Status unter dem „gemischten Willen“ als etwas Positives, als den irdisch erreichbaren Heilsstand, in dem die totale Abgewandtheit von und Verweigerung gegenüber Gott („tota noluntas“) durch Gott selbst angegriffen und der Gegensatz zweier Willenstendenzen geschaffen wurde. Gott hat sozusagen die harmonische und konfliktlose Identität des Sünders aufgebrochen, im Menschen einen heilsamen Konflikt ausgelöst und ihn gleichsam gegen sich selbst in Stellung gebracht. Dabei sieht Gott durch die imputatio der Gerechtigkeit Christi diesen mit sich selbst uneinigen Menschen interimistisch schon so 38 WA 2, 413,19 – 21. Vgl. WA 1, 367,25 f; WA 2, 586,7 – 9.

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an, als ob er das eschatologische Ziel der vollen Hingabe an Gott („tota voluntas“) bereits erreicht hätte. Luther hat diese „heilsame“ Gespaltenheit des homo christianus pointiert zum Ausdruck gebracht, wenn er im Blick auf die zwei Willenstendenzen „Geist“ und „Fleisch“ von zwei Menschen in einem Menschen spricht: „Sunt duo toti homines et unus totus homo: ita fit, ut homo sibiipsi pugnet, contrariusque sit, vult et non vult. At haec est gloria gratiae dei, quod nos fecit nobisipsis hostes.“39 Mit der Rede von den duo toti homines in dem unus totus homo macht Luther nochmals pointiert darauf aufmerksam, dass beide Willensrichtungen tatsächlich noch den ganzen Menschen betreffen und erfüllen, also auch die negative noch in seinem voluntativ-kognitiven Personzentrum und nicht nur in der unbotmäßigen Sinnlichkeit ihren Ort hat! Es ist die Person des Christen, die sich beides zuschreiben muss beziehungsweise darf! Das Konfliktgeschehen zwischen beiden Willenstendenzen ist nun aber durch eine zielgerichtete Dynamik gekennzeichnet: Es ist kein Kampf zwischen gleichstarken Partnern, sondern es geht um die siegreiche Durchsetzung der Gnade Gottes, die den Widerstreit von Herkunft und Zukunft, von spiritus und caro im Menschen geschaffen hat, um ihn seiner eschatologischen Bestimmung entgegenzuführen. Luther unterstreicht diese eschatologische Dynamik durch zwei Bilder: Es verhält sich wie bei der anbrechenden Morgendämmerung, die zwar weder Tag noch Nacht ist, aber sowohl Tag als auch Nacht genannt werden kann, angemessener aber doch als Tag bezeichnet wird, weil sie aus der nächtlichen Finsternis auf den Tag zugeht. Oder es verhält sich wie bei jenem unter die Räuber gefallenen, schwer verletzten Menschen, welchen der barmherzige Samariter nach der ersten „notärztlichen Hilfe“ zur Rekonvaleszenz in die Herberge bringt, der mithin zwar schon der Gesundheit zugeführt, aber noch nicht völlig genesen ist (Lk 10,30 – 35).40 Die dem homo christianus eigene ontologische Struktur lässt sich zwar irdisch nicht transzendieren und (vollständig) abarbeiten – der Christ bleibt zeitlebens ein simul peccator –, gleichwohl verharrt er in dieser Struktur nicht in lebloser Erstarrung und Fixierung, sondern innerhalb ihrer, innerhalb der Klammer des simul iustus et peccator gibt es eine dynamische, wenngleich in ihrer Kontinuität nicht ungefährdete Bewegung auf das eschatologische Ziel hin, das Gott dann allerdings nur durch Tod und Auferstehung hindurch am Menschen erreicht. 39 WA 2, 586,16 – 19. 40 Vgl. WA 2, 586,9 – 15.

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Man kann das zugespitzt auch so formulieren, dass für Luther der irdische homo christianus seine Identität gerade in der Nichtidentitt hat. Mit sich „identisch“, in seinem Wollen ungeteilt ist der bloße Sünder, mit sich identisch, weil ganz bei Gott angekommen, ist auch der eschatologisch vollendete Mensch. Allein der simul iustus et peccator ist in sich gespalten, innerlich disharmonisch und nicht-identisch, aber gerade so unterwegs zu seiner Identität, die ihm im rechtfertigenden Wort proleptisch schon zugesprochen wird. Luthers erfahrungsgesättigte, nüchtern-realistische Kennzeichnung des christlichen „Existenzverhalts“ als Identität in der Nichtidentität beziehungsweise als Form voluntativer Persönlichkeits- oder Ichspaltung wird wohl einerseits bleibend Erstaunen, ja Widerspruch hervorrufen, andererseits aber vielen gegenwärtigen Christen ein Schlüssel zu ihrem eigenen Selbstverständnis sein können. Sie lässt sich zudem gut von der heutigen Psychologie her plausibilisieren, die auf dem Weg der Persönlichkeitsreifung und Identitätsfindung eines Menschen ebenfalls Phasen und Etappen kennt, in denen der Mensch von zwei antagonistischen Trieben und Tendenzen bestimmt wird, dies aber per se nicht als pathologisch gewertet werden darf, sondern eben als Durchgangsstadium zur Selbstwerdung begriffen werden muss. So führt etwa der Religionspsychologe Antoine Vergote aus, dass „die innere Spaltung des Ich für die Psychoanalyse überhaupt keine Schwierigkeiten [macht]. Für sie ist das Ich anfänglich nur ’zerstreut’ vorhanden, und es wächst erst allmählich zu einer Einheit zusammen.“ Das Subjekt ist „keine ursprüngliche Gegebenheit“.41 „Die Psychoanalyse enthüllt uns mit Hilfe ihrer, aus klinischer Erfahrung gewonnenen, Tiefenanalyse, wie ein Individuum im Lauf seiner Entwicklung durch Konflikte, Verzichte, Identifikationen und in der Entfaltung seiner Gemütsbindungen zu einer wirklich menschlichen Person heranwächst.“42 Vergote gelangt von daher zur Annahme einer verblüffenden „Strukturähnlichkeit“43 zwischen dem von Freud analysierten Ödipuskomplex und dem von Paulus in Röm 6 – 8 beschriebenen Prozess der Christwerdung. Dies kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden, sondern wichtig ist für eine erste Ver41 Antoíne Vergote, Der Beitrag der Psychoanalyse zur Exegese. Leben, Gesetz und Ich-Spaltung im 7. Kapitel des Römerbriefs, in: Xavier Len-Dufour (Hg.), Exegese im Methodenkonflikt, München 1971, 73 – 116, hier 102. 42 Antoine Vergote, Religionspsychologie, Olten / Freiburg i.Br. 1970, 236. 43 Vergote, Der Beitrag (s. o. Anm. 41), 97. Vgl. ebd., 92 – 116; Ders., Religionspsychologie (s. o. Anm. 42), 236 – 250.

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mittlung des simul nur jene strukturelle Analogie zwischen dem allgemeinen Prozess der Menschwerdung und jenem heilvollen Weg, auf den der simul iustus et peccator durch Gottes Gnade gestellt ist. Die Frage an uns lautet, ob wir uns in letzterem als Christenmenschen wiedererkennen können und wollen! 44

44 Die natürlich zentrale Frage nach dem biblischen Fundament von Luthers simul iustus et peccator kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht behandelt werden. Sie ist, da Röm 7,14 – 25 von seinem Literalsinn her nicht (direkt) auf den Christen bezogen werden kann, nicht mehr so beantwortbar, wie Luther dies angenommen hatte. Aber zumindest der Aufweis der biblischen Anschlussfhigkeit des simul ist deshalb nicht unmöglich geworden, wenn man z. B. die ersten beiden Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21 f.27 f), das Gebot der ungeteilten Gottesliebe (Dtn 6,4 f; Mk 12,29 f), Jesu Hinweis auf das Herz als Quelle des Bösen (Mk 7,20 – 23) sowie das prinzipielle, objektlose Verbot der Begierde in Röm 7,7 unter dieser Rücksicht betrachtet. All diese Stellen konvergieren in der Tendenz, die Sünde nicht erst im bewusst vollzogenen Gedanken oder Tun, sondern schon in der nicht kontrollierbaren bösen Regung des Herzens und der immer nur gebrochen möglichen Selbstübereignung an Gott anzusetzen, was beides aber auch der beste Christ sich noch zuschreiben muss!

Kampf ums Gerechtsein Pilgrim W.K. Lo Die Sinologie ist im Westen eine recht junge Disziplin. Vor zwei Jahrhunderten war die chinesische Philosophie in Deutschland noch nahezu unbekannt. Beispielsweise interessierte sich Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie wie auch über die Philosophie der Religion nur am Rande für die chinesische Philosophie. Seiner Ansicht nach unterscheidet sich die chinesische Religion kaum von den Naturreligionen.1 Hegel hat das Wesentliche der konfuzianischen Lehre zwar treffend als „Moralphilosophie“ bezeichnet, hat aber den metaphysischen Gedanken der chinesischen Kultur, beziehungsweise des Konfuzianisms missverstanden.2 Er meinte auch, dass die konfuzianische Lehre nichts Besonderes beinhalte und dass es besser gewesen wäre, wenn die Werke von Konfuzius nicht übersetzt worden wären.3 In der gegenwärtigen Forschung stehen viele Philosophen des Neo-Konfuzianismus der Einschätzung Hegels zur konfuzianischen Lehre kritisch gegenüber.4 In der evangelischen Theologie ist der Gedanke vom Gerechtsein ohne den Zusammenhang mit der Lehre von Gerechtigkeit und Rechtfertigung undenkbar.5 Für die Reformatoren ist Gerechtsein aus 1

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, in: Hegel, Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer, Bd. 16, Frankfurt/Main 121986, 320. Vlg. auch Ming-huei Lee, Transzendenz und Immanenz im Gedanken der Konfuzianer, in: Cho-han Yang (Hg.), Konfuzianismus und die Welt heute (in Chinesisch), Taipei 1994, 56. Vgl. Pilgrim W. K. Lo, Menschenwürde aus chinesisch-konfuzianischer Sicht, in: ThLZ 136 (2011), 3 – 24, 4 f. Vgl. auch Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (s. o. Anm. 1), 319 f. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Hegel, Werke in 20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer, Bd. 18, Frankfurt/Main 121986, 141. Vgl. Carsun Chang, Ein Mahnbrief an die Menschen aller Welt um der chinesischen Kultur willen, in: Ders., Schriftensammlung der chinesischen, westlichen und indischen Philosophie (in Chinesisch), Bd. 2, Taipei 1981, 849 – 904. Vgl. die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, 1999, insbesondere die Präambel:

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eigenem Bemühen unmöglich. Im Kern der Rechtfertigungslehre ist die iustitia passiva immer nachdrücklich unterstrichen,6 beziehungsweise sie setzt einen Gott voraus, der allein dem Menschen die Gerechtigkeit zuspricht. Obwohl die evangelische Theologie gerechtes Verhalten des Menschen nicht übersieht, ist es im interreligiösen Dialog noch immer problematisch, wenn die Rechtfertigung des Menschen in der Weise dargestellt wird, dass sie allein von Gott und durch den Glauben an Jesus Christus ermöglicht wird. Der Gedanke der Rechtfertigung hat auch für Konfuzianer eine zentrale Bedeutung. Die Konfuzianer der alten Zeit, vor allem Konfuzius (551 – 479 vor Christus) und Menzius (372 – 289 vor Christus) haben schon Jahrhunderte vor dem Entstehen des Christentums viel von der Gerechtigkeit und dem Gerechtsein des Menschen geredet, und daraus die konfuzianische Rechtfertigunglehre entwickelt.

1 Der Sinn der Bildung des Schriftzeichens von Gerechtigkeit in der chinesischen Sprache7 Das deutsche Wort „Gerechtigkeit“ ist mit dem Wort „Y“ ins Chinesische richtig übersetzt. In der chinesischen Kultur ist Y weder ein Fremdbegriff, noch ein junges Wort. Das Schriftzeichen Y als Logografie

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Gemeinsame Erklrung zur Rechtfertigungslehre, verfasst vom Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Frankfurt/Main / Paderborn 42000. Z. B. Martin Luther, WA 6, 244,3 – 6 (Von den guten Werken, 1520), und WA 40 I, 41,2 – 5; 45, 24 – 26 (Galaterbrief-Kommentar, 1531/1535); vgl. auch Christian Link, Vita passiva. Rechtfertigung als Lebensvorgang, EvTh 44, 1984, 315 – 351. Hinweise zur chinesischen Literatur: Die in den Fußnoten angegebenen Quellentexte von Lffln Y (Lunyu), Mngzıˇ (Mong Dsï ) und Lıˇj (Li Gi) sind meistens zitiert aus: Asiatische Philosophie – Indien und China, Digital Bibliothek 94, übersetzt von Richard Wilhelm, Berlin 2003. Wo nötig, wurde die Übersetzung vom Verfasser verbessert. Wenn nicht auf diese Veröffentlichung hingewiesen wird, sind die Zitate aus der chinesischen Original-Ausgabe vom Verfasser selbst ins Deutsche übersetzt worden. Lıˇj (Das Buch der Riten) ist das umfangreichste der kanonischen Bücher der Konfuzianer, die bedeutende Sammlung der Schriften von Konfuzianern in der Zeit der streitenden Reiche (zwischen 475 v. Chr. und 221 v. Chr.) und von Schülern des Konfuzius. Teile werden aber auf ihn selbst zurückgeführt. Lfflny (Die Analekten) ist eine Zusammenstellung von Lehrgesprächen (436 – 402 v. Chr.); diese stammen überwiegend von den Schülern des Konfuzius. Mngzıˇ ist eine Schriftensammlung,

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findet man schon auf Orakelknochen aus den Ruinen von Yı¯n, die als die ersten Zeugnisse der chinesischen Schrift während der Shang-Dynastie (ca. 1600 – 1000 vor Christus) entstanden sind. Das Zeichen für Y besteht aus zwei anderen Zeichen, nämlich einem oberen Zeichen für „Lamm“ oder „Schaf“, und darunter dem Zeichen für„Ich“. Heutzutage interpretieren Theologen dies oft wie folgt: „Das Opfer des Lammes verhilft dem Ich zur Gerechtigkeit.“8 Oder wie Chan Kei Thong es ausdrückt, „…that righteousness comes with a price, and that price is the life of the sacrificial lamb because a person on his own cannot attain or achieve righteousness“.9 Eine solche Erklärung findet man in bedeutenden chinesischen Wörterbüchern allerdings nicht. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist das Y -Zeichen anders zu verstehen. In Shuo¯wn jieˇz (Erklärung der einfachen Zeichen und Erläuterung der zusammengesetzten Zeichen) 10 lautet die Erklärung des Wortes Y wie folgt: das Zeichen Y bedeutet Geeignetsein,11 nämlich geeignetes Verhalten. In seinem Shuo¯wn jieˇz zh, 1815 (Kommentar zu Shuo¯wén jieˇzì) hat Yucai Duan (1735 – 1815), ein bedeutender Sprachwissenschaftler, den Begriff von Y folgendermaßen ausgelegt: Das Wesentliche von Y ist eigentlich das geeignete Benehmen oder Auftreten in Lıˇ (Sittlichkeit, Sitte, Riten) und R ng (Erscheinung, Aussehen) Diese Auslegung stimmt mit dem Verständnis des Konfuzianismus von Y überein, wie es in Lıˇj (Das Buch der Riten) steht, Y heißt „geeignet sein“.12 Aber was bedeutet Geeignetsein? Wie verstehen die Konfuzianer geeignetes Benehmen? In welchem Sinne wird Gerechtigkeit thematisiert? Und wie kann das Gerechtsein-Thema des Konfuzianismus mit dem der christlichen Theologie in Verbindung gebracht werden? Dazu Stellung zu nehmen ist notwendig, da das Wort „gerecht“ oder „ge-

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die aus eigenen Schriften von Menzius und aus Berichten seiner Schüler über ihn zusammengestellt wurde. Sie erschien wahrscheinlich 240 oder 239 v. Chr. Peter Regez, Entwicklungen im Verständnis der Rechtfertigungslehre in China, Bonn 2010, 115. Chan Kei Thong, Faith of Our Fathers: God in Ancient China, Shanghai 2006, 68. Shuo¯wn jieˇz ist das erste Zeichenlexikon der chinesischen Schrift, das um das Jahr 100 n. Chr. von dem Gelehrten Xuˇ Shn zusammengestellt und im Jahr 121 veröffentlicht wurde. Vgl. Grundbegriffe der altchinesischen Philosophie – Ein Wörterbuch für die klassische Periode, hg. v. Ulrich Unger, Darmstadt 2000, 35 f. Siehe Zho¯ngyo¯ng in Lıˇj (Das Buch von Mitte und Maß, aus dem Buch der Sitten oder Li Gi), Vers 20.

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rechtfertigt“ in der chinesischen Bibel, zum Beispiel im Römerbrief, mit dem Wort „Y“ übersetzt ist.

2 Das moral-religiöse Anliegen Konfuzianismus ist keine Religion, die den Glauben an einen persönlichen Gott oder ein Absolutes Sein lehrt. Jedoch finden sich im Konfuzianismus allgemein verbreitete religiöse Elemente wie D o als metaphysisches Prinzip, oder der himmlische Wille als moralisches Prinzip und Sehnsucht nach Heiligkeit.13

2.1 Y als angeborene Tugend Im Sinne von Konfuzius ist Y in den Wertvorstellungen ein moralisches Prinzip, das als Norm in Menschenleben praktiziert werden soll.14 Y als eine der vier Kardinaltugenden ist nicht von außen her dem Menschen eingeflößt, sondern ursprünglich sein eigen.15 Es gehört zu den Naturanlagen des Menschen. So meint beispielsweise Menzius, dass Y (Gerechtigkeit) wie auch ,Rn‘ (Mitmenschlichkeit, Liebe, Wohlwollen, Güte oder Barmherzigkeit), Lıˇ und Zh (Weisheit) im Herzen des Menschen wurzeln.16 Er versucht dies durch den Vergleich mit dem Mitleid zu begründen.17 Die angeborene Natur des Menschen, so seine Begründung, neigt nicht nur zur Güte, sondern ist an sich gut. Aus diesem berühmten Vergleich hat er dann die „Lehre von den vier Naturanlagen“, die alle Menschen besitzen, abgeleitet und daraus wiederum hergeleitet, dass das Schamgefühl der Anfang der Gerechtigkeit (Y) sei. Menzius ist davon überzeugt, dass hinter Y ein moralisches Prinzip steht, auf das auf keinen Fall zu verzichten ist. Aufgrund dieser Einsicht betrachtet Menzius Y als die innere Moralität des Menschen, die dem Menschen von Natur aus verliehen ist.18 Menzius erklärt, dass der Mensch Fröhlichkeit erlangen kann, wenn er die Tugend schätzt und sich der Gerechtigkeit freut. 13 Vgl. Lo, Menschenwürde (s. o. Anm. 2), 4 f. 14 Vgl. Chng Yuˇhóng, Die Geltung des Y-Begriffs für die Herrschaft (in Chinesisch), Cultural China 54, Vol.3, 2007, 59. 15 Siehe Mong Ds , Buch VI, A6. 16 Siehe Mong Ds , Buch VII, A21. 17 Siehe Mong Ds , Buch II, A6. 18 Vgl. Chng Yuˇhóng, Y-Begriff (s. o. Anm. 14), 59.

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Darum verliert der Gebildete seine Gerechtigkeit nicht, wenn er Misserfolg hat. Wenn er trotz des Misserfolgs an der Gerechtigkeit festhält, bleibt er sich selber treu.19 Noch ernsthafter hat Menzius seine Stellungnahme zum Leben im Vergleich mit dem Begriff Y ausgedrückt, wenn er sagt: „Ich liebe das Leben, und ich liebe auch die Gerechtigkeit. Wenn ich nicht beides vereinigen kann, so lasse ich das Leben und halte mich an die Gerechtigkeit. Ich liebe wohl auch das Leben, aber es gibt etwas, das ich mehr liebe als das Leben; darum suche ich es nicht mit allen Mitteln zu erhalten.“20 Der Grund weshalb die Konfuzianer auf dem Y-Prinzip beharren, erklärt sich aus ihrem Verständnis des Y-Begriffs in der chinesischen Kultur. Yucai Duan schreibt in seinem Shuo¯wn jieˇz zh, dass Y ein Synonym von Güte und Schönheit sei. Dass Y etymologisch dem Begriff von Güte und Schönheit entspricht, darüber sind sich die chinesischen Gelehrten heute allgemein einig, zum Beispiel bei Wang Li.21 Außerdem schreibt das moderne umfassende Wörterbuch C Haˇi (Meer der Wörter), dem Wort Y die Bedeutung „gerechte Gründe“ zu. In Hinsicht auf dieses Verständnis kann man mit Recht sagen, dass Y im Konfuzianismus ein moralisches Ideal ist, nach dem alle streben. Für die Konfuzianer ist Y kein abstrakter Begriff, sondern ein moralisches Ideal, das Menschen auf dem gerechten Weg des Menschenlebens die Richtung weist.22 Deshalb sagt Menzius, Gerechtigkeit ist der Weg,23 oder auch der natürliche Weg des Menschen.24 Noch deutlicher ausgedrückt, die Gerechtigkeit ist der rechte Weg des Menschen.25

2.2 Y als moralischer Prüfstein vom Innen In einem Dialog zwischen Menzius und dem König Hui von Liang wird der Vorrang des Y deutlich dargestellt:26 19 Siehe Mong Ds , Buch VII, A9. 20 Siehe Mong Ds , Buch VI, A10. 21 Siehe Wang Li, Wánglì Wörterbuch der Altchinesischen Sprache (in Chinesisch), Beijing 1983, 962. 22 Vgl. Lao Sze-kwang, Geschichte der chinesischen Philosophie (in Chinesisch), Taipei 1984, 113. 23 Siehe Mong Ds , Buch V, B7. 24 Siehe Mong Ds , Buch VI, A11. 25 Siehe Mong Ds , Buch IV, A10. 26 Siehe Mong Ds , Buch I, A1.

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Der König sprach: „Senior (Menzius), tausend Meilen waren Euch nicht zu weit, um herzukommen, da habt Ihr wohl auch einen Rat für mich, um meinem Reich zu nützen.“ Mong Dsï erwiderte und sprach: „Warum wollt Ihr durchaus vom L (Nutzen, Profit) reden, oh König? Es gibt doch auch den Standpunkt, dass man einzig und allein nach Rn (Mitmenschlichkeit, Liebe, Wohlwollen, Güte oder Barmherzigkeit) und Y fragt. Denn wenn der König spricht: Was dient meinem Reiche zum Nutzen? so ähnlich sprechen die Adelsgeschlechter: Was dient unserm Hause zum Nutzen? und die Ritter und Leute des Volks sprechen: Was dient unserer Person zum Nutzen? Hoch und Niedrig sucht sich gegenseitig den Nutzen zu entwinden, und das Ergebnis ist, dass das Reich in Gefahr kommt. …Aber so man das Y hintansetzt und L (den Nutzen) voranstellt, ist man nicht befriedigt, es sei denn, dass man den anderen das Ihre wegnehmen kann. Auf der anderen Seite ist es noch nie vorgekommen, dass ein liebevoller Sohn seine Eltern im Stich lässt, oder dass ein gerechter pflichttreuer Diener seinen Fürsten vernachlässigt. Darum wollet auch Ihr, oh König, Euch auf den Standpunkt stellen: Einzig und allein Rn und Y! Warum wollt Ihr durchaus vom L (Nutzen) reden?“

Menzius lebte in der Zeit der Streitenden Reiche, also in einer politisch wirren Zeit. Als der bedeutendste Nachfolger des Konfuzius, suchte er einen Weg, um, sei es auch nur indirekt, als Ratgeber eines Fürsten, zu Macht und Einfluss für eine neue Ordnung der Welt zu gelangen. Er hat sich aber in diesem Gespräch gegen den puren Utilitarismus gewandt. Sein Ziel war, die Wertvorstellungen umzubauen. Er wollte die von L geprägte Gesinnung in die von Y geprägte wenden, beziehungsweise das natur-materiale Leben zum moralischen hinlenken. Für Menzius ist Y aber auch pragmatisch zu verstehen. Denn er ist davon überzeugt dass, wenn sich die Menschen tugendhaft nach dem Prinzip der Gerechtigkeit verhalten, der Nutzen automatisch kommen wird. Wie gesagt, für Menzius kommt das Y nicht von außen hinzu. In einem Streitgespräch mit Gau Dsï behauptet er, dass das Y etwas Innerliches ist:27 Gau Dsï sprach: „Wenn der andere älter ist, behandle ich ihn als älteren; diese Achtung vor dem Alter entspringt nicht in mir. Es ist gerade so, wie ich ein Ding, das weiß ist, als weiß bezeichne, indem ich mich nach der äußerlichen Tatsache seines Weißseins richte. Darum nenne ich Y (die Pflicht) äußerlich.“ Menzius (Mong Dsï) sprach: „Ob ich ein weißes Pferd als weiß bezeichne, oder ob ich einen weißen Menschen als weiß bezeichne, das macht keinen Unterschied. Ich weiß nun nicht: Ist auch kein Unterschied, ob ich ein altes Pferd als alt behandle, oder ob ich einen alten Mann als alt behandle? 27 Siehe Mong Ds , Buch VI, A4.

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Ferner: Ist das Alter Y (Pflicht) oder ist die achtungsvolle Behandlung des Alters Y (Pflicht)?“

In der Einsicht Gau Dsï ist Y etwas Äußerliches, wie die heteronome Pflicht. Auch Menzius würde nicht verneinen, dass das Subjekt der Erkenntnis eines Dings das Ding selbst ist. Das Erkennen von Alter nehmen wir ja nach äußerlichen Tatsachen oder Umständen wahr, so dass der Gegenstand des Erkennens der Umstand des Alters ist. In diesem Sinne ist von dem Äußeren die Rede. Aber die Achtung vor dem Alter ist für Menzius, im Widerspruch zu Gau Dsï, keine lediglich erkenntnismäßige Tätigkeit. Die Achtung vor dem Alter entsteht im Inneren des Menschen, nämlich in der moralischen Seele. In diesem Sinne ist Y als autonome moralische Tätigkeit zu verstehen.

3 Das ethisch-politische Anliegen Obwohl bei Menzius das Urteil über Gerechtigkeit von der inneren Moralität des Menschen abhängt, besagt das aber nicht, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. Wenn er von den vier angeborenen Kardinaltugenden redet, sollen wir seine Rede besser wie folgt interpretieren: Rn, Y, Lıˇ und Zh sind nicht der eigene Besitz des Menschen, sondern das Bewusstsein des Menschen, dass der Mensch sich bewusst und von Natur aus nach diesen Tugenden sehnt. Folglich könnte es als „Bewusstsein von Gewissen“ bezeichnet werden. Dieses Bewusstsein spielt für die Konfuzianer eine wichtige Rolle, da Selbstkultivierung ohne ein Bewusstsein der dem Menschen innewohnenden Tugenden unmöglich ist. Für die Konfuzianer ist die Selbstkultivierung im Zusammenhang mit dem Bewusstsein von Y in zwei Aspekte zu teilen: Eigenreflektion und Erwägung gerechten Benehmens. Das ist, was die Menschen zum Ju¯nzıˇ (wörtlich „Fürstensohn“, bedeutet aber „der Edle“ oder „Schamane“, auch als Titel für Idealmensch) oder zum Xiaˇorn (wörtlich „kleiner Mann“, bedeutet aber der „Gemeine“, auch als Titel für „Schurke“) macht.28 Konfuzius sagt, Ju¯nzıˇ versteht Y (Gerechtigkeit, Pflicht), Xiaˇorn versteht L (Nutzen, Gewinn).29 Für ihn hat der Edle größere Hochachtung vor Gerechtigkeit als der Gemeine. Und die Gerechtigkeit wirkt sich auf den Edlen und den Gemeinen 28 Vgl. Sh Yoˇngzhı¯, Die Entstehung des Y-Begriffs in Konfuzianismus, in: Yuán Dào, Bd. 10, Beijing 2005. 29 Siehe Lffln Y, Buch IV, 16.

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unterschiedlich aus. Er lehrt, wenn ein Edler (Fürstensohn) Mut ohne Gerechtigkeit besitzt, so wird er Unruhe verursachen. Wenn ein Gemeiner Mut besitzt, aber keine Gerechtigkeit, so wird er ein Räuber.30 Die Persönlichkeit des Edlen hat Konfuzius so dargestellt: Mit Gerechtigkeit als dem Wesentlichem handelt der edle Mensch in Übereinstimmung mit Lıˇ (Sittlichkeit, Sitte, Riten), drückt sich mit Bescheidenheit aus und wird mit Zuverlässigkeit vollendet. Er ist in der Tat ein edler Mensch! 31 Für Konfuzius sollte der Edle, im Gegensatz zum Gemeinen, trotz Armut niemandem schmeicheln, trotz Reichtum nie hochmütig sein, wenn arm dennoch fröhlich sein, wenn reich dennoch Sitte lieben.32 Seiner Ansicht nach streben die Edlen nach dem D o (wörtlich „Weg“, bedeutet aber „der rechte Weg“ oder „Wahrheit“), doch nicht nach dem Lebensmittel. Sie sorgen sich wegen des D o und nicht wegen der Armut.33 Deshalb ist sein bekannter Spruch „Reichtümer und Rang ohne Rechtschaffenheit (Y) sind für mich wie dahinfliegende Wolken“34 als Bezeichnung der Persönlichkeit des Edlen zu verstehen. Der Edle hat für nichts auf der Welt eine unbedingte Voreingenommenheit oder eine unbedingte Abneigung. Das Rechte allein ist es, auf dessen Seite er steht.35 Was Konfuzius Sorge macht, ist, dass man die Gerechtigkeit kennt, sie aber nicht üben will.36 Er betrachtet es sehr kritisch, wenn man sich wie ein Feigling verhält, der die Gerechtigkeit sieht, aber nichts tut.37 Konfuzius ist davon überzeugt, dass für Treue und Zuverlässigkeit eintreten und der Gerechtigkeit stattgeben, die Tugend zu erhöhen bedeutet.38 Dem Gesichtspunkt der Konfuzianer nach sollte diese tugendhafte Personalität in der Familie wie auch in der Gesellschaft ethisch-politisch zum Ausdruck gebracht werden. Menzius drückte es so aus: Jedes Kind, das man auf den Arm nimmt, weiß seine Eltern zu lieben, und wenn es ein wenig größer ist, so weiß es seinen älteren Bruder zu achten. Die Familie zu lieben, ist Rn. Achtung vor den Älteren ist Y. Es handelt sich dabei 30 31 32 33 34 35 36 37 38

Lffln Y, Buch XVII, 23. Lffln Y, Buch XV, 17. Lffln Y, Buch I, 15. Lffln Y, Buch XV, 31. Lffln Y, Buch XVII, 15. Lffln Y, Buch IV, 10. Lffln Y, Buch VII, 3. Lffln Y, Buch II, 24. Lffln Y, Buch XII, 10.

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um nichts anderes, als diese Gefühle auf die ganze Welt auszudehnen.39 Noch genauer erklärte er: die Frucht des Rn, das ist, den Eltern zu dienen; die Frucht des Y, das ist, dem älteren Bruder zu folgen.40 Dies ist ähnlich wie bei Dsï Lu, einem bedeutenden Schüler von Konfuzius, dessen Auffassung nach sich das Y untrennbar mit dem ethisch-politischen Leben des Menschen verknüpft. Er sagt: Sich von jedem Amte fern zu halten, ist wider die Gerechtigkeit. Die Sitte zwischen Alt und Jung darf man nicht verfallen lassen; nun erst die Gerechtigkeit zwischen Fürst und Diener: wie kann man die verfallen lassen? Wer (nur darauf) bedacht ist, sein eignes Leben rein zu halten, der bringt die ethischen Beziehungen in den wichtigsten Bereichen des gesellschaftlichen Systems in Unordnung. Damit, dass der Edle ein Amt übernimmt, tut er sein Y (Pflicht, Gerechtigkeit).41 Y ist für die Konfuzianer von wesentlicher Bedeutung, wie Mèngxiàn es in Lıˇj ausdrückt: Gewinn ist nicht als Wohlstand oder Glück für den Staat zu betrachten, sondern lediglich die Gerechtigkeit.42

4 Gerechtigkeit in Bezug auf Individualethik und Sozialethik 4.1 Mangel der konfuzianischen Lehre von der Gerechtigkeit im Sinne der Sozialethik Wie oben dargestellt, für die Konfuzianer ist das Y von größerer Bedeutung als Leben. Das Y ist der rechte Weg. Man muss sich nach dem Y richten, um die gerechte Beziehung der Menschen in der Familie und Gesellschaft zu erreichen. Im Hinblick darauf dient das Y als Richtschur für die Verhaltensweise der Menschen. Zu bedenken wäre nun die Frage, wie das Y als „geeignet sein“ in Lıˇj an die ethisch-moralischen Bedeutung des Y in der konfuzianischen Lehre anknüpft. Geeignetsein bedeutet im Sinne der konfuzianischen Lehre die anpassende Verhaltensweise im Zusammenleben von Menschen, nämlich das Lıˇ. In einem Wort, rechtes Verhalten heißt, allen Ansprüchen dem Lıˇ gemäß zu genügen. Es ist aber nicht so, wie Menzius behauptet, dass das Entstehen von Y grundsätzlich eine autonome moralische Tätigkeit ist. 39 40 41 42

Mong Ds , Buch VII, A15. Mong Ds , Buch IV, A27. Lffln Y, Buch XVIII, 7. Dàxué in Lıˇj (Das Buch von dem Großen Lernen, aus dem Buch der Sitten oder Li Gi), Vers 16. Vgl. auch Mong Ds , Buch I, A1.

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Andererseits hat Menzius jedoch recht, dass jeder Mensch seinem Wesen nach sich des Y bewusst ist. Er hat daher aus sich heraus Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen.43 Die Spannung zwischen Y als unaufgefordertes Benehmen des moralischen Menschen aus sich selbst heraus und Lıˇ als aufgefordertes Benehmen von außen mit dem Widerspruch zwischen Autonomie und Heteronomie gleichzusetzen ist zu sehr vereinfacht.44 Y als innere Moralität des Menschen ist für die Konfuzianer ein metaphysisches, beziehungsweise religiöses Ideal. Y als von außen her kommende Forderung des Lıˇ ist aber gleichzeitig die Verwirklichung der inneren Moralität des Menschen. Die Verwirklichung der inneren Moralität liegt allerdings dem religiösen Ideal zugrunde, wie auch das Rnd o (Menschenweg) dem Tia¯nd o (Himmelsweg) oder dem Tia¯nmng (Himmlisches Mandat) zugrundeliegt. Das Y auszuführen liegt zweifellos im Zentrum der konfuzianischen Lehre. Aufs Ganze gesehen könnte die Ausführung des Y mit dem Spruch von Konfuzius auf zweierlei Weise dargestellt werden: sich selbst zu beherrschen, und die Riten zu erfüllen.45 Es ist unbestritten, dass die eigene Personalität und die soziale Verpflichtung des Menschen für die Konfuzianer miteinander zusammenhängen. Obwohl die Konfuzianer mit Nachdruck auf die Subjektivität des moralischen Menschen hinweisen, vertreten sie nicht die Willkür des Menschen. In der konfuzianischen Lehre ist zwar das angemessene Verhalten zwischen Menschen hervorgehoben, trotzdem ist die im Menschen veranlagte moralische Richtschur nicht aufzugeben. Konfuzius sagt: Wie ehrlich ist Shih Yü! Wenn der Staat dem Weg folgt, ist er wie ein Pfeil (gerecht). Folgt der Staat nicht dem Weg, ist er trotzdem wie ein Pfeil.46 Er kritisiert unehrliche Amtsleute: Wenn der Staat dem rechten Weg folgt, (so habe der Amtmann sein) Einkommen. Ist ein Land nicht auf rechter Bahn, (und man genießt dennoch ein amtliches) Einkommen, das ist Schande.47 In der konfuzianischen Gesellschaft hat das Lıˇ (Riten) die bedeutende Funktion, das menschliche Zusammenleben zu regeln. Es ist aber alles zu abhängig von der moralischen Personalität des einzelnen, insbesondere 43 In diesem Sinne ist die Auffassung Menzius’ in gewisser Weise mit der katholischen Tradition im Einklang. Vgl. Thomas von Aquin, S.Th. 2,2 q. 57 a. 1; Johannes XXIII., PT 9, AAS 1963, 259; vgl. Pius XII., UG 213 260; 359. 44 Vgl. Lo, Menschenwürde (s. o. Anm. 2), 8 45 Siehe Lffln Y, Buch XII, 1. 46 Lffln Y, Buch XV, 6. 47 Lffln Y, Buch XIV, 1.

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der Fürsten. Gleich nach seinem Lobpreis über die Ehrlichkeit Shih Yüs sagt Konfuzius weiter: Wie edelgesinnt ist Ch’ü Po Yü! Wenn der Staat dem Weg folgt, übernimmt er ein öffentliches Amt. Folgt der Staat nicht dem Weg, bewahrt er seine Prinzipien.48 Er ist der Meinung, wenn auf Erden Ordnung herrscht, tritt man auf, wenn Unordnung herrscht, verbirgt man sich wie ein Eremit.49 Menzius ist dazu der gleichen Meinung, wenn er sagt: Man sollte im Misserfolg sein Leben mit dem Ziel auf das Gute kultivieren, und im Erfolg, gleichzeitig die ganze Welt kultivieren.50 Für die Konfuzianer ist die Willenskraft der Moralität für die Personalität von wesentlicher Bedeutung. Menzius beharrt auf dem Prinzip: nicht Reichtum oder Ehre kann ihn zur Unzucht locken; nicht Armut oder Schande kann ihn abtrünnig machen; nicht Macht und Drohung kann ihn beugen: das ist ein Mann.51 Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Verwirklichung der Gerechtigkeit in der Person bei den Konfuzianern nicht nur die einzelne Person betrifft. Sie bezieht sich stattdessen auf die Familie, den Staat und die ganze Welt. Ein bekannter Spruch aus dem Buch D xu bringt die Zusammengehörigkeit von Individualethik und Sozialethik deutlich zum Ausdruck: Wenn die Persönlichkeit kultiviert ist, dann erst wird das Haus geregelt; wenn das Haus geregelt ist, dann erst wird der Staat geordnet; wenn der Staat geordnet ist, dann erst kommt die Welt in Frieden.52 Zu bemerken ist, dass in der konfuzianischen Lehre die Betonung auf der Praxis der Gerechtigkeit53, wie auch auf dem Mut zur Gerechtigkeit liegt.54 Einige Konfuzianer wie Wén Tia¯nxiáng55 und Shıˇ Keˇfaˇ56 sind hier Lffln Y, Buch XV, 6. Lffln Y, Buch VIII, 13. Mong Ds , Buch VII, A9. Mong Ds , Buch III, B2. Dàxué in Lıˇj (Das Buch von dem Großen Lernen, aus dem Buch der Sitten oder Li Gi), Vers 2. 53 Lffln Y, Buch XVIII, 7. 54 Lffln Y, Buch II, 24. 55 Wén Tia¯nxiáng ist als Märtyrer der Song-Dynastie (960 bis 1279) betrachtet, ein beliebtes Symbol der Patriotismus und Gerechtigkeit in China. Er starb für seinen Widerstand gegen die Invasion fremder Truppen von Kublai Khan (1215 bis 1294), dem bedeutenden mongolischen Herrscher, und für seine Weigerung, das Angebot einer hohen Amtsstelle mit guter Bezahlung anzunehmen. Während der Gefangenschaft hat er das Gedicht „Das Lied der Gerechtigkeit“ geschrieben. Der berühmteste Spruch von ihm lautet: Seit dem Anfang der Zeit kann niemand dem Tod entgehen, deshalb lasse ich meine Treue für alle Zeit in der Geschichte leuchten.

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als Vorbilder zu nennen. Sie praktizieren nicht nur die Selbstkultivierung, sondern dehnen die Gerechtigkeit auf die politische Welt aus. Dennoch ist die konfuzianische Lehre von Gerechtigkeit im Grunde in ihrer Praxis in der Politik sehr friedlich und schwach. Gerechtigkeit zu verwirklichen liegt ausschließlich in der Sphäre der Moralität der Person. Gerechtigkeit in der Politik zu wahren bedeutet eigentlich die machtvollen Politiker, beziehungsweise die Fürsten zum gerechten Weg zu überreden. Revolution, egal ob friedlich oder blutig, ist nicht ihre Empfehlung. Wie Konfuzius lehrte: Wer den Namen eines bedeutenden Staatsmannes verdient, der dient seinem Fürsten gemäß dem Weg der Menschlichkeit (D o); wenn das nicht geht, so tritt er zurück.57 Diese passive Reaktion auf ungerechte Politik ist grundsätzlich die Einstellung der konfuzianischen Sozialethik.

5 Reflexion aus Sicht der lutherischen Lehre von Gerechtigkeit Unter Sünde versteht Martin Luther ihrem Wesen nach den Versuch, die eigene Gerechtigkeit vor Gott aufzurichten. Falls er die konfuzianische Lehre von Gerechtigkeit gekannt hätte, hätte er sie ganz bestimmt verdammt.58 Im Sinne der Gotteslehre ist Gerechtigkeit für Luther die Eigenschaft Gottes. Jedoch im Zusammenhang mit seiner Soteriologie ist Gerechtigkeit nichts anderes als die Gnade Gottes, die dem Menschen als Geschenk gegeben wird, also eine fremde Gerechtigkeit. Demzufolge ist Gerechtigkeit nie eine innere Qualität des Menschen. Aus dieser Auffassung folgt, dass der Gerechtigkeits-Gedanke bei Luther sich nicht nur auf eine göttliche Eigenschaft im statischen Sinne bezieht, sondern im aktiven Sinne auch auf das göttliche Handeln mit dem Menschen. Das ist die Rechtfertigung (iustificare).59 Die Rechtfertigungslehre Luthers wächst aus seiner Anfechtungserfahrung und aus dem Studium der Bibel 56 Shıˇ Keˇfaˇ (1601 bis 1645, ein General in der Ming-Dynastie (1368 bis 1644)), ist ein berühmter Märtyrer, der, wie auch Wén Tia¯nxiáng, durch seine Treue und Gerechtigkeit den Lobpreis vieler Chinesen gewonnen hat. 57 Siehe Lffln Y, Buch XI, 23. 58 Die reformatorische Rechtfertigungslehre opponiert ausdrücklich gegen die scholastische Vorstellung vom Habitus, dass nämlich die Gerechtigkeit als menschliche Tugend durch wiederholte Akte hervorgebracht werde. 59 Im Sinne Luthers bedeutet Rechtfertigung „gerecht erklären“ (declarare) oder „ansehen“ (reputare). Siehe WA 56, 201, 10 – 22.

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hervor. Was für Luther Angst erregend war, war das Problem mit dem Gerechtsein des Menschen vor Gott. Seine Reformationstätigkeit und -theologie kann man als Kampf um das Gerechtsein bezeichnen, ein Gerechtsein, das auch nach der Wiedergeburt allein durch die Rechtfertigung Gottes möglich ist.60 Vor der Reformation war seine Einstellung zum Gesetz ziemlich optimistisch.61 Aber während er an der Universität Wittenberg lehrte, vor allem in den Vorlesungen über den Psalter und Paulus’ Briefe an die Römer, Galater und Hebräer, hat er die neue Bedeutung von der Gerechtigkeit gefunden. Er schreibt in seiner Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe der lateinischen Schriften (1545): „Die Gerechtigkeit Gottes (iustitia Dei) wird darin (im Evangelium) offenbart. Ich hasste nämlich dieses Wort „Gerechtigkeit Gottes“, weil ich durch den Brauch und die Gewohnheit aller Lehrer unterwiesen war, es philosophisch von der formalen oder aktiven Gerechtigkeit (wie sie es nennen) zu verstehen, nach welcher Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft.“62 Für Luther ist auch Gott in einem Kampf. Gott kämpft um das Gerechtsein, aber nicht für sich selbst, wie es die Satisfaktionslehre Anselms lehrt, sondern für uns, die Sünder, sodass wir mit ihm ewig leben können. Gott kämpft aber auch mit uns um Gerechtigkeit für das Zusammenleben der Menschheit. In dieser Weise ist die Bedeutung von Gerechtigkeit zweierlei aufzufassen, also soteriologisch und ethisch. Gottes Gerechtigkeit ist außerhalb von uns, aber kommt zu uns, und ist uns in Christus verliehen.63 Das ist die soteriologische Bedeutung. Im Zusammenhang mit diesem soteriologischen Ansatz darf man aber gleichzeitig das Leben der Gerechtfertigten mit den Nächsten nicht verachten. Aus dieser Sicht Luthers sind alle Diener, die in Christus gerechtfertigt sind. Er meint, da Christus von Gott ausgegangen ist und uns zu sich gezogen hat, indem er in seinem ganzen Leben nichts für sich selbst erstrebte, sondern alles für uns, so sollen auch wir die anderen herbeiziehen und nichts anderes suchen, als allen zu dienen.64 Im Grunde bedeutet das gerechte Leben für Luther, dem Nächsten aus Glauben liebend zu dienen. Deshalb sagt Luther: 60 Vgl. Lennart Pinomaa, Sieg des Glaubens – Grundlinien der Theologie Luthers, Göttingen 1964, 102 f. 61 Vgl. Pinomaa, Sieg des Glaubens (s. o. Anm. 60), 103. 62 WA 54,185,12 – 186,20 (Vorrede zu den Opera Latina); siehe auch Luther deutsch, hg. von Kurt Aland, Bd. 2, Göttingen 1991, 19 ff. 63 WA 56,158,9 – 14. (Römerbriefvorlesung 1515/16) 64 WA 5, 408,10 ff. Operationes in Psalmos, 1519/21.)

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Der glawb empfehet, die lebe gibt. Der glaube bringt den menschen tzu got, die liebe bringt yhn tzu den menschen, Durch den glawben lest er yhm wol thun von got, durch die liebe thut er wol den menschen. Denn wer do glaubt, der hat alle ding von got und ist selig und reych. Darumb darff er hinfurt nichts mehr, sondern allisz, was er lebt und thut, das ordenet er tzu gut und nutz seynem nehisten und thut dem selben durch die liebe, wie yhm gott than hatt durch den glawben, als schepfft er gutt von oben durch den glawben und gibt gutt von unten durch die liebe.65

Mit einem Wort, im Sinne der lutherischen Ethik ist die durch den Glauben zugerechnete Gerechtigkeit auch eine wirksame, von innen her erneuernde Gerechtigkeit.66 Diese Gerechtigkeit liegt dem rechtfertigenden Handeln Gottes zugrunde, indem er für uns und mit uns kämpft. In diesem Sinne ist die Gerechtigkeit nicht als „Gerechtigkeit für sich selbst“ zu verstehen, sondern ausschließlich als „für die anderen“.

6 Schluss Der Begriff Gerechtigkeit hat für die Konfuzianer im Gegensatz zu Luther keine soteriologische Bedeutung. Sie hat nichts mit dem Heil zu tun. Das zentrale Anliegen der konfuzianischen Gerechtigkeitslehre ist nicht auf das Leben mit Gott gerichtet, sondern auf ihre Verwirklichung im Sinne einer Selbstkultivierung der Person, zugleich als angemessenes Verhalten in der Gesellschaft. Aufgrund dieser Einsicht ist sie rein im Sinne der Ethik aufzufassen, nämlich persönlich und sozial-politisch. Nicht zu verachten ist aber die Frage, worin die Grundlage der konfuzianischen Ethik liegt. Oben ist gezeigt worden, dass die Konfuzianer im Sinne der Religion das D o als metaphysisches Prinzip, oder den himmlischen Willen als moralisches Prinzip betrachten. Sie glauben an den Himmel, den himmlischen Weg, wie auch das himmlische Mandat. Der Menschenweg muss dem himmlischen Weg folgen. Mit anderen Worten, die Lebensweise des Menschen richtet sich auf das himmlische Mandat. In gewisser Weise hat der Himmel für die Konfuzianer eine religiöse Bedeutung. Denn sie glauben, dass der Himmel den Menschen beeinflussen und das Schicksal des Menschen bestimmen kann. In der Volksreligion kommt der Glaube vor, dass der Herrscher der Himmelssohn ist, der den Auftrag 65 WA 8, 355,22 ff. (Das Evangelium von den zehn Aussätzigen, 1521.) 66 WA 2, 43,5. (Sermo de triplici iustitia, 1518.)

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vom Himmel erhält, wie auch in der Lıˇ-Schule der Song- und Ming-Zeit, die die menschliche Veranlagungen und ethisches Bewusstsein als Mandat betrachten, das den Menschen vom Himmel gegeben wird. Zum Beispiel hat Zhu¯xı¯, ein bekannter konfuzianischen Lehrer, im siebten Kapitel seines Kommentars zu Mong Ds (Menzius) die Beziehung von Herz, menschlicher Veranlagung und Himmel wie folgt ausgelegt: Was ist das Herz? Es ist der Geist des Menschen. Darum hat er alle Ideen und handelt gut in allen Dingen. Xing (Veranlagung) ist Idee, die das Herz hat. Also stammen die Ideen vom Himmel. Das heißt alle Ideen, die das menschliche Herz besitzt, sind aus dem Himmel hervorgegangen. Menzius betrachtet das Himmlische als eine geistige Substanz.67 Hiermit liegt die Betonung auf der Einheit von Himmel und Menschen nicht nur im ethischen Sinne, sondern auch in epistemologischen Sinne. Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass, der konfuzianischen Lehre nach, alle Menschen den himmlischen Willen kennen. Sie müssen das Mandat des Himmels unbedingt gerecht tun. Gerechtigkeit im ethischen Sinne entsteht nur in der Beziehung zwischen zwei oder mehreren Subjekten. Folglich ist die Rede von der Gerechtigkeit eines Individuums, die sich auf Selbstkultivierung bezieht, undenkbar. Obwohl die großen Konfuzianer, zum Beispiel Konfuzius und Menzius, wie oben dargestellt, in ihrer Lehre größtes Gewicht auf Gerechtigkeit als etwas Gelebtes legen, und dazu die äußerste Anstrengung bei der Ausführung der Gerechtigkeit fordern, soll man, ihrer Lehre nach, im Angesicht der politischen Misserfolgs aus dem Amt treten. Dies scheint widersprüchlich. Rückkehr ins Eremitenleben bedeutet Verzicht. Rücktritt aus der verdorbenen Politik sollte nicht als Sich-selber-Verlassen angesehen oder positiv als Selbstkultivierung betrachtet werden. Es ist Verzicht auf die menschliche Beziehung, in der man zur Verwirklichung der Gerechtigkeit beauftragt ist. Nun kommen wir zu unserem Thema zurück. Für unsere Diskussion ist der Kampf Gottes von zentraler Bedeutung. Gott selbst ist die Gerechtigkeit. Er bedarf gar keiner Rechtfertigung. Aber er kämpft für uns, indem er Jesus Christus zu uns schickt, um uns zu rechtfertigen. Obwohl die Gerechtigkeit Gottes nie zur Qualität des Menschen werden kann, bleibt Christus in uns und wir durch den Glauben in ihm.68 Das rechtfertigende Werk Christi wirkt in uns. Daraus folgt die Spontaneität, den 67 Siehe Chinesisch-Deutsches Lexikon der Chinesischen Philosophie, übers. aus dem Ci Hai von Lutz Geldsetzer und Hong Hang-Ding, Aalen 1986, 45. 68 WA40/1, 228 – 229.

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anderen zu dienen. In dieser Weise kämpft Gott mit uns um die gerechte Beziehung mit dem Nächsten. Gerechte Taten sind nicht für das Selbst, sondern für die anderen. Konfuzianismus ist zwar keine christliche Religion, die an Jesus Christus glaubt, trotzdem ist die theologische Auffassung von Gerechtigkeit, wie auch die lutherische Sozialethik, für Konfuzianer von Bedeutung und kann sie zum Nachdenken anregen, da sie an einen moralischen Himmel glauben und sich als Mandatar des himmlischen Willens ansehen.

Von Gott angesehen Manfred Marquardt Wir leben in einer Rechtfertigungsgesellschaft. Wer in Tages- oder Wochenzeitungen, im Internet oder modernen Nachschlagewerken nachschaut, wird bei der Suche nach den Begriffen „Rechtfertigung“ und „rechtfertigen“ schnell und reichlich bedient. Das lässt auf den ersten Blick vermuten, dass damit eine willkommene Verständigungsbasis für die Kommunikation der Rechtfertigungslehre gegeben ist. Bei näherem Hinsehen zeigen sich jedoch die Stolperfallen, die sowohl in sprachlicher wie in sachlicher Hinsicht eine solche Annahme nicht empfehlen.

1 „Rechtfertigung“ und „rechtfertigen“ im gegenwärtigen Sprachgebrauch Nicht nur in der Alltagssprache, sondern im durchgehenden Verständnis in der deutschen Gegenwartssprache sind diese Begriffe inzwischen in zahlreichen Zusammenhängen gang und gäbe. Dafür seien hier nur wenige Beispiele zur Veranschaulichung von Art und Sinn ihres Gebrauchs angeführt. In seiner überraschenden Rücktrittserklärung erklärte Bundespräsident Horst Köhler im Mai 2010, dass die Kritik an ihm so weit gegangen sei, „mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären. Diese Kritik entbehrt jeder Rechtfertigung.“1 Es gebe aber keine ausreichenden Gründe für die Annahme, er halte solche Einsätze für richtig; demnach sei eine solche Behauptung nicht gerechtfertigt, ja als „Unterstellung“ empörend. Im Falle eines Nachweises solcher befürwortender Aussagen – so darf man im Umkehrschluss annehmen – hätte er diese Kritik als berechtigt ansehen müssen. Hier heißt Rechtfertigung so viel wie „Berechtigung“ oder „Begründung“.

1

Die ZEIT vom 31. Mai 2010.

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Manfred Marquardt

In einem völlig anderen Zusammenhang und mit dem Anspruch einer legitimen Begründung für das üblicherweise moralisch Verwerfliche wird der Begriff in folgender Aussage verwendet: „Die Rechtfertigung von Unrecht, Gemeinheit und Verrat mittels der Berufung auf das große Ziel gehört untrennbar zur Geschichte des Kommunismus.“2 Diese (nachträgliche) Verteidigung von Unrecht mit einer gleichzeitigen Entlastung der Handelnden ist nicht so abwegig, wie der juristische Laie entrüstet zu behaupten geneigt ist. Das deutsche Strafgesetzbuch (§ 34) kennt den „rechtfertigenden Notstand“, gemäß dem eine ansonsten strafbare Tat als nicht rechtswidrig anzusehen ist, wenn sie in einer gegenwärtigen Lage das einzige angemessene Mittel ist, „eine Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut … von sich oder einem anderen abzuwehren“. Um das (moralische und/oder juristische) Rechtfertigen von Handlungen geht es auch in der folgenden Aussage: „Unrecht, das von Deutschen begangen wurde, kann Unrecht nicht rechtfertigen, das Deutschen angetan wurde.“3 Hier dient der Begriff zur Abwehr eines weit verbreiteten Vergeltungsdenkens im Sinne des ius talionis, wobei die Größe des jeweiligen Unrechts nicht berücksichtigt, vermutlich aber mitgedacht ist. Häufiger verbreitet ist der reflexive Gebrauch des Verbs „rechtfertigen“, der sich in der Regel auf Personen mit ihren Eigenschaften, Einstellungen oder Leistungen bezieht. So behauptete der frühere Bundespräsident Roman Herzog in seiner Berliner Rede vom 26. April 1997: „Eliten müssen sich durch Leistung, Entscheidungswillen und ihre Rolle als Vorbild rechtfertigen.“4 Hier geht es um eine Legitimation für die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich herausgehobenen Schicht, für die andere Attribute wie Bildung, Besitz oder Titel als Berechtigung (allein) nicht ausreichen. Dass es – vor allem dann, wenn man sich einen Nutzen davon verspricht – notwendig oder angeraten sein kann, sich zu rechtfertigen, zeigen Sätze wie der folgende: „Hermann Kant sah sich offensichtlich von

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Gesine Lçtzsch, zitiert in ZEIT online vom 8. Januar 2011. Theo Waigel im Deutschen Bundestag mit Blick auf die Deutsch-Tschechische Erklärung vom Januar 1997 (Archiv der Gegenwart [im Folgenden AdG abgekürzt], Bd. 10, 9611). AdG, Bd. 10, 9640.

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der Wende herausgefordert, sein Leben und Treiben ins rechte Licht zu stellen, sprich: sich zu rechtfertigen.“5 Wurde in diesem Fall „rechtfertigen“ affirmativ verwendet, wird es sonst meist abwehrend gebraucht – sei es als rhetorische Frage oder direkte Verneinung. So kann man in öffentlich zugänglichen Texten – etwa auf Internetseiten – lesen: „Warum muss ich mich als Veganer dauernd rechtfertigen?“ oder: „Strafverteidigung kostet Geld; muss man das rechtfertigen?“ Damit soll der Eindruck erweckt werden, dass eine Rechtfertigungserwartung oder -forderung unangemessen oder überflüssig, dass die jeweils eigene Haltung als einer ausdrücklichen Begründung nicht bedürftig anzusehen sei. Solchen Zurückweisungen entsprechen oft unterstützende Aussagen wie: „Du brauchst dich doch nicht zu rechtfertigen“, oder apologetische Erläuterungen: „Ich bin auch ein Kind der DDR, muss mich aber nicht immer rechtfertigen. Ich will mich auch gar nicht rechtfertigen. Denn es ist oft ausreichend, wenn ich meinen Kindern erzähle, dass man damals sozial viel besser abgesichert war, was Ihnen zu denken gibt bei der heutigen Arbeitsmarktlage.“6 Fazit: Der Überblick kann veranschaulichen, was neueste Wörterbücher als Bedeutungsgehalt angeben: „rechtfertigen“ und seine Derivate drücken aus, dass ein bestimmtes Verhalten, bestimmte Attribute oder Einstellungen begründet, dass sie als richtig, gut oder angemessen anzusehen sind. Sie sollen Anschuldigungen entkräften, indem sie deren Begründungen bestreiten und die Angeschuldigten entlasten. Sie sollen andererseits begründen oder einleuchtend zeigen, warum etwas gut ist so, wie es ist, warum eine getroffene Entscheidung oder vollzogene Handlung richtig war. Sie können als Versuche einer Rehabilitation oder Ehrenrettung, manchmal aber auch schlicht als Vorwand oder Ausrede bezeichnet werden. „Rechtfertigung“ wird so zum wichtigen Bestandteil einer Überlebens- und Erfolgstaktik in der Leistungsgesellschaft – unabhängig davon, ob sie das Fehlen oder das Vorhandensein entsprechender Leistungen und Qualifikationen begründen soll.

5 6

Wolfgang Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, Leipzig 1996, 481. Aus einem anonymen Weblog.

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2 Außertheologischer Sprachgebrauch und Rechtfertigungslehre Wilfried Härle beschreibt das Verhältnis dieses gegenwärtigen und verbreiteten Sprachgebrauchs zur Theologie der Rechtfertigung völlig zutreffend, wenn er feststellt: In der Alltagssprache meinen die Begriffe „rechtfertigen“ und „Rechtfertigung“ also „geradezu das Gegenteil dessen…, was Paulus und Luther mit diesem Wort meinen“.7 Erst recht der Gedanke, ein anderer – Mensch oder Gott – könnte jemanden rechtfertigen und damit dessen Status entscheidend verändern, dürfte auf generelles Unverständnis stoßen. Einen Menschen rechtfertigen zu wollen – wie die Zusage der Rechtfertigung aus Gnade um Christi willen das tut –, „der gar nicht im Recht ist, sondern sich vergangen hat, sich im Irrtum befindet, sich schuldig gemacht oder versagt hat“8, erschiene völlig abwegig und unangemessen. Wenn schließlich eine „Rechtfertigung“ im säkularen Verständnis solchen Menschen zugesprochen oder von ihnen in Anspruch genommen wird, die als Irrende, Schuldige oder Versager gelten, die Rechtfertigung deshalb als Verteidigung und „Ehrenrettung“, als Alibi, Ausrede oder bloßer Vorwand anzusehen ist9, wird die Verwicklung noch größer, da – anders als in der Grundunterscheidung zwischen Person und Werk – mit den Personen auch ihr Verhalten „gerechtfertigt“ wird. Für die theologische Hermeneutik im Dienst der Verkündigung der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungsbotschaft ist also mehr als ein sprachliches Verstehenshindernis entstanden. Wer sich zum Zweck der Kommunikation des Evangeliums von Christus auf den Gebrauch dieser im gesellschaftlichen Austausch vielfach äquivok gebrauchten Begriffe einlässt, wird sich außerhalb kirchlich sozialisierter Gruppen bald in einem Kampf mit Windmühlenflügeln wiederfinden. Aus diesem Dilemma herauszufinden ist darum eine der prominenten Herausforderungen an die christliche Theologie und Kirche, zu deren Existenzgrundlage und Raison d’être diese Botschaft unaufgebbar gehört. Darum 7

8 9

Rechtfertigung heute, in: Wilfried Hrle, Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York 2008, 184 – 201 (Erstveröffentlichung in: Texte aus der velkd, Sonderausgabe „60 Jahre velkd“, Hannover 2008), 186. A.a.O. Vgl. Stichwort „Rechtfertigung“, in: Duden - Das Synonymwörterbuch, Mannheim 42007.

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darf sie den Prinzipien und der Sprache des Rechtsdenkens nicht verhaftet bleiben, sondern muss weitere Schritte über dessen Grenzen hinaus gehen, damit es gelingt, „die strafrechtliche Semantik zu überwinden“10 und den Gehalt der Heilsbotschaft des Neuen Testaments in die Erfahrungswelt und das Verstehen der heutigen Adressaten hineinzutragen. Die christologische Grundlegung der Soteriologie sollte Freiräume für solche Verständigungsmöglichkeiten öffnen, die unter den Verstehensbedingungen einer visuellen Zeit nahe liegen, in der abstrakte Begriffe oft als leer, lebensfremd, schwer verständlich oder starr empfunden werden. Zu Luthers Zeit fand „eine gesamtgesellschaftliche Umstellung … von primär visueller, an der Wahrnehmung äußerer Objekte haftender Kommunikation … auf verbale Kommunikation“ statt.11 Heute steht die theologische Rede zunehmend in der Gefahr, ihre unverzichtbare Anschaulichkeit und Aktualität einzubüßen. Wenn „der dogmatische Begriff und der assertorische Satz in nachchristlicher, postmoderner Zeit an allgemeiner Überzeugungskraft und Verbindlichkeit verlieren, dann gewinnt die sinnliche Wahrnehmung … an theologischer Bedeutung“.12 Die Theologie hat es mit ihrer Wortlastigkeit in einer Zeit der Konkurrenz durch permanente Informationsüberflutungen und des unersättlichen Hungers nach Bildern schwer, Aufmerksamkeit zu erreichen und ihre Botschaft „rüberzubringen“. Außerdem zehren ihre Worte traditionell „von einem Vorrat an vorsprachlichen Bildern und Symbolen, die ihnen Wirksamkeit und Bedeutsamkeit verleihen“, mit dem sie aber bei ihren Gesprächspartnern heute nicht mehr ohne Weiteres rechnen kann, so dass die „leeren Begriffe … im Hörer keine Imaginationen mehr hervorrufen“ und dem Evangelium als „Zuspruch des Lebens“, der auch „lebendig zugesprochen werden“ will, nicht mehr gerecht werden.13 Die Hermeneutik bedarf zum Zwecke einer gelingenden Kommunikation dringend beider Perspektiven – von der Verkündigung und Lehre auf die Hörerinnen und Hörer, aber ebenso und manchmal mit bewusster Verstärkung von den Hörerinnen und Hörern auf Inhalt und 10 Wilfried Hrle, Zur Gegenwartsbedeutung der „Rechtfertigungs“-Lehre. Eine Problemskizze, in: Ders., Menschsein in Beziehungen, Tübingen 2005, 105. (Zuerst erschienen in ZThK, Beiheft 10, 101 – 139). 11 Reiner Preul, Luthers Musikverständnis, in: Elisabeth Grb-Schmidt/Reiner Preul (Hg.), Ästhetik (MJTh XXII), Leipzig 2010, 116. 12 Hartmut Rosenau, Einleitung, in: Elisabeth Grb-Schmidt/Reiner Preul (Hg.), Ästhetik (MJTh XXII), Leipzig 2010, 1. 13 Jörg Barthel, Das Evangelium, eine Kraft Gottes, Stuttgart 2001, 71.

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Sprache ihrer Aussagen. Sie hat sich im Horizont der Gegenwart, ihrer Fragen, Einwände und Verstehensbedingungen, also am „Kontext der gegenwärtigen Lebenswelt“ (Härle) neu zu orientieren, um die unverändert geltende Botschaft des Evangeliums im genauen Sinne zu präsentieren.14 Erst Wort (Hörbares) und Bild (Sichtbares) miteinander gewinnen eine Ausdruckskraft, die personale Beziehungen begründen, beleben, heilen und stärken kann. Der Vorbehalt, dass es für das Entstehen der Glaubensbeziehung zu Gott letztlich auf das Wirken des Heiligen Geistes ankomme, wird bei näherer Betrachtung nicht als Entschuldigung für mangelnden Eifer, sondern nur als Impuls für das Vertrauen auf Gottes Gegenwart verstanden werden dürfen, das die eigene Verantwortung für das „Ausrichten“ des Evangeliums nicht aufkündigt, sondern entschlossen wahrnimmt. Die folgenden Seiten beschreiben den Versuch einer solchen Annäherung an die heutige hermeneutische Aufgabenstellung am Beispiel der visuellen Komponenten des Verlangens und der Gewährung von Ansehen und Anerkennung.

3 Von Gott (an-)gesehen werden 3.1 Das Verlangen nach Anerkennung Das in unserer Zeit auffällige Bedürfnis, sich selbst zu rechtfertigen, entspringt dem Verlangen nach Anerkennung, die jeder Mensch braucht. „Es ist dem Menschen wesentlich, anerkannt zu werden. Sein Personsein hängt davon ab.“15 Fehlende Anerkennung wirkt krankmachend und zerstörerisch – psychisch, physisch und sozial. Verweigerung oder Verlust der Anerkennung können in hoffnungslose Isolation mit suizidalen oder kriminellen Konsequenzen führen. Anerkennung, die nur Andere geben können, wird jedoch nicht immer oder nicht von denen gewährt, die dem Suchenden wichtig sind; darum wird versucht, sie zu erzwingen, zu erschleichen oder zu „kaufen“. In seinem Roman „Ruhm“ hat der Schriftsteller Daniel Kehlmann einer seiner Gestalten, die bereits zu einem assistierten Suizid in die Schweiz gereist war, sozusagen das Leben geschenkt. „Sie geht die Straße 14 Vgl. Hrle, Zur Gegenwartsbedeutung (s. o. Anm. 10), 70-72. 15 Eberhard Jngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen, Tübingen 1998, 5f.

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entlang, mit großen Schritten, halb bewusstlos noch vor Freude, und mir scheint es für einen Moment, als hätte ich richtig gehandelt, als wäre Gnade das Höchste… und zugleich kommt mir die absurde Hoffnung, dass dereinst jemand dasselbe für mich tun wird. Denn … ich kann mir nicht vorstellen, dass ich nichts bin ohne diese Aufmerksamkeit eines anderen, ja dass meine bloß halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von mir nimmt.“16 Absurd ist diese Hoffnung, weil nur die Anerkennung gewiss und verlässlich ist, die in keiner Weise erzwungen werden kann. Sie wird aber von dem gewährt, der sie bereits geschenkt hat, als er Menschen zu seinem Bilde geschaffen und ihnen zugesprochen hat, „ein für allemal anerkannte Personen zu sein“.17 Wer solche Anerkennung seiner selbst erfährt und annimmt, wird sie infolge dessen anderen nicht verweigern dürfen, auch wenn deren Verhalten dafür nur eine unzureichende Basis zu liefern scheint.

3.2 Menschen in der Sichtweise Jesu In seinen Vorschlägen für das Wiedergewinnen des prinzipiellen Verständnisses der Rechtfertigungslehre und das Herausarbeiten ihrer Gegenwartsbedeutung nennt Willfried Härle folgenden Aspekt: Die Rechtfertigungslehre „lässt sehen, dass der Mensch mit seinem Dasein unter einer ihm von Gott gegebenen Verheißung und Bestimmung steht, nämlich der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit. Sie überschreitet damit eine Sichtweise, die am Menschen nur sieht, was vor Augen ist, und ihn auf die Faktizität seines (Geworden-)Seins festlegt, und erschließt statt dessen die Dimension der Möglichkeit und damit einer offenen Zukunft.“18 Anschaulich wird diese Bestimmung des menschlichen Daseins nirgendwo deutlicher als in dem Umgang Jesu mit Menschen, wie die Evangelien ihn schildern. Gerade die gesellschaftlich oder religiös Ausgegrenzten holt er durch Aufmerksamkeit und Beachtung, durch Ansprache und Umgang in eine spontane Beziehung hinein, die bereits als solche einen Widerspruch zu allen möglichen Begründungen für ihre 16 Daniel Kehlmann, Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten, Reinbek bei Hamburg 2010, 76. 17 Jngel, Rechtfertigung (s. o. Anm. 15), 213. 18 Hrle, Zur Gegenwartsbedeutung (s. o. Anm. 10), 105.

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Geringschätzung oder Nichtbeachtung durch andere darstellt. Weder bei Menschen mit einer unverschuldet erlittenen Zurücksetzung (Leprakranke, Gelähmte, Verkrüppelte, Arme, Ausländer, vor allem aber Kinder und Frauen) noch bei solchen, die schuldhaft Ausgrenzung erfahren haben (Zöllner, Dirnen), werden Gründe für einen Entzug von Achtung und Ansehen akzeptiert. Im Gegenteil: Geheilten wird gesagt: „Steh auf, nimm deine Tragbahre, und geh!“ oder „Dein Glaube hat dir geholfen“, über die stadtbekannte Dirne sagt Jesus zu den verächtlich auf sie herabschauenden Frommen, die ohne Vergebung meinten vor Gott bestehen zu können: „Sie hat viel Liebe gezeigt, ihr wurde viel vergeben“, und Kinder werden zum Vorbild: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“19 Um in der Gemeinschaft mit Gott leben zu können, braucht niemand etwas mitzubringen außer sich selbst mit seinem Wunsch, gesehen und anerkannt zu werden. Dabei verschweigt oder übergeht Jesus nicht die Sünde, die die Beziehung der Menschen zu Gott, zu ihren Mitmenschen und zu sich selbst stört, belastet und zerreißt, aber er vergibt sie im Namen Gottes. Was sie selbst nicht in Ordnung bringen können, wird durch seine liebevolle Zuwendung geheilt; sie erfahren Befreiung und Anerkennung, sie können – aufgerichtet und darum aufrecht – weiterleben als Gottes Ebenbild, zu dem sie erschaffen, eingesetzt und mit Würde ausgestattet wurden. Nicht nur von den Männern und den Mächtigen, den Würdenträgern und Ehrenbürgern, den Gesunden und Erfolgreichen, sondern von allen heißt es: „Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.“ (Gen 1,27) Gott segnete sie und vertraute ihnen seine Schöpfung an. Jesus spricht ihnen neu zu, was Gott ihnen zugeeignet hat und letztlich niemand ihnen nehmen oder streitig machen kann. In der Gottesbildlichkeit Jesu erscheint, was Menschen nach Gottes Willen sind und als wen Jesus sie ansieht. Sein Ansehen hat ihnen das Ansehen wiedergegeben, das ihnen als Gottes Ebenbildern gebührt, es hat ihnen Daseinskraft, Selbstachtung und neuen Lebenssinn geschenkt. Zum liebevollen Ansehen gehört wesentlich auch, dass es keinen zwingenden, dem Angesehenen seine Freiheit nehmenden Charakter hat. Auf die Frage eines Mannes, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, antwortete Jesus zunächst mit einem Hinweis auf die Gebote Gottes; der Mann erwiderte, dass er alle diese Gebote von Jugend an 19 Mk 10,15.

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befolgt habe.20 Im weiteren Verlauf dieser Erzählung heißt es: „Da sah ihn Jesus an, und weil er ihn liebte, sagte er: ,Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!‘ Der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg.“ Der Blick Jesu zwingt ebensowenig wie sein Wort, obwohl er wie dieses „durch und durch“ gehen und in eine Situation stellen kann, die eine lebenswichtige Entscheidung ermöglicht und fordert. Der (reiche) Mann trifft diese Entscheidung, indem er – traurig über die Unvereinbarkeit beider Lebenswege – sich der Gemeinschaft mit Jesus verweigert, dessen Antwort auf seine Frage nach dem Gewinn des „ewigen Lebens“ das Loslassen seiner selbstgeschaffenen Lebenssicherungen gefordert hätte.21

3.3 Menschen in der Sichtweise Gottes Die neutestamentlichen Evangelien sind Sehhilfen für Gottes wirksame Gegenwart in Jesus als dem Christus. Sie sind es auf eine zweifache Weise: Sie lassen in Jesus das wahre Gottesbild sehen, und sie zeigen durch Jesu Worte und Leben, wie und als wen Gott die Menschen ansieht. „Seht den Menschen!“ Die Aufforderung des Pilatus an die die Hinrichtung Jesu fordernde Menge, seine Begnadigung zu wählen, sagt mehr, als er weiß. Die Grundaussage neutestamentlicher Christologie lautet: Jesus Christus ist in seinem Leben und Sterben ganz „Gott für uns“ und lebt darum ganz als Mensch für Menschen. In der Einzigartigkeit seiner Gottesbeziehung kann der, der „den Menschen gleich“ wurde und dessen Leben „das eines Menschen war“ (Phil 2,7), die ursprüngliche Gottesbildlichkeit des Menschen sehen lassen. Jesus ist wahres „Bild Gottes“, weil er „in einzigartiger Weise“ Gott entspricht und darum „als Urbild des Menschseins“ in Frage kommt.22 Als solcher sucht und schafft er die neue Gemeinschaft derer, die ihm vertrauen, weil sie in ihm Gottes zugewandtes Angesicht erkennen. Darum lässt das Johannesevangelium

20 Mk 10,17 – 22 par. 21 Wir werden die Frage nach den Konsequenzen des Angesehenwerdens für die Lebensführung später noch einmal aufnehmen. 22 Eberhard Jngel, Der Gott entsprechende Mensch. Bemerkungen zur Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundfigur theologischer Anthropologie, in: Ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch, München 1980, 305.

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Jesus auf die Bitte seines Jüngers Philippus: „Zeige uns den Vater!“ antworten: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.“ ( Joh 14, 8 f). Im Umkehrschluss heißt das: An mir und meinen Worten könnt ihr sehen, wie Gott ist und wie er die Menschen sieht. Das „ewige Leben“ kann und braucht sich niemand zu verdienen. Die Bestimmung zum Leben in der Gemeinschaft mit Gott gilt jedem, der nach Gottes Bild geschaffen ist, denn Gottes Treue zu seinen Geschöpfen einschließlich seines unbedingten Liebeswillens zu allen Menschen gilt unverbrüchlich, sie gilt auch dem, „der aus Verblendung, Schwäche, Trägheit oder Hochmut meint, seinen Lebensweg ohne Gott gehen zu können und zu sollen“23. Auf höchst eindrucksvolle Weise wird diese wahrhaft unsterbliche Liebe im Gleichnis vom Vater und seinen verlorenen Söhnen24 gezeigt. Der jüngere Sohn hatte noch zu Lebzeiten seines Vaters die Auszahlung des Erbes gefordert, das ihm nach dessen Tod zufallen würde; er hatte sich damit auch aus der Bindung an seine Familie gelöst; er hatte sein Land verlassen und sein Eigentum bis zur letzten Münze verprasst. Er war also ökonomisch, sozial, religiös, ethnisch, familiär und privat ohne jede Beziehung, in eine verzweifelte Lage geraten. Der Versuch, sein Leben wenigstens physisch zu retten, brachte ihn an die Futtertröge für die kultisch unreinen Schweine. Nach ihm fragte oder schaute niemand mehr, sein Ansehen als Mensch war verspielt, seine Würde unerkennbar, als er sich auf den Weg zu seinem Vater begab. Am Verhalten des Vaters ist im Zusammenhang unserer Überlegungen Folgendes von besonderer Bedeutung: (1) Er hat nach seinem Sohn, mit dessen Rückkehr nicht zu rechnen war, Ausschau gehalten und empfängt ihn mit Gesten rückhaltloser Zuneigung und Zärtlichkeit. (V. 20). (2) Ohne auf das Sündenbekenntnis und die Demutsgeste des Kniefalls seines Sohnes einzugehen, lässt er ihm die Würdezeichen seiner Sohnschaft bringen und ein Fest vorbereiten. (V. 22 f) (3) Er begründet sein allseits unerwartbares Verhalten zweimal mit der Feststellung: „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden.“ (V. 24. 32) Hier wird, was die Rechtfertigungsbotschaft auf ihre Weise zum Ausdruck bringt, ganz ohne Bezug auf „Recht“, „Gesetz“, „Werke“, „Sühne“ oder verwandte Begriffe dargestellt und denen vor Augen gehalten, die mit Hilfe solcher Vorstellungen ihre eigene „Gerechtigkeit“ 23 Hrle, Rechtfertigung heute (s. o. Anm. 7), 198. 24 Lk 15,11-32.

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nachzuweisen und im Gegenzug das Fehlen der „Gerechtigkeit“ der „Zöllner und Sünder“ anzuprangern versuchten. Wie Paulus auf seine Weise, zeigen die Gleichnisse Jesu25 auf die ihre, wie Gott Menschen ansieht, sie ohne alle Vorleistungen annimmt und ihnen vergibt. Seine Liebe verlangt kein Bekenntnis, keine Wiedergutmachung, keine Gelübde, bevor sie dem, der nichts zu bringen, nichts Ansehnliches aufzuweisen hat, aus zuvorkommender Gnade und freiwillentlich schenkt, was er für ein Leben in Würde, Ansehen und Fülle braucht. So ist Gott: Liebe.26 So sieht er die Menschen an, so handelt er zu ihrer Rettung, so schafft er ihr Leben neu. 3.4 Gottes schöpferisches Sehen27 (1) Gottes Liebe – anders als die menschliche – entsteht nicht erst an dem für sie Liebenswerten oder findet es vor, Gottes Liebe schafft das für sie Liebenswerte.28 So beschreibt Luther zutreffend, was geschieht, wenn Gott einen Menschen in Liebe ansieht. Sie ist kein Begehren nach eigenem Vorteil oder Gewinn – „sie sucht nicht das Ihre“29. Sie liebt „die Sünder, Bösen, Törichten, Schwachen“, um sie „zu Gerechten, Guten, Weisen und Starken zu machen“. Sie ist der alleinige Beweggrund für Gottes Initiative und die einzige Kraft, die diese Neuschöpfung vollbringt. Darum kann Paulus von der „neuen Kreatur“ sprechen, zu der der Mensch in Christus durch Gottes Versöhnungshandeln wird.30 Das „Schauen Gottes auf die Menschen“ ist darum „als solches bereits die Wende zugunsten der Rettungsbedürftigen“.31 25 Es könnten hier weitere Gleichnisse herangezogen werden, worauf ich aber aus Platzgründen verzichte. 26 I Joh 4,10.12.16. 27 Der Ausdruck ist einem Aufsatz von Edgar Thaidigsmann entnommen: Gottes schöpferisches Sehen. Elemente einer theologischen Sehschule im Anschluß an Luthers Auslegung des Magnificat, in: NZSTh 29 (1987/1), 19-38. 28 These 28 der Heidelberger Disputation von 1518: „Amor Dei non invenit sed creat suum diligibile, Amor hominis fit a suo diligibili.“. WA I, 354; Martin Luther. Lateinisch-deutsche Studienausgabe, Band I: Der Mensch vor Gott, hg. v. Wilfried Hrle, Leipzig, 2006, 61. 29 I Kor 13,5. 30 II Kor 5,17. 31 Friedhelm Hartenstein: Vom Sehen und Schauen Gottes, in: Elisabeth GrbSchmidt/Reiner Preul (Hg.), Ästhetik (MJTh XXII), Leipzig 2010, 15-37, 36.

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Erkennbar wird sie naturgemäß eher in ihrer Zuwendung zu den Schwachen, Bedürftigen, Geringen und Ausgegrenzten, die wenig oder keine Aufmerksamkeit durch andere Menschen erfahren; von ihnen wird sie auch deutlicher erlebt und wahrgenommen. Ihrem Zeugnis zuzuhören, könnte die Wahrnehmungsfähigkeit der Theologie über den Bereich des Worthaften hinaus erweitern. Gott urteilt nicht „nach dem Ansehen der Person“, er ist nicht parteiisch; Gott sieht nicht nur durch das Äußere hindurch „das Herz an“; durch Gottes schöpferisches Sehen geschieht weit mehr: Wie er einen Menschen ansieht, so wird dieser. Damit widerspricht er der Selbstwahrnehmung derer, die sich für gering oder unansehnlich, wertlos oder verloren halten, freilich auch derer, die eines anderen nicht zu bedürfen meinen und „Gott nicht nötig“ haben. Beide will Gottes Güte zum Umdenken und zur Umkehr leiten.32 (2) Um die biblische Bedeutung der Begriffe „ansehen“, „angesehen werden“ einschätzen zu können, ist es sinnvoll, einen Blick in das Alte Testament zu werfen, in dem solche Ausdrücke in Bekenntnistexten, Dankgebeten und Klagen33 eine enge Gottesbeziehung zum Ausdruck bringen. Der häufiger zu lesende Ausdruck „Angesicht Gottes“ hat eine ambivalente Bedeutung, insofern das Sehen des Angesichts Gottes für Menschen eine tödliche Wirkung haben kann.34 Dahinter steht die allgemein verbreitete Vorstellung, dass unreine Menschen Gottes Heiligkeit nicht ertragen und darum Gottes Angesicht nicht ohne Schaden schauen dürfen, vielmehr ihr eigenes Angesicht verbergen müssen35, obwohl von einigen überliefert wird, sie hätten Gottes Angesicht gesehen oder mit Gott von Angesicht zu Angesicht geredet.36 Der Schuldiggewordene weiß, dass er vor Gottes Angesicht nicht bestehen kann, und bittet darum, Gott möge es von den Sünden, nicht aber von ihm oder seinem Volk

32 Röm 2,4. 33 „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Gen 16,13); der „Brunnen des Lebendigen, der mich sieht“ (Gen 25,11); „Du (Gott) siehst alle meine Wege“ (Ps 139,3); vgl. auch Jes 38,3; Jer 12, 3; Thr 3,59f u.a. 34 Ex 33,20.23; Jdc 13,22; Jes 6,5 u.a. 35 Gen 32,31 („und doch wurde mein Leben gerettet“); Ex 33,11; Dtn 5,4; 34,10 u.a. 36 Vgl. Jes 6,1ff; Ex 3,6; 33,20 u. a.

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abwenden, es nicht „verbergen“: „Verbirg dein Angesicht nicht vor deinem Knechte, denn mir ist angst; erhöre mich eilends!“37 Gesucht und erbeten wird das zugewandte Angesicht Gottes, mit dem er seinen Knecht, sein Volk gnädig anschauen möge. Den stärksten Ausdruck für dieses heilvolle Ansehen Gottes finden wir im so genannten aaronitischen Segen: „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht über die leuchten und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden!“38 Lebenskraft und Lebensschutz Jahwes werden der Gemeinde zugesprochen, vor allem aber die Zuwendung seines gnädigen Angesichts, das seinen Shalom und mit ihm alles zum Leben und zur guten Gemeinschaft Notwendige schenkt. Gottes zugewandtes Angesicht schafft, was Menschen brauchen und was ihrem Leben Erfüllung und Bewahrung schenkt. Der Segen bedeutet für die, die ihn empfangen, die Zusage der Gegenwart Gottes in ihrem Leben und geht damit nicht nur über alles hinaus, was sie selbst schaffen können, sondern eröffnet ihnen einen weiten und zugleich geschützten Raum, in dem sie das ihnen geschenkte Leben gestalten und führen können. (3) Angesehen zu sein von Gott – darüber jubelt vor allem Maria im „Magnificat anima mea dominum“, das das Lukasevangelium39 ihr in den Mund legt und das in der Kultur- und Auslegungsgeschichte der Christenheit ein vielstimmiges Echo aus sehr unterschiedlichen Stimmen ausgelöst hat. Im Zusammenhang unserer Überlegungen sind vor allem die Verse 48 und 49 von besonderer Bedeutung: „Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.“ Hierzu hat Luther in seiner Auslegung des Magnificat einige treffende und wichtige Beobachtungen gemacht, die bis heute nichts von ihrer Bedeutung verloren haben. „Das erste Werk Gottes in ihr“ – so bekennt Maria – sei, „dass Gott sie angesehen hat.“ Und er fügt hinzu, dass dies auch das größte Werk sei, „woran die andern alle hangen und aus ihm alle fließen.“ Denn, so fügt Luther hinzu – „wo es dahin kommt, dass Gott sein Angesicht zu jemand wendet, um ihn anzusehen, da ist eitel Gnade 37 Ps 69,18; vgl. Ps 27,9; 51,11; 102,3; 143,7; Esr 9,15; 104,29; Jes 64,6b; Ez 39, 24 u. a. 38 Num 6,24-26. 39 Lk 1,46-55.

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und Seligkeit, da müssen alle Gaben und Werke folgen“40, das heißt, sie haben im Ansehen Gottes ihren Ursprung und sie fließen mit Notwendigkeit aus ihm. Die Größe Gottes ist gerade daran zu erkennen, dass er auf das Niedrige schaut. Maria hat an sich selbst „erfahren…, dass Gott in ihr so große Dinge wirket, obwohl sie doch gering, unansehnlich, arm und verachtet gewesen“ sei.41 Freilich ist dies kein Sonderfall göttlichen Handelns, denn „gleich wie er im Anfang aller Kreaturen die Welt aus nichts schuf, davon er ,Schöpfer‘ und ,allmächtig‘ heißet, so bleibt er unverändert dabei, auf solche Art zu wirken, und alle seine Werke bis ans Ende der Welt sind noch so beschaffen, dass er aus dem, das nichts, gering, verachtet, elend, tot ist, etwas Kostbares, Ehrenvolles, Seliges und Lebendiges macht.“42 Ansehen und Schaffen Gottes werden hier in einem engen Zusammenhang gesehen, wie wir sie sonst aus der Verbindung von Wort und Schaffen kennen.43 Ja, in solchem „Ansehen, das in die Tiefe, Not und Jammer siehet“, wird erkennbar, dass „Gott allein … allen denen nahe (ist), die in der Tiefe sind… Und da ist dann der heilige Geist, der hat solch überschwengliche Kunst und Lust in einem Augenblick durch die Erfahrung gelehrt“, die Gottes Liebe im Herzen geweckt hat.44 Im Unterschied zu menschlichem Sehen, das das Ansehen derer vergrößert, die schon angesehen sind, entdeckt Gottes Sehen gerade das, was von den Menschen nicht angesehen, oft übersehen wird. Gottes Hinsehen schenkt „dem Geringen und Nichtigen Sein. Darin ist sein Blick seinsgründend und schöpferisch“45. Doch geht Gottes Offenbarung in Christus noch tiefer, denn sie zeigt „einen Gott, der im verachteten, gekreuzigten Jesus sein wahres Antlitz enthüllt“46. Gottes „schöpferisches Sehen“ steht nicht in Konkurrenz zu seinem Wort; es bedarf, um vom Menschen wahrgenommen, verstanden und in 40 Martin Luther, Das Magnificat verdeutscht und ausgelegt (1521), WA 7, 538 – 604, hier zitiert nach: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 5, hg. v. Kurt Aland, Göttingen 21963, 274 – 398. 41 A.a.O. 275. 42 Ebd. 43 „Wenn er spricht, so geschieht’s; wenn er gebietet, so steht’s da.“ (Ps 33, 9; vgl. Gen 1) 44 Luther, Magnifikat (s.o. Anm. 40), 276f. 45 Thaidigsmann, Gottes schöpferisches Sehen (s. o. Anm. 27), 23. 46 Jörg Barthel, Denkender Glaube, ThfPr 36 (2010), 80.

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ihm zur Erfahrung gebracht zu werden, des Wortes, das ihm dieses Angesehenwerden durch Gott verstehen hilft. Keiner kann sich Gott gegenüber seines Ansehens rühmen, ja keiner wre überhaupt ohne dieses Angesehenwerden durch Gott. Denn „Grund und Maß allen Seins ist das schöpferische Wahrnehmen Gottes. Sein Blick verleiht Sein dem, was nichts ist… Sein schöpferischer Blick ist in seiner seinsverleihenden Kraft und Macht ein schenkender.“47 Paulus verbindet den Gedanken, dass Gott, „die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Dasein ruft“, mit der Vorstellung Gottes als dem, „der den Gottlosen gerecht macht“ und dessen Verheißung „aus Gnade“ gilt, die im Glauben, also ohne Vorleistung, empfangen wird.48 Schöpfung und Heilsgeschehen, ins Dasein rufen und Gemeinschaft stiften mit denen, die nach der überlieferten Ordnung nicht dazugehören, sind das Werk des einen Gottes, vor dessen Angesicht alle leben und sind.

4 Von Gott angesehen werden: Wirkungen und Folgen Die Erfahrung eines solchen von Gott Angesehenwerdens bleibt nicht ohne Wirkung im Leben derer, die sie machen, und nicht ohne Folgen für ihr Handeln. 4.1 Gottes zugewandtes Angesicht Die Vertrauenspsalmen des Alten Testaments, die Evangelien und andere Texte des Neuen Testaments beschreiben solche Erfahrungen oft sehr anschaulich. „Als Petrus den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! Jesus streckte sofort die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“49 Glaube und Zweifel liegen nah beieinander, Gottes Angesicht aber bleibt Glaubenden und Zweifelnden zugewandt. Erfahrungen des Verlassenseins von Gott oder der Gottesferne sind darum trotz ihrer subjektiven Echtheit kein Zeichen dafür, dass Gott sich von denen abgewendet hat, die er liebevoll anschaut.

47 Thaidigsmann, Gottes schöpferisches Sehen (s. o. Anm. 27), 36. 48 Röm 4,16f. 49 Mt 14,31.

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Die Erfahrung des befreienden und belebenden Sehens Gottes kann in eine zunehmend vertrauensvolle Beziehung führen, aus der auch die dunklen Seiten des Lebens und der Seele nicht ausgeschlossen zu werden brauchen. Auf den Gott, der ihn sieht, kennt und liebt, kann sich jeder Mensch furchtlos und rückhaltlos einlassen. Das wird nicht immer gelingen, wenn Ängste und Bedrohungen sich als stärker erweisen und Zweifel das Vertrauen auf Gott zernagen. Da Gott jedoch sein Angesicht nicht abwendet, können auch solche Erfahrungen die verlässliche Beziehung zu ihm nicht zerstören. Im Licht dieses Angesehenseins wird freilich auch unübersehbar, welche Entfremdung von Gott die Sünde in uns und in unserer Lebensgeschichte herbeigeführt hat und welchen Anteil wir selbst daran haben, dass sie Macht über unser Denken, Wollen und Handeln gewonnen hat. Gerade Gottes Güte weckt in den vertrauensvoll auf Gott Schauenden das Bewusstsein dafür, wie weit sie sich von ihm entfernt haben. Im „Licht seines Angesichts“ wird Verborgenes und Verdrängtes erkennbar50 ; darum wendet sich der Beter, dem klar wird, dass er immer und überall in der Gegenwart Gottes lebt, an ihn mit der Bitte: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“51 Wege aus schuldhaften Verstrickungen und zerstörten Beziehungen findet niemand durch Verdecken oder Leugnen der eigenen Anteile, sondern im Licht dessen, der mit der Erkenntnis zugleich Vergebung der Schuld gewährt und Erneuerung der Lebenskräfte und der Lebensführung ermöglicht. In der erneuerten Gemeinschaft mit Gott erhält die Beziehung zu Jesus Christus als dem wahren Ebenbild Gottes und der menschgewordenen Gottesliebe eine zentrale Bedeutung, weil durch das Wirken des göttlichen Geistes dieses Bild wahren Menschseins als Leitbild unseres Denkens, Wollens und Tuns eingeprägt wird.52 Das „helle Licht des Evangeliums“, das in Christus erschienen ist, soll nun auch in der Verkündigung weitergetragen werden und sich im Leben der Glaubenden spiegeln: „Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, 50 Ps 90,8. 51 Ps 139,23f. 52 Vgl. meinen Artikel: Imago Christi als Leitbild der Heiligung, in: Wilfried Hrle/Manfred Marquardt/Wolfgang Nethçfel (Hg.), Unsere Welt – Gottes Schöpfung, FS Eberhard Wölfel, Marburg 1992, 235 – 250. (Abgedruckt: ThfPr 18 (1992), 2 – 14)

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der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“53 Damit, so schreibt Paulus, „predigen wir nicht uns selbst, sondern Jesus Christus“, aber mit dieser Verkündigung soll auch sichtbar werden, dass die im Glauben gelebte Gemeinschaft mit Gott nicht wirkungslos bleibt. Dann kann es sogar heißen: „Wir alle sehen mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel, und wir werden verklärt in sein Bild.“54

4.2 Die Gemeinschaft der von Gott Angesehenen Das Leben unter dem Angesicht Gottes hat, wie schon in dem eben Gesagten stillschweigend mitgedacht, auch eine horizontale und soziale Dimension. Die Erfahrung der im Evangelium verkündigten Gegenwart Gottes führt durch das Wirken des Geistes Gottes in die Gewissheit des Glaubens und bezieht damit die einzelnen Personen „auf die Sozialgestalt der Glaubensgemeinschaft“, in der es „in der Abfolge der Generationen und der Epochen zu einer Begegnung mit dem Christus Jesus selber kommt, in dem uns Sinn und Ziel … des schöpferischen Wollens und Waltens Gottes offenbar wird“.55 Diese Glaubensgemeinschaft hat ihrerseits ihren Ursprung nicht in einer Vereinbarung ihrer Glieder, sie ist von ihrem ersten Vorkommen in der Geschichte an durch den dreieinen Gott „in Realisierung seines ewigen Gemeinschaftswillens … von sich aus … zu seinem geschaffenen Ebenbild, zu den Menschen, aufgenommen“ worden“.56 Es leuchtet ein, dass eine Beziehung, die ihren Ursprung – individuell und sozial – im schöpferischen Ansehen Gottes hat57, nur durch Gott selbst gestiftet worden sein und werden kann. Damit wird der Zusammenhang des göttlichen Handelns an und mit seinen Menschen als sich über die gesamte Menschheitsgeschichte erstreckend gesehen. Im zentralen gottesdienstlichen Geschehen der Mahlgemeinschaft wird die Gegenwart des erhöhten Herrn geglaubt und gefeiert. Sie ist zugleich ein Zeichen der Gemeinschaft, die Jesus „zu den Seinen und 53 II Kor 4, 6. 54 II Kor 3, 18. 55 Konrad Stock, Über die Idee einer theologischen Ästhetik, in: Elisabeth GrbSchmidt/Reiner Preul (Hg.), Ästhetik (MJTh XXII), Leipzig 2010, 87. 56 Eilert Herms: „Freikirche“, in: Ders., Kirche – Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums, Tübingen 2010, 326. 57 Vgl. Gen 1,26f.31.

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dadurch zu allen Menschen aufgenommen“ hat, auf die „der Wille des Schöpfers von Anfang an zielt, die er durch die Schöpfung faktisch, durch die Sendung des Sohnes dann explizit realisiert“58 hat. Sie bewegt sich in eine eschatologische Zukunft, in der sie ihre Vollendung mit dem Schauen Gottes „von Angesicht zu Angesicht“59 erfahren wird. Die zum Mahl des Herrn versammelte Gemeinschaft der von Gott Angesehenen kann jedoch durch ein unwürdiges, das heißt liebloses, Verhalten ihrer Glieder die Verbundenheit mit Christus praktisch verleugnen und sich selbst richten. Die Beschränkung auf gottesdienstliche Feiern und auf kirchliche Handlungen ohne den in Liebe gelebten Glauben steht unter dem Urteil Jesu, das von seinen Adressaten mit Unverständnis quittiert wird: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir nicht zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir nicht zu trinken gegeben…“60 Damit wird keine ethisch makellose Lebensführung eingefordert, wohl aber das Bewusstsein einer Verantwortung für das Evangelium, die wahrgenommen und sichtbar werden soll.61

4.3 Das Evangelium und „die Anderen“ Was in der Gemeinschaft am Tisch des Herrn sich schon von selbst verstehen sollte – dass es nämlich dort und im weiteren Umgang der Glieder miteinander keine Rangunterschiede geben kann – hat auch Konsequenzen für die Einstellung und das Verhalten gegenüber Menschen anderen Glaubens oder ohne Gottesglauben. Sie sind – nicht weniger als Christinnen und Christen – von Gott Geliebte und in Christus zur Gottesgemeinschaft Bestimmte. Die Liebe, sagt Luther zu Recht, ist „das erste oder wenigstens zugleich mit dem Glauben“62 an Christus, beide können nur miteinander existieren. Wenn uns auch in fremden Menschen nach dem Bild Gottes Geschaffene begegnen, wissen wir jedenfalls: sie sind von Gott mit gleicher Würde geschaffen und als von ihm Angesehene geliebt. 58 59 60 61 62

Herms, Freikirche, 326. I Kor 13,12. Mt 25,42ff. I Kor 9,26f; I Thess 2,4. Martin Luther, Von den guten Werken (1520), Vom ersten Gebot, 9., in: Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 2, hg. v. Kurt Aland, Göttingen 21981, 102.

Von Gott angesehen

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Die Erfahrung, von Gott liebevoll angesehen zu sein, bestimmt Menschen als ganze und in der Ganzheit ihres Lebens. Angenommen und geborgen, ermutigt und ermächtigt, berufen und beauftragt zu sein sind Kennzeichen einer Gemeinschaft, die Gott zu einem lebendigen Körper zusammenfügt, zu dem alle als Glieder gehören. Diese Gemeinschaft führt ihrem Wesen nach eine Kontrastexistenz zu einer Gesellschaft, in der ethische Prinzipien wie Gerechtigkeit, Friede, Würde des Lebens, Schutz der Schwachen keinen oder nur wenig Platz haben. Dieser Kontrast wird sichtbar, wenn die Gemeinde ihre Identität als Kirche Jesu Christi tatsächlich und ohne Zurückhaltung lebt. „Die Stadt, die auf dem Berg liegt“ kann und soll „nicht verborgen bleiben“, fordert die Bergpredigt Jesu. Darum gilt gerade für das Mitsein der Christen mit Anderen: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen“, die Geschenke Gottes sind, „und euren Vater im Himmel preisen“63. Machtmissbrauch, Entmündigung und Entwürdigung dürfen weder in persönlichen Beziehungen noch in gesellschaftlichen Strukturen, politischen Maßnahmen oder ökonomischen Strategien hingenommen werden. Die seit der Aufklärung entstandenen Handlungsmöglichkeiten in demokratischen Staaten haben für Christen den Charakter einer Aufforderung, sie für die Verwirklichung menschenwürdiger Lebensbedingungen auf allen Ebenen über die ethnischen, kulturellen oder politischen Grenzen hinaus zu nutzen. Die Beziehung, die der dreieine Gott zu uns aufnimmt, zieht keine Trennungslinie zu anderen Menschen, auch wenn ein Innen-AußenGefälle der geschichtlichen Sozialgestalt „Kirche“ oder „Gemeinde“ besteht; sie zeigt Liebe mit einer wesentlich inklusiven Tendenz, die keine „Fremden“ oder „Sünder“ ausschließt. Christus, der in ihr Gestalt gewinnen und durch sie wirken will, ist „das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen“, damit alle das Ziel ihrer Bestimmung erreichen: die Gemeinschaft mit Gott.64

4.4 „Von Angesicht zu Angesicht“ – Die eschatologische Perspektive In seinem Kapitel über die Liebe äußert Paulus – nicht zufällig – auch einige nüchterne Gedanken über das Erkennen und dessen Grenzen: „Stückwerk ist unser Erkennen… Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein 63 Mt 5,16. 64 Joh 1,9; I Tim 2,4; Phil 2,10 f.

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dunkles Bild.“65 Das gilt vor allem für die Erkenntnis Gottes in unserer irdischen Lebenszeit. Dietrich Bonhoeffer klagt in einem Brief: „…dies wahnwitzige, dauernde Zurückgeworfenwerden auf den unsichtbaren Gott selbst – das kann doch kein Mensch mehr aushalten.“66 Die gegenwärtige Faszination, die von einigen religiösen Traditionen und profan-medialer Kultur ausgeht, wird auch durch das Angebot sichtbarer „Götter“ und „Göttinnen“ genährt. Dagegen wirkt die christliche Auskunft über Gott auf viele unbefriedigend karg. Wer darunter leidet, wird vielleicht in Bonhoeffers Klage einstimmen67 oder sich an Ereignissen kirchlicher Prachtentfaltung Ersatz zu beschaffen versuchen. Paulus gibt einer anderen Erwartung Ausdruck: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“68 Damit erfüllt sich die Hoffnung, dass die „fragmentarische“ Erkenntnis Gottes aufgeht im Schauen des „Angesichts“ Gottes, das alles noch Verschattete und Gebrochene auf eine Weise überbieten wird, von der wir uns im wahrsten Sinne keine Vorstellung machen können; jetzt wissen und glauben wir nur: Gott wird die durch Christus geschehene Offenbarung nicht revidieren, sondern bestätigen und vollenden und unser Erkennen zu ihrem uneingeschränkten Empfang befähigen, so dass, „wenn er offenbar wird, wir ihn sehen werden, wie er ist“.69

65 I Kor 13,9.12. 66 Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 11, Ökumene, Universität, Pfarramt, 1931 – 1932, hg. v. Eberhard Amelung und Christoph Strohm, München 1994, 33 (Herbst 1931). 67 „Die Unsichtbarkeit macht uns kaputt. Wenn wir’s nicht in unserem persönlichen Leben sehen können, dass Christus da war, dann wollen wir’s wenigstens in Indien sehen….“ (Ebd.) 68 I Kor 13,12. 69 I Joh 3,2.

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? 1 Oswald Bayer 1 Klage und Adventsbitte Friedrich Spees Adventslied „O Heiland, reiß die Himmel auf …“2, aus dem der Titel dieser Akademietagung genommen ist, nimmt Jes 64,1 (beziehungsweise Jes 63,19b) auf – einen Vers aus dem „wohl […] gewaltigste[n] Volksklagepsalm in der Bibel“3 : „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Das ist ein aus der Klage der Gottverlassenheit geborener Hilferuf, der Gott bittet, ja bestürmt, nicht länger zu warten: Löse deine Zusage ein, verzögere dein rettendes Kommen nicht länger4, greife endlich ein, um Recht und Gerechtigkeit zu schaffen – um zu richten und zu retten. „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, / darauf sie all ihr Hoffnung stellt? / O komm, ach komm vom höchsten Saal, / komm, tröst uns hier im Jammertal.“5

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Vortrag vor der Evangelischen Akademie Baden in Bad Herrenalb am 4. Dezember 2010. Gesamthema der Tagung: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? Worauf wir vertrauen können.“ Vgl. Evangelisches Gesangbuch (zukünftig abgekürzt als EG) Lied Nr. 7. Claus Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40 – 66 (ATD 19), Göttingen 1966, 311. Vgl. außer den Klagepsalmen und ihrer Frage „Wie lange?“: Hab 2, 2 – 4; Hebr 10, 37 f; II Petr 3,9. Dazu: August Strobel, Untersuchungen zum eschatologischen Verzögerungsproblem aufgrund der spätjüdisch-urchristlichen Geschichte von Habakuk 2,2 ff, Leiden/Köln 1961. Das Problem der Naherwartung und Parusieverzögerung ist im Kern weniger ein chronologisches denn ein strikt theologisches: Es hat seinen Ort im Bereich der Theodizee und wird sich erst erledigen, wenn sich die Unerträglichkeit des Gottwidrigen erledigt haben wird. EG 7, 4. Vgl. EG 134,5 (Bitte an Gott den Heiligen Geist, den „Tröster“: s.u. Anm. 55): „Wird uns auch nach Troste bange, / dass das Herz oft rufen muss: / „Ach mein Gott, mein Gott, wie lange? […]“ („Komm, o komm, du Geist des Lebens […]“, Heinrich Held, 1658). Das Werk des Heiligen Geistes kann wesentlich als Trost gelten: Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Zur Wendung „nach Troste bange“ vgl. Luthers Übersetzung von Jes 38, 17: „Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele

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Keine Ergebung sucht diese Bitte. Der Beter will nicht beschwichtigt, nicht beruhigt werden. Unverkennbar ist vielmehr seine antistoische Ungeduld, die fragen lässt: „Wie lange noch?“ Wir kennen diese Frage aus den Klagepsalmen – etwa aus Psalm 13 (Verse 2 f): „Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängstigen in meinem Herzen täglich? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“ Die Situation, in der und aus der heraus der Beter nach Trost, nach der Wende der Not, nach Rettung ruft, wird nicht hingenommen und angenommen, sondern als unverständlich6, ja unerträglich geklagt. Der bedrängenden Feinde, mit denen der Beter sich nicht abfindet, sind viele: Krankheit, Rechtlosigkeit, Verrat durch Freunde und die nächsten Angehörigen, Betrug, Lüge, Mord samt allen übrigen Formen des Bruchs der Gemeinschaftstreue – des Vertrauensbruchs –, Verlust der religiösen sowie der staatlichen Identität und damit auch der eigenen psychischen Identität sowie die damit verbundene Enge, Angst und Verzweiflung – in welcher Gestalt auch immer. „Ängste bestürmen mein Herz; führe mich heraus aus meiner Bedrängnis!“ (Ps 25,17). Die Lebensverhältnisse – die Beziehungen zu meinen Mitgeschöpfen, zu mir selbst und zu Gott – sind nicht in Ordnung, sondern gestört, ja zer-stört und stehen damit in schreiendem Widerspruch zu Gottes Schöpfer- und Heilswillen. Die Feinde sind die Mächte des Verderbens, des Gemeinschaft Zerstörenden, des Lebens- und Sinnwidrigen – bis hin zum „letzten Feind“ (I Kor 15,26), dem Tod.

2 Trost: ein Gottesprädikat Der Trost nun, nach dem gesucht, nach dem geschrieen wird, ist nicht weniger als die Macht, die diesen Verderbensmächten gewachsen ist, sie besiegt, überwindet. Keine Frage, dass diese Macht keine immanente Möglichkeit, kein Seelenvermögen des Menschen ist. Kein Mensch kann von sich aus einem anderen wahren Trost geben7 – geschweige denn, sich

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herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück.“ Ausweis dieses nicht verstehen Könnens ist die Frage „Warum?“: Ps 22,2 u. ö. Damit wird nicht zuerst nach einer rationalen Erklärung gefragt, sondern die Erhörung der Klage ersehnt. Vgl. unten bei Anm. 26 – 28.

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selber Trost zusprechen. Der Trost ist vielmehr das, worauf sich die Bitte um den Advent, die Bitte um das Kommen, um das machtvolle Eingreifen Gottes richtet: auf Gott selbst. Er allein ist der „Trost der ganzen Welt“, das wirklich Zuverlässige und Beständige, das Feste, der Grund, auf den man bauen, dem man vertrauen kann8 ; er allein ist das Wort, das hält und ins Werk setzt, was es verspricht: Leben und Gemeinschaft in Fülle ( Joh 10,10) – angesichts dessen, was wankt, fällt, verdirbt, verkommt, zugrunde geht, verwest. „Trost“ ist also ein Gottesprädikat. Es steht für Gott selbst, den „Gott allen Trostes“ (II Kor 1,3; vgl. Röm 15,13: „Gott der Hoffnung“9). Es sagt, wer Gott ist: der „Tröster“, und was er tut: Er tröstet wie – nach Tritojesaja in der Nachfolge Deuterojesajas, des großen Trostpropheten – einen seine Mutter tröstet ( Jes 66,13). Und doch anders. Denn meine Mutter kann für den Trost, den sie gibt, nicht selbst wirklich einstehen10 ; sie ist nicht des Todes mächtig. Eben dies aber ist nach dem großen paulinischen Lobpreis zu Beginn des zweiten Korintherbriefes der „Gott allen Trostes“ und zugleich, wie Paulus im selben Vers parallel dazu schreibt, der „Vater der Barmherzigkeit“. Gottes Trost und seine mit ihm verschwisterte, ja identische Barmherzigkeit11 sind keine bloße Gesinnung, sondern nicht weniger als die Macht, die gefallene und seufzende 8 Die etymologische Urbedeutung von „Trost“ ist „kernholz“, „festigkeit“: DWb (= Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854ff) Bd. 22, 1952, Sp. 902. Von daher meint das Wort zunächst und hauptsächlich den handfesten Grund und Inhalt des Vertrauens – konkret etwa Geld oder militärische Hilfe (Sp. 910). Erst in der Neuzeit wird es „weniger als sichtbare hilfe denn als seelische stärkung“ verstanden (Sp. 903), erlangt also die subjektive Färbung des gegenwärtigen Sprachgebrauchs. 9 Trost und Hoffnung haben nicht nur eine ähnliche Bedeutung, sondern sind synonym. Der „Trost der ganzen Welt“ ist der, „darauf sie all ihr Hoffnung stellt“. Sowohl „Trost“ wie „Hoffnung“ meinen den Trostgrund wie das Hoffnungsgut (spes, quae speratur; vgl. Gal 5,5: „Wir erwarten die Hoffnung“; Tit 2,13: „warten auf die Hoffnung“), zugleich aber auch das Getröstetsein des Getrösteten und das Hoffen des Hoffenden (spes, qua speratur). „Hoffnung“ umfasst also – objektiv – das Erhoffte, das nicht nur Gegenstand und Ziel des Hoffens, sondern sein Grund ist, und – subjektiv – das Hoffen als Affekt und Akt. Entsprechend geht dem „Trost“, den ich subjektiv empfinde, die handfeste Macht voraus, die mir Festigkeit und Halt, Schutz und Hilfe gewährt, ja: Rettung bringt. 10 Vgl. unten bei Anm. 26 – 28. 11 Wie im Einklang mit II Kor 1,3 – 7 die Bedeutung von „nicham“ (es sich wegen fremden Unglücks leid sein lassen, mitleiden, Reue empfinden, trösten, rächen) zeigt, sind „Trost“ und „Barmherzigkeit“ bzw. „Erbarmen“ identisch.

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Schöpfung durch den Tod hindurch zu retten.12 Gott tröstet effektiv, indem er die Toten auferweckt13 und zusammen mit der Weltgeschichte meine eigene Lebensgeschichte durch das Gericht hindurch vollendet.

3 Trost als Reich Gottes, als endgültiges Heil – in Christus Es dürfte deutlich geworden sein, dass von dem Trost, den das Adventslied erwartet, nicht groß genug, nicht weit und tief genug gedacht werden kann. Der „Trost der ganzen Welt“ ist nichts Geringeres als das Reich Gottes, als Gott in seiner Rettungsmacht – nichts Geringeres als das umfassende und endgültige Heil der Welt in seinen individuellen, sozialen und kosmischen Dimensionen, wie es im Neuen Testament nicht zuletzt das Buch der Offenbarung des Johannes zur Sprache bringt und vor Augen stellt. Dieses letzte Buch der Bibel ist im Grunde eine aus der Not und Bedrängnis geborene Klage in ihrem ungeduldigen14 adventlichen Verlangen nach dem Kommen des schon gekommenen Herrn, auf das hin das Neue Testament an seinem Ende sich öffnet: „Komm, Herr Jesus!“ (Apk 22,20) – Maranatha! „O Jesu Christ, du machst es lang / mit deinem Jüngsten Tage, / den Menschen wird auf Erden bang / von wegen vieler Plage. / Komm doch, komm doch, du Richter groß, / und mach uns bald in Gnaden los / von allem Übel. Amen.“15

12 „Der wahre Trost […] ist mit dem Erbarmen Gottes identisch, der sich dem Niedrigen in der Tiefe zuwendet und Gemeinschaft durch den Tod hindurch zusagt und schafft. So kann die Einheit von Barmherzigkeit und Trost mit der Überwindung der Todesmacht im Lobpreis bekannt werden (2.Korinther 1)“: Oswald Bayer, Barmherzigkeit, in: Ders., Zugesagte Freiheit. Zur Grundlegung theologischer Ethik (GTB 379), Gütersloh 1980, 101 – 107, 107. Vgl. Otfried Hofius, „Der Gott allen Trostes“. Paraklesis und parakalein in 2Kor 1,3 – 7, in: Theologische Beiträge 14 (1983), 217 – 227 bzw. in: Ders., Paulusstudien, Tübingen 1989, 244 – 254. 13 Vgl. neben I Kor 1,3 – 7: Lk 7, 11 – 17 (Paralleität von „Weine nicht!“ und „Stehe auf!“). 14 Apk 6,10: „[…] Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht unser Blut […]?“ 15 EG 149,7 („Es ist gewisslich an der Zeit […]“: Nachdichtung der berühmten – aus der apokalyptischen Dichtung des späten 12. Jahrhunderts stammenden – Sequenz „Dies irae, dies illa […]“ durch Bartholomäus Ringwaldt 1586. Text der Sequenz: Urbanus Bomm, Lateinisch-deutsches Volksmessbuch, Einsiedeln, 11. Aufl. 1956/57, 1410 – 1412).

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Dasselbe endgültige Heil wie die Johannesoffenbarung erwartete als gerechter und gottesfürchtiger Jude der greise Simeon. Er hoffte auf „den Trost Israels“, auf Israels „Rettung“, wie die sachlich durchaus zutreffende Version der Einheitsübersetzung für „Trost“ lautet (Lk 2,25). Der Trost ist die Rettung, die durch den – im Judentum „Menachem“, „Tröster“, genannten16 – Messias Jahwes, den „Messias des Herrn“ (Lk 2,26), geschehen wird, ja mit Jesu Geburt bereits geschehen ist, so dass Simeon den Trost, die Rettung, das Heil jetzt schon empfängt, buchstäblich in seine Arme nehmen darf und beten kann: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben dein Heil gesehen, das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel“ (Lk 2,29 – 32). Der Trost nicht nur Israels, sondern der ganzen Welt ist verfasst in diesem kleinen Kind17, das in der Krippe geboren wurde, und in dem Mann, der am Kreuz starb. Mit seiner Taufe im Jordan ist der verschlossene Himmel zerrissen; er hat sich geöffnet: Gottes Geist ist herabgefahren und ist nun Gegenwart in Jesus, dem Messias, dem Christus, dem „geliebten Sohn“ des Vaters (Mk 1,9 – 11). Jene aus der Klage geborene ungestüme Bitte „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ ist im Leben, Leiden, Sterben und Auferwecktwerden Jesu Christi erfüllt, ein für allemal. In und mit ihm ist die Zeit erfüllt und das Reich Gottes so nahe herbeigekommen, wie es näher gar nicht kommen kann (Mk 1, 15; vgl. Gal 4,4). Jesus Christus verkündet nicht nur das Reich Gottes, sondern ist es selber in Person; er ist, mit einem treffenden Wort des Origenes gesagt, die „Autobasileia“18, so dass die Vaterunserbitte „Dein Reich komme“ in ihrer christologischen Präzisierung lautet: „Komm Herr Jesu!“ – Maranatha (Apk 22,20; I Kor 16,22; Did 10,6).

16 Vgl. Günter Stemberger, Art. „Trost I. Bibel und Judentum, in: TRE 34, Berlin/New York 2002, 143 – 147, 146,2 – 6. 17 Deshalb ist es verständlich und zu vertreten, wenn Luther das abstractum „Heil“ (Lk 2,30) konkret fasst: personal übersetzt – mit „Heiland“, „Retter“. 18 Nachweis bei: Karl Ludwig Schmidt, Art. „autobasileia“, in: Gerhard Kittel (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. I, (1933) Nachdruck Stuttgart 1957, 591,23 – 25.

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4 Der „einzige“ Tröster und die vielen Tröster: Engel Im ersehnten Kommen des in dem Menschen Jesus von Nazareth bereits gekommenen Messias, des Gottessohnes, liegt der „Trost der ganzen Welt“, „darauf sie all ihr Hoffnung stellt“. So bekennt die Christusgemeinde. Und es ist sachgemäß, wenn sie über ihren Glauben, ihre Liebe und ihre Hoffnung gerade unter dem Titelbegriff des „Trostes“ öffentlich Rechenschaft gibt (vgl. I Petr 3,15). Dies jedenfalls geschieht im grundlegenden Bekenntnis der reformierten Kirchen, im Heidelberger Katechismus (1563). Er ordnet alles der Antwort auf seine erste Frage unter, die mit Bedacht zum Titel dieses Vortrags genommen wurde: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Nach der Antwort des Katechismus gilt es, auf den Trost der ganzen Welt nicht nur zu warten, sondern an ihm jetzt schon teilzuhaben. Mein einziger wahrer Trost liegt darin, „dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben (Röm 14,7 f), nicht mir (I Kor 6,19), sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre (I Kor 3,23). Er hat mit seinem teuren Blut (I Petr 1,18 f) für alle meine Sünden vollkommen bezahlt (I Joh 1,7; 2,2) und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst (I Joh 3,8); und er bewahrt mich so ( Joh 6,39), dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen (Mt 10,29ff; Lk 21,18), ja, dass mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss (Röm 8,28). Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens gewiss (II Kor 1,21 f; Eph 1,13 f) und von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben (Röm 8.14ff).“19 Vorbildlich an dieser Erklärung ist die christologische Konzentration, die jedoch nicht christomonistisch ist; das Werk des Vaters und des Heiligen Geistes werden zwar knapp, aber deutlich angesprochen, so dass alle drei Artikel des Glaubensbekenntnisses in der Bestimmung dessen, was „Trost“ ist, zusammenwirken: Der Trost ist einzig und allein das Wort und Werk – das wirksame Wort – des dreieinen Gottes. Mag man diese kurze Zusammenfassung des gesamten Katechismus in Einzelzügen auch kritisch sehen – bemerkenswert ist jedenfalls, um dies nochmals hervorzuheben, dass hier „Trost“ zum Haupt- und Titelbegriff einer umfassenden Rechenschaft über den christlichen Glauben in Anspruch 19 Der Heidelberger Katechismus, in: Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. Georg Plasger und Matthias Freudenberg, Göttingen 2005, 154.

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genommen und damit das Gewicht dieses Wortes wie sonst nirgends öffentlich sichtbar wird. Ein vergleichbares Gewicht hatte dem Begriff schon Philipp Melanchthon zugemessen, für den die „consolatio“, der Trost, „finis ultimus“, Endzweck, Ziel, der Theologie ist.20 Theologie und Kirche sind dazu da zu trösten, das heißt: den angefochtenen Gewissen Gewissheit des Heils zu vermitteln – freilich: „wo und wann es Gott gefällt“ (CA 5). Darin ist Melanchthon ganz einig mit Luther, über den er in seiner Leichenrede sagt: „Dem, der über den Zorn Gottes nachdenkt und erschrocken ist, hat er den festen Trost für die Seele aufgewiesen.“21 In der Tat lässt sich das Hauptanliegen Luthers, das Urmotiv seiner Theologie, in aller Kürze so beschreiben: Es geht ihm darum, angesichts des Letzten Gerichts die Gewissen zu schrfen und zu trçsten, anders gesagt: Gesetz und Evangelium zu predigen. „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Wenn mit der Erwartung und dem Bekenntnis eines „einzigen“ Trostes sozusagen alles auf eine Karte gesetzt wird (vgl. Mt 13,44 – 46), könnte das Missverständnis aufkommen, als schließe die Einzigkeit des dreieinen Gottes als des einzigen Trostes alle anderen Trostgründe rigoros und abstrakt – in jeder Hinsicht – aus. Deshalb ist es nötig, näher nach dem Sinn dieses Bekenntnisses und zugleich nach dem Sinn des damit zur Geltung kommenden Ersten Gebotes zu fragen: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter“ – keine anderen Trostgründe – „neben mir

20 Nachweise: Oswald Bayer, Theologie (HST 1), Gütersloh 1994, 154. Der „Trost“ des verzweifelten Gewissens ist für Melanchthon schon früh das Ziel christlicher Erkenntnis (Philipp Melanchthon, Loci communes 1521, Lat.-Dt. von Horst Georg Pçhlmann, Gütersloh, 1993, 22 – 25: Einleitung 16: „Haec demum christiana cognitio est scire […] quomodo afflictam conscientiam consoleris.“ 21 Philipp Melanchthon, Rede bei der Bestattung des ehrwürdigen Mannes D. Martin Luther, in: Melanchthon deutsch, hg. v. Michael Beyer, Stefan Rhein, Günther Wartenberg, Bd. 2: Theologie und Kirchenpolitik, Leipzig 1997, 156 – 168, 159. „ostendit […] quae firma consolatio mentis quae expauit sensu irae Dei“, Oratio in funere reverendi viri D. Martini Lutheri, zit. nach Siegfried Bruer, Die Überlieferung von Melanchthons Leichenrede auf Luther. Mit einem Quellenanhang, in: Humanismus und Wittenberger Reformation, hg. v. Michael Beyer und Günther Wartenberg unter Mitwirkung v. Hans-Peter Hasse, Leipzig 1996, 185 – 252, 215.

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haben!“ (Ex 20,2 f). „Höre, Israel, der Herr ist unser Gott; der Herr ist einzig!“ (Dtn 6,4).22 Ist diese kompromisslos schneidende Exklusivität denn nicht anstößig und abweisend? Weshalb dieser Ton schärfster Absage? Soll alles andere neben dem, der sich als einziger Trost auf diese Weise hören lässt, trostlos sein? Soll nur noch der gelten, der sich so, ohne Wenn und Aber – diskussionslos – vorstellt? Will der, der sich so hören lässt, unser menschlich-natürliches Trostverlangen nach Wärme, Licht, Liebe, Anerkennung, Schutz und Hilfe in Nöten, die Sehnsucht nach Frieden, das Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit eifersüchtig ausschließen? Ja, das will und tut er, wenn dies Andere angebetet werden, verehrt sein, Macht über uns gewinnen will – wenn all dies von Gott selbst geschaffene Lebensnotwendige grenzenlos wird und maßlos, wenn es unsere ganze Sorge und Aufmerksamkeit beansprucht und wir nichts anderes mehr im Sinn haben als etwa die Gesundheit, die Familie oder die Arbeit, den Erfolg oder das Ansehen, die politische Option oder das Hobby. Alles Gute und Tröstliche wird dir zum Götzen – zum falschen, trügerischen Trost –, wenn du dein Herz daran hängst, wenn du dir die Erfüllung deines Lebens davon versprichst, wenn du dich ganz darauf verlässt. Dann wird dir die Liebe zur Venus, die Sorge für die Kinder zur Diana, die Sorge um den Lebensunterhalt zum Pluto und Mammon, die lebensnotwendige Bearbeitung von Konflikten zum Mars. Dann wird dir aus der Liebe zum Wort der Gott Logos und die Sehnsucht nach Schönheit, Licht und klarem Denken zu Apoll und Athene. Wir sehen: Das in der Tat in seiner kompromisslos scharfen Exklusivität anstößige Fremdgötterverbot dient dem Innewerden kreatürlicher Endlichkeit und damit wahrem Leben; sie sorgt für den skeptischen und kritischen Umgang mit dem von Gott geschaffenen Lebensnotwendigen, dem in der Sünde immer wieder jeweils absolute Aufmerksamkeit und absolutes Vertrauen zugewendet wird, dem damit die Stelle des Schöpfers, die Stelle des wahren Trösters eingeräumt wird. Segen oder Fluch, Sein oder Nichtsein, Leben oder Tod ist hier die Frage. Jesus Christus, die Erfüllung des Ersten Gebots in Person, bringt diese Alternative so zur Geltung: „Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem 22 Eingehender: Oswald Bayer, Die Vielheit des einen Gottes und die Vielheit der Götter, in: Ders., Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007, 95 – 110, 97 f und 101 f.

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Mammon“ (Mt 6,24). In allen Texten des Neuen Testaments begegnet dieses schneidend scharfe Entweder-Oder von wahrem und falschem, tragendem und trügendem Trost, von Glaube und Unglaube, Unheil und Heil, Rettung und Verlorengehen, Tod und Leben, Leben aber nur kraft der Vergebung der von Gottes Zorn getroffenen Sünde durch Gericht und Tod hindurch. Haben jedoch die anderen Tröster, die mit dem „einzigen“ Trost konkurrieren und konfligieren, jene jeweils absolute Geltung verloren, die der Sünder ihnen zuschreibt, dann sind sie keineswegs etwa ausgeschlossen, sondern lediglich „relativiert“ (im buchstäblichen Sinn des Wortes): bezogen auf den einzigen wahren Trost, der sie nun ermächtigt23 und in Dienst nimmt, so dass sie trösten können, wie weltliche, geschöpfliche Tröster trösten dürfen und trösten können, wenn sie denn keine „leidigen Tröster“ (Hi 16,2) sind. Bildende Kunst, Musik, Dichtung, Essen und Trinken sowie der Schlaf, die Geborgenheit des Hauses, der Wohnung, des Heims, der Heimat24, die Zwiesprache mit einem Hund oder einem Pferd, vor allem aber leibhafte mitmenschliche Nähe, Wärme und Zuwendung sowie zweckfreie Geselligkeit und so weiter werden gewürdigt, Medien und relative Zeichen des einzigen Trostes zu werden und zu sein, zu dessen Abglanz – sagen wir ruhig: zu dessen Boten und Hermeneuten, also zu Gottes Engel.25 So ist eine Mutter Gottes Engel, wenn sie ihr Kind, das nachts jäh aufwacht, im Dunkel sich ängstigt und schreit, in die Arme nimmt und tröstet: „Hab’ keine Angst! Es ist doch alles gut!“ Ist wirklich alles gut? Vielleicht kommt gleich am nächsten Tag die Mutter bei einem Verkehrsunfall ums Leben; dann ist für das Kind nicht mehr alles gut. In seinem Buch „Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und 23 Diese Ermächtigung und Mit-teilung kommt in der Verkettung sowie der inclusio II Kor 1,3 f eindrucksvoll zur Sprache: „ […] Gott allen Trostes, der uns tröstet in aller unserer Bedrängnis, damit auch wir trösten können, die in allerlei Bedrängnis sind, mit dem Trost, mit dem wir selber getröstet werden von Gott.“ 24 Die Metapher der „Heimat“ ist in der christlichen Hoffnung von den neutestamentlichen Schriften her (vgl. z. B. Phil 3,20: „Unsre Heimat aber ist im Himmel […]“; I Petr 1,1.17; 2,11; Hebr 11,9 – 16; 13,14) in der christlichen Frömmigkeit fest beheimatet. Vgl. z. B. Paul Gerhardts „Ich bin ein Gast auf Erden […]“ (EG 529,6 f): „[…] Ich wandre meine Straße, / die zu der Heimat führt, / da mich ohn alle Maße / mein Vater trösten wird. Mein Heimat ist dort droben […].“ Weiter: EG 63,3.6; 124,1; 128,7; 152,4; 167,4; 234,7; 393,10; 406,6; 481,5; 517. 25 Ausführlich: Oswald Bayer, Engel sind Hermeneuten, in: Ders., Gott als Autor. Zu einer poietologischen Theologie, Tübingen 1999, 230 – 239.

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die Wiederentdeckung der Transzendenz“ schildert der Soziologe Peter Ludwig Berger eindrücklich diese Szene, in der eine Mutter ihr Kind tröstet, und fragt dann: „Belgt die Mutter das Kind?“26 Seine Antwort: „Nur wenn ein religiöses Verständnis des menschlichen Daseins Wahrheit enthält, kann die Antwort aus vollem Herzen ,Nein‘ lauten […]. Weil der Trost, den sie gibt, ber sie und ihr Kind, ber die Zuflligkeit der Personen und der Situation hinausreicht und eine Behauptung ber Wirklichkeit als solche enthlt“ 27 – über die Gesamtwirklichkeit als getragen und bestimmt von einer Macht, „in der Liebe nicht durch Tod zunichte wird und in der das Vertrauen in die Mächtigkeit der Liebe, Chaos zu bannen, seine Rechtfertigung findet“28. So ist wahrer Trost, den Geschöpfe einander geben können, relativ: bezogen auf den dreieinen Gott selbst und – ob sie es wissen oder nicht – allein durch ihn verbürgt und allein von ihm her gerechtfertigt.

5 Zuspruch und vertrauende Antwort Auch wenn eine dem Gesamtunternehmen des Heidelberger Katechismus entsprechende Entfaltung des „Trostes“ als Haupt- und Oberbegriff einer christlichen Dogmatik im gegebenen Rahmen nicht möglich ist – selbst nicht als Skizze –, so lässt sich doch ein Grundzug eigens hervorheben, der für den Begriff konstitutiv ist. Den entscheidenden Wink gibt uns das griechische Wort für „Trost“: paraklesis, das in genauer Übersetzung zunächst „Zuspruch“ heißt.29 Wer trauert, wer verzagt und mutlos ist, kann sich Trost nicht selbst geben; Trost muss mir zugesprochen und mir auf diese Weise mitgeteilt, gegeben werden. Der kleine Junge, der in der Angst vor der bevorstehenden Klassenarbeit morgens beim Abschied unter der Haustüre bang seine Mutter fragt: „Kann ich’s?“ und zur Antwort den ruhig gesprochenen festen Zuspruch erfährt: „Ja, du kannst es!“ springt voller Freude davon – ermutigt, zuversichtlich, eben: getrost. Eine Wende ist geschehen, kein Stimmungsumschwung, der im Vermögen des Jungen gelegen hätte und von der Mutter nur festgestellt und ausgesagt worden wäre. Sie hat auch 26 Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt/M. 1972, 82. 27 A.a.O. 82 f. 28 A.a.O. 85. 29 Vgl. Otto Schmitz/Gustav Sthlin, Art. parakaleo, paraklesis, in: ThWNT 5, Stuttgart 1954, 771 – 798.

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keinen in ihm bereits verborgen liegenden Trost lediglich nur – wie eine Hebamme – entbunden. Vielmehr hat ihr Zuspruch als Zusage ihm einen Mut gegeben, den er vorher, den er aus sich selbst nicht hatte, den er nur empfangen konnte – wie Josua Gottes Trost empfing.30 Es sind aber nicht nur die individuellen Situationen, in denen es einem „um Trost sehr bange“ wird ( Jes 38,17) und ich auf den Zuspruch, der von außen, von einem andern, der mir begegnet, angewiesen bin. Auch in geschichtlich kollektiven Situationen wie nach 1945, nach dem totalen Zusammenbruch, mit dem der totale Krieg und Wahnsinn ein gewisses Ende fand, kommt aus der trostlosen Wüste der zerbombten Städte und der trostlosen seelischen Wüste der schuldig Gewordenen und ihrer Opfer das bange Verlangen nach Trost. Wo ist er zu finden? Wer spricht ihn zu? Ist Vergebung, ist Versöhnung möglich? Doch, so fragte die „skeptische Generation“ der Nachkriegszeit31, lässt sich Trost denn berhaupt finden? Oder ist jeder Trost trügerisch, eine Fata Morgana, und daher tapfer zu verabschieden? Gilt es denn nicht, in dieser absurden Welt illusionslos zu leben, so dass im besten Fall – wie Albert Camus neostoisch antwortet – das Glück des Sisyphus32 bleibt? Oder ist dem heroischen Existentialismus Sartres Raum zu geben, zu jener Freiheit verdammt zu sein, in der ich aus meinen Taten mein Wesen schaffe33, in der die ganze – marxistisch wahrgenommene – Weltgeschichte sich durch totalitäre Revolutionen ihr künftiges Glück erarbeitet? 34 Oder können wir – nach der politischen Wende 1989 – auf das 30 Jos 1,1 – 9; vgl. Dtn 3,28; 31,6 – 8.23. 31 Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957. Der Obertitel dieses Buches wurde zur Kennzeichnung einer ganzen Generation. Paul Tillich kennzeichnete diese Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Zeit der „heilige[n] Leere“ (Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur, Gesammelte Werke Bd. 9, hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1967, 88; vgl. HST 1 [s.o. Anm. 20], 260, bes. Anm. 232), in die hinein er sein Trostbuch „Der Mut zum Sein“ (engl. 1952, dt. 1953) schrieb. 32 Albert Camus, Der Mythos von Sisyphus. Ein Versuch über das Absurde, Reinbek 1963, 101: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ 33 Jean-Paul Sartre, L’ Existencialisme est un Humanisme, Paris 1946, 37: „l’ homme est condamné à être libre“; 21: „l’existence précède l’ essence“; 22: „l’ homme n’ est rien d’ autre que ce qu’il se fait“. 34 Das ist die Erwartung, der Camus, auf das Heute bedacht, mit seiner Unterscheidung des seiner Endlichkeit bewussten „Menschen in der Revolte“ und des sich um das Heute zugunsten der Zukunft betrügenden „revolutionären Men-

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freie Spiel der globalisierten Marktwirtschaft setzen, ihr gar „vertrauen“? Oder aber versackt das urmenschliche Verlangen nach Trost in den vielen Formen der Gleichgültigkeit, Belanglosigkeit und Beliebigkeit, versickert in trostloser Resignation sowie in trostlosem Zynismus? Solange aber Menschen leben, verschwindet das Verlangen nach Trost nicht völlig – mag es sich auch nur bescheiden in der Suche nach dem „Lüstchen für den Tag“ und dem „Lüstchen für die Nacht“ äußern, wovon Nietzsche im Blick auf den von ihm so genannten „letzten Menschen“ verächtlich redet.35 Denn das Verlangen nach Trost ist identisch mit Hoffnung. Und Hoffnung gehört fraglos zum Wesen des Menschen – wie denn nach Kant die letzte der drei das Menschsein in seinem Wesen erschließenden Fragen lautet: „Was darf ich hoffen?“36 Es hofft der Mensch, solang er lebt. Die Frage ist nur: Worauf ? Worauf kann, worauf darf in bestimmten Situationen, etwa der einer politischen, gesellschaftlichen und religiösen Katastrophe ein Volk seine Hoffnung und seinen Trost setzen? Das Buch des Trostpropheten schlechthin, Deuterojesajas ( Jes 40 – 55), beginnt mit der Aufforderung, dem Auftrag Gottes nicht nur an den Propheten: „Tröstet, tröstet mein Volk!“ ( Jes 40,1). Trost war bitter nötig. Denn nach der katastrophalen Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier 587 vor Christus, nach der Zerstörung des Tempels und der Deportation der führenden Schichten ins babylonische Exil, also nach dem Zerbrechen der staatlichen und religiösen Identität Israels, hatte das Volk allen Grund, Gottes Verborgenheit in der Geschichte, ja seine Abwesenheit und offenkundige schen“ leidenschaftlich widerspricht: Albert Camus, Der Mensch in der Revolte. Essays, Reinbek 1974. 35 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vorrede, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München 1966, 284 f. 36 Immanuel Kant, Vorlesungen über Metaphysik, Einleitung (Akademieausgabe, Bd. XXVIII/2,1, 1970, 533 f). Vgl. KrV A 804 f. Für Kant ergibt sich die Antwort auf die Frage „Was darf ich hoffen?“ freilich erst aus der Beantwortung der zweiten – grundlegenden und entscheidenden – Frage „Was soll ich tun?“ und damit aus dem schlechthin gebietenden Gesetz sowie der mit diesem zu postulierenden Freiheit. Die Hoffnung auf die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, von Tugend und Weltlauf, verbürgt durch die Idee eines allmächtigen Gottes, ist rein rationales Postulat. So hat bei Kant die Rede von „Hoffnung“ einen völlig anderen Stellenwert als in der christlichen Theologie. Gleichwohl nimmt Kant mit seinem Aufweis der Antinomie der praktischen Vernunft auf seine Weise die Klagepsalmen (z. B. Jer 12,1) auf. Dazu: Oswald Bayer, Gesetz und Freiheit. Zur Metakritik Kants, in: Ders., Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, 164 – 182, bes. 168 – 170.

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Ohnmacht zu klagen: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber“ ( Jes 40,27). „Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat mein vergessen“ ( Jes 49,14). Der seinem Namen nach uns nicht bekannte Prophet antwortet auf diese Volksklage im Namen Gottes, indem er in den verschiedensten Sprachformen – vor allem und zugespitzt im unmittelbaren Zuspruch – tröstet: die Wende der Not durch das Eingreifen des allmächtigen Gottes als des „einzigen“37 Trösters verkündet, seinem Volk Vergebung, einen unerhörten Neuanfang zusagt und so Hoffnung gibt – wie dies auch der Prophet Ezechiel unvergesslich mit seiner Verkündigung des Lebenswortes im Totenfeld tut: Der Trost als Antwort auf die Volksklage „Unsre Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist verloren und es ist aus mit uns!“ (Ez 37,11) widerfährt in der Auferweckung der Toten, der Neuschöpfung des Volkes (Ez 37,1 – 14).38 Auch das Volk des Neuen Bundes braucht Trost, obwohl doch der „Trost Israels“ schon gekommen ist.39 So ist der ganze Hebräerbrief ein logos tes parakleseos (Hebr 13,22), ein Wort des Trostes und der Mahnung40 an das wandernde Gottesvolk der Christen. Es wird auf seine begründete Hoffnung hin angesprochen, an der es festhalten soll; begründet ist sie in Jesus Christus, Gottes Sohn, durch den Gott letztgültig – ein für allemal – geredet und seinen Heilszuspruch selbst durch einen Schwur bekräftigt hat.41 Gott hält sein Versprechen; er lügt nicht.42 Darin, in dieser Treue, Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit liegt der „starke Trost“43, zu dem die Trostbedürftigen ihre „Zuflucht“44 nehmen dürfen – als zu der Hoffnung, die ihnen dargereicht, zugesprochen und mitgeteilt ist. „Denn eben darin besteht der einzige und höchste Trost der Christen“, macht Luther gegen Erasmus in „de servo arbitrio“ geltend, 37 Die „Einzigkeit“ Gottes (Dtn 6,4) kommt in besonderer Weise bei Deuterojesaja zur Geltung: Jes 41,4; 42,8; 43,10 f; 44,6 f; 45,5 f.14.18.21 f; 46,9; 48,11 f. 38 Vgl. Oswald Bayer, Lebenswort im Totenfeld. Ex 37,1 – 14 gepredigt, in: Theologische Beiträge 24 (1993), 113 – 118. 39 S.o. Abschnitt 3: Lk 2,25 – 35. 40 Das Verhältnis von Trost und Mahnung ist eigens zu thematisieren – vor allem in seiner Bedeutung für die Ethik. Dazu tiefschürfend und aufschlussreich: Hans G. Ulrich, Wort und Ethik – Kennzeichen seelsorgerlicher Ethik, in: Johannes von Lpke/Johannes Schwanke (Hg.), Wirksames Wort, Wuppertal 2004, 79 – 94. 41 Vgl. besonders Hebr 1,1 – 4; „ein für allemal“: Hebr 7,27; 9,12; 10,10; zum „Schwur“: Hebr 6, 13 – 19. 42 Hebr 6,18. 43 Ebd. 44 Ebd.

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„in allen Widrigkeiten zu wissen, dass Gott nicht lügt, sondern unveränderlich alles tut und seinem Willen weder widerstanden noch er verändert oder behindert werden kann“.45 Woher aber wissen wir, dass Gott nicht lügt und uns in seinem Namen keine Fata Morgana vorgegaukelt wird? Woher wissen wir, dass sein Zuspruch in die Ewigkeit tragenden Trost gibt und keinen trügenden Trost, der nicht hält, was er verspricht? Dessen werden wir durch nichts Anderes als eben durch seinen Zuspruch gewiss. Gott hat sich mit seiner Ur-Zusage „Ich bin der Herr, dein Gott (Ex 20,2); ich bin dein einziger Trost im Leben und im Sterben“ ins Wort begeben; ja: ins Wort gegeben, indem er als Wort „Fleisch wurde“ ( Joh 1,14). Jesus Christus ist die leibliche Gestalt und Geschichte, durch die Gott im Heiligen Geist sein Versprechen, genauer: sich als Versprechen, als wahres Versprechen vermittelt, als der, der gewiss hält, was er zusagt. „Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, der unter euch durch uns gepredigt ist, durch mich und Silvanus und Timotheus“, schreibt Paulus (II Kor 1,19 f), „der war nicht Ja und Nein, sondern es war Ja in ihm. Denn alle Gottesversprechen sind Ja in ihm und sind Amen in ihm.“ Gott steht nun in diesem Wort und will sich bei ihm behaften lassen; er will in Klage und Lob angerufen werden und sagt zu, sie zu erhören. Gott selber ermächtigt durch seine Zusage und sein Gebot den angeredeten Menschen, auf seine Zusage zu bestehen, auf sie zu pochen, sie ihm vorzuhalten: „Mein Herz hält dir vor dein Wort: ,Ihr sollt mein Antlitz suchen.‘ Darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz“ (Ps 27,8). Im gegebenen Wort, im zugesprochenen Versprechen liegt der Trost und Trotz des Glaubens. Luther kann nicht nur davon reden, dass wir Gottes Zusage ihm ohne Scham „aufrücken“46, unter die Nase reiben, sondern sie uns sogar „anmaßen“47 sollen; wir sollen in der Anmaßung seiner Zusage vor ihn treten und dadurch aus eigener Anmaßung sowie aus der Verzagtheit und Angst weggerissen werden. „Denn das ist unser Trotz […], daß Gott will unser Vater sein, Sünde vergeben und ewiges Leben 45 WA 18, 619,19 – 21, übersetzt von Athina Lexutt, in: Martin Luther, lat.-dt. Studienausgabe, Bd. 1 (Der Mensch vor Gott), unter Mitarbeit von Michael Beyer hg. u. eingeleitet von Wilfried Hrle, Leipzig 2006, 257,36 – 39. 46 Ausführlicher und mit Belegen: Oswald Bayer, Aufrücken. Von der Unverschämtheit des Gebets, in: Ders., Zugesagte Gegenwart, Tübingen 2007, 72 – 79. 47 Vgl. z. B. WA 57 III, 171,4 – 8 (zu Hebr 5,1; 1518): „In praesumptione igitur istorum verborum [Mt 11,28] accedendum est, et sic accedentes non confundentur.“

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geschenkt haben.“48 Das im heutigen Sprachgebrauch einen subjektiven Affekt meinende Wort „Trotz“ gebraucht Luther für das, was durch die Festigkeit des Wortes vermittelt und gegeben wird.49 Der Trotz und Trost des Glaubens ist das, was Gott selbst mir in die Hand hinein versprochen hat, worauf ich pochen darf, was er mir als Waffe ins Ohr und ins Herz gegeben hat, womit ich mich wehren soll, wenn es zum Ringen mit Gott kommt – wie in Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32).50 Die beiden Wörter „Trotz“ und „Trost“ gehören fest zusammen, bilden ein einziges Wortgespann.51 Seiner indogermanischen Wurzel nach bedeutet „Trost“: „kernholz“, „festigkeit“52 – das, worauf ich vertrauen kann: die Festigkeit, die sich mir mitteilt, so dass ich, wie Josua,53 getröstet, getrost, stark, mutig werde. So ist der „Trost der ganzen Welt“ das, worauf sie „all ihr Hoffnung“ stellen kann, weil diese Hoffnung, weil dieser Trost, weil dieses Vertrauen fest begründet ist: im harten Holz der Krippe und des Kreuzes samt dem Osterereignis, der Auferweckung Jesu Christi von den Toten. Im Zuspruch lässt dieser Trost sich so hören: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben!“ ( Joh 14,19).54 Das ist Gottes Antwort auf die Klage: „Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!“ Die Antwort aber auf diese Antwort, auf die Auferweckung Jesu Christi, ist der Lobpreis: „Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (I Petr 1,3). Doch: Weil und solange wir unseren Weg noch im Glauben und in der Hoffnung gehen und noch nicht im Schauen leben (II Kor 5,7), sind wir immer wieder angefochten und trostbedürftig – angefochten nicht zuletzt von der sich immer wieder einschleichenden Frage: Hält der Zuspruch auch, was er verspricht? Kann Gott sein Versprechen halten; ist 48 WA 26, 505,35 – 37 (Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis, 1528); Text modernisiert. Vgl. Luthers Übersetzung von Prov 3,26 (vgl. 10,29): „Denn der Herr ist dein Trotz; der behütet deinen Fuß, daß er nicht gefangen werde.“ 49 Vgl. Art. „Trotz“, in: DWb 22 (s. o. Anm. 8), besonders Sp. 1104 f (hier auch Belege für das Hendiadyoin „Trost und Trotz“; vgl. entsprechend im Art. „Trost“ a.a.O., 921). 50 Vgl. Aufrücken (s. o. Anm. 46), 77 – 79. 51 S.o. Anm. 49. 52 S.o. Anm. 8. 53 S.o. Anm. 30. 54 Auf diesen Zuspruch antwortet das Bekenntnis (EG 115): „Jesus lebt, mit ihm auch ich […]“ (Christian Fürchtegott Gellert, 1757).

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er wirklich allmächtig? Will er es halten; ist er wirklich gütig? Wer brgt dafr, dass der Zuspruch des Trostes trgt und nicht trgt? Nur das Wort selbst: Jesus Christus als das Jawort Gottes, das durch den Heiligen Geist einleuchtet und seine Wahrheit mir gewiss macht. Deshalb heißt Gott der Heilige Geist zu Recht der „Tröster“.55 Um ihn zu bitten und ihn anzurufen ist das Einzige, was wir tun können, um dessen gewiss zu werden, der mein einziger Trost im Leben und im Sterben ist: „Du höchster Tröster in aller Not, / hilf, daß wir nicht fürchten Schand noch Tod, / daß in uns die Sinne nicht verzagen, / wenn der Feind wird das Leben verklagen. / Kyrieleis.“56 Das Erbarmen Gottes ist der tiefste Grund des Trostes, ja: Gottes Trost ist sein Erbarmen.

55 Vgl. Art. „Tröster“ in: DWb 22 (s. o. Anm. 8), 983 f. 56 Martin Luther, „Nun bitten wir den Heiligen Geist […]“ (EG 124,4).

Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens – Rechtfertigung Ein Rückblick

Eilert Herms Der vor über dreißig Jahren unter Wilfried Härles und meinem Namen veröffentlichte kleine Band „Rechtfertigung – das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens“ (1978) hatte zur unmittelbaren Folge, dass wir uns für einige Zeit darauf gefasst zu machen hatten, jeweils mit dem Namen des anderen angeredet zu werden. Das ist heute seltener der Fall. Ist das Büchlein vergessen? Hat man den Eindruck, wir seien von jenem gemeinsamen Ausgangspunkt auf verschiedene Wege geraten, oder: der Ausgangspunkt sei in Wahrheit kein gemeinsamer gewesen? Offene Fragen. Angesichts ihrer will ich skizzieren, wie ich das Buch heute verstehe und zu ihm stehe. Der Jubilar mag entscheiden, ob er es im selben Sinn noch heute sein eigen nennen kann oder in einem anderen. Sicher ist: Unsere Wege sind bis heute in Rufweite verlaufen – mit vielen praktischen Konsequenzen. Den offenen Titel des Buches kann man auf zwei Weisen verstehen: in einem traditionsorientierten oder in einem gegenwartsorientierten Sinn. Man kann in affirmativem Rückgriff auf die schmalkaldische These Luthers, in der Paulus folgenden reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung sei das Ganze der reformatorischen Theologie enthalten und gerettet, eben diese These dadurch zu bewähren suchen, dass man die reformatorische Rechtfertigungslehre als tatsächlich das entfaltet, was hier von ihr zu sein behauptet wird: reformatorische Summe des Ganzen der christlichen Lehre. Man kann den Titel aber auch von der die eigene Gegenwart betreffenden Einsicht aus verstehen, dass sich die personhafte Lebensgegenwart von Menschen überhaupt nicht außerhalb von jeweils einem bestimmten Wirklichkeitsverständnis bewegt (und bewegen kann), dass eben dies sich in exemplarischer Weise am christlichen Glauben zeigt und dass dessen Wirklichkeitsverständnis sich eben in der Rechtfertigungsgewissheit, wie sie in der Paulus folgenden reformatorischen Rechtfertigungslehre beschrieben wird, zusammenfasst.

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Obwohl deutlich unterschieden, schließen sich beide Sichtweisen nicht aus, sondern ein. Und eben dies hat dazu geführt, dass unser Buch beiden Sichtweisen ohne klare Unterscheidung1 zu folgen scheint: Einleitung2 und Einsatz mit einer Skizze der Position des Paulus3 sind geeignet, die Leser auf die zuerst genannte Spur zu setzen und mit der Erwartung zu erfüllen, nun folge der Nachweis, dass und wie alle Topoi christlicher Lehre in der paulinisch-reformatorischen Lehre von der Rechtfertigung enthalten sind. Der tatsächliche Fortgang der Darstellung kann diese Erwartung aber nur enttäuschen – was zu gelegentlichen Äußerungen irritierten Spotts geführt hat.4 Tatsächlich war, für mich jedenfalls, nicht der traditionsorientierte, sondern jener gegenwartsbezogen-systematische Zugang leitend. Horizont war für mich die Einsicht, dass für Menschen in ihrer personhaften Lebensgegenwart ein Wirklichkeitsverständnis, und zwar jeweils ein so oder so bestimmtes, wesentlich ist und dass sich dies exemplarisch am christlichen Glauben zeigt, dessen bestimmtes Wirklichkeitsverständnis eben die Gewissheit des den Glaubenden selbst betreffenden Rechtfertigungsgeschehens ist, wie es in der christlichen Rechtfertigungslehre bezeugt und beschrieben wird – freilich in einer gewissen Einseitigkeit.5 Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens sollte als Exemplar desjenigen jeweils bestimmten Verstehens von Wirklichkeit im ganzen durchsichtig gemacht werden, welches ein Wesenszug des Menschseins ist und ohne welches Menschen in ihrer personhaften Lebensgegenwart nicht existieren können und nie existieren. Folglich wurde in den sechs Kapiteln des Teiles C Bezug genommen auf diejenigen Züge, die wesentlich sind für jedes mögliche derartige Verstehen von Wirklichkeit im ganzen, das diese als dasjenigen 1

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Dieses unklare Schweben prägt das gesamte Theologiestudium: Es präsentiert sich den Studierenden einerseits als eine massive Aufforderung zur Traditionsaneignung (schon durch den Umfang der philologisch-historischen Studienangebote und Studienanforderungen), insistiert dann aber ebenso nachdrücklich auf systematischer Orientierung in der Gegenwart. Man wird über das schwebende Nebeneinander dieser beiden Akzente – die beide unverzichtbar sind – wohl nicht hinauskommen. Das Nebeneinander führt faktisch dazu, dass jeder bewusst Studierende das Problem am eigenen Leib erlebt und selber lösen muss. Zur Entwicklung solcher Selbständigkeit soll das Studium Anlass sein. Wegen ihres systematischen Gewichts als Teil A ausgezeichnet. Ebenfalls in ihrer Bedeutung für das Ganze hervorgehoben durch Auszeichnung als Teil B. Etwa: Christoph Markschies, Lutherisch glauben und bekennen, in: Amtsblatt der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens, 2003 Nr. 8 / 9, B 13 – 19. Dazu vgl. die einschlägigen Ausführungen unten in Abschnitt 4.

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Werdeganze zu erfassen sucht, in dem wir und unseresgleichen uns finden: Jedes solches Innesein dieses Werdeganzen ist ein Innesein von Ursprung und Ziel dieses Werdens (die christliche Weise solchen Inneseins wird behandelt in den Kapiteln C I und C VI), es ist ein Innesein des in diesem Werden gewordenen Menschseins als Personsein (die christliche Weise wird behandelt in C II), und zwar ein Innesein seines innerweltlich leibhaften, also ipso facto auch sozialen Personseins (die christliche Gestalt dieses Inneseins wird behandelt in C III), wobei sich dies Zusammenleben als verantwortliches Zusammenhandeln, Interagieren, vollzieht (das christliche Selbstverständnis des Glaubens als eines solchen Ethos behandelt C IV), und dies niemals nur im synchronen, sondern immer auch im diachronen, Generationen übergreifenden, Zusammenhang des Gattungslebens, also geschichtlich (das christliche Selbstverständnis des Glaubens in seiner Geschichtlichkeit behandelt C V). So gesehen steht das Buch keineswegs quer zu allem, was damals in der evangelischen Theologie herkömmlich war. Durch die angedeutete systematische Leiteinsicht ist es offenkundig derjenigen Linie einer daseinsontologisch oder fundamentalanthropologisch basierten Theologie verwandt, wie sie durch Rudolf Bultmann im 20. Jahrhundert erneuert wurde,6 sich als „hermeneutische“ Theologie in unterschiedlichen Spielarten bis heute durchgehalten hat und von uns in unserer zweiten gemeinsamen Veröffentlichung, der Sammelrezension „Deutschsprachige protestantische Dogmatik seit 1945“7 deutliche Zustimmung erhalten hat. Allerdings sollten falsche Frontstellungen, Engführungen und Lücken dieser Linie theologischer Arbeit vermieden werden: In formaler Hinsicht wurde gegen die gängige Abweisung von Metaphysik betont, dass der fundamentalanthropologische Ansatz vielmehr selbst ein neuer, verbesserter Zugang zu den Gegenständen der Metaphysik ist. In inhaltlicher Hinsicht wurde betont, dass das menschliche Personsein nur innerhalb von Welt und nicht unter ihrer Abblendung begriffen werden kann; dass es daher auch nur innerhalb des physischen Gesamtgeschehens und nicht unter Absehung von diesem verstanden werden kann; dass es 6

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Von „Erneuerung“ muss geredet werden, weil schon ein breiter Strom von durch die Aufklärung hindurch gegangener evangelischer Theologie des späten 18. Und 19. Jahrhunderts diese fundamentalanthropologische Grundorientierung aufweist. VuF 27 (1982), 2 – 100; 28 (1983), 1 – 87.

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also auch nur innerhalb des Zusammenlebens leibhafter Personen in den dadurch bedingten und verlangten sozialen Grundformen solchen Zusammenlebens zu verstehen ist; und dass es als unvermeidlich mit anderen zusammen handelnd, also interagierend, nicht anders kann, als das Zusammenleben verantwortlich mitzugestalten (dass also das verantwortliche Leben in einem Ethos für das menschliche Personsein nicht sekundär, sondern ursprünglich und wesentlich ist); schließlich, dass die „Geschichtlichkeit“ des Menschen konkret als sein Sein in Geschichte zu verstehen ist, in Geschichte, die ihrerseits aus dem Ganzen des Weltgeschehens nicht herausgelöst werden kann, sondern in es eingebettet ist und die durch Menschen verantwortlich mitgestaltet wird durch interaktionelle Selbstbestimmung unter der Bedingung eines umgreifenden Bündels von physischem und sozialem Fremdbestimmtwerden, das in relativer Passivität zu erleiden ist, sowie unter der Bedingung des nur in radikaler Passivität zu erleidenden Fremdbestimmtwerdens durch das Geschick des welthaften Daseins (des Existierens) selbst. Durch solche Konkretisierung des fundamentalanthropologischen Auslegungshorizontes des christlichen Glaubens und seines Verstehens von Wirklichkeit im ganzen sollte gezeigt werden: Der christliche Glaube ist kraft seines Wirklichkeitsverständnisses unbeschränkt anschlussfähig an das gesamte Themenspektrum der öffentlichen Diskussion in Wissenschaft und Gesellschaft. Er ist unbeschränkt fähig zu kritischer Verständigung und Zusammenarbeit. Diese Absicht der damaligen Veröffentlichung sei hier noch einmal in fünf Schritten nachgezeichnet: 1. Wirklichkeitsverständnis (das Verstehen von Wirklichkeit im ganzen: „hart“ gesagt: Metaphysik8) ist ein wesentliches Moment der personhaften Lebensgegenwart des Menschen. 2. Das christliche Wirklichkeitsverständnis ist ein Exemplar solchen Verstehens von Wirklichkeit im ganzen. 3. Dieses christliche Wirklichkeitsverständnis kommt auf eine unverwechselbare Weise zustande: nämlich durch das Rechtfertigungsgeschehen, das heißt durch das Offenbarwerden des gekreuzigten Jesus als der Inkarnation des Gemeinschafts-, Versöhnungs- und Vollendungswillens des Schöpfers, welches (als dieses Offenbarwerden) zugleich der reale Vollzug, die Durchsetzung der von Gott gewollten Versöhnung ist, die Befreiung unseres Freiseins zur heilsgewissen Hingabe an die Heilszielstrebigkeit des 8

Vgl. Eilert Herms/Wilfried Hrle, Rechtfertigung. Das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens, Göttingen 1980 (im folgenden abgekürzt mit RWvcG), 41 ff.

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freien Wollens und Wirkens Gottes. 4. Dieses Zustandekommen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses bestimmt zugleich seinen Charakter, nämlich seinen Vollzugsmodus: Explikation dessen, was dem Glaubenden angesichts des Evangeliums durch das Widerfahrnis einer Sichterweiterung seines Herzens, seines unmittelbaren Selbstbewusstseins, zu verstehen gegeben wurde, und seinen Gegenstand: die alles Reale schaffende und umfassende Wirklichkeit des dreieinigen Gottes, des Schöpfers, dessen ewiges Wollen und Wirken alles Reale, Welt und Mensch, auf versöhnte und vollendete Gemeinschaft mit ihm hin schafft und erhält. 5. Auf diese Weise konstituiert, erfüllt das christliche Wirklichkeitsverständnis eine umfassende Orientierungsfunktion für den Gebrauch unserer befreiten Freiheit.

1 Wirklichkeitsverständnis Behauptet wird: Ein Verstehen von Wirklichkeit im ganzen ist ein wesentliches Moment unserer personhaften Lebensgegenwart, der Lebensgegenwart von Menschen. Diese Behauptung ist nicht willkürlich, wenn das Behauptete gezeigt wird. Das setzt voraus, dass unsere personhafte Lebensgegenwart für uns so „sichtbar“ ist, dass ihre wesentlichen Momente an ihr aufgewiesen werden können. Dies ist der Fall: Unsere personhafte Lebensgegenwart ist uns immer schon vertraut, weil wir uns immer schon in ihr finden. Diese Vertrautheit eignet unserer personhaften innerweltlichen9 Lebensgegenwart nicht durch uns, wohl aber fr uns. Sie gründet nicht in uns, konstituiert aber unser Personsein. Das heißt, sie lässt unsere personhafte Lebensgegenwart so für uns da sein, dass es für uns nicht nur möglich, sondern unvermeidlich ist, uns auf sie zu richten und mit ihr in Akten der Selbstbestimmung umzugehen: in Akten der symbolischen Selbsterfassung und in Akten der leibhaften Selbstgestaltung.10 Als realer 9 Dass unsere personhafte Lebensgegenwart eine innerweltliche ist, eine in der Welt der Menschen stehende, also eine, die den universalen Bedingungen jedes möglichen Menschenlebens unterliegt, die jedes individuelle Menschenleben überdauern, das wird im Folgenden in der Rede von „unserer“ personhaften Lebensgegenwart stets mitgemeint. Es wird aus stilistischen Gründen nicht jeweils noch einmal explizit gesagt. 10 In anderen Zusammenhängen habe ich dasselbe als die Unvermeidlichkeit des eigenverantwortlichen „Sichselbstverstehens“ des Menschen bezeichnet, wobei „Verstehen“ die Einheit von Selbsterfassung und Selbstgestaltung, Schleierma-

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Grund der Möglichkeit all unserer Selbstbestimmungsakte ist diese Vertrautheit „unmittelbar“,11 durch keinen Akt reflexiver Selbstbestimmung hintergehbar, überholbar oder bezweifelbar.12 Als was ist uns nun unsere personhafte Lebensgegenwart in dieser Weise unmittelbar vertraut? Sie ist uns unmittelbar vertraut als das dauernde Medium des Werdens unserer Lage. Sie ist uns umittelbar vertraut als die Dauer des Mediums des Übergehens unserer Lage aus deren realer zu veränderter Bestimmtheit. Kraft der Dauer dieses Mediums vernichtet der Übergang zu anderer Bestimmtheit die Lage nicht, sondern verändert sie nur.13 Somit ist uns die uns unmittelbar vertraute Dauer unserer personhaften Lebensgegenwart präsent als Medium eines bestimmten Werdens, also eines bestimmten Übergehens, dessen Bestimmtheit darin begründet ist, dass es unter in dauernder Gegenwart dauernden Bedingungen steht: nämlich erstens unter der dauernden Bedingung der jeweils realen Bestimmtheit unserer dem Werden unterliegenden Lage und zweitens unter der dauernden Bedingung der Bestimmtheit des Übergehens (Werdens), die sich daraus ergibt, dass der Übergang nicht zu beliebigen neuen Bestimmtheiten führt, sondern cherianisch geredet: die Einheit von „Symbolisieren“ und „Organisieren“, bezeichnet (vgl. Eilert Herms, Zusammenleben im Widerstreit der Weltanschauungen. Beiträge zur Sozialethik, Tübingen 2007, 104 f.). 11 „Unmittelbar“ heißt hier nur: nicht real kraft Vermittlung durch irgendeinen Aktes unsererseits. Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass das, was uns auf diese Weise unmittelbar vertraut ist, – und auch die Unmittelbarkeit dieser Vertrautheit selbst – durch Akte anderer Instanzen bedingt und vermittelt ist. Ebensowenig ist ausgeschlossen, dass in das uns auf diese Weise unmittelbar Vertraute – also unsere personhafte Lebensgegenwart – Bestimmtheiten eingehen, die durch unsere Selbstbestimmungsaktivität gesetzt sind. 12 Beachte: Kraft dieses Rekurses auf die unmittelbare Vertrautheit unser innerweltlichen personhaften Lebensgegenwart für uns stützt sich der hier vorgetragene Aufweis der Unvermeidbarkeit eines Verständnisses von Wirklichkeit im ganzen für innerweltliche Personen auf denselben Sachverhalt wie Schleiermachers Aufweis von Religion als wesentlichem Strukturmoment des Menschseins: nämlich auf das „unmittelbare Selbstbewusstsein“, also auf den Sachverhalt, den ich gelegentlich auch als „unmittelbare Selbsterschlossenheit“ angesprochen habe (und auch in diesem Text so anspreche). 13 Beachte: Schon für Schleiermacher ist es faktisch die Dauer unseres unmittelbaren Selbstbewußtseins, kraft deren und in der uns Welt gegeben wird und erscheint: Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Glaubenslehre 2. Aufl., § 4, 2. – Dauer von Gegenwart als Medium des Werdens konstituiert auch das „Kontinuum“, von dem die Beiträge des Bandes handeln: Wilfried Hrle (Hg.), Im Kontinuum. Annäherungen an eine relationale Erkenntnistheorie und Ontologie, Marburg 1999.

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immer nur zu solchen Bestimmtheiten, die zum Inbegriff derjenigen Bestimmtheiten gehören, welche zu den für die bestimmte Lage, die dem Werden unterliegt,14 mçglichen Bestimmtheiten gehören, also gerade ihre Möglichkeiten sind.15 So ist uns also unsere personhafte Lebensgegenwart als eine Lage vertraut, deren unverwechselbare Identitt in der Bestimmtheit des Werdens besteht, dem sie unterliegt. Das gilt zugleich für alles, was zu dieser unserer Lage im Werden hinzugehört:16 Dies alles ist uns unmittelbar vertraut als etwas in sich Bestimmtes, als ein Identisches, sofern es uns vertraut ist als jeweils ein bestimmtes Werden. – Mehr noch: Unsere personhafte Lebensgegenwart ist uns auch vertraut (zu verstehen gegeben) als eine solche, in der die Bestimmtheit jedes Werdens selbst eine gewordene ist, also unter den überdauernden Bedingungen desjenigen Werdens steht, in dessen Kontext sie als die Bestimmtheit dieses Werdens geworden ist:17 So ist das bestimmte Werden eines Menschen, seine Identität im Werden, geworden unter den dauernden Werdebedingungen, die für alles mögliche Menschsein gelten, also für alles Werden in der Welt des Menschen. Aber auch diese überdauernden Bedingungen, die die Bestimmtheit der Welt des Menschen, ihre Identität ausmachen, sind geworden, haben also ihre dauernde Bestimmtheit und Identität nur im Kontext der Bestimmtheit und Identität wiederum eines übergeordneten Werdens erhalten, nämlich unter den überdauernden Bedingungen des diese „unsere Welt“ selber sein lassenden Werdens. 14 In anderen Texten habe ich gesagt: der dem Werden unterliegenden „Basis“ (etwa: Eilert Herms, Prozeß und Zeit. Überlegungen eines Theologen zu Friedrich Cramers Essay „Der Zeitbaum“, in: Ders., Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 262 – 285; oder: Ders., Zur Systematik des Personbegriffes in reformatorischer Tradition, in: NZSTh 50 (2007) 377 – 413, dort 383 – 385. 15 Alles, was dem bestimmten Werden unterliegt, ist also stets ein realer und als solcher bestimmter Möglichkeitsraum. Was – nota bene – nicht ausschließt, dass diese bestimmten Möglichkeitsräume ihrerseits selbst werden und im Werden bestehen – kraft ihrer externen Bestimmtheit für eine endliche Dauer, nämlich nur für die Dauer des Realseins der bestimmten Bedingungen, die alle Phasen dieses besonderen Werdens überdauern. 16 Unsere „Lage“ ist unsere Bezogenheit auf syn- und diachrone Umwelt. Was zu unserer Lage hinzugehçrt, sind also alle strukturellen Implikationen unseres Daseins in Umweltbezogenheit, also unser leibhaftes Daseins sowie zugleich auch alles Besondere, was im Rahmen dieser Struktur realiter wird. 17 Ohne diesen Sachverhalt – eben: des Werdens von bestimmten Weisen des Werdens – ist (innerkosmische) Evolution nicht zu verstehen; und auch nicht das Entstehen und Bestehen unserer Welt selbst.

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Nun ist uns diese unsere gewordene und im Werden dauernde Lage unmittelbar vertraut als eine personhafte. Dass sie personhaft ist, heißt: Kraft ihres unmittelbar-für-uns-vertraut-Seins haben wir uns auf sie zu richten und mit ihr in Akten der Selbstbestimmung, der Selbsterfassung und der Selbstgestaltung, umzugehen. Alles, was uns mit unserer Lage vertraut ist, und diese selbst, ist aber im Werden. Angemessen umzugehen haben wir also mit dem Gefüge und Inbegriff einer Mannigfaltigkeit von Werdendem. Damit können wir aber nur angemessen umgehen, indem wir mit ihm umgehen eben als jeweils mit einem bestimmten Werdenden, einem im-Werden-Identischen; wir müssen seine Identitt im Werden erfassen. Und das verlangt nicht nur, dass wir es in seinem jeweils gewordenen Zustand erfassen, sondern dass wir all diese seine gewordenen Zustände aus den de facto berdauernden Bedingungen heraus verstehen, die de facto die Bestimmtheit seines Werdens, seine Identität-im-Werden, begründen. Und somit gilt: Uns selbst und alles, was unsere Lage einschließt, erfassen wir nur angemessen, wenn wir es jeweils als Moment in der Bestimmtheit seines Werdens erfassen. Und das können wir nur, wenn wir es im Horizont seiner Identitt im Werden sehen, uns also auf die berdauernden Bedingungen beziehen, die die Bestimmtheit, die Identität, seines gesamten Werdens ausmachen. Wir können kein eigenes Verständnis18 unseres je eigenen Identischseins-im-Werden haben, ohne uns auf die dieses faktische Identischsein-im-Werden begründenden überdauernden Bedingungen unseres im-Werden-Seins zu beziehen (solche Bedingungen in Anspruch zu nehmen). Überhaupt gar nichts von dem, was in unserer Welt im Werden ist, können wir angemessen verstehen (angemessenen erkennen und behandeln), ohne uns auf die überdauernden Bedingungen zu beziehen (sie in Anspruch zu nehmen), welche die Bestimmtheit des Werdens in dieser unserer Welt (und die Bestimmtheit all seiner „evolutionär“ gewordenen Variationen) ausmachen. Ja, die faktische Bestimmtheit und Identität dieser unserer Welt selbst können wir nicht angemessen verstehen, ohne uns auf solche Bedingungen zu beziehen (und solche Bedingungen in Anspruch zu nehmen), welche dadurch – und nur dadurch – die Bestimmtheit und Identität dieser unserer Welt begründen, dass sie das Ganze ihres Werdens (also des Werdens dieser unserer Welt) überdauern. 18 Das heißt: keinen eigenen Begriff von unserem Identischsein-im-Werden und keinen eigenen Umgang mit ihm.

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Auf solche überdauernden Bedingungen unseres je eigenen Werdens, des gesamten Werdens in der Welt und sogar des Werdens von Welt müssen wir uns in jedem möglichen angemessenen Verständnis beziehen (sie müssen wir in Anspruch nehmen) – ganz unabhängig davon, ob wir diese von uns unvermeidlich in Anspruch genommenen überdauernden Bedingungen, die die Bestimmtheit und Identität des im Werden Seienden, ausmachen, ihrerseits angemessen erfassen oder nicht. Also: So unvermeidbar wie für uns und unseresgleichen in unserer personhaften innerweltlichen Lebensgegenwart ein eigenes Verstehen unseres eigenen Seins im Werden ist, allen Seins im Werden in unserer Welt überhaupt und darüber hinaus auch unserer Welt und ihres im Werden Seins selbst, so unvermeidbar ist für uns und unseresgleichen auch eine Bezugnahme auf Wirklichkeit im ganzen (auf die das Werden unserer Welt, das Werden in unserer Welt und auch unserer eigenes Werden berdauernden Bedingungen), ein Verstehen von Wirklichkeit im ganzen, ein Wirklichkeitsverständnis – freilich immer nur ein Wirklichkeitsverständnis, neben dem andere möglich und real sind. Darauf verweist die Rede vom „christlichen Wirklichkeitsverständnis“.

2 Das christliche Wirklichkeitsverständnis Die Rede vom „christlichen Wirklichkeitsverständnis“ bezeichnet dieses Wirklichkeitsverständnis als ein besonderes, und damit als eines unter anderen möglichen. Seine Besonderheit liegt in seiner inhaltlichen Bestimmtheit. Sie liegt darin, dass das christliche Wirklichkeitsverständnis nicht nur berhaupt eine Bezugnahme auf die (und Inanspruchnahme von den) Bedingungen des Werdens ist, deren Überdauern die Bestimmtheit eines Werdens und die Identität des in ihm Werdenden stiftet, eine Bezugnahme, wie sie für jedes personale Verstehen von Werdendem unvermeidlich ist, sondern eine durch die Weise dieser Bezugnahme auf (Inanspruchnahme von) überdauernden Bedingungen, die die Bestimmtheit des Werdens und die Identität im Werden ausmachen, von anderen Weisen unterschiedene besondere Weise solcher Bezugnahme. Fragt man dann nach der jeweiligen Besonderheit solcher Weisen der Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens, so kann diese Besonderheit nur als je eine besondere inhaltliche Bestimmtheit solcher Bezugnahmen beschrieben werden. Das „christliche“ Wirklichkeitsverständnis ist eine solche besondere Bezugnahme auf überdauernde

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Bedingungen des Werdens, deren Besonderheit ihren Grund in ihrer besonderen inhaltlichen Bestimmung hat. Das weckt zwei Fragen: 1. Ist nicht im Verstehen von Werdendem auch eine Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens möglich, die noch überhaupt keine inhaltlich Bestimmtheit aufweist? 2. Ist nicht vielleicht im Verstehen von Werdendem eine Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen möglich, deren Bestimmtheit darin liegt, dass sie alle möglichen besonderen inhaltlichen Bestimmtheiten übergreift und damit hinter sich lässt, also keine besondere Bestimmtheit mehr ist sondern die alle besonderen unter sich begreifende allgemeine? ad 1.: Es ist allerdings möglich, dass wir und unseresgleichen (also Menschen) die besondere Weise einer Bezugnahme auf übergreifende Bedingungen des Werdens (von in der Welt Werdendem und vom Werden der Welt selbst) – handle es sich dabei um einen eigenen Lebensvollzug oder um den Lebensvollzug einer anderen Person – noch nicht explizit begriffen haben, dass sich also die Bezugnahme (sofern sie eine eigene ist) in vorreflexiver Spontaneität vollzieht oder (sofern sie die einer anderen Person ist) in einer von je mir noch nicht durchschauten Weise. Aber dass ein reflexiver Begriff der besonderen Weise der Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens noch nicht erreicht ist, ändert nichts an dem Faktum, dass die Bezugnahme in sich selbst, als diese jeweils von einer innerweltlichen Person vollzogene, jeweils diese bestimmte, und damit auch stets eine besondere ist. Die Besonderheit der Bezugnahme hat ihren Grund nicht im Begriff dieser Besonderheit, sondern darin, dass die Bezugnahme schon durch ihr Vollzogenwerden von jeweils einer bestimmten Person eine bestimmte, eben diese Bezugnahme ist, die sich als je diese auf ihre bestimmte Weise vollzieht, und somit jeweils eine besondere ist. Die in jedem Verstehen von Werdendem faktisch implizierte Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens vollzieht sich unmöglich anders als jeweils faktisch auf ihre Weise. Diese Weise ist eine bestimmte. In ihr manifestiert sich die inhaltliche Bestimmtheit der Bezugnahme selbst; schon sie, diese bestimmte Weise der Bezugnahme, verleiht ihr ihre inhaltliche Bestimmtheit, schon sie legt fest, dass sie die überdauernden Bedingungen des Werdens auf bestimmte Weise versteht, und wie sie sie versteht, nämlich eben auf ihre Weise. Also keine Bezugnahme auf übergreifende Bedingungen des Werdens, die nicht faktisch eine inhaltlich bestimmte wäre. ad 2.: Auch für die Beantwortung der zweiten Fragen müssen wir die Situation von uns und unseresgleichen, also die Situation unseres

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menschlichen, innerweltlichen Personseins im Blick behalten. In dieser Situation ist es ausgeschlossen, dass die inhaltliche Bestimmtheit einer Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens ihre besondere sachliche Bestimmtheit, die andere besondere Bestimmtheiten neben und außer sich hat, verliert. Denn dann sind es innerweltliche Personen, welche die Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens in auf Werdendes gerichteten Verstehensakten vollziehen, und für solche ist es wesentlich, selbst an je einem unverwechselbaren Ort innerhalb des innerweltlichen Werdens und des Werdens von Welt zu stehen. Das aber schließt ein, dass die Verstehensakte und die darin implizierten Bezugnahmen auf die überdauernden Bedingungen des Werdens als Verstehensakte einer Person nie die Akte einer anderen sind, also auch nie im strikten Sinne identisch mit denen irgendeiner anderen Person. Sofern jede Person mit jeder anderen in derselben Welt lebt und sofern auch jede in ihren Verstehensakten immer irgendwie Bezug nimmt auf die Identität dieser gemeinsamen Welt und auf die diese Identität der gemeinsamen Welt gewährenden überdauernden Bedingungen ihres Werdens, kann zwar jede Person von jeder anderen unterstellen, dass dieser dasselbe zu verstehen gegeben ist wie ihr selbst und dass daher diese Identität des zu verstehen Gegebenen auch irgendwie – mehr oder weniger umfassend – in der Verstehensaktivität anderer erfasst werden kann, so dass in solchen Fällen Gemeinsamkeiten in den Resultaten der Verstehensvollzüge mehrerer verschiedener Personen zustande kommen können, aber ob das und wie weit dies letztere der Fall ist, das kann nur durch interpersonelle Verständigungsversuche abgetestet werden, durch Versuche, die nie mehr als eine praktisch ausreichende, vorläufige Gemeinsamkeit und nie eine restlose erreichen. Immer wieder kommen solche Verständigungsbemühungen auch zu dem negativen Resultat, dass mit – mehr oder weniger großen Gruppen von – anderen Personen nicht einmal eine praktisch ausreichende Gemeinsamkeit der Verstehensakte und der in ihnen implizierten Bezugnahmen auf überdauernde Bedingungen des Werdens erreicht ist. Dass es neben und außerhalb der besonderen eigenen Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens besondere andere gibt, ist also in der innerweltlichen Sphäre unseres menschlichen Personseins nie auszuschließen. – So ist Besonderheit in unserer Bezugnahme auf die übergreifenden Bedingungen des Werdens unvermeidlich vermöge der Differenz zwischen Personen. Sie wird aber auch aufgrund von Differenzen innerhalb des Lebens jeder Person unvermeidlich. Denn unser innerweltlich-leibhaftes Personsein ist selbst ein Werdendes, das nur eine Identität im Werden besitzt,

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also im Durchlaufen unterschiedlicher Zustände seines Gebildetseins. Wir durchlaufen unterschiedliche Stadien unseres leibhaften Gebildetseins, unserer körperlichen Verfassung, aber ebenso auch unterschiedliche Stadien unseres geistigen Gebildetseins, also unterschiedliche Zustände des Ensembles unserer handlungsleitenden Überzeugungen und unter diesen keineswegs nur unserer mittelwahlleitenden Überzeugungen, sondern ebenso unserer zielwahlleitenden Überzeugungen, die eben in nichts anderem bestehen als jeweils in der bestimmten Weise unserer Bezugnahme auf die überdauernden Bedingungen des uns selbst einschließenden Werdens, die als diese Bedingungen über die Bestimmtheit und damit auch über den Charakter und das Gerichtetsein dieses Werdens entscheiden. Innerweltliche Personen wie wir vollziehen das Verstehen von Werdendem und die dafür wesentliche Bezugnahme auf überdauernde Bedingungen des Werdens nicht nur jeweils an einem unverwechselbaren Ort innerhalb des Zusammenlebens aller Menschen, sondern auch jeweils in einem unverwechselbaren Stadium ihrer eigenen Bildungsgeschichte. Wo dies durchschaut ist, ist auch dies erkannt als ein Grund für die Unvermeidlichkeit, jeweils in einer besonderen Weise auf die überdauernden Bedingungen des Werdens Bezug zu nehmen. Menschliches Wirklichkeitsverständnis (Verstehen von Wirklichkeit im Ganzen, Verstehen des Werdens aus seinen überdauernden Bedingungen heraus) kann nur als ein jeweils besonderes in Betracht kommen. Das „christliche Wirklichkeitsverständnis“ ist dafür ein exemplarischer Fall, weil sich seine Besonderheit nicht nur ergibt aus dem jeweiligen Ort der von ihm ergriffenen Personen innerhalb der Geschichte der Gattung, sondern immer auch aus dem Ort in der Bildungsgeschichte der einzelnen Person, an dem es konstituiert und dann vollzogen wird.

3 Das Zustandekommen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses Das Gebundensein des christlichen Glaubens und seines Wirklichkeitsverständnisses einerseits an den Ort der zum Glauben gebrachten Personen in der Bildungsgeschichte der Gattung und andererseits dann auch an einen bestimmten Ort in der persönlichen Bildungsgeschichte der betroffenen Person zeigt sich exemplarisch am Zustandekommen des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, wie Paulus es erlebt hat und in seinen Briefen bezeugt und erkennen lässt. Die Veröffentlichung von

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1978 zeichnet das Pauluskapitel als einen eigenen Hauptteil des Ganzen aus (Teil B), weil sich an diesem Beispiel die überdauernden Bedingungen des Werdens des christlichen Wirklichkeitsverständnisses (seines Zustandekommens) überhaupt aufweisen lassen, die dann auch für den besonderen Charakter des auf diese Weise zustande gekommenen christlichen Glaubens und seines Wirklichkeitsverständnisses – also für alle Darlegungen der sechs Kapitel von Hauptteil C – bestimmend sind. Die Paulusdarstellung hat in unserem Buch de facto die systematische Bedeutung, am ersten detailliert überlieferten und klassischen Beispiel des Zustandekommens des Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens die dauernden Bedingungen des Werdens dieses Wirklichkeitsverständnisses in seiner spezifischen inhaltlichen Bestimmtheit am Ort einzelner Personen zu erfassen. Diese Darstellung ist daher immer auch als Horizont für alles in Teil C Gesagte im Sinn zu behalten. Das ist oft nicht durchschaut worden; was auch daran liegen mag, dass auf diesen Zusammenhang nicht deutlich genug hingewiesen wurde.19 Das Beispiel des Paulus zeigt: Das Zustandekommen des christlichen Glaubens und seines Wirklichkeitsverständnisses ist notwendig bedingt erstens durch den Ort des Glaubenden in der Bildungsgeschichte der menschlichen Gattung (1), zweitens durch das jeweilige persönliche Angeeignetsein der diesen Ort des Glaubenden bestimmenden Resultate der Bildungsgeschichte der Gattung (2), drittens durch einen Fortschritt der persönlichen Bildungsgeschichte der betreffenden Person, der notwendig bedingt ist durch die Begegnung mit der Gemeinschaft der Christusgläubigen und ihrer Verkündigung des Evangeliums (das heißt: mit ihrer Verkündigung des am Kreuz vollendeten Lebenszeugnisses Jesu für die Gegenwart als Kommen [als Realisierung] der Gerechtigkeit und Frieden mit Gott schaffenden Gottesherrschaft) und die hinreichend bedingt ist durch das unverfügbare Evidentwerden der Wahrheit des verkündigten Evangeliums für den Adressaten der Verkündigung durch das Geschaffenwerden der dafür erforderlichen Sichtfähigkeit auf Seiten 19 Dass der Fall Paulus die dauernden Bedingungen des Werdens (des Zustandekommens) des christlichen Glaubens und seines Wirklichkeitsverständnisses aufweist, denen auch alle gleichartigen Fälle in der Geschichte unterliegen, ist in meinen späteren Beschreibungen des Offenbarungsgeschehens, erstmals in dem Beitrag zum Funkkolleg Religion ( jetzt in: Eilert Herms, Offenbarung und Glaube: zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 168 – 221), deutlicher hervorgetreten. Eine schöne Kurzinterpretation dieses Textes hat gegeben: Wilfried Hrle, in: Einleitung zu Ders., Grundtexte der neueren evangelischen Theologie, Leipzig 2007, dort LVI f.

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dieses Adressaten selbst (3); das Zustandekommen des christlichen Glaubens ist ein Geschehen, als dessen Autor die betroffene Person nur den ihr durch dieses Geschehen in Wahrheit offenbar gewordenen Schöpfer und seinen Geist selber behaupten kann (4) und auf dessen Einzigartigkeit sie daher auch nur im „Glauben“ angemessen reagiert (5); und es ist schließlich ein Geschehen, das als Schritt in der Bildungsgeschichte der betroffenen Person die Realität einer neuen Bildungsgestalt, einer neuen Qualität, ihres Personseins zur effektiven Folge hat (6). ad 1.: Die Bildungsgeschichte der Gattung umfasst das Werden der leibhaften Lebensbedingungen der Menschen, aber vor allem auch das Werden der ihr Zusammenhandeln leitenden Gewissheiten über die bestimmte Eigenart des Geschehens (des Werdens) in ihrer Welt sowie über die bestimmte Eigenart des Geschehens (des Werdens) ihrer Welt und ihres eigenen innerweltlichen Daseins selbst, Gewissheiten die, wie gezeigt, stets nur Gewissheiten über die berdauernden Bedingungen nicht nur des Werdens in der Welt, sondern auch des Werdens der Welt sein können. – Im Zusammenleben gewinnt jede Person den sie persçnlichen bestimmenden Bestand an Gewissheit über die Bestimmtheit des Werdens auf den beiden genannten Ebenen. Dabei gilt zunächst: Keine Person gewinnt diesen Satz persçnlicher Gewissheiten anders als vermöge ihres Zusammenlebens mit anderen, also nicht anders als in einer Gemeinschaft, und vermöge des sich für sie als einzelne Person ereignenden Evidentwerdens der Wahrheit der jeweils in diesem bestimmten Zusammenleben, in dieser Gemeinschaft kommunizierten Bestände an Gewissheit über die überdauernden Bedingungen des Werdens in dieser ihrer Welt und über die überdauernden Bedingungen des Werdens dieser ihrer Welt selbst.20 Jeder Einzelne hat an der Bildungsgeschichte der Menschheit nur Anteil vermöge seiner Zuge20 In jeder Gemeinschaft werden auch Gewissheiten dieser zuletzt genannten Art kommuniziert, weil allein sie als Gewissheiten über die dauernden Bedingungen des Werdens der Welt und des innerweltlichen Daseins auch jeweils eine Gewissheit über das Woher und das Wohin, über Ursprung und Ziel, dieses Werdens einschließen, also über die ursprüngliche Bestimmung von Welt und Mensch, mit der übereinzustimmen die Ganzerfüllung des Daseins, sein höchstes Gut ausmacht; ohne Kommunikation und Teilung einer solchen Gewissheit ist keine gemeinsame Zielwahl möglich. Dazu vgl. Eilert Herms, Der religiöse Sinn der Moral, in: Ders., Gesellschaft gestalten: Beträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991; Ders., Die Bedeutung der Weltanschauungen für die ethische Urteilsbildung, in: Friederike Nssel (Hg.), Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick überzentrale Ansätze und Themen, Tübingen 2009, 49 – 71.

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hörigkeit jeweils zu einer Gemeinschaft der Gewissheitskommunikation, nie anders als durch eine solche soziale Vermittlung, und daher hat er auch an den in dieser Bildungsgeschichte der Menschheit erreichten zielwahlorientierenden Gewissheiten über die dauernden Bedingungen des Werdens von Welt und menschlichem Dasein im ganzen nur vermöge seiner realen Teilhabe an jeweils einer der vielen verschiedenen Gemeinschaften der Kommunikation solcher Gewissheit21 Anteil, die im Ganzen der Gattungsgeschichte syn- und diachron koexistieren. Das gilt auch für Paulus. Er lebt als Jude in der Gemeinschaft des Judentums seiner Zeit, im Kontext des allen Juden seiner Zeit aufgrund ihres Glaubens gemeinsamen Verständnisses von Wirklichkeit im ganzen und im Kontext der innerhalb dieses gemeinsamen Glaubens geführten Debatten über diejenigen Fragen des Verstehens von Wirklichkeit im ganzen, welche auf dem Boden dieses gemeinsamen Glaubens offen waren: Das allen Juden aufgrund des gemeinsamen JHWH-Glaubens gemeinsame Verständnis von Wirklichkeit im ganzen umfasst vier Punkte, durch die sich dieses Wirklichkeitsverständnis von allen damals in der Menschheit erreichten Weisen des Glaubens und den jeweils dazu gehörigen Weisen des Verstehens von Wirklichkeit im ganzen (des Werdens aus seinen überdauernden Bedingungen heraus) unterscheidet: a) Aufgrund des JHWH-Glaubens werden die überdauernden Bedingung für das Werden und Bestehen von Welt als das personale Prozedieren des personalen22 Weltschöpfers, als sein ewiges Wollen und Wirken verstanden. Dieses personale Prozedieren (Wollen und Wirken) ist die überdauernde Bedingung des Werdens von Welt und allen Werdens in ihr, 21 Was jeden Individualismus und Privatismus des Verstehen von Wirklichkeit im ganzen (also der religiös-weltanschaulichen Überzeugung) als falsch und irreführend erweist. 22 Die Einsicht in den personalen Charakter desjenigen Werdens (Prozedierens), in dem und vermöge dessen unsere Welt als diese bestimmte geworden ist und dauert, ist nicht durch Reflexion und Argumentation erreicht worden, sondern – nach dem Zeugnis des Alten Testaments – durch ein Erschließungsgeschehen (Ex 3, 4b.6.9 – 15; zur systematischen Interpretation dieses Textes vgl. Herms, Offenbarung und Glaube (s. o. Anm. 19), 185 – 188, sowie Ders., Kirche für die Welt. Lage und Aufgabe der Kirche im vereinigten Deutschland, Tübingen 1995, 158 – 165). Die rückblickende Reflexion kann jedoch zeigen, dass genau und nur diese Annahme des personalen Charakters desjenigen Werdens, in welchem und durch welches alle möglichen Welten werden, zu einem konsistenten Begriff des Ursprungs von bestimmten Weisen des Werdens führt: vgl. Eilert Herms, Prozeß und Zeit, s. o. Anm. 14).

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der Ursprung des gesamten Weltgeschehens, durch den auch schon dessen Ziel fixiert ist. Dieses personale Prozedieren der Macht über den Ursprung, des Schöpfers, ist das Alpha und Omega des gesamten Weltgeschehens. b) Das Wollen und Wirken dieser Macht, des Schöpfers, ist manifest in seinem Werk: nämlich in der Schaffung der Welt des Menschen, die als solche die Stiftung des Bundes, des Füreinanderseins, des schaffenden Personseins und des geschaffenen Personseins ist. Dieser Bund ist radikal asymmetrisch. In ihm ist das Wollen und Wirken der schaffenden Person so für das geschaffene Personsein da, dass dies letztere damit steht und fällt, dass es in seinem Wollen und Wirken dem Wollen und Wirken des Schöpfers restlos entspricht. c) Dies ist freilich nur möglich, wenn dem geschaffenen Personsein die personale Identität des Schöpfers und der Inhalt seines Wollens und Wirkens gewiss geworden ist – was keineswegs selbstverständlich, sondern zunächst gerade nicht der Fall ist: zunächst und zumeist wird auf Seiten des geschaffenen Personseins dessen eigenes Geschaffensein verkannt; das geschaffene Personsein setzt seine eigenen geschaffenen schöpferischen Qualitäten absolut, indem es sich selbst Götter macht. d) Die gattungsgeschichtliche Sendung des Judentums besteht darin, dass ihm die personale Identität des Schöpfers und der Inhalt seines Schöpferwollens offenbar geworden ist23 und durch es auch der Gesamtmenschheit offenbar werden soll. Inhaltlich umfasst der Schöpferwille zugleich beides: sowohl das, was der Schöpfer seinem geschaffenen Ebenbild als solchem zu tun zumutet, als auch das, was er selbst für sein geschaffenes Ebenbild in schöpferischer Souveränität tun will; ersteres ist offenbar im Gesetz, letzteres in der Verheißung der – Gerechtigkeit und Frieden schaffenden – Durchsetzung der Gottesherrschaft, das heißt der Herrschaft des Schöpfers über alles Geschaffene. Diskutiert – weil auf dem Boden des gemeinsamen JHWH-Glaubens noch offen – wird in diesem Horizont mit unterschiedlichem Ergebnis und entsprechender Gruppenbildung beides, sowohl das Verheißene wie das Geforderte und nicht zuletzt das Verhältnis zwischen beidem. Ist das Verheißene (Gerechtigkeit und Frieden) ein Ziel, das in der geschaffenen Welt erreicht werden soll, oder ist es ein Ziel das fr die geschaffene Welt in Gottes Ewigkeit erreicht werden soll? Was verlangt das Gesetz, worin besteht seine Erfüllung? Und vor allem: Wie verhält sich die Erfüllung des Gesetzes zur Erreichung des Verheißenen? Im Konzert der unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen tritt auch das Lebenszeugnis Jesu von Nazareth auf als eine einzigartige und unverwechselbare Stimme auf, 23 Vgl. vorige Anm.

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die besagt: Es ist das Wirklichwerden des Verheißenen, der Gottesherrschaft, das Wirklichwerden der durch diese geschaffenen Gerechtigkeit und des durch sie geschaffenen Friedens, durch die allererst die Erkenntnis des Schöpferwillens und seine Erfüllung möglich werden. Das Verheißene wird also erreicht nicht vermçge der Erfüllung des Gesetzes, sondern durch das Verheißene selbst, freilich nicht vorbei an der Erfüllung des Gesetzes, sondern unter Einschluss seiner – durch die Realisierung des Verheißenen selbst ermöglichten – Erfüllung.24 ad 2.: In dieser Vielfalt von innerhalb des Judentums kommunizierten Varianten war dem Paulus im Verlauf seiner Bildungsgeschichte eine bestimmte persönlich zu eigen geworden: eine pharisäisch-apokalyptische. Sie verstand das Verheißene als Ziel, dessen Erreichung fr die geschaffene Welt in der Ewigkeit Gottes vorgesehen ist, und die Erfüllung des ganzen Gesetzes verstand sie als das Mittel, durch das die Erfüllung des Verheißenen erreicht wird. ad 3: Dieser pharisäisch-apokalyptischen Überzeugung von der Erlangung der Gerechtigkeit und des Friedens der Gottesherrschaft durch Erfüllung des Gesetzes widersprach die nachösterliche Verkündigung des das Gegenteil behauptenden Evangeliums Jesu Christi durch die Christusgemeinschaft diametral. In den Augen des Paulus hatte Jesu Kreuzestod das Evangelium Jesu, dass nicht die Erfüllung des Gesetzes, sondern die Gottesherrschaft selbst der Grund für die Erreichung des Heils, also der Gerechtigkeit vor Gott und des Friedens mit ihm, sei, als falsch und frevelhaft entlarvt: „Verflucht ist, wer am Kreuze hängt.“ (Gal 3.13). Folglich verfolgte Paulus dieses Evangelium und die es verkündigende Gemeinde. Bis ihm eines Tages – die Tradition überliefert das Ereignis als das „Damaskuserlebnis“ des Paulus – bezwingend evident wurde, dass dieses bisher für falsch gehaltene Evangelium tatsächlich die Wahrheit über das Verhältnis zwischen dem schaffenden Personsein Gottes und dem geschaffenen Personsein der Menschen und seine radikale Asymmetrie zur Sprache bringt. Die Ereignisstruktur dieser Erfahrung ist am entscheidenden Punkt klar: Paulus wurde durch Erweiterung der Sichtfähigkeit seines Herzens (II Kor 4,6), also durch Erweiterung seiner Sichtfähigkeit auf sich selbst als Exemplar der Menschheit, bezwingend evident: Die pharisäische Sicht des Verhältnisses von Gesetzeserfüllung und Erreichung der Gerechtigkeit vor und des Friedens mit Gott verkennt noch die radikale Asymmetrie des Verhältnisses zwischen dem 24 Vgl. hierzu z. B. die Interpretation der Reichgottesverkündigung Jesu in: Eberhard Jngel, Jesus und Paulus, Tübingen (1962) 41972, 87 – 214.

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schaffenden Personsein Gottes und dem geschaffenen Personsein der Menschen. Dieser radikalen Asymmetrie wird erst und allein die Sicht des Evangeliums gerecht, also die vom Gekreuzigten gelebte Sicht, die die Gesetzeserfüllung als Grund für die Erlangung der Gerechtigkeit vor und des Friedens mit Gott ausschließt und vielmehr sieht und bezeugt, dass der Grund dieser Gerechtigkeit und dieses Friedens allein die Selbstdurchsetzung der Gottesherrschaft durch ihre Selbstoffenbarung ist. ad 4: Der Effekt dieses Evidenzgeschehens – eben die Beseitigung des Trugs über das Verhältnis des geschaffenen Personseins zum schaffenden durch die evident gewordene Wahrheit über dieses Verhältnis – erlaubt der betroffenen Person nur ein einziges Urteil über den Urheber dieses Geschehens (also des Geschehens der Erweiterung der Sichtfähigkeit ihres Herzens, durch die die Wahrheit des Evangeliums evident wird): Als Urheber dieses Geschehens kommt nicht die betroffene Person selbst in Betracht, die sich ja durch dieses Geschehen präsent wird als eine Instanz, die bis zu diesem Geschehen dem in der beschränkten Sichtfähigkeit des eigenen Herzens begründeten Irrtum ausgeliefert und in ihm befangen war. Als Urheber kommen auch nicht irgendwelche anderen innerweltlichen Instanzen, etwa andere Personen, in Betracht; denn durch das Evidenzgeschehen ist der Person ja präsent, dass sie alle diese innerweltlichen Instanzen bisher aus der Perspektive ihres in der beschränkten Sichtfähigkeit ihres Herzens begründeten Grundirrtums zu Gesicht bekam. Für die betroffene Person kann nur der Schöpfer selbst als Urheber der Erweiterung der Sichtfähigkeit ihres Herzens in Betracht kommen, durch die ihr die Wahrheit der vom Evangelium behaupteten radikalen Asymmetrie zwischen dem heilszielstrebigen Wollen und Wirken des schaffenden Personseins und die Möglichkeiten des Wollens und Wirkens des geschaffenen Personseins evident wurde. Das aber heißt: Der betroffenen Person widerfährt das Geschehen der Sichterweiterung ihres Herzens, das die Wahrheit des Evangeliums und seiner Sicht des Gottesverhältnisses evident macht, als Selbstoffenbarung des Schöpfers, nämlich als durch den Schöpfergeist selbst gewirkte Offenbarung des Faktums, dass der Wille des Schöpfers, sein Wille zu vollendeter und das heißt jedenfalls auch: versöhnter, Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild, in Jesus und dem von ihm gelebten Evangelium durch den Geist des Schöpfers verkörpert ist. Und weil diese Selbstoffenbarung des Schöpfers für die betroffene Person, hier: für Paulus, just durch die Erweiterung der Sichtfähigkeit ihres Herzens, also durch Erweiterung ihrer Sichtfähigkeit auf sich selbst als Exemplar der Menschheit geschieht, deshalb widerfährt diese Selbstoffenbarung des

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Schöpfers der betroffenen Person auch ipso facto als schöpferische25 Selbstdurchsetzung des Schöpfers an ihr selbst. ad 5: Dies Widerfahrnis – das Widerfahrnis der Selbstoffenbarung der Gottesherrschaft genau in der Weise ihrer Selbstdurchsetzung an der betroffenen Person – ist einzigartig. Deshalb kann die betroffene Person auf dieses Widerfahrnis auch nur auf eine Weise angemessen reagieren, die ihrerseits einzigartig ist: auf die Weise des Glaubens. „Glaube“ meint die angemessene Reaktion auf das Offenbarwerden des Schöpfers, das sich in der Weise der Selbstdurchsetzung des Schöpfers an der betroffenen Person (eben durch Erweiterung der Sichtfähigkeit ihres Herzens, also durch Erweiterung ihrer Sichtfähigkeit im Blick auf sich selbst als Exemplar der Menschheit) vollzieht. Die angemessene Reaktion auf dieses Widerfahrnis kann nicht in einem willentlichen Akt des Fürwahrhaltens des offenbar Gewordenen bestehen. Erst recht nicht in einem argumentativ begründeten Akt des Fürwahrhaltens; denn angemessen zu reagieren ist ja auf ein Evidenzerlebnis, das gar nicht durch Argumente zustande gekommen ist, sondern durch eine Erweiterung der Sichtfähigkeit der Person auf sich selbst. Angemessen zu reagieren ist also auf ein Widerfahrnis, das der betroffenen Person – eben aufgrund dieses Widerfahrnisses selbst – gar nicht anders präsent ist denn als unmittelbar an ihr selbst vollzogenes Wirken und Werk des Schçpfers selbst. Die einzig angemessene Reaktion auf dieses Widerfahrnis ist daher: dass die Person sich diesem unmittelbar an ihr wirksamen Handeln Gottes unter Verzicht auf alles eigene Wirken überlässt. Dieses sich-unter-Verzicht-auf-alles-eigene-Wirken-dem-Wirken-Gottes-am-eigenen-Personsein-Überlassen meint die biblische Rede vom „Glauben“. In diesem Verzicht auf alles eigene Wirken ist der Glaube nichts als Empfangen des Wirkens Gottes am Glaubenden, nichts als Hinnehmen des (bildenden) Wirkens des Schöpfers an seinem Geschöpf.26 ad 6: Indem die betroffene Person die Selbstoffenbarung der Gottesherrschaft im glaubenden Verzicht auf alles eigene Wirken an sich geschehen läßt als die effektive Selbstdurchsetzung der Gottesherrschaft an ihr, resultiert aus diesem Geschehen eine neue Bildungsgestalt, ein neues Gebildetsein der betroffenen Person. Paulus hat die sechs wesentlichen Momente dieser neuen Bildungsgestalt der Person genau benannt: a) Anteilgewinnung an der spezifischen Daseinsgewissheit „des 25 Vgl. II Kor 4,6. 26 Vgl. dazu Martin Luther, Disputatio de homine (WA 39,1-175-177 (zu den Problemen der Textüberlieferung: Gerhard Ebeling, Lutherstudien II / 1, Tübingen 1977, 1 – 24), Thesen 35 – 40.

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Sohnes“, die „Abba, lieber Vater“ ruft; also Versetzung in die Gotteskindschaft; b) diese Gewissheit als Gewissheit des Friedens mit Gott, des Versöhntseins mit Gott durch Gott selbst; c) weiterhin dieselbe Gewissheit zugleich auch als Gewissheit des Begründet- und Getragenseins des eigenen Daseins nicht mehr in diesem selbst, sondern unmittelbar in Gottes Handeln in Christus durch den Heiligen Geist: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir“, d) daher Gewissheit des zukünftigen Heiles schon jetzt, also die gewisse Hoffnung, die in der Gewissheit gründet, dass nichts den von Gottes Wollen und Wirken getragenen Glaubenden scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesu offenbar und wirksam ist, e) diese Gewissheit als „Ausgegossensein der Liebe Gottes“ (nämlich der Liebe Gottes zum Menschen und deshalb auch der Liebe des Menschen zu Gott) im Herzen der betroffenen Person; f) schließlich die Freiheit des in dieser gewissheitsgestützten Liebe tätigen Glaubens vom Irrtum über sich selbst und fr Gott und den Nächsten. Der Glaube empfängt also das Wirken Gottes am Glaubenden nicht als Schaffung seiner Person und ihres Freiseins, wohl aber als dessen Qualifikation. Der Glaube empfängt das Wirken Gottes am Glaubenden als die Befreiung des Freiseins, das dem Glaubenden schon als geschaffener Person eignet, vom Irrtum über sich selbst und über sein Verhältnis zum Freisein Gottes. Diese Befreiung ermöglicht dem Glaubenden die wahre Erkenntnis und damit auch die Erfüllung des Willens des Schöpfers,27 nämlich die freie Hingabe an das Wollen und Wirken des Schöpfers, das durch sich selbst die vom Schöpfer in Ewigkeit gewollte versöhnte und vollendete Gemeinschaft des Schöpfers mit seinem geschaffenen Ebenbild im Reich Gottes realisiert: die Gerechtigkeit der menschlichen Person vor ihrem Schöpfer und ihren Frieden mit ihm. Damit zeigt sich: Die an Paulus und seinem Selbstzeugnis exemplarisch abzulesende Weise des Zustandekommens des christlichen Glaubens und seines Wirklichkeitsverständnisses begründet auch dessen Charakter.

27 Dazu vgl. Hans-Christian Knuth (Hg.), Von der Freiheit. Besinnung auf einen Grundbegriff des Christentums, Hannover 2001.

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4 Der Charakter des christlichen Wirklichkeitsverständnisses 1. An Paulus zeigt sich exemplarisch: Der christliche Glaube ist das auf alles eigene Wirken verzichtende Empfangen, oder: Hinnehmen, derjenigen spezifischen Bestimmtheit, welche dem unmittelbaren Vertrautsein der betroffenen Person mit ihrer personhaften Lebensgegenwart zuteil geworden ist vermöge ihres unverwechselbaren Ortes in der Bildungsgeschichte der menschlichen Gattung und durch den jüngsten gegenwartsbestimmenden Schritt ihrer – sich nur im gattungsgeschichtlichen Kontext vollziehenden und durch diesen notwendig bedingten – persönlichen Bildungsgeschichte. Was der Glaube auf diese Weise empfängt und hinnimmt, ist das Werk Gottes am Glaubenden. Und an diesem Werk des Schöpfers ist sein Wirken manifest: – Dies Wirken ist jedenfalls ein solches, das unmittelbar den einzelnen Menschen ergreift und betrifft: – Das gilt einerseits in dem Sinne, dass es sich auf die unmittelbare Selbsterschlossenheit, das Herz, einer innerweltlichen Person richtet und dieser eine neue Bestimmtheit gibt. Es verändert, genau gesagt: es erweitert, diese unmittelbare Selbsterschlossenheit der Person und somit erweitert es auch die Sichtfähigkeit der Person auf ihre eigene Lebensgegenwart als Exemplar der Gattung. – Aber dieses Wirken des Schöpfers betrifft auch noch in einem anderen Sinne die Person unmittelbar. Nämlich in dem Sinne, dass es als dieses eigene Wirken Gottes selbst die Selbsterschlossenheit der betroffene Person direkt ergreift und verändert, ohne Dazwischenkunft einer anderen Wirkinstanz. Es ist das die Herrschaft Gottes durchsetzende, Gerechtigkeit vor ihm und Frieden mit ihm schaffende eigene Wollen und Wirken des Schöpfers selbst, das die betroffene Person so ergreift, dass es ihre unmittelbare Selbsterschlossenheit verändert, ihre Sichtfähigkeit auf sich selbst als Exemplar der Gattung erweitert. In diesem Sinne wird Gottes Handeln selbst unmittelbar wirksam an der betroffenen Person. – Dabei gilt freilich: Was in dieser Unmittelbarkeit an der Selbsterschlossenheit, am Herzen der Person als Schaffen erweiterter Sichtfähigkeit wirksam wird, ist eben das Wirken des Schçpfers an dieser Person, und zwar sein Wirken an dieser Person durch das Ganze nicht nur ihrer persönlichen Bildungsgeschichte (alle der Sichterweiterung vorangegangenen Phasen und Befindlichkeiten der Person eingeschlossen), sondern auch schon durch das Ganze der Bildungsge-

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schichte der Gattung, die diese persönliche Bildungsgeschichte wesentlich bedingt. Das konkrete Ganze des zielgerichteten Wollens und Wirkens des Schöpfers, das sich in der Geschichte der Welt und der Menschheit manifestiert und innerhalb dieser Welt- und Menschheitsgeschichte auch das Leben der Einzelnen bestimmt, dieses konkrete Ganze des Wollens und Wirkens des Schöpfers ist es, das in jener Sichterweiterung den einzelnen Menschen unmittelbar ergreift und sich an ihm durchsetzt. Das Geschehen der Selbstoffenbarung und Selbstdurchsetzung des Schöpfers für einen einzelnen Menschen und an ihm schließt das Ganze des Welt schaffenden, erhaltenden und bildenden, des die Menschheit schaffenden, erhaltenden und bildenden und des jeweils die einzelnen Menschenleben schaffenden, erhaltenden und bildenden Schöpferhandelns ein. Durch das Ganze dieses Geschehens offenbart sich das Wollen und Wirken des schaffenden Personseins dem geschaffenen Personsein und setzt es sich an ihm durch. Die eigene persçnliche Befindlichkeit, nämlich die Gewissheit über das wahre Verhältnis des schaffenden Personseins zu dem geschaffenen Personsein, die Paulus (und jeder Christ) im Glauben als Werk Gottes an ihm selbst hinnimmt, ist Effekt des Ganzen des Wirkens Gottes, in dem sein Wirken als Schöpfer der Welt des Menschen, sein Wirken durch die geschichtliche Bildung der Menschheit und sein Wirken in der Bildungsgeschichte jedes einzelnen Menschen zu unlöslicher Einheit verbunden sind. An Paulus zeigt sich exemplarisch: Die zum Evidentwerden der Wahrheit des Evangeliums führende Sichterweiterung des Herzens ist Effekt des Wirkens Gottes als Schöpfer, als Vater des Alls, des Wirkens Gottes in der Vollendung der Bildungsgeschichte der Gattung durch das Lebenszeugnis Jesu, des Sohnes, und durch die Vollendung der persönlichen Bildungsgeschichte des Paulus durch das Wirken des Geistes, in dem schon der Vater und der Sohn wirkten. Sie ist Effekt des trinitarischen Wirkens des dreieinigen Gottes im ganzen. Als das Werk dieses Wollens und Wirkens Gottes im ganzen empfängt der christliche Glaube das Zustandegekommensein, das Gewordensein der Sichterweiterung des Herzens des Glaubenden, die dazu führt, dass der betroffenen Person die Wahrheit des Evangeliums evident wird – also die

bereinstimmung des Evangeliums mit derjenigen Realität, welche dem Adressaten des Evangeliums jetzt am eigenen Leibe präsent geworden ist, nämlich mit der Realität des radikalen Ausgeliefertsein des geschaffenen Personseins an das Wollen und Wirken des Schöpfers und an dessen –

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durch die Inkarnation des Schöpferlogos offenbar gewordene – Richtung auf durch Versöhnung vollendete Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild. Der Glaube nimmt dieses Werk des trinitarischen Wirkens Gottes hin als Effekt desjenigen Schöpferwollens und -wirkens, das als die überdauernde Bedingung von allem Werden in dieser unserer Welt, ja als die überdauernde Bedingung des Werdens von Welt überhaupt keineswegs nur in dem eigenen Leben des Glaubenden wirksam ist, sondern im Ganzen des Weltgeschehens überhaupt.28 Das aber heißt dann ipso facto: Auf dem Boden des christlichen Glaubens wird die überdauernde Bedingung des Werdens von Welt überhaupt und von allem Werden in der Welt verstanden als eben dasjenige Wollen und Wirken des Schöpfers, das von Anbeginn in allem Weltgeschehen aus ist und hinwirkt auf die Realisierung der von diesem gewollten vollkommenen und versöhnten Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild. Dies Wollen und Wirken des Schöpfers realisiert die Herrschaft des Schöpfers über die Schöpfung in der Weise der Durchsetzung der Wahrheit über das Verhältnis Schöpfer / Geschöpf gegen den Trug der Sünde am Herzen jedes Einzelnen.29 Dadurch schafft der Schöpfer selbst für sein geschaffenes Ebenbild diejenige Gerechtigkeit vor Gott und denjenigen Frieden mit Gott, die er in seinem Schöpferwillen von sich aus dem Geschaffenen als dessen ewiges Ziel vorgesteckt hat. Also auch auf dem Boden dieses christlichen Glaubens – der die gewordene Bestimmtheit der Selbsterschlossenheit des Glaubenden (der unmittelbaren Vertrautheit des Glaubenden mit seiner personhaften Lebensgegenwart) empfängt und hinnimmt als Werk des Schöpfergottes, der sein Reich schafft, indem er für sein geschaffenes Ebenbild Gerechtigkeit vor Gott und Frieden mit Gott schafft – auch auf dem Boden dieses christlichen Glaubens ist es unvermeidlich, alles Werden (das Werden in seiner innerweltlichen personhaften Lebensgegenwart, das 28 Vgl. dazu wieder Luther in den o. Anm. 26 genannten Thesen der Disputatio de homine. Sie sehen das gerechtmachende Wirken Gottes am Glaubenden als den Vollzug der gesamten operatio Dei, die als die Welt des Menschen schaffendes und vollendendes Wirken alle einzelnen personalen Geschöpfe ergreift, betrifft und mitnimmt. Vgl. dazu David Lçfgren, Die Theologie der Schöpfung bei Luther, Göttingen 1960; Löfgren zeigt, dass und wie Luther das Schöpfungshandeln Gottes als das in sich selbst aufs Eschaton zielende und es heraufführende Handeln sieht: 163 ff. 29 Das heißt: Der Schöpfer geht mit dem Ganzen seines Wirkens aufs Ganze seines Werkes, indem er ins Einzelne geht.

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Werden dieser innerweltlichen personhaften Lebensgegenwart selbst, das Werden in der Welt der Menschen und auch das Werden dieser Welt selbst) aus den überdauernden Bedingungen solchen Werdens zu verstehen. Auch für den christlichen Glauben ist das Verstehen allen Werdens aus der „alles bestimmenden Wirklichkeit“ unvermeidlich. Als diese überdauernde Bedingung allen Werdens, als diese alles bestimmende Wirklichkeit, kommt nun jedoch auf seinem Boden, dem Boden des christlichen Glaubens, ausschließlich das in Betracht, was dieser Glaube als den schaffenden Grund der spezifischen Bestimmtheit seiner Selbsterschlossenheit (seines unmittelbaren Vertrautseins mit seiner personhaften Lebensgegenwart) empfängt und hinnimmt: eben das Wirken des Schöpfers, welches dessen ewigen Willen zur vollendeten, also auch versöhnten Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild realisiert. Auf dem Boden des christlichen Glaubens kann die alles bestimmende Wirklichkeit nur als der Schöpfer verstanden werden, dessen Wollen auf Rechtfertigung zielt und dessen Wirken Rechtfertigung schafft. Für den christlichen Glauben ist die überdauernde Bedingung für alles geschaffene Werden: Gottes Wollen und Wirken von Rechtfertigung. Dieser Glaube versteht die alles bestimmende Wirklichkeit als das Wollen und Wirken des dreieinigen Gottes, das nur eines will und wirkt: die versçhnte Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild, also: Rechtfertigung. Das aber heißt: Kraft seines Glaubens versteht der Christ nicht nur sein eigenes Leben als Werk des Gerechtigkeit schaffenden Handelns des dreieinigen Gottes, sondern schon die Bildungsgeschichte der Gattung, die seine persönliche Bildungsgeschichte bedingt, schon sie versteht er als Werk eben dieses Gerechtigkeit schaffenden Handelns des dreieinigen Gottes, und darüber hinaus auch schon die Geschichte der Welt des Menschen, die diese Bildungsgeschichte der Menschheit bedingt. Nicht nur das Leben der Einzelnen wird auf dem Boden des christlichen Glaubens als Manifestation des Handelns dreieinigen Gottes sichtbar, das in sich selbst und im ganzen den Charakter von Rechtfertigungshandeln hat, sondern als auf Rechtfertigung zielend wird das Gesamtgeschehen durchsichtig, in dem das Leben jedes Einzelnen steht: die Geschichte der Menschheit und der Welt des Menschen. Gottes Rechtfertigungshandeln ist das Handeln des dreieinigen Schöpfers und hat als solches ontologischen (alles Realsein betreffenden) und kosmologischen (alle Welt betreffenden) Charakter. Am Beispiel des Paulus kommen also drei Charakterzüge des christlichen Glaubens und seines Verstehens von Wirklichkeit im ganzen zur Erscheinung, die in der Weise seines Zustandekommens begründet

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sind. Sie alle sind geeignet, falsche Alternativen hinter sich zu lassen, die die Debatte seit alters und in unverminderter Frische bis ins 20. Jahrhundert, ja bis in unsere Gegenwart im jungen 21. Jahrhundert verunklaren und dadurch dauernd beherrschen30 : a) Der christliche Glaube empfängt ein Gewisssein, das nicht durch Diskurs und den Austausch guter Gründe zustande gekommen ist und sich fortpflanzt, sondern durch das unverfügbare Widerfahrnis einer Erweiterung der Selbsterschlossenheit jeweils einzelner Menschen, kraft dessen diesen Personen die Wahrheit des Lebenszeugnisses Jesu evident wird, die Wahrheit seines Lebenszeugnisses für die menschliche Lebensgegenwart – allen Werdens in ihr und ihres Werdens – als Realität, die aus der Wirklichkeit der Gottesherrschaft stammt, in ihr dauert und durch sie bestimmt wird. Aber obwohl nicht aus der Reflexionstätigkeit der Vernunft stammend, ist das vom Glauben empfangene und hingenommene Gewisssein dennoch in der Reflexionstätigkeit des Glaubens angemessen zu erfassen, klar zu symbolisieren und auch mit der Aussicht, von anderen nicht nur verstanden, sondern ihnen auch zuteil werden zu können, zu kommunizieren. Diskursiv unverfügbare Erschließungsereignisse entziehen sich nicht dem Diskurs, sondern ermöglichen ihn allererst als einen solchen, der auf Seiten aller Beteiligten in unverstellter Bezogenheit auf die in Rede stehenden Phänomene31 selbst geführt wird. b) Der christliche Glaube empfängt, nimmt hin, das Widerfahrnis derjenigen Erweiterung seiner Selbsterschlossenheit (der Vertrautheit seiner Lebensgegenwart, seiner Sichtfähigkeit auf sich selbst als Exemplar der Gattung), durch welche ihm die radikale Asymmetrie des Verhältnisses zwischen einem geschaffenen Personsein und dem schaffenden Personsein Gottes unmittelbare präsent, zu „fühlen“, gegeben, wird. Er nimmt hin als ihm zu verstehen gegeben: seine eigene Lebensgegenwart im Verhältnis zur Lebensgegenwart ihres Schöpfers, nämlich von letzterer als ihrem Existenzgrund umgriffen und gehalten. Er nimmt hin die unlösbare Einheit von Selbst- und Gottesbezogenheit und zwar als Einheit, die in der Bezogenheit Gottes auf uns gründet und uns durch diese als Bestimmtheit der Bezogenheit auf uns selbst – und nicht anders – zu verstehen gegeben wird. Das sich auf dem Boden des christlichen 30 Die Generatoren von Dauerdebatten sind nicht „schwierige“ Texte oder Aussagen, sondern sachliche Unklarheiten. 31 Der christliche Glaube ist rational, weil er sich auf Phänomene richtet. Vgl. RWvcG 17 Z.38 ff. Auf denselben Sachverhalt verweist der Titel meines Aufsatzbandes „Phänomene des Glaubens“ (s. o. Anm. 14).

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Glaubens bewegende Verstehen von Wirklichkeit im ganzen vermeidet also jedes Konkurrenzverhältnis zwischen Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis, wie es in abstrakten theologischen Positionen des 20. Jahrhunderts anklingt. Es hält an der noch in der klassischen Theologie der Moderne (Schleiermacher) und erst recht in der reformatorischen und altkirchlichen Theologie herrschenden Einsicht fest, dass es für uns und unseresgleichen Gotteserkenntnis überhaupt nicht ohne Selbsterkenntnis gibt und ohne konkrete Gotteserkenntnis (also ohne Selbstoffenbarung Gottes, die sich als Selbstdurchsetzung Gottes an uns vollzieht) keine konkrete Selbsterkenntnis. 32 c) Die vom christlichen Glauben hingenommene spezifische Bestimmtheit der unmittelbaren Selbsterschlossenheit der glaubenden Person – wie sie geschaffen wurde durch ein unverwechselbares Widerfahrnis (eben das Widerfahrnis der Sichterweiterung des Herzens, der unmittelbaren Selbsterschlossenheit) in der persönlichen Bildungsgeschichte jeweils eines Einzelnen, die ihrerseits durch ihren Ort in der Bildungsgeschichte der Gattung notwendig bedingt ist – gibt der Person ihre individuelle personale Lebensgegenwart zu fühlen und damit zu verstehen als Exemplar der Lebensgegenwart von innerweltlichen, leibhaften Personen überhaupt, die mit allen möglichen ihresgleichen in der Einheit ihres Möglichkeitsraums, ihrer Welt, und somit unter den alles Werden in dieser Welt und deren eigenes Werden überdauernden universalen Bedingungen real sind. Die Verstehenszumutung (oder -aufgabe), die in der innergeschichtlich gewordenen besonderen Bestimmtheit der unmittelbaren Selbsterschlossenheit enthalten ist, die der christliche Glaube empfängt (hinnimmt), ist also die folgende: Am Ort des jeweiligen Individuums und unter den Bedingungen der (durch die Bildungsgeschichte der Gattung und seine dadurch bedingte persönliche Bildungsgeschichte gewordenen) jeweils erreichten Bildungsgestalt (Bestimmtheit) seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit (man kann auch sagen – horribile dictu –: seines Lebensgefühls), also unter diesen durchaus besonderen und damit partikularen Bedingungen, ist dennoch verstehend auszugreifen: erstens auf die universalen, nämlich überdauernden (transzendentalen) Bedingungen allen Werdens in der Welt des Menschen und des Werdens der Welt des Menschen selbst und deshalb 33 32 Gerhard Ebeling, Cognitio Dei et hominis, in: ders., Lutherstudien I, 1971, 221 – 272. 33 Die überdauernden Bedingungen des Werdens von Welt und in der Welt manifestieren sich am Werden in der Welt. Ihre Erfassung kann daher auch nicht die

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dann zweitens auch auf das Ganze desjenigen besonderen (empirischen) Werdens in dieser Welt, das dem Glaubenden kraft der ihm durch seine Bildungsgeschichte widerfahrenden Sichterweiterung seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit (seines Herzens) nun als das konkrete Ganze dieser seiner persönlichen Bildungsgeschichte in ihrer notwendigen Bedingtheit durch die Bildungsgeschichte der Gattung präsent ist. Der christliche Glaube nimmt die besondere innergeschichtlich gewordene Bestimmtheit seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit als eine solche hin, die es ihm ermöglicht und ihn auch dazu verpflichtet, verstehend auf das Ganze des innergeschichtlichen Werdens, auf das Ganze seiner persönlichen Bildungsgeschichte und der sie bedingenden Bildungsgeschichte der Gattung und auf deren überdauernde Bedingungen auszugreifen. Dieser Ausgriff ist ihm zugemutet, weil ihm eben die Einheit dieses Gesamtgeschehens als dasjenige präsent ist, durch das die jeweils jetzt gegebene Bestimmtheit seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit notwendig bedingt ist. Insofern gehört dieses Gesamtgeschehen für den christlichen Glauben also hinein in das Bildungshandeln der Ursprungsmacht, das dem Glaubenden – jedenfalls dem christlich Glaubenden aufgrund der Spezifika seiner Bildungsgeschichte – als der alleinige Autor der jetzigen Bildungsgestalt (Bestimmtheit) seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit präsent ist. Auf das Ganze dieses Bildungshandelns Gottes, als dessen Werk dem Glauben die jetzt erreichte Bildungsgestalt des Glaubenden präsent ist, hat der Glaube also auszugreifen als auf das zu diesem Werk führende Wirken Gottes: Er hat auszugreifen auf das alles Geschehen, von der Schöpfung bis zum Eschaton, umgreifende trinitarische Selbstoffenbarungs- und Selbstdurchsetzungshandeln des dreieinigen Gottes. Dem christlichen Glauben ist ein Verstehen zugemutet, das im Lichte der ihm erschlossenen Sicht auf die übergreifenden Bedingungen des Geschehens von Welt und allen Geschehens in ihr ausgreift auf das ganze des Weltgeschehens und das sich selbst als den durch dieses Gesamtgeschehen natrlich 34 heraufgeführten Ort des Erschlossenseins des ursprünglichen Sinnes und Zieles dieses Gesamtgeschehens versteht.

Erfassung des faktischen Werdens von Welt und in der Welt ersetzen, sondern nur zu diesem letzteren anleiten. 34 Dass die vom christlichen Glauben hingenommene jeweils jetzige Bestimmtheit der unmittelbaren Selbsterschlossenheit des Glaubenden auf „natürliche“ Weise zustande gekommen ist, heißt nur: sie ist zustande gekommen durch die dem Glauben zu verstehen gegebene „Natur“ des gesamten Weltgeschehens – eben durch seine (dem Glauben zu verstehen gegebene und von ihm auch verstan-

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Auch hierin hat der christliche Glaube und sein Wirklichkeitsverständnis exemplarischen Charakter. Spezifisch für ihn ist allein, wie er die Natur des Gesamtgeschehens versteht, eben als das trinitarische Selbstoffenbarungs- und Selbstdurchsetzungshandeln des dreieinigen Gottes. Dass er nicht anders kann als aufgrund der von ihm empfangenen und hingenommenen Bestimmtheitsgestalt der unmittelbaren Selbsterschlossenheit des Glaubenden, also an besonderem innergeschichtlichen Ort und aus besonderer innergeschichtlicher Perspektive auf das Ganze von Geschichte und Welt verstehend auszugreifen, und zwar im Lichte einer besonderen Sicht der überdauernden Bedingungen und damit des Wesens des gesamten Weltgeschehens, das teilt er – wie er selber weiß – mit jedem möglichen anderen menschlichen Verstehen von Wirklichkeit. In der Welt des Menschen und in der Geschichte der Menschen kann es kein anderes Verstehen von Wirklichkeit im ganzen geben als ein derart „orts“gebunden perspektivisches. 2. „Selbstauslegung“, und zwar „umfassende Selbstauslegung des christlichen Glaubens“35 in diesem seinem ursprünglichen und wesentlichen – nämlich durch die Weise seines geschichtlichen (und das heißt eben bildungsgeschichtlichen) Zustandegekommenseins geschaffenen – Charakter als eine sachlich spezifisch bestimmte Weise des menschlichen Verstehens von Wirklichkeit im ganzen (eben ihr Verstehen als das trinitarische Selbstoffenbarungs- und Selbstdurchsetzungshandeln des dreieinigen Gottes, das heißt als sein Rechtfertigungshandeln an den Menschen), das ist die Absicht der sechs Kapitel des Hauptteils C in dem Buch von 1978. Solche Selbstauslegung des christlichen Glaubens kann offensichtlich nicht anders, als in einem Aussagezusammenhang zu resultieren. Ist der identisch mit dem Aussagezusammenhang der Rechtfertigungslehre schon der vorreformatorischen und dann auch der reformatorischen Theologie? Nein. Die Absicht der Selbstauslegung des Glaubens in seiner geschichtlichen Realität geht über die der überlieferten Rechtfertigungslehre hinaus. Das kann man sich folgendermaßen klar machen: Die Selbstauslegung des Glaubens in seiner geschichtlichen Realität richtet sich auf den Glauben als Empfangen, als Hinnehmen derjenigen bestimmten Zumutung eines Verstehens von Wirklichkeit im ganzen, dene) „Natur“ als trinitarisches Selbstoffenbarungs- und Selbstdurchsetzungswirken des trinitarischen Gottes. 35 RWvcG 10 Z. 10 ff.

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welche in der durch eine konkrete Bildungsgeschichte36 geschaffenen Bestimmtheit der unmittelbaren Selbsterschlossenheit des Glaubenden steckt. Solche Selbstauslegung des Glaubens wird dann auch die soteriologische Rolle des Glaubens für die Heilsteilhabe des Einzelnen beschreiben. Sie wird also auch die negative Rolle des Glaubens als Hinnehmen der sichterweiternden Durchsetzung des heilszielstrebigen Wollens und Wirkens Gottes am Menschen unter Verzicht auf jedes eigene Wirken als Grund eigener Gerechtigkeit vor Gott und als Grund des Friedens mit ihm erfassen müssen. Auf diese negative Rolle des Glaubens, seine Rolle als Verzicht, für die Heilsteilhabe des Einzelnen legt Paulus durchaus Gewicht, und sie ist das eigentliche Thema in der reformatorischen Rechtfertigungslehre. Aber eine konkrete Selbstauslegung des Glaubens in seiner geschichtlichen Realität kann sich in der Erfassung dieser soteriologischen Rolle des Glaubens als Verzicht nicht erschöpfen. Dieser Verzicht ist zwar für den Glauben als das reine Empfangen und Hinnehmen der sichterweiternden Selbstdurchsetzung des heilszielstrebigen Wollens und Wirkens Gottes am Glaubenden wesentlich, aber dieser Verzicht ist doch nur die negative Seite der grundsätzlich positiven Charakters des Glaubens als dieses Empfangen und Hinnehmen. Der positive Charakter dieses Hinnehmens besteht darin, dass dieses Hinnehmen in sich selbst nichts anderes sein kann und auch nicht ist als das bernehmen der Zumutung desjenigen neuen, von Verblendung freien Verstehens von Wirklichkeit im ganzen, das durch die sichterweiternde, trugbeseitigende Selbstdurchsetzung des heilszielstrebigen Wollens und Wirkens Gottes am Menschen diesem ipso facto ermöglicht und aufgetragen ist. Die Selbstauslegung des christlichen Glaubens in seiner geschichtlichen Realität muss seinen Charakter als diese – mit dem Verzicht auf eigenes Wirken als Heilsgrund gleichursprüngliche und durch solchen Verzicht spezifisch qualifizierte – Übernahme und Erfüllung einer spezifischen Zumutung des Verstehens von Wirklichkeit im ganzen herausstellen. Die umfassende Selbstauslegung des Glaubens geht über die soteriologische Akzentsetzung der Rechtfertigungslehre und ihre Beschreibung des Glaubens insofern hinaus, als sie den durch diesen Verzicht qualifizierten und soteriologisch irrelevanten Charakter des Glaubens als eines „tätig schäfftigen“ Dinges darstellt;37 indem sie ihn darstellt als eine neue Weise 36 Als Exemplar der christlichen haben wir oben die des Paulus genommen. 37 Martin Luther, Vorrede zum Römerbrief: WA.DB 7, 10,9 ff. – Beachte: Als „lebendig, schäfftig, tätig, mächtig Ding“ spricht Luther den Glauben an,

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des durch jenen Verzicht qualifizierten – eben: von allen soteriologischen Ansprüchen und Erwartungen freien – verantwortlichen Weltverstehens, Welterkennens und Weltgestaltens: Gott zum Lobe und dem Nächsten zu Nutz.38. 2.1. Aus der Absicht einer solchen Selbstauslegung des christlichen Glaubens in seiner geschichtlichen Realität als Übernahme der Möglichkeit und Pflicht zu einem spezifischen neuen Verstehen von Wirklichkeit im Ganzen ergeben sich die beiden Grundzüge der Komposition des dritten Hauptteils, nämlich einerseits die Fixierung der sechs Aspekte der Situation des Glaubens, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, und andererseits der Einsatz jedes Kapitels mit einem Blick auf die einschlägige öffentlichen Diskussion, die sich nicht auf dem Boden des Glaubens und jenseits der Theologie vollzieht. Die sechs Themen des Hauptteils C ergeben sich aus der Absicht einer „Selbstauslegung des christlichen Glaubens“ wie er in der Geschichte als dieser Glaube real ist: eben als das Empfangen, das Hinnehmen und also auch das Übernehmen einer bestimmten, unverwechselbaren Zumutung, Wirklichkeit im ganzen zu verstehen; eben derjenigen Zumutung, welche in der aus der unverwechselbaren Bildungsgeschichte der christlichen Bestimmtheit menschlicher Selbsterschlossenheit enthalten ist. Diese seine eigene Realität kann der christliche Glaube – eben aufgrund der für ihn wesentlichen Zumutung, im Lichte einer spezifischen Sicht auf die überdauernden Bedingungen und damit auf das Wesen des Weltgeschehens Wirklichkeit im ganzen zu verstehen – nur als die Realität eines, und zwar des durch innergeschichtliche Unüberholbarkeit ausgezeichneten, Exemplars von allem anderen Realen seinesgleichen verstehen. Und das heißt: Seine geschichtliche Realität weist alle diejenigen Züge auf, die ihm auch als wesentlich fr jeden mçglichen anderen Glauben39 als Übernahme der Aufgabe, Wirklichkeit im ganzen zu verstehen, wie sie jeweils in der hinzunehmenden bildungsgeschichtlinachdem er ihn im selben Kontext kurz zuvor einerseits als „ein göttlich Werk in uns“ angesprochen hat. Dies letztere schließt ersteres nicht aus, weil es auch nicht ausschließt, dass der Glaube auf Seiten des Glaubenden eine „lebendige erwegene Zuversicht auf Gottes Gnade“ ist (ebd. Z. 16 f.). Das ist nicht Gottes Zuversicht, sondern die des Menschen. 38 Diese Pointe hat auch Luthers Evangeliumspredigt: vgl. Eilert Herms, Das Evangelium für das Volk. Praxis und Theorie der Predigt bei Luther, in: Ders., Offenbarung und Glaube (s. o. Anm. 19), 20 – 55. 39 Ebenso wie „Offenbarung“ muss also m. E. auch „Glauben“ als ein menschlicher Akt anerkannt werden, der nicht nur im Christentum vorkommt.

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chen Bestimmtheit der unmittelbaren Selbsterschlossenheit von Personen steckt. Und das sind jedenfalls diejenigen Züge, die in den sechs Kapiteln des Teiles C thematisiert werden: Wie jeder derartige Glaube ist auch der christliche eine innerweltliche Realität und daher immer auch ein Verstehen dieses Realseins, das ihm selbst eignet. Wie jeder Glaube ist auch der christliche ein Verstehen dessen, was von ihm selbst wie für alles Reale als solches gilt und was in der Kunstsprache der Logik durch den Existenzoperator und in der Umgangssprache mit der Wendung „es gibt …“ bezeichnet wird. – 2. Wie jeder derartigen Glaube ist auch der christliche eine spezifische Weise des innerweltlichen Personseins und daher auch eine spezifische Weise des Verstehens der überdauernden Bedingungen für alles mögliche innerweltliche leibhafte Personsein. – 3. Wie jeder derartige Glaube ist auch der christliche eine spezifische Weise des Zusammenlebens von innerweltlichen Personen und daher auch ein spezifisches Verstehen der Möglichkeitsbedingungen dieses Zusammenlebens von Personen. – 4. Wie jeder derartige Glaube ist auch der christliche eine spezifische Weise des verantwortlichen folgeträchtigen Umgehens mit den Möglichkeiten des Menschseins (ein Ethos) und folglich auch ein Verstehen solchen Umgangs (in einer Ethik). – 5. Wie jeder derartige Glaube lebt auch der christliche auf eine spezifische Weise sich-selbst-verstehend in der Geschichte und versteht daher auch diese Geschichte, in der er selbst lebt, auf seine spezifische Weise. – 6. Und wie jeder derartige Glaube ist auch der christliche Glaube ein spezifisches Ausgerichtetsein auf das Eschaton: das Vollendetsein von Welt, Menschheit und Leben der Einzelnen, und er versteht daher auch dieses Eschaton und sein Ausgerichtetsein auf es in spezifischer Weise. Diese Züge versteht der christliche Glaube als seine eigenen, weil er sich selbst als ein spezifischer Glaube unter anderen Möglichkeiten des Hinnehmens von geschichtlich (bildungsgeschichtlich) gewordenen Bestimmtheiten der unmittelbaren Selbsterschlossenheit des Menschen versteht und der mit ihnen gegebenen Zumutung des Verstehens von Wirklichkeit im ganzen. 2.2. Aus demselben Grund kann der christliche Glaube auch nicht anders, als sein eigenes Verstehen von Realität als solcher in ihr in derjenigen einheitlichen Sphäre des Menschenmöglichen angesiedelt zu sehen, deren überdauernde Bedingungen ihm durch die von ihm hingenommenen bildungsgeschichtlichen Bestimmtheit der unmittelbaren Selbsterschlossen-heit auf eine spezifische Weise zu verstehen gegeben sind. Das aber heißt erstens: Der christliche Glaube sieht sein spezifisches

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Verstehen all der genannten und thematisierten allgemeinen Züge des Menschseins bezogen auf das Ganze des außerhalb seiner, aber in derselben Welt realen Verstehens dieser Züge des Menschseins. Es heißt zweitens: Der Glaube weiß, dass der Glaubende (wie exemplarisch Paulus) jeweils selber erst im Laufe seiner persönlichen Bildungsgeschichte, die in die Bildungsgeschichte der Gattung eingebettet und durch sie notwendig bedingt ist, zu derjenigen Bestimmtheit seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit und zu dem durch sie ermöglichten Evidentwerden der Wahrheit des Evangeliums befördert ist, die er als sichterweiternde Selbstdurchsetzung des heilszielstrebigen Wollens und Wirkens des dreieinigen Gottes im christlichen Glauben empfängt und hinnimmt. Und es heißt drittens: Der christliche Glaube nimmt diese dem christlich Glaubenden widerfahrene Bestimmtheit seiner unmittelbaren Selbsterschlossenheit als die Ermöglichung des konkreten, innergeschichtlich unüberholbaren Verstehens von Wirklichkeit im ganzen hin: Er versteht alle diese Züge aus der überdauernden Bedingung ihres Realseins, die für ihn in nichts anderem besteht als in der Selbstdurchsetzung des heilszielstrebigen Wollens und Wirkens des dreieinigen Gottes, in dessen schöpferischem Rechtfertigungshandeln. Hieraus erklärt sich, dass jedes Kapitel in Teil C mit einem Blick auf die sich nicht auf dem Boden des christlichen Glaubens bewegenden Verstehensweisen einsetzt und dann ihnen gegenüber und über sie hinaus die Verstehensweise auf dem Boden des Glaubens skizziert. 2.3. Letzteres geschieht jeweils durch den Aufweis, dass das Verstehen auf dem Boden des christlichen Glaubens die thematisierten allgemeinen (allen möglichen Glaubensweisen gemeinsamen) Züge der geschichtlichen Realität des Glaubens als begründet in der trinitarischen Durchsetzung des heilszielstrebigen Wollens und Wirkens des dreieinigen Gottes versteht, also als begründet im Rechtfertigungshandeln Gottes: a) Das Realsein dieser unserer Welt – bezeichnet durch die Wendung „es gibt diese unsere Welt“ – versteht der christliche Glaube als deren „von jenseits ihrer selbst her“ Realseingelassenwerden. Es ist unsere Welt, die derart von jenseits ihrer selbst her realseingelassen wird. Ihr Realseingelassenwerden schließt also ein: das Realseingelassenwerden der Lebensgegenwart von Personen, durch die das von jenseits des Weltgeschehens her entspringende und zielgerichtete Realseingelassenwerden unserer Welt von innen heraus mitbestimmt wird. Das Realseingelassenwerden unserer Welt von jenseits ihrer selbst ist also derjenige „Ereigniszusammenhang“, innerhalb dessen der „Handlungszusammenhang“ – der Zusammenhang des Handelns innerweltlicher Personen, also

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des Handelns von uns und unseresgleichen – mitbestimmend wirksam ist. Somit ist die überdauernde Bedingung des Geschehens dieser unserer Welt: die kontinuierliche Wechselwirkung zwischen „Ereigniszusammenhang“ und „Handlungszusammenhang“. Freilich die radikal asymmetrische Wechselwirkung, in der der Ereigniszusammenhang den Handlungszusammenhang nur als einen solchen real sein lässt, dessen Wirken und Werke dem Ursprung und Ziel des Ereigniszusammenhanges zwar entsprechen oder widersprechen können, jedoch letzteres lediglich so, dass sich der Ereigniszusammenhang dann gegen sie durchsetzt – freilich eben derjenige Ereigniszusammenhang, dessen ursprüngliche Eigenart es ist, eben den Handlungszusammenhang zu gewähren (real sein zu lassen); so dass gilt: Im Realseingelassenwerden „der Welt ist das Gericht der Werke (verstehe: der innerweltlichen Personen) zugleich das Geschenk des Lebens“.40 Das heißt: Der christliche Glaube versteht die Wendung „es gibt …“ als Äquivalent der Wendung „der Schöpfer gibt …“; und zwar eben in der Weise, dass dieses Schçpfungshandeln, das den „Ereigniszusammenhang“ sein lässt, schon in sich selbst Gerechtigkeit schaffendes Handeln, Rechtfertigungshandeln ist.41 b) Dieses Rechtfertigungshandeln des Schöpfers vollzieht sich – wie am Beispiel des Paulus sichtbar – als sichterweiternde Selbstdurchsetzung des heilszielstrebigen Wollens und Wirkens des dreieinigen Gottes an der unmittelbaren Selbsterschlossenheit (Selbstgefühl) der geschaffenen Person (II Kor 4,6), also an ihrem Selbstverhältnis.42 Folglich vollzieht es sich als Befreiung der geschaffenen Person zum adäquaten Sichselbstverstehen in der Gesamtheit ihrer Existenzdimensionen: Zum Verstehen des Schöpfers als des Ursprungs der Gerechtigkeit, zum Verstehen ihrer Selbst als des Ursprungs der Sünde, zum Verstehen der Welt (des Möglichkeitsraum des menschlichen, leibhaften Personseins, der damit 40 RWvcG 75. 41 RWvcG 75 f. Aus dem Aufbau des Kapitels sollte klar sein, dass es eben die in Ziffer 3.2. beschriebene Gerechtigkeit schaffende Dynamik des Weltgeschehens insgesamt und keine andere ist, die dann abschließend in 3.3. als Schöpfung verstanden wird, so dass Schöpfung selbst eben nichts anderes ist als Rechtfertigungshandeln. Das Rechfertigungshandeln des dreieinigen Schöpfers kommt zu seinem Schöpfungshandeln nicht irgendwie nachträglich hinzu, sondern als Realisierung seines ewigen Wollens (seines Logos) ist die ratio des Schöpfungshandelns selbst schon: Rechtfertigung des geschaffene Ebenbildes des Schöpfers, Realisierung von vollendeter und d. h. versöhnter Gemeinschaft des Schöpfers mit seinem geschaffenen Ebenbild. 42 RWvcG 93 ff.

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ipso facto der Raum aller möglichen menschlichen Umweltverhältnisse ist) als Raum ihres verantwortlichen Wirkens. Dieses Befreitsein der innerweltlichen Person zum adäquaten Sichselbstverstehen ist die Gottebenbildlichkeit des neuen, des zurechtgebrachten, Menschen, also das Werk von Gottes Rechtfertigungshandeln, das den geschaffenen – und das heißt den ursprünglich gewollten – Charakter des innerweltlichen Personseins als geschaffenes Ebenbild des schaffenden Personseins gegen dessen Selbstperversion erhält und durchsetzt – wobei dieses Erhalten und Durchsetzen der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit des Menschen gegen dessen Selbstmissverständnis nicht etwa zu Gottes Schöpfungshandeln sekundär hinzutritt (etwa als Reparatur des ungewollten Zwischenfalls der Sünde), sondern das ursprünglich Gewollte, eben die Realisierung der ursprünglich gewollten Realität des Menschseins als desjenigen Realseins-im-Werden ist, das ursprünglich zum Gerechtfertigtwerden und zum Empfang dieses Geschehens im Glauben bestimmt ist.43 c) Die Gottesherrschaft schafft die Gerechtigkeit der Menschen vor Gott und den Frieden der Menschen mit Gott, indem sie sich sichterweiternd am Herzen (an der unmittelbaren Selbsterschlossenheit der Menschen) durchsetzt und sie damit zum adäquaten Sichselbstverstehen befreit. Eben dies widerfährt dem wesentlich leibhaft, wesentlich umweltbezogen und das heißt wesentlich im Zusammenleben, in Gemeinschaft lebenden Menschen. Leben in Gemeinschaft, in einem Kommunikationszusammenhang, ist die notwendige Bedingung für die das adäquate Sichselbstverstehen des Menschen ermöglichende Sichterweiterung seines Herzens, in der die Gottesherrschaft sich an ihm durchsetzt. Näherhin ist diese notwendige Bedingung aber nicht nur das Leben in Gemeinschaft überhaupt, sondern das Leben in einer solchen Gemeinschaft, die sich innerhalb von Gemeinschaft überhaupt als Glaubensgemeinschaft unterscheidet, also von anderen Kommunikationszusammenhängen durch ihren spezifischen Kommunikationsgegenstand unterschieden ist. Dieser besondere Kommunikationsgegenstand ist: das Verständnis von Wirklichkeit im ganzen, das Verständnis der überdauernden Bedingungen alles Werdens in der Welt des Menschen (also in innerweltlicher personaler Lebensgegenwart) und der Welt des Menschen (also der innerweltlichen personalen Lebensgegenwart) selbst, wie sie durch die jeweils bildungsgeschichtlich erreichte Bestimmtheit der un43 RWvcG 97 – 99.

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mittelbaren Selbsterschlossenheit der innerweltlicher Personen diesen zu verstehen gegeben sind. Auch der christliche Glaube versteht dieses notwendige Bedingtsein der Selbstdurchsetzung des Schöpferwillens an allen Einzelnen durch deren Leben in je einer Glaubensgemeinschaft innerhalb von Gemeinschaft überhaupt als eine universale, überdauernde Bedingung des Weltgeschehens. Und zwar versteht er auch diese überdauernde Bedingung als eine solche, die durch das Wollen und Wirken des Schöpfers selbst geschaffen ist und ihm als Instrument seiner Selbstdurchsetzung, also seines Rechtfertigungshandelns, dient. Indem der christliche Glaube dies versteht, versteht er, dass es gerade auch für ihn selber gilt: Auch ihn gibt es nur in einer Gemeinschaft dieses Glaubens, deren spezifischer Kommunikationsgegenstand eben dieser Glaube ist.44 Und dieser Glaube versteht die Gemeinschaft, in der er lebt, das ist: die Gemeinschaft in der dieser Glaube kommuniziert wird, die Kirche, als das Instrument, das von dem diesem Glauben zu verstehen gegebenen Wollen und Wirken des Schöpfers (nämlich seinem Wollen Wirken von Gerechtigkeit vor Gott und Frieden mit ihm) geschaffen ist und von diesem Wollen und Wirken des Schöpfers auch gebraucht wird, um sich – Gerechtigkeit vor Gott und Frieden mit ihm schaffend – am ganzen des menschlichen Zusammenlebens durchzusetzen.45 Der christliche Glaube versteht, dass die von ihm empfangene und hingenommene sichterweiternde Selbstdurchsetzung des schöpferischen Wollens und Wirkens von Gerechtigkeit und Frieden ipso facto auch die leibhafte Gemeinschaft schafft, die den Glauben, der dieses Geschehen empfängt und hinnimmt, kommuniziert; und er versteht, dass eben diese Gemeinschaft auch vom Schöpfer als das Werkzeug der Selbstdurchsetzung seines Rechtfertigungs- und Versöhnungshandeln in Gebrauch genommen wird. d) Der christliche Glaube empfängt die sichterweiternde Selbstdurchsetzung des auf Gerechtigkeit und Versöhnung zielenden Wollens und Wirkens des Schöpfers am Herzen (an der unmittelbaren Selbsterschlossenheit) des Glaubenden und nimmt sie hin – unter Verzicht auf alles eigene Wirken als Grund von Gerechtigkeit vor Gott und Frieden mit ihm. Indem jedoch der Glaubende diese erlittene sichterweiternde Selbstdurchsetzung von Gottes Rechtfertigungs- und Versöhnungshan44 RWvcG 116 ff. 45 RWvcG 129 ff. – Die Verheißung an das alte Gottesvolk geht über auf das – aus dem alten Gottesvolk stammende – neue Gottesvolk und wird auf diese Weise festgehalten.

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deln am eigenen Herzen einfach – unter Verzicht auf alles eigene Wirken als Grund von Gerechtigkeit und Frieden im Gottesverhältnis – hinnimmt, bernimmt er damit ipso facto auch die Zumutung eines neuen adäquaten aktiven Sichselbstverstehens, das zugleich ein Verstehen von Wirklichkeit im ganzen ist. Die Übernahme dieser Zumutung ist das „Fundament und der Grundakt“ des christlichen Ethos,46 der als solcher für alle weiteren Akte, die wesentlich zum christlichen Ethos gehören, grundlegend und als derart grundlegender auch von ihnen allen unterschieden ist. Diese weiteren Akte sind: einerseits die explizite Erfassung der durch die erlittene Sichterweiterung des Herzens zu verstehen gegebenen überdauernden Bedingungen des gesamten irreversiblen Weltgeschehens als des Orientierungshorizonts für alle Zielwahlen des Menschen (also als des Horizonts, aus dem heraus auch alle Normen, Gebote und Verbote für menschliches Handeln zu begründen sind); und dann andererseits die diesem Orientierungshorizont entsprechende aktive Meisterung der jeweiligen Herausforderungen der wechselnden Handlungssituationen. Und jene in der christlichen Ethik als zielwahlorientierender Horizont des christlichen Ethos explizit zu entfaltenden überdauernden Bedingungen des Weltgeschehens sind keine anderen als die vom christlichen Glauben empfangenen, keine anderen als die, die ihm durch die vom Glaubenden als Sichterweiterung seines Herzens erlittene Selbstdurchsetzung des Wollens und Wirkens des Schöpfers zu verstehen gegeben sind: nämlich der Rechtfertigungs- und Versöhnungswille des Schöpfers als Ursprung allen Weltgeschehens, durch den schon die Bestimmung von Welt und Mensch zur vollendeten versöhnten Gemeinschaft mit ihrem Schöpfer festgelegt ist und der sich in allem Weltgeschehen zielstrebig realisiert.

46 Der Einspruch von Hermann Fischer gegen diese Charakterisierung des Glaubens (Fischer, Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 2002, 243 f.) übersieht, dass sie nur eine Implikation des Glaubens als Hinnahme des Rechtfertigungshandeln des Schöpfers unter Verzicht auf eigene Werke als Grund von Gerechtigkeit vor Gott und Frieden mit ihm ist. Er übersieht zugleich die Differenz dieses Aktes von allen Akten des menschlichen Wirkens (operari). Und er übersieht auch die Polysemie in Luthers Gebrauch von „Glaube“: sowohl zur Bezeichnung der in der Tat allein von Gott – eben durch Sichterweiterung des Herzens des Glaubenden – geschaffenen Evidenz des Wahrseins des Lebenszeugnisses Jesu (des Evangeliums), als auch für das auf alles eigene Wirken verzichtende Hinnehmen dieser evidenten Wahrheit durch den Glaubenden, für sein Ja (wie es exemplarisch von Maria – und nicht von Gott! – gesprochen wird).

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e) Die Lebensgegenwart des christlichen Glaubens ist also die Lebensgegenwart von innerweltlichen Personen, die durch das Erleiden und Hinnehmen der sichterweiternden Selbstdurchsetzung des Rechtfertigungs- und Versöhnungshandelns des Schöpfers an ihnen zum adäquaten Sichselbstverstehen befreit sind (C 2). Sie ist zugleich die soziale Lebensgegenwart des Zusammenlebens solcher Personen mit Glaubenden und Nichtglaubenden (C3). Und sie ist dieses Zusammenleben immer in der Weise der aktiven Annahme und Erfüllung der im Glauben hingenommenen Zumutung des adäquaten Sichselbstverstehens, das heißt des adäquaten Weltumgangs in der Interaktion mit anderen Glaubenden und Nichtglaubenden, also in der Weise des christlichen Ethos (C 4). Somit aber ist die Lebensgegenwart des christlichen Glaubens ipso facto geschichtliche Lebensgegenwart, Lebensgegenwart in Geschichte: Lebensgegenwart, innerhalb der alle vergangenen und alle zukünftigen Generationen übergreifenden Lebensgegenwart der Gattung. In diesem Ganzen der Lebensgegenwart der Gattung existiert der Glaube jeweils in der eigenen Geschichte des Glaubenden, unterschieden von anderen Geschichten und auf sie bezogen. Als seine eigene Geschichte ist dem Glaubenden nicht nur seine persönliche Bildungsgeschichte, die zur Bildungsgestalt seiner persönlichen Lebensgegenwart geführt hat, präsent, sondern auch die Geschichte der Gemeinschaft, innerhalb deren und durch die bedingt seine persönliche Bildungsgeschichte verlaufen ist, sowie wiederum die Geschichte weiterer Gemeinschaften, nämlich derjenigen, von denen nicht zu bestreiten ist, dass sie die Geschichte der seine persönliche Geschichte bedingenden Gemeinschaft faktisch bedingt haben – auch wenn dieses Bedingtsein vielfach vermittelt und im Detail nicht durchschaut ist. Sowohl diese eigene Geschichte der Glaubenden als auch alle anderen Geschichten im Gattungsleben stehen gemeinsam unter den überdauernden Bedingungen des Gattungslebens, die durch den einen Ereigniszusammenhang des einen Weltgeschehens überhaupt gegeben sind. Und als dessen überdauernde Bedingung, also als die überdauernde Bedingung dieses Ereigniszusammenhangs, ist dem christlichen Glauben zu verstehen gegeben: das Wollen und Wirken des Schöpfers, das auf vollendete und versöhnte Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild aus ist, also auf dessen Gerechtigkeit vor und dessen Frieden mit Gott. Damit ist für den Glaubenden erstens gewiss, dass unter der überdauernden Bedingung des ewigen Gemeinschaftswillens des Schöpfers und seiner bildenden, trugüberwindenden, sicherweiternden, eben rechtfertigenden und versöhnenden Selbstdurchsetzung jedenfalls das Ganze seiner Bildungsgeschichte steht. Aber nicht nur das. Vielmehr

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schließt das christliche Verständnis dieses Schöpferwillens als der überdauernden Bedingung allen möglichen Geschehens in der Welt des Menschen und des Geschehens dieser Welt selbst die unabweisbare Erwartung ein, dass der Schöpfer die eigene Geschichte des Glaubens als das Werkzeug der bildenden, trugüberwindenden, sichterweiternden und dadurch rechtfertigenden Selbstdurchsetzung seines Gemeinschaftswillens an allen Geschichten in der Menschwelt und damit an dieser selbst gebrauchen wird.47 f) Weil dem christlichen Glauben als die überdauernde Bedingung allen Werdens in unserer Welt und des Werdens dieser Welt selbst der Wille des Schöpfers zu vollendeter und damit auch versöhnter Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild, der sich in seinem Gerechtigkeit schaffenden Wirken realisiert, zu verstehen gegeben ist, deshalb ist ihm mit dem Ursprung des Weltgeschehens und seinem Richtungssinn auch sein Ziel zu verstehen gegeben, mit dessen Erreichung es vollendet, also jedenfalls auch als Bewegung hin zu diesem Ziel zuende ist. Die dem christlichen Glauben zu verstehen gegebene „Treue Gottes ist die (notwendige und hinreichende) Bedingung für die Möglichkeit eschatologischer Aussagen.“48 Und diese Aussagen können nur besagen, dass der Schöpfer das, was er durch sein schöpferisches Wirken realisieren will auch tatsächlich realisiert: eben die vollendete, und das heißt wesentlich: die – durch seine bildende, nämlich trugüberwindende und sichterweiternde Selbstdurchsetzung an seinem geschaffenen Ebenbild – versöhnte Gemeinschaft mit seinem geschaffenen Ebenbild. Das aber heißt: Die vom Schöpfer auf dem Weg seiner bildenden, trugüberwindenden sichterweiternden Selbstdurchsetzung am Menschen geschaffene versöhnte Gemeinschaft des Menschen mit Gott wird auch „bleiben.“49 Und die Frage, in welchem Umfang der Schöpfer solche versöhnte, zum „Bleiben“ bestimmte Gemeinschaft von Menschen mit 47 Diese Erwartung schließt das Eingeständnis ein, dass die trugüberwindende, sichterweiternde Selbstdurchsetzung des Schöpferwillens noch nicht an allen Geschichten in der Welt der Menschen erfolgt ist. Das ist zutreffend in RWvcG 196 ausgesprochen. Es hätte schon dort auch die hier ausgesprochene Erwartung ausgesprochen werden müssen: Die ursprüngliche Richtung auf das Offenbarwerden der Wahrheit über Ursprung und Ziel der Welt im Gemeinschafts-, Versöhnungs- und Vollendungswirken des Schöpfers, wie sie schon an der eigenen Geschichte des Glaubens manifest ist, wird als die Richtung aller menschlichen Geschichte manifest werden. 48 RWvcG 213. 49 RWvcG 218.

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ihm schafft, wird man nicht ohne Rücksicht auf die Tatsache beantworten können, dass dieser Wille zur Versöhnung der Wille des Schöpfers aller Welt ist und dass diese vom Schöpfer gewollte Versöhnung realisiert wird durch die Inkarnation seines Logos, des Logos des Schçpfers, also durch ein innerweltliches Geschehen, das dem christlichen Glauben als Versöhnung der Welt zu verstehen gegeben ist.

5 Die Funktion des christlichen Wirklichkeitsverständnisses Es bleibt dem Jubilar – und allen Lesern – überlassen, zu prüfen und zu beurteilen, ob dieser Rückblick zugleich eine Reinterpretation des Buches von 1978 ist. Wenn man sich aber an das Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens im hier nachgezeichneten Sinne hält, dann wird man seine schlechthin umfassende Orientierungskraft für den gesamten Umgang des Glaubens mit allem Realem nicht leugnen können, und zwar sowohl für den erkennenden als auch für den gestaltenden Umgang mit ihm. Das erkennende Verstehen des uns zu verstehen gegebenen Realen ist – wie oben ausführlicher in Erinnerung gerufen – in allen seinen möglichen Formen von kategorialen Annahmen über die überdauernden Bedingungen der verschiedenen Weisen des Werdens in unserer Welt und unserer Welt selbst geleitet. Für das erkennende Verstehen des Glaubens kommt als überdauernde Bedingung für das Werden in unserer Welt und für das Werden dieser unserer Welt selbst ausschließlich das in Betracht, was ihm durch die Selbstdurchsetzung des Gemeinschafts-, Versöhnungs- und Vollendungswillens des Schöpfers am Herzen des Glaubenden als diese überdauernde Bedingung zu verstehen gegeben ist: das Werden der Welt des Menschen als die Bundesgeschichte Gottes mit den Menschen; also als die vom Schöpfer selbst gewollte und gewirkte trugüberwindende Realisierung der versöhnten und vollendenden Gemeinschaft des geschaffenen Ebenbildes Gottes, des Menschen, mit seinem Schöpfer. Im Horizont dieser Kategorialität bewegt sich das gesamte erkennende Verstehen von Realem, das auf dem Boden des christlichen Glaubens steht. Diesem erkennenden Verstehen auf dem Boden des christlichen Glaubens ist nichts Reales entzogen – auch keine reale Erkenntnisbemühung, die sich in der Menschenwelt nicht auf dem Boden des christlichen Glaubens vollzieht. Alle menschlichen Bemühungen um erkennendes Verstehen von Realem können das Interesse des erkennenden Verstehens auf dem Boden des christlichen Glaubens auf sich

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ziehen, auch die nicht auf dem Boden dieses Glaubens stehenden. Sie können das erkennende Verstehen von Realem auf dem Boden des christlichen Glaubens fördern. Dies aber nur dann, wenn die Ergebnisse dieser Bemühungen nicht einfach übernommen, sondern die diese Bemühungen leitende Kategorialität im Horizont des Wirklichkeitsverständnisses des Glaubens kritisch gesichtet wird. Sobald eine Bemühung um erkennendes Verstehen von Realem eine Kategorialität ungeprüft von außen übernimmt, steht sie faktisch nicht mehr auf dem Boden des christlichen Glaubens Insbesondere ist es der Kardinalfehler jeder Bemühung um eine Lösung der Aufgabe, zu entfalten, was dem Glauben zu verstehen gegeben ist, wenn dafür Kategorialitäten ungeprüft und unverändert verwendet werden, die auf dem Boden von anderen Bestimmtheiten des unmittelbaren Selbstbewusstseins stehen als der christlichen. Diese Regel wird beim Zugriff der Theologie auf andere Wissenschaften und auf philosophische Entwürfe durchaus nicht immer beachtet. Die Theologie hat von anderen Wissenschaften zu lernen. Aber sie kann das deren Arbeit zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis nicht einfach übernehmen, sondern hat es am Maßstab des Wirklichkeitsverständnisses des christlichen Glaubens zu prüfen und ggf. zu korrigieren. Nur so bleibt sie imstande, ihrer nichtchristlichen Umwelt etwas Eigenes zu sagen. Auch für das gestaltende Verstehen von Realem, den sogenannten „praktischen Umgang“ mit ihm, gilt diese Leitfunktion des christlichen Wirklichkeitsverständnisses. Auf dem Boden des christlichen Glaubens hat sich der Umgang mit Realem ausschließlich am Wirklichkeitsverständnis dieses Glaubens zu orientieren, insbesondere am Verständnis der Weltgeschehens als dem Geschehen des Bundes des schaffenden Personseins mit dem geschaffenen. Menschliches Handeln auf dem Boden des christlichen Glaubens – einschließlich des Handelns, das sich selbst auf menschliches Handeln und menschliche Handlungszusammenhänge richtet – geht fehl, wenn es sich nicht an dieser christlichen Sicht auf die asymmetrische cooperatio Dei et hominum orientiert, an der Sicht des Beschränktseins des menschlichen Wirkens auf den Bereich der Welt und des Umgriffenseins allen menschlichen Wirkens (auch des auf Welt beschränkten) durch das Wirken des Schöpfers, durch das dieser das Ziel seines Willens realisiert. Das gilt insbesondere für die Gemeinschaft des Glaubens, für die Kirche, selbst: Sie hat nicht nur das Evangelium – und das heißt: dessen Wirklichkeitsverständnis – zu verkündigen, sondern sich auch in ihrem Umgang mit sich selbst (etwa im Leitungshandeln) und mit der Welt im

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ganzen an diesem von ihr verkündigten Wirklichkeitsverständnis selbst zu orientieren. Die Befolgung dieser Regel ist eindrucksvoll am Umgang der römisch-katholischen Kirche mit sich selbst und mit der Welt seit dem Zweiten Vatikanum zu erkennen – hingegen nur weit weniger deutlich (um nur das mindeste zu sagen) an den evangelischen Reformaktivitäten des letzten halben Jahrhunderts.

Freude, die zum Herzen geht – Luthers theologische Grundannahmen in seinen Weihnachtspredigten Sibylle Rolf 1 Vorbemerkungen Luthers Theologie und das zugrundeliegende Wirklichkeitsverständnis sind in den letzten Jahren eingehend untersucht worden.1 Auch aus der Feder des Jubilars sind wichtige Texte zu der Frage entstanden, wie sich Luthers Verständnis der Wirklichkeit von Mensch und Gott vor allem seiner Lehre von der Rechtfertigung folgend angemessen ausdrücken lässt.2 Eine Analyse von Luthers Wirklichkeitsverständnis ist deswegen von besonderer Relevanz, weil diese theologische Konzeption aufgrund der erfahrungsgesättigten Sprache Luthers in der Lage sein könnte, auch gegenwärtig – unter veränderten Wirklichkeitsbedingungen im Gegenüber zur Reformationszeit – „zum Herzen zu sprechen“: auch wenn die Sprache sich ändert, sind Luthers grundlegende Annahmen zur Wirklichkeit von Mensch und Gott weiterhin insofern bedeutsam, als sie auch gegenwärtig Menschen helfen können, die Wirklichkeit, sich selbst 1

2

Vgl. als Initialzündung: Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, oder die Arbeiten von Gerhard Ebeling, vgl. etwa: Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 52006, oder Ders., Lutherstudien, 3 Bände, Tübingen 1971 – 1989. Dann aber auch: Eilert Herms, Luthers Auslegung des dritten Artikels, Tübingen 1987; Rüdiger Gebhardt, Heil als Kommunikationsgeschehen. Analysen zu dem in Luthers Rechtfertigungslehre impliziten Wirklichkeitsverständnis (MThS 69) Marburg 2002; Sibylle Rolf, Zum Herzen sprechen. Eine Studie zum imputativen Aspekt in Martin Luthers Rechtfertigungslehre und zu seinen Konsequenzen für die Predigt des Evangeliums (ASTh 1) Leipzig 2008. Siehe etwa Wilfried Hrle, Der Glaube als Gottes- und/oder Menschenwerk in der Theologie Martin Luthers, in: Ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, 107 – 144; Ders., Rechtfertigung vor Gott und vor den Menschen in Luthers Disputationen aus den Jahren 1535 – 37, in: Menschsein in Beziehungen, a.a.O., 21 – 37.

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und Gott besser zu verstehen. Darum hat eine Beschäftigung mit Luthers Rechtfertigungslehre keinen musealen, konservierenden, sondern einen gegenwartsrelevanten Anspruch. Die folgenden Ausführungen wollen Luthers Verständnis der Wirklichkeit des Menschen vor Gott in einer Textgattung untersuchen, in denen der Reformator eine andere Sprache verwendet als in seinen akademischen Äußerungen wie etwa seinen Disputationen oder Vorlesungen. Sie wenden sich Luthers Predigten zu, und zwar speziell drei ausgewählten Weihnachtspredigten. In seinen Predigten macht der Reformator in elementarer Sprache deutlich, dass für das Geschehen der Rechtfertigung alles an der persönlichen Aneignung durch den Menschen hängt: glaubst du, so hast du.3 Wird das Christusgeschehen nicht mit dem Herzen ergriffen und existentiell nachvollzogen, also geglaubt, so ist Christus für diesen Menschen weder geboren noch gestorben. Diese glaubende Aneignung des Evangeliums versuchen die Predigten zu erwirken – immer natürlich unter dem Vorbehalt des göttlichen Wirkens, ubi et quando visum est Deo (CA V). Ich wende mich Weihnachtspredigten zu,4 weil in ihnen die inkarnatorische Orientierung von Luthers Theologie besonders zum Ausdruck kommt. Dass Gott Mensch wurde „dir Mensch zugute“ (EG 36,2), ist für den Reformator das zentrale Theologumenon, das keineswegs ausschließlich, aber besonders anschaulich im Evangelium zu Weihnachten zu Gehör kommt. In seinen Predigten sind Luthers christologisches Verständnis ebenso wie seine anthropologischen und theologischen Grundannahmen vorausgesetzt. Im Folgenden sollen zunächst drei Predigten Luthers nachgezeichnet werden (2). Ich versuche anschließend eine dogmatische 3 4

So Luther in der Freiheitsschrift (1520), WA 7, 24,13. In den Weihnachtspredigten kommt die Rechtfertigungslehre auf besonders anschauliche und anrührende Weise zur Sprache, was mich selbst auch dazu bewegt hat, das Geschehen der imputatio, also der göttlichen Zurechnung der Gerechtigkeit zugunsten des Menschen, sowohl an Luthers gelehrten Aussagen als auch an seinen Predigten um Weihnachten herum zu untersuchen. Vgl. Rolf, Zum Herzen sprechen (s. o. Anm. 1). Dabei habe ich mich von dem Gedanken, diese Predigten selbst herauszugeben und einem größeren Publikum zugänglich zu machen, den Wilfried Härle immer wieder an mich herangetragen hat, noch nicht komplett verabschiedet. Allerdings hat Luther sich in seinen Predigten zu Weihnachten auch immer wieder wiederholt, so dass eine Herausgabe der Predigten möglicherweise Redundanzen enthielte. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich darüber hinaus einige grundsätzliche Überlegungen hinsichtlich der Dynamik der Predigten und Luthers Umgang mit dem Weihnachtsevangelium für das gegenwärtige Predigen für verheißungsvoller.

Luthers theologische Grundannahmen in seinen Weihnachtspredigten

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Zusammenfassung zu geben (3), bevor einige Bemerkungen zur Weihnachtspredigt der Gegenwart den Text abschließen (4).

2 „Euch ist heute der Heiland geboren“: Luthers Weihnachtspredigt als Verschränkung von menschlicher und göttlicher Zeit In seinen Predigten zu Weihnachten, von denen er seit der Frühzeit in praktisch jedem Jahr mindestens eine – in etwa der Hälfte der Fälle über Lukas 2,1 – 20 – gehalten hat, wird das Ganze von Luthers Theologie sichtbar: „All the great themes of Luther’s theology – incarnation, justification, the ‘happy exchange’, sacraments, the theology of the cross – are present in these sermons.“5 Offenbar beschreibt das Weihnachtsevangelium für den Reformator das Ganze des Glaubens und der Theologie. Ich werde in den folgenden Ausführungen drei Weihnachtspredigten Luthers aus unterschiedlichen Zeitpunkten seiner Wirksamkeit untersuchen. Bei einer solchen Analyse könnte nach einer theologischen und homiletischen Entwicklung im Predigen des Reformators gefragt werden. Eine solche Entwicklung zu untersuchen wäre reizvoll, würde aber eine breitere Untersuchungsbasis erfordern. Demgegenüber steht in diesem Aufsatz eher die Frage im Fokus, was das über die zeitliche Entwicklung bestehende Konstante in der Weihnachtspredigt Luthers darstellt und inwiefern dieses Konstante auf Luthers Grundannahmen hinsichtlich seines christologischen, anthropologischen und theologischen Verständnisses hinweist. Im Anschluss an die untersuchten Predigten gliedern sich die Ausführungen in die folgenden Aspekte: das menschliche Herz als Ort der Geburt Christi (2.1), Freude als angemessene Reaktion auf die Inkarnation Gottes (2.2) und das liebevolle Werben Luthers um die affektive Zustimmung seine Hörer (2.3).

5

John T. Pless, Learning to Preach in Advent and Christmas from Luther, in: CTQ 62 (1998), 269 – 286, 269.

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2.1 Das Herz als Ort der Geburt Christi In einer frühen Predigt nach seiner reformatorischen Entdeckung6 unterscheidet Luther zwei unterschiedliche Arten des menschlichen Hörens einer Predigt und damit zwei Möglichkeiten, auf das Evangelium zu reagieren. „Es gibt zweierlei Menschen, die diese gnadenreiche Geburt Christi lesen, hören oder bedenken. Zum ersten bedenken sie etliche also, dass das Herz es nicht fühlet oder davon bewegt wird, sondern daran vorübergeht, gleich wie ein Gast an einem Wirtshaus vorüber geht, von welchen der Prophet Hos 10 sagt: ‘Transire fecit Samaria regem suum quasi spumam super faciem aque’ – ‘Samaria hat ihren König vorübergehen lassen wie eine Blase auf dem Wasser’. Diese haben nicht geschmeckt und gekostet, was Christus sei. Diese Menschen sind auch in der Mehrheit. Es wäre nicht möglich, so das Herz sollte vollkommen begreifen, welch große Gnade und Güte uns durch das Kind gegeben ist, dass wir möchten lebendig bleiben, doch muss es zuletzt dahin kommen: diesen Menschen ist Christus noch nicht geboren. Darum sollen wir denken, dass wir vom andern Haufen seien, dass wir bewegt werden und empfinden einen Wandel in unsern Herzen nach dieser Bedenkung. Wenn es an das Herz stößt, dann mag es Nutz schaffen und Frucht bringen. Das ist das rechte Bedenken dieser Geburt, welches allein durch den Glauben geschehen muss“.7

Aus der zunächst fast banal klingenden Feststellung, es gebe Menschen, bei denen das Evangelium Glauben findet, und – eine deutlich größere Gruppe von – Menschen, die „daran vorübergehen“, zieht Luther in seiner Predigt eine dramatische Konsequenz: das in der Vergangenheit liegende Faktum der Geburt Jesu Christi ist für einen Menschen solange unbedeutsam, wie er die Tragweite dieses Geschehens für sein eigenes Leben nicht versteht und sich aneignet. Die Notwendigkeit einer An6

7

Mit dem Luther-Buch von Volker Leppin ist die Frage nach der reformatorischen Entdeckung noch einmal neu aufgerollt worden. Sie kann an dieser Stelle offen bleiben. Bewusst habe ich als Textgrundlage für diesen Aufsatz Predigten Luthers ausgewählt, die in jedem Fall nach der „reformatorischen Wende“ entstanden sind. Aus diesem Grund ist auch der Sermon von 1514 über Joh 1 (WA 1, 20 – 29) nicht in die Auswahl mit aufgenommen worden. Vgl. Volker Leppin, Martin Luther, Darmstadt 2006, 107 – 117. Aus dem Sermon von der Geburt Christi, 1520, WA 7, 188,2 – 17. Wie in allen Luther-Zitaten ist auch in diesem das Frühneuhochdeutsche dem heutigen Deutsch angeglichen. Die lateinisch-deutschen Mischzitate, die sich aus den Predigtmitschriften erklären, die meist in lateinischen Kürzeln vollzogen worden sind, sind ebenfalls in heutiges Deutsch übertragen. Dabei habe ich versucht, Luthers Sprachduktus und auch seine Wortwahl weitgehend beizubehalten.

Luthers theologische Grundannahmen in seinen Weihnachtspredigten

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eignung mit dem Ganzen der menschlichen Existenz liefert einen ersten Hinweis auf Luthers Grundverständnis des Glaubens, das sich auch im Zitat „glaubst du, so hast du“ ausgedrückt hatte. In Anknüpfung an Bernhard von Clairvaux macht Luther seiner Unterscheidung folgend im Weihnachtsgeschehen drei Wunder aus: „Sankt Bernhard sagt, dass in dieser Geburt drei große und merkliche Wunderzeichen geschehen sind. Das erste ist, dass Gott und Mensch ein Ding geworden sind, durch die Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur. Das andere, dass die, die geboren hat, Jungfrau geblieben ist und doch Milch getragen hat. Das dritte, dass hier das menschliche Herz und der Glaube in solchen Dingen haben mögen zusammen kommen und eins werden.“8

Das dreifache Wunder zu feiern, ist das Anliegen der Predigt und damit der Auslegung des Weihnachtsevangeliums. Während das erste Wunder, die Inkarnation Gottes, aber die Ermöglichung der beiden anderen Wunder bildet, liegt, der vorherigen Argumentationslinie folgend, das eigentlich Wunderbare des Weihnachtsevangeliums für Luther darin, dass das Herz „sich des Kindes annimmt“ und sich von der Freude über die Geburt Gottes erfüllen lässt. Denn hier erst kommt Christus nicht nur zur Welt, sondern als Retter in die Gegenwart des gegenwärtigen hörenden Menschen. Die einmalige Inkarnation Gottes setzt für Luther also offenbar ein dynamisches Geschehen frei, in dem sich eine immer wieder erfolgende Annahme im Glauben durch den Menschen der jeweiligen Gegenwart ereignet, mit der die Inkarnation für die persönliche Gegenwart verifiziert, also in ihrer Bedeutsamkeit anerkannt und geglaubt wird. In seiner Predigt präsentiert Luther Maria, die Mutter Jesu, als Vorbild für den gegenwärtig Hörenden, und zwar nicht deswegen, weil sie Christus leiblich geboren hat, sondern weil sie dem verkündigenden Engel glaubt und vertraut, also der Botschaft des Verkündigungsengels mit dem Ganzen ihrer Existenz zustimmt und sich darauf einlässt. Erst dieses Vertrauen in das Wirken Gottes hat die beiden anderen Wunder – die Wunder der Vereinigung von Gott und Mensch und die Jungfrauengeburt – für Maria möglich und wirklich gemacht. In dieser für ihre Gegenwart wirksamen Annahme der Inkarnation Gottes pro se wird Maria für Luthers Zeitgenossen zum Vorbild: Bevor sie das Kind unter dem Herzen trug, trug Maria es schon im Herzen. „Dieses Wunderzeichen muss in uns ohne Unterlass erneuert werden, ein jeglicher muss sich des 8

WA 7, 188,18 – 189,2.

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Kindes annehmen, dass er sage und glaube, das Kind sei sein, wie die Jungfrau tat, da sie es empfangen hat. Ein jeglicher muss tun, als sei es ihm allein geboren. Wer sich des Kindes nicht also annimmt, an dem ist diese Geburt ganz verloren.“9 Sich des inkarnierten Gottes anzunehmen und ihm zu glauben und zu vertrauen, bezeichnet den Vorgang, mit dem der hörende Mensch sich die Geburt Christi für seine Gegenwart aneignet. Dieses sich im Glauben vollziehende Aneignungsgeschehen bildet die Geburt Christi in der jeweiligen Gegenwart ab. Findet es nicht statt, so hat für diesen Menschen letzten Endes auch die Geburt Christi selbst nicht stattgefunden: sie bleibt wirkungslos. Der Vorgang der Aneignung wiederum hat seinen Ort im Ganzen der menschlichen Existenz, also im Herzen. Für den Reformator ist das Herz die orientierende Mitte der Person. Im so verstandenen „Herzen“, nicht nur im emotionalen Befinden der Person findet das Vertrauen gegenüber der Weihnachtsbotschaft seinen Ort. Luther spricht in diesem Zusammenhang vom rechten „Affekt“,10 dessen Wirkung er geradezu kompromisslos raumgreifend versteht. Denn weil das Herz als Zentrum der menschlichen Person für Luther nur an einer Realität hängen11 kann, lässt der sich das Geburtsgeschehen Gottes aneignende Affekt keinen Platz für andere grundlegende Affekte. Soll das Herz sich an Christus hängen, so muss alles andere zuvor aus ihm entleert werden. Denn der Glaube an Christus bildet den grundlegenden Affekt des Menschen, der alle anderen Affekte orientiert und lenkt. Ebenso versteht Luther auch den Unglauben und den persönlichen Unwillen, sich auf das Weihnachtsevangelium einzulassen, als eine das ganze Herz, also die ganze Existenz betreffende Wirklichkeit. „Nun ist es wahr, dass es nicht möglich sein kann, dass sich das Herz dieses Kindes also annehme und schmeck seine Süßigkeit, es habe denn zuvor alle Freud ausgeschüttet außerhalb dessen, was nicht Christus ist. Das Herz muss gar ledig stehen gelassen und trostlos sein, und muss keine Hilfe suchen bei einer anderen Kreatur. Das Kind will es nicht leiden, dass sich das Herz eines anderen annimmt. Es will allein im Herzen wohnen, wir müssen lassen fahren alles, was vor unsern Augen gut ist: Wollust, Reizung zu Gütern, Ehre, unser Leben, Frömmigkeit, Weisheit und alle unsere Tugend. Wenn 9 WA 7, 189,24 – 29. 10 WA 7, 190,35 f.: „Das ist von dem Affekt und der Begier gesagt, wie man sich des Kindes soll annehmen im Herzen“. 11 So drückt es Luther in seinem Großen Katechismus (1529) aus: „Denn die zwei gehören zuhaufe, Glaube und Gott. Worauf du nu (sage ich) Dein Herz hängest und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ (BSLK 560,19 – 24.)

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wir das alles ganz übergeben und uns dies verzeihen, dann kommt das Kindlein. Es bringt aber mit sich alles, was unsern Adam tötet.“12

Sich des Weihnachtsevangeliums annehmen, ist für Luther darum letzten Endes ein Geschehen auf Leben und Tod, in dem sich, ähnlich wie in der Taufe, die Tötung des alten Adam und die Wiedergeburt des neuen Menschen ereignen. Weil alles auf dem Spiel steht, ist es für einen Menschen so schwer, sich mit dem ganzen Herzen auf die Weihnachtsbotschaft einzulassen. Denn das ganze Herz vom Vertrauen auf den inkarnierten Gott erfüllen zu lassen, erfordert von Menschen eine vollkommene Kehrtwende seiner Existenz. Die Totalität dieses Anspruchs erschwert in den Augen Luthers letztlich die Annahme des Weihnachtsevangeliums und erklärt, warum die Gruppe der Menschen, die am Weihnachtsevangelium vorüber gehen, deutlich größer ist als die der Glaubenden. „So müssen wir die alte Haut ganz abziehen lassen. Da hebt sich der Jammer, da will niemand hin; darum geschieht es, dass wir uns des Kindes nicht annehmen können.“13 Dass Menschen die Weihnachtsbotschaft für die Bestätigung ihres eigenen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses gebrauchen, indem sie etwa am Heiligen Abend vor allem deswegen einen christlichen Gottesdienst besuchen, weil sie sich „Weihnachtsstimmung“ erhoffen, ist also nicht nur eine „moderne“ Klage der kirchlichen Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Vielmehr offenbart sich nach reformatorischer Theologie darin die Selbstgefangenschaft des natürlichen Menschen, der nicht von ganzem Herzen glauben und vertrauen, sondern sein Herz lieber an andere Dinge als an den lebendigen Gott hängen will. Denn das Herz als Personzentrum ist für Luther kein neutraler Raum, sondern immer schon engagiert. Erst die Erkenntnis der Totalität des Anspruchs Gottes auf der einen und des menschlichen Unwillens dieser Totalität gegenüber auf der anderen Seite macht nach Luthers Einsicht für die Annahme der Weihnachtsbotschaft bereit.14 Zur Erkenntnis des Evangeliums15 wird ein 12 WA 7, 191,1 – 10. 13 WA 7, 191,11 – 13. 14 WA 7, 192,9 – 13: „Man muss eine ledige Seele dem Kinde bringen, darum ist niemand geschickter dazu denn welcher viel Not, Betrübnis und Jammer auf sich hat, und gehet nichts nach seinem Sinn, doch also, das er stille stehe und die Widerwärtigkeit gerne trage. Christus wird dir nimmer süß werden, du seist dir denn vorhin selber bitter.“ 15 Darum spielt für Luthers Verständnis der Weihnachtsbotschaft seine elementare Unterscheidung von Gesetz und Evangelium eine wesentliche Rolle. Unter der

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Mensch allererst geführt, wenn er sich selbst vorher „bitter“ geworden ist, wenn er also vor sich selbst erschreckt und dabei auch erkennt, dass sein Herz bisher nicht vollkommen Christus gehörte. „Christus wird dir nimmer süß werden, du seiest dir denn vorher selber bitter.“16 Wie aber kann Christus für einen hörenden Menschen „süß“ werden? Für die persönliche Aneignung des Evangeliums spielt in den Augen Luthers das verkündigende Wort eine maßgebliche Rolle: „Da wird diese Geburt angelegt, und kommt in ihren rechten Gebrauch, darum sie auch geschehen ist. Denn was hülfe es mir, wenn Christus gleich hundert mal geboren wäre von der Jungfrauen, wenn mir’s nicht gepredigt würde, dass es mir zugute geschehen wäre, dass auch mein sündiges Fleisch und armer Madensack dadurch rein und zu Ehren kommen sollte?“17 Der Nutzen der Predigt liegt in der Applikation des im Evangelium berichteten Geschehens auf die jeweilige Gegenwart. Dabei ist die Predigt notwendig, damit eine solche Applikation stattfinden kann. Eine solche, den Glauben ermöglichende Predigt, die das Herz orientiert, muss eine bestimmte Form haben. Denn das rechte Hören einer Predigt, dem eine existentielle Annahme des Gehörten folgt, ist kein intellektuelles oder akademisches Hören; es zieht weitreichende Konsequenzen nach sich, insofern es die Existenz eines Menschen grundlegend orientiert. Diese Orientierung kann aber auf dem Weg des Appells nicht gelingen, sondern nur wenn mit ihr positive Affekte und einladende Gefühle verbunden werden können. Es ist daher durchaus angemessen davon auszugehen, dass mit dem gepredigten Weihnachtsevangelium angenehme Gefühle verbunden werden sollen. Dabei geht es Luther nicht um die Erzeugung einer festlichen „Weihnachtsstimmung“, sondern darum, den Hörenden dazu anzuleiten, sich selbst in der Geschichte zu entdecken – und letzten Endes zur Freude über die gepredigte Botschaft zu gelangen.

Perspektive des Gesetzes deckt das Weihnachtsevangelium die Selbstgefangenschaft des ganzen Menschen auf, spricht ihn aber gleichzeitig unter der Perspektive des Evangeliums davon frei, weil Gott diese Selbstgefangenschaft von innen her – aus dem Herzen – beendet hat. 16 WA 7, 192,12 f. 17 WA 15, 783,19 – 23. Zur Wertschätzung des Menschlichen, die sich letztlich in Luthers Verständnis der Inkarnation ausdrückt, vgl. die Habilitationsschrift von: Anne Kfer, Inkarnation und Schöpfung. Schöpfungstheologische Voraussetzungen und Implikationen der Christologie bei Luther, Schleiermacher und Karl Barth (TBT 151), Berlin/New York 2010, v. a. 10 – 84.

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2.2 Freude als angemessene Reaktion auf die Inkarnation Gottes Wenn eine Predigt zu Herzen gehen soll, so ist die intendierte Reaktion des hörenden Menschen die Freude darüber, wie er selbst in dieser Geschichte steckt. Luther kommuniziert diese Einsicht in einer Predigt aus der Mitte seiner reformatorischen Wirksamkeit (1533): dass ein Mensch sich angesichts der Weihnachtsbotschaft freuen möge, so wie es die verkündigenden Engel den Hirten befehlen. Freude ist für Luther die angemessene Reaktion auf das Geschehen, dass Gott und Mensch sich im Weihnachtsgeschehen miteinander verbinden und sich Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit in seiner Inkarnation mitteilen. Soll ein Mensch sich mit ganzem Herzen auf das Paradox der Gottesgeburt einlassen, so muss ihm dieses Paradox als ein Grund zu echter Freude vor Augen gestellt werden. „Er [Gott] hat das Fleisch Mariae, ihren Leib und Seele voll Heiligen Geists gegossen, dass sie ohne Sünde wäre. Aber sonst hat er alle anderen natürlichen Eigenschaften angenommen: Essen, trinken, schlafen, frieren, scherzen. Alle natürlichen Affekte hat er gehabt, denn er ist in allen Dingen als Mensch erkannt worden. Er hat gegessen, getrunken, ist fröhlich und traurig gewesen, das heißt: er hat sich sehr herunter gelassen. Er hätte es wohl machen mögen, dass er ein Mensch geworden wäre, wie er es schon im Himmel gewesen ist, aber das wollte er nicht. Und das darum, dass er beweisete, was für eine Liebe er zu uns hätte, damit wir sagen können: wir haben einen Bruder im Himmel. Dessen wir uns können und sollen annehmen, und verflucht ist, der sich seiner nicht annimmt und der diese Freude nicht in sein Herz nimmt. Darum soll ein jeglich jung Herz diese Wohltat in sein Herz sich bilden, Gott dafür danken und sagen: Es hat nicht Not. Denn ich habe einen Bruder, der auch für mich ein Nutzen ist.“18

Dabei rückt der Reformator die Freude, zu der er seine Hörer und Hörerinnen bewegen will, überraschend nahe an Demut, nun allerdings nicht eine vom Prediger dem Menschen befohlene Demut. Christus selbst hat sich, wie Luther entfaltet, vielmehr gedemütigt: „Weil Christus sich selbst so gedemütigt hat, dass er all sein Ehr an das arm Fleisch gewandt hat, und geht daher die Majestät, die die Engel fürchten, demütigt sich als ein armer Bettler. Droben beten ihn die Engel an, hier dienet er uns, legt sich in unsern Schlamm. Dort sollen wir lernen ihm zu Lob und Ehr gern demütig sein (…) Ob wir etwas darum leiden, was schadet es? Er hat es doch, sage, mein Herr auch gelitten, nämlich Frost, Kummer, Not, Armut (…) Er hat kein Gefäß, Stuben, Windel, Kusse, Bette gehabt. Ist in eine Krippe für Kühe und Ochsen gelegt. Mein Vetter, Bruder vom Himmel 18 Aus einer Weihnachtspredigt im Jahr 1533, WA 37, 230,24 – 35.

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liegt da (…) Dass dich der Donner schlag, warum bin ich stolz? Will nichts leiden. Und der König der Ehre leidet um meinetwillen.“19

Um der Freude willen gereicht die Demut Jesu Christi dem Menschen nicht zum ethischen Vorbild für die gute Tat. Sondern Christi Demut geschieht dem Menschen zugute, der Gott nicht im Kleinen finden will, sondern nach dem Großen auslangt.20 Luthers anthropologische Grundannahme von der menschlichen Sünde, deretwegen ein Mensch nicht zu Gott kommen und sein ganzes Herz an Gott hängen will, steht bei seinen Predigten grundsätzlich im Hintergrund. Angesichts seines Sünderseins wäre Demut die einzig angemessene Art und Weise des Menschen, mit seinem Sein umzugehen und darin Gott die Ehre und Gott Recht zu geben. „Du bist ein Sünder und bist nicht wert, dass du auf einer Hechel sollst liegen, und liegst auf einem weichen Bette, und mein Herr liegt da in der Krippen“.21 Luther setzt die drastische narrative Schilderung des Paradox des Weihnachtsevangeliums aber dafür ein, dass ein Mensch über sich selbst lachen und darin zur Freude über das Weihnachtsgeschehen finden kann: aufgrund seiner Sünde, also seines Unwillens zur Demut, käme dem Hörenden der Platz im Stall zu. Nun aber hat Gott sich an diese Stelle begeben, die eigentlich dem Sünder zugekommen wäre: die Rollen sind vertauscht, die Demut, die eigentlich der Mensch hätte üben sollen, wird von Gott erfüllt. Luther könnte diese Einsicht zum Anlass nehmen, eine „demütigende“ Strafpredigt zu halten, in der er das menschliche Unvermögen und den Stolz aufzeigt, die einen Menschen an der Demut hindern. Er tut es nicht, sondern streicht die Bilder des Weihnachtsevangeliums vielmehr so humorvoll aus, dass ein Hörender zum Lachen über sich selbst und seine Vertauschung mit Gott finden kann. Dabei breitet Luther anstelle einer Lehrpredigt zu Sünde und Rechtfertigung das Geschehen der Inkarnation vor seinen Hörern und Hörerinnen narrativ aus und setzt gleichzeitig das Sündersein des Menschen voraus, das den Menschen daran hindert, sich zu demütigen und das ganze Herz an Gott zu verschenken – was erfordert hat, dass Gott selbst sich demütigte. „Wir störrischen, knorrigen Leute wollen stolz sein und 19 WA 37, 232,1 – 10. 20 So schon 1517 in der Disputation gegen scholastische Theologie: „Non potest homo naturaliter velle deum esse deum, Immo vellet se esse deum et deum non esse deum.“ – „Der Mensch kann naturgemäß nicht wollen, dass Gott Gott sei. Lieber wollte er, dass er selbst Gott sei und Gott nicht Gott sei.“ (WA 1, 225,1 f.) 21 WA 37, 232,10 – 12.

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sehen ihn in der großen Demut um unsertwillen (…) Also lernt, dass er Mensch geworden ist, durch den wir zu dieser Ehre kommen“.22 Indem Gott zum Diener wird, weil er sich selbst dazu macht, wird er den Menschen ähnlich und nimmt ihre Gestalt an. Genauer gesagt übernimmt er selbst die Aufgabe, die eigentlich die Menschen hätten erfüllen sollen – sich selbst (vor Gott) zu demütigen. Luther kann dabei das Geschehen des Weihnachtsevangeliums als Verwechslungsspiel begreifen, in dem nicht, wie sonst in Verwechslungsspielen üblich, Menschen miteinander verwechselt werden, sondern Gott und Mensch. Das Resultat ist dasselbe: Freude an der Verwechslung. Luther gebraucht die Mittel des Humors, um seine Hörenden zum Lachen zu bringen. Im Lachen wiederum steckt der erste Anfang der Glaubenserkenntnis und der Erkenntnisfreude.23 Das Wecken von Erkenntnisfreude nimmt ernst, dass Menschen nicht aufgrund eines Appells an das Evangelium glauben. Vielmehr muss eine Botschaft, an die ein Mensch sein Herz hängt, diesem angenehm gemacht werden, seine Affekte anrühren und nicht lediglich seinen Verstand. Mit der überraschenden Vertauschung von Freude und Demut führt Luther den hörenden Menschen in die Dankbarkeit und Freude darüber, was Gott ihm schenkt.24 Dankbarkeit entzündet sich am Weihnachtsgeschehen, wenn nicht das kleine Kind in der Krippe auf sentimentale Weise zu loben und anzubeten gesucht wird, sondern Gott selbst entdeckt wird, der sich dem Menschen schenkt. Über dieses Paradox zu lachen, kann schon der Beginn der Freude sein, die es einem Menschen ermöglicht, sein Herz für Gott zu öffnen und von Gott bestimmen zu lassen. Freude in den hörenden Menschen zu wecken, bildet ein Grundmotiv in Luthers Weihnachtspredigten. Diese Freude kann nicht befohlen werden, weswegen der Reformator in seinen Predigten um seine Hörer und Hörerinnen wirbt.

22 WA 37, 232,14 – 17. 23 Vgl. Johann Anselm Steiger, „Gott und Engel steigen nieder“. Das Paradox der Weihnacht bei Martin Luther, Andreas Gryphius und Catharina Regina von Greiffenberg, DPfBl 103, H. 11 (2003) 572 – 576. 24 Vgl. Albrecht Beutel, Verdanktes Evangelium. Das Leitmotiv in Luthers Predigtwerk, LuJ 74 (2007), 11 – 28.

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2.3 Das liebevolle Werben Luthers um seine Hörer als Kennzeichen seiner Predigt Im Laufe seines Predigens wird für Luther die Freude über die Weihnachtsbotschaft und ihre Aneignung immer wichtiger. Wo Menschen sich solche Freude versagen, ist für den Reformator der Teufel am Werk. Darum muss ein Prediger seinen Hörern und Hörerinnen möglichst eindringlich und vor allem einladend die Botschaft des Evangeliums verkündigen, um sie vom Teufel weg in die Arme ihres Heilands zu treiben. „Fröhlich werden über die Herrlichkeit Gottes? Es ist aber des alten Adams und Teufels Sicherheit, dass wir uns solcher Ehre nicht annehmen, lassen uns nicht zu Herzen gehen solche Ehre. Wie tut man doch in der Welt um Geld, Gut, Adel? Warum freu ich mich nicht hier von Herzen über die Herrlichkeit: Gott ist mein Bruder? Nun ist es nicht allein die Ehre, so über die Engel ist, sondern auch, was viel größer ist: Dass solch Werk geschieht um unser Heil: ‘Euch ist geboren der Heiland’. Dass Gott dies Werk hat gewirkt, das wäre herrlich genug, aber er soll dir nicht allein gleich sein, sondern auch dein Heiland. Denn du bist tot, unter dem Teufel. Davon will er dich erlösen. Wer will nun das glauben, dass Gott seinen Sohn hängt einem Weiblein an die Brust, lässt ihn einen Löffel Milch trinken, danach sterben, usw. Und solchs für dich? Sollt nicht ein Herz vor Freuden weinen? Das ist der Jammer und Herzleid, dass wir uns solchs Schatzes nicht annehmen“.25

Anstatt mit seinen Hörern und Hörerinnen aufgrund ihres Unglaubens ins Gericht zu gehen, wirbt Luther um sie, macht ihnen die Geburt Jesu angenehm und findet Worte, die bei den Hörenden eine affektiv-positive Wirkung entfalten sollen, so wie diese: „Aber schick dich doch drein, nimm der Marien Sohn von ihrem Arm und häng ihn an dein Herz und gib ihm einen Kuss und sprich: er sei dein. Denn er soll auch dein sein, mehr denn er Marien Sohn ist. Wo er nun bleibt, da bleibst du auch im Tod und Leben“.26 Es ist bemerkenswert, wie Luther im Laufe der Jahre immer mehr zu einem seelsorglichen Ton findet, mit seinen Hörern und Hörerinnen umzugehen, sie zwar einerseits auf ihre Situation vor Gott, ihre Sünde anzusprechen, ihnen aber andererseits die in Christus erschienene Güte Gottes so vor Augen zu malen, dass diese als ein schönes, erstrebens- und wünschenswertes Gut erscheint, in dem sie Ruhe und inneren Frieden finden. Genau dieser innere Friede bezeichnet dann für Luther auch den Indikator, ob ein Mensch wirklich Christ geworden ist. 25 Aus einer Predigt am Weihnachtstag 1544, WA 49, 633,21 – 33. 26 WA 49, 637,34 – 37.

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„Also wirst du prüfen, ob du ein Christ seiest oder nicht. Denn wo weder Fried noch Freud im Herzen folgen, da ist es eine Anzeigung, dass du nicht glaubest, sondern nur der Gewohnheit nach solche Historien gehöret hast.“27 Nach diesem zugegeben kurzen Überblick über einige wenige Predigten Luthers zu Weihnachten kann als Konstante die intendierte persönliche Aneignung des Evangeliums durch den Hörenden festgehalten werden. Mit dieser Ausrichtung seines Predigens stellt Luther den hörenden Menschen in die Vereinzelung der Glaubenssituation. Der Glaube an Christus individualisiert den Menschen zum unvertretbaren Einzelnen vor Gott. Ebenso wie niemand für den anderen sterben kann, wie Luther schon in seinen Invokavit-Predigten formuliert,28 kann auch niemand für den anderen glauben. Weihnachtsfreude ereignet sich im „vereinzelten“ Herzen, wenn das Weihnachtsevangelium persönlich geglaubt, also für sich persönlich angeeignet wird. Gleichwohl ist das Verhältnis von Gott und Mensch im Glauben nicht durch den Menschen herzustellen und allererst zu stiften. Es besteht seit der Inkarnation Gottes. Luther setzt das Weihnachtsgeschehen als Geschehen voraus und vergegenwärtigt es dem Hörer durch die predigende Darstellung.29 Er vertraut in diesem Zusammenhang auf die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, der als die selbstvergegenwärtigende Kraft Gottes den einzelnen hörenden Menschen mit dem Erzählten verspricht und gleichzeitig macht. Luthers Predigten zu Weihnachten haben darum nur eingeschränkt einen missionarischen Charakter. Auch wenn Luther die Hörenden affektiv in die Christusgeschichte hineinziehen will, will er sie doch nicht zum Glauben „bekehren“. Vielmehr setzt er Glauben voraus und spricht die Gemeinde als kirchliche Gemeinde an. Der Reformator nimmt damit eine Binnenperspektive auf den Glauben für den Glauben und für seine Gemeinde ein. Gleichzeitig verortet er alle Hörenden, auch sich selbst, als einen Hörer des Wortes, unter die Realität der Sünde. Darin liegt auch der Grund, dass der Einzelne als Einzelner sich das 27 WA 49, 638,8 – 10. 28 Siehe WA 10, III, 1,7 – 10: „Wir sind allesamt zu dem Tod gefordert und wird keiner für den andern sterben. Sondern ein jeglicher wird in eigner Person für sich mit dem Tod kämpfen. In die Ohren könnten wir wohl schreien, aber ein jeglicher muss für sich selber geschickt sein in der Zeit des Todes“. 29 Ähnlich verfährt auch Schleiermacher in seinem Predigen, indem er beschreibend vergegenwärtigt, was schon vorauszusetzen ist. Vgl. Isolde Karle, Den Glauben wahrscheinlich machen. Schleiermachers Homiletik kommunikationstheoretisch beobachtet, ZThK 99 (2002), 337.

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Weihnachtsevangelium aneignen und im Glauben als Einzelner zusprechen lassen soll, damit er als Einzelner im Glauben mit der Wirklichkeit des inkarnierten Gottes verschränkt wird, damit also diese Wirklichkeit auch für ihn gültig wird. Ähnlich wie in der Predigt von 1533 hält Luther auch 1544 fest, dass in der Geburt Christi ein erstaunliches Paradox gefeiert wird. Er macht das Paradox in dieser Predigt am Beispiel der Engel deutlich, die das Evangelium zuerst den Hirten verkündigen. Sie verkündigen Freude und loben Gott, obwohl Gott Mensch geworden ist und die „englische“ Natur davon keinen Nutzen hat: „Die Engel sind voller Freude, und das Werk gehet sie lauter nichts an. Sie hätten Ursache zu Hass und sauer sehen.“30 Die Botschaft der Engel aber verdeutlicht die weitreichende Freude für die hörenden Menschen und die Nähe Gottes im Menschlichen, für die Luther immer neue Bilder findet, um sie seine Hörern und Hörerinnen darzustellen. Zusammengefasst geht es Luther in seinen Weihnachtspredigten um die persönliche Aneignung des Heils durch den hörenden Menschen. „[Es geht nicht] allein um meine Ehre, sondern auch [mein] Heil.“31 Wo ein Mensch erkennt und bekennt, dass das Weihnachtsgeschehen ihm nicht nur zur Ehre gereicht, sondern auch zum (persönlichen) Heil, ist das Evangelium in seinem Herzen angekommen und Christus für ihn geboren. Die Freude darüber zu wecken, ist das Ziel von Luthers Weihnachtspredigten. Denn diese Freude ermöglicht es allererst, dass ein Mensch sein ganzes Herz an die göttliche Gnade hängt und darin von der Freude über die göttliche Gnade erfüllt wird. Luthers Hörer und Hörerinnen werden so letzten Endes Zeitgenossen des biblischen Textes.32 Dabei soll in dieser Vergleichzeitigung die Situation der Hörenden nicht biblizistisch dem biblischen Text angepasst werden, sondern durch die 30 WA 49, 634,21 f. 31 WA 49, 637,8. 32 Vgl. Beutel, Verdanktes Evangelium (s. o. Anm. 24), 22: „Indem Luther den biblischen Wortlaut nicht als ein unnahbares Gegenüber verehrt, sondern als eine für ihn und alle Christen offenstehende Textwelt bewohnt, trägt er zugleich die eigene homiletische Situation in diese biblische Textwelt ein. So macht er die eigene Welt auf die Textwelt hin transparent. Luthers Predigthörer werden zu Zeitgenossen des Täufers und Christi, weil das im biblischen Text traktierte Problem zugleich das eigene Glaubensproblem und infolgedessen die im Text gebotene Problemlösung zugleich von aktuell-situativer Gültigkeit ist, freilich nicht im Sinne einer naiven geschichtlichen Parallelisierung, sondern als die Wahrnehmung einer figuralen Entsprechung, die nur als Glaubensurteil aussagbar ist“.

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biblische Situation eine Erweiterung und Neudeutung erfahren: Im Hören des biblischen Textes kann ein Mensch sich im Predigen Luthers als Sünder und Gerechtfertigter vor Gott bekennen und erleben. Luthers Predigten im Allgemeinen und seine Weihnachtspredigten im Besonderen sind dabei von seinen grundlegenden Annahmen über die Wirklichkeit des Menschen vor Gott und der Wirklichkeit Gottes geprägt. Dieses Wirklichkeitsverständnis soll im nun folgenden Abschnitt skizziert werden.

3 Die Verschränkung der Zeiten und die Kommunikation der Eigenschaften. Luthers anthropologische und christologische Konzeption als Grundlegung seiner Weihnachtspredigt In der gegenwärtigen Homiletik33 ist in den letzten Jahren im Anschluss an die Philosophie Paul Ricoeurs die Verschränkung der Zeiten von erzähltem und gepredigtem Text und erlebter Zeit der Hörenden immer wieder als eine zentrale Aufgabe der Predigt herausgearbeitet worden.34 Auch schon in den Predigten Luthers findet man die Suche nach einer Gleichzeitigkeit von Textwelt und Lebenswelt in der Predigt: Der Reformator zieht seine Hörer narrativ in die biblische Geschichte hinein und ermöglicht durch die narrative Ausgestaltung der biblischen Tradition eine Neudeutung und ein vertieftes Verständnis der eigenen Lebenswirklichkeit. Gleichzeitig ist das Predigen Luthers ohne seine theologischen und anthropologischen Grundannahmen nicht zu verstehen, die letztlich in Luthers Verständnis der Christologie wurzeln. An den Predigten zu Weihnachten ist dieses Grundverständnis besonders gut zu entdecken. Bei der Frage nach der Wertigkeit der Christusfeste sind für Luther Weihnachten auf der einen und Passion und Ostern auf der anderen Seite nicht gegeneinander auszuspielen. Karfreitag bildet für den Reformator die Konsequenz von Weihnachten oder sogar einen Spezialfall der Inkarnation. Ohne das in der Inkarnation anhebende Geschehen ist auch das Passions- und Ostergeschehen leer und unverständlich. Denn an Weihnachten hebt die Selbstmitteilung Gottes in menschlicher Gestalt 33 Vgl. Albrecht Grçzinger, Homiletik, Lehrbuch Praktische Theologie 2, Gütersloh 2008. 34 Vgl. auch Dagmar Kreitzscheck, Zeitgewinn. Theorie und Praxis der erzählenden Predigt, Leipzig 2004.

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an, die für Luther die Bedingung der Möglichkeit dafür bildet, dass Mensch und Christus im Glauben miteinander kommunizieren und einander Sünde und Glauben mitteilen – ein Geschehen, das Luther in der Freiheitsschrift (1520) bekanntlich als „fröhlichen Wechsel und Streit“ benennt:35 Weil Gott in Christus sein Leben als Mensch verbracht und damit das Leben des in sich selbst gefangenen Menschen geteilt hat, kann ein Mensch zu einem neuen Leben im Glauben finden. Dieses neue Leben hebt aber letztlich im Geschehen der Inkarnation an. Weihnachten ist die Urgestalt christlichen Glaubens, wie Luther ihn versteht. Es lohnt sich darum sowohl in der kirchlichen Verkündigung als auch in der dogmatischen Reflexion, bei der Weihnachtsbotschaft zu verweilen und sie mit Luther so stark wie möglich auf sich wirken zu lassen. Denn nur so kommt man offenbar dem Geheimnis der Menschwerdung Gottes angemessen auf die Spur. Die dogmatische Pointe des Weihnachtsevangeliums liegt für Luther in der Selbstmitteilung Gottes in der Krippe von Bethlehem, also seiner Menschwerdung. Gerade darin findet Luther die Güte Gottes zum Ausdruck gebracht, weil das Paradox der Weihnachtserzählung das Paradox der göttlichen Liebe ausdrückt, die sich erst das Liebenswerte schafft und nicht am schon Liebenswerten entsteht.36 Diese Liebe als selbst dynamische und kommunikative Wirklichkeit, die eine Auswirkung auf das geliebte Wesen hat, indem sie sich an den Geliebten mitteilt, ermöglicht ihrerseits die dynamische und auf Kommunikation beruhende Wirklichkeit des Glaubens. Ohne ein spezifisches christologisches Grundmodell ist dieses dynamische, relationale und kommunikative Glaubensverständnis nicht angemessen auszudrücken: Christus hat sich in Luthers Verständnis des Weihnachtsevangeliums weder als Vorbild noch als Urbild offenbart. Es geht Luther nicht um die Nachahmung des Inkarnationsgeschehens im Leben des Einzelnen etwa durch Demut, sondern um die individuelle Hineinnahme des Menschen in das Geschehen der Verschränkung von Gott und Mensch. Diese Verschränkung hat in der Inkarnation begonnen, in der Gott sich in einem Menschen hat gebären lassen. Es findet seine Fortsetzung im Glauben, in dem Christus und die Seele des 35 Ähnlich wie in den Katechismen bedient Luther sich auch in seinen Weihnachtspredigten nicht explizit der Begrifflichkeit der Rechtfertigungslehre. Vgl. Sibylle Rolf, „…daß Du Dein Herz entzündest!“ Rechtfertigungslehre, Gotteslehre und Anthropologie in Luthers Katechismen nach den drei Hauptstücken, Luther 76 (2005), 80 – 100. 36 So die 28. These in der Heidelberger Disputation, 1518, LDStA 1, 60,7 f.

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Menschen miteinander so kommunizieren, dass sich ein „fröhlicher Wechsel“ ereignet.37 Es findet aber auch seine Konkretisierung und seine Fortsetzung in der Predigt des Evangeliums, wann immer von der Menschenfreundlichkeit Gottes gesprochen und Menschen so in das Christusereignis hineingezogen werden, dass sie mit Christus verbunden werden, weil ihre Geschichte mit der verkündigten Geschichte Jesu Christi gleichzeitig wird. Die Grundvoraussetzung für dieses Verständnis von Theologie ist ein kommunikatives Grundverständnis der Wirklichkeit, das sich in der christologischen Figur der communicatio idiomatum konkretisiert, die schon von der Alten Kirche im Zusammenhang der christologischen Lehrentscheidungen angedeutet, dann aber von Luther noch weiter ausgearbeitet worden ist:38 weil in Christus Gott und Mensch miteinander kommunizieren, also in einen wechselseitigen Austausch miteinander treten, kann überhaupt allererst von einer Kommunikation von Mensch und Gott im Glauben gesprochen werden; aufgrund der Inkarnation Gottes ist eine gegenseitige Anteilgabe von Mensch und Gott im Glauben möglich. Denn in Christus ist einmalig die Verschränkung von Gott und Mensch wirklich geworden, die eine Ermöglichung aller Kommunikation von Gott und Mensch darstellt: Luther betont immer wieder – mit weitreichenden Konsequenzen etwa für sein Abendmahlsverständnis in Auseinandersetzung mit reformierter Theologie –, dass es aufgrund der communicatio idiomatum angemessen ist, vom Schöpferwirken des Menschen Jesus zu sprechen oder die menschliche Natur Jesu Christi im Abendmahl als präsent zu verstehen. Weil sich aber in Christus Gott und Mensch miteinander verbunden und darin jede Verbindung von Gott und Mensch ermöglicht haben, verschränken sich auch in einer Predigt Mensch und Gott im mensch37 So in der Freiheitsschrift, 1520, WA 7, 25,34. 38 Nach Beendigung des Abendmahlsstreits leitet Luther am 28. 2. 1540 die Disputation de divinitate et humanitate Christi und vertritt vor allem in den Thesen 1 – 2 und 4 – 5 die communicatio idiomatum: „(1) Fides catholica haec est, ut unum dominum Christum confiteamur verum Deum et hominem. (2) Ex hac veritate geminae substantiae et unitate personae sequitur illa, quae dicitur, communicatio idiomatum. […] (4) Vere dicitur: Iste homo creavit mundum et Deus iste est passus, mortuus, sepultus etc. (5) Non tamen haec rata sunt in abstractis (ut dicitur) humanae naturae.“ (WA 39/II, 93,2 – 10.) Damit vertragen sich mit Luthers soteriologischer Christologie und seinem Verständnis der communicatio idiomatum nicht nur die später so bezeichneten genera: idiomaticum, maiestaticum und apotelesmaticum, sondern auch das von der Orthodoxie abgelehnte genus tapeinoticum.

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lichen und göttlichen Wort. Weil die Inkarnation Gottes dafür die Grundbewegung darstellt, liegt im Evangelium von Weihnachten alles beschlossen, was theologisch über den Menschen und über Gott auszusagen ist: An Weihnachten geschieht eine gegenläufige Doppelbewegung: Gott kommt vom Himmel herab, damit der Mensch vergottet werden kann. Luthers Predigtverständnis kann nach diesen Überlegungen mit Fug und Recht als „Weihnachtschristentum“ bezeichnet werden. Damit steht der Reformator theologisch nicht allein. Ähnlich wie Luther findet auch etwa Friedrich Schleiermacher in der Weihnachtsgeschichte das Ganze des Evangeliums ausgedrückt.39 So wie Maria und Josef das Kind in kindlicher Freude zu umfassen und zu empfangen, ist für Schleiermacher der eigentliche und tiefe Sinn der Weihnachtserzählung und der Kern evangelischer Dogmatik, weil in der Weihnachtserzählung mit dem Bericht der Inkarnation Gottes in Jesus Christus die Mitte des evangelischen Glaubens ihren Ausdruck findet.40 Mit der Aussage, die Weihnachtsbotschaft (und nicht, wie in der Theologie der Alten Kirche, die Osterbotschaft!) feiere die Inkarnation Gottes in Jesus Christus und die darin erworbene Erlösung des Menschen, bleibt Schleiermacher ein Schüler reformatorischer Theologie. Weihnachten hält auch in seinen Augen schon alles bereit, was für den Glauben des Menschen notwendig ist. Dabei akzentuiert Schleiermacher allerdings insofern anders als Luther, als er den Schwerpunkt seiner Aussage zum Erlösungsgeschehen nicht auf das persönliche Bekenntnis von Sünde und Glauben und die Neuausrichtung des Herzens legt, sondern auf die durch die Inkarnation ermöglichte Kräftigkeit des Gottesbewusstseins, bei der Christus zum Urbild aller Glaubenden wird, zu dem nach Christus alle Glaubenden befreit und erlöst werden können.41 39 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch, Halle 21826. 40 Schleiermachers Auslegung der Weihnachtsgeschichte neigt gleichwohl dazu, Weihnachten als Geburt des Kindes in der Krippe zu stilisieren und etwa die Freude der Maria als Freude einer Mutter an ihrem Kind zum Vorbild für die Glaubensfreude zu machen. Dieser von der Romantik geprägte Aspekt der Weihnachtsgeschichte steht bei Luthers Auslegung explizit nicht im Vordergrund. Auch die Perspektive des Gottesbewusstseins, dessen Urbild Christus ist und in das die glaubenden Menschen sukzessive hineinwachsen sollen, ist mit Luthers Verständnis von Weihnachten nur begrenzt vergleichbar. 41 Auch wenn in diesem Zusammenhang von Schleiermacher wie von Luther die Individualität des Glaubens in der persönlichen Kräftigung des Gottesbewusst-

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Liegt bei Schleiermacher der Schwerpunkt der weihnachtlichen Predigt darauf, Menschen zu einem kindlich-vertrauenden Glauben zurückzuführen, in dem sie sich dem Kind in der Krippe zuwenden, so liegt in einem solchen urbildlichen Glauben nicht die Intention von Luthers Weihnachtspredigt. Vielmehr deckt für Luther das Weihnachtsgeschehen die Verlorenheit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen auf. Demgegenüber soll ein Mensch sich vom Paradox der Weihnachtsbotschaft anrühren und zur Freude darüber führen lassen, dass Gott sich ihm zugute gedemütigt hat. In der persçnlichen Aneignung dieses Geschehens liegt Luthers Predigtziel, weswegen seine Predigt immer eine applikative Sprache verwendet und sich im Verlauf einer Predigt auf die Applikation des Einzelnen hin zuspitzt. Zusammengefasst lässt sich nach der Darstellung von drei Weihnachtspredigten Luthers und den darauf folgenden Überlegungen die dogmatische Schlussfolgerung ziehen, dass die Inkarnation Gottes in Jesus Christus, von der das Weihnachtsevangelium berichtet, in der Theologie Luthers dasjenige theologische Grundgeschehen ist, in dem alle christliche Theologie zusammengefasst werden muss. Luther kehrt hier einen dogmatischen Topos der altkirchlichen Theologie um, ohne allerdings das Passions- und Ostergeschehen inhaltlich zu entleeren.42 Weil an Weihnachten die Inkarnation Gottes gefeiert wird, die mit dem Herzen als dem Zentrum der menschlichen Existenz ergriffen werden will, ist Weihnachten das zentrale Ereignis, in dem die übrige Heilsgeschichte Jesu Christi theologisch präsent ist. Im Evangelium von Weihnachten geht es um die Verschränkung von Gott und Mensch, die sich in der Verkündigung der Predigt auch an den Menschen der Gegenwart mitteilt und in der Gott dem Menschen zuspricht: du bist gerechtfertigt. Das relationale Grundmodell hierfür wird im Weihnachtsevangelium abgebildet, namentlich in der Selbstmitteilung Gottes an die menschliche Natur, die Luther in der dogmatischen Figur der communicatio idiomatum weiter ausführt. Darum liegt in Luthers Auslegung des Weihnachtsseins als zentral angesehen wird, so liegt doch in der Absicht gerade von Schleiermachers Predigten nicht eine Individualisierung und Subjektivierung des Predigtinhalts. Im Gegenteil, Predigen geschieht bei Schleiermacher wie auch bei Luther immer im Kontext der kirchlichen Gemeinschaft. Das wird an Schleiermachers Schrift Die Weihnachtsfeier deutlich, die in einem gemeinschaftlichen Gespräch mehrerer Menschen verortet ist. Vgl. auch Karle, Den Glauben wahrscheinlich machen (s. o. Anm. 29). 42 Dies kann eher für die Romantik behauptet werden, mit homiletischen Konsequenzen bis in die kirchliche Gegenwart.

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evangeliums zugleich sein kommunikatives Verständnis der Wirklichkeit beschlossen. Denn die Selbstmitteilung Gottes an den Menschen kann nur gedacht werden, wenn sie innerhalb eines kommunikativ-relationalen Grundmodells von Realität angenommen wird. Die Überlegungen abschließend, möchte ich im folgenden Abschnitt einige wenige Aspekte zur Weihnachtspredigt in der kirchlichen Gegenwart ausführen.

4 Luthers Weihnachtspredigt. Konsequenzen für die Predigt der Gegenwart Das Christentum vieler gegenwärtiger Menschen ist in den letzten Jahren immer wieder als „Weihnachts-Christentum“43 bezeichnet worden: viele Menschen sind an Weihnachten in einer Kirche anzutreffen, in der sie ihre Religiosität feiern, sich aber ansonsten von christlichem Glauben nicht anrühren lassen wollen. Das Kind in der Krippe kann in diesem Zusammenhang – sentimental ausgedeutet – zur Verharmlosung und Romantisierung des Weihnachtsfestes beitragen: wir feiern die heilige Familie, in der ein heiliges Kind zur Welt kam und in der Liebe in aller Not das letzte Wort behält. So richtig diese Botschaft an sich ist, so wenig verstörend und konstruktiv wirkt sie, und so wenig folgenreich bleibt sie. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, aus Luthers Weihnachtspredigt einige Predigtanregungen zu übernehmen und zu reflektieren. Luthers Weihnachtspredigt ernst genommen, ist die Unwilligkeit von Menschen, sich existentiell auf das Weihnachtsgeschehen einzulassen, nicht (nur) auf eine Weihnachtsfrömmigkeit der Postmoderne zurückzuführen, sondern als ein Kennzeichen des natürlichen Menschen zu verstehen. Ein solches Verständnis entlastet den Prediger. Denn er muss die Weihnachtsbotschaft nicht künstlich aktualisieren. Aktuell und eingängig war sie offenbar noch nie, sondern ihr ist schon immer widersprochen worden. Vielmehr liegt die Aufgabe des Predigers im Anschluss an Luther darin, die Weihnachtsbotschaft so lebendig und liebevoll wie möglich auszumalen und in ihrer Konsequenz für den Menschen darzustellen, nämlich so, dass das Paradox von Weihnachten dem hörenden Menschen zur Freude gereicht. 43 Vgl. Matthias Morgenroth, Weihnachts-Christentum. Moderner Religiosität auf der Spur, Gütersloh 32003.

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Dazu gehört auch, dass Luther beim Weihnachtsevangelium und der dort erzählten Situation und Geschichte bleibt. Luther versucht in keiner Predigt, möglichst schnell den Stall zu verlassen und von Bethlehem aus in die Welt zu gehen, weil das Kind und unser Glaube erwachsen werden müssten:44 auch wenn wir, ebenso wie das Jesus-Kind selbst, in dieser Welt keine bleibende Statt haben, sondern die zukünftige suchen, so hat doch nach Luthers theologischer Einsicht Gott in seiner Inkarnation die Welt der Menschen als seine bleibende Statt erwählt und will in ihr bleiben, verborgen unter dem Gegenteil. Dieses Paradox feiert Weihnachten, und um diesem Paradox auf die Spur zu kommen, bringt Luther das Weihnachtsevangelium detailgenau zu Gehör. Er nimmt die Dynamik der Erzählung auf und geht als Prediger in den Bericht des Evangelisten hinein, um von dort aus zu einer Lebensdeutung für seine Zuhörer und Zuhörerinnen zu gelangen. Der sich am Weihnachtsevangelium entzündende Glaube ist nicht notwendigerweise ein kindlicher, naiver Glaube. Wie anspruchsvoll das Weihnachtsevangelium ist, erschließt sich erst bei genauer und sorgfältiger Meditation des biblischen Textes, im Verlaufe derer viel von der weihnachtlichen Romantik auf der Strecke bleiben wird. So gesehen, könnte der häufig ungeliebte Kasus der Weihnachtspredigt gegenwärtigen Predigern und Predigerinnen dazu helfen, das Heilsgeschehen der Menschwerdung Gottes in leuchtenden Farben auszumalen und den Hörenden vor Augen zu stellen und es performativ zuzusprechen, so dass es angeeignet werden kann. Ein zentraler Begriff in diesem Zusammenhang ist das im Lukas-Evangelium häufiger gebrauchte „heute“, das die Zeit des Hörens mit der Zeit der Erzählung verschränkt und die Zeit des Hörens zur von Gott im Heiligen Geist erfüllten Gegenwart werden lassen kann. Dabei geht es aber beim Predigen im Anschluss an Luther nicht um eine künstliche Aktualisierung oder eine biblizistische Auslegung des Textes, sondern darum, dass in der narrativen 44 So exemplarisch Bischof Wolfgang Huber in einer Predigt am 24. Dezember 2003, http://www.ekd.de/predigten/031224_huber_weihnachten.html (Zugriff am 10. 02. 2011). So sehr Huber Recht hat mit seiner Aufforderung, den Stall von Bethlehem zu verlassen und in die Welt, den Alltag und das Leben wieder zurückzukehren, wie es im Lukas-Evangelium ja auch die Hirten getan haben, so wenig wird dieser schnelle Abschied von der weihnachtlichen Szene doch dem Weihnachtsevangelium gerecht und vergibt sich selbst wichtige Möglichkeiten, diese Szene darzustellen und auszudeuten in ihrer Bedeutung für den hörenden Menschen.

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Ausgestaltung des Textes den Hörenden ihre eigene Lebenswirklichkeit neu erschlossen wird. Auch für das Verhältnis von verkündigendem Wirken der Kirche und akademischer Theologie lässt sich in den Predigten Luthers schließlich Wesentliches entdecken. Luther vollzieht die Unterscheidung von Auslegung eines biblischen Textes und Applikation auf die Situation der Hörenden nicht nach. Sondern in der Auslegung ist die Applikation auf die Hörenden immer schon enthalten. Indem Luther die Bilder des biblischen Textes, den er predigt, „ausstreicht“, also narrativ entfaltet, nimmt er die Hörenden in diese Bildwelt hinein und bringt ihr Leben und ihre Erfahrungen mit dem Text in einen inneren Dialog.45 Dabei ist Luther in seinen Predigten nicht „dogmatikfeindlich“. Im Gegenteil, er kommuniziert in elementarer Sprache predigend anspruchsvolle Theologie. Über das Christusereignis ist für ihn, wie er in langem Ringen festgestellt hatte, nur so zu reden, dass es dem Menschen angeeignet wird. Das pro me ist für Luther in der Reflexion über Christus immer schon enthalten – und zwar sowohl in einer akademischen Vorlesung als auch im gottesdienstlichen Zuspruch. Diese Zusammengehörigkeit von Reflexion und Applikation sowohl in Theologie als auch kirchlicher Verkündigung gepflegt zu haben, ist ein großes Verdienst Wilfried Härles in seinen theologischen und verkündigenden Arbeiten. Härle ist hier bei Luther in die Schule gegangen. Bei Luther in die Schule zu gehen und nicht nur die Katechismen – die elementare Lehre für die Einfältigen im Glauben – sondern auch die Predigten in der Einheit von theologischer Reflexion und Verkündigung zu sehen, ist höchst lohnenswert. Die kirchliche Predigt wird davon genauso profitieren wie die dogmatische Arbeit im akademischen Kontext. Denn für die kirchliche Verkündigung in den Gemeinden ist ein theologisches Reflektieren insofern wünschenswert, als es beim Glauben immer auch um Wissen geht. Auf der anderen Seite ist im Zusammenhang der Hochschultheologie die Rückbesinnung auf den Glauben insofern wünschenswert, als es beim Wissen auch um den Glauben geht, bei beidem aber um den Menschen in seiner Beziehung zu Gott und um unser Leben als Menschen Gottes.

45 Vgl. Klaus Schwarzwller, Grundsätzlich konkret: Theologie als Predigt, DPfBl 103, H. 9, 2003, 467 – 471.

II. Philosophische und Psychologische Perspektiven

Warum haben nur Menschen Religion?* Über Zeichen der Evolution, Bilder der Kultur und Symbole des Geistes

Hermann Deuser 1 Evolution und Emergenz Die Frage, ob nur Menschen religiös sein können, ist nicht so trivial, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Denn das inzwischen umfassend gültige Denkmodell der Evolution hat unter anderem die Grenzen zwischen Tier- und Menschwelt fließend erscheinen lassen. Warum also, wenn Menschen „Religion haben“, kann das nicht zumindest auch für Vorläuferformen bei Tieren gelten? Könnten wir uns, wenn nicht Schildkröten, so doch Primaten vorstellen, die ritualisiert feiern, Ehrfurcht ausdrücken oder meditieren? Was geben Elefanten zum Ausdruck, was empfinden sie, wenn ein Mitglied ihrer Herde geboren wird oder stirbt und eine Gruppe der Tiere, offensichtlich berührt von dieser radikalen Unterbrechung des Gewöhnlichen, plötzlich innehält? Natur und Kultur evolutionistisch zu verstehen bedeutet, Zufallsproduktivität und selektiv wirkende Regelsysteme so miteinander verbunden zu denken, dass die Durchsetzungsfähigkeit bestimmter Erscheinungen (Pflanzen- und Tierarten, Verhaltensweisen, Ereignisse) im Entwicklungsprozess erklärt – oder jedenfalls beschrieben – werden kann. Was allerdings physikalisch als Quantensprung plus mathematische Formel, biologisch als genetische Mutation plus Vererbung erfasst wird, das lässt sich kulturell gesehen nicht so einfach, nicht so direkt, vielleicht niemals wirklich gesetzmäßig verstehen. Trotzdem erscheint das Denkmodell anwendbar: Was einmal entstanden ist, sich anpassen kann und zahlreiche Nachkommen hat, wird sich durchsetzen – anderes eher nicht. Dabei kann zunächst offen bleiben, ob es sich hier um einen Kausalzusammenhang handelt, der quasi mechanisch funktioniert und also de*

Die Arbeit an diesem Essay wurde ermöglicht während meiner Zeit als Fellow am Swedish Collegium for Advanced Study, Uppsala, im Frühjahr 2010.

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terministisch verstanden werden muss; oder ob hier zielaktive, intentionale, das heißt teleologische Elemente im Spiel sind, die dann einen strikten Determinismus ausschließen. Mit der Frage nach Religion hat das alles insofern zu tun, als neuerdings Religion nicht mehr (physikalisch oder biologisch gesehen) rundweg als bloße Illusion – und (evolutionistische) Wissenschaft demgegenüber als faktenbezogen und deshalb allein wahr ausgegeben werden; nein, Religion ist selbst Gegenstand für evolutionistische Beschreibungen beziehungsweise Erklärungen geworden. Die Frage ist dann also an erster Stelle nicht mehr, ob es Religion überhaupt geben darf, ob sie also durch wissenschaftliche Erklärungen sozusagen automatisch wegerklärt wird; sondern dass es Religion in den naturalen wie kulturellen Entwicklungen des Menschen gibt, kann und muss vorausgesetzt werden, und die neuen Fragen lauten1: Ist Religion ein notwendiges, zum Beispiel genetisch vorgegebenes Element in der Evolution des Menschen, für Anpassungsprozesse ein Überlebensvorteil, für die gesellschaftlich produktive Funktion von Sinnsystemen bei Individuen und Gruppen unumgänglich etc. – und das alles kann, an zweiter Stelle, sowohl religionskritisch ausgelegt als auch religionsapologetisch genutzt werden. Evolutionistisches Denken liefert heute eine Fülle von Perspektiven und Differenzierungen in der Betrachtung von Religion, und daraus soll hier nur ein heftig diskutiertes Grundproblem herausgegriffen, in seiner gängigen Alternativbildung genauer bestimmt und möglichst überwunden werden: Ist evolutionistisches Denken von sich aus naturalistisch in dem Sinne, dass tendenziell alle geistigen Phänomene eine exklusiv empirische Erklärung finden und folglich ihre Eigenständigkeit verlieren? Oder lässt sich im Evolutionsmodell selbst zeigen, dass und wie Religiosität – und damit die kulturgeschichtlich bekannte Welt der Reli-

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Vgl. Gerald Hartung, Religionsanthropologie, Ms. Heidelberg 2010. – Schon Ch. Darwin hielt es für eine „Tatsache“, dass eine große Zahl von „Gemütsbewegungen“ Tieren und Menschen offensichtlich gemeinsam und zumindest vergleichbar seien, darunter auch „Gewissensbisse“ – und damit die Verhaltensgewohnheiten von „Religion“ und „Aberglaube“, vgl. Charles Darwin, Abstammung des Menschen (1871), in: Charles Darwin. Das Lesebuch, hg. v. Julia Voss, Frankfurt am Main 2008, 252 ff., 279, 281, 289; vgl. auch Kristian Kçchy, Natur und Kultur in der Evolution, in: Volker Gerhardt/Julian NidaRmelin (Hg.), Evolution in Natur und Kultur, Berlin/ New York 2010, 39 – 58, 46.

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gionen – notwendig ist, das heißt dass ohne sie ein anthropologisches beziehungsweise ontologisch-kosmologisches Defizit auffallen müsste? Die Naturwissenschaften der Moderne (seit 1600) erklären empirisch bestimmbare Ereignisse durch induktiv gewonnene Gesetzmäßigkeiten, das heißt das wiederholte und damit überprüfbare Auftreten von messbaren Größen wird in einen (mathematischen) Zusammenhang gebracht. Aus diesem wiederum lassen sich Prognosen für künftiges Auftreten derselben Phänomene errechnen, und die so erklärten Verbindungen von Ereignisfolgen sind kausal zu verstehen: Wenn bestimmte (verursachende) Bedingungen gelten, dann wird es zu entsprechenden Ereignissen kommen. Auch wenn die Biologie, deren Gegenstände nicht auf der atomaren Ebene, sondern auf der von Molekülen beziehungsweise lebendigen Organismen gefunden werden, nicht die gleiche mathematische Erfassbarkeit und Exaktheit wie die Physik erreichen kann, das kausal orientierte Denken bleibt maßgebend. Die evolutionistische, das heißt methodisch der Evolution verpflichtete Biologie befasst sich zwar mit zielgerichteten Prozessen des Lebendigen in Zeit und Raum, das heißt mit einem teleologischen Zusammenhang, der Spontaneität, Entscheidungen, Zielorientierungen einschließt – daraus folgt aber kein im Ganzen sinn- oder zielgerichtetes Erklärungsmodell. Im Gegenteil: Wenn Erklärungen für Verhalten und Entwicklungen gegeben werden, so sind es dem Ideal nach kausale: Die Vielfalt der Arten erklärt sich nicht aus dem Lebens- oder Veränderungswillen der betreffenden Spezies oder gar aus einem Plan in der Natur überhaupt beziehungsweise einer Schöpfung übernatürlicher Herkunft, sondern allein aus Mutation (auf der Ebene von DNA-Strukturen) und selektiv wirkenden Anpassungsbedingungen. Auch wenn hier Prognosen schwierig sind, weil die Vielfalt der Bedingungen unüberschaubar bleibt, rückwärts gesehen sind kausale Zusammenhänge herzustellen, die das Geheimnis der Artenentstehung nachträglich entschlüsseln. Sind damit aber auch die offensichtlichen Sinnzusammenhänge der Natur kausal vollständig erklärt? Nehmen wir als Beispiel das menschliche Herz. An erster Stelle, dem kann sich bis heute kein unvoreingenommener Betrachter entziehen, ist es einfach erstaunlich, ja doch ein Wunder: Dass es dieses Organ im Blutkreislauf überhaupt gibt, dass ich selbst ein solches habe und dass das, was wir für Menschen und bestimmte Tierarten gleichermaßen Leben nennen, in diesem Herzblut seine Vitalbedingung anschaulich macht. Dass es liebende Herzen, gebrochene Herzen und viele ähnliche starke Metaphern zur Beschreibung von Gefühlsintensitäten gibt, belegt nur

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diese unübersehbare Eindrücklichkeit des Herzens. – Ganz anders im medizinischen Umgang mit demselben Organ. Spätestens seit es Herztransplantationen gibt, steht die Organfunktion im Zentrum, damit auch die Austauschbarkeit, Reparaturmöglichkeit und materiell-empirische Stofflichkeit des Herz-Kreislaufsystems, das sogar zeitweise von körperexternen Maschinen übernommen oder von eingebauten „Schrittmachern“ optimiert werden kann. – Der eklatante Widerspruch zwischen diesen beiden Gebrauchs- und Verständnisformen von Herz wird nicht gemildert, aber auf dritter Ebene eingeholt, wenn es um die Symbolkraft desselben Wortes geht. Symbole sind nicht beliebige Vereinbarungen, sondern sie müssen in solchen Fällen unter Voraussetzung und Weitergeltung der empirischen und metaphorischen Verwendung diese in einem eigenen Verstehensakt verallgemeinern können: Herz steht dann zu Recht für das Lebens- und Personzentrum, für Entscheidungsfähigkeit und Mut, Emotionskräfte und Liebesbeziehungen etc. Es ist überwältigend zu sehen, wie dieses Gesamt von Gefühl, Organ und Symbolik des Herzens gerade von einem Herzchirurgen stimmig zum Ausdruck gebracht werden kann: Das Herz ist „ein unglaublich faszinierendes Organ. Es ist wunderschön, von außen und von innen. Es hat eine innere Architektur. […] Auch wenn das wissenschaftlich nicht stimmt: Emotional ist das Herz, wo das Leben liegt. […] Wenn man es berührt, gibt es zwei, drei Schläge mehr. Und man denkt, Respekt vor diesem Organ. […/…] Dieses Wunder, dass ein Herz nach der Operation wieder schlägt, kann nur die Natur vollbringen.“2

Und wie könnte all dies, die reale Symbolkraft des Herzens, als bloße Folgeillusion aus den evolutionistisch erklärbaren Bedingungen (neuronaler) Gehirnaktivitäten hingestellt werden? Wäre eine solche Erklärung nicht eine unzulässige Reduktion, das heißt eine vereinfachte Rückbeziehung auf eine rein naturalistische Basis, die weder das Selbsterleben noch die reale Symbolwirkung je angemessen wird erfassen, abdecken oder gar erklären können? In einem treffenden Beispiel gesagt: „Es heißt nicht umsonst, Du sollst Deinen Nächsten lieben – und nicht, Du sollst die Gene Deines Nachbarn oder ein Gehirn in Deiner Nachbarschaft lieben.“3 2 3

Herzchirurgie. Interview mit René PrÞtre, in: Chrismon plus. Das evangelische Magazin 08 (2010), 64 – 69, 67/69. Ansgar Lyssy, Darwin, Gott und Neurotheologie. Was können uns die Biowissenschaften über die Religion sagen?, in: Christoph Asmuth/Kasimir Drilo (Hg.), Der Eine oder der Andere. „Gott“ in der klassischen deutschen Philo-

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Wenn es aber mehr gibt als die nur empirisch abgrenzbare und deshalb naturwissenschaftlich fassbare Gegenstandsebene – nämlich auch die nicht-reduzierbare Erfahrung von primärer Gefühlsqualität und die Wirksamkeit von Symbolzusammenhängen4 (wie zum Beispiel in der menschlichen Sprache) –, dann muss im Prozess der Evolution das auch angelegt und realisiert worden sein, was all jenes ermöglicht hat. Solche Annahmen im Blick auf Ordnungsstrukturen und Verstehbarkeit bereits der kosmischen, also der vor-biologischen Natur erscheinen naheliegend, obwohl die Rand- und Anfangsbedingungen schwer zu ermitteln sind. Fest steht, dass, evolutionistisch gedacht, bestimmbare Bedingungen erfüllt sein mussten, damit es überhaupt zur wissenschaftlichen Beobachtung derselben Naturprozesse durch Menschen hat kommen können – was zum Beispiel Entwicklungsmöglichkeiten für Kohlenstoff in einem Zeitraum von 10 Milliarden Jahren voraussetzt.5 In diesem Kontext von der ,Geschichte der Natur‘ zu sprechen impliziert, dass zumindest – wenn auch vage – Vorstellungen vom Anfang und einem demgegenüber unterscheidbaren Ende vorliegen. Diese sind vom empirisch erfassbaren Prozessverlauf dadurch kategorial unterschieden, dass sie einerseits Möglichkeitsfülle (einer kreativen Ursprünglichkeit) und andererseits Gesetzesform beziehungsweise Regelhaftigkeit als real wirksam zum Ausdruck bringen, wie es in Mathematik, Naturphilosophie (Metaphysik) und Schöpfungstheologie bis heute vielfach belegt ist. Der Begriff der Emergenz wird sowohl in den naturwissenschaftlichen wie in den naturphilosophischen und theologischen Diskussionen gerne

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sophie und im Denken der Gegenwart, Tübingen 2010, 239 – 253, 249 (als Beispiel für den mereologischen Fehlschluss); vgl. a.a.O. 250, das Beispiel der Mathematik (in Analogie zum Reduktionismus in Sachen Religion), die niemand deshalb für überflüssig erklärte, wenn ihre neurologische Basisfunktionen im Gehirn aufgedeckt würden! Vgl. Charles S. Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, hg. v. E. Walther, Hamburg 1991 (IV. Vorlesung). Vgl. John D. Barrow, Das 1x1 des Universums. Neue Erkenntnisse über die Naturkonstanten, Reinbek bei Hamburg 2006, 109; Philipp Clayton, Emergenz und Bewusstsein. Evolutionärer Prozess und die Grenzen des Naturalismus, Göttingen 2008, 172 f. – Dieses, hier kosmologisch gefasste, zirkelhafte Miterklären des Menschen lässt sich ganz analog auch anthropologisch formulieren, vgl. Anke Thyen, Grundzüge einer Anthropologie des Inter-Subjekts, in: Gerhardt/Nida-Rmelin, Evolution in Natur und Kultur (s. o. Anm. 1), 261 – 289, 267 (vgl. 277 f.): Der Mensch, ein Lebewesen von einer „Bindungsfähigkeit“, „die sich von jeder anderen Bindung dadurch unterscheidet, dass sie die Fähigkeit der Erklrung dieser Bindungsfähigkeit mit einschließt.“

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eingesetzt, um die kritische Stelle des Auftauchens von Neuem in der Evolution zu bezeichnen, von Neuem nämlich, das zwar von bekannten vorausgehenden Bedingungen abhängig ist, von diesen aber nicht vollständig hergeleitet werden kann – so wie ein Ganzes mehr ist als die bloße Summe seiner Teile. Als Beispiele, Natur und Kultur übergreifend, werden genannt: Das Kristallieren zu Eis aus flüssigem Wasser, die Explosion aufgrund von Feuer und Pulver, die Gruppenbildung bei Zugvögeln im Verhältnis zu den Einzelexemplaren, das Erwachen des Bewusstseins beim Embryo, das Entstehen neuer Wörter und Bedeutungen in der menschlichen Sprache.6 Natürlich bleibt die Begriffsbildung von Emergenz umstritten, weil sie in den genannten Einzelfällen und in den Einzelwissenschaften unterschiedlich gebraucht und verstanden wird; und weil nicht zwingend erscheint, ob und wie der emergente Entwicklungssprung durch nicht-natürliche Ursachen erklärt werden kann beziehungsweise eine solche metaphysische, religiöse oder theologische Erklärung verlangt.7 Auch hier aber lässt sich festhalten, dass bei aller Akzeptanz des evolutionistischen Denkmodells für die rein naturalistischen, das heißt die exklusiv an die experimentierenden Naturwissenschaften gebundenen Erklärungen, ein nur schwer oder gar nicht lösbares Problem bestehen bleibt: Das subjektive Bewusstsein beziehungsweise die originale Eigenerfahrung der Dinge setzt offenbar noch etwas Anderes voraus als das, was durch die Perspektive der experimentierend-berechnenden Außenbeschreibung zugänglich gemacht werden kann: Ein Mensch, der sein Leben ausschließlich in einem schwarz-weißen Zimmer zubringt und zugleich alles über die neurophysiologischen Bedingungen der Farbwahrnehmung „rot“ weiß, hat gleichwohl genau diese Wahrnehmung noch nicht gemacht und wird, beim ersten Heraustreten aus dem Zimmer, genau dies erfahren und dann erst wissen, was es bedeutet! 8 Auf der Basis dieser Unterscheidung müssen weitere Erfahrungsdimensionen einbezogen und die naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle, hier: Emergenz, dementsprechend flexibel konzipiert werden. Zusätzlich zur Unabdingbarkeit der je eigenen Wahrnehmung ist auch 6 7 8

Vgl. Niels Henrik Gregersen, Emergence: What is at Stake for Religious Reflection, in: Philipp Clayton/Paul Davies (Hg.), The Re-Emergence of Emergence, Oxford 2006, 279 – 301, 279. Vgl. die „fünf verschiedenen Bedeutungen von Emergenz“ in: Clayton, Emergenz und Bewusstsein (s. o. Anm. 5), 50 ff. Vgl. a.a.O., 134 f. (unter Berufung auf D. Chalmers, Th. Nagel u. Fr. Jackson).

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die jeweilige Wirksamkeit einer (noch) nicht empirischen, das heißt mentalen, ganzheitlichen, abwärtskausalen („top-down“ zusätzlich zur naturwissenschaftlich vorrangigen empirisch-induktiven „bottom-up“Kausalverknüpfung9) oder kurz: geistigen Ebene anzuerkennen. Drei Komplexitätsstufen wären (nach Terrence Deacon10) zu unterscheiden: (a) Die einfachste Form von Emergenz: Wie zum Beispiel Wasser, als H2 O bestimmt, von diesen seinen physikalischen Bedingungen sowohl abhängt wie ihnen gegenüber (in seiner Oberflächenspannung etc.) etwas Eigenes und Neues ist. (b) Die komplexere Form von Emergenz, bei der Chaos und Ordnungssysteme umweltabhängig zusammenspielen, so wie zum Beispiel Schneekristalle nicht nur von ihren physikalisch-chemischen Bedingungen, sondern auch vom Klima und von ihrer Entwicklungszeit abhängen. (c) Die eigentliche evolutionäre Form von Emergenz, wie sie zum Beispiel in lernfähigen genetischen Entwicklungsstrukturen vorliegt, deren Selbsttätigkeit das jeweils Neue realisiert. – In allen Fällen ist ein neues Gesamt weder aus seinen (notwendigen) Bedingungen kausal vollständig ableitbar noch ist es selbst in seiner Wirksamkeit auf seine empirischen Daten reduzierbar. Was zusätzlich zählt ist eine neue Gesetz- beziehungsweise Regelhaftigkeit, die als solche nicht direkt zu sehen, wohl aber in ihrer Geltungskraft schon praktikabel und zu überprüfen ist: Wir können wissen wie Wasser sich anfühlt und reagiert, wann und wie Schnee zu erwarten ist und nach welcher Logik Organismen sich selbst steuern und wachsen werden – und das alles spricht ganz entschieden dafür, erfahrungsgesättigtes, vernünftiges und lebensdienliches Erkennen nicht einfach mit den naturwissenschaftlichen Methoden und ihren Ergebnissen gleichzusetzen.11 Ein umfassenderes, naturwissenschaftlich aber konkurrenzfähiges Denken wird dringend gesucht, in dem dann auch eine unverkürzte Anthropologie und Verständnis für Religiosität zu erwarten wären. 9 Vgl. zu dieser Interpretation von Emergenz und Supervenienz bei Clayton, a.a.O., passim. 10 Vgl. die Darstellung bei Gregersen, Emergence (s. o. Anm. 6), 285 f. – Vgl. Terrence W. Deacon, The Hierarchic Logic of Emergence: Untangeling the Interdependence of Evolution and Self-Organization, in: Bruce H. Weber/ David J. Depew (Hg.), Evolution and Learning, Cambridge/London 2003, 273 – 308; zu Deacons These (The Symbolic Species) der evolutionären (emergenten) Semiotik vgl. die Übersicht in: Terrence W. Deacon, Multilevel Selection in a Complex Adaptive System: The Problem of Language Origins, in: Evolution and Learning, a.a.O., 81 – 106. 11 Vgl. das Fazit bei Clayton: Emergenz und Bewusstsein (s. o. Anm. 5), 223.

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Aus den genannten Gründen genügt es daher nicht, evolutionsbiologisch nachzuweisen, dass es „religiöse“ Gene, Anpassungsvorteile et cetera gibt – oder nicht gibt, denn in diesen Fällen handelt es sich ja ausschließlich um Ergebnisse auf der exklusiv empirischen Ebene, die den komplexeren Erfahrungszusammenhang, wie gezeigt, in der Regel schon wissenschaftsmethodisch gar nicht mit in Betracht ziehen können. Um die Frage nach der Religion angemessen beantworten zu können, bedarf es also einer weitergehenden philosophisch-theologischen Diskussionsebene.

2 Pragmatismus: Glaube und Handeln Der dreifach strukturierte Erfahrungszusammenhang – aus unüberspringbar qualitativer Wahrnehmung (zum Beispiel „rot“), empirischer Messbarkeit (im Rahmen experimenteller Wissenschaften) und realer Wirksamkeit auf der Ebene regelhafter Verallgemeinerung (traditionell: Realität des Geistigen; evolutionistisch: Emergenz) – wird nur dann ungeschmälert zum Ausdruck gebracht, wenn die neuzeitlich für die Wissenschaften bestimmende Dualität von einerseits bloß subjektiver Erfahrungsinnerlichkeit und andererseits objektiver und damit erst streng ,wissenschaftlicher‘ Faktenwirklichkeit nicht mehr regiert.12 Erfahrung ist vorrangig und unabdingbar dreifach, wie beschrieben, und deshalb ist es ganz und gar unnötig, um der Religion willen den modernen Erfahrungsbegriff auszublenden oder einen ganz anderen – transzendenten, supranaturalen – Wirklichkeitsbegriff zu unterstellen. Religiöse Transzendenz, besser: die Unbedingtheit des religiösen Selbst-Verhältnisses13, zeigt sich an menschlichen Erfahrungen, die jene Unbedingtheit in ihrer kreativen Ermöglichung, Leibhaftigkeit und symbolischen Realität bereits enthalten, das heißt prozesshaft, im Einzelnen wie im Universalen zugänglich machen. In diesem, zur traditionell-neuzeitlichen Einstellung alternativen, umfassend erfahrungsbezogenen Denken liegt einerseits die Verabschiedung von sogenannten Letztbegründungen, und andererseits eine 12 Das Grundproblem der (evolutionistischen) Anthropologie lässt sich dann so formulieren (vgl. Thyen, Grundzüge einer Anthropologie [s.o. Anm. 5], 261): Der Mensch als Frage, „deren Subjekt und Objekt zusammenfallen und doch nicht zusammenfallen können, weil sich ansonsten die Frage gar nicht stellen ließe“. 13 Vgl. Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin/New York 2009.

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lebensorientierende Pragmatik. Die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus (Ch.S. Peirce) erwartet die Leitlinien für Wissenschaften und Leben nicht mehr vom selbstreflexiven spekulativen Denken, sondern versucht, immer korrekturfähig, Knotenpunkte und Strukturen im Erfahrungsprozess selbst namhaft zu machen. Eine solche Grundstruktur, die, einmal aufgedeckt, von allen Menschen wiedererkannt werden wird, ist die von Glaube – Zweifel – Handeln. Denken und Handeln beginnen keineswegs, wie die neuzeitliche Philosophie seit Descartes nahelegen wollte, mit dem Zweifel (theoretisch: als Zweifel an allem!), sondern mit bewussten und unbewussten Annahmen, existentiellen Überzeugungen und fundamentalem Vertrauen in die alltägliche Welt, raumzeitliche Orientierungen, regelhaftes und eingeübtes Verhalten et cetera. Diese Vorgaben stehen in jedem Leben und Forschen in Kraft, solange kein realer, das heißt in bestimmten Situationen aufkommender und begründeter Zweifel dazwischen tritt, Unruhe schafft, Krisen hervorruft und zu Haltsuche, Forschung und Neuorientierungen Anlass gibt. So praktisch der Zweifel, so überzeugungsbezogen ist die gesuchte Handlung als Zielhorizont der ganzen Konstellation, die erst in einem neu etablierten Glauben zur Ruhe kommt. Denn in ihm lebt die damit zugleich neu begründete Handlungsmöglichkeit, um deren Bewältigung es in existentiellen wie wissenschaftlichen Fragen zu tun ist. Kurz gesagt: Menschliches Denken, so sehr es in Mathematik und Logik zur Konstruktivität und Abstraktion in der Lage ist, bleibt immer pragmatistisch eingebunden in die Grundstruktur von Glaube und Handeln. 14 Dann ist der – vor allem in Deutschland – gängige Begriff des Naturalismus so zu modifizieren, dass er gerade nicht die exklusive Reduzierung auf Erklärungsmodelle der empirischen Naturwissenschaften bedeutet, sondern diese eingebunden in den umfassenderen Erfahrungsbegriff denken lässt, in dem das Basisphänomen des Glaubens konstitutiv ist. Vom allgemeinen Glaubensbegriff, wie er als Überzeugungsbildung für Alltagsorientierung und Wissenschaften in Kraft steht, wäre religiçser Glaube dadurch zu unterscheiden, dass letzterer sich auf die schöpferische Ermöglichungsbedingung überhaupt und als solche be14 In etwas anderem begrifflichen Kontext ausgedrückt (Glaube wäre hier zu verstehen als das primär überzeugungsbildende Sichbeziehen auf unmittelbare Wahrnehmung), vgl. Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus (s. o. Anm. 4 [VII. Vorlesung]), 145: „Die Elemente eines jeden Begriffs treten in das logische Denken durch das Tor der Wahrnehmung ein und verlassen es durch das Tor zweckvoller Handlung; und was seinen Pass an diesen beiden Toren nicht vorzeigen kann, wird von der Vernunft als nicht autorisiert festgenommen.“

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zieht, ohne die, menschlich gesprochen, nichts sein kann. Die Religionen wären dementsprechend als primäre Ausdruckgabe der Fundierung natürlicher Handlungsimpulse zu verstehen, die jeweils in den religiösen Grundvorstellungen zur Bearbeitung kommen – in der europäischen Moderne im Begriff des Glaubens. Dieser Glaube wiederum setzt voraus, dass es ein menschliches Selbst gibt, das zu sich selbst über andere in Beziehung tritt und auf diese Weise – immer mehr oder weniger bewusst – fühlt, willentlich agiert und reagiert, und selbstkontrolliert denkt. Dazu kann immer zwischen den Perspektiven der ersten, zweiten und dritten Person unterschieden werden, und das in einer Vorstellungs- und Denkschärfe, wie wir sie Tieren und Pflanzen nicht unterstellen können. Fühlen, Wollen, instrumentelles Kalkulieren ist bei Tieren (sicherlich ganz unterschiedlich ausgeprägt und einsetzbar) zu beobachten und zu Recht anthropomorph wiedererkennbar; aber zumal die sich rückwendende Thematisierung der schöpferischen Gefühlsqualitäten, wie es der religiöse Glaube in Bildern, Geschichten und Symbolen zum Ausdruck bringt, kann bei Tieren nicht erwartet werden. Trotzdem, es geht hier um Übergangsphänomene, keine absolute Differenz, sondern eben um das, was sich evolutionistisch als Emergenz beschreiben lässt: Dort, wo sie eingetreten ist, macht sie jeweils einen markanten Unterschied. Die frühesten uns erhaltenen kunst-religiösen Dokumente, Höhlenmalereien vor etwa 15000 Jahren, zeigen Jagd- beziehungsweise Opfertiere, in denen bildhaft, vielleicht magisch-rituell, jedenfalls in gezielter Darstellung Naturvertrautheit, Daseinsangst und mögliche Lebensbewältigung ausdrücklich, das heißt bewusstmachend noch einmal vor Augen geführt werden, kurz: Die lebensstabilisierende Grundrelation von (ästhetisch-religiösem) Glauben und Handeln gibt sich selbst, wie spontan, instinktiv oder planvoll auch immer, als kreatives Ursprungsgeschehen in wiederholender, gestaltender Kreativität zu erkennen. Soweit wir sehen, ist diese bewusste, Nähe gebende und Distanz haltende Wiederholung existentieller Situationen Tieren nicht möglich; es fehlt offenbar an Vorstellungskraft für komplexere Selbstbeziehungen, denn diese erst können sich in Bildern wiedererkennen und zunehmend auch religiöse Ursprungsbeziehungen thematisch machen.

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3 Menschen als leibseelisch-geistige Zeichenbenutzer und Zeichenrelation Der neuzeitliche Dualismus von Subjekt und Objekt hatte unter anderem auch vorausgesetzt, dass diese beiden Größen, Substanzen oder Pole als solche erkennbar wären: So wie sich empirische Gegenstände ausfindig machen und bestimmen lassen, so dann durch eine bemühte Innenansicht auch die Seele des Menschen. Wird letzteres aber im Wissenschaftsprogress zweifelhaft, so bleibt (in der Zuständigkeit einzelner Wissenschaften) nur noch die Objektivität messbarer Gegenstände – und eine Leerstelle, wo früher einmal die Seele als göttlich-menschliche Substanz gedacht wurde und wo heute die Psychologie über Therapien mühsam Ersatz zu schaffen sucht beziehungsweise den objektivierenden Zugriff auch an dieser Stelle zum Zuge bringt. Zwei Auswege aus diesem Dilemma bieten sich an, die im Folgenden miteinander verbunden werden sollen. Denn was früher einmal Seele hieß, was der Mensch ist, wie seiner vorrangig erstpersonalen Perspektive entsprochen werden kann und welche Verbindlichkeit dem religiösen Glauben dabei zu kommt, all das lässt sich wissenschaftlich wieder auffangen, wenn von folgenden Beobachtungen ausgegangen wird: (1) Jedes Menschen Verhältnis zu sich selbst, wie es Søren Kierkegaard im durchaus schon naturwissenschaftlich geprägten 19. Jahrhundert analysiert, hat einen äußeren leiblichen und einen inneren seelischen Aspekt, zu deren Synthese, wie Kierkegaard sagt, dasselbe Verhältnis sich noch einmal fühlend, willentlich und bewusst zu verhalten hat. Menschsein bedeutet dann, in dieser Doppelkonstellation ein geistiges Verhältnis als Faktum wie als Aufgabe, kurz ein Selbst zu sein; und weil dieses Selbst sich als bedingt erfährt, bringt es zugleich eine Frage nach seinem Grund mit sich; traditionell gesagt: die Gottesfrage beziehungsweise die fordernde, existentielle Situation des religiösen Glaubens, der als solcher wiederum die primäre Fundierung des Selbstverhältnisses ausmacht – auch und gerade dann, wenn dieser Grundbezug weder objektivistisch noch subjektivistisch einfach greifbar gemacht werden kann. (2) Dass Menschen sich derart verhältnisbildend und immer prozesshaft erfahren, das heißt nicht von festen Polen, Substanzen oder Faktizitäten allein ausgehen können, ist eine Entdeckung, die Charles Sanders Peirce (der Mathematiker, Naturwissenschaftler und Philosoph) Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gemacht und als Zeichenrelation des Erkennens, Denkens und Seins des Menschen nachgewiesen

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hat. Eine Zeichenvermittlung ist demnach nicht nur ein Verständigungsmittel, so wie etwas als ein Zeichen für ein Objekt und beide vermittelnd für eine zugehörige – im Falle des Menschen: geistige – Interpretation steht; sondern Menschen empfinden sich selbst als reale Zeichenprozesse, weil sie zu sich selbst keinen irgendwie unmittelbaren Zugriff haben. Das Selbstverhältnis, wie Kierkegaard es exponierte, hat semiotisch (zeichentheoretisch) gesehen dann den Zuschnitt eines zeichenvermittelten (gefühlten, wahrgenommenen, erkannten, gedachten etc.) Objektbezugs (im leibseelischen Verhältnis), der als solcher nicht nur vorliegt, sondern auch bearbeitet und immer neu erfasst werden muss15 – als Aufgabe des geistigen Verhältnisses (Peirce: Interpretantenrelation) des Selbst, das sich genau so definieren lässt. Denken wir uns einen glücklichen Augenblick, zum Beispiel in der Situation eines Sommermorgens, eines ersten Ferientages mit Blick auf das offene Meer bei aufgehender Sonne. Alles erscheint unmittelbar stimmig, und die Wahrnehmung ist in augenblickshafter Fülle einfach so wie sie eben ist. Zwar fehlt es nicht an vorausgegangenen Bedingungen, etwa der Hinreise, der nachwirkenden Brüche mit der Alltäglichkeit größerer oder kleinere Konflikte, den Fragen nach den zukünftigen Lebensabsicherungen et cetera; doch das alles verblasst am Rande gemessen an der Bildqualität des gefühlten Jetzt, das in seiner Stimmigkeit, natürlichen Schönheit und Güte als sthetischer Augenblick bezeichnet werden kann: Ein solcher Augenblick ist wie gemalt, besungen oder gedichtet. Seine Intensität ließe sich auch durch Lebenskunst und künstlerische Mittel steigern, vielleicht sogar erzeugen, jedenfalls seiner Möglichkeit nach: Eine Gemälde kann visionär entworfen werden, eine Musik kann den glücklichen Augenblick einfangen, ein Gedicht kann in Sprachbildern seine Imagination provozieren; und Lebenskunst würde solche Elemente in die Bewältigung des Alltags einzubauen versuchen, von der Übung mit Farben über Hausmusik bis zum Theaterbesuch. Was eine solche Ästhetik als Kunst- und Lebensform erreichen kann ist, quer zum normalen Lebensverlauf, die Konzentration auf das eigene Selbst, in einem Schnittpunkt – oder gesuchten Ruhepunkt – innerhalb der Spannungen zwischen leibseelischer und geistiger Verhältnisbildung. Kunst kann das. Aber sie will mit ihrem Können aufdecken, was, bisher 15 Vgl. Charles S. Peirce, Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), in: Ders.: Schriften zum Pragmatismus und Pragmatizismus, hg. v. Karl-Otto Apel, Frankfurt a. Main 1991, 54: „Wenn wir denken, dann erscheinen wir selbst, so wie wir in diesem Moment sind, als ein Zeichen.“

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unerkannt oder zurückgehalten, doch schon zugrunde liegt oder zugrunde liegen müsste. Hier zeigt sich wiederum das Phänomen von Nähe und Distanz zu sich selbst, das darzustellen Tiere nicht vermögen, wohl aber der Mensch als zeichenprozessuales Selbst in der Doppelkonstellation seines Selbstverhältnisses. Liegt der Akzent aber exklusiv auf dem überraschenden Jetzt des Augenblicks ganz für sich genommen, so könnten wir versucht sein anzunehmen, dass es bei Tieren vielleicht doch nicht auszuschließen ist, solch einen Brennpunkt oder Ruhepunkt wahrzunehmen. Gradweise Abstufungen der Intensität bis zu einem kaum mehr erkennbaren Minimum sind dabei natürlich vorauszusetzen. Was nun wäre eine religiöse Erfahrung am selben Beispiel? Zur Wahrnehmung des glücklichen Augenblicks gehört dann nicht nur dieser einfach selbst – oder dessen kunstvolle Herstellung – so wie er selbst wäre, sondern das unmittelbar versuchte, rezeptive, passive, reaktive Antworten auf das Jetzt in seiner vorausgehenden, kreativen Ursprünglichkeit. Erschlossen wird so der Grund des Jetzt als Grund des Selbst, und die unmittelbare Antwort ist kein reflektiertes Urteilen, sondern ein Verhältnis der dankbaren Übereinkunft mit einem Vorrangigen – so wie es die religiösen Bilder, Geschichten und Symbole von Schöpfung, Versöhnung und Erlösung überliefern. Sie wollen primär nichts herstellen (wie die Kunst), sondern den glücklichen Augenblick empfangen. Hinzu kommt, dass die Religiosität in diesem Empfangen immer auch die Erfahrungen des Leidens und Unglücks spiegelt, die in der schöpferischen Dankbarkeit gerade nicht verdrängt werden müssen. Semiotisch gesehen ist diese gefühlte Kreativität im Selbst ein Zeichen, das in der übertragenen Darstellungsform der Religiosität Gott als seinen Gegenstandsbezug aneignen lässt – zum Beispiel im religiösen Symbol der Schöpfung, in Ritualen der Dankbarkeit, in Geschichten von der Schöpfung der Welt, in Bildern kreativer Ursprünglichkeit. Aus diesen Zeichenvermittlungen, Aneignungs- und Verstehensprozessen können Menschen letztlich nicht heraustreten, keinen neutralen Ort beanspruchen, sondern die Pointe des geistigen Verhältnisses liegt auf der Prozessualität des zeichenvermittelten Selbst. Dass dieses aber um sich weiß und seine eigene Konzentration auf das Jetzt des Augenblicks in Dankbarkeit wahrnehmen und dann bildhaft, narrativ und symbolisch auslegen kann, das macht die eigenständige Qualität des Menschen als Zeichenbenutzer. In seiner Selbst-Relation die Frage nach dem Grund des Selbst religiös ausdrücken zu können – das zeigt wiederum die Differenz zu Tieren, denen wir ein solches sich-erfassendes Selbst auch auf dieser allerersten Stufe vorreflexiver Kreativität

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kaum unterstellen können.16 Nicht erst die höheren Sprach- und Reflexionsformen also machen den Unterschied zwischen Mensch und Tier, sondern das religiöse Selbstverhältnis zum eigenen Grund und seine Ausdrucksfähigkeit. Dem gewählten Beispiel muss nun gar nicht mehr – als scheinbares Gegenbild – ein Augenblick des Schmerzes oder Leidens gegenübergestellt werden, denn der glückliche Augenblick wird, zumindest in seiner religiösen Wahrnehmung, ja auf dem Hintergrund einer Lebenserfahrung hervorgehoben, die die Negativität nicht ignorieren muss; und für Kunstwerke, nicht erst in der Moderne, dürfte das entsprechend gelten (hier läge dann ein Kriterium für die Unterscheidung von Kitsch und Kunst). Die Differenz liegt allerdings in der künstlerisch-aktiven Präparierung des Augenblicklichen, es als solches wiederholen zu wollen; während das religiöse Selbstverhältnis fühlt und antwortet, zuhört und reagiert, den Eindruck gelten lässt und ihn auszulegen versucht. Dass jeweils in der aktiven Darstellung die Religiosität ( je nach Epoche sehr unterschiedlich) die Künste inspiriert, benutzt und gebraucht hat, ist eine zweite Frage; und ihr entsprechend wäre festzuhalten, dass zum besseren Verständnis ihrer selbst die Kunst das religiöse Grundverhältnis ( je nach Epoche sehr unterschiedlich) eigentlich immer voraussetzt. Den glücklichen Augenblick als solchen einzufangen und auszudrücken, darauf also käme es beiden an, Kunst und Religion; so dass Leiden und Glück doch zusammen stehen könnten. Gauguins Christusbild wäre dann (im christlichen Traditionskontext) eine Inkarnation solcher Bildkraft, in der die religiöse Situation der Andacht und der ästhetische Augenblick in eins fallen. Es sind die Farben des Bildes, die diese ursprüngliche Einheit als ganz natürlich erscheinen lassen.17

16 Winfried Menninghaus, Zur Evolution der Künste, in: Evolution in Natur und Kultur (s. o. Anm. 1), 205 – 222, nennt drei „Säulen“ menschlichen Verhaltens, die bereits auf „nicht-menschliche Primaten zurückgehen“ (ästhetische Wertung sexueller Körperornamente, Spielverhalten, Werkzeuggebrauch), und eine „Säule“ als demgegenüber „distinktives Merkmal“ des Menschen: den „Zeichengebrauch“ (208), d. h. den „Zugang zu den Dimensionen des Nicht-mehrPräsenten, des Noch-nicht-Präsenten“ (217). 17 Paul Gauguin, Der gelbe Christus (1889), vgl. in: Roland Posner u. a. (Hg.), Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 2 (HSK 13.2), Berlin/New York 1998, Tafel VIII, Abb. 87.3.

Anthropologie der Artikulation und theologische Anthropologie Michael Welker 1 Denkimpulse der Anthropologie der Artikulation Im Jahr 2009 veröffentlichte Matthias Jung ein brillantes Buch: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie der Artikulation 1. Im Rahmen interdisziplinärer Diskursgemeinschaften am Max-Weber-Kolleg in Erfurt und an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Forschergruppe: Funktionen des Bewusstseins) hatte Jung eine anspruchsvolle philosophische Anthropologie entwickelt. Diese Anthropologie will er mit neueren neuro- und kognitionswissenschaftlichen sowie entwicklungsbiologischen Forschungserkenntnissen konfrontieren und ins Gespräch bringen. Das Buch präsentiert sich als umfassende Kritik aller Spielarten von Theorien, die bewusst oder implizit mit sogenannten „cartesianischen Differenzen“ ansetzen: „,Innen-Außen‘, ,Leib-Seele‘, ,Geist-Körper‘, ,Ich-Welt‘, ,Natur-Kultur‘“ (4). Konstruktiv will es ein Forschungsprogramm entwickeln, das eine philosophisch-interdisziplinäre Anthropologie mit evolutionstheoretischen naturwissenschaftlichen Frageund Erkenntnisinteressen in Verbindung bringt. Die erkenntnisleitende Problemstellung wird schon in den beiden ersten Sätzen des Buches formuliert: „Menschen sind Lebewesen und der evolutionären Kontinuität eingeordnet, die alles Lebendige umgreift. Doch die kulturelle Lebensform, die so entstanden ist, unterscheidet sich als Ganze, nicht erst in den so genannten ,höheren‘ Funktionen des Bewusstseins, von derjenigen anderer Lebewesen.“ (1)

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Berlin/ New York 2009. Die Seitenangaben im folgenden Text beziehen sich auf dieses Werk.

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Jung chiffriert diesen Sachverhalt mit der Rede vom „Holismus der Differenz“ (ebd.).2 Gerahmt und fokussiert wird die Frage nach der Vermittlung evolutionstheoretischer und sogenannter differenzholistischer Forschungsansätze durch ein moralphilosophisches Programm. Dieses wird am Ende des Buches skizziert, inspiriert durch mehrere Arbeiten von Jungs Mentor Hans Joas und im Anschluss an Norbert Meuter3 und Christian Illies4 sowie in Abgrenzung von beiden. Jung vertritt mit Meuter die These, „dass nur solche Anthropologien, die bei der Verkörpertheit von Zeichenprozessen einsetzen, mit Aussicht auf Erfolg gegen dualistische wie gegen reduktionistische Positionen gleichzeitig argumentieren können.“ (5) Vor diesem Hintergrund interessiert ihn das, was er „artikulatorisches Denken“ nennt, das er intrinsisch verbunden sieht mit physisch gegliederten Bewegungsabläufen: „Der Gedanke bedarf des materiell realisierten Zeichens“ (13), und zwar auf allen Ebenen der Perzeption und Vermittlung. Jung spricht von „verkörperter Kognition“ (11) und von „verschiedenen Spielarten symbolischer Prägnanz“ (12). Er will die unverzichtbar „semantischsomatisch gedoppelte“ menschliche Artikulation differenziert erschließen, die schon in basaler Expressivität materiell zu fassen und kommunikativ sowie performativ ausgerichtet ist (vgl. 14 – 19). In der Konzentration auf den homo articulans eröffnet sich ein hochdifferenziertes Forschungsfeld, in dem „symboltheoretische, evolutionsbiologische, kognitionspsychologische, handlungstheoretische, hermeneutische, sozial-, religions- und moralphilosophische sowie medientheoretische und linguistische Ansätze vielfältig miteinander verschränkt“ sind (22). Wie will Jung diese ambitiöse Programmankündigung einlösen? Inspiriert vor allem von Charles Taylor und Charles Sanders Peirce bietet Jung im ersten Teil des Buches eine systematisierende Entwicklungsgeschichte einer „gleichermaßen somatisch-individuellen wie kulturell-historischen Anthropologie“ (24). Die von Charles Taylor so ge2 3 4

In eine ähnliche Richtung gehen die Gedanken Wilfried Härles zur „Einheit der Geschöpfe“, mithin zum Holismus der irdischen Welt; siehe: Wilfried Hrle, Dogmatik, Berlin/New York 32007, 428 f. Vgl. Norbert Meuter, Anthropologie des Ausdrucks. Die Expressivität des Menschen zwischen Natur und Kultur, München 2006. Christian Illies, Philosophische Anthropologie im biologischen Zeitalter. Zur Konvergenz von Mensch und Natur, Frankfurt/M. 2006. Auch die Arbeiten von Jürgen Trabant zum Thema Artikulationen wären an dieser Stelle zu erwähnen, z. B.: Artikulationen. Historische Anthropologie der Sprache, Frankfurt/M. 1998.

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nannte „Herder-Humboldt-Hamann-Theorie“ (vgl. 25 und öfter) hatte polemisch gegen cartesianisches und transzendentales Philosophieren betont, dass menschliches Erfahren, Denken und Begriffsbilden nicht nur zeichengebunden, sondern unabdingbar verkörpert sei. Jung verfolgt diese Denktradition schon von Vico an bis hin zu Dilthey und der sogenannten „lebenswissenschaftlich“ orientierten Hermeneutik sowie zum nordamerikanischen Pragmatismus und dessen Einflussbereichen. Im amerikanischem Pragmatismus gelinge – vor allem durch Peirce und Dewey – eine „handlungstheoretische Verankerung des Artikulations-Paradigmas“, die klassische anthropologische Dualismen abzulösen erlaube: Die Pragmatismen bestehen „auf dem Eigenrecht der ErstePerson-Erfahrung und auf der dezentrierenden Kraft des naturwissenschaftlichen Denkens mit seinem Fallibilismus“ (26). Zur diagnostischen Erschließung und theoretischen Entfaltung der „Anthropologie der Artikulation“ stellt Jung die triadische Semiotik von Peirce in Dienst. Mit ihrer Unterscheidung von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen erlaube sie es, Kontinuität und Diskontinuität von präsymbolischem Ausdruck und symbolischer Artikulation (vgl. 26) zu würdigen und gedanklich zu kontrollieren. Sie liefert auch Rezeptions- und Entwicklungsimpulse für die Themen und Denker des zweiten Teils des Buches, der sich der aktuellen Debatte zwischen philosophischen, kognitionswissenschaftlichen, entwicklungsanthropologischen und entwicklungsbiologischen Positionen widmet. Jungs wichtigste Gesprächspartner sind einerseits die für das Gespräch mit Naturwissenschaftlern und Theorien des Embodiment und der Artikulation offenen Philosophen Andy Clark (Edinburgh), Shaun Gallagher (Cambridge und University of Central Florida) und Robert Brandom (Pittsburgh) und andererseits die philosophisch aufgeschlossenen Naturwissenschaftler Merlin Donald (psychology and cognitive neuro-sciences, Queen’s University, Kingston), Terrence Deacon (biological anthropology, Harvard und University of California) und Michael Tomasello (anthropology and behavioral research, Emory und Leipzig). Sowohl in den philosophie- und geistesgeschichtlichen Rekonstruktionen als auch in den Erörterungen aktueller interdisziplinärer anthropologischer Forschung interessiert Jung eine, mit Herder formuliert, „Physiologie der menschlichen Erkenntniskräfte“ (vgl. 72), die er auch mit Plessner „Ästhesiologie des Geistes“ nennt (ebd.). Beobachtungen und Überlegungen von Vico bis Humboldt aufnehmend, schwebt ihm die Beschreibung eines „expressiven Kontinuums“ vor, das sich erstreckt von „mimetisch-bildhaften Redeweisen (…) bis zum logisch durchge-

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klärten operationalisierten Zeichengebrauch“ (85). Dabei wird durchaus deutlich, dass Cassirer und Peirce auf den Theorieentwurf beständig Einfluss nehmen. Es ist der Leitgedanke der „Verkörperung“, der Jung großzügig und pragmatisch die Positionen von Peirce, James, Dewey und Mead als „pragmatistische Anthropologie des symbolischen Handelns“ (181ff) zusammenfassen lässt. Von Peirces Theorie der drei Zeichentypen inspiriert, will er diese Anthropologie im Rahmen eines, wie er formuliert, dreidimensionalen Zeichenprozesses entwickeln, der von „Erster-Person-Erfahrung“ in physischer Unmittelbarkeit ausgeht, die sich zunächst in „einheitlichen Erfahrungen mimetisch-präsentativer, unartikulierter Expression“ äußert (194). Die zweite Dimension wird am besten durch das Denken von George Herbert Mead erhellt (wobei im Hintergrund aufschlussreiche Auseinandersetzungen der nordamerikanischen Pragmatisten mit Hegel und Darwin stehen, vgl. 186ff). Meads Theorie der Intersubjektivität wird weder von dialogistischen oder personalistischen Denkansätzen à la Feuerbach und Buber noch von Konzepten intrinsisch sprachlicher Intersubjektivität à la Habermas geprägt. Jung folgt der Interpretation von Hans Joas in der Beobachtung: „Sprachliche Intersubjektivität wird bei Mead aus der körpernäheren Struktur der Gebärdenkommunikation rekonstruiert und im kooperativen Handeln fundiert“ (229).5 Eine höchst rudimentäre „praktische Intersubjektivität“ (ebd.), die aus (auch plural) wechselseitigem Wahrnehmen und Abstimmen von Gebärden und mimetischen Expressionen hervorgeht, ist hier wesentlich. Während diese Koordinationsprozesse, „die auf Ikonizität und Indexikalität basieren (…), (auch) in sehr differenzierter Form schon bei vielen Tierarten gefunden werden können“ (253), markiere die Fähigkeit „zum Perspektivenwechsel“ nach Mead die Schwelle zum „Humanspezifischen“ (257). Die Ontologisierung des Perspektivenbegriffs und die damit verbundene Zentralität des Organismusbegriffs übernehme Mead von Alfred North Whitehead (256 f).6 Im zweiten Teil seines Buches mustert Jung nun anthropologische Arbeiten naturwissenschaftlich informierter Philosophen (Clark, Gal5 6

Vgl. Hans Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des Werks von G. H. Mead, Frankfurt/M. 1989. Vgl. Alfred North Whitehead, Religion in the Making, New York 1926, Kap. 1.3; siehe auch Michael Welker, Alfred North Whitehead: Relativistische Kosmologie, in: J. Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen: Philosophie der Gegenwart I, Göttingen 31985, 269 – 312; und Michael Hampe, Alfred North Whitehead, München 1998.

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lagher, Brandom) und philosophisch aufgeschlossener Naturwissenschaftler hinsichtlich unterstützender Beobachtungen und Argumente zum Verstehen elementarer „somatischer und soziokultureller Verkörperungsprozesse“. Mit Hilfe von Gallagher will er empirische Evidenzen gewinnen für Bewegungsformen, die gestischen Charakter besitzen und Übergänge zu intersubjektiver Kommunikation und Artikulation (vgl. 325ff) darstellen. Zentral ist für ihn eine sogenannte „Leiter der Explikation“, die er unter Rückgriff auf Arbeiten von Merlin Donald, Terrence Deacon, Michael Tomasello und Robert Brandom erstellt (vgl. 372ff).7 Kognitive Evolution sieht er auf einer ersten Stufe mit „einheitlichen, qualitativen Situationserfassungen“ (380) einsetzen. Mit Donald spricht er von der „episodic stage“ (383). Rudimentäre intersubjektive Praktiken, die die involvierten Individuen an „impliziten normativen Erfüllungs- und Gelungenheitsbedingungen“ orientieren, bilden die zweite Stufe. Auf der dritten Stufe sieht er „holistische Netzwerke natürlicher Sprachen“ emergieren, „die symbolisch sind, also nicht mehr direkt über physischen Zusammenhang etabliert werden“ (380). Auf dieser Ebene kommen evolutionär die von Herbert Paul Grice herausgearbeiteten explizit kommunikativen Intentionen auf, die „human-spezifische … deklarative und informative“ Funktionen einbringen, die die von Jung so genannte „Grice’sche Schwelle“ zwischen Primaten und Menschen überschreiten. Die durch Symbolgebrauch ermöglichte Wende von direkter zu reflexiver Expressivität versucht Jung schließlich mit Hilfe von Georg Simmels Konzept der „Achsendrehung“ zu verdeutlichen (vgl. 439ff), mit der seiner Ansicht nach auch der Dual von „Immanenz und Transzendenz“ eingeführt wird. Jeder „Lebensinhalt“ in Simmels Sprache, jede Organismus-Umwelt-Agitation kann einerseits in dem verharren, was Jung „präsymbolische und präsemantische Unbestimmtheit“ nennt. Sie kann sich andererseits über Äußerung und Artikulation zu jener „immanenten Transzendenz“ erheben, die Jung ultimativ in „postsemantische Unbestimmtheit“ münden sieht und mit religiöser Mystik verbindet.

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Terrence Deacon, The Symbolic Species: The Co-Evolution of Language and the Brain, New York/London 1997; Robert Brandom, Making it Explicit. Reason, Representing and Discursive Commitment, Cambridge 1998; Merlin Donald, A Mind So Rare. The Evolution of Human Consciousness, New York/London 2001; Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt/M. 2002.

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Jung summiert: „Semantisierungsprozesse bleiben eben von zwei Seiten her stets von Unbestimmtheit umfangen: dem qualitativen Erleben und der transzendierenden Differenz des Bezeichneten über seine Bezeichnung“ (453). Er betont die Prägekraft des präsemantischen „Stroms des erlebenden Bewusstseins“ (455) als „integrale(n)/ Aspekt der Semiose“ (ebd.). Und er betont die Prägekraft eines postsemantischen Stimmigkeitsempfindens. „Zu diesen beiden inneren Grenzen des Ausdrucks kommt als Drittes die Erfahrung semiotischer Transzendenz hinzu, die sich nur durch reflexiven Symbolgebrauch einstellen kann.“ (ebd.) Dabei schwebt ihm offenbar die Größe vor Augen, die wir theologisch als „abstrakte Transzendenz“ identifizieren. Jung selbst interessiert eine dreigliedrige Typologie präsemantischer, semantischer und postsemantischer Unbestimmtheit (vgl. 471ff). Er spricht von der „unbestimmten Bestimmbarkeit“ elementaren Erlebens (präsemantisch). Er charakterisiert Strategien der Schweigens, Verschweigens, impliziten Geltenlassens etc. in der Semiose als „unbestimmte Bestimmtheit“. Und er würdigt die postsemantische Interessenahme an „bestimmter Unbestimmtheit“ als eigene Form der Prägnanzbildung, mit der er – ob zu Recht oder nicht – besonders Dichtung und Religion befasst sieht. Mit diesem breit erarbeiteten Erkenntnis- und Theoriearsenal wendet er sich in einem abschließenden „Ausblick“ der „Artikulation des Moralischen“ zu (481). Im Anschluss an Taylor und Castoriadis8 sieht er moralische Kommunikation gesteuert von „social imaginaries“ (485 f und öfter), die sich „vergangenen Semantisierungen von Erfahrungen – in Bildern, Geschichten“, aber auch Theorien verdanken. Relativ schlicht rekurriert er dabei auf Kontrasterfahrungen, zum Beispiel mit der These, dass etwa die Sklaverei für die Entstehung des Wertes der Freiheit formgebend gewesen sei. Obwohl er die hohe moralische Relevanz der „empowering images and stories“ (497) nicht in Frage stellt, warnt er doch vor der Gefahr einer – auch latenten – Prinzipienorientiertheit, die die Prägekraft des Situativen und der unmittelbaren verkörperten Erfahrung unterschätzt. Er spricht von einem elementaren „sense of agency“ bis hinab in die „episodische Sensitivität“ und den Bereich vormoralischer Wertungen (vgl. 504 f und 509). Im Übergang zu rudimentären Erfahrungen des tatsächlichen Handelns und Behandelt-Werdens sieht er den Weg zur „moralischen Aus8

Charles Taylor, Modern Social Imaginaries, Durham 2004; Ders., A Secular Age, Cambridge 2007, bes. 171 – 176; und Cornelius Castoriadis, L’Institution Imaginaire de la Société, Paris 1975.

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drücklichkeit“ beschritten: „Das weite Feld des mimisch-gestisch Expressiven, das auf Face-to-Face-Interaktionen angewiesen ist.“ (510) Die damit beiläufig verbundenen kurzen Bemerkungen zur Relevanz der Rituale und der Selbstüberschreitung im „Empathiephänomen“ (511) signalisieren eher das nicht gelöste Problem, als dass sie es bearbeiten: Wie können wir die Übergänge von kommunikativer und interaktiver Ausdrücklichkeit zu moralischer Ausdrücklichkeit erfassen und darstellen? Der abschließende „Ausblick“ mündet denn auch in Warngesten und unzureichend vorbereitete Thesen, ja, bloße Versicherungen. Das Bemühen um universelle moralische Geltungsansprüche und um rational gepflegte moralische Kommunikation dürfe den „konstitutiven Beitrag des Individuell-Situativen und der intersubjektiven Face-to-Face Erfahrung“ nicht „übersehen“ (522). Die Anthropologie der Artikulation bietet somit keinen moralphilosophischen Beitrag, der über die wohlfeile Behauptung hinausführte, alle moralische Kommunikation bleibe auch in ihren reflektiertesten propositionalen Formen angewiesen „auf die Eindringlichkeit leiblichen Erlebens sowie die moralische Überzeugungskraft persönlicher Begegnungen und genealogischer Erzählungen“ (529).

2 Beiträge Theologisch-Interdisziplinärer Anthropologie zur Anthropologie der Artikulation Die zahlreichen Erkenntnisse der Anthropologie der Artikulation sollen nun mit einigen Einsichten verbunden werden, die wir in einem mehrjährigen internationalen und interdisziplinären anthropologischen Forschungsprojekt gewonnen haben, das unter dem Titel The Depth of the Human Person: A Multidisciplinary Approach 9 publiziert wird mit philosophischen Beiträgen10, naturwissenschaftlichen Beiträgen11 aus der Psychologie, der Entwicklungspsychologie und der Entwicklungsbiologie, geisteswissenschaftlichen Beiträgen zu den Themen Seele, Imago Dei und Affektenlehre. Ethische und rechtsphilosophische Fragestellungen (Würde des Menschen, naturalistische und mentalistische Anthropologien, Grenzen des Lebens) wurden von Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, England, Schottland, den USA, Japan und Indien 9 Ed. by Michael Welker, Grand Rapids: Eerdmans 2012. 10 Z.B. Andreas Kemmerling, Why is Personhood Conceptually Difficult? 11 Warren Brown, The Emergence of Human Distinctiveness; Jeffrey P. Schloss, Hierarchical Selection and the Evolutionary Emergence of ‘Spirit’; u. a.

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bearbeitet. Im Folgenden sollen lediglich einige Entwicklungslinien des Projekts und einige mögliche Erkenntnisgewinne, die meines Erachtens für den Dialog mit der Anthropologie der Artikulation fruchtbar gemacht werden können, hervorgehoben werden. Das Projekt setzte mit Fragestellungen ein ähnlich denen, die Matthias Jung als Ausgangsprobleme markiert hatte. Wie können wir dual und dualistisch strukturierte Anthropologien vermeiden, wie sie für die überwiegende Mehrzahl der anthropologischen Entwürfe immer noch Standard sind. Wie können wir die körperliche und leibliche Verfassung des Menschen angemessen würdigen, ohne in einen naturalistischen Szientismus zu verfallen? Hatte die Moderne recht in der Verdrängung der Rede von der Seele und der Rede vom Geist durch Theorien des Selbstbewusstseins – oder gingen damit wichtige Dimensionen und Inhalte menschlicher Erfahrung verloren? Wenn ja, können wir dies auch agnostischen Denkern in Natur- und Geisteswissenschaften plausibel machen? Mit diesen Fragestellungen im Hintergrund luden wir etwa 20 Kollegen zur Zusammenarbeit ein unter dem Arbeitstitel „Body, Soul, Spirit: the Complexity of the Human Person“. Die Kooperation begann mit einem Schock. Der Philosoph Andreas Kemmerling machte darauf aufmerksam, dass der Arbeitstitel in hohem Maße kontraproduktiv sein könnte: „Etwas, das an dem Begriff der Person zutiefst verwirrend ist, ist dies: sein unerschöpflicher Reichtum. Selbst der basale und dürrste, ,ontologische’, Begriff der Person ist unerschöpflich vielfältig. Und es ist völlig unklar, welche seiner Merkmale Kernbestandteile sind – und welche eher an den begrifflichen Rand gehören oder vielleicht sogar nur als von anderen abgeleitet zu betrachten sind.“12 Gegenüber der Gefahr reduktionistischer und dualistischer Anthropologien hat Kemmerling die Gefahr beschworen, „über dem Reichtum (des Begriffs der Person) ins Grübeln (zu) verfallen“ und „in einem Fass ohne Boden (zu) versinken“. Er hat vorgeschlagen, die inhaltlichen und theoretischen Interessen offenzulegen, die mit einer Diskussion über diesen Begriff verbunden werden sollen, um auf diesem Wege zu versuchen, „ein bisschen Ordnung in das begriffliche Durcheinander zu bringen“.13

12 Andreas Kemmerling, Was macht den Begriff der Person so besonders schwierig?, in: Günter Thomas/Andreas Schle (Hg.), Gegenwart des lebendigen Christus, Leipzig 2007, 541 – 565, 544 f. 13 A.a.O., 564 und 563.

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Eine wichtige Hilfe bei dem Versuch, diesen Vorschlag zu beherzigen, bot der Beitrag des Neutestamentlers Gerd Theißen: „Sarx, Soma and the Transformative Pneuma: Personal Identity Endangered and Regained in Pauline Anthropology“. Er machte deutlich, dass die paulinische Anthropologie, obwohl sie nicht eine aus einem Guss konzipierte Systematik bietet, sondern in verschiedenen Dialogkontexten geformt wurde, ein äußerst stimmiges Gesamtbild mit großen diagnostischen Potentialen vermittelt. Doch bei erster Betrachtung mag gerade die paulinische Anthropologie wenig hilfreich erscheinen für ein Projekt wie das der Anthropologie der Artikulation. Denn sie ist gerahmt vom Dualismus von Fleisch und Geist. Beide Größen werden als „Feinde“ bezeichnet (Gal 5,16 f): „Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden.“ (Röm 8,6). Dieser Dualismus ist geprägt vom Dualismus von Endlichkeit und Ewigkeit. Dennoch ist nach Paulus die besondere Materialität des Fleisches – etwa gegenüber Stein und Staub – durchaus zu schätzen. Das menschliche Herz, in dem sich emotionale, kognitive und voluntative Kräfte verbinden, ist eine fleischliche Größe (II Kor 3,3; vgl. auch II Kor 4,11). Wohl repräsentiert das Fleisch die irdische, hinfällige und vergängliche Existenz. Aber dieser Existenz kommt die Würde zu, die Abstammung und Gestalt eines individuellen Lebens zu markieren (Röm 1,3; vgl. Röm 8,3 und 9,5).14 Das Fleisch gehört also unabdingbar zur historisch-materiellen Basis leiblicher Existenz. Es ist unverzichtbar für die höherstufigen menschlichen Existenzformen in Gestalt von Leib und Herz, aber auch Seele und Geist. Ebenso problematisch wie eine bloße Verteufelung des Fleisches ist die Vergötzung des „reinen Geistes“. Dies macht Paulus in der Auseinandersetzung mit den Korinthern und ihrer Zungenrede deutlich. Wohl gesteht er ihnen zu, dass sie „im Geist“ reden, ja dass sie direkt zu Gott reden (I Kor 14,2). Dennoch hält er ihnen drastisch entgegen, er wolle „vor der Gemeinde lieber fünf Wörter mit Verstand/Vernunft (nous) reden, um andere zu unterweisen, als zehntausend Wörter in Zungen stammeln“ (I Kor 14,19). Innerhalb des von Fleisch und Geist und dem Dualismus von Endlichkeit und Ewigkeit markierten Rahmens entwickelt Paulus nun ein differenziertes Kontinuum von Gemütskräften, das durchgängig anthropologische Dualismen problematisiert. 14 Vgl. zum Folgenden ausführlich Michael Welker, Die Anthropologie des Paulus als interdisziplinäre Kontakttheorie, in: Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2009, Heidelberg 2010, 98 – 108.

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Schon der Leib des Menschen, von ihm überaus positiv beschrieben, ist einerseits fleischlich und vergänglich, andererseits aber erfüllt von Kräften der Seele und des Geistes. Paulus ist begeistert vom Zusammenspiel des Organismus mit seinen verschiedenen Gliedern, von seiner hohen Empathiefähigkeit und von der Befähigung des Leibes, über seine Selbsterhaltung hinaus in vielfältiger Weise den Mitmenschen und sogar Gott in seiner Offenbarung dienlich zu sein. Die Beschreibung der fleischlichen, der sarkischen Existenz und des Zusammenspiels von Fleisch und Leib (sarx und soma) bietet fruchtbare Impulse für die Anthropologie der Artikulation. Denn die Erfassung der damit gegebenen Phänomenvielfalt nötigt zu einer Vertiefung der Reflexion auf die verkörperte Kognition, die im Konzept von Jung noch von einer abstraktiven Harmlosigkeit gegenüber der sarkischen Dynamik ist. Paulus beschreibt die elementaren menschlichen Prozesse als getrieben von der Begierde der materiellen Selbsterhaltung. Hunger und Durst und das Streben nach Befriedigung dieser Bedürfnisse, Wachen und Schlafen, Schutz gegen Hitze und Kälte, Nässe und Unwetter – im Blick auf diese unabweisbaren Perzeptionen und die Vorhöfe der Furcht, mit ihnen nicht problemlos umgehen zu können, müsste die Anthropologie der verkörperten Kognition noch tiefer in entwicklungsbiologische Forschungsräume vorstoßen, wenn sie einerseits die leibliche Verfasstheit des Menschen angemessen berücksichtigen und ausleuchten will und andererseits auch moralische und religiöse Probleme in den Blick bekommen möchte, die dem Niveau klassischer Theologien entsprechen. Man hat häufig die Polemiken des Paulus gegen das Fleisch („Ich bin fleischlich und unter die Sünde verkauft….“), die durchaus mitbestimmt sein mögen von einer misanthropischen und homophobischen Einstellung, mit einer Mischung von Ironie und Entrüstung zurückgewiesen. Paulus sieht aber nicht nur, dass das sarkische Leben räuberisch ist und unabdingbar auf Kosten von anderem Leben lebt (Whitehead). Er sieht auch, dass die nur sarkische Selbsterhaltung unter dem Fluch der Endlichkeit, Vergänglichkeit und letzter Vergeblichkeit steht. Die Orientierung nur an der sarkischen Selbsterhaltung ist also grundsätzlich trügerisch. Dennoch muss diese Stufe des Sarkischen im „expressiven Kontinuum“ und im Interesse an einer „Leiter der Explikation“ eingehend gewürdigt werden, wenn der homo articulans in seiner Existenzweite, seiner Existenztiefe und seinen moralisch höchst relevanten Existenznöten erfasst werden soll. Wir werden uns letztlich darum bemühen müssen, bis in die Tiefen mikrobiologischer Perzeptionsprozesse vor-

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zustoßen, wenn wir uns die Komplexität materialer Wahrnehmungs-, Artikulations- und Kommunikationsprozesse erschließen wollen. Das von Paulus so sehr bewunderte polyphone organische Zusammenspiel der Glieder des Leibes darf nicht nur in seinen Steuerungskomponenten Herz, Seele, Gewissen, Vernunft und Geist analysiert werden. Es ist auch durchgängig die sarkische Verfasstheit des Leibes mit zu bedenken, die Paulus, wenn sie die Empfindungen und die Wahrnehmungen dominiert, so sehr über die ärmliche „Existenz im Leibe“ seufzen lässt (vgl. II Kor 5). Doch eine auf dieser Wahrnehmungsbasis entwickelte theologische Anthropologie bietet nicht nur Anregungen im Interesse, eingespielte anthropologische Dualismen zu überwinden. Sie bietet auch nicht nur Herausforderungen für eine Anthropologie der Artikulation, die konsequent die Materialität und Leiblichkeit menschlicher Existenz in Rechnung stellen will. Sie bietet vor allem eine Vielzahl von Forschungsperspektiven auf der anderen Seite des expressiven Kontinuums, auf der Seite des Geistes. Die Theorie des Geistes war lange im Bereich der Philosophie und auch der Theologie von der eindrücklichen Figur der selbstreferentiellen Rationalität beherrscht, die Aristoteles in seiner Metaphysik Buch XII klassisch vor Augen stellt. Diese Figur hat die Theorien des Geistes in den vielfältigsten Erfahrungsfeldern beherrscht und die Sensibilität für Alternativen behindert oder gar ausgelöscht. Obwohl Paulus die Vernunft preist und ihr sogar in der Verherrlichung Gottes und im Gebet Raum geben will, ist sein Verständnis des Geistes, wie auch das der biblischen Überlieferungen, erheblich subtiler und weiter.15 Der menschliche Geist umfasst den gesamten Ozean seiner potenziellen Erinnerungen und Imaginationen und die Begabungen des steuernden Umgangs mit ihnen, unter denen die selbstreferentielle Rationalität nur eine – wenn auch sehr bedeutende – Größe ist. Die menschliche Vernunft kann im Umgang mit den Kräften des menschlichen Geistes sehr hilfreich sein, sie kann aber auch vor der Fülle und den Dynamiken des Geistes versagen. Im Fall des Bemühens um Kontaktaufnahme mit Gott und Gottes Geist ist der menschliche Geist letztlich auf den Beistand des Heiligen Geistes angewiesen: „So nimmt sich auch der (Heilige) Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für 15 Siehe dazu: Michael Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen, 42010, 262 ff.

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uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können“ (Röm 8,23; 26 f). Allerdings sollte die religiöse Erfahrung und Kommunikation nicht auf solche Grenzsituationen reduziert werden. Paulus betont nicht nur die segensreiche Funktion der Vernunft im Reich des Geistes, sondern auch die hohe Bedeutung der „Unterscheidung der Geister“ (I Kor 12,10). Eine Unterscheidung der Geister unter Orientierung am göttlichen Geist ist nur deshalb möglich, weil dieser Geist mit einer klaren Orientierung in einer komplexen Wertekonstellation verbunden ist. Für die Christen und Christinnen wird dieser Geist an seiner Beziehung zu dem Leben und Wirken Jesu Christi und seiner Einheit damit und an seiner Kraft der Erbauung des nachösterlichen Leibes Christi mit seinen verschiedenen mit den Gaben und Kräften des Geistes erfüllten Gliedern erkennbar. Nach alttestamentlichen Überlieferungen steht dieser Geist in Kontinuität mit den Gesetzestraditionen, deren Intentionen er aufnimmt und zugleich auf eine neue Ebene bringt. Die sogenannte „Ausgießung des Geistes“ auf „Frauen und Männer, Alte und Junge, Knechte und Mägde“ ( Joel 3,1ff, aufgenommen in Act 2) schafft eine komplexe Konstellation, in der neue Niveaus der Gerechtigkeit, des Schutzes der Schwachen (Erhebung der Frauen und der Jungen in patriarchaler Gesellschaft, der Sklavinnen und Sklaven in einer Sklavenhaltergesellschaft) erreicht und errichtet werden.16 Sie befähigt diese Menschen zur Gotteserkenntnis in der Kraft des Geistes, zur Verkündigung und zur Erschließung der von Gott gewollten Lebensvollzüge. Eine Konstellation wird geschaffen, in der eine Vielzahl von Werthaltungen, religiöser und moralischer Orientierungen in wechselseitiger Verstärkung ineinandergreifen. Die Macht des göttlich inspirierten Geistes gewinnt hier komplexe Gestalt. Die faszinierende Kraft nicht nur des göttlichen, sondern auch des menschlichen Geistes, auf Abwesendes zuzugreifen, über raumzeitliche Entfernungen hinweg zu kommunizieren, nicht nur individuell, sondern auch gemeinschaftlich geistige Sachverhalte, ja ganze geistige Welten zu teilen, sollte nicht die auf Seiten des Menschen damit verbundenen Gefahren übersehen lassen. Die erstaunliche Macht des menschlichen 16 Wir sehen hier einen reichen, moralisch und politisch folgenreichen Ereigniszusammenhang, eine Schaffung von Imaginations- und Erlebensformen, die, mit Wilfried Härles Worten, „groß vom Menschen denken“ lassen. Vgl. dazu: Ders., Würde. Groß vom Menschen denken, München 2010. Genauer gesagt, lassen sie nicht nur groß vom Menschen denken, sondern sie veranlassen, entsprechende Kommunikations- und Interaktionsverhältnisse zu etablieren, die das Leben in Würde in vielfältiger Hinsicht fördern und pflegen.

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Geistes kann eben auch von üblen und zerstörerischen Kräften und Mächten besetzt und in Dienst genommen werden. Solange wir uns im Bereich relativ beschaulicher Kognition und Kommunikation bewegen, scheinen diese Dynamiken und Gefahren in weiter Ferne zu liegen, vielleicht sogar gebannt zu sein. Doch dieser Schein trügt, wie die realistische Wahrnehmung des Gewissens bei Paulus deutlich machen kann. Die Erschließungs- und Steuerungskraft des Geistes manifestiert sich auch im menschlichen Gewissen (syneidesis). Beim Gewissen handelt es sich nicht nur, wie in dürftigen philosophischen und theologischen Theorien behauptet, um eine in ruhiger und klar bewusster personaler Selbstbeziehung zu verortende Instanz. Das Gewissen ist nach Paulus ein dynamisches, unruhiges und sensibles Forum der Selbstbeurteilung17, ein sich beständig auch im Blick auf die Mitmenschen irritierendes und befragendes Normbewusstsein, in dem sich „die Gedanken gegenseitig anklagen und verteidigen“ (Röm 2,15). Die vom Geist Gottes ergriffenen und erfüllten Menschen, die ein vom Wertsystem des Geistes geprägtes differenziertes Urteils- und Handlungsvermögen entwickeln, können sich einerseits durch die Verbindung von subtilem Einfühlungsvermögen und Festigkeit der eigenen Überzeugung „dem Gewissen aller anderen Menschen empfehlen“ (II Kor 4,2). Sie sind andererseits zu taktvollem Umgang mit den Mitmenschen aufgefordert, die die Freiheit des Glaubens und ihr traditionsbestimmtes Normbewusstsein in ihrem „schwachen Gewissen“ nicht miteinander vermitteln können (vgl. Röm 14).18 Im Gewissen konzentrieren sich im Individuum die kognitiven und normativen Vermittlungsprozesse zwischen vielgliedriger Komplexität und geistiger Kohärenz, die Paulus auch im Blick auf den Leib und den Geist vor Augen stehen. Das Projekt, eine Anthropologie der Artikulation mit moralphilosophischer Tiefe zu entwickeln, in dem „symboltheoretische, evolutionsbiologische, kognitionspsychologische, handlungstheoretische, hermeneutische, sozial-, religionsund moralphilosophische sowie medientheoretische und linguistische Ansätze vielfältig miteinander verschränkt“ werden (siehe oben), ist ein verheißungsvoller Partner für eine theologische Anthropologie, die an diesen Erkenntnisfronten zu arbeiten sucht. Die interdisziplinär aufgeschlossene 17 Und nur indirekt eine „Instanz“, vgl. Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/New York 2003, 606 – 609; Hans-Joachim Eckstein, Syneidesis bei Paulus (WUNT 2.10), Tübingen 1983, 242 f. 18 Zu den entsprechenden moralischen Kommunikationsprozessen siehe Michael Welker, Kirche ohne Kurs?, Neukirchen-Vluyn 1987, 55 – 62.

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theologische Anthropologie ihrerseits kann dem philosophisch-naturwissenschaftlichen Gegenüber – auf dem paulinischen Erkenntnisniveau jedenfalls – ein hoch durchdachtes und religions- und kulturgeschichtlich wirkmächtiges Feld zur Bewährung der Erkenntnisansprüche vor Augen stellen.

Jacobis persönlicher Gott Auch eine philosophische Theologie am Beginn der Moderne*

Christian Polke Von Paul Tillich stammt das Bonmot, wonach Gott erst im 19. Jahrhundert zu einer Persönlichkeit wurde.1 Daran ist zumindest so viel zutreffend, dass die Frage der Personalität Gottes erst vor dem Hintergrund der Krise theistischer Gottesvorstellungen im Zeitalter der Aufklärung zum dringlichen Problem wurde. Deswegen lassen sich auch alle philosophisch- theologischen Debatten um die Sinnhaftigkeit der Rede von einem personalen Gott als Reaktion auf die Krise des philosophischen Theismus verstehen. Sie stellen von ihrer Genese selbst Krisenerscheinung wie Versuche ihrer Bewältigung dar. Darin liegt ihr innovatives und in die Zukunft weisendes Potential. Denn vor dem 17. Jahrhundert kam der Kategorie der Person kaum jene Bedeutung für Anthropologie, Moral und Recht zu, die wir ihr heute gemeinhin zugestehen. Es mag Ausnahmen gegeben haben2, doch erst in der Formierungsphase der Moderne um 1800 erhält der Begriff jenen Fundamentalanspruch, der ihn schließlich sogar zu einer Option für die Neubegründung einer rationalen Theologie werden ließ. Doch bedeutet die Einsicht in die historische Kontingenz einer Fragestellung nicht von vornherein die Relativierung des damit ver* 1

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Markus Firchow (Hamburg), Rebekka A. Klein (Heidelberg) und Christoph Seibert (Tübingen) danke ich für wertvolle Hinweise und kritische Kommentare. Paul Tillich: Systematische Theologie, Bd. I, Berlin/New York 61979, 283. Im Text werden alle drei Ausdrücke von Person, Persönlichkeit und Personalität mitunter in loser Folge abwechselnd verwendet. Dies liegt daran, dass die Bedeutungsnuancen zur Zeit der Aufklärung noch keineswegs trennscharf voneinander geschieden wurden. Keine Ausnahme bilden hingegen die Diskussionen um die persona-Kategorie im Umfeld der Ausgestaltung des trinitarischen Dogmas. Diese Stationen gehören allesamt noch in die Vorgeschichte der Debatte um die Personalität des Menschen und die erst dadurch ermöglichte „Übertragung“ dieses Verständnisses auf Gott. Dies sagt allerdings noch nichts über die gegenwärtigen Chancen und Möglichkeiten einer trinitarischen Neuthematisierung des Personenproblems.

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bundenen geltungstheoretischen Zusammenhangs? Genealogien haben gerade dann ihre Berechtigung, wenn sie zeigen können, warum sich die Gründe für oder gegen ein Problem verschoben haben. Solange also der Begriff der Person und das darin anvisierte Verständnis von Personalität als zentrale Momente unseres humanen Selbstverständnisses fungieren, bleibt systematische Theologie aufgefordert, sie auf ihre theologischen Implikationen hin zu befragen.3 Schließlich verdanken wir die „Entdeckung der Person“ maßgeblich, wie Theo Kobusch herausgearbeitet hat, Einsichten der christlichen, insbesondere mittelalterlichen Theologiegeschichte.4 Die Relevanz der Personenkategorie zeigte sich darin, dass über sie die Verhältnisbestimmung von Gott, Welt und Mensch ontologisch wie ethisch modelliert wurde. Daher sind sowohl theologische Anthropologie als auch christliche Gotteslehre betroffen, wenngleich in der altprotestantischen Dogmatik die Thematik der Personalität Gottes vornehmlich in der metaphysisch-allgemeinen Gotteslehre, genauer in den Loci über die göttlichen Attribute (Eigenschaften) ihren Ort fand. Mit der Infragestellung ausgerechnet dieses allgemein rationalen Unterbaus der Glaubenslehre wurden dann auch die darin artikulierten theologischen Selbstverständlichkeiten (loci communes) über Gott dem Zweifel ausgesetzt. Diejenige Gestalt, die den Streit um die Göttlichen Dinge, um Pantheismus, Atheismus und Theismus inszenierte und ihn maßgeblich bestimmte, war zweifelsohne Friedrich Heinrich Jacobi (1743 – 1819).5 Jacobi war es auch, der eine philosophiehistorische Einordnung der 3

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So gesehen stimme ich Wolfhart Pannenbergs Bemerkung zu, wonach es nur sehr „wenige Themenkomplexe [gibt], die den Einfluß des Christentums auf das Menschenbild so deutlich erkennen lassen, wie den Begriff der Person.“ Zitiert nach: Wolfhart Pannenberg, Person und Subjekt, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, Bd. II, Göttingen 1980, 80 – 95, 80. Vgl. die maßgebliche Untersuchung: Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und neuzeitliches Menschenbild, Darmstadt 2 1997. Dabei scheint mir vor allem der Hinweis gewichtig, wonach die hochmittelalterlichen Debatten um die Christologie und die darin eingelagerten Freiheitstheorien die entscheidende Brücke zur Formierung des heutigen Personenbegriffs bilden (vgl. a.a.O., 23 – 54). Eine umfangreiche Biographie Jacobis ist noch ein Desiderat der Forschung. Allerdings erwies sich bislang die Quellenlage als schwierig. Das dürfte sich durch die Edition der umfangreichen Briefkorrespondenz mittlerweile geändert haben. Einen guten ersten Überblick über das Leben Jacobis gibt nach wie vor die Einleitung der Arbeit von Klaus Homann, F.H. Jacobis Philosophie der Freiheit, München 1973, 21 – 37.

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neuzeitlichen Metaphysik wagte, indem er nicht nur alle Ansätze an der Geschlossenheit der „reinen Metaphysik“ des Spinoza spiegelte. Mehr noch, er fokussierte das weite Feld der religionsphilosophischen Debatten vor und um 1800 – von manchem sogar als Sattelzeit ausgezeichnet – thematisch auf den entscheidenden Punkt, das Verhältnis von Gottesgedanke und menschlicher Freiheit, sowie die Rolle, die der Vernunft des Menschen hierin zukam. In den daraus resultierenden Kontroversen zuerst mit Mendelssohn und Herder, dann mit Fichte und Kant, schließlich mit Schelling formierte sich sein eigener Ansatz einer veritablen philosophischen Theologie am Beginn der Moderne.6 Langfristig gesehen war jedoch den Theorien seiner Gegner mehr Erfolg beschieden; Jacobis Überlegungen hingegen fielen mehr oder weniger einem Tod der vielen Missverständnisse zum Opfer.

1 Schwierigkeiten bei der Jacobi-Lektüre: Zu einigen Missverständnissen in der Rezeptionsgeschichte Jacobi teilt mit anderen Denkern, die quer zur jeweiligen opinio communis ihrer Zeit lagen, dass sein Werk weitreichenden Missverständnissen unterlag, die seine Rezeption entweder erheblich erschwerten oder gar ganz verhinderten.7 Drei solcher fehlgeleiteten Interpretationsansätze seien kurz genannt und in ihrer Problematik skizziert. Die Anordnung der Vorwürfe erfolgt nach ihrer systematischen Gewichtigkeit. Erstens: Gerne wird unterstellt, Jacobi ginge es lediglich um die Verteidigung überkommener orthodoxer Schulbegriffe von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Dies erfolge zudem im Stil einer lediglich Behauptungen aufstellenden Apologie, häufig genug in der Nähe kirchlicher Offenbarungslehre. Da dies alles darüber hinaus in eklekti-

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Im Folgenden werden die Schriften Jacobis nach der neuen historisch-kritischen Werkausgabe zitiert: Friedrich Heinrich Jacobi, Werke (=JWA), hg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg 1998 – 2007 (7 Bde. in 12 Tlbdn.). Wegweisend für die weitgehende Ignoranz seitens der evangelischen Theologie ist das verräterische Schweigen über Jacobi in Emanuel Hirschs fünfbändiger Theologiegeschichte. Lediglich das Attribut „geistvoller Dilettant“ scheint ihm für den „Glaubens- und Gefühlsphilosophen“ und Initiator der Debatten um den Spinozismus geeignet. Vgl. Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie Bd. IV, Göttingen 21960, 539.

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zistischer Manier erfolgt, kann es sich bei seiner Philosophie um keinen weiterhin beachtungswürdigen Ansatz halten.8 Dieser Einschätzung ist zu widersprechen, weil beide Bewertungen in mangelnder historischer Kenntnis sowohl des Werkes wie der philosophischen Debattenlage der Zeit erfolgten. Gegenüber dem Vorwurf der billigen Apologie in kirchlichen Diensten ist daran zu erinnern, dass den traditionellen Dogmen der Trinität, der Christologie und der Satisfaktion in Jacobis Schriften kaum der Stellenwert zukommt, der ihnen herkömmlicherweise gebühren müsste. Im Gegenteil, sowohl der ausführliche Briefwechsel mit Hamann als auch die Kommentierungen zu den Schriften des Matthias Claudius belegen deutlich Jacobis Reserviertheit gegenüber frömmigkeitsorientierten Ansätzen der Aufklärung mit ihren offenbarungstheologischen Prämissen. Dies schließt die Hochachtung gegenüber der christlichen Religion freilich nicht aus.9 Doch muss beachtet werden, dass Jacobi niemals ein Vertreter des aufkommenden theologischen Rationalismus oder gar Supranaturalismus gewesen ist. Zweitens: Nicht zuletzt dank Friedrich Otto Bollnows Charakterisierung von Jacobis Philosophie als Lebensphilosophie10 hat sich der Eindruck verfestigt, es handle sich hierbei um eine Form des philosophischen Intuitionismus. Daran ist immerhin richtig beobachtet, dass der Vermittlung von Vernunft und Leben in Jacobis Philosophie ein hoher Stellenwert beigemessen wird, da diese nicht durch die bloße Vorordnung der ratio aufgelöst werden kann. Allerdings wird damit zunächst nur an eine lange philosophische Tradition angeknüpft, die dem Gefühl wie 8 Hierunter muss man wohl auch Falk Wagners Jacobi-Darstellung rechnen. Diese wird tendenziös aus der Perspektive Hegels vorgenommen. Jacobis Philosophie wird als „untaugliche Apologie“ bewertet, die mit „syllogistischen Schlussverfahren“ und „unerwiesenen Prämissen“ operiert. Vgl. Falk Wagner, Die Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, Gütersloh 1971, 113 – 131, v. a. 124 ff.129 ff. 9 Für beides vgl. die Ausführungen in der Schrift „Von den gçttlichen Dingen“ (1811). Dort insistiert Jacobi zum einen darauf, dass „[e]ine Offenbarung durch äußerliche Erscheinungen, sie mögen heißen wie sie wollen, sich höchstens zur innern ursprünglichen Offenbarung verhalten [kann], wie sich Sprache zur Vernunft verhält“ (vgl. JWA 3: Schriften zum Streit um die göttlichen Dinge und ihre Offenbarung, Hamburg 2000, 42). Es wird also eine maximale Vorordnung der inneren Seite vor ihrer äußerlichen Bestätigung behauptet. Auf der anderen Seite heißt es freilich am Ende der Schrift über das Christentum, es sei in „seiner Reinheit“ die „alleinige Religion“ (vgl. a.a.O. 118). 10 Vgl. Friedrich Otto Bollnow, Die Lebensphilosophie F.H. Jacobis, Stuttgart 1933.

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der intuitiven Erkenntnis stets einen Rang innerhalb einer Theorie der Vernunft zugebilligt hat. Das Problem bei Bollnow liegt denn auch eher in seiner Stilisierung Jacobis zum Vordenker frühromantischer Strömungen, denen per se ein vernunftkritischer Impetus zu Eigen sei.11 Unterschlagen wird dann, dass es sich bei Jacobis Vernunftkritik selbst um eine Form von Vernunfttheorie handelt, der es sehr wohl um den Aufweis von Gründen geht, um ihre Sicht auf Reichweite und Grenzen von Vernunfttätigkeit in der menschlichen Lebensführung argumentativ darzulegen. Ein Mittel, dessen sich Jacobi hierbei bedient, ist die für seine Zeit einschlägige Methode der „Konsequenzmacherei“, die die Folgen aufzeigen will, die ein System oder eine philosophische Position für andere Gebiete der menschlichen Selbstverständigung mit sich bringt, also etwa in anthropologischer oder ethischer Sicht. Es geht demnach weniger um ein polemisches Mittel, den Gegner lächerlich zu machen (wie in der heutigen Wortbedeutung), sondern um eine Art kritische Grenzwertbetrachtung, insbesondere hinsichtlich der Belastbarkeit von Aussagen mit generellen oder universalen Ansprüchen. Drittens: Noch gewichtiger wiegt der selbst bei Hegel12 und Schel13 ling zu findende, wenngleich später leicht korrigierte Vorwurf des philosophischen Irrationalismus. Die massiven Folgen aus diesem Vorwurf sind zunächst einmal der historischen Konstellation geschuldet. Denn mit dem Siegeszug idealistischer Systemansätze wurde der philosophisch vertretbare Spielraum alternativer Vernunftansätze immer geringer; die Option, diese im Umkehrschluss dann als „irrational“ abzutun hingegen größer. Während diese gegenlagigen philosophischen Modelle kaum Aussicht auf Verständigung hatten, wie Jacobis Briefwechsel etwa 11 Eine ähnliche Gefahr sehe ich auch in Hermann Timms Darstellung der Jacobischen Philosophie in seinem beeindruckenden Werk: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Teil 1: Die Spinozarenaissance, Stuttgart 1974, 135 – 225, gegeben. 12 Paradigmatisch ist Hegels bleibend zwiespältige Einschätzung der Jacobischen Philosophie, sowohl in Glauben und Wissen (vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Theorie Werkausgabe Bd. 2 [=TWA], Frankfurt/M. 1970, 333 ff.), als auch in seiner Rezension zum Bd. III der Jacobischen Werkausgabe (vgl. TWA 4, 1970, 429 ff.), sowie in seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (vgl. TWA 20, 1971, 315 ff.). 13 Vgl. seine Entgegnung auf Jacobis Schrift F.W.J. Schellings Denkmal der Schrift von den gçttlichen Dingen (vgl. SW 4, 395 – 512). Später wird Schelling Jacobi dann als seine philosophische Vorhut vereinnahmen und – aus seiner Sicht – betrachtet teilweise rehabilitieren (vgl. Zur Geschichte der neueren Philosophie. Mnchner Vorlesungen [1827], SW 5, 235 ff.).

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mit Fichte belegt, sollte man den Namen Kant an dieser Stelle ausnehmen. Denn dessen Vernunfttheorie steht zwar ebenfalls im Gegensatz zu Jacobi. Doch erweist sich die konträre Stellung, die beide im Verhältnis von Vernunft und Glauben (im nicht-religiösen Sinn) einnehmen, als eine Alternative, die noch vor jedem Zwang zum Systemabschluss zu stehen kommt.14 Im Grunde geht der idealistische Vorwurf an Jacobi somit auf ein tiefgreifendes Missverständnis der erstmals in der Beilage VII der Spinozabriefe 15 und dann im David Hume und im Brief an Fichte vorgelegten Vernunfttheorie und ihrer Grundbegriffe des Glaubens, der Gewissheit und der berzeugung zurück. Unter der Prämisse der Notwendigkeit zu philosophischer Letztbegründung bleibt ein solches Alternativmodell zwangsläufig defizitär. Die drei genannten Fehlinterpretationen haben sich in der Vergangenheit in ihrer Skepsis gegenüber Jacobis Ansatz bestärkt, so viel ist sicher. Insofern war Mendelssohns Verdacht, es handele sich bei Jacobi um einen „christlichen Philosophen“ (vgl. Spin 113), dem die Vernunft nicht ausreiche, eine folgenschwere Einschätzung. Sie zeigt auch an, worin die drei Vorwrfe des Irrationalismus, Intuitionismus und der billigen Apologie übereinstimmen. Jacobi hat sie ferner den zweifelhaften Titel eines Glaubensphilosophen16 eingebracht. Hinzu kommt, dass er, der vielen als der neben Kant bedeutendste Denker seiner Zeit galt, kein systematisches Werk hinterlassen hat. Stattdessen bevorzugte er die philosophische Auseinandersetzung in der Gestalt von literarischen Gesprächen, in kurzen, aber dichten Abhandlungen sowie in Romanform. Man kann darin etwas Epochenbedingtes sehen; zutreffender scheint es mir jedoch, 14 Daraus erklärt sich Jacobis philosophiehistorische Deutung der Philosophie Kants, die bekanntlich eine Zwitterstellung in der geschichtlichen Abfolge von Spinozismus über Fichtes Idealismus zu Schellings Naturalismus (Idealmaterialismus) einnimmt. Vgl. JWA 3, 80. 15 Im Folgenden zitiert und im Haupttext mit Spin abgekürzt nach: Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herren Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und Irmgard-Maria Piske bearbeitet von Marion Lauschke (PhB 517), Hamburg 2004. 16 Dem entgeht auch die jüngste Behandlung der Thematik von theologischer Seite nicht: Gunther Wenz, Der Glaubensphilosoph. Eine Erinnerung an Friedrich Heinrich Jacobi und seinen Streit mit Schelling 1811/12, in: KuD 57 (2011), 112 – 139. Wenz’ Darstellung steht von vornherein unter dem Diktum, dass mit Hegel und Schelling vernunfttheoretisch überzeugendere Behandlungen der Frage nach der Personalität Gottes vorliegen, da sie sich programmatisch einer weitreichenden Vernunftkritik als Systemkritik verweigern.

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dies als Umsetzung von Jacobis Philosophieverstndnis zu werten, das im Zeichen der Personalitt steht. Dazu gehört folgerichtig – neben der argumentativen Entfaltung des eigenen Ansatzes in Auseinandersetzung mit seinen Kontrahenten – die narrative Vergegenwärtigung in der Form biographischer Darstellung. Was das für ein Verständnis von Romanliteratur im Allgemeinen bedeuten kann, muss hier unberücksichtigt bleiben; sachlich jedenfalls korrespondiert es der inhaltlichen Mitte von Jacobis Schrifttum; der Frage, wer (und nicht was) eine Person ist; und was das für die Welt- und Selbstauslegung des Menschen bedeutet.

2 Philosophie am Paradigma der Personalität: Jacobis handlungstheoretische Metaphysik der Person Jacobis Problem mit den philosophischen Aufbrüchen seiner Zeit wird verständlich vor dem Hintergrund seiner philosophiehistorischen Deutung der Transzendentalphilosophie und des spekulativen Idealismus. Beide Neuansätze werden von ihm als konsequenter, und das meint radikalisierter Spinozismus gedeutet. Darin wird zum einen ihr ernsthaftes Bemühen um die Konzeption einer „reinen Metaphysik“ (vgl. Spin 128) deutlich. Zum anderen besteht Einigkeit in der Überwindung des bei Spinoza noch vorhandenen Substanzdenkens (mit seiner latenten Tendenz zum Restdualismus). Wie bereits angedeutet, nimmt Kant im Rahmen von Jacobis Bewertung der philosophischen Debattenlage seiner Zeit eine Ausnahmestellung ein. Denn vor allem dessen Praktische Philosophie kann dieser schwer einordnen, da sie einerseits die Kritik der reinen Vernunft und deren „kritischen Idealismus“17 voraussetzt, andererseits aber auf dem Primat der praktischen Vernunfttätigkeit und der Wirklichkeit des Freiheitspostulats beharrt.18 Gemein ist den neueren Ansätzen hingegen, dass sie sich am Paradigma der Subjektivität orientieren. Im Mittelpunkt steht das Cogito, nicht das Sum, wie Jacobi spitz bemerkt (vgl. Spin 164). Für alle nachkantischen Philosophien in diesem Zusammenhang gilt: „Unter Sub17 So bezeichnet Kant seine Position in den Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen (vgl. A 207/8). 18 Beredtes Dokument dafür ist Jacobis Abhandlung ber das Unternehmen des Kritizismus die Vernunft zu Verstande zu bringen (1802), in: JWA 2,1: Schriften zum transzendentalen Idealismus, hg. von Walter Jaeschke und Irmgard-Maria Pischke, Hamburg 2004, 261 – 330.

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jektivität soll vielmehr ein Grundzug in einer Weise der Lebensführung verstanden werden. Und dieser Grundzug soll mit dem Wort bezeichnet werden, weil er sich an die Selbstbeschreibung als Subjekt anschließt und von ihr her zu begreifen ist“19. Der Mensch hat als selbstbewusstes Lebewesen demnach nicht nur ein Wissen von sich (und von der Welt), sondern mehr noch kennzeichnet ihn das Wissen um dieses Wissen. Aus dieser vorgängigen Doppelstruktur sind alle Formen der Weltorientierung und Selbstdeutung zu verstehen. Deswegen kommt der Struktur der Subjektivität der Status eines metaphysischen Abschlussgedankens, eines fundamentum inconcussumum zu. Das bewusste Leben in dieser formalen Struktur bildet daher auch den Einsatzpunkt für ein adäquates Verständnis von Individualität, Personalität und Freiheit. Jacobis Einwände gegen diese Grundlegung der Philosophie sind vielfältig. Um noch einmal auf die unterstellte Beziehung zu Spinoza zurückzukommen, so scheinen ihm alle Denker im Zeichen der Subjektivität die konkrete Welthabe der einzelnen Individuen zu vernachlässigen. Jedenfalls aber wird diese zugunsten der abstrakten Verfasstheit des menschlichen Subjekts unterbelichtet beziehungsweise als sekundär eingestuft. Daraus resultiert sein Vorwurf einer lediglich veränderten Formulierung der monistischen Denkfigur, wie sie schon bei Spinoza zugrunde lag. Für den Gottesgedanken hat das weitreichende Konsequenzen, wie gleich noch zu zeigen ist. Geradezu unverständlich wird für Jacobi allerdings, wie strikt subjektivitätstheoretische Ansätze bei einer adäquaten Verhandlung des Freiheitsproblems helfen können. Denn wenn es darum gehen soll, Freiheit als Wirklichkeit herauszustellen, so kann dies unmöglich allein über die Struktur von Selbstbewusstsein erfolgen. Zwar stellt auch Jacobi dessen Bedeutung keineswegs in Abrede, so dass die „Einheit des Selbstbewußtseins (…) die Personalität aus[macht] und ein jedes Wesen, welches das Bewußtsein seiner Identität hat (…) eine Person [ist]“ (Spin 238). Doch bleibt dies solange eine lediglich notwendige Bedingung, wie von der konkreten Situation der zu vernnftiger Selbstbestimmung qua Verstand und Wille befhigten Individuen abgesehen 19 Dieter Henrich, Die Zukunft der Subjektivität, In: Ders., Die Philosophie im Prozess der Kultur, Frankfurt/M. 2006, 188. Henrich wird hier herangezogen, weil er wie kein anderer durch seine konstellationstheoretischen Forschungen über die „Grundlegung aus dem Ich“ im frühen Idealismus das Gemeinsame aller dieser Denkrichtungen herausgearbeitet hat. Seine eigene Philosophie verdankt sich ebenfalls diesem Grundprinzip: vgl. etwa: Ders., Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt/M. 2007.

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wird.20 Provokant formuliert heißt das: Wer das Selbstbewusstsein der Freiheit zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, der muss auch bei dieser Freiheit ankommen wollen und darf sich nicht mit den Vorhöfen der Selbstbewusstseinsproblematik begnügen. Anders als die (Früh-)Idealisten ist daher nicht von so hochstufigen Prozessen der Selbstreflexion und Deutung auszugehen; angesetzt werden muss vielmehr am elementaren und das heißt zugleich situativen Praxisvollzug des Menschen, kurzum: an seinem Handeln. Es ist dieser Theoriehorizont, vor dem Jacobi sein Gegenmodell entwirft. Als Leitparadigma dient ihm dabei die Handlung. Ihr kommt die systematische Geltung einer Grundlegungsfigur zu, auch und gerade für das, was unter Freiheit, Personalität oder Individualität verstanden werden kann. Birgit Sandkaulen hat deswegen zu Recht die Unterscheidung von Grund und Ursache als das Zentrum der Jacobischen Philosophie bezeichnet.21 Dabei unterscheidet sich der Begriff des Grundes radikal von demjenigen der Ursache, weil letztere ein Erfahrungsbegriff ist, „den wir unserer Kausalität und Passivität zu verdanken haben, und der sich eben so wenig aus dem bloß idealischen Begriffe des Grundes herleiten, als in denselben auflösen läßt.“ (Spin 282) Konsequenterweise stellt für Jacobi der lebendige Vollzug des Daseins den Einsatzpunkt und das Prinzip aller Erkenntnis dar (vgl. Spin 273). In ihm erfährt sich der Mensch als konkrete, individuelle Person, indem er sich in einer Situation als Urheber seines Handelns versteht. Darin begründet sich sein Selbstverständnis als Person und das heißt wiederum: sein Wissen um seine individuelle Freiheit: „Ich verstehe unter dem Worte Freyheit dasjenige Vermögen von Menschen, kraft deßen er selbst ist und alleinthätig in sich und außer sich handelt, wirkt und hervorbringt. In sofern er sich als ein freyes Wesen ansieht, fühlt und betrachtet, schreibt er seine persönlichen Eigenschaften, seine Wißenschaft und Kunst, seinen intellectuellen und moralischen Charakter sich selbst zu; er sieht in sofern sich selbst als den Urheber, als den Schöpfer davon 20 Das wird aus dem Kontext der zitierten Stelle aus Beilage IV der Spinozabriefe überdeutlich, und zwar sowohl durch das Kant-Zitat aus der Kritik der praktischen Vernunft (vgl. KpV A 225 f.), als auch im Nachgang der Diskussion hinsichtlich der nicht vorhandenen Personalität von Tieren und der höchsten Personalität, die Gott zuerkannt werden muss. Vgl. Spin 238 f. 21 So in ihrer Habilitationsschrift: Birgit Sandkaulen, Grund und Ursache. Die Vernunftkritik Jacobis, München 2000, vor allem 64 ff. Auf die Bedeutung dieser Unterscheidung für das Verständnis der Philosophie Jacobis hat m. E. zum ersten Mal ausführlich hingewiesen: Klaus Hammacher, Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis, München 1969, 192 – 207.

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an; und nur in so weit er sich, den Geist, die Intelligenz und nicht die Natur – aus der er nach einem Theile seines Wesens auf eine nothwendige Weise entsprungen ist, zu der er mit diesem Theile gehört und in ihrem allgemeinen Mechanismus verflochten, in sie eingewebt ist – als den Urheber und Schöpfer davon ansieht, nennet er sich frey.“22

Aus dem Paradigma der Handlung lassen sich auch die weiteren Sachmomente, die für eine Metaphysik der Person elementar sind, entwickeln: (1) die Struktur der Zeitlichkeit. Denn jede Handlung unterliegt einem zeitlichen Index. Sie setzt als solche ein Vorher und Nachher voraus. Dabei wird die Struktur der Zeit in der Intentionalität von Handlungen erfasst und durch sie konkret gefüllt. Für das Verständnis der Person heißt dies, dass sie als prozessural-zeitliche (geschichtliche) aufzufassen ist; (2) die Intentionalitt beziehungsweise Zweckhaftigkeit von konkreten Handlungen. Zur Erfahrung des Urheberseins von Handlungen gehören stets schon Absichten, Überzeugungen und Vorausannahmen, etwa über die Erfolgsaussichten. Diese zu eliminieren würde eben bedeuten, den Begriff einer Handlung aufzugeben oder sie wie bei Davidson zu einer Unterklasse von Ereignissen zu degradieren23. Ohne einen basalen Begriff von Zweck würde aber die personale Selbstbestimmung ihre inhaltliche Konkretheit verlieren; (3) der Kontext einer sozialen Welt. Handlungen setzen einen inter-subjektiven und inter-individuellen Bereich voraus, an dem sie partizipieren. Sie stellen eine bestimmte Weise des Verhaltens in einer gemeinsamen Welt dar. Im Paradigma der Handlung sind daher „Ich“ und „Du“ gleichursprünglich mit der Realität von „Dingen in der Welt“ gegeben.24 Für Jacobi erledigen sich deswegen von vornherein der andernfalls notwendig werdende Nachweis der Existenz einer natürlichen Außenwelt sowie das Problem des Fremdseelischen. Unter

22 Jacobi an Fichte (1799), in: JWA 2,1, 233 f. 23 Vgl. Donald Davidson, Handlung und Ereignis, Frankfurt/M. 1985. 24 Diese Unterstellung – ohne weitere metaphysische Begründung – als allerdings für den Vollzug von Wahrnehmungs-, Wissens- und Vernunftpraxis notwendig herauszuarbeiten, ist das Unternehmen, das Jacobi sich in der Schrift David Hume ber den Glauben, oder Idealismus und Realismus (1787) [= JWA 2,1, 5 – 112, v. a. 38] vornimmt und dabei u. a. am Kant’schen Problem des „Ding an sich“ verhandelt. Für die weitere Auseinandersetzung mit Kant einschlägig ist auch die schon genannte Abhandlung: Ueber das Unternehmen des Kriticismus (s. o. Anm. 18).

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endlichen Bedingungen gibt es jedenfalls immer nur Personen im Plural 25 ; (4) der Mensch als Teil des natrlichen Zusammenhangs. Als solcher steht er im Kontinuum mit allen anderen Lebewesen und der Welt als ganzer. Ohne die Einbettung in die gesetzesmäßig ablaufende Naturwirklichkeit – und das weiß der von den Naturwissenschaften seiner Zeit maßgeblich geprägte Jacobi – lässt sich umgekehrt die Eigenart menschlichen Handelns, seine Freiheitsdimension, nicht erfassen. Deswegen wohnt der naturalistischen Welt- und Selbstdeutung sehr wohl ein Wahrheitswert inne.26 Von Person-Sein darf daher nicht in Absehung der leiblichen Verfasstheit der Individuen gesprochen werden. Im Personenbegriff versammeln sich alle genannten Momente zur Beschreibung der Eigenart des so verstandenen Lebewesens, welches als einzelnes Individuum im sozialen Raum und unter natrlichen Bedingungen in der Lage ist, frei zu handeln und sich dergestalt zu einem einmaligen Subjekt geschichtlich zu bilden. Die festgehaltene Einmaligkeit der jeweiligen menschlichen Person („seine Persönlichkeit“) wie die Betonung der Nicht-Synthetisierbarkeit von Geist- und Naturperspektive bedeuten dabei keine individualistische Verengung des Personenbegriffs, weil Person-Sein und Person-Werden nur aus dem Zusammenhang von Ich, Du und gemeinsamer Welt verstanden werden kann. Wer eine Person in concreto ist, zeigt sich demnach nur innerhalb des soeben skizzierten Kontexts, dann aber eben als individuell zu kennzeichnende Lebensgeschichte, als Lebensvollzug. Aus dem Gesagten zieht Jacobi die Konsequenzen für sein Verständnis von Vernunft und Leben im Allgemeinen und für die Möglichkeit der Beweisbarkeit von Freiheit im Besonderen. Zusammen 25 Dass daraus sehr unterschiedliche Konsequenzen für die (mögliche) Rede von Gott als einer Person gezogen werden können, zeigen exemplarisch die Positionen Fichtes und Georg Simmels. Zu letzterem vgl. dessen Abhandlung: Die Persönlichkeit Gottes, in: Ders., Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig 21919, 187 – 204). 26 Diese findet bei Jacobi ihren treffendsten Ausdruck in der ersten der beiden Thesenreihen der Abhandlung Von der Freiheit des Menschen, die er der Vorrede zur zweiten Auflage der Spinozabriefe beifügt: vgl. Spin166 ff. (übertitelt mit: „Der Mensch hat keine Freiheit“). Jacobis Einwände gegen den Naturalismus liegen demnach nicht in der Inkonsequenz von dessen Ansatz, etwa dergestalt, ihm fehlende Sensibilität hinsichtlich seiner eigenen Konstruktivität (hermeneutischer oder deutungstheoretischer Art) vorzuwerfen. Problematisch ist vielmehr sein methodologischer Reduktionismus, der selbst dazu tendiert, zu einer universalen Metaphysik ohne Aufweis ihrer Prämissen zu werden.

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genommen führt das zu den Grundlagen seiner Vernunftkritik, die als solche immer zugleich Systemkritik ist.

3 Vernunftkritik als Systemkritik: Spinozas monistisches Grundmodell, seine idealistischen Nachfolger und Jacobis Einwände Weil Jacobi das Handlungsmodell seiner Philosophie der Person zugrunde legt, steht diese im drastischen Gegensatz zu allen subjektphilosophischen Ansätzen mit ihren Vernunfttheorien. An keinem Punkt wird Jacobis anders gelagerte Verhältnisbestimmung von Vernunft und Leben, der sein Verständnis von menschlicher Freiheit korrespondiert, deutlicher, als in seiner Kritik an der Einziehung der Differenz von Grund und Ursache. Kritikwürdig ist die spinozanischen Metaphysik deswegen, weil sie „den Begriff der Ursache mit dem Begriffe des Grundes vermischt; jenem dadurch sein Eigentümliches entzieht, und ihn in der Spekulation zu einem bloßen Wesen macht.“ (Spin 282) Im Gefolge entsteht ein ausschließlich auf die immanente Bestimmungslogik von Grund und Begründetem sich stützendes metaphysisches System. Die darin zum Ausdruck gebrachte Geschlossenheit des Denkens beeindruckt Jacobi durchaus. Es ist in sich ebenso konsistent wie kohärent. Moniert wird dagegen die radikale Ausklammerung des Problems der Zeit, und darin eingeschlossen, die Frage der Kontingenz und der Entstehung von radikal Neuem. So aber muss jede freiheitstheoretische Analyse ungenügend bleiben, da sie folgerichtig auf die Figur der causa finalis verzichten muss. Und in der Tat leugnet Spinoza in denkerischer Konsequenz diese programmatisch wie im Übrigen auch jede Vorstellung einer real-endlichen Zeit. Für ihn würde damit sein monistisches Konzept der einen und einzigen Substanz zur Disposition stehen, die als causa immanens beziehungsweise natura naturans fungiert und deren (wichtigste) Erscheinungsweisen Denken und Ausdehnung sind. Für seine idealistischen Nachfolger dient Spinoza als Grundmodell in vernunfttheoretischer Hinsicht, die absolute Bestimmbarkeit des Zusammenhangs von Wirklichkeit behaupten zu können. Der darin implizierte Monismus wird jedoch – nach Verabschiedung des Substanzbegriffs – entweder in transzendentalphilosophisch-idealistischer Weise,

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wie bei Fichte oder in der Form des „Idealnaturalismus“27, das heißt als identitätsphilosophisches Programm, wie bei Schelling, weitergeführt. In absolutheitstheoretischer Perspektive wechselt das Hen Kai Pan nur seine Gestalt: es wird wahlweise zum absoluten Ich, zur reinen Identitt oder später in differenzierterer Weise zum All-Einen. Noch bevor wir auf die metaphysischen und theologischen Implikationen dieser Begriffe zu sprechen kommen, gilt es sie als emphatische Vernunftmodelle zu würdigen, die in ihrem Ausgang von der Kantischen Vernunftkritik zur spekulativen Einholung des Verstandes und der Vernunft in die Bewegung des Absoluten (Geistes) ansetzen. Die damit einhergehende Vorstellung einer absoluten Selbstdurchsichtigkeit selbstbewussten Lebens ist es, die Jacobis entschiedenen Widerspruch hervorruft. Doch mit ihrem Systemzwang überzieht die endliche Vernunft ihren Kredit. Das zeigt sich ausgerechnet dort am deutlichsten, wo sie sich aufmacht, die Freiheit zu beweisen. Allen diesen Versuchen hält Jacobi entgegen: „Jede Art der Demonstration geht in den Fatalismus aus.“ (Spin 122) Jeder Ansatz, der sich darum bemüht, zwingend die Realität von Freiheit oder des Absoluten aufzuzeigen, scheitert daran, dass diejenige Sache, die es zu beweisen gilt, sich von vornherein diesem Zugriff verweigert. Für Jacobi steht fest, dass jede Vernunftkritik zugleich Systemkritik sein muss und umgekehrt. Demgegenüber wird ein Verständnis von Philosophie als Reflexion auf das Verhältnis von Vernunft und Leben profiliert, nach dem der Philosoph allenthalben nur versuchen kann, „Dasein zu enthüllen, und zu offenbaren … Erklärung ist ihm Mittel, Weg zum Ziele, nächster – niemals letzter Zweck. Sein letzter Zweck ist, was sich nicht erklären läßt: das Unauflösliche, Unmittelbare, Einfache.“ (Spin 35). Dass er dabei stets schon das Vorhandensein vorgngiger (unmittelbarer) Gewissheiten und berzeugungen, sowie auf deren Zusammenspiel in einer Gemeinschaft von Handelnden verwiesen ist, belegt ausgerechnet jenes häufig missverstandene und zumeist nur zur Hälfte wiedergegebene Zitat: „Wir werden alle im Glauben geboren, und müssen im Glauben bleiben, wie wir alle in Gesellschaft geboren werden, und in Gesellschaft bleiben müssen: (…) Die Überzeugung aus Gründen ist eine Gewißheit aus der zweiten Hand. Gründe sind Merkmale der Ähnlichkeit (…) Wenn nun jedes für Wahr halten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muß 27 JWA 3, 80. Unabhängig von der Passgenauigkeit der Kennzeichnungen durch Jacobi ist natürlich darauf zu achten, dass beide Einschätzungen stets nur für bestimmte Abschnitte in der Werkentwicklung Fichtes wie Schellings zutreffen.

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die Überzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen und ihre Kraft von ihm allein empfangen“ (Spin 113). Nicht erst der Philosoph, sondern jeder Handelnde als Person muss sich als bereits in das Spiel sozialer Praktiken eingelassen verstehen28, und dabei die Unterstellung einer die Pole von „Ich“, „Du“ und „Welt“ verfugenden Realität wagen, damit seine Vernunfttätigkeit überhaupt konkrete Sachhaltigkeit gewinnt. Der sich hierin kundtuende Realismus des Jacobischen Ansatzes, das belegen diese Formulierungen, muss demnach gar nicht als substanzmetaphysischer Realismus im traditionellen Sinne gelesen werden. Er kann vielmehr in pragmatischer, um nicht zu sagen: pragmatistischer Hinsicht als Reflexion auf diejenigen Grundlagen verstanden werden, welche die Vernunft in ihrer Praxis immer schon in Anspruch nimmt. Vernunftgründe, die für Jacobi auf Ähnlichkeit und Vergleichung beruhen, fußen von vornherein auf einer vorgängigen Gewissheit, die als „unmittelbar“ begriffen werden kann. Das meint einerseits, dass diese Gewissheit „allein die mit dem vorgestellten Dinge übereinstimmende Vorstellung selbst ist“ (Spin 113) und von daher alle Begründungen programmatisch ausschließt; das bedeutet umgekehrt aber wiederum nicht, dass sie sich nicht immer wieder der Bewährung in der Konfrontation mit der Wirklichkeit unterziehen lassen muss. Dazu passt schließlich, wie von Jacobi die Tätigkeit der Vernunft beschreiben wird: in der Trias von Urteilen, Begreifen und Wahrnehmen gelingt es ihr, „in steigenden Verhältnissen“ eine „Bilder- Ideen- und Wortwelt“ (Spin 274) zu erschaffen. In der Kreativität der menschlichen Vernunft bekundet sich der Eigenanteil, den diese für die Wirklichkeitswahrnehmung besitzt. Missverständnisse können allerdings entstehen, wenn man im Anschluss daran die von Jacobi mitunter gebrauchte Verwendung seiner Philosophie als „Unphilosophie“ isoliert betrachtet. Damit ist in der Tat eine deutliche Absetzung von den üblichen philosophischen Traditionen seiner Zeit (samt ihres rationalistischen oder spekulativen Erklärungsanspruchs) benannt. Allerdings meint das gerade keine generelle Verachtung philosophischer Vernunfttätigkeit. Eher schon lässt sich Jacobis Formel als seine Art verstehen, das sokratische Ideal des „wissenden Nichtwissens“ auszudrücken. Darunter fällt genau jene Bestimmung der Grenzen der Reichweite des Verstandes, die nur mit Mitteln der rationalen Überlegung erfolgen kann und die wie das Aufzeigen letzter, nicht 28 Häufig wird in der gerade zitierten Passage aus den Spinozabriefen die Verzahnung von Gewissheitstheorem und sozialer Praxis übersehen.

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mehr durch Gründe zu entscheidender Alternativen, als grundlegende Aufgabe der Philosophie gelten darf. Diese Alternativstellung steht dann unter dem Anspruch der Wahrheit. Dieser zweite Gesichtspunkt des Herausstellens nicht weiter auflösbarer Alternativen hat Dieter Henrich dazu veranlasst, Jacobis Ansatz als „Doppelphilosophie“29 zu kennzeichnen. Das ließe sich auch für die Figur des „salto mortale“ zeigen, den sich der alte Lessing nicht mehr zutraute. Trotz der Ambivalenz ihrer Metaphorik wird hier im Grunde nicht an einen waghalsigen Sprung aus der Vernunft in einen irrationalen Glauben gedacht. Vielmehr zielt das Bild auf den Moment innerhalb eines Reflexionsprozesses, an dem aus Gründen keine letzteindeutige Entscheidung mehr zugunsten einer Alternative getroffen werden kann. Was dann bleibt, ist einerseits das Aufzeigen der Konsequenzen aus den genannten Optionen, und andererseits die Notwendigkeit zur Praxis, zum Handeln.30 Somit sollte klar geworden sein, warum Jacobi so sehr auf dem Glaubensbegriff als einem FrWahr-Halten ohne abschließende Begrndung als dem Fundament von Wissenspraxis berhaupt beharrt.31 Und insofern jenem „Pragmatismus“ in 29 Vgl. Dieter Henrich, Der Ursprung der Doppelphilosophie. Friedrich Heinrich Jacobis Bedeutung für das nachkantische Denken, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Präsident der Akademie, Philosoph, Theoretiker der Sprache (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1993/H. 3), München 1993, 13 – 27. Vgl. die dabei festgestellte interessante Parallele mit Kant: „Kant wollte den Erkenntnisanspruch der rein rationalen Metaphysik hinwegfallen lassen. Doch zeigte er auch, daß dies erst dann gelingen kann, wenn man selbst und zum ersten Mal den bisher unbekannten Grundplan einer konsequenten rationalen Metaphysik in seiner reinen Gestalt zu entwerfen vermag. Jacobis Werk ist in noch höherem Maße von einer Einsicht in die Notwendigkeit bestimmt, die Wahrheit, welche sich dem Irrtum entgegengestellt, vor allem dadurch einsichtig werden zu lassen, daß die Wege, die in die Irre führen, in einer Weise übersichtlich und durchsichtig gemacht werden, wie dies denen, die sie selbst begehen, niemals gelingen kann. Die Kraft dieser Diagnose wird dabei zum vorzüglichsten criterium veritatis für das Gegenteil dessen, was in dieser Diagnose durchschaut ist.“ (a.a.O., 17). So verfährt Jacobi letztlich mit Spinozas Metaphysik. 30 Zutreffend an diesem Bild ist jedenfalls, dass der rationale Umgang mit solchen Alternativstellungen darin bestehen muss, den Punkt, an dem die Entscheidung zu treffen ist, genau bestimmbar zu machen. Daher entscheidet wie beim Salto der richtige Moment und die richtige Stelle über einen gelungenen Absprung. Zur Deutung dieser Figur siehe auch: Sandkaulen, Grund und Ursache (s. o. Anm. 21), 23 ff. 31 Vgl. Birgit Sandkaulen, Fürwahrhalten ohne Gründe. Eine Provokation philosophischen Denkens, in: DZPhil 57 (2009), 259 – 272.

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irgendeiner Form ein Realismus entsprechen muss, bleibt dieser für ein Verständnis seiner Philosophie unabdingbar. Wenn demnach das Leben in seinen Vollzügen der Vernunfttätigkeit prinzipiell vorgelagert bleibt, dann lässt sich auf phänomenologischem Wege auch klären, warum die Vernunft, um überhaupt zu einer konkreten Einsicht oder Erkenntnis zu gelangen, immer schon auf dieses bezogen ist. Denn andernfalls würde sie in der Leerheit des absoluten Idealismus landen. Um sich jedoch besser gegen den Vorwurf zu wehren, er würde einer letztlich unhaltbaren, weil irrationalen Vernunfttheorie das Wort reden, zieht Jacobi in späteren Schriften eine Differenz in den Vernunftbegriff selbst ein. Damit hofft er zugleich das Missverständnis einer religiösen Färbung seines Glaubensbegriffs ausräumen zu können.32 An noch anderer Stelle bemüht er schließlich die Begriffe von „Verstand“ und „Vernunft“, freilich nicht in ihrer Kantischen Fassung, um den Unterschied, auf den es ihm ankommt, zu verdeutlichen. Worin aber liegt nun die Differenz? Für Jacobi geht es fortan darum, einen adjektivischen Gebrauch von Vernunft von einem substantivischen zu differenzieren. Während für den ersten gilt, dass er unter Vernunft eine Fähigkeit oder auch Fertigkeit des Menschen im Blick hat, die dieser besitzt und von daher optimieren kann, gilt für den anderen Gebrauch nachgerade das Gegenteil. Nicht hat der Mensch diese Weise der Vernunft, sondern sie wohnt ihm als Menschen inne. Hieran schließt sich Jacobis Verständnis von Geist an. Durch die Präsenz dieser Weise von Vernunft in ihm kann der Mensch allererst zur Ausbildung und Darstellung seiner personalen Qualitäten gelangen. Noch gewichtiger für unser Anliegen ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass mit dem Stichwort der substantivischen Vernunft zugleich der Ausgangspunkt für die Konzeption seines philosophischen Gottesgedankens gegeben ist. In dessen inhaltliche Ausformulierung in Gestalt des personalen Gottes fließen daher nicht minder vernunfttheoretische als freiheitstheoretische Überlegungen mit ein. Dem soll im Folgenden weiter nachgegangen werden, um darzulegen, warum Jacobis philosophische Theologie aus nichts anderem als einer passgenau abgestimmten Vernunftkritik und Freiheitstheorie entspringt.

32 Jacobi kennt natürlich auch die Verwendung des religiösen Glaubensbegriffs, den er allerdings deutlich abhebt von dem hier verwendeten. Vgl. etwa Spin 114 f.

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4 Der Streit um die „Göttlichen Dinge“: Jacobis persönlicher Gott Jacobis Konzeption des Theismus, die er in scharfer Abgrenzung gegen jede Form von Naturalismus, und sei es diejenige des „Idealmaterialismus“ des mittleren Schellings, formuliert hat, stellt zunächst nichts anderes als die metaphysische Abschlussfigur seiner Philosophie dar. Die darin implizierte Frontstellung gegenüber monistischen Alternativen ist vollständig. So gibt es letztlich nur die beiden Optionen, das Göttliche entweder personal zu denken, oder es sich als bewusst- und willenslos vorzustellen. Die für die zweite Variante verwendeten Chiffren mögen variieren, bleiben aber unwesentlich. Als Kandidaten werden genannt: „die Natur“, „das Nichts“, „reines oder absolutes Ich“, oder auch „Schicksal“. Entscheidend ist vielmehr, dass mit der Wahl für die zuletzt genannte Option alle Möglichkeiten wegfallen, die Wirklichkeit von Vernunft und Freiheit in der Welt zu verstehen; vorausgesetzt natürlich, man reduziert die beiden Begriffe nicht im Sinne der Einziehung der Differenz von Grund und Ursache auf reine Bestimmungsoperationen bloßen Verstandesdenkens beziehungsweise auf die kognitive Anerkennung des notwendigen Ablaufs von Geschehnissen. Doch inwiefern lassen sich, entscheidet man sich stattdessen für die erste der beiden Alternativen, auch Gründe für einen personalen Schöpfergott finden, im Sinne einer rationalen Theologie, die nicht nur das Gegenteil dessen behauptet, was nicht sein kann, weil nicht sein darf ? Zwei Gründe sind es im Wesentlichen, die nach Jacobi für ein personales Verständnis des Göttlichen sprechen. Beide verweisen wiederum auf das Verhltnis von Vernunft und Freiheit und hängen mit dem Verstndnis von Person als Urheber von Handlungen zusammen. Der erste betrifft noch einmal Implikationen eines gehaltvollen, das heißt sachhaltigen Freiheitsverständnisses. Soll nämlich „schaffende Freyheit“ kein „erdichteter Begriff“ sein, so ist ihr Begriff „der einer Vorsehungs- und Wunderkraft, wie der Mensch solche in seiner vernünftigen Persönlichkeit durch sich selbst inne wird“33. Freiheit setzt demnach sowohl Selbstständigkeit („durch sich selbst“), als auch Wissen („Vorsehungskraft“) und Willen („Wunderkraft“) voraus. Andernfalls würde Freiheit kein Merkmal einer „selbst und mit Absicht hervorbringende[n], ursprüngliche Werke und 33 Einleitung in des Verfassers sämtliche philosophische Schriften (1815), in: JWA 2,1, 395.

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Thaten beginnende[n]“34 Praxis von Menschen sein. Auf den Gottesbegriff gewendet heißt dies: „Allmacht ohne Vorsehung ist blindes Schicksal, und Freyheit und Vorsehung sind von einander unzertrennlich; denn was wäre Freyheit ohne Wissen und Wollen, und was ein Wille, dem die That vorhergienge oder welcher nur die That begleitete?“35 Damit müssen sich im Gottesgedanken, sofern man diesen als sinnvoll behaupten will, die Momente der Aseitt, der Willens- und der Vernunftaktivitt wiederfinden lassen, um ihn vor der bloßen Nomenklatur für blindes Schicksal zu bewahren. Daran knüpft der zweite Gesichtspunkt an, den Jacobi geltend macht. Im Gottesbegriff ist normalerweise eine Differenz zum Weltbegriff mit gesetzt, was bei Jacobi ganz allgemein durch die Unterscheidung von „natürlich/übernatürlich“ zum Ausdruck gebracht wird. Prinzipiell kann die Gott/Welt-Unterscheidung aber in zweifacher Weise vorgenommen werden. Entweder fungiert der Gottesbegriff nämlich als innerer Bestimmungsgrund des Weltbegriffs, etwa im Sinne einer causa immanens bei Spinoza, in kraftmetaphorischer Verwendung bei Herder oder als Ganzheitsbegriff in Gestalt der Kategorie des Universums beim frühen Schleiermacher. Oder aber die Gott/Welt-Differenz wird durch eine „erste Ursache“ markiert, die aber genauerhin betrachtet als „erster Urheber“ aufgefasst werden muss. Die Anknüpfung an Kants diesbezügliche Abgrenzung des Theismus vom Deismus in seiner Kritik der reinen Vernunft ist dabei beabsichtigt.36 Denn für Kant wie für Jacobi kann letztlich nur die zweite Kategorie des „Welturhebers“ auf Gott angewendet werden, vorausgesetzt dieser soll als „lebendig“ aufgefasst werden; und wie anders ließe er sich auch verstehen, wenn es sich stets um ein lebendiges Individuum, einen Menschen als Person, handelt, der Gott als denjenigen denkt, der ihn und die ganze Welt erschaffen hat. In der Tat liegt auf der Fluchtlinie dieser Überlegungen ein Verständnis Gottes als das eines Handelnden, als eines in Freiheit willentlich und bewusst Tätigen. So wie sich im Vollzug des Handelns der Mensch seiner Freiheit dadurch vergewissert, dass er sich selbst als der Urheber dieser Handlung erfährt, so erfährt er inmitten einer durch Kausalbeziehungen verknüpften Naturwirklichkeit seine dennoch reale Freiheit. 34 A.a.O., 396. 35 A.a.O., 395. 36 Vgl. Immanuel Kant, KrV A 932 f. /B 660 f. Jacobi zitiert des Öfteren und mit voller Zustimmung diese Stelle, so etwa in der Erweiterung zur dritten Auflage der Spinozabriefe im Rahmen der Werkausgabe von 1819: vgl. Spin 307.

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Als das „Geheimnis der Welt“ muss Gott insofern betrachtet werden, da er diejenige Instanz bildet, die für die reale Verzahnung beider Wirklichkeitsperspektiven aus Natur und Freiheit brgt, die auf die Welt und auf den Menschen gleichermaßen zutreffen. Somit artikuliert sich im Schçpfergedanken auf symbolische Weise jenes geheimnisvolle Ineinandergreifen von Naturnotwendigkeit und Freiheitswirklichkeit, die der Mensch niemals begreifen kann, von deren Realitätsgemäßheit er allerdings in seiner Lebenswirklichkeit stets ausgeht. Schöpfer-Sein bedeutet demnach, beide Dimensionen umgreifen und sinnvoll aufeinander abstimmen zu können. Und als „personal“ ist dieses Gottesverstndnis zu qualifizieren, weil das Vermçgen der gçttlichen Wirklichkeit, Welt und Selbst stimmig und sinnhaft zu umgreifen, analog zur Freiheit weder in der Form der Deduktion noch der Demonstration bewiesen werden kann. Allenfalls kann es stets neu (in der Handlungspraxis) bezeugt werden. Jacobis Bekenntnis im Gespräch mit Lessing ist daher aufs präziseste formuliert: „Ich glaube eine verständige, persönliche Ursache der Welt.“ (Spin 26). Weder geht es ihm also um eine Aktualisierung rationaler Gottesbeweise, wie etwa Mendelssohn in seinen Morgenstunden, noch formuliert er ein religiöses Bekenntnis im Stil eines konfessionellen Credos („Ich glaube an…“). Fern von Rationalismus und Fideismus beharrt er auf der (negativen) Grenze jeder rationalen Theologie, weil er keine weitere Spezifizierung des Gott-Welt-Mensch-Verhältnis vornimmt. Dieser Raum bleibt den positiven religiösen Traditionen vorbehalten. Jedoch kann er in einer bestimmten Hinsicht noch weiter kulturtheoretisch aufgeklärt werden. Das wird gleich zu zeigen sein. Was Jacobi aber von vornherein ausgeschlossen wissen will, ist die Vermengung religiöser oder philosophischer Argumentation mit (natur)wissenschaftlichem Denken.37 Das dergestalt profilierte Modell eines pragmatischen Theismus führt allerdings von selbst auf das Problem der Wahrheit des Anthropomorphismus. Auch hier erkennt Jacobi wiederum Spinoza als einen der zentralen Stichwortgeber an. Denn schon dieser hatte sehr genau den Zusammenhang mit der Kategorie der causa finalis gesehen.38 Es scheint, als ob 37 Deswegen stellt dieser „pragmatische Theismus“ mit seinen minimalen Hintergrundannahmen auch keinen Vorläufer von Ansätzen im Umfeld des Intelligent Designs dar. 38 Vgl. den Anhang zum I. Buch der Ethik: Baruch de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt (PhB 92), Hamburg 1976, 39 – 48 [Ethik I app.].

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insbesondere der (für Spinoza allerdings illusionäre) Gedanke von Zweckursachen Menschen dazu verleitet, im Göttlichen eine personenanaloge Wirklichkeit zu vermuten. Kulturgeschichtlich trifft dies jedenfalls sowohl auf die mythologischen Weltbilder mit ihren vollen Götterkosmen als auch auf die christliche Dogmatik oder die traditionelle jüdische Theologie zu. Ohne diesen Konnex in Abrede zu stellen, insistiert Jacobi nun darauf, die Rationalitt dieser kulturellen Weisen der symbolischen Weltauslegung ernst zu nehmen. Dabei beharrt er darauf, dass für ein adäquates Verstehen religiöser Handlungen nur diejenige Perspektive infrage kommt, in die sich der Mensch selbst als der sich in seiner Religiosität frei Betätigende stellt beziehungsweise hineingestellt weiß. In der Beilage III seines Briefes an Fichte vergleicht Jacobi den reinen Begriffsgott des Philosophen, der über die Natur und das Wesen des Göttlichen reflexiv Bescheid weiß, mit dem als lebendige Gegenwart erfahrenen „großen Geist“, den ein „Wilder in Amerika“ in einem Wasserfall vermutet, und der jenen dazu veranlasst, „vor dem Waßerfall auf sein Angesicht [niederzufallen]“39. Das Ergebnis ist eindeutig: Mit Heidegger gesprochen kann der Mensch vor der Causa sui „weder aus Scheu aufs Knie fallen, noch vor diesem Gott musizieren und tanzen“40. Der „Bote im Walde“ hingegen kann dies, weil er „an Gott gedacht“ hat, an die lebendige Gegenwart Gottes, auf die wir – ganz analog zu Personen – mit Achtung, in Ehrerbietung und Bewunderung antworten können. Deswegen lässt sich zugleich von einem expressiven Theismus sprechen, weil ein solch personaler Gottesglaube vornehmlich in rituellen und kommunikativen Handlungen zum Ausdruck gebracht wird. Das Problem am „Fetischismus“, oder präziser gesagt: an mythischen Vorstellungen liegt für Jacobi demnach nicht in der Form der religiösen Praxis an sich; problematisch ist vielmehr die Kontur „ihres Gegenübers“41. Die Wahrheit höherstufiger Religionen, allen voran des 39 JWA 2,1, 239. Man beachte die folgende Passage: „So gar von einem plumpen Heiligenbilde, behaupte ich, könne ein Andächtiger, wenn nur das Herz in seiner Brust sich recht erhebe, von den erhabensten Empfindungen und Gedanken, von wesentlicher Wahrheit ganz durchdrungen werden, und selbst geheiligt, davon gehen. Es ist allerdings ein eckelhafter Anblick, das Knien vor einem solchen Bilde, wenn man nicht weiß, was in dem Knienden vorgeht, oder davon abstrahiert, und nur auf das Bild achtet.“ (ebd.) 40 Martin Heidegger, Die Onto-Theo-Logische Verfassung der Metaphysik, in: Ders., Identität und Differenz, Stuttgart 132008, 64. 41 Vgl. die folgende Passage: „Wen eine kindische Vorstellungsart (…) anthropomorphisirt, daß ein Gott erscheint, eingeschlossen, wie ein Mensch, in eine

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Christentums, liegt daher in ihrer konsequenteren, und das heißt auch immer selbstreflexiven Anwendung des Anthropomorphismus. Das wird bei Jacobi zunächst dadurch deutlich, dass nur der Mensch als Person Gott offenbaren kann. So deutet er die großen Gestalten der Religionsgeschichte, Sokrates, Confuzius, Mose und Christus.42 Andererseits wird der Mensch umgekehrt gerade als Gottes Ebenbild ausgezeichnet, mit folgenschweren Konsequenzen. Denn den „Mensch erschaffend theomorphisirte Gott. Nothwendig anhropomorphisirt darum der Mensch. Was den Menschen zum Menschen, d.i. zum Ebenbilde Gottes machet, heißt Vernunft. Diese beginnt mit dem – Ich bin. Am Anfang war das Wort. Wo dieß inwendige – das sich selbst Gleiche aussprechende – Wort ertönt, da ist Vernunft, da ist Person, da ist Freyheit. Vernunft ohne Persönlichkeit ist Unding“43. Die beiden Momente von personaler Religionsgeschichte und theomorpher Anthropologie spielen insofern zusammen, als Jacobi darüber ein anderes Verständnis, auch der Bedeutung von äußerer Offenbarung für das Zustandekommen des Glaubens gewinnt. Aus der Perspektive der christlichen Theologie ist es gewiss problematisch, wenn die Geschichte lediglich zur äußeren Darstellung eines bereits notwendigerweise innerlich vorhandenen Gottesinstinkts wird. Gewichtet man hingegen die von Jacobi durchaus zugestandene Differenz zwischen philosophischer und religiöser (theologischer) Perspektive stärker, so geht es ihm zunächst einmal darum, ein dem Menschen adäquates Verständnis von Religiosität und damit auch von Gott herauszuarbeiten.44 Das körperliche Gestalt; ein Gott mit Händen und Füßen, der eines Auges bedarf um zu sehen, eines Ohres um zu hören, eines sinnenden und nachsinnenden Verstandes um zu wissen und zu wollen: so erhebt sich wider eine solche thörigte Vorstellungsart die Vernunft mit Recht. – Aber noch tiefer muß es sie empören, wenn du die Natur vergötternd, einen Gott lehrst, der das Auge schafft und nicht siehet, das Ohr pflanzet und nicht höret, den Verstand werden läßt und nicht vernimmt, nicht weiß und nicht will, und – nicht ist.“ ( JWA 3, 115). Im Hintergrund steht die Logik des Psalmisten (vgl. Ps 94,9). 42 Vgl. die Hinweise in Von den gçttlichen Dingen (vgl. JWA 3,43), sowie im Vorwort zur Neuausgabe des Spinozabuches von 1819: „Wo starke Persönlichkeit hervortritt, da wird in ihr und durch sie die Richtung zum Übersinnlichen und die Überzeugung von Gott am entschiedendsten zur Sprache gebracht. Sokrates, Christus, Fenelon, beweisen mir mit ihrer Persönlichkeit den Gott, welchen ich anbete, er ist mir als Schöpfer dieser Persönlichkeiten erhabner, denn als Urheber des Sternenhimmels nach Gesetzen innerer Notwendigkeit, denen er selbst in seinen Werken unterworfen ist.“ (Spin 307). 43 JWA 3, 112 f. 44 Jacobis Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube, von Philosophie und Religion ist daher nicht mit der Pascal’schen gleichzusetzen.

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schließt dann eine normative Bewertung der Religionsgeschichte ein, die derjenigen in Schleiermachers Glaubenslehre nicht unähnlich ist. Abschließend erweist sich vor diesem Hintergrund sogar die Zurückweisung der Position des späteren Schellings als in sich konsequent. Dieser hatte bekanntlich ab seiner mittleren Phase große Sympathien für die Vorstellung eines persönlichen Gottes entwickelt.45 Doch band er sie zurück in eine Theorie, wonach die Persönlichkeit des Absoluten sich allererst von einem Urgrund („Natur in Gott“) abheben und entwickeln müsste. Für Jacobis Kritik ausschlaggebend ist nun nicht nur das Faktum, dass Schelling Personalität (scheinbar) nur an zweiter Stelle als für das Verstehen des Göttlichen geeignet erachtet. Mehr noch begeht Schelling einen methodologischen Fehler, wenn er behauptet, die Frage beantworten zu können, „was Gott ist“. Denn zum Phänomen des PersonSeins gehört eben jene letzte Nicht-Definierbarkeit ihres Wesens (das „Wer“ eines Jemand, das nur im Sich-Selbst-Zeigen bezeugt werden kann), die auch jede Form des (personalen) Gottesbeweises unmöglich gemacht hatte: „Darum fragt meine Philosophie: wer ist Gott; nicht: was ist er? Alles Was gehört der Natur an“ (Spin 307). Weil Jacobi auf dem Gebiet der Metaphysik erneuert, was er in seiner Vernunft- und Freiheitstheorie als Systemkritik entwickelt hat, darum stellt sein Ansatz einen nach wie vor bedeutsamen Versuch einer philosophischen Theologie in der Moderne dar.46

45 Klassisches Dokument für diese Auffassung ist zweifelsohne die Freiheitsschrift von 1809: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände, hg. von Thomas Buchheim, Hamburg 2005. Allerdings wird der Gedanke schon in den Jahren zuvor, vor allem in den naturphilosophischen Überlegungen, entwickelt. Vgl. dazu jetzt: Christian Danz, Natur in Gott. Schellings Beitrag zur philosophischen Theologie, in: KuD 57 (2011), 26 – 40. 46 Das größte Manko in Jacobis Ansatz scheint mir in der nicht entwickelten Geschichtstheorie zu liegen. Vor dem Hintergrund seiner (metaphysischen) Orientierung am Personenbegriff hätte eine stärkere Gewichtung der Kontingenzthematik, vor allem für das Verständnis der Religionsgeschichte, nahegelegen. Es ist Ernst Troeltsch, der hundert Jahre später in seiner personalistischen Religions- und Geschichtsphilosophie daran ansetzen wird.

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5 Und die Theologie? Ein Ausblick mit Jacobi und die Konsequenzen Doch die Zeichen für eine Rezeption Jacobis in der evangelischen Theologie stehen nach wie vor ungünstig. Das hat weniger mit seiner Modernitätsoffenheit zu tun als mit dem derzeit über viele Schulgrenzen hinweg in Religionsphilosophie und Dogmatik unter Generalverdacht stehenden Theismusbegriff. Beispiele dafür ließen sich sowohl in subjektivitätstheoretischen wie in hermeneutischen oder stärker biblisch orientierten Ansätzen finden. Zudem ist die Differenz Jacobis zu den Argumentationsweisen (neo-)theistischer Ansätze im Umfeld der analytischen Philosophie überdeutlich. Man muss die mit alledem verbundenen Probleme gar nicht leugnen, sollte aber der Vielstimmigkeit von Bedeutungen der Theismuskategorie eingedenk bleiben. Pauschalurteile sind hier, wie so oft, fehl am Platz. Daher sind an Jacobis Konzept konkretere Anfragen zu richten, will man es auf seine Gegenwartsrelevanz hin befragen. Der Einwand, hier handele es sich lediglich um eine Repristinierung überkommener metaphysischer Theoreme, wird dem jedenfalls nicht gerecht. Schon ein unverfänglicherer Blick auf die inhaltlichen Übereinkünfte, die Jacobi mit Kant teilt – neben der Zurückweisung reduktionistischer Tendenzen seien die sachliche Füllung des Gottesgedankens und die Betonung der Doppelperspektivität von Wirklichkeit als Natur und Freiheit genannt – hätte diesem Vorwurf entgegentreten können.47 Jacobis Verteidigung eines personalen Schöpfergottes sowie seine Kritik an einer oberflächlichen Anthropomorphismuskritik entspringen beide einer handlungstheoretisch orientierten Metaphysik, die das humane Individuum in seinen Sozial- und Weltbezgen zum Ausgangspunkt nimmt und die dessen Personalitt in der Praxissituation endlicher Freiheit ausfindig macht. Jacobis bereits zitiertes Bekenntnis („Ich glaube eine verständige persönliche Ursache der Welt“) artikuliert somit nur diejenigen Bedingungen, die dem Handlungsvollzug selbst stets schon innewohnen. Die Anfangsgründe theistischer Gottesvorstellungen liegen somit in der 47 Noch fehlt eine entsprechende Untersuchung zum Verhältnis von Kant und Jacobi. Mit Blick auf die komplexen Übergänge der Religions- und Freiheitsthematik dieser Zeit sei aber auf die einschlägige Untersuchung von George di Giovanni (Freedom and Religion in Kant and His Immediate Successors: the Vocation of Humankind 1774 – 1800, Cambridge University Press: Cambridge (Ma.) 2005), verwiesen.

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Fluchtlinie der praktischen Selbsterfahrung des Menschen als eines Handelnden, der sich darin seiner Freiheit bewusst wird und sich zu einer individuellen Persönlichkeit (aus)bildet. Ein wesentliches Glied für den Aufbau dieser Selbsterfahrung ist auch die Einübung der Gewissheit von der Präsenz eines personalen Gottes in den Formen des Ritus und des Gebets. Nur so wird man der Lebendigkeit Gottes und nicht nur eines metaphysischen Abschlussbegriffs inne. Als Resultat ergibt sich ein Modell eines gleichermaßen expressiven wie pragmatischen Theismus, in dem zur Sprache gebracht und in Ritualen vergewissert wird, was sich einerseits jeder Beweisfhrung progammatisch entzieht und auf dem doch andererseits unsere handlungsleitenden Gewissheiten ber die Stimmigkeit und Sinnhaftigkeit unseres In-der-Welt-Seins als frei handelnde Subjekte basieren. Damit bestätigt sich auch für Jacobi die für jede Theologie einschlägige methodische Verklammerung von Gottes- und Selbsterkenntnis. Die Pointe seines Ansatzes liegt freilich darin, auf die impliziten Axiome des vorgängigen Zusammenhangs, der Struktur von Handeln und Erfahren, und die Rolle der darin eingelagerten Gewissheiten aufmerksam gemacht zu haben. „Ich habe keinen Begriff der inniger, als der von Endursachen wäre; keine lebendigere Überzeugung, als daß ich tue was ich denke, anstatt, daß ich nur denken sollte, was ich tue. Freilich muß ich dabei eine Quelle des Denkens und Handelns annehmen, die mir durchaus unerklärlich bleibt.“ (Spin 34) Deren Inanspruchnahme im Sinne eines Für-Wahr-Haltens ohne die Möglichkeit einer letzten Begründung verweist auf die Notwendigkeit ihrer permanenten Bewährung und Vergewisserung im Lebensvollzug selbst. So gesehen ist Jacobi ein Pragmatist avant la lettre. Dem entspricht schließlich auch Jacobis Religionsverständnis, das dem Menschen einen regelrechten „Gottesinstinkt“48 zuspricht49, der sich dann in rituellen Formen der Anbetung oder in den Haltungen von Liebe und Dankbarkeit artikuliert. Als religiçse Praxis wird der Glaube in emphatischer Weise als Ausdruckshandeln der Person verstanden, die in ihrem Selbsterleben einer göttlichen Gegenwart innewird, welches sie als „ihr Gegenüber“ wahrnimmt. Deswegen kann Jacobi davon sprechen, die Religion sei „Mittelpunkt alles geistigen Lebens“ (Spin 306), weil für den Menschen gilt, dass er sich in seinem religiösen Handeln in hervorge48 Vgl. JWR 3, 13: „Also der Glaube an Gott ist Instinkt.“ 49 Vgl. Hermann Deuser, Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004; darin v. a. der Aufsatz: Vom Handeln Gottes in Person, a.a.O., 141 – 152.

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hobener Weise als personaler Akteur erfährt. Daran ließen sich eine Reihe religionsanthropologischer Überlegungen zur Korrelation von Gottesvorstellung und Gebetsform anschließen, die an dieser Stelle allerdings unterbleiben müssen. Dass dies der evangelischen Theologie nicht gänzlich unbekannt ist, mag aber ein Verweis auf Gerhard Ebelings entsprechende Ausführungen wenigstens andeuten.50 Wenn gilt, dass religiöse Erfahrungen das Innerste der menschlichen Person berühren, dann lassen sie sich auch am ehesten in personaler Weise symbolisieren und deuten. Religion und Religiosität stellen selbst Weisen der Intensivierung des Lebens von Personen dar, die diese gleichzeitig herausheben und würdigen, und die sich dabei zugleich als dezentriert wissen: „Wir erfahren, daß ein Gott ist, so oft sich in uns das Gewissen, – unvertilgbar die freie Persönlichkeit bezeugend – übermächtig regt; durch ein göttliches Leben wird der Mensch Gottes inne.“ (Spin 308) Nun kann eine solche Aussage getroffen werden, ohne dass zugleich behauptet werden müsste, dass der Mensch schon immer davon Gebrauch macht. Er ist nicht in dem Sinne „unheilbar religiös“, dass es nicht auch in seiner Freiheit stünde, davon gänzlich abzusehen. Denn die aktive Unterdrückung oder die stillschweigende Vernachlässigung seines „übernatürlichen Instinkts“ ist genauso wie dessen aktive Ausgestaltung allein durch ihn selbst möglich. Damit zeigt sich: Gott und Freiheit als Grundthema neuzeitlicher Religionsphilosophie steht im Zentrum von Jacobis Denken. Und nur wenige andere neben ihm haben dabei ebenso sehr darauf geachtet, die Überzeugung von der Wirklichkeit der Freiheit mit einer nicht-reduktionistischen und dennoch naturalismusoffenen Wirklichkeitsperspektive zu verbinden. In dieser Hinsicht treffen sich Jacobis Bemühungen um eine Metaphysik mit denjenigen Ansätzen zeitgenössischer Religionsphilosophie, denen es darum zu tun ist, die Geist/Natur-Differenz weder zu überspielen noch unterbestimmt zu lassen, sondern sie vielmehr in das Kontinuum evolutionärer Wirklichkeit einzustellen. Dabei dürfte dem Schöpfergedanken als einer elementaren Weise, das Göttliche zu verstehen, weiterhin eine zentrale Rolle zukommen. Von daher sei an dieser Stelle noch etwas konkreter auf die schon mehrmals angedeutete Nähe Jacobis zu jener philosophischen Richtung eingegangen, die hundert Jahre später unter den Namen Pragmatismus, vornehmlich in den USA, zur Geltung kommen sollte. Viele ihrer 50 Vgl. Gerhard Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens Bd. I, Tübingen 2 1982, v. a. § 9: 192 – 244.

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wichtigen Gründergestalten, allen voran Peirce und James, aber auch Royce, teilten mit Jacobi nicht nur die Wachsamkeit gegenüber dem Aufkommen naturalistischer Tendenzen, sondern ebenso ein relativ unkompliziertes Verhältnis zu theistischen Denkansätzen, jedenfalls dann, wenn es um ihre existentielle Bedeutsamkeit für die religiöse Praxis geht. Es überrascht daher nur auf den ersten Blick, wenn etwa William James in seiner Verteidigung eines personalen Gottes sogar so weit geht, gleichsam in Konzession an Fichte, von einem uns zwar weit überlegenen, aber dennoch „endlichen Gott“ zu reden; eine Sicht, die sich daraus erklärt, dass er dies einem an der religiösen Erfahrung vorbeigehenden, abstrakt monistischen Prinzip des Absoluten vorzieht.51 Nicht weniger einschlägig sind die Ausführungen von Charles Sanders Peirce über ein vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes, dem eine evolutionistische Metaphysik korrespondiert, die ebenfalls ein affirmatives Verständnis von Anthropomorphismus und personaler Symbolisierung nicht scheut.52 Blickt man von hier aus noch einmal zurück auf die religionsphilosophische Formierungsphase im Ausgang des Aufklärungszeitalters, dann spricht einiges dafür, sich erneut und gründlicher als bislang geschehen mit der Philosophie Jacobis auseinanderzusetzen. Scheint es ihm doch darum gegangen zu sein, was nach Wilfried Härle generell für die Verwendung personaler Kategorien für ein Sprechen über Gottes Wirklichkeit gilt: „In dem Beziehungsgefüge von „Personalität“ wird vielmehr der Ort erkennbar, an dem das Reden von Gott im Zusammenhang mit Personalität unverzichtbar ist.“53 Wie immer es somit im Einzelnen 51 Vgl. William James, Ein pluralistisches Universum. Vorlesungen über die gegenwärtige Lage der Philosophie (1909), dt. Neuausgabe Darmstadt 1994, 12 ff.22 ff.195 ff. 52 Vgl. Charles Sanders Peirce, Vorlesungen über Pragmatismus, hg. und eingeleitet von Elisabeth Walther (PhB 435), Hamburg 1991, 28 f: „,Anthropomorph‘ ist genau das, was allen Vorstelllungen zugrunde liegt (…) Hinsichtlich jeder Bevorzugung einer Art der Theorie vor einer anderen, ist es gut, zu erinnern, daß jede einzelne Wahrheit der Wissenschaft der Ähnlichkeit der menschlichen Seele mit der Seele des Universums verdankt wird, so unvollkommen diese Ähnlichkeit zweifellos ist.“ 53 Wilfried Hrle, Dogmatik, Berlin/New York 32007, 251. Dass auch Härle die schöpferische Wirklichkeit Gottes, die sich unserer sinnlichen Wahrnehmung entzieht, als Grund für die Rede vom Person-Sein Gottes qualifiziert, und damit in enger, sachlicher Übereinstimmung mit dem Referenzautor unserer Überlegungen steht, zeigen die Ausführungen im Anschluss an die gerade zitierte Stelle, wenngleich mit anderer Verwendung der Kategorien von Grund und Ursache.

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um Jacobis Beitrag für eine Hermeneutik der Personalität Gottes bestellt sein mag, eines scheint offensichtlich: Systematische Theologie – und wahrlich nicht nur sie! – täte gut daran, sich hin und wieder jener Mahnung des Geistesliteraten aus Pempelfort zu erinnern, die er der abschließenden Ausgabe seines berühmtesten Werkes mit auf dem Weg gab: „Wenige Menschen erwägen, was ihnen Alles mit dem Glauben an einen persönlichen Gott verloren geht.“ (Spin 318)

Die Philosophie Ayn Rands – Bestimmung des Menschen als theologischer Anknüpfungspunkt Alexander Dietz 1 Einleitung Als ich im März 2009 zu einem Vortrag in den USA an der CornellUniversity eingeladen war, nutzte ich die Gelegenheit beim Abendessen, eine Professorin für Literaturwissenschaft nach ihrer Meinung zur Schriftstellerin Ayn Rand zu befragen. Ihre Antwort lautete: „Ich habe ihre Bücher nicht gelesen, und von meinen Freunden hat auch niemand ihre Bücher gelesen.“ Sie sagte dies in einem Tonfall, der deutlich machte, dass das Verhältnis zu Rand ein entscheidendes Kriterium bei der Auswahl ihrer Freunde darstellt. Im Jahr 1991 fragte die Nationalbibliothek der USA die amerikanischen Leser nach dem Buch, das sie am meisten beeinflusst habe. Nach der Bibel wurde am häufigsten Ayn Rands Roman „Atlas Shrugged“ von 1957 genannt. Was ist das für eine Autorin, die in den USA seit einem halben Jahrhundert einen außerordentlich großen Einfluss ausübt und an der sich dort die Geister scheiden, während sie in Deutschland weitgehend unbekannt ist? Ayn Rand wurde 1905 als Alissa Rosenbaum in St. Petersburg geboren. Sie war eine gute Schülerin und träumte schon im Alter von neun Jahren davon, einmal eine berühmte Schriftstellerin zu werden. Ihr Vater war Apotheker, aber die Familie wurde nach der kommunistischen Machtübernahme im Jahr 1917 enteignet. Schon als Jugendliche war Rand, die in einem agnostisch-jüdischen Elternhaus aufwuchs, bekennende Atheistin. Ihr Studium der Geschichte (mit dem Nebenfach Philosophie) schloss sie erfolgreich mit 19 Jahren ab. Anschließend besuchte die junge Frau mit ihrer Leidenschaft für amerikanische Filme das Staatliche Technikum für Filmkunst. Als ihr klar wurde, dass es in der Sowjetunion für eine Querdenkerin wenig Freiraum gab, wuchs ihr Entschluss, in die USA auszuwandern. Als sie 1926 ihre Heimat mit der offiziellen Begründung verließ, in den USA Filmwissenschaft studieren zu wollen, um ihre Fähigkeiten anschließend in den Dienst des sowje-

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tischen Films zu stellen, wusste sie bereits, dass es ein endgültiger Abschied war. Sie zog nach Hollywood, änderte ihren Namen in Ayn Rand und heiratete den Schauspieler Frank O’Connor.1 Ihre Weltanschauung gewann an Kontur. Ihre negativen Erfahrungen unter einem kommunistischen Regime, der Eindruck, den die Lektüre Friedrich Nietzsches während des Studiums auf sie gemacht hatte, und ihre Begeisterung für die Werte des American Way of Life mündeten in das Ideal eines radikalen Individualismus. Vor diesem Hintergrund nahm sie den zunehmenden Einfluss sozialliberaler Ideen auf die gesellschaftliche Meinung sowie politische Entscheidungen in den dreißiger Jahren als Bedrohung der Grundlagen der westlichen Kultur wahr. Ihres Erachtens lag dieser Entwicklung eine allgemeine Vernachlässigung des Vernunftgebrauchs sowie das Fehlen eines konsequent durchdachten philosophischen Systems zugrunde, das der Vernunft durch den Aufweis der ethischen Vorzugswürdigkeit eines radikalen Individualismus und eines Laissez-faire-Kapitalismus zu ihrem Recht verhelfen könnte. Diese Lücke gedachte sie mit ihrer so genannten Philosophie des Objektivismus2 zu füllen, die sie zunächst in Form von Romanen verbreitete. Ihr erster Roman „We the Living“, erschienen 1936, beschreibt, wie eine kommunistische Diktatur das Leben von Menschen zerstört. Ihr zweiter Roman „Anthem“, 1938 veröffentlicht und heute in vielen amerikanischen Schulen Pflichtlektüre, beschreibt die Wiederentdeckung des Wortes „Ich“ durch den Helden in einer utopischen Gesellschaft, die dieses Wort aus dem Gedächtnis der Menschen gestrichen hat. Mit ihrem dritten Roman „The Fountainhead“ gelang ihr 1943 der Durchbruch. In diesem, wenige Jahre später auch verfilmten, Buch geht es um einen aus Rands Sicht idealen Menschen, und zwar einen tatkräftig-zielstrebigen, geistig und menschlich unabhängigen sowie kompromisslosen Architekten. An ihrem vierten und letzten Roman „Atlas Shrugged“ arbeitete sie vierzehn Jahre lang. Das weit über 1.000 Seiten umfassende Werk beschreibt den Zusammenbruch der Gesellschaft, nachdem ihre „produktiven“ Mitglieder (insbesondere erfolgreiche Unternehmer) sich nicht mehr von der restlichen Gesellschaft ausnutzen lassen möchten und in einen Streik treten. Herzstück des Buches ist eine 1 2

Vgl. David Schah, Ayn Rand – Ihr Leben, Grevenbroich 2008, 14 ff. Wie viele andere Begriffe auch, verwendet Rand den Begriff „Objektivismus“ in einer sehr spezifischen Weise, die nicht mit dem in der Philosophie sonst üblichen Begriffsgebrauch identisch ist.

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(über 60seitige) Radioansprache des Anführers der Streikenden, in der Rand ihr gesamtes philosophisches System zusammenhängend skizziert. Die Bitte ihres Lektors, diese Rede zu kürzen, beantwortete sie mit der Frage, ob er denn Teile der Bibel kürzen würde. Das Buch erschien im damals renommiertesten Verlag Amerikas, Random House, und ist bis heute ein Bestseller.3 Rand wurde eine einflussreiche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, wenngleich ihr die Anerkennung durch die akademische Philosophie stets weitgehend versagt blieb, sei es aufgrund ihrer missverständlichen Terminologie, ihrer programmatischen Einseitigkeit, ihrer Weigerung, sich mit anderen Positionen differenziert auseinander zu setzen, oder ihres Lebensstils. Sie wurde zum Mittelpunkt einer Fangemeinde, deren engerer Kreis sektenhafte Züge aufwies. Der libertäre Ökonom und Philosoph Murray N. Rothbard beschrieb diese Züge detailliert in einem kritischen Aufsatz: Anhänger des Rand-Kultes gaben sich häufig neue Namen, in denen die Buchstabenfolge „rand“ vorkam, sie rauchten, weil die Romanheldin in „Atlas Shrugged“ raucht, sie heirateten nur Personen, die ebenfalls Rand-Fans waren, bei ihren Hochzeiten wurde aus „Atlas Shrugged“ vorgelesen, sie waren absolut loyal den Ideen Rands gegenüber und unempfänglich für Gegenargumente, Abweichler wurden denunziert und ausgeschlossen.4 Zu ihren ersten Anhängern gehörte der spätere Chef der US-Notenbank Allen Greenspan. Einige ihrer Schüler gründeten einflussreiche Institute, in denen Tausende die Philosophie Rands studierten. Noch heute existieren das später gegründete „Ayn-Rand-Insitute“ (orthodoxer Objektivismus) und die „Atlas Society“ (Neo-Objektivismus). Rand trat als Rednerin im Radio und Fernsehen sowie bei Symposien auf. Sie schrieb nun nichtfiktionale philosophische Artikel für die von ihr gegründete Zeitschrift „The Objectivist“, die später in sieben themenspezifischen Sammelbänden herausgegeben wurden. Im Jahr 1982 starb Rand an den Folgen ihres Lungenkrebsleidens. Neben der Totenbahre lehnte ein zwei Meter hohes aus Blumen geflochtenes Dollarzeichen, das an die goldene Brosche in gleicher Form erinnerte, die sie stets getragen hatte. Sie war eine der Wegbereiterinnen

3 4

Vgl. Schah, Ayn Rand (s. o. Anm. 1), 53 ff. Vgl. Murray N. Rothbard, The Sociology of the Ayn Rand Cult, 1972, unter : http://www.lewrockwell.com/rothbard23.html (am 19. 11. 2009).

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der marktradikalen Wende der USA in den achtziger Jahren.5 Der Versuch, ihren Erfolg in den USA trotz der offensichtlichen Spannung, in der ihre Gedanken zur amerikanischen Religiosität stehen, erklären zu wollen, könnte meines Erachtens nur spekulativen Charakter haben und soll darum an dieser Stelle nicht unternommen werden. Ein solch immenser Erfolg wie in den USA erscheint für Rands Werk in Deutschland angesichts der kulturellen Unterschiede nicht vorstellbar. Dennoch wächst die Zahl der Rand-Anhänger auch in Deutschland, seit in den letzten Jahren der Soziologe Werner Habermehl die Werke Rands – teilweise erstmals und teilweise neu – in die deutsche Sprache übersetzen ließ und verlegte. Deutschsprachige Internetforen zu Rand finden zunehmend Interesse. Immer öfter erscheinen große Artikel über Rand in wichtigen deutschen Zeitungen.6 Diese Entwicklung dürfte einen deutlichen Schub erfahren, wenn innerhalb der nächsten Jahre die geplante Hollywood-Verfilmung von „Atlas Shrugged“ mit Star-Besetzung in den Kinos zu sehen sein wird. Dann wird es wünschenswert sein, dass sich Theologen in Deutschland differenziert und kundig zu Rands – teilweise interessanten und teilweise hochproblematischen – philosophischen Gedanken äußern können. Dazu möchte ich hiermit einen Beitrag leisten.

2 Ontologie Ayn Rand hat ein philosophisches Gesamtsystem vorgelegt, das zwar an einzelnen Stellen deutliche Schwächen zeigt – die möglicherweise damit zusammenhängen, dass ihre Mentalität es ihr verbot, an Positionen, die nicht zu einhundert Prozent mit ihrer eigenen übereinstimmten, ein gutes Haar zu lassen, und dass sie außer Aristoteles, Platon und Friedrich Nietzsche nur philosophische Sekundärliteratur gelesen hatte – aber das dennoch bei genauerem Hinsehen ein höheres Reflexionsniveau als zunächst vermutet und viele interessante Gedanken aufweist. Ich orientiere mich in meiner Darstellung in leicht modifizierter Form an Rands eigener Aufteilung ihrer Philosophie in Metaphysik, Epistemologie, Ethik, Politik und Ästhetik. 5 6

Vgl. Carmen Wappel, Philosophin des freien Markts, in: Peter Danich / Christian Sebastian Moser (Hg.), Stichwortgeber für die Politik, Teil II, Wien 2007, 125 – 134, 126. Vgl. Ingeborg Harms, Art. „Sie sah den Übermenschen als Unternehmer“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (05. 08. 2010), Wissenschaftsbeilage, 4.

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Entgegen der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von vielen Philosophen geforderten Absage an alle Metaphysik erkannte Rand die grundlegende Bedeutung dieser Disziplin für die gesamte Philosophie an und wählte sie zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Die Metaphysik als eine Grunddisziplin der Philosophie beschäftigt sich nach Aristoteles mit der Grundstruktur und den Prinzipien der Wirklichkeit beziehungsweise des Seienden als solchen (im Unterschied zur Beschäftigung mit einzelnen, der empirischen Erfahrung zugänglichen seienden Dingen). Traditionell wird die Metaphysik in die allgemeine Metaphysik (Ontologie) und in die spezielle Metaphysik (Kosmologie, Anthropologie und philosophische Theologie) eingeteilt. Da der Gegenstand sowohl der Metaphysik insgesamt als auch der Ontologie das Sein ist, und da das endliche Seiende als Gesamtheit den Gegenstand der Kosmologie darstellt, sind die Grenzen zwischen Metaphysik, Ontologie und Kosmologie fließend. Dem entspricht Rands Verwendung des Metaphysikbegriffs. Fragen der Anthropologie und der philosophischen Theologie verhandelte sie demgegenüber an anderer Stelle (meist eher in Nebensätzen). Rand knüpfte bei ihren metaphysischen Erwägungen ausdrücklich an Aristoteles an, den sie als größten aller Philosophen bewunderte. Die aristotelische Metaphysik (beziehungsweise von ihm so genannte Erste Philosophie) thematisiert sowohl das Wesen des Seienden als solchen (das nach Aristoteles Substanz ist) als auch die letzte Ursache des Seienden (die Aristoteles mit Gott identifizierte) als auch die Struktur sinnvoller begrifflicher Erfassung des Seienden, das heißt die Axiome der traditionellen Logik, wie den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (A¼ 6 A) oder den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (A=B v A= B). Rand verwendete den Axiom-Begriff ebenfalls im traditionellen (materialen) Sinn und nicht im modernen (formalen) Sinn, das heißt sie verstand Axiome nicht als gesetzte, unabgeleitete Ausgangssätze, sondern als evidente Sätze, deren Leugnung zum Selbstwiderspruch führt. Rand formulierte drei Axiome als Grundlage sinnvollen Philosophierens, die gleichermaßen ontologische, logische und erkenntnistheoretische Implikationen haben.7 Erstens: „Existenz existiert“, das heißt es existiert eine ontische Realität, die mehr als nur einen Bewusstseinsinhalt darstellt (ontologischer Realismus in Abgrenzung zu metaphysischem Nihilismus und ontologischem Solipsismus). Zweitens: „Existenz ist Identität“, das heißt alles, was existiert, existiert als etwas mit einer bestimmten Identität im Sinne von d

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Vgl. Ayn Rand, Wer ist John Galt?, Hamburg 1985, 1090.

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Natur. Rand setzt dieses Axiom inhaltlich gerne auch mit dem von ihr spezifisch interpretierten aristotelischen Satz der Selbstidentität aller Dinge (A=A), mit dem Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch oder mit einem von ihr spezifisch (im Sinne eines metaphysischen Naturalismus) interpretierten Kausalitätsprinzip (kausaler Realismus: eine Entität mit bestimmter Identität verhält sich ihrer Natur entsprechend) gleich. Drittens: „Bewusstsein ist Identifizierung“, das heißt das Bewusstsein ist die Fähigkeit zur Wahrnehmung dessen, was existiert (erkenntnistheoretischer Realismus in Abgrenzung zu Skeptizismus). Die Axiome Rands sind relativ trivial und dürften gerade deshalb in ihrer allgemeinen Formulierung für die überwiegende Anzahl der Leser, auch der philosophisch Vorgebildeten, zustimmungsfähig sein. Rand hatte auch nicht den Anspruch, an dieser Stelle originelle Gedanken zu liefern, sondern sie wollte das Offenkundige gegen eine von ihr als verbreitet wahrgenommene skeptische Dekadenz verteidigen.8 Die Zustimmungsfähigkeit zu den Axiomen Rands wird in dem Maße geringer, in dem sie deren Bedeutung auf eine spezifische Weise interpretiert und sie rhetorisch instrumentalisiert. Die Axiome „Existenz existiert“ und „Existenz ist Identität“ werden zu Stilmitteln, um bestimmten ethischen Urteilen den Anschein zwingender mathematischer Logik zu geben (zum Beispiel „A gleich A […] Wenn der Mensch auf Erden leben soll, ist es sein Recht, […] die Produkte seiner Arbeit für sich zu behalten.“9). Das Axiom „Bewusstsein ist Identifizierung“ wird zum Rechtfertigungsgrund eines naiven Realismus (der nicht zwischen ontischer Realität und interpretierter Realität unterscheidet) anstelle eines differenzierten erkenntnistheoretischen Realismus. Gleichwohl erscheint die Vorgehensweise Rands, ihre philosophische Reflexion mit der Formulierung ihrer Axiome zu beginnen, zunächst als sinnvoll und transparent. Gerade aus theologischer Perspektive wird die wissenschaftstheoretische Bedeutung von Axiomen schließlich gerne thematisiert, deren Offenlegung in anderen Disziplinen kritisch eingefordert und betont, dass deren Vorhandensein den Wissenschaftscharakter der Theologie (oder anderer Disziplinen) nicht in Frage stelle, sondern vielmehr eine notwendige Gemeinsamkeit mit allen anderen Wissenschaften darstelle. Allerdings muss an dieser Stelle nochmals auf die bereits genannte Unterscheidung zwischen dem traditionellen und dem modernen Verständnis von Axiomen eingegangen werden, auf die zum 8 9

Vgl. Tibor R. Machan, Ayn Rand – Ihr Werk, Grevenbroich 2008, 91 f. Rand, Wer ist John Galt? (s. o. Anm. 7), 1142.

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Beispiel Wilfried Härle in seiner „Systematischen Philosophie“ verweist.10 Rand betrachtete ihre Axiome als Axiome nach dem traditionellen Verständnis, das heißt als allgemeinste Gesetze, die bei aller sinnvollen Reflexion vorausgesetzt werden müssen und deren Leugnung notwendig zum Selbstwiderspruch führt. Tatsächlich spricht zwar vieles dafür, dass es sich zumindest bei den ersten beiden Axiomen Rands um Aussagen handelt, deren Bestreitung zum Selbstwiderspruch führt, da derjenige, der sie bestreitet, sie scheinbar de facto immer schon voraussetzen muss. Dennoch haben sie – jedenfalls in der gehaltvollen Form, in der Rand sie verwendet, und dies gilt für das dritte Axiom noch offensichtlicher – nicht den gleichen zwingenden Charakter wie die Axiome der traditionellen Logik und können angemessen nur als Axiome nach dem modernen Verständnis (gesetzte Basisformeln) behandelt werden. Auch die Axiome der Theologie können selbstverständlich angemessen nur als Axiome nach dem modernen Verständnis behandelt werden, wobei ungeachtet dessen sowohl Rand als auch die Theologie als Wissenschaft zusätzlich zu ihren jeweils gesetzten Axiomen auch die Axiome der traditionellen Logik voraussetzen (müssen). Das heißt für die Theologie nicht, dass Spannungen und Paradoxien in der Wirklichkeit bestritten würden, aber dass unser Denken an die Gesetze der Logik gebunden ist und wissenschaftliches Erkennen sich nur auf die Wirklichkeit beziehen kann, soweit und sofern wir in der Lage sind, sie zu erkennen.11 Versteht man den Kern von Rands Metaphysik als die Forderung danach, die Axiome der traditionellen Logik anzuerkennen, damit Menschen ihre Zeit nicht mit sinnlosen Diskussionen verschwenden, die aus Rands Sicht von streitsüchtigen Skeptikern um ihrer selbst willen angezettelt werden, und damit Menschen sich stattdessen darauf konzentrieren, ihre Vernunft zu gebrauchen, ihre Bestimmung als Menschen herauszufinden und ein gelingendes Leben zu führen, so kann man dieses Anliegen einerseits sympathisch finden. Andererseits liegt in Rands unzulässiger Gleichsetzung der Axiome der traditionellen Logik mit ihren weltanschaulichen Axiomen die Ursache für den autoritären Stil ihres Philosophierens und für ihren intoleranten bis ignoranten Umgang mit anderen Positionen. 10 Vgl. Wilfried Hrle, Systematische Philosophie – Eine Einführung für Theologiestudenten, München 1987, 71. 11 Vgl. Wilfried Hrle, Dogmatik, Berlin u. a. (1995) 32007, 25 f.

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Kurz erwähnt sei außerdem, dass Rand im Anschluss an Aristoteles substanzontologisch dachte. Wie für diesen meinte auch für Rand Sein letztlich nichts anderes als Natur. Doch während Aristoteles die Natur in einem umfassenden Sinne verstand, tendierte Rand zum Materialismus.12 Vielfach wird heute auf die Vorzüge relationsontologischer Denkansätze gegenüber substanzontologischen Ansätzen verwiesen. Johannes Heinrichs fordert eine Sozialontologie und eine Ontologie der geistigen Welt, um auch soziale Systeme und religiöse Erfahrungen angemessen beschreiben zu können.13 Wilfried Härle erinnert in Anknüpfung an Wilfried Joest an Luthers nur relationsontologisch zu verstehende Rechtfertigungslehre (von Gott kann nicht unabhängig vom Glauben gesprochen werden, der von Gott durch ein kommunikatives Beziehungsgeschehen geweckt wird) und fordert vor diesem Hintergrund unter anderem eine Erkenntnistheorie, welche die Bedeutung der Interpretation eines Zeichens für das Zeichen mitdenkt, und eine Ethik, welche Gegensätze nicht kontradiktorisch, sondern relativ denkt.14 Viele Einseitigkeiten in Rands Menschenbild, Erkenntnistheorie und Ethik lassen sich somit möglicherweise als Folgen ihres ontologischen Ausgangspunktes deuten.

3 Anthropologie Ausgehend von ihrem bereits beschriebenen Ansatz eines metaphysischen Naturalismus fragte Rand nach der Natur des Menschen. Rands Naturalismus hat wenig zu tun mit dem, was man oft mit dem Begriff Naturalismus verbindet, nämlich naturwissenschaftlichem Reduktionismus, sondern vielmehr mit der Vorstellung, die Theologen mit dem Begriff „Bestimmung“ ausdrücken.15 Klarer als viele andere Philosophen erkannte Rand, dass normative Ethik stets eine Vorstellung der Bestimmung des Menschen voraussetzen muss und dass das Argument des na12 Vgl. Machan, Ayn Rand (s. o. Anm. 8), 255 f. 13 Vgl. Johannes Heinrichs, Art. „Ontologie“, in: TRE, Bd. XXV, Berlin u. a. 1995, 244 – 252, 249 f. 14 Vgl. Wilfried Hrle, REO und Ethik, in: Ders. (Hg.), Ethik im Kontinuum – Beiträge zur relationalen Erkenntnistheorie und Ontologie, Leipzig 2008, 1 – 13, 4 ff. 15 Die Formel von der Bestimmung des Menschen wurde vom Aufklärungstheologen Johann Joachim Spalding maßgeblich geprägt. Vgl. Johann Joachim Spalding, Die Bestimmung des Menschen, hg. von Albrecht Beutel u. a., Tübingen 2006.

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turalistischen Fehlschlusses relativiert werden muss. Humes Gesetz verbietet es aus logischen Gründen, von Seinsprämissen auf Sollenskonklusionen zu schließen, weil es eine kategoriale Differenz zwischen Sein und Sollen gibt.16 Ähnlich, aber mit einem anderen argumentativen Akzent, begründete Moore sein Verbot eines von ihm so genannten naturalistischen Fehlschlusses. Danach muss die semantische Eigenständigkeit des ethischen Bereichs betont werden, und Sollensaussagen gelten als ausschließlich intuitiver Erkenntnis zugänglich.17 Rand widersprach dem Verbot einer Ableitung von Sollensaussagen aus Seinsaussagen in gewohnt selbstbewusster Weise: „The fact that a living entity is, determines what it ought to do. So much for the issue of the relation between ‘is’ and ‘ought’.“18 Zwanzig Jahre später als Rand, aber ebenso wie sie inspiriert von Aristoteles, formulierte Alasdair MacIntyre seine bekannte Kritik am naturalistischen Fehlschluss, der dann gar kein Fehlschluss ist, wenn man voraussetzt, dass Menschen eine spezifische mit einer Bestimmung verbundene Natur besitzen.19 Es ist keine Ethik denkbar, die nicht an das Sein anknüpft, denn etwas, das nicht seinsgerecht ist, kann nicht gut sein. Aber Anknüpfen ist nicht dasselbe wie ein zwingender, Widerspruch ausschließender logischer Schluss. Hier liegt der berechtigte Aspekt in Humes und Moores Argumentation, den Rand nicht ausreichend berücksichtigte. Der Bestimmungsbegriff und der Anspruch, dass Menschen ihre Bestimmung finden sollen, um ein sinnvolles Leben führen zu können, spielte insbesondere in der Theologie und Philosophie der Aufklärungszeit eine wichtige Rolle. Nicht nur an diesem Punkt wird die starke aufklärerische Prägung des Denkens Rands deutlich. Ähnlich wie Im-

16 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch II und III, hg. von Reinhard Brandt, Hamburg 1978, 211 f. 17 George Edward Moore, Principia Ethica, hg. von Burkhard Wisser, Stuttgart 1977, 44 ff. 18 Ayn Rand, The Objectivist Ethics, in: dies., The Virtue of Selfishness – A New Concept of Egoism, New York 1964, 13 – 39, 18. Übersetzung: „Die Tatsache, dass eine lebende Entität ist, bestimmt, was sie tun sollte. So viel zum Thema der Beziehung zwischen ,Sein‘ und ,Sollen‘.“ 19 Vgl. Alasdair MacIntyre, Der Verlust der Tugend – Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt u. a. 1995, 200. Vgl. Michael Thompson, The Representation of Life, in: Rosalind Hursthouse u. a. (Hg.), Virtues and Reasons, Oxford 1995, 247 – 297. Vgl. Philippa Foot, Die Natur des Guten, Frankfurt 2004.

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manuel Kant20 (dessen Philosophie Rand allerdings radikal ablehnte, jedoch ohne sie richtig zu kennen) ging Rand von einer Bestimmung des Menschen zur Lebenserhaltung und zum Vernunftgebrauch aus. Anders als Kant dachte sie die menschliche Bestimmung jedoch rein individualistisch. Rands individualistisches Menschenbild findet seinen Ausdruck insbesondere im Ideal eines unabhängigen, selbständigen Verstandesgebrauchs, in der Zurückweisung jeglicher Einschränkung individueller Freiheitsrechte zugunsten des Gemeinwohls sowie in der Forderung, dass der einzelne Mensch seine Identität und sein Selbstwertgefühl an seinem individuellen Verstand und seiner individuellen Leistung und nicht an der Zugehörigkeit zu Kollektiven (zum Beispiel einer Familie) fest machen sollte.21 Dass Beziehungen und Abhängigkeiten, wie insbesondere theologische Anthropologie betont, konstitutiv zum Menschsein gehören, spielt in Rands Philosophie und entsprechend im Leben ihrer tendenziell schizoiden und stets familienlosen Romanhelden keine Rolle.22 Rand sprach sich gegen eine Abwertung körperlicher Aspekte beziehungsweise materieller Bedürfnisse und gegen eine Abwertung der Befriedigung solcher Bedürfnisse durch ökonomische Aktivität aus und betonte vor diesem Hintergrund, dass jegliche Form einer dualistischen Anthropologie abzulehnen sei. Darin liegt, ebenso wie in ihrem anthropologischen Ausgangspunkt bei der Bestimmung, eine positive Anknüpfungsmöglichkeit für das Gespräch mit der Theologie23 (auch 20 Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg, von Wolfgang Becker, Stuttgart 1983, 223;278. 21 Vgl. Nathaniel Branden, Counterfeit Individualism, in: Rand, The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), 158 – 161, 158 f. Vgl. Ayn Rand, Racism, in: Dies., The Virtue of Selfishness, 147 – 157, S. 147 f. 22 Ihren Romanhelden Howard Roark lässt sie sagen: „,In persönlicher Hinsicht brauchst du wirklich niemand.‘ ,Nein.‘“„Ich berate mich mit niemand, ich wirke mit niemand zusammen, ich arbeite mit niemand zusammen.“ „Ich betrachte mich nie in Beziehung auf andere.“ Ayn Rand, Der Ursprung, Hamburg 2000, 172;565;641. Als Kritiker ihr dieses Defizit ihres Denkhorizonts mittels eines ethischen „Rettungsboot“-Fallbeispiels verdeutlichen wollten (gegenseitige Abhängigkeiten und Verpflichtungen etc.), antwortete Rand bezeichnenderweise, dass sie ihre Ethik lieber auf „Fakten der normalen menschlichen Existenz“ gründen wolle. Ayn Rand, The Ethics of Emergencies, in: Dies., The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), 49 – 56, 56. 23 Beispielsweise Karl Barth betonte in positiver Anknüpfung an Feuerbach die Leibhaftigkeit des Menschen. Vgl. Karl Barth, Die Theologie und die Kirche – Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München 1928, 216.

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wenn Rand gerade dieser zu Unrecht dualistisches Denken unterstellte). Gleichzeitig schränkte sie diese Aussage jedoch indirekt durch ihre einseitige Fokussierung auf die kognitiven Fähigkeiten des Menschen wieder ein. Nach Rand sind es die Denkfähigkeit und die Angewiesenheit auf das Denken, die den Menschen ausmachen, Rationalität ist die höchste Tugend, und Emotionen sollten keinen Einfluss auf das Denken und Handeln haben, vielmehr kann und sollte der Mensch seine Gefühle optimal „programmieren“24. Der Gedanke einer von individuellen Leistungen unabhängigen universalen Menschenwürde, der für viele theologisch-anthropologische Ansätze wichtig ist, findet bei Rand nur einen schwachen Widerhall in der Vorstellung, dass Menschen als Selbstzweck zu behandeln sind und nicht zum Mittel gemacht werden dürfen (was nach Rand insbesondere durch die sozialstaatliche Umverteilung von Teilen ihres Eigentums geschieht). Insgesamt überwiegt bei ihr jedoch der Gedanke eines differenzierenden und graduellen Würdeverständnisses, nach dem der Einzelne sich persönliche Würde, persönlichen Wert und das Recht auf anerkennende Behandlung durch rationale Tugend-Leistungen in ihrem Sinne erst verdienen muss: „Es gibt keinen anderen Maßstab für persönliche Würde als Unabhängigkeit“25. Damit kann Rand als Wegbereiterin einer heute verbreiteten Gleichsetzung von Menschenwürde mit (trivial verstandener) Autonomie gelten. Was dieser Denkansatz für Menschen mit eingeschränkter Leistungs- beziehungsweise Denkfähigkeit oder in Situationen erhöhten Angewiesenseins auf andere Menschen bedeutet, wird von ihr nicht thematisiert.26

4 Philosophische Theologie / Religionsphilosophie Ayn Rand war eine der entscheidenden Persönlichkeiten, die den Atheismus in den USA salonfähig machten. Wie heute der prominenteste Vertreter des so genannten „New Atheism“ Richard Dawkins in seinem Bestseller „Der Gotteswahn“, so wiederholte auch schon Rand lediglich 24 Nathaniel Branden, The Psychology of Pleasure, in: Rand, The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), 71 – 78, 72. 25 Rand, Der Ursprung (s. o. Anm. 22), 754. 26 Vgl. Machan, Ayn Rand (s. o. Anm. 8), 279 f. Auch das folgende Bekenntnis ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich: „Man kann den Menschen nicht lieben, ohne den Großteil der Kreaturen zu hassen, die darauf Anspruch erheben, als Menschen zu gelten.“ Rand, Der Ursprung (s. o. Anm. 22), 488.

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die klassischen religionskritischen Thesen des 18. und 19. Jahrhunderts, und so wie dieser unterbot auch sie dabei durchgehend deren Reflexionsniveau. Nach Rand ist Gott eine Schöpfung des Menschen zur Befriedigung irrationaler Bedürfnisse. Gleichzeitig werte die Gottesvorstellung den Menschen ab. Die Religion sei eine Erfindung des Menschen zur Ausübung von Herrschaft.27 Glaube sei nicht mit der Vernunft vereinbar und fordere blinden Gehorsam und Denkverzicht.28 Die ethischen Forderungen der Religionen seien lebensfeindlich und leibfeindlich. Sie verlangten vom Menschen Selbstaufopferung und erklärten alles, was glücklich macht, zur Sünde. Insbesondere die Vorstellung der Erbsünde sei vollkommen inakzeptabel und führe die Vorstellung eines gerechten Gottes ad absurdum.29 Die aus dem religiösen Ethos resultierende Vernachlässigung des diesseitigen Lebens werde durch Jenseitsvertröstung kompensiert. Insgesamt sei die Religion eine der Hauptursachen menschlichen Leids. Der Verdacht, dass Gott eine Schöpfung des Menschen sei, wurde von Ludwig Feuerbach in seiner Projektionsthese klassisch formuliert und von Sigmund Freud in seiner Illusionsthese psychologisch weiterentwickelt. Schon Feuerbach benannte sehr deutlich die Konsequenzen seiner These auch für den Menschen: „Um Gott zu bereichern, muss der Mensch arm werden; damit Gott alles sei, muss der Mensch nichts sein.“30 Friedrich Nietzsche dachte diesen Gedanken radikal weiter. Danach ist der Gottesgedanke eine Ausgeburt des Zweifels an der eigenen Person und muss der Mensch Gott töten, um selbst leben zu können.31 Der über den Verdacht der Illusion hinausgehende Vorwurf, dass die Religion in betrügerischer Absicht ersonnen worden sei, um andere Menschen zu unterdrücken und zu beherrschen, wurde als Priesterbetrugs-These von Paul Thiry von Holbach klassisch formuliert. Der Illusionsverdacht und der Betrugsvorwurf sind gleichermaßen als Pauschalurteile zurückzuweisen wie als Problemanzeige ernst zu nehmen. Nach Wolfhart Pan27 Vgl. Rand, Wer ist John Galt? (s. o. Anm. 7), 1114;1122. 28 Vgl. Branden, Mental Health versus Mysticism and Self-Sacrifice (s. o. Anm. 28), 41. 29 Vgl. Rand, Wer ist John Galt? (s. o. Anm. 7), 1101 f. Vgl. Branden, Mental Health versus Mysticism and Self-Sacrifice (s. o. Anm. 28), 43 f. 30 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Leipzig (1841) 31848, 16. 31 Vgl. Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht – Versuch eine Umwertung aller Werte, Stuttgart 1996, 100 f. Vgl. Ders., Also sprach Zarathustra – Ein Buch für Alle und Keinen, Stuttgart 1997, 278;300.

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nenberg hat die Theologie die ihr aus diesen Infragestellungen erwachsenen Aufgaben bisher noch nicht befriedigend gelöst.32 Die Kritik am klassischen Theismus ist jedoch, wie Michael Welker feststellt, der Theologie „inzwischen wohlvertraut, weitverbreitet, geradezu zu einer neuen Bewußtseinsstellung theologischen Denkens geworden“.33 Die These, dass Glaube nicht mit der Vernunft vereinbar sei, basiert auf einem spezifischen Glaubensbegriff und einem spezifischen Vernunftbegriff. Der von Religionskritikern wie Rand oder Dawkins häufig vorausgesetzte Glaubensbegriff – im Sinne eines zur Tugend erklärten, unreflektierten, ideologisch-unbelehrbaren Fürwahrhaltens absurder überlieferter Sätze – wird möglicherweise von einigen Fundamentalisten, aber von keinem ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Theologen vertreten und offenbart die weitgehende Unkenntnis der entsprechenden Kritiker im Blick auf den von ihnen verhandelten Gegenstand. Interessanter ist die Frage nach dem Vernunftbegriff. Ob Glaube (in einem theologisch anspruchsvollen Sinne) und Vernunft einander widersprechen oder – wie die Mehrheit der gegenwärtigen Theologen sagen würde – vielmehr zusammengehören34, hängt maßgeblich davon ab, welchen Vernunftbegriff man voraussetzt. So unterscheidet beispielsweise Pannenberg zwischen einer apriorischen Vernunft im Sinne Immanuel Kants, einer vernehmenden Vernunft im Sinne Wilhelm Kamlahs und einer geschichtlichen Vernunft im Sinne Georg Wilhelm Friedrich Hegels.35 Der Gedanke, dass die ethischen Forderungen der Religionen, speziell des die westliche Kultur prägenden Christentums, lebensfeindlich seien, wurde klassisch von Nietzsche formuliert.36 Wie dieser forderte Rand eine Umwertung aller Werte vom Lebensverneinenden zum Lebensbejahenden, vom „Schmarotzerhaften“ zum Schöpferischen, vom Altruismus zum Egoismus. Pauschalisierend, aber gerade damit verbrei32 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1979, 347 – 360, 351. 33 Michael Welker, Dogmatische Theologie und postmoderne Metaphysik – Barths Theologie, Prozesstheologie und die Religionstheorie Whiteheads, in: Ders., Theologische Profile, Frankfurt 2009, 183 – 207, 186. 34 Klassisch Anselm von Canterbury: „credo ut intelligam“ und „fides quaerens intellectum“. Anselm von Canterbury, Cur Deus homo, Praef. U. I,20. 35 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Glaube und Vernunft, in: Ders., Grundfragen systematischer Theologie, Göttingen 1979, 237 – 251, 244 ff. 36 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra (s. o. Anm. 31), 44 ff.

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teten Vorurteilen entsprechend, formulierte sie: „Alles, was Spaß macht, wird als obszön oder verwerflich angesehen.“37 Differenzierter erläuterte sie ihre Position an anderer Stelle dahingehend, dass die ihres Erachtens maßgeblichen religiösen Tugenden beziehungsweise Pflichten der Selbstaufopferung und des Verzichts auf den Vernunftgebrauch der menschlichen Bestimmung widersprächen und zur Selbstzerstörung führten. Theologische Ethik wird ihr im Blick auf die Kritik an diesen vermeintlichen Tugenden beziehungsweise Pflichten aus ähnlichen Gründen zustimmen, aber gleichwohl die Behauptung zurückweisen, es handele sich um die maßgeblichen religiösen Tugenden beziehungsweise Pflichten. Vor dem Hintergrund des Verdachtes der unterdrückerischen Funktion von Religion vertrat Rand die These, dass religiöse Ethik nicht umsetzbare (weil der Natur widersprechende) Normen setze mit dem Ziel, Schuldgefühle zu erzeugen, die die Ausnutzbarkeit der betroffenen Menschen erhöhen. Den Höhepunkt dieser Strategie stelle die Lehre von der Erbsünde dar, die den Menschen von Natur aus für schuldig erkläre unter Absehung tatsächlicher individueller Schuld und Schuldfähigkeit. Dies sei nicht vereinbar mit elementaren Vorstellungen von Gerechtigkeit beziehungsweise einem gerechten Gott. Rand könnte sich an dieser Stelle mit ihren Anfragen auf eine lange Tradition großer Philosophen und Theologen berufen. Auch Rands aufklärerisch-positive Deutung der biblischen Sündenfallgeschichte hat eine lange Tradition (von Hegel bis Ernst Bloch) und wurde auch von manchen Theologen aufgegriffen.38 Rands Kritik basiert einerseits auf einem unangemessenen Sündenbegriff, der Sünde moralisierend mit Schuld gleichsetzt, und andererseits auf der Beobachtung gesellschaftlich (zumindest damals) verbreiteter unangemessener religiös motivierter Schuldgefühle. Theologie und Kirche müssen sich dem Vorwurf stellen (und tun dies auch seit langem), dass sie in der Vergangenheit sowohl zur Verbreitung dieses unangemessenen Sündenbegriffs als auch zur Entstehung unangemessener Schuldgefühle – teilweise mit Unterdrückungseffekten – beigetragen haben. Aufgrund seiner Missverständlichkeit verzichten viele Theologen heute auf den Erbsünden-Begriff und sprechen stattdesen beispielsweise lieber von 37 Rand, Der Ursprung (s. o. Anm. 22), 702. 38 Bonhoeffer kritisierte demgegenüber diese Auslegung mit dem Argument, dass der biblische Text bei genauerer Übersetzung kritisch von einer Verzeinzelung des Menschen spreche. Vgl. Michael Welker, Bonhoeffers wegweisende frühe Ekklesiologie, in: Ders., Theologische Profile, Frankfurt 2009, 83 – 102, 93.

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Personsünde, dabei kann der Erbsündenbegriff – recht verstanden – gerade daran erinnern, dass Sünde Verhängnischarakter hat und nicht mit Schuld gleichgesetzt werden darf. Insbesondere das dezidiert relationale reformatorische Sündenverständnis meint, wie Elisabeth Gräb-Schmidt treffend formuliert, „nicht eine moralische Dimension, sondern immer einen die Moral allererst qualifizierenden Horizont“.39 Rands problematisches Sündenverständnis bestätigt Karl Barths Einsicht, dass Sündenerkenntnis nur in der Perspektive vergebener Sünde möglich ist,40 und bekräftigt Walter Sparns Forderung, dass man von Sünde überhaupt nur gegenüber Glaubenden sprechen sollte, um zwangsläufige Missverständnisse zu vermeiden.41 Das aufgeworfene Theodizeeproblem ist dadurch freilich nicht gelöst, es bleibt als wahrscheinlich größte Herausforderung für den Glauben bestehen. Allerdings haben Theologen viele anspruchsvolle Zugänge zum Theodizeeproblem formuliert, von der Rede vom leidenden Gott oder dem „Gott, der uns verläßt“42, bis zur Tod-Gottes-Theologie, über die sich das Gespräch mit aufgeschlossenen Atheisten für beide Seiten lohnt. Der Gedanke, dass Religionen das Streben nach einer Verbesserung der diesseitigen Lebensqualität hemmen, indem sie Menschen auf das Jenseits vertrösten, wurde von Karl Marx in der berühmten Formel der Religion als „Opium des Volks“43 klassisch formuliert. Insbesondere die Theologie des 20. Jahrhunderts, in der die eschatologische Auslegung des Glaubens eine wichtige Rolle spielte, hat sich mit dieser Anfrage intensiv auseinandergesetzt und die ethischen Impulse des Glaubens betont. Jürgen Moltmann formuliert eindrücklich: „Glauben heißt, die Grenzen in vorgreifender Hoffnung überschreiten, die durch die Auferweckung des Gekreuzigten durchbrochen sind. Bedenken wir das, so kann dieser Glaube nichts mit Weltflucht, Resignation und Ausflucht zu tun haben. 39 Elisabeth Grb-Schmidt, Sündenerkenntnis als Erschlossenheit des Daseins, in: Wilfried Hrle / Reiner Preul (Hg.), Sünde (MJTh, Bd. XX), Leipzig 2008, 75 – 106, 79. 40 Vgl. Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. II/2, Zürich 31948, 860. 41 Vgl. Walter Sparn, Unbegreifliche Sünde, in: Hrle / Preul (Hg.), Sünde (s. o. Anm. 39), 110;112 f. Im Unterschied zu Luther: vgl. Martin Luther, Die Heidelberger Disputation (1518), in: Kurt Aland (Hg.), Luther Deutsch, Bd. 1, Göttingen 1969, 387. 42 Vgl. Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Gütersloh (1951) 192008, 192. 43 Karl Marx, Einleitung zur „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: MEW, Bd. 1, 379.

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[…] Darum macht der Glaube, wo immer er sich zur Hoffnung entfaltet, nicht ruhig, sondern unruhig, nicht geduldig, sondern ungeduldig. […] Wer auf Christus hofft, kann sich nicht mehr abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr zu leiden, ihr zu widersprechen.“44 Abgesehen von den genannten Gedanken hielt Rand die Gottesvorstellung überhaupt für widervernünftig, da sie die Vorstellung einer Wirklichkeit enthalte, die über das Begriffsvermögen hinausgehe.45 Einen ihrer Romanhelden lässt sie bei einem Blick auf die New Yorker Skyline ausrufen: „Den sichtbar gemachten menschlichen Willen. Brauchen wir eine andere Religion?“46 Die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Rands radikalem Atheismus und ihrer Religionskritik einerseits und der Anfälligkeit für pseudoreligiöse ideologische Elemente in ihrer Weltanschauung (Vergöttlichung des Genies und des unabhängigen sowie rein rationalen Idealmenschen, Kapitalismus als Ersatzreligion47) andererseits drängt sich auf. Folgt man Paul Tillich, so ist absoluter Atheismus (das heißt Zurückweisung nicht nur einer bestimmten, sondern jeder Gottesvorstellung) ohnehin nur eine Illusion, da jemand, der Gott ernstlich leugnet, damit etwas Unbedingtes (und damit Gott in einem weit verstandenen Sinne) bekundet.48 Rand, die davon ausging, dass es eine Bestimmung, einen Sinn, etwas, das alle Menschen unbedingt angeht, gebe, war somit – jedenfalls nach Tillich – keine Atheistin.

5 Epistemologie Die Epistemologie oder Erkenntnistheorie beschäftigt sich mit der Frage, ob und in welchem Umfang Wissen (im Unterschied zu bloßen Meinungen) möglich ist und wie solches Wissen gegebenenfalls zustande kommen kann. Seit dem 20. Jahrhundert haben sich die Fragestellungen der Erkenntnistheorie auf das Gebiet der Sprache verlagert. Diese so genannte linguistische Wende (und ihr nachfolgend die konstruktivistische Wende) spielt für die Philosophie Rands jedoch keine Rolle. Nach Rand ist die Sinneswahrnehmung der Ausgangspunkt der Erkenntnis. Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung, München (1964) 61966, 16 f. Vgl. Rand, Wer ist John Galt? (s. o. Anm. 7), 1103. Rand, Der Ursprung (s. o. Anm. 22), 490. Vgl. Alexander Rstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus, hg. von Frank Maier-Rigaud u. a., Marburg 2001, 90;138. 48 Vgl. Paul Tillich, Gesammelte Werke, Bd. VIII, hg. von Renate Albrecht, Stuttgart 1959 ff., 142.

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Die Sinne sind in der Lage, die Wirklichkeit zu erfassen, wie sie ist. Die Vernunft ordnet die Sinneswahrnehmungen in einem Prozess der begrifflichen Identifikation und kontextuellen Integration. In diesem Prozess des – grundsätzlich fehlbaren – Vernunftgebrauchs beziehungsweise Denkens ereignet sich Wissenserweiterung. Denken setzt eine Fokussierung des Bewusstseins voraus, zu der der Mensch sich permanent entscheiden muss, wenn er überleben beziehungsweise bestimmungsgemäß leben möchte.49 Im Blick auf die Frage nach dem Stellenwert der empirischen Wahrnehmung für die Erkenntnis vertrat Rand also – ähnlich wie Kant – eine Position zwischen Rationalismus und Empirismus. Im Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von existierenden Gegenständen und Erkenntnisgegenständen vertrat Rand eine Position, die sich dem erkenntnistheoretischen Realismus zuordnen lässt. Der erkenntnistheoretische Realismus50 geht davon aus, dass zumindest einige existierende Gegenstände in irgendeiner Form als Erkenntnisgegenstände erkennbar sind, während der erkenntnistheoretische Idealismus (dazu gehört beispielsweise auch der Konstruktivismus) davon ausgeht, dass erst der Verstand aus Sinnesdaten die Erkenntnisgegenstände formt. Positionen des erkenntnistheoretischen Realismus setzen stets – aber auch solche des Idealismus meist – die Position eines ontologischen Realismus voraus. Im erkenntnistheoretischen Realismus gibt es eine große Bandbreite von Positionen im Blick auf die Frage, inwieweit die Erscheinungen der Erkenntnisgegenstände vom Erkenntnisvermögen des Menschen abhängen. Ein schwacher Realismus geht davon aus, dass man über die Außenwelt nicht viel mehr sagen kann, als dass es sie gibt. Ein repräsentationaler Realismus geht davon aus, dass die Eigenschaften der Erkenntnisgegenstände vom Bewusstsein geformt werden, aber dass ein kausales Verhältnis zwischen Sinnesdaten und Wirklichkeit besteht. Ein naiver Realismus geht davon aus, dass der Mensch die Welt – abgesehen von Sinnestäuschungen – im Wesentlichen so wahrnimmt, wie sie ist (ohne zu leugnen, dass Sinneswahrnehmungen kognitiv verarbeitet werden).

49 Vgl. Rand, The Objectivist Ethics (s. o. Anm. 18), 21 f. 50 Der erkenntnistheoretische Realismus ist begrifflich zu unterscheiden vom Realismus als Position im Universalienstreit. In diesem Diskussionszusammenhang stünde der erkenntnistheoretische Realismus eher dem Nominalismus nahe.

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Rand stand einem naiven erkenntnistheoretischen Realismus nahe, wobei sie sich für Differenzierungen im eben genannten Sinne im Grunde nicht interessierte. Ihr ging es bei ihrer Behandlung dieses Themas vielmehr um eine klare Absage an Skeptizismus und an erkenntnistheoretischen Irrationalismus. Skeptizistische Positionen stellen jede Möglichkeit einer Erkenntnis der Wirklichkeit in Frage. Ein Beispiel für eine skeptizistische Position ist der radikale Konstruktivismus, nach dem eine Übereinstimmung von konstruiertem Bild und Realität unmöglich ist (beziehungsweise rein zufällig wäre). Für Rand stellt Skeptizismus einen Affront gegen die Vernunft dar, der jede Philosophie und Wissenschaft, aber auch sinnvolles Leben unmöglich mache. In einem ähnlichen Sinne hatte auch schon Aristoteles festgestellt, dass der Skeptiker, indem er redet und handelt, seine eigene Position ad absurdum führe.51 Rands Hauptsorge gegenüber dem Skeptizismus bestand darin, dass dieser dem metaethischen Kognitivismus, also der Annahme einer prinzipiellen Erkennbarkeit des ethisch Guten, widerspricht. Wenn man das Gute, beispielsweise die Achtung der individuellen Menschenrechte, nicht erkennen und begründen könne, sei das Fundament der freiheitlichen Gesellschaft gefährdet.52 Das Problem besteht weniger in Rands Abgrenzung vom Skeptizismus, die für die meisten Philosophen und Theologen anknüpfungsfähig sein dürfte, als in ihrer unsachgemäßen und undifferenzierten Gleichsetzung von jeder nicht naiv realistischen Position mit dem Skeptizismus. Dies führte unter anderem zu ihrem nicht nachvollziehbaren Hass auf Kant, den sie aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Position, die sie offensichtlich gründlich missverstand, sogar für bösartig hielt. Der erkenntnistheoretische Irrationalismus, gegen den sich Rand neben dem Skeptizismus wendet, geht von der Vorzugswürdigkeit anderer Erkenntnisfunktionen als der Vernunft aus, wie zum Beispiel Offenbarung oder Intuition. Dieser Ansatz führt nach Rands aufklärerischem Vernunftideal geradewegs in die selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen. Auch hier besteht das Problem weniger in Rands Abgrenzung zum erkenntnistheoretischen Irrationalismus, der wiederum für die meisten Philosophen und auch viele Theologen anknüpfungsfähig sein dürfte, als in ihrer Gleichsetzung jeder Relativierung eines absolut gesetzten und einseitig verstandenen Vernunftbegriffs mit vernunft51 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, hg. und übersetzt von Franz Schwarz, Stuttgart 1993, Sp. 1006a12 – 16 und 1008b12 – 19. 52 Vgl. Machan, Ayn Rand (s. o. Anm. 8), 232.

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feindlichem Irrationalismus. Entsprechend ihrer im vorigen Abschnitt behandelten Entgegensetzung von Glaube und Vernunft ist auch ihr Offenbarungsverständnis einseitig. Dazu kommen ihre Tendenz zum Positivismus53 und ihre Vernachlässigung rezeptiver und nicht-kognitiver Aspekte des Menschseins (auch im Erkenntnisprozess), die einen positiven Zugang zum Offenbarungsbegriff unmöglich machen. So erhält Rands (grundsätzlich sympathisches) großes Vertrauen zu den Fähigkeiten der menschlichen Vernunft beschränkte und ideologische Züge. Möglicherweise hätte in ihren nur andeutungsweise geäußerten Gedanken zur kontextuellen Integration von Wahrnehmungen und Begriffen durch die Vernunft, die heute an Robert Brandoms Inferentialismus erinnern54, ein Potential gelegen, das sich bei ihrer Weiterverfolgung im Sinne einer Überwindung verschiedener Einseitigkeiten ihrer erkenntnistheoretischen Position hätte entfalten können.

6 Individualethik Nach Rand handeln Menschen stets auf der Grundlage eines (bewussten oder unbewussten) Wertekodex beziehungsweise Ethos. Handeln ohne ein Ethos ist nicht möglich. Ethik beschreibt und reflektiert das Ethos. Ethik ist darum – so betonte Rand – nichts Lebensfremdes, Langweiliges oder gar Lebensfeindliches, sondern notwendige Voraussetzung eines bewussten menschlichen Lebens.55 Vorzugswürdig ist ein Ethos, das der Erreichung der dem Menschen durch seine bloße Existenz als Person vorgegebenen Bestimmung dient. Diese Gedanken gehören meines Erachtens zu den überzeugendsten in Rands Philosophie und werden in der gegenwärtigen Theologie in sehr ähnlicher Weise vertreten.56 53 Der Positivismus lässt nur die naturwissenschaftlich gewonnenen Aussagen über die Wirklichkeit gelten. Rands Tendenz zum Positivismus entspricht ihrer Tendenz zum Materialismus. 54 Vgl. Robert B. Brandom, Begründen und Begreifen – Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt 2001. 55 Vgl. Rand, The Objectivist Ethics (s. o. Anm. 18), 13 ff. Vgl. Rand, Wer ist John Galt? (s. o. Anm.7), 1132. Vgl. Heraklit: „Ethos anthropo daimon“ („Das Ethos des Menschen ist sein Schicksal“), nach: Hermann Diels / Walther Kranz(Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 61951, Fr. 119. 56 Vgl. Eilert Herms, Ethik und Ökonomik, in: Ders., Die Wirtschaft des Menschen – Beiträge zur Wirtschaftsethik, Tübingen 2004, 54 – 78, 54 f. Vgl. Ders., Der religiöse Sinn der Moral, in: Ders., Gesellschaft gestalten – Beiträge zur evangelischen Sozialethik, Tübingen 1991, 216 – 251, 232 ff.

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Die Lebensdienlichkeit, das heißt auf der physischen Ebene der Lebenserhalt und im umfassenderen Sinne die Ermöglichung eines Lebens als Mensch, stellt für Rand das zentrale ethische Kriterium dar: Das, was ein Leben voranbringt, ist gut, das, was es bedroht, ist böse.57 Diese Formulierung entspricht beinahe wörtlich der berühmten Regel Albert Schweitzers: „Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören.“58 Allerdings ist diese Ähnlichkeit nur oberflächlicher Natur. Während Schweitzer seine Formulierung als Explikation des Gedankens verstand, dass man anderem Leben die gleiche Ehrfurcht wie dem eigenen entgegenbringen sollte, verstand Rand ihre Formulierung als Explikation des Gedankens, dass man nie für andere leben und dies auch nie von anderen verlangen sollte.59 Ausgehend vom Gedanken der Lebensdienlichkeit betonte Rand die Bedeutung von Tugenden als lebensdienlicher Verhaltensprinzipien. Die Wiederentdeckung des Tugendbegriffs entspricht Entwicklungen in der gegenwärtigen Philosophie und Theologie (auch der evangelischen60) und stellt somit eine positive Anknüpfungsmöglichkeit dar. Die höchste Tugend ist für Rand Rationalität im Sinne einer permanenten Entscheidung zum Vernunftgebrauch und eines Handelns allein nach vernünftigen Maßstäben. Vernünftige Maßstäbe sind für sie solche, die einem so genannten rationalen Egoismus61 entsprechen. Die positive Verwendung des Egoismus-Begriffs ist häufig der Grund für eine Ablehnung der Ethik Rands auf der Grundlage begrifflicher Missverständnisse. Rand differenzierte zwischen ihrem rationalen Egoismus auf der einen Seite und rücksichtslosem Egoismus (der die Rechte anderer missachtet), hedonistischem Egoismus (nach dem jeder tun kann, worauf er Lust hat) und psychologischem Egoismus (der voraussetzt, dass alle faktisch egoistisch handeln) auf der anderen Seite, von denen sie sich gelegentlich abgrenzte. Sie differenzierte jedoch nicht zwischen Egoismus und Eigeninteresse, sondern verwendete diese Begriffe synonym und dabei den Begriff Egoismus bewusst im Sinne von Eigeninteresse. Mit 57 Vgl. Rand, The Objectivist Ethics (s. o. Anm. 18), 17. 58 Albert Schweitzer, Die Ehrfurcht vor dem Leben – Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, hg. von Hans W. Bhr, München 2003, 32. 59 Vgl. Rand, Wer ist John Galt? (s. o. Anm. 7), 779. 60 Vgl. Eilert Herms, Virtue – A Neglected concept of Protestant Ethics, in: Ders., Offenbarung und Glaube, Tübingen 1992, 124 – 137. Vgl. Konrad Stock, Grundlegung der protestantischen Tugendlehre, Gütersloh 1995. 61 Der rationale Egoismus wird auch als ethischer Egoismus oder als heroischer Egoismus bezeichnet.

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dieser Begriffsverwendung verfolgte sie das strategische Ziel, die Definitionshoheit über den Egoismus-Begriff zu gewinnen. Ihrer Meinung nach ist Eigeninteresse die ursprüngliche (positive) Bedeutung des Egoismus-Begriffs. Dass heute der Egoismus-Begriff üblicherweise in der (negativen) Bedeutung von Rücksichtslosigkeit und Egomanie verstanden wird, ist nach Rand die Folge einer gezielten Umdefinition durch Vertreter des von ihr so genannten altruistischen ethischen Ansatzes, welcher Handlungen aus Eigeninteresse pauschal als böse abwerte und uneigennützige Handlungen pauschal als gut aufwerte. Sie wollte die positive Bedeutung des Egoismus-Begriffs wiederherstellen als Teil ihres Kampfes gegen den absurden und lebensfeindlichen Ansatz des Altruismus im beschriebenen Sinne.62 Abgesehen von einer gewissen Kuriosität dieser Theorie befremdet einmal mehr Rands Technik der Polarisierung: Wer nicht Anhänger ihres rationalen Egoismus ist, der ist für sie automatisch Anhänger eines karikierten Altruismus, der in dieser Form jedoch wohl von fast niemandem vertreten wird. Besser wäre es gewesen, sie hätte zwischen den Begriffen Egoismus und Eigeninteresse differenziert und anstelle des Begriffs Egoismus den Begriff Eigeninteresse verwendet. Auf diese Weise hätten sich Missverständnisse vermeiden lassen, sowohl auf Seiten einiger Kritiker als auch auf Seiten einiger Anhänger, die in Rand bis heute zu Unrecht die Apologetin eines rücksichtslosen, hedonistischen Egoismus sehen. Ihre Abgrenzung von der umgangssprachlichen Verwendung des Egoismus-Begriffs ist an einigen Stellen nicht deutlich genug. Rand wollte mit ihrem Kampf für den Egoismus (im Sinne von Eigeninteresse) und gegen den Altruismus die Gedanken zum Ausdruck bringen, dass es nicht verwerflich, sondern natürlich und wünschenswert ist, wenn jeder Mensch nach seinem Glück strebt, dass jeder Mensch ein Recht darauf hat, Nutznießer seiner Handlung zu sein und nicht zum Nutzen anderer instrumentalisiert zu werden, dass ein gesundes Verhältnis zu anderen Menschen ein gesundes Verhältnis zu sich selbst voraussetzt63 und dass der Wunsch beziehungsweise die Forderung nach Selbstaufopferung pathologische beziehungsweise lebensfeindliche Züge aufweist. Diese Gedanken sind durchaus anschlussfähig auch für theologische Ethik. Beispielhaft seien genannt Helmut Thielickes Rede vom 62 Vgl. Ayn Rand, Introduction, in: Dies., The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), VIIff. 63 Vgl. Rand, The Objectivist Ethics (s. o. Anm. 18), 35.

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Egoismus als „wertneutralem Urimpuls alles Lebendigen“64, Wolfhart Pannenbergs positiver Zugang zum „Streben nach Selbsterhaltung […] im Vertrauen auf den […] Ursprung“65, Dietrich Bonhoeffers Äußerung, dass Altruismus bedrückend und Egoismus selbstlos sein könne66, oder Wilfried Härles Ausführungen zur Unabdingbarkeit recht verstandener Selbstliebe (die mit Egoismus ihrem Wesen nach unvereinbar ist).67 Die jüdisch-christliche Vorstellung vom unendlichen Wert des Einzelnen stellt sogar eine der entscheidenden historischen Wurzeln des modernen Individualismus dar.68 Teilweise musste allerdings – insbesondere in der von Kant stark beeinflussten deutschen Theologie und Philosophie – ein positives Verhältnis zum Eigeninteresse in Unterscheidung zum Egoismus im vergangenen Jahrhundert erst wieder neu gewonnen werden. An dieser Stelle ist Rands Kritik an einer unangemessenen Abwertung des Eigeninteresses berechtigt. Auch Rands Kritik an einer Haltung der Selbstverachtung und Selbstaufgabe, die sie als altruistisch bezeichnete, ist anschlussfähig. Allerdings subsummiert sie auch Nächstenliebe, prosoziales Verhalten, uneigennütziges Verhalten und den Gedanken einer ethischen Pflicht zur Hilfeleistung unter den Begriff Altruismus und setzt diese Phänomene somit pauschal in unangemessener Weise mit pathologischer Selbstverachtung und Selbstaufgabe gleich. Die Ergebnisse der Altruismus-Forschung, die insbesondere in den siebziger Jahren in den USA ein Modethema darstellte, im Blick auf verschiedene Arten des Altruismus sowie Faktoren, die in dessen Entstehung und Entwicklung eine Rolle spielen, wurden von Rand offenbar nicht zur Kenntnis genommen.69 64 Helmut Thielicke, Theologische Ethik, Bd. III, Tübingen 21968, 842. 65 Wolfhart Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 100. 66 Vgl. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung (s. o. Anm. 42), 145. 67 Vgl. Hrle, Dogmatik (s. o. Anm. 11), 523 ff. Härle bezieht sich auf den Gedanken von Bernhard von Clairvaux, dass es die höchste und schwerste Form der Liebe sei, sich selbst um Gottes willen zu lieben. A.a.O., 524. Vgl. Alexander Dietz, Der homo oeconomicus – Theologische und wirtschaftsethische Perspektiven auf ein ökonomisches Modell, Gütersloh 2005, 213. 68 Vgl. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive (s. o. Anm. 65), 159 ff. 69 Vgl. Morton Hunt, Das Rätsel der Nächstenliebe – Der Mensch zwischen Egoismus und Altruismus, Frankfurt u. a. 1992. Dort wird z. B. unterschieden zwischen prosozialem Verhalten, instinktiver Selbstaufopferung bei einigen Tieren. Kooperation, reziprokem Altruismus, Verwandtschaftsselektion, reinem Altruismus u. a.

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Rands individualethischer Ansatz betont den Gedanken der Eigenverantwortung und somit auch den Gedanken der Freiheit. Im Sinne einer Fähigkeit zur Wahl zwischen Handlungsalternativen ist der Freiheitsgedanke Voraussetzung sinnvoller Ethik, auch aus theologischer Sicht. Allerdings ist ihr Freiheitsverständnis im Blick auf menschliche Grunderfahrungen unterkomplex. Sie setzt Freiheit mit absoluter Unabhängigkeit gleich und vergleicht speziell die wahre Willensfreiheit mit einem Spiel ohne manipulierte Würfel.70 Dabei vernachlässigt sie die, insbesondere von Luther deutlich formulierte71, Einsicht, dass Freiheit nur innerhalb von Rahmenbedingungen gedacht werden kann, zu denen auch ein stets schon bestimmtes Denken, Fühlen und Wollen gehört, auf das der Mensch nur einen begrenzten Einfluss hat. Darum setzt die Freiheit zu einem bestimmungsgemäßen Leben Befreiung voraus. An die Stelle, die in der Theologie das göttliche Befreiungsgeschehen einnimmt, tritt in Rands Philosophie die Entscheidung des Menschen zur Rationalität, über deren Zustandekommen sie keine näheren Angaben macht.

7 Sozialethik / politische Philosophie Während Individualethik das Ethos reflektiert, das einer individuellen Handlung zugrunde liegt oder zugrunde liegen sollte, reflektiert Sozialethik das Ethos, das der Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zugrunde liegt oder zugrunde liegen sollte. Rand betonte, dass sowohl politische Systeme wie Wirtschaftssysteme stets auf irgendeinem Ethos basieren. Diese wichtige Einsicht wird in gegenwärtigen sozialethischen Diskussionen, zum Beispiel über die weltanschauliche Neutralität des Staates, oft vernachlässigt. Rand sprach sich für einen Minimalstaat und ein marktwirtschaftliches System im radikalliberalen Sinn aus. Sie ist bis heute eine der einflussreichsten Apologetinnen der Marktwirtschaft aus ethischen Gründen. John Locke hatte im 17. Jahrhundert die geschichtlich wirkungsvolle These aufgestellt, dass die Legitimität einer Regierung davon abhänge, ob sie die Zustimmung der Regierten besitze und deren Naturrechte Leben, Freiheit und Eigentum beschütze. In dieser Tradition stehend ging Rand davon aus, dass jeder Mensch das natürliche Recht besitze, sich für die Bejahung seines Lebens 70 Vgl. Rand, Der Ursprung (s. o. Anm. 22), 154. Vgl. Rand, Wer ist John Galt? (wie Anm. 7), 1101. 71 Vgl. Martin Luther, De servo arbitrio, WA 18, 600 – 787.

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zu entscheiden und daraus folgend in seiner individuellen Freiheit zum Erhalt dieses Lebens durch eigene Anstrengung und in seinem Eigentumsrecht an den Früchten dieser Anstrengung nicht eingeschränkt zu werden. Damit begründete sie die Vorzugswürdigkeit des Minimalstaats und die Absage an den umverteilenden Wohlfahrtsstaat. Zur Sicherung dieser Rechte benötigt der Staat ein Gewaltmonopol und Gewaltmittel (gegen anarchistische und radikallibertäre Positionen). Das marktwirtschaftliche System gewährleistet nach Rand den Schutz individueller Freiheits- und Eigentumsrechte, eine Verhinderung von Diskriminierung, eine Ermöglichung individueller Kreativität, eine Verbannung der Gewalt aus den gesellschaftlichen Beziehungen und einen Anstieg des allgemeinen Wohlstandsniveaus besser als die Alternative eines planwirtschaftlichen Systems und dient damit insgesamt dem menschlichen Leben besser.72 Mit ähnlichen Argumenten vertraten auch andere ungefähr zeitgleich die ethische Vorzugswürdigkeit der Marktwirtschaft, beispielsweise die aus unterschiedlichen Richtungen denkenden Ökonomen Friedrich Hayek73 und Wilhelm Röpke74. Auch die Haltung vieler theologischer Wirtschaftsethiker zur Marktwirtschaft ist heute wesentlich positiver als vor zwanzig Jahren, allerdings betonen diese in der Regel zu Recht (gegen marktradikale Positionen wie diejenige Rands), dass Markt und Wettbewerb, damit sie ihre positiven Wirkungen entfalten können, eines entsprechenden Ordnungsrahmens bedürfen.75 Rands Anliegen einer Würdigung und ethischen Rehabilitierung unternehmerischen Handelns erscheint heute ebenfalls als theologisch anschlussfähig, wie die kürzlich erschienene EKD-Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“76 (trotz ihrer Umstrittenheit aufgrund gewisser Einseitigkeiten) beweist. Kritisiert werden müssen Rands Gleichsetzung jeder nicht-radikalliberalen marktwirtschaftlichen Position mit einer das Existenzrecht des Individuums bestreitenden, „kommunistischen“ Position sowie die 72 Vgl. Nathaniel Branden, The Divine Right of Stagnation, in: Rand, The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), 143. 73 Vgl. Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München (1944) 1991. 74 Vgl. Wilhelm Rçpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Zürich u. a. (1958) 5 1979, 22. 75 Vgl. Kirchenamt der EKD / Sekretariat der DBK (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Hannover u. a. 1997, 57. 76 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive – Eine Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2008.

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daraus folgende Begründung ihrer Position mit der Widerlegung der Schein-Alternative. Rands Argumente gegen den Wohlfahrtsstaat, nämlich erstens, dass Menschen keine Verantwortung für andere Menschen haben, und zweitens, dass Steuerzahler mit Gewalt zum Mittel für fremde Zwecke beziehungsweise zu Sklaven, die Zwangsarbeit leisten, gemacht würden77, müssen in ihrer radikalen Einseitigkeit als Ausdruck eines defizitären (den relationalen Charakter menschlichen Lebens ausblendenden) Menschenbildes betrachtet werden. Rand löste die oft festgestellte Spannung zwischen individuellen und sozialen Menschenrechten durch eine rigorose Ablehnung der sozialen Menschenrechte auf.78 Dieser Ansatz kann mit guten Gründen problematisiert werden, da beide Arten von Rechten zur Ermöglichung eines Lebens in Würde unentbehrlich sind und soziale Menschenrechte eine notwendige Voraussetzung zur Inanspruchnahme der individuellen Menschenrechte darstellen.79 Rands sozialethischer Ansatz scheint wenig Lösungspotential für die derzeitigen globalen sozialen und ökologischen Herausforderungen zu bieten.

8 Ästhetik Rands ästhetische Theorie ist der am wenigsten ausgearbeitete Teil ihrer Philosophie, darum kann auch die kritische Auseinandersetzung an dieser Stelle skizzenhaft erfolgen. Die Schönheit eines Kunstwerks ist für sie objektiv daran messbar, inwieweit es die – aus ihrer Sicht – besten Seiten und Potenziale des Menschen darstellt. Ästhetik wird von ihr als eine normative Disziplin verstanden, da Kunst die Aufgabe habe, die Dinge so darzustellen, wie sie sein könnten und sein sollten, um den Rezipienten zum Streben nach Vollkommenheit zu motivieren. Folgerichtig lehnte sie die Antihelden der modernen Literatur schroff ab80 und gestaltete ihre 77 Vgl. Ayn Rand, Collectivized Ethics, in: Dies., The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), 94 f. Der einflussreiche Gerechtigkeitstheoretiker Robert Nozick übernahm diesen Gedankengang. Vgl. Nozick, Anarchie – Staat – Utopia, München 1978, 159 ff. 78 Vgl. Ayn Rand, Man’s Rights, in: Dies., The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), 117. 79 Vgl. Franz Horner, Ethische Kriterien für die Entwicklung sozialer Grundrechte, in: Anselm Hertz / Wilhelm Korff u. a. (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik, Freiburg u. a. 1993, 221 – 236, 233. 80 Vgl. Nathaniel Branden, The Psychology of Pleasure, in: Rand, The Virtue of Selfishness (s. o. Anm. 18), 76.

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Romanhelden als große, schöne, gesunde, intelligente, unabhängige Idealmenschen81, während deren Antagonisten in jeder Hinsicht das Gegenteil darstellen. Rands Entscheidung, ihre Philosophie in Form von Kunst, nämlich Literatur, auszudrücken, ist reizvoll und sicherlich ein Hauptgrund für ihre große Wirkung. Allerdings wird eine besondere literarische Qualität ihrer Werke von den meisten Literaturwissenschaftlern verneint. Rand nannte ihren Ansatz „Romantischen Realismus“. Als ihr literarisches Vorbild führte sie Victor Hugo an, der bekanntlich teils der Romantik und teils dem Realismus zugeordnet werden kann. Sowohl die Verkörperung philosophischer Ideen durch Charaktere als auch eine leidenschaftliche Hingabe an Ideale und eine scharfe Trennung zwischen Gut und Böse können als typisch für die russische literarische Tradition gelten, wie Chris Matthew Sciabarra zeigt.82 Rands Kunstauffassung ist mit bestimmten paganen sowie christlichen Traditionen verwandt. Die klassisch-antike Auffassung von Kunst als Nachahmung und Überhöhung der Natur mit kathartischer Wirkung auf den Betrachter wurde im Christentum seit dem 4. Jahrhundert positiv rezipiert. Beispielhaft genannt seien die Ikonen in den östlichen Kirchen, die seit dem 13. Jahrhundert gebräuchlichen Andachtsbilder, Thomas von Aquins Lehre von den drei Funktionen des religiösen Bildes (Erweckung von Andacht, Erinnerung an das Beispiel der Heiligen, Belehrung der Unwissenden) 83 oder der alte – auch von Luther aufgegriffene84 – Gedanke einer Funktion von Bildern als Laienbibel. Eine gewisse Nähe lässt sich meines Erachtens zwischen Rands ästhetischen Idealen und den romantisch-katholischen beziehungsweise idealistisch-heroischen Idealen der so genannten Nazarenischen Kunst im Umfeld des Lukasbundes im 19. Jahrhundert erkennen, die lange als „kitschig“ abgewertet, aber in den letzten Jahrzehnten rehabilitiert wurde. Aus 81 „Ayn Rands positive Helden scheinen oft […] sowjetischen Aufbauromanen entsprungen.“ Nikolaus Piper, Art. „Nächstenliebe ist schlecht – Die Schriftstellerin Ayn Rand und die Philosophie des ,Objektivismus‘“, in: DIE ZEIT 37 (1997), unter: http://www.zeit.de/1997/37/Naechstenliebe_ist_schlecht (am 15.12.09). 82 Vgl. Chris Matthew Sciabarra, Ayn Rand – The Russian Radical, Pennsylvania 1995. 83 Vgl. Gerhard May, Art. „Kunst und Religion – V. Mittelalter“, in: TRE, Bd. XX, Berlin u. a. 1990, 267 – 274, 271. 84 Vgl. WA 10/2,458,27 ff. Von Papst Gregor dem Großen stammt der berühmte Ausdruck „Pictura laicorum literatura“, der sich bereits auf eine jahrhundertelange Tradition berufen konnte. Vgl. Susanne Lanwerd, , Religionsästhetik – Studien zum Verhältnis von Symbol und Sinnlichkeit, Würzburg 2002, 96.

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theologischer Perspektive sind sowohl Rands einseitig-anthropozentrischer Zugang zum Begriff des Schönen als auch das ihre Ästhetik bestimmende triumphalistische Menschenbild in Frage zu stellen.

9 Zusammenfassung Die schroffe Äußerung der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin, die eingangs zitiert wurde, kann ich nach der Lektüre Rands im Blick auf die ideologisch-einseitigen und oberflächlichen Aspekte ihrer Philosophie nachvollziehen. Wenngleich einem so deutlichen Urteil eigentlich eine zumindest partielle Lektüre der Texte hätte vorausgehen sollen. Andererseits hat die differenzierte Auseinandersetzung gezeigt, dass Rands Ansatz auch durchaus nachdenkenswerte Aspekte aufweist. Rand wollte mit ihrer Philosophie der Vernunft zum Durchbruch verhelfen und lebensfeindliche Ideologien überwinden. Sie erkannte, dass sowohl individuelles Handeln als auch die Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen stets ein Ethos voraussetzen, dass darum Ethik notwendig und wünschenswert ist und – vor allem – dass Ethik stets eine Vorstellung von der Bestimmung des Menschen voraussetzt. An dieser Stelle liegt wohl der wichtigste und fruchtbarste Anknüpfungspunkt für ein Gespräch mit der Theologie. Rand kämpfte für eine Anerkennung der Tugend des Eigeninteresses und der Vorzüge der Marktwirtschaft. Allerdings vernachlässigte ihr Menschenbild wesentliche Dimensionen des Menschseins (Abhängigkeit, Beziehung, Gefühl). Außerdem tendierte sie dazu, alle Positionen, die nicht ihrer eigenen entsprachen, untereinander gleich zu setzen und zu karikieren. Viele ihrer Gedanken sind gleichwohl im positiven Sinne anknüpfungsfähig für heutige Philosophie und Theologie (zum Beispiel Vertrauen in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft, Kritik an einer Sein-Sollens-Dichotomie, Wiederentdeckung des Tugendbegriffs, ethische Rehabilitierung unternehmerischen Handelns). Einige problematische Gedanken Rands haben bedauerlicherweise an Bedeutung gewonnen und entsprechen dem heutigen Zeitgeist (zum Beispiel Gleichsetzung von Würde und Autonomie, Marktradikalismus, vorurteilsbehaftete Religionskritik). Nicht jeder Theologe muss Rand gelesen haben. Aber angesichts des in Deutschland wachsenden Interesses an Ihrem Denken ist es wünschenswert, wenn zumindest einzelne differenziert und begründet zu ihren Gedanken Stellung beziehen können.

Der Mensch in seinen Beziehungen: Eine Verantwortungsethik und Verantwortungspsychologie des hohen Erwachsenenalters Andreas Kruse Einführung „Das christliche Menschenbild geht davon aus, dass der Mensch in einem Beziehungsgefüge existiert: Zu Gott, zu seinen Mitmenschen und Mitgeschöpfen sowie zu sich selbst, und dass diese Relationalität für sein Dasein konstitutiv ist“1. Diese von Wilfried Härle in seiner – den amicis gewidmeten – „Ethik“ getroffene Aussage bildet den cantus firmus des folgenden Beitrags, der sich zunächst aus verantwortungsethischer, dann aus entwicklungspsychologischer Sicht mit der Selbstverantwortung wie auch mit der Mitverantwortung des Menschen im hohen Erwachsenenalter beschäftigt. Die Theologie des Wilfried Härle ist, so nimmt es der Außenstehende wahr, immer auch eine Theologie der Beziehungen, in denen der Mensch steht, ihre grundlegende Analyseeinheit ist nicht der Mensch, sondern der Mensch in seinen Beziehungen: „Beziehungen kommen nicht zum Menschsein hinzu, sondern sie machen es aus. Menschsein heißt in Beziehung-Sein“2. Dieses Verständnis des Menschen als eines in Beziehungen stehenden Wesens findet eine gelungene literarische Umschreibung bei dem englischen Priester und Schriftsteller John Donne (1572 – 1631), der deutlich macht, das es dem grundlegenden Verständnis des Menschen widerspräche, erführe sich dieser und handelte dieser als ein „Einzelwesen“, losgelöst von anderen Menschen, ohne den Versuch, deren Perspektive zu übernehmen, sich in deren Lebenssituation – die immer auch meine ist – hineinzuversetzen. Mit dieser Umschreibung, die ja Grundlage des – Wilfried Härle zu seinem 1 2

Wilfried Hrle, Ethik, Berlin 2011, 141. Wilfried Hrle, Menschsein in Beziehungen, Tübingen 2005, 435.

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70. Geburtstag gewidmeten – Buches darstellt, soll die Argumentation aufgenommen werden.

1 No man is an island: Der Perspektivwechsel in der Ich-Du-Beziehung “All mankind is of one author, and is one volume; when one man dies, one chapter is not torn out of the book, but translated into a better language; and every chapter must be so translated … As therefore the bell that rings to a sermon, calls not upon the preacher only, but upon the congregation to come, so this bell calls us all; but how much more me, who am brought so near the door by this sickness. … No man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main. If a clod be washed away by the sea, Europe is the less, as well as if a promontory were, as well as if a manor of thy friend’s or of thine own were: any man’s death diminishes me, because I am involved in mankind, and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee”3.

In dieser Meditation von John Donne werden mehrere für die verantwortungsethische und verantwortungspsychologische Deutung des menschlichen Lebens zentrale Aspekte angesprochen: Zunächst die innere Verbindung der Menschheit (all mankind is of one author, and is one volume), wie sich diese auch in der Generationenfolge zeigt (one chapter is not torn out of the book, but translated into a better language), wobei sich jede Generationen durch einen eigenen, spezifischen Erfahrungshorizont auszeichnet, der auf den Erfahrungen und dem Wissen vorangehender Generationen aufbaut (and every chapter must be so translated). Menschen sind als Gemeinschaft zu begreifen, in der sich neben individuellen, für die einzelnen Menschen spezifischen Daseinsthemen allgemeine, für das Leben aller Menschen charakteristische Daseinsthemen zeigen (as therefore the bell that rings to a sermon, calls not upon the preacher only, but upon the congregation to come: so this bell calls us all). Wie sehr wir in unseren Grundanliegen, in unseren Daseinsthemen verwandt, wie sehr wir aber auch aufeinander verwiesen, aufeinander angewiesen sind, wird uns besonders deutlich, wenn wir in einer Grenzsituation des Lebens stehen, deren innere Überwindung auch an die Möglichkeit zur offenen und vertrauensvollen Kommunikation gebunden ist (but how much more me, who am brought so near the door by this sickness). Die Menschheit ist von 3

John Donne, Devotions Upon Emergent Occasions (1624), Charleston 2008, 151 f.

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ihrer inneren Verbundenheit, ihrer inneren Verwobenheit her zu verstehen (any man’s death diminishes me, because I am involved in mankind), Menschen leben nicht unverbunden nebeneinander, sondern sie leben in Beziehungen (no man is an island, entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main), und es ist gerade die innere Verbundenheit, die innere Verwobenheit, die mir vor Augen führt, dass sich im Schicksal des anderen Menschen auch mein eigenes mögliches Schicksal widerspiegelt (and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee). Die von John Donne verfasste Meditation betont den kontinuierlichen Perspektivwechsel in seiner Bedeutung für ein vertieftes Verständnis der eigenen Person in ihrer Beziehung zu den anderen Menschen, in ihrer Beziehung zur Menschheit. Dieser Perspektivwechsel drückt sich zum einen darin aus, dass ich mich selbst auch im Anderen sehe, den Anderen auch in mir selbst: Damit ist eine Grundlage für die Identifikation mit dem Anderen, für das Mitfühlen geschaffen. Er drückt sich zum anderen darin aus, dass ich mich als Teil der Menschheit begreife, für die ich Mitverantwortung zu übernehmen habe. Er drückt sich schließlich darin aus, dass das Leben primär von den Beziehungen und nicht vom einzelnen Menschen aus betrachtet und verstanden wird: Die grundlegende Einheit bildet nicht der einzelne Mensch, sondern vielmehr der Mensch in seinen Beziehungen. Wenn es noch einer weiteren anthropologischen Fundierung des Teilhabegedankens bedürfte: Hier fände sich eine – und zwar eine sehr bemerkenswerte.

2 Selbstverantwortung und Mitverantwortung als zentrale Aspekte einer Verantwortungsethik des Alters Eine Verantwortungsethik weist Potenziale für ein verändertes Verständnis von Alter auf. Fragen wir zunächst: In welchen Verantwortungsbezügen steht der Mensch? Es sei an dieser Stelle von einer coramStruktur der Verantwortung gesprochen, da mit der lateinischen Präposition coram – zu übersetzen mit in Gegenwart von oder vor den Augen – ausgedrückt werden soll, dass der Mensch mit der Übernahme von Verantwortung vor die Augen tritt: vor seine eigenen Augen, vor die Augen Anderer, vor die Augen des Schöpfers. Es wird von drei grundlegenden Verantwortungsbezügen des Menschen ausgegangen, die in ihrer Gesamtheit die coram-Struktur bilden: Den ersten bildet die Verantwortung für sich selbst, den zweiten die Verantwortung für Andere

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(Gemeinschaft, Gesellschaft), den dritten schließlich die Verantwortung für die Schöpfung. 2.1 Selbstverantwortung Selbstverantwortung beschreibt dabei die Fähigkeit und Bereitschaft des Individuums, den Alltag in einer den eigenen Leitbildern eines guten Lebens entsprechenden, den eigenen Bedürfnissen, Normen und Werten folgenden Art und Weise zu gestalten und sich reflektiert mit der eigenen Person („Wer bin ich? Was möchte ich tun?“) sowie mit den Anforderungen und Möglichkeiten der persönlichen Lebenssituation auseinanderzusetzen. Zudem beschreibt Selbstverantwortung im Prozess der medizinischen Versorgung die Mitbestimmung des Patienten bei der Entscheidung über die Art der zu wählenden Intervention. Die Kategorie der Selbstverantwortung ist in unserem Verständnis ausdrücklich von der Kategorie der Selbstständigkeit abzugrenzen: Mit Selbstverantwortung ist die Reflexion des Menschen über die eigenen Leitbilder eines guten (glücklichen, gelungenen) Lebens wie auch über die Grundlagen seiner Entscheidungen und Handlungen in einer konkreten Situation angesprochen. Diese Kategorie zielt also in besonderer Weise auf die Reflexionsfähigkeit des Menschen, wobei angenommen wird, dass sich das Individuum in der Deutung seines Lebens wie auch in Entscheidungs- und Handlungsprozessen nicht allein von aktuell wirksamen Bedürfnissen, Zielen und Interessen leiten lässt, sondern auch von Daseinsthemen, in denen – wie Hans Thomae in seiner Schrift „Das Individuum und seine Welt“4 darlegt – dessen zeitlich überdauernde, zentrale Anliegen zum Ausdruck kommen. In einer konzeptionell verwandten Weise spricht Daniel Levinson5 von Lebensstrukturen, in denen sich subjektiv bedeutsame Beziehungen zu den verschiedenen Anderen widerspiegeln, wobei die verschiedenen Anderen Menschen, Gruppen, Kulturen, Ideen oder auch Orte sein können, an die sich der Mensch in besonderer Weise gebunden fühlt, die eine Bereicherung seines Selbst bedeuten, in die er ein hohes Maß an psychischer Energie investiert. Die Kategorie der Selbstverantwortung zielt in besonderer Weise auf die Reflexionsfähigkeit des Menschen. Damit wird keinesfalls in Abrede 4 5

Hans Thomae, Das Individuum und seine Welt, Göttingen 1968. Daniel Levinson, A conception of adult development, in: American Psychologist 41, 1986, 3 – 13.

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gestellt, dass die Selbstverantwortung auch dann als eine zentrale psychologische und ethische Kategorie zu verstehen ist, wenn Menschen in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit deutlich eingeschränkt sind und nur in begrenztem Maße Orientierungs- und Entscheidungsvermögen zeigen. Selbstverantwortung kann sich bei diesen Menschen in dem Maße verwirklichen, in dem die Bezugspersonen darum bemüht sind, deren aktuelle emotionale Befindlichkeit zu erkunden sowie deren zentrale Werte zu erfassen, wobei hier die Fähigkeit, das mimische und gestische Ausdrucksskript zu verstehen, eine bedeutende Rolle spielt.6 Zudem ist wichtig zu wissen, wie sich vor Eintreten der Einbußen kognitiver Leistungsfähigkeit die daseinsthematische Struktur der Person dargestellt hat – diese Aussage weist auf die Notwendigkeit der differenzierten biografischen Analyse hin.7 Die Selbstverantwortung – im Sinne der Reflexion über die eigenen Leitbilder des guten Lebens – ist in besonderer Weise angesprochen, wenn der Mensch in einer Grenzsituation steht, denn Grenzsituationen fordern geradezu Antworten des Menschen heraus. In der Schrift „Philosophie“ beschreibt Karl Jaspers Grenzsituationen als Grundsituationen der Existenz, die „mit dem Dasein selbst sind“8, das heißt, diese Situationen gehören zu unserer Existenz, konstituieren unsere Existenz. Grenzsituationen, wie jene des Leidens, des Verlusts, des Sterbens, haben den Charakter der Endgültigkeit: „Sie sind durch uns nicht zu verändern, sondern nur zur Klarheit zu bringen, ohne sie aus einem Anderen erklären und ableiten zu können“ (203). Aufgrund ihrer Endgültigkeit lassen sich Grenzsituationen selbst nicht verändern, sondern vielmehr erfordern sie die Veränderung des Menschen, und zwar im Sinne weiterer Differenzierung seines Erlebens, seiner Erkenntnisse und 6

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Marion Br, Sinn im Angesicht der Alzheimerdemenz – Ein phänomenologischexistenzieller Zugang zum Verständnis demenzieller Erkrankung, in: Andreas Kruse (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, 249 – 259. Andreas Kruse, Menschenbild und Menschenwürde als grundlegende Kategorien der Lebensqualität demenzkranker Menschen, a.a.O., 3 – 26. Hartmut Remmers, Der Beitrag der Palliativpflege zur Lebensqualität demenzkranker Menschen, a.a.O., 117 – 133. Sonja Ehret, Daseinsthemen und Daseinsthematische Begleitung bei Demenz, in: Andreas Kruse (Hg.), Lebensqualität bei Demenz? Zum gesellschaftlichen und individuellen Umgang mit einer Grenzsituation im Alter, Heidelberg 2010, 217 – 230. Karl Jaspers, Philosophie, Berlin1973, 203. Die Ziffern im folgenden Abschnitt beziehen sich auf diese Ausgabe.

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seines Handelns, durch die er auch zu einer neuen Einstellung zu sich selbst und zu seiner Existenz gelangt: „Auf Grenzsituationen reagieren wir nicht sinnvoll durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten“ (204). Das „Eintreten offenen Auges“ lässt sich psychologisch im Sinne des reflektierten und verantwortlichen Umgangs interpretieren, also im Sinne der Orientierung des Menschen an Werten, derer er sich bewusst geworden ist – hier findet sich eine Entsprechung zu der am Beginn dieses Kapitels gegebenen Definition von Selbstverantwortung. Die Anforderungen, die Grenzsituationen an den Menschen stellen, sowie die Verwirklichung des Menschen in Grenzsituationen „gehen auf das Ganze der Existenz“ (206). Dabei wird die Verwirklichung in der Grenzsituation auch im Sinne eines Sprungs interpretiert, und zwar in der Hinsicht, als das Individuum in der gelingenden Auseinandersetzung mit dieser Situation zu einem vertieften Verständnis seiner selbst gelangt: „Nach dem Sprung ist mein Leben für mich ein anderes als mein Sein, sofern ich nur da bin. Ich sage ,ich selbst‘ in einem neuen Sinn“ (207). Die Aussage, wonach Grenzsituationen Antworten des Menschen geradezu herausfordern, bildet den Kern nachfolgenden Zitats, in dem die Frage nach der Bedeutung von Grenzsituationen für das Dasein aufgeworfen wird. Jaspers äußert sich zu dieser Frage wie folgt: „Als Dasein können wir den Grenzsituationen nur ausweichen, indem wir vor ihnen die Augen schließen. In der Welt wollen wir unser Dasein erhalten, indem wir es erweitern; wir beziehen uns auf es, ohne zu fragen, es meisternd und genießend oder an ihm leidend und ihm erliegend; aber es bleibt am Ende nichts, als uns zu ergeben. Auf Grenzsituationen reagieren wir daher nicht sinnvoll durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten.“ (203 f) Die Auseinandersetzung mit dem Wesen der Grenzsituation weist auf ein Merkmal hin, das auch für ein grundlegendes Verständnis von Selbstverantwortung wichtig ist: nämlich das Merkmal der Offenheit fr den Anregungsgehalt einer Situation, wie dies Hans Thomae9 ausdrückt, also die Bereitschaft des Menschen, sich gegenüber den Möglichkeiten und Anforderungen einer Situation zu öffnen und reflektiert auf diese zu 9

Hans Thomae, Das Individuum, s. o. Anm. 4.

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antworten. Robert Peck10 umschreibt die Offenheit mit dem Begriff der kathektischen Flexibilitt, die auch im Sinne der psychischen Plastizität gedeutet werden kann. Ein literarisches Beispiel für die Darlegung des Einflusses der Offenheit auf die Verwirklichung guten (gelingenden) Lebens findet sich bei Montesquieu: „Das Glück besteht mehr in einer allgemeinen Veranlagung des Geistes und des Herzens, das sich dem Glück, so wie es die Menschennatur besitzen kann, öffnet, als in einer Vielzahl bestimmter glücklicher Augenblicke während des Lebens. Es besteht nicht in der Freude, sondern in der leichten Fähigkeit, Freude zu empfangen, in der wohlbegründeten Hoffnung, sie zu finden, wann immer man will, in der Erfahrung, dass man keinen allgemeinen Überdruss an den Dingen empfindet, die das Glück der anderen ausmachen. … Ich habe den Kardinal Imperiali sagen hören: Es gibt niemanden, den das Glück nicht einmal in seinem Leben besucht. Aber wenn es ihn nicht zu seinem Empfang bereitfindet, kommt es zur Türe herein und geht zum Fenster hinaus.“11 Die Selbstverantwortung in Bezug auf die Lebens- und Alltagsgestaltung, wie auch in Bezug auf die Art der Unterstützung im Falle eingetretener Erkrankung ist für eine ethische Betrachtung des Alters insofern von Bedeutung, als dieses – verglichen mit früheren Lebensaltern – stärker von Erfahrungen des Verlusts bestimmt ist, wobei hier vor allem der Verlust früher innegehabter sozialer Rollen und Verpflichtungen, der Verlust nahe stehender Menschen sowie Einbußen der Gesundheit und der Leistungskapazität zu nennen sind. Mit dieser Aussage wird nicht bestritten, dass das Alter auch mit der Erfahrung seelischen Wachstums einhergehen kann und in der psychischen Verarbeitung einer Grenzsituation seelische Wachstumsprozesse stattfinden können, die in einem ethischen Entwurf des Alters als Werden zu sich selbst gedeutet wurden.12 Doch ist zu bedenken, dass Verlusterfahrungen dazu führen können, dass sich die Bindung an das Leben verringert und damit auch das Bemühen um Aufrechterhaltung der Selbstverantwortung mehr und mehr zurückgeht. Zudem ist zu berücksichtigen, dass im Alter die Abhängigkeit 10 Robert Peck, Psychological development in the second half of life, in: J. E. Anderson (Hg.), Psychological aspects of aging, Washington 1956, 42 – 53. 11 Montesquieu, Vom weisen und glücklichen Leben, Zürich 2004, 27 f. 12 Thomas Rentsch, Altern als Werden zu sich selbst. Philosophische Ethik der späten Lebenszeit, in: Peter Borscheid (Hg.), Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, 53 – 62.

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des Menschen von den objektiv gegebenen Lebensbedingungen wie auch von der Qualität des Versorgungssystems zunimmt. Gerade hier erwächst eine besondere gesellschaftliche Verantwortung für die Erhaltung der Fähigkeit des Individuums zum selbstverantwortlichen Leben im Alter. Bei der Erörterung der Grundlagen eines selbstverantwortlichen Lebens sind folglich zwei einander ergänzende Sichtweisen notwendig: Auf der einen Seite ist die Frage nach den Ressourcen des Individuums für die Verwirklichung eines Lebens in Selbstverantwortung zu stellen – dies gilt für das Alter in gleichem Maße wie für frühere Lebensabschnitte. Auf der anderen Seite müssen Kommune und Staat in zuverlässiger Art und Weise bestimmte Leistungen vorhalten, auf die das Individuum dann zurückgreifen kann, wenn dessen eigene Ressourcen für ein Leben in Selbstverantwortung nicht mehr ausreichen. In dieser Aussage ist die Orientierung am Prinzip der Subsidiaritt unverkennbar. Dieses Prinzip, welches zum ersten Mal in der von Papst Pius XI. verfassten Enzyklika „Quadrogesimo anno“ aus dem Jahre 1931 offiziell genannt und in seinen sozialphilosophischen Wurzeln vor allem von Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning expliziert wurde, sieht das Individuum, dessen Entwicklung und Wohlfahrt sowie dessen Freiheit und Selbstverantwortung als Ziel gesellschaftlichen Handelns an.

2.2 Mitverantwortung Mitverantwortung beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft des Menschen, sich in die Situation anderer Menschen hineinzuversetzen, sich für andere zu engagieren, etwas für andere zu tun, sich in der Gesellschaft zu engagieren. Hannah Arendt hat in ihrer Schrift „Vita Activa oder vom tätigen Leben“13 zwischen drei menschlichen Grundtätigkeiten differenziert, deren Struktur sie in der natürlichen Bedingtheit der menschlichen Existenz begründet sieht: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Für unser Verständnis von Mitverantwortung sind die von Hannah Arendt getroffenen Aussagen zum Handeln zentral. Dieses charakterisiert sie wie folgt: Handeln beschreibt den Umgang von Menschen mit Menschen in Tat und Wort. Ein Handelnder steht immer im Beziehungsgeflecht zu Menschen und kann deswegen nie etwas ungestört anfangen oder zu Ende bringen. Im Handeln verwirklicht der Mensch seine höchste Fä13 Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960.

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higkeit, nämlich die Gabe, etwas vçllig Neues zu beginnen und einen Prozess in Gang zu setzen, dessen Folgen unabsehbar sind. Für diese Fähigkeit wird das Wort „Natalität“ (Gebürtlichkeit) geprägt. Wer ich bin, das kann ich nicht erfahren und festhalten in passiver und sprachloser Zurückgezogenheit. Erst wenn ich spreche und handle, gebe ich Aufschluss über mich, zeige ich mich und gebe ich mich auch aus der Hand. Die Fähigkeit zu handeln garantiert, dass jeder seine Unverwechselbarkeit behält und dass jeder die Eigenart des anderen nicht als Einschränkung empfindet, sondern als Chance begreift, im Austausch mit anderen die Frage nach dem gemeinsamen Leben immer wieder neu zu stellen. Die Möglichkeit, sich zu zeigen und aus der Hand zu geben, die Chance, im Austausch mit anderen Menschen die Frage nach dem gemeinsamen Leben immer wieder neu zu stellen – verbunden mit der Gabe, etwas völlig Neues zu beginnen: In dieser Aussage findet sich eine Charakterisierung dessen, was hier „mitverantwortliches Leben“ genannt werden soll. Ein Beispiel für mitverantwortliches Leben konnte in einer Untersuchung von Andreas Kruse und Eric Schmitt zum Lebensrückblick und zur aktuellen Lebenssituation von ehemaligen jüdischen Lagerhäftlingen und Emigranten gefunden werden, die in der Schrift „Wir haben uns als Deutsche gefühlt“ publiziert wurde.14 Eine Form der Auseinandersetzung mit den – im hohen Alter an Intensität zunehmenden – Erinnerungen an das persönliche Schicksal im „Dritten Reich“ ließ sich umschreiben mit erlebter Mitverantwortung. Diese Auseinandersetzungsform war bestimmt von der intensiven Beschäftigung mit der Zukunftsperspektive junger Menschen, vom Engagement für junge Menschen sowie von der Frage nach Möglichkeiten des sozialkulturellen und politischen Engagements mit dem Ziel, sowohl für den gesellschaftlichen als auch für den persönlichen Beitrag zur Erhaltung von Demokratie und zur Vermeidung von Faschismus und Antisemitismus zu sensibilisieren. Jene Personen, bei denen diese Form der Auseinandersetzung erkennbar war, besuchten zum Beispiel den Geschichts- und Ethikunterricht in Schulen, um als „Zeitzeugen der Geschichte“ einen Beitrag zum verantwortlichen Umgang mit Geschichte zu leisten. Viele dieser Menschen litten an schweren Erkrankungen und zeigten zum Teil erhebliche Einbußen in den Aktivitäten des täglichen Lebens. Auch berichteten die meisten von 14 Andreas Kruse/Eric Schmitt, Wir haben uns als Deutsche gefühlt. Lebensrückblick und Lebenssituation ehemaliger jüdischer Emigranten und Lagerhäftlinge, Darmstadt 2000.

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zum Teil schweren, generalisierten Schmerzempfindungen. Doch erblickten sie in der Möglichkeit, in einen fruchtbaren Austausch mit jungen Menschen zu treten und mit diesen Fragen des gemeinsamen Lebens zu erörtern, eine Möglichkeit zum mitverantwortlichen Leben, das nicht nur als ein Weg zur Wertverwirklichung gedeutet wurde, sondern auch als ein Weg zur Annahme des eigenen Lebens trotz der vielen belastenden Erlebnisse und Erfahrungen in diesem. Die Mitverantwortung gewinnt im Alter als ethische Kategorie insofern besondere Bedeutung, als es unserer Gesellschaft bislang noch nicht wirklich gelungen ist, gesellschaftlich anerkannte Rollen nach Austritt aus dem Beruf zu finden und ältere Menschen als mitverantwortlich handelnde Bürger anzusprechen, die durch gesellschaftliches Engagement einen Beitrag zum Humanvermögen leisten können. Dadurch wird beim größeren Teil der älteren Bevölkerung der Rückzug in das Private gefördert. Gesellschaftlich ergibt sich die Anforderung, das Alter nicht nur als ein „privates Phänomen“ zu begreifen, sondern dieses vielmehr in die Mitte unserer Gesellschaft zu holen, oder – in der Sprache der von Hannah Arendt verfassten Schrift „Vita activa oder vom tätigen Leben“ ausgedrückt – auch für ältere Menschen öffentliche Räume (pókeir) zu schaffen, die zur sozialen, kulturellen und politischen Teilhabe und damit zum mitverantwortlichen Leben motivieren. Dabei sei daran erinnert, dass das Politische – verstanden als aktive Mitgestaltung des öffentlichen Raums (f`om pokitij|m) – eine grundlegende Dimension des Menschseins darstellt.

3 Identität und Generativität: Psychologie Mit Selbstverantwortung und Mitverantwortung wurden hier zwei philosophisch-anthropologische Kategorien eingeführt, die nicht im Sinne von psychologischen Merkmalen zu verstehen sind, auf denen sich interindividuelle Unterschiede abbilden lassen. Diese beiden Kategorien weisen jedoch enge Bezüge zu psychologischen Konstrukten auf, die die Grundlage einer empirischen Analyse bilden und zugleich von großer theoretisch-konzeptioneller Bedeutung für eine Psychologie des Alterns sind: Identität und Generativität.

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3.1 Narrative Identität als Ausdruck selbstverantwortlicher Lebensführung Die Verwendungen des Begriffs „Identität“ in den Sozialwissenschaften sind vielfältig und teilweise widersprüchlich. Die Theorie der Sozialen Identität gehört in der Sozialpsychologie nach wie vor – inzwischen seit über 30 Jahren – zu den zentralen Erklärungsansätzen für die Entstehung von Intergruppenkonflikten und Ingroup-Outgroup-Differenzierungen, die sich als Bevorzugung von Eigen- und Benachteiligung von Außengruppen beschreiben lassen. Soziale Identität wird von Henri Tajfel15 definiert als „der Teil des Selbstkonzeptes eines Individuums, der aus dessen Wissen über seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (oder Gruppen), verbunden mit dem Wert und der emotionalen Bedeutung, die dieser Gruppenmitgliedschaft beigemessen werden, erwächst“. Im Verständnis dieser Theorie umfasst das Selbstkonzept über die soziale Identität hinaus weitere Aspekte, die man – so Tajfel – „persönliche Identität“ nennen könnte. Diese erscheinen aber als für die Analyse sozialer Phänomene von untergeordnetem Interesse. Während Identität im Verständnis der Theorie der sozialen Identität soziale Realität – nämlich Prozesse sozialer Kategorisierung – widerspiegelt, wird in entwicklungspsychologischen Theorien mit dem Identitätsbegriff stärker auf die individuelle Biographie Bezug genommen. In der Theorie von Erik Homburger Erikson16 bezieht sich Ich-Identität – als „unmittelbare Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und die damit verbundene Wahrnehmung, dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ – auf das vom Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erworbene subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart. Zentral für das von Erikson vertretene Verständnis von „Ich-Identität“ ist, dass diese (a) weniger im Sinne einer Errungenschaft denn im Sinne einer immer wieder neu zu erbringenden und deshalb prinzipiell lediglich vorläufigen Integrationsleistung zu verstehen ist, (b) wesentlich von den vermeintlichen oder tatsächlichen Sichtweisen und Bewertungen anderer Menschen geprägt ist, (c) nicht allein privaten, sondern immer auch gemeinschaftsbezogenen Charakter hat. 15 Henri Tajfel, Differentiation between social groups: Studies in the social psychology of intergroup behavior, London 1978. 16 Erik Homburger Erikson, Childhood and society, New York 1963.

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In soziologischen Identitätsdefinitionen stehen naturgemäß die soziale Umwelt und die Internalisierung gesellschaftlicher Normen und Erwartungen – der soziale Charakter von Identität – stärker im Vordergrund. Am deutlichsten wird dies in der Metapher des „Lookingglass-self“, die auf Charles Horton Cooley17 zurückgeht und mit der ausgedrückt werden soll, dass es individuelle Identität ohne den „sozialen Spiegel“ nicht gibt. Cooley unterscheidet drei Aspekte von Identität: (a) die mutmaßliche Vorstellung des (der) anderen von meiner Erscheinung; (b) die mutmaßliche Bewertung dieser Erscheinung; (c) die emotionale Reaktion auf diese Erscheinung (zum Beispiel in Form von Stolz oder Kränkung). In der Tradition des symbolischen Interaktionismus wird hervorgehoben, dass Identität ohne Interaktion zwischen Menschen und ohne gemeinsame Symbole, die dieser Interaktion zugrunde liegen, nicht denkbar ist. George Herbert Mead trifft die Aussage, dass Identität „innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses“18 entsteht. Für das hier explizierte Verständnis von Identität sind vor allem die folgenden drei Punkte bedeutsam: 1.) Identität entsteht in sozialen Interaktionen und wird in sozialen Interaktionen thematisch. Indem Identität immer auch sozial bestimmt und in sozialen Interaktionen ausgehandelt wird (und sei es nur durch die Vorstellung eines verallgemeinerten anderen beziehungsweise durch den Einfluss eines „Me“, das gesellschaftliche Erwartungen und Bewertungen repräsentiert), verweist die Frage nach der Identität im Alter immer auch auf gesellschaftliche Repräsentationen des Alters und im Alter verfügbare (oder nicht mehr verfügbare) gesellschaftliche Rollen.19 Entsprechend können Prozesse sozialen Wandels nachhaltige Folgen für individuelle Identität haben. 2.) Identität – im Sinne des Selbstverständnisses der Person von sich und ihrer Entwicklung – konstituiert sich im Wesentlichen narrativ, also

17 Charles Horton Cooley, Human nature and the social order, New York 1902. 18 George Herbert Mead, Mind, Self, and Society, hg. v. Charles W. Morris, Chicago 1934, 177. 19 Vgl. Andreas Kruse/Eric Schmitt, A multidimensional scale for the measurement of agreement with age stereotypes and the salience of age in social interaction, in: Ageing & Society, 26, 2006, 393 – 411.

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in Form von Erzählungen.20 Ereignisse und Entwicklungen haben nicht als solche Auswirkungen auf die Entwicklung von Identität, sie werden vielmehr – aus einer Vielfalt in Frage kommender Ereignisse und Entwicklungen, die zudem auch in sehr unterschiedlicher Weise interpretiert und bewertet werden können – ausgewählt und in eine in sich stimmige (konsistente) Geschichte integriert, die ab dem Jugendalter zunehmend „definitive“ Geschichte wird, insofern sie als gültig vorausgesetzt wird und eine Grundlage für die Interpretation und Bewertung neuer Ereignisse und Entwicklungen darstellt. 3.) Die von einer Person im Laufe ihres Lebens konstituierte/gefundene narrative Identität kann im Alter aus unterschiedlichen Gründen zur Disposition stehen. Aus soziologischer Perspektive ist hervorzuheben, dass sich Strukturen, an denen sich Menschen in ihrer Selbstsicht orientieren, im Prozess sozialen Wandels kontinuierlich ändern und sich darüber hinaus spätere Generationen gegenüber früheren durch eine andere Art der „Erfahrungsaufschichtung“ beziehungsweise einen „neuartigen Zugang“ auszeichnen, der alternative Konstruktionen von Wirklichkeit notwendig machen kann.21 Aus psychoanalytischer Perspektive wurde etwa angenommen, dass Abwehrmechanismen im Alter an Effektivität verlieren. Des Weiteren können Erkrankungen und Verluste dazu beitragen, dass „protektive Illusionen“ revidiert werden müssen.22

3.2 Generativität als Ausdruck mitverantwortlicher Lebensführung In der Entwicklungstheorie von Erik Homburger Erikson23 stellt sich Generativität als Entwicklungsaufgabe dar, die durch die Pole schçpferische Ttigkeit vs. Stagnation gekennzeichnet ist. Erikson verweist ausdrücklich auf die Nähe zu Begriffen wie Produktivität und Kreativität, wenngleich sich in seinem Verständnis Generativität primär in innerfamiliären Be20 Vgl. David McAdams/Ruthellen Josselson/Amia Lieblich, Identity and story: Creating self in narrative, Washington 2006. 21 Vgl. grundlegend dazu Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7, 1928, 157 – 185 und 309 – 330, Wiederabdruck in: Karl Mannheim, Wissenssoziologie, Neuwied 1964, S. 509 – 565. 22 Vgl. Peter Coleman, Aging and reminiscence processes : Social and clinical implications, New York 1986. 23 Vgl. Erikson, Childhood, s. o. Anm. 15.

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ziehungen – Kinder zu haben und diese zu erziehen – verwirklicht. David McAdams und Ed de St. Aubin haben in der Weiterentwicklung der Theorie von Erikson ein umfassendes Verständnis von Generativität vorgeschlagen, das sich in besonderer Weise als psychologische Annäherung an den verantwortungsethischen Begriff der Mitverantwortung eignet. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass sich Generativität zum einen im Zusammenwirken von Person und Gesellschaft realisiert, zum anderen auf unterschiedlichen Ebenen – Motivation, Anliegen, Deutungen, Pläne, Verhalten, Sinnerleben – widerspiegelt. In dieser Sichtweise sind für die Verwirklichung von Generativität zunächst sowohl allgemeine individuelle Motive, nämlich das Bedürfnis, von anderen gebraucht zu werden, und der Wunsch nach symbolischer Unsterblichkeit, als auch gesellschaftliche Erwartungen und Möglichkeiten des Engagements älterer Menschen ausschlaggebend. Auf der Grundlage des Zusammenwirkens individueller Bedürfnisse mit gesellschaftlichen Erwartungen und Möglichkeiten bilden sich auf andere Menschen bezogene Anliegen und Handlungsabsichten aus. Für die Realisierung von Handlungen notwendig ist schließlich ein durch die jeweilige Kultur in hohem Maße beeinflusstes Vertrauen in die Spezies: „When such a belief is lacking, the adult may find it difficult to make a strong commitment to generative action, because it may appear that a generative effort may not be very useful anyway“24. David McAdams konzeptualisiert, wie dargelegt wurde, Generativität dabei im Kontext narrativer Identität. Inwiefern generative Anstrengungen als im Einklang mit der persönlichen Lebensgeschichte, dem jeweiligen sozialen Umfeld wie auch mit Gesellschaft und Kultur insgesamt erlebt werden, welche Formen von Generativität für die Zukunft angestrebt werden, ist Teil eines Generativittsskripts. In diesem spiegelt sich das Vertrauen darauf, durch das eigene Leben auch etwas Bleibendes geschaffen zu haben, beziehungsweise darauf, dass auch nach dem Ende des eigenen Lebens zumindest ein Teil von einem selbst weiter Bestand haben wird. Das Engagement im öffentlichen Raum wird von den meisten älteren Menschen als Quelle subjektiv erlebter Zugehörigkeit wie auch von Sinnerleben, von positiven Gefühlen, von Lebensqualität verstanden. Nicht allein die soziale Integration ist für ältere Menschen bedeutsam, sondern auch ein über diese hinausgehendes Engagement, die Übernahme von Verantwortung 24 David McAdams/Ed de St. Aubin, A theory of generativity and ist assessment through self-report, behavioral acts, and narrative themes in autobiography, in: Journal of Personality and Social Psychology, 62, 1992, 1003 – 1015, 1006.

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für andere Menschen: mithin Generativität. Die Übernahme von Verantwortung ist dabei an die Entwicklung und Erhaltung von seelischen, geistigen und sozialkommunikativen Kräften gebunden, die das Individuum in die Lage versetzen, Anforderungen zu meistern. Damit sich diese Kräfte ausbilden, ist es notwendig, dass das Individuum lebenslang offen für neue Anforderungen und Anregungen ist, die sich in seinem Leben ergeben. Dabei ist Offenheit im Sinne der Fähigkeit zu deuten, emotionale Bindungen von einer Person auf eine andere oder von einer Tätigkeit auf eine andere zu übertragen; hier sei noch einmal der von Peck verwandte Begriff der kathektischen Flexibilitt genannt.25 In gewisser Weise sind alle Umstellungen, die im Lebenslauf vollzogen werden, als Verschiebung von emotionalen Bindungen zu verstehen. Dies heißt praktisch: Bis in das hohe Alter sollten sich Menschen auch neuen Erfahrungen aussetzen, sich neuen Tätigkeiten hingeben, schließlich auch neue Menschen kennenlernen. „Das ist das Ärgste, was einem Menschen geschehen kann, aus einem Fließenden ein Starrer, ja auch nur ein Stockender zu werden. Das erkennt mancher und nährt Friedlosigkeit in sich oder unaufhörlichen Zweifel, oder er ergibt sich einem Streben nach fast Unmöglichem, Ungeheurem. Manche aber überlassen sich ihrer natürlichen Liebe zu Welt und Mensch und damit geraten sie denn bald in die Strömung des unendlichen Lebens, werden hineingerissen in den ewigen Zusammenhang aller Dinge, in dem es keinen Stillstand gibt“26. Dieses Epigramm von Christian Morgenstern bringt zum Ausdruck, wie Offenheit verstanden werden sollte: Nämlich als bejahende Einstellung zu Welt und Mensch, als ein grundlegendes Interesse an Menschen wie auch an Prozessen in der Welt.

4 Abschluss: „Das Wissen abverlangen“ Was gut gepflanzt ist, wird nicht ausgerissen. Was gut festgehalten wird, wird nicht entgehen. Wer sein Gedächtnis Söhnen und Enkeln hinterlässt, hört nicht auf. Wer seine Person gestaltet, dessen Leben wird wahr. 25 Robert Peck, Psychologische Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte, in: Hans Thomae, Ursula Lehr (Hg.), Altern – Probleme und Tatsachen, Wiesbaden 1977, S. 530 – 544. 26 Christian Morgenstern, Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch Notizen, München 41951, 186.

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Wer seine Familie gestaltet, dessen Leben wird völlig. Wer seine Gemeinde gestaltet, dessen Leben wird wachsen. Wer sein Land gestaltet, dessen Leben wird reich. Wer die Welt gestaltet, dessen Leben wird weit. Darum: Nach deiner Person beurteile die Person des andern. Nach deiner Familie beurteile die Familie der andern. Nach deiner Gemeinde beurteile die Gemeinde der andern. Nach deinem Land beurteile das Land der andern. Nach deiner Welt beurteile die Welt der andern. Wie weiß ich die Beschaffenheit der Welt? Eben durch dies. (Aus: Laotse, Tao te king)

Dieser Sinnspruch ist dem Tao te king27 entnommen, in dem 81 Sinnsprüche zusammengefasst sind. Tao lässt sich übersetzen mit „Weg“, „Sinn“, Te mit „Kraft“, „Leben“, „Tugend“, King mit „Leitfaden“, „Sammlung von Texten“.28 Die Entstehung des Tao te king (heute: Daodejing) datiert vermutlich auf den Zeitraum um 400 vor Christus. Hinsichtlich der Entstehung dieser Sammlung existieren Erzählungen, die sich vor allem um folgenden Inhalt zentrieren: Laotse soll aufgrund seines Pessimismus bezüglich einer möglichen Wiederherstellung der tiefgreifend gestörten kulturellen und politischen Ordnung die Entscheidung getroffen haben, sich zurückzuziehen. Als er den Grenzpass Han Gu erreicht (er ritt auf einem schwarzen Ochsen), wird er von dem dort Dienst tuenden Grenzbeamten Yin Hi gebeten, einen Teil seines Wissens aufzuschreiben und ihm zu übergeben. Daraufhin schreibt er, unterstützt von einem ihn begleitenden Knaben, Sprüche und Sinngedichte im Umfang von insgesamt etwa 5.000 chinesischen Zeichen nieder; diese bilden in ihrer Gesamtheit das Tao te king. In dem hier ausgewählten Sinnspruch steht zunächst die Entwicklung der Identitt, danach die Generativitt – im Sinne der Weitergabe von Wissen und der Übernahme von Verantwortung für die verschiedenen Lebensbereiche – im Zentrum, wobei sich Mitverantwortung auf ständig erweiternde und weitende Lebensbereiche bezieht. Den Referenzpunkt des Sinnspruchs bildet das Individuum: Inwieweit hat dieses die Möglichkeiten zur Identitätsbildung gefunden, aber auch genutzt, inwieweit handelt dieses verantwortlich sich selbst gegenber? Inwieweit ist dieses bereit, auch 27 Richard Wilhelm (Hg.), Laotse Tao te king. Das Buch vom Sinn des Lebens, Düsseldorf 111957. 28 Vgl. Richard Wilhelm, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Laotse Tao te king, s. o. Anm. 27, 9 – 37.

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Verantwortung fr andere zu bernehmen und damit die Entwicklungsaufgabe – oder noch prägnanter ausgedrückt – die Lebensaufgabe der Generativitt zu verwirklichen? Zu dieser Thematik – nämlich der Nutzung eigener Kräfte auf der Grundlage einer von Verantwortung für sich selbst und für den Anderen bestimmten Haltung – hat sich Wilfried Härle aus theologischer Sicht wie folgt geäußert: „Der nächstliegende und oft wiederholte Einwand gegen diese Betonung des Geschenkcharakters – theologisch gesprochen: gegen diese Orientierung an der Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium – lautet: hierdurch werde ein theologisch und politisch problematischer Quietismus gefördert. Richtig daran ist, dass wir in der Tat das Hineingelangen in die Wahrheit unseres Menschseins (den Glauben also) nur als etwas erleben können, das uns begegnet, widerfährt, geschenkt wird. Menschliche Identität hat ihrem Zustandekommen nach tatsächlich Geschenkcharakter. Aber diese Identität, die Wahrheit unseres Menschseins – und das lässt sich gerade am Begriff ,Kreativität‘ vortrefflich zeigen – besteht ja eben nicht darin, dass der Mensch untätig herum hockt, sondern darin, dass er kreativ tätig ist. Die gewonnene, geschenkte Identität des Menschen ist immer die eines tätigen Wesens. Der Glaube ist nun einmal in der Liebe tätig. Und Liebe ist ohne Kreativität gar nicht denkbar. Deswegen haben die größeren und kühneren Geister des Christentums (wie z. B. Augustin oder Luther) gerne auf die mit dieser Liebe notwendig verbundene kreative Freiheit verwiesen: Augustin mit seinem ,dilige, et quod vis fac‘ und Luther mit seiner Einladung an den gerechtfertigten Menschen, neue Dekaloge zu machen.“29 Nehmen wir nun einen Perspektivwechsel vor: Nämlich vom Ich zum Du, vom Individuum zur Gesellschaft. Generativität, mitverantwortliches Handeln, so sei betont, sind nicht allein das Ergebnis von Fähigkeiten, Bereitschaften, Haltungen des Individuums. Sie sind – darauf weist Hannah Arendt aus einer politikwissenschaftlichen, David McAdams aus einer psychologischen Perspektive hin – auch das Ergebnis der Fähigkeit und Bereitschaft des Anderen, die Kräfte seines Gegenübers zu erkennen, anzuerkennen und zu nutzen. Nehmen wir diesen Perspektivwechsel in den Worten von Bert Brecht (1898 – 1956) vor, die dieser mit Blick auf die im Tao te king zusammengebundenen Sinnsprüche des Laotse wählt. 29 Wilfried Hrle, Kreativität – Theologische Überlegungen zum Thema, in: Andreas Kruse (Hg.), Kreativität im Alter, Heidelberg 2011, 124 – 141, 134.

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Als er siebzig war und war gebrechlich, drängte es den Lehrer doch nach Ruh’ denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu. Und er gürtete den Schuh. … Doch am vierten Tag im Felsgesteine hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt: „Kostbarkeiten zu verzollen?“ – „Keine.“ Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach: „Er hat gelehrt.“ Und so war auch das erklärt. Doch der Mann, in einer heitern Regung, fragte noch: „Hat er was rausgekriegt?“ Sprach der Knabe: „Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. Du verstehst, das Harte unterliegt.“ … „Was ist das mit diesem Wasser, Alter?“ Hielt der Alte: „Interessiert es dich?“ Sprach der Mann: „Ich bin nur Zollverwalter, doch wer wen besiegt, das interessiert auch mich. Wenn du weißt, dann sprich!“ … Eine höfliche Bitte abzuschlagen, war der Alte, wie es schien, zu alt. Denn er sagte laut: „Die etwas fragen, die verdienen Antwort.“ Sprach der Knabe: „Es wird auch schon kalt.“ „Gut, ein kleiner Aufenthalt.“ Und von seinem Ochsen stieg der Weise, sieben Tage schrieben sie zu zweit, und der Zöllner brachte Essen … Und dann war’s so weit. … Aber rühmen wir nicht nur den Weisen, dessen Name auf dem Buche prangt! Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt. (Aus: Bert Brecht, Legende von der Entstehung des Buches Tao te king. Auf dem Wege des Laotse in die Emigration)

Zum einen wird in diesem Gedicht eine Auseinandersetzung über die „ideellen“ Kostbarkeiten (und eben nicht über die „materiellen“) geführt: Der Grenzbeamte fragt nach Kostbarkeiten und meint damit die materiellen. Der junge Begleiter des Laotse antwortet, dass sie beide keine materiellen Kostbarkeiten mit sich führen, sondern dass „der Alte“ – wie er auch hier im Gedicht genannt wird – ausschließlich Erkenntnisse, Wissen mit sich führe. Und vor allem um Erkenntnisse, um Wissen ist es

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der Alternsforschung zu tun, wenn sie die Frage nach dem Wesen der Identität und Generativität im höheren und hohen Alter stellt. Sie kann dabei aufzeigen, dass die Identität, vor allem aber die Generativität im Alter zu einem Großteil auf den Erkenntnissen, auf dem Wissen, auf den kognitiven und Handlungsstrategien gründet, die Menschen im Laufe ihrer Biografie erworben haben. Zum anderen wird in diesem Gedicht – und hier sei auf die letzte Strophe hingewiesen – deutlich gemacht, dass Erkenntnisse und Wissen nicht allein dadurch ihre Wirkung entfalten, dass sie gewonnen und entwickelt wurden, dass sie also vorhanden sind („Aber rühmen wir nicht nur den Weisen, dessen Name auf dem Buche prangt!“) – vielmehr müssen sie auch mitgeteilt, im öffentlichen Raum kommuniziert, anderen Menschen zur Verfügung gestellt werden: Damit dies aber gelingt, ist es notwendig, dass sie abgefragt werden („Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. Darum sei der Zöllner auch bedankt: Er hat sie ihm abverlangt.“) Die Möglichkeit zur Generativität im Alter ist immer auch an einen öffentlichen Raum gebunden, der Interesse an den Erkenntnissen, an dem Wissen, an den Strategien älterer Menschen hat und diese motiviert, diese zu kommunizieren, zur Verfügung zu stellen – und damit eine mögliche Form der Generativität zu verwirklichen.

Ist Schuld ein Gefühl? Thomas Fuchs 1 Einleitung Schuld ist ein anthropologisches Grundphänomen, das in allen menschlichen Kulturen anzutreffen ist, und das ethische, soziale, rechtliche und psychologische Aspekte umfasst. Traditionell waren die Institutionen von Schuld, Sühne und Strafe eng mit der religiösen Sphäre verbunden: Schuld galt als Verstoß gegen eine göttliche und damit absolut gültige Ordnung des Guten und Gerechten. Erst seit der europäischen Aufklärung wurden verschiedene Versuche unternommen, Schuld auf kulturelle, psychische oder biologische Gegebenheiten zurückzuführen und damit auch zu relativieren. So stellte die kulturvergleichende und ethnologische Forschung die Variabilität der Auffassungen von Schuld und Strafe in verschiedenen Gesellschaften heraus. Die Psychoanalyse reduzierte Schuld weitgehend auf Schuldgefühle, die sie ihrerseits auf die Verdrängung frühkindlicher Triebkonflikte zurückführte. Bereits zuvor hatte Nietzsche das Schuldgefühl als eine Wendung unterdrückter Aggression gegen die eigene Person interpretiert. Heute schließlich geht eine grundsätzliche Infragestellung des Schuldgedankens von der Neurobiologie aus: Wenn der Mensch gar nicht die Fähigkeit hat, sich frei zwischen Gut und Böse zu entscheiden, sondern physikalisch determinierte Hirnprozesse diese Entscheidung erzeugen, dann ist dem Schuldprinzip der Boden entzogen. Psychologische ebenso neurobiologische Theorien der Schuld beruhen letztlich auf einer gemeinsamen Voraussetzung. Sie gehen aus von der Grundannahme einer psychischen Innenwelt, in der die subjektiven Erfahrungen untergebracht werden müssen, da in einer rein physikalisch gedachten Außenwelt kein Platz mehr für sie bleibt. Gefühle, Stimmungen oder Atmosphären sind demnach keine Phänomene in der Welt, keine überpersönlichen Gegebenheiten, sondern bloße Innenzustände, die entweder einer individuellen Psyche oder aber unmittelbar dem Gehirn zuzuschreiben sind. Damit wird auch Schuld zu einer rein subjektiven Empfindung, die sich entsprechend in bestimmten Hirnarealen

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lokalisieren lassen sollte. Verantwortlichkeit ist dann letztlich eine für die Gemeinschaft nützliche Illusion, die auf eine soziale Zuschreibung zurückgeht: Wir haben als Kinder solange Lob und Tadel für unsere Handlungen erfahren, dass wir von unserer Willensfreiheit überzeugt sind und uns daher bei Normverstößen auch für schuldig halten.1 Noch eine weitere Tendenz trägt zur Infragestellung des Schuldprinzips bei. In einer säkularisierten, auf Fortschritt und Beschleunigung ausgerichteten Gesellschaft werden Schuldgefühle und Gewissen nicht mehr als selbstverständliche Attribute menschlicher Existenz hingenommen. Sie stören das Wohlbefinden, die Zufriedenheit ebenso wie die Zukunftsorientierung; wenn möglich, sollte man sie aus dem persönlichen Leben fernhalten, denn sie passen nicht zu den vorrangigen Werten der Leistung, des Erfolgs und des Genusses. Eher gelten sie als Zeichen von Schwäche. Selbst Depressionen manifestieren sich heute weniger in Schuldgefühlen als in Erschöpfung, Insuffizienz- und Versagenserleben.2 Die klassische Neurose galt noch als Manifestation eines Triebkonflikts, der in der Regel mit Schuldgefühlen verbunden war. Die Depression als dominierende Krankheit der Postmoderne hingegen ist eher Resultat der Erschöpfung der Individuen im kollektiven Leistungskampf, eine Krankheit der Unzulänglichkeit und des Zurückbleibens. Diese Tendenzen werfen Fragen auf, um die es mir im Folgenden geht: Ist das Schuldgefühl letztlich nur eine neurotische Störung? Ist es nur eine Begleiterscheinung bestimmter Hirnprozesse? Oder entspricht ihm eine Wirklichkeit in der Beziehung zwischen Menschen? Wo ist der Ort der Schuld? Und inwiefern hat es überhaupt noch Sinn, von Schuld zu sprechen? – Ich will im Folgenden zunächst den Phänomenen von Schuld und Gewissen in einer kulturanthropologischen und entwicklungspsychologischen Perspektive nachgehen. Daraus ergibt sich eine Reihe von Grundstrukturen, auf denen das Schuldprinzip ebenso wie das Schuldgefühl beruht. Von da ausgehend, werde ich die psychologische und die neurobiologische Infragestellung der Schuld untersuchen und ihr, Bezug nehmend auf Martin Buber, die These gegenüber stellen, dass wir 1

2

Wolfgang Prinz, Kritik des freien Willens: Bemerkungen über eine soziale Institution, in: Psychologische Rundschau 55 (2004), 198 – 206. Wolf Singer, Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52 (2004), 235 – 255. Vgl. dazu auch Thomas Fuchs/Grit Schwarzkopf (Hg.), Verantwortlichkeit – nur eine Illusion, Heidelberg 2010. Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/New York 2004, 149.

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Schuld in erster Linie als ein überpersönliches ethisches Phänomen verstehen müssen.

2 Schuld – Schuldigsein – Schuldgefühl Beginnen wir mit einigen begrifflichen Differenzierungen, die bereits angedeutet wurden. Wir können offenbar Schuld, Schuldigsein und Schuldgefühl voneinander unterscheiden: 1) Schuld bezeichnet eine Verletzung der moralischen oder sittlichen Ordnung einer Gemeinschaft, also eine soziale und ethische Realität. Für diese Verletzung wird nach einem Schuldigen gesucht. Schuld ist gewissermaßen ein Prädikat, das im sozialen Leben zirkuliert und wie ein schwarzer Peter weitergegeben wird, bis es sich an jemanden heftet. 2) Das Schuldigsein ergibt sich als Zuschreibung der Verantwortlichkeit für das Geschehene oder Getane an einen Einzelnen, der sich für die Tat zu verantworten hat. 3) Das Schuldgefühl schließlich ist die Erfahrung der subjektiven Betroffenheit von einer Schuld. Es ist an die Herausbildung einer Gewissensinstanz gebunden und auf einen Ausgleich in Form von Entschuldigung, Sühne oder Wiedergutmachung gerichtet. Schuld ist also zunächst die Störung einer sozialen Ordnung, für die eine Ursache, also ein Schuldiger, und ein Ausgleich in Form von Sühne oder Strafe gesucht werden. Damit weist Schuld eine triadische Struktur auf: Jemand ist schuldig und damit verantwortlich für ein Geschehen vor jemandem beziehungsweise vor den anderen.3 Diese triadische Struktur manifestiert sich auch im juristischen Verfahren in der Konstellation von Kläger, Angeklagtem und Richter. Dabei impliziert die soziale und juristische Schuldzuweisung mehrere Voraussetzungen: die Annahme, dass es einen Handelnden oder einen Akteur gibt, der über das Bewusstsein seines Handelns verfügt, und der eine dauerhafte personale Identität aufweist, sich also zum Beispiel an seine Tat erinnern kann; die Annahme, dass menschliches Handeln nicht grundsätzlich reflexhaft oder triebhaft determiniert, sondern einer willentlichen Stellung3

Vgl. dazu Wilfried Hrle, Ethik, Berlin 2011, 201 f.

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nahme unterworfen ist, die verschiedene Alternativen offen lässt; schließlich die Annahme, dass der Schuldige über Einsicht in Recht und Unrecht verfügte, ebenso wie über ein hinreichendes Vermögen, sein Verhalten dementsprechend zu steuern. Hingegen ist die Schuldzuschreibung nicht an subjektive Schuldoder Reuegefühle gebunden; der Täter wird auch dann als schuldig angesehen, wenn er Gewissensregungen weitgehend oder vollständig vermissen lässt. Der ethische und juristische Schuldbegriff ist demnach vom psychologischen kategorial verschieden. Das Schuldgefühl bezeichnet nun die subjektive Erlebnisdimension, die innere Betroffenheit von einer Schuld, basierend vor allem auf dem Gewissen als einer besonderen affektiv-kognitiven Struktur. In ihm verknüpfen sich (1) moralisch-ethische Normen, die als persönlich verpflichtend erfahren werden, (2) eine entsprechende kritische Selbstbeurteilung, und (3) ein spezifischer Gefühlsgehalt, der Komponenten von Furcht, vermindertem Selbstwert und Reue einschließt, oft auch Mitgefühl mit demjenigen, dem man Unrecht getan hat. Die herausragende soziale Bedeutung des Schuldgefühls liegt in der inneren Verhaltensregulation, die auf die Wiederherstellung der Ordnung durch Versöhnung, Sühne, Strafe und Vergebung gerichtet ist, aber auch vorwegnehmend auf die Vermeidung künftiger Normverletzungen. Kulturgeschichtlich lässt sich die Herausbildung des Gewissens in archaischer Zeit von der Erfahrung öffentlicher Schande und Scham ableiten, die der Verstoß gegen soziale Regeln, insbesondere gegen sexuelle Tabus wie das Inzesttabu nach sich zog.4 Dies spiegelt sich noch in der Erzählung vom Sündenfall in der Genesis: die Erkenntnis von Gut und Böse ist mit der Erfahrung beschämender Nacktheit verbunden. Die Vertreibung aus dem Paradies entspricht dann den sozialen Sanktionen bis hin zur Verstoßung aus der Gemeinschaft. Erst durch Selbstdemütigung und Reue kann der Schuldige die Übereinstimmung mit der Gruppe wiederherstellen. Im mythischen Bewusstsein werden solche Erfahrungen personifiziert und treten dem Menschen als numinose äußere Mächte gegenüber: das Gewissen sind dann die Ahnen, Geister, Götter wie etwa

4

Vgl. zum folgenden Jacques Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, Stuttgart 1984, Heinz-Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt/M. 1991.

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die griechischen Erinnyen, deren verurteilende Eingebungen erschütternd oder bedrohlich erlebt werden. Das Gefühl der Scham ist noch an die unmittelbare Gegenwart der anderen gebunden, die den Beschämten mit verächtlichen oder vernichtenden Blicken treffen, ihn „in den Boden versinken lassen“. Scham geht über in Schuldgefühl, wenn die sozialen Normen als Gebote verinnerlicht werden und die Selbstverurteilung des Täters die öffentliche Verachtung vorwegnimmt. Dieser Übergang von der Scham- zur Schuldkultur setzt die Herausbildung eines personalen Zentrums mit weitgehender Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit voraus, das nicht mehr in einer außengeleiteten Rollenexistenz aufgeht.5 In kleinen Gruppen war die Scham noch wirksamer als in komplexen, urbanen Gesellschaften mit einem hohen Grad an Anonymität, die eher die interne Selbstkontrolle des Einzelnen erforderten. So finden wir die ersten Formen des Gewissens in der äyptischen Hochkultur, wo das Herz als Organ des „inneren Menschen“ die Rolle des Anklägers und Zeugen gegen das Ich übernimmt.6 Zu seiner eigentlichen Entfaltung kommt das Gewissen aber in der monotheistischen, jüdisch-christlichen Kultur. Erst in der persönlichen Beziehung zum einen Gott wird das Innere des Menschen sich offenbar: Gott sieht ins Herz selbst, nichts bleibt ihm verborgen. Die christliche Wendung von der alttestamentarischen Gesetzesmoral zur individuellen Verantwortung vor Gott radikalisiert dann die personale Gewissensorientierung. Bei Jesus und Paulus löst sich das Gewissen aus der engen Bindung an den tradierten Moralkodex und wird zur Grundlage persönlicher, ja potenziell auch gegen die Gemeinschaft gerichteter Entscheidungen. Das autonome Gewissen beginnt sich vom autoritären, von der Schuldangst geprägten Gewissen zu befreien. Gehen wir nun über zur frühkindlichen Entwicklung des Menschen, so finden wir im Prinzip den gleichen Übergang von der Scham zur Schuld, besonders im 2. Lebensjahr.7 Während die Scham unter dem Blick der anderen entsteht, könnte man die Schuld die internalisierte 5

6 7

Vgl. zum Begriff der Scham- bzw. Schuldkultur das grundlegende Werk von Ruth Benedict, The chrysanthemum and the sword: patterns of Japanese culture, Boston/Mass. 1946 (deutsch: Chrysantheme und Schwert, Frankfurt/ M. 1997). James Henry Breasted, Die Geburt des Gewissens, Zürich 1950. Vgl. zum Folgenden Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt/M 1973, 75 – 98, Thomas Fuchs, Leib, Raum, Person, Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, Stuttgart 2000, 285 ff.

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Stimme der anderen nennen. Dabei müssen wir uns die zentrale Bedeutung der Negation für die frühkindliche Entwicklung deutlich machen. Das Verbot der Eltern ist die erste Verneinung, die das Kind erfährt. Das Nein setzt der Spontaneität, der „Unschuld“ seiner primären Regungen und Triebe eine symbolische Grenze entgegen. Das Kind soll einem Impuls zum Verlockenden hin Einhalt gebieten, also sich selbst widersprechen. Übertritt es das Verbot, so zieht dies in der Regel eine Verurteilung, Liebesentzug oder Bestrafung nach sich. Mit der nun folgenden Aneignung und Verinnerlichung des elterlichen Verbots übernimmt das Kind eine Gegen- oder Außenperspektive auf sich selbst. Es sagt „Nein“ zu sich – man kann das im kindlichen Spiel oft direkt beobachten – und nimmt so, mit einem Begriff Plessners, eine „exzentrische Position“ sich selbst gegenüber ein.8 Die Verneinung ruft also die Selbstwahrnehmung aus der Sicht der Anderen hervor, und diese ist eine der zentralen Voraussetzungen für die Herausbildung des Selbstbewusstseins ebenso wie des Gewissens. Doch die neu erlangte, exzentrische Position ist keine starre, sondern eine freie. Sie enthält immer auch die Möglichkeit, zum Verbot selbst „nein“ zu sagen. Ja der eigene Wille, die Widersetzlichkeit des Kindes gegenüber dem Verbot, ist sogar die Voraussetzung dafür, sich selbst nicht bloß als willenloses Geschöpf der Eltern, sondern als mit Freiheit begabtes Eigenwesen zu erfahren. Von einem eigenen Willen kann man erst sprechen, wenn der Wille und die Perspektive der Anderen als solche erfasst und negiert werden können. Um die Freiheit der Wahl, um Selbstständigkeit zu erlangen, muss der Mensch die Unschuld des bloßen Seins verlieren zugunsten der Möglichkeit des Eigenwillens und damit der Möglichkeit der Schuld. Wie wir erkennen können, entstammen Gewissen und Schuldgefühl ursprünglich einer sozialen Interaktion, die in der frühen Kindheit jedes Menschen wiederholt und internalisiert wird: Verstoß gegen ein Gebot, Vorwurf, Verurteilung, Liebesentzug oder Ausgrenzung prägen sich als Erfahrungsmuster ein und führen in gleichartigen, moralisch relevanten Situationen zur inneren Vorwegnahme dieser Interaktion. Daher die dialogische Struktur der Gewissenserfahrung: sie ist nichts anderes als die Verinnerlichung und Vorwegnahme einer sozialen Interaktion. Das „Gewissen“ (conscientia, „Mitwissen“) ist ein auf die eigene Person zurückgewendetes Wissen, in dem das persönliche Betroffensein von einer moralischen Forderung, oder konkreter genommen, von dem 8

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 1975.

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Anspruch des anderen vernommen wird. Der „Stimme des Gewissens“ hat man Antwort zu geben; nach einer schuldhaften Tat hat man sich vor ihr zu „verantworten“ wie vor einem Kläger. Damit stehen sich eine fordernde, eine anklagende und eine Rechenschaft ablegende Instanz im eigenen Inneren gegenüber – also die uns schon bekannte triadische Struktur, die seit der Antike immer wieder in das Bild des „inneren Gerichtshofs“ gefasst wurde. Gehen wir nun nach dieser Analyse von Gewissen und Schuldgefühl zu den Versuchen über, Schuld als ein rein subjektives Erleben, letztlich als eine Illusion zu begreifen. Sie entstammen vor allem der Psychoanalyse und neuerdings der Neurobiologie.

3 Die psychoanalytische Deutung von Schuld und Gewissen Nach Freud entsteht das Gewissen aus der kindlichen Angst vor Bestrafung und Liebesverlust, die einen Triebverzicht zur Folge hat. Es ist „in seinem Ursprung ,soziale Angst‘ und nichts anderes“.9 Im Gefolge des Ödipus-Komplexes internalisiert das Kind die Forderungen der Eltern in Form des Ich-Ideals, und das Gewissen ersetzt die unmittelbare Angst vor ihrer Bestrafung. Das Über-Ich vereint nun in sich die Funktionen des Ich-Ideals, der kritischen Selbstbewertung und zugleich der Selbstbestrafung durch Schuldgefühle oder Gewissensbisse. Reue ist ein Nachklang frühkindlicher Straferfahrungen und enthält daher ein Selbstbestrafungsbedürfnis des Ich, das, so Freud, „unter dem Einfluss des sadistischen Über-Ich masochistisch geworden ist“10 : „Die Spannung zwischen dem gestrengen Über-Ich und dem ihm unterworfenen Ich heißen wir Schuldbewusstsein; sie äußert sich als Strafbedürfnis. Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des Individuums, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt.“11

9 Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/M. 1924, 33 – 60, 40. 10 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt/M., 1930, 191 – 270, 262. 11 Ebd., 250.

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Im individuellen Gewissen spiegelt sich also die allgemeine Triebunterdrückung im Zug des Kulturfortschritts, dessen Preis, so Freud, „in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird.“12 Diese bis heute wirksame psychodynamische Gewissensinterpretation blieb allerdings nicht unwidersprochen. Die Kritik richtete sich gegen die Pathologisierung des Gewissensphänomens und gegen die Gleichsetzung von autoritärem und autonomem Gewissen, wie es sich im Verlauf der Reifung zum Erwachsenen entwickeln kann. Für Erich Fromm besteht das autoritäre Gewissen, entsprechend dem Freudschen Über-Ich, in der Angst vor Strafe durch äußere Instanzen; dagegen ist das autonome, humanistische Gewissen „des Menschen eigene Stimme, der Wächter unserer Integrität, der uns zu uns selber zurückruft, wenn wir in Gefahr sind, uns zu verlieren.“13 Das Gewissen in diesem emanzipatorischen Sinn ruft den Menschen dazu auf zu werden, was er seinen Möglichkeiten nach sein kann. Ähnlich haben Max Scheler oder Viktor Frankl die existenzielle und sinnorientierte Dimension der Gewissenserfahrung verteidigt.14 Es ist jedoch nicht nur die autoritäre Auffassung des Gewissens, sondern überhaupt die „Psychisierung“, die Verinnerlichung der Schuld, durch die die Psychoanalyse zu einer Relativierung ihrer ethischen Dimension beigetragen hat. Schuld wird zu einer bloßen Gefühlsregung, ja letztlich zu einem neurotischen, krankhaften Phänomen. Dieser Reduktion von Schuld auf Schuldgefühle hat schon Freud selbst Vorschub geleistet. „Es ist wirklich nicht entscheidend“, so schreibt er, „ob man den Vater getötet oder sich der Tat enthalten hat, man muss sich in beiden Fällen schuldig finden, denn das Schuldgefühl ist der Ausdruck des Ambivalenzkonfliktes, des ewigen Kampfes zwischen dem Eros und dem Destruktions- oder Todestrieb.“15 Das heißt, zwischen der objektiven Schuld der Vatertötung und dem subjektiven Schuldgefühl als Reaktion auf Todeswünsche besteht kein prinzipieller Unterschied, denn die faktisch realisierte und die nur phantasierte Aggression lösen gleichermaßen Schuldgefühle aus. Daraus kann man den Schluss ziehen, dass es Schuld überhaupt nur dort gibt, wo sie subjektiv erlebt wird. 12 Ebd., 260. 13 Erich Fromm, Psychoanalyse und Religion, München 1985, 79 ff. 14 Max Scheler, Reue und Wiedergeburt, in: Ders. Vom Ewigen im Menschen, Bern 41954, Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, München 81975. 15 Freud , Unbehagen (s. o. Anm. 10), 258.

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Die tiefenpsychologische Erklärung von Schuldgefühlen und Gewissensregungen relativiert damit ihren Geltungs- und Forderungscharakter. Analog wäre die Verpflichtung durch ein Versprechen nur ein „Verpflichtungsgefühl“, und nicht ein objektives ethisches Faktum, das durch die Aussage „ich verspreche Dir“ irreversibel in die Welt gebracht ist. Demgegenüber hat vor allem Martin Buber Schuld als ein überpersönliches ethisches Phänomen charakterisiert, das sich nicht auf ein Individuum beschränken lässt. „Jeder Mensch steht in einem objektiven Verhältnis zu anderen, die Gesamtheit dieser Verhältnisse konstituiert sein Leben als ein am Sein der Welt faktisch teilnehmendes (…); sie ist sein Anteil an der menschlichen Seinsordnung, der Anteil, für den er die Verantwortung trägt. Ein objektives Verhältnis, in dem zwei Menschen zueinander stehen, (…) kann lediglich hingenommen, kann vernachlässigt werden; es kann verletzt werden. Die Verletzung eines Verhältnisses bedeutet, dass an dieser Stelle die menschliche Seinsordnung verletzt worden ist. Kein anderer, als der die Wunde schlug, kann sie heilen.“16

Schuld ist für Buber im Unterschied zu subjektiven Schuldgefühlen eine objektive ethische Gegebenheit, „deren Ort nicht die Seele, sondern das Sein ist.“17 Die Verletzung betrifft nicht nur den anderen Menschen, sondern darin auch das Verhältnis der Verantwortung, der Teilnahme, in dem man zum anderen steht, somit letztlich eine Seinsordnung, nämlich die dialogische Bezogenheit des Menschen. Der Mensch wird schuldig, indem er auf das ihm anvertraute Stück Welt nicht in angemessener Weise antwortet; indem er dem anderen nicht wirklich begegnet, sondern sich seiner Verantwortung entzieht. Die Psychotherapeuten suchen, so Buber, die Schuld am falschen Ort: Sie behandeln sie als Phänomen im Menschen statt als Phänomen zwischen den Menschen. Die Schuld steckt nicht in der Person, sondern umgekehrt: Die Person steht in der Schuld, die sie umgibt. Buber lehnt Freuds Erklärungsmodell ab, da es kein Schuldigwerden am Gegenüber, sondern nur ein neurotisches Schuldgefühl im Menschen kenne. Indem die Psychologie ausschließlich von Schuldgefühlen spricht, verkennt sie, so Buber, das Wesen der Schuld und kann daher dem schuldig gewordenen Menschen auch nicht helfen. 16 Martin Buber, Schuld und Schuldgefühl, in: Arie Sborowitz (Hg..), Der leidende Mensch. Personale Psychotherapie in anthropologischer Sicht, Darmstadt 1960, 106 – 117, 117. 17 Ebd., 108.

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In der Schuldbewältigung geht es darum, dass der Mensch seine Schuld als das, was sie ist, erkennt und akzeptiert. Diese Einsicht transzendiert das nur Psychische, weil sie nicht die Tiefen meiner Seele betrifft, sondern mein Verhältnis zur Welt, das es zu verändern gilt. Nicht allein in einer inneren Reue, sondern nur in einer realen Aussöhnung durch Entschuldigung oder Sühne kann die verletzte Seinsordnung wiederhergestellt werden. Versucht der Psychotherapeut, reale Schuld durch innerpsychische Entlastung oder Zurückführung auf frühe biographische Konflikte aufzulösen, so nimmt er dem Klienten die Chance, durch die reale Beziehung zu anderen auch wieder in ein neues, gereiftes Verhältnis zu sich selbst kommen. Vergleichen wir Bubers Konzeption mit der anthropologischen Grundstruktur von Schuld und Gewissen, so stimmen sie durchaus miteinander überein. Denn wie wir gesehen haben, enthält das Gewissen genau die triadische Struktur, die der realen Beziehung zu den anderen mit ihren Komponenten von Verpflichtung beziehungsweise Anspruch, Vorwurf und Verantwortung entspricht. Im Gewissen und im Schulderleben ist diese Beziehung zwar verinnerlicht, bleibt aber doch auf den konkreten anderen gerichtet, an dem ich schuldig geworden oder zu werden im Begriff bin. Zweifellos gibt es pathologische, übertriebene oder ganz unbegründete Schuldgefühle, die einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen; ja der Psychiater weiß auch, dass das Schulderleben stark stimmungsabhängig ist, also auch einem physiologischen Einfluss unterliegt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass das Gewissen, sofern es nicht neurotisch oder psychotisch verzerrt ist, grundsätzlich eine sozialethische Realität widerspiegelt. Wie letztlich alle Gefühle ist auch das Schuldgefühl primär ein Beziehungsphänomen; es ist nicht in unserem Inneren verborgen, sondern es ereignet sich zwischen uns und den anderen. Dies entspricht auch seinem Gegenstand, denn Schuld ist eine reale Störung der Beziehungen, die sich ausbreiten, die verselbständigt zirkulieren, ja Generationen in Schuldzusammenhänge verstricken kann. Daher ergreift uns das Schuldgefühl auch von außen her, aus der sozialen Realität heraus, deren Ordnung wir verletzt haben. Und seine motivierende Tendenz, seine Intention richtet sich nicht nur nach innen, sondern wiederum nach außen, nämlich auf einen Ausgleich, eine Entschuldigung oder Sühne, die die ethische Ordnung der Beziehungen wiederherstellt. Die Psychologie verkennt diese überindividuelle, objektive Realität der Schuld, wenn sie sie zum bloßen Schuldgefühl subjektiviert und in eine psychische Innenwelt introjiziert.

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4 Die neurobiologische Aufhebung der Schuld In ganz anderer Weise wird die Schuld heute von der Neurobiologie in Frage gestellt, denn sie steht und fällt offenbar mit der Voraussetzung der Willens- und Entscheidungsfreiheit. Nun haben prominente Hirnforscher, gestützt auf die Experimente von Benjamin Libet und anderen, die These vertreten, das Gehirn nehme unsere Entscheidungen bereits vorweg. Unser Bewusstsein trete immer zu spät auf den Plan und könne nur noch ratifizieren, was die neuronalen Mechanismen bereits festgelegt haben.18 Daher seien unsere alltäglichen Schuldzuweisungen letztlich nur auf eine Illusion gegründet, die durch frühkindliche Konditionierung in uns erzeugt worden ist: Wir glauben, verantwortlich oder schuldig zu sein, weil wir von anderen so behandelt wurden, als wären wir es. Freilich wird dann meist rasch versichert, dass wir diese Illusion aus praktischen Gründen lieber nicht aufgeben sollten. Ernsthafter werden deterministische Thesen jedoch bereits auf das Strafrecht angewandt. So identifizieren Hirnforscher bei soziopathischen Gewalttätern zunehmend neurobiologische Defekte, wie etwa erniedrigte Serotonin-Spiegel in Arealen des Frontalhirns oder die mangelnde Hemmung aggressiver Impulse aus dem limbischen System, die angeblich eine freie Willensbestimmung unmöglich machen.19 Einige Vertreter der Neurobiologie stellen sogar das Schuldstrafrecht schlechthin als wissenschaftlich unhaltbar dar. Nun will ich auf die Kritik an den Libet-Experimenten beziehungsweise an ihrer reduktionistischen Deutung nicht im Detail eingehen. Der Haupteinwand besteht zweifellos darin, dass diese Experimente menschliches Handeln von seinem intentionalen und zeitlichen Kontext isolieren und auf das Niveau von Zufallsbewegungen reduzieren. Si18 Vgl. Chistian Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt/M, 2004, Prinz (s. o. Anm. 1), Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt/M. 2001, 427 ff., Ders. Gerhard Roth, Worüber Hirnforscher reden dürfen – und in welcher Weise? in: Geyer, Christian (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt/M. 2004, 66 – 85, Thomas Fuchs, Personale Freiheit. Eine libertarische Konzeption auf der Grundlage verkörperter Subjektivität, in: Ders./Grit Schwarzkopf (Hg.), Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?, Heidelberg 2010, 203 – 228. 19 Vgl. Jürgen L. Mller/Monika Sommer/Tatjana Weber/Göran Hajak, Neurobiologie der Aggressionsgenese: Empirische und experimentelle Befunde zu reaktiven Formen der Gewalt, in: Psychiatrische Praxis 31 (2004), 50 – 51, Hans J. Markowitsch, Tatort Gehirn, Zeitschrift für Neuropsychologie 20 (2009), 169 – 177.

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cherlich ist das spontane Bewegen des Daumens zu einem zufälligen Zeitpunkt etwas anderes als etwa ein Eheversprechen. Denn einer reiflich überlegten Entscheidung geht, wie das Wort schon sagt, ein zeitlich andauernder Reifungsprozess voraus, in dem bewusste und unbewusste Motive, Gefühle, rationale und moralische Abwägungen miteinander interagieren.20 Dieser zeitlich voraus laufende Prozess wird durch die experimentelle Anordnung gerade ausgeschaltet. Vor allem aber enthalten substanzielle Entscheidungen immer einen Bezug auf die Zukunft: Wir nehmen vorweg, wie sich unser Handeln wohl „anfühlen“ wird, welche unmittelbaren und vielleicht auch mittelbaren Konsequenzen es haben wird. Wir erleben und betrachten uns dabei als Wesen mit einer überdauernden Kontinuität oder Identität. Wir könnten kein Versprechen abgeben, wenn wir diese Kontinuität nicht voraussetzen, denn das Versprechen besagt nichts anderes als: Ich werde auch in Zukunft derselbe sein, der dies gewollt und versprochen hat. Und ebenso beruhen das Schuldbewusstsein und die Schuldzuschreibung nach einem Vergehen auf der rückblickenden Annahme einer Kontinuität des Selbstseins. Diese zeitübergreifende Struktur des Selbst kann allerdings in Experimenten, die sich auf Sekundenbruchteile richten, nicht erfasst werden. Das personale Selbst und seine Verantwortlichkeit werden aber auch nicht durch eine illusionäre Zuschreibung erzeugt, also durch eine soziale Konditionierung in der frühen Kindheit. Die Eltern gehen freilich mit ihrem kleinen Kind schon so um, als wäre es bereits eine selbstbewusste Person: sie geben ihm einen Namen, sie sprechen mit ihm, gebieten und verbieten, und behandeln es zunehmend als verantwortlich. Doch können sie damit nur hervorrufen, was in ihrem Kind schon angelegt ist, nämlich das personale Selbst. Nur weil das Kind sich selbst als angesprochen erfährt, kann es sich die Erwartungen und Bewertungen der anderen zuschreiben, kann es in der Folge auch Schuldbewusstsein und Gewissen entwickeln. Versprechen, wechselseitige Verpflichtung ebenso wie Schuld setzen Willens- und Entscheidungsfreiheit voraus. Wo keine Freiheit ist, da gibt es Pech, Übel, Nachteiliges, aber nichts Schuldhaftes, nichts Böses. Mit der Bestreitung unserer Freiheit wäre alle Schuld bewältigt, indem sie 20 Vgl. dazu ausführlich Thomas Fuchs, Was heißt ,sich entscheiden’? Die Phänomenologie von Entscheidungsprozessen und die Debatte um die Willensfreiheit, in: Thomas Buchheim/Torsten Pietrek (Hg.), Freiheit auf Basis von Natur? Paderborn 2007, 101 – 118, Ders., Freiheit (vgl. Anm. 18).

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einfach aus der Welt geschafft wäre. Die angebliche Determiniertheit allen Verhaltens durch neuronale Mechanismen muss letztlich auch in der Generalabsolution für jegliche Verbrechen enden. Jeder Täter wäre dann so unzurechnungsfähig wie ein Wirbelsturm oder ein Kampfhund – nicht mehr Urheber einer schuldhaften Tat, sondern nur Ursache eines unerwünschten Verhaltens, das man unterbindet, so wie man den Kampfhund ausschaltet. An die Stelle der Schuldzuweisung tritt die Diagnose einer neurologischen oder psychiatrischen Auffälligkeit, und die Richter werden durch medizinische Experten ersetzt, die die Determinanten kriminellen Verhaltens berechnen und beurteilen, welche Therapie oder Umkonditionierung die geeignete ist. Der Determinismus scheint schuldentlastend, ja human zu sein. Tatsächlich muss er in der Konsequenz zu einer medizinisch-psychiatrischen Behandlung von Straftätern führen, und zur prophylaktischen Sicherung statt Strafe, und sei es ein Leben lang. Denn der Täter ist nicht mehr schuldig, sondern falsch konditioniert, er hat eine neuronale Störung, einen Defekt. In seinem 1971 erschienenen Buch „Jenseits von Freiheit und Würde“ hat der Verhaltenspsychologe Burrhus F. Skinner eine Gesellschaft auf der Grundlage dieses Menschenbildes entworfen.21 Darin wandte er sich vehement gegen die „vorwissenschaftliche Vorstellung“ des autonomen Menschen: Freiheit, Schuld, Recht und Würde seien Reste eines moralisierenden, antiquierten Menschenbildes. Sie sollten durch eine rationale Konditionierung des Menschen mittels einer wissenschaftlich fundierten Verhaltenstechnologie ersetzen werden. Eine reduktionistisch verstandene Neurobiologie könnte ein solches Menschenbild heute noch zusätzlich stützen. Doch dass alle unsere Entscheidungen und Handlungen auf einer neuronalen beziehungsweise materiellen Grundlage erfolgen, besagt noch nichts darüber, ob es freie oder unfreie Handlungen sind. Störungen der Empathiefähigkeit, wie sie bei soziopathischen Gewalttätern inzwischen auch neurobiologisch nachweisbar sind, können ein Faktor sein, der zur Delinquenz beiträgt, sie machen aber noch niemanden zu einem unfreien Triebwesen. Wir sind dann und solange strafrechtlich verantwortlich, als wir imstande sind, unsere Entscheidungen von Erwägungen abhängig zu machen und unsere Wünsche oder Impulse aus einer Außenperspektive zu bewerten. Diese Verantwortung ist in der Tat, wie auch Skinner sieht, ein essenzieller Bestandteil unserer Würde als Per21 Friedrich B. Skinner, Jenseits von Freiheit und Würde, Reinbek/Hamburg 1973.

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sonen. Zur Würde des Täters gehört daher auch sein Recht auf eine angemessene Strafe. Die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, so schreibt der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber, anerkennen und achten den Verurteilten durch die Strafe als einen der ihren.22 Dies aufzugeben, käme einer Dehumanisierung gleich. In diesem Sinn betont auch Wilfried Härle, dass, … gerade der Mensch, der schuldig geworden ist, … als Gottes Ebenbild anzuerkennen, zu achten und zu ehren ist.“23 Freiheit, Schuld und Würde des Menschen sind voneinander nicht zu trennen.

22 Hans-Ludwig Krçber, Der Straftäter, der psychiatrische Gutachter und das Böse, Neurotransmitter Sonderheft 2 (2006), 31 – 38. 23 Wilfried Hrle, Menschsein in Beziehungen, Tübingen 2005, 418.

Verzweiflung – psychopathologische Aspekte, existentielle Grenzerfahrung und neuer Wert Hermes Andreas Kick Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort, und die Welt fängt an zu singen, findst du nur das Zauberwort. Joseph von Eichendorff

Künstlerische Inspiration, Vision und Psychose haben einiges gemeinsam und auch Wesentliches, was sie unterscheidet. Eine Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie Ausnahmeverfassungen des Seelenlebens bezeichnen, die von durchschnittlichen Zuständlichkeiten abweichen. Gemeinsam ist diesen Ausnahmeverfassungen weiterhin, dass ihnen ziemlich regelmäßig – bedingt durch die Bedrohung und Infragestellung bisher gültiger Werte – mit Verzweiflung einhergehende existentielle Grenzerfahrungen zugrunde liegen, aus denen das erwachsen kann, was ich als neuen Wert bezeichne. Visionäre Erlebnisse sind meist eingebettet in eine nicht krankhafte Bewusstseinsveränderung, die als Trance bezeichnet wird. Trance ist eine sensible und in bestimmter Weise zugleich kreative und gefährdete Zuständlichkeit des Bewusstseins. Trance ist gegenüber dem einfachen Wachzustand und gegenüber dem Schlafzustand physiologisch abgrenzbar. Trance ist psychologisch als ein Bewusstseinszustand besonderer Art zu kennzeichnen, der die Aufmerksamkeit von der Außenwelt ab- und der inneren Erlebniswelt zuwendet. Trancezustände können selbstinduziert sein oder von außen eingeleitet werden. Was uns im gegebenen Zusammenhang aber besonders interessiert: Sie treten in bestimmten Situationen der Bedrohung, der Identität des Einzelnen oder der Gemeinschaft als protektives Regulativ zur Reduzierung von Angstund Spannungsgefühlen auf. Umgekehrt können sie auftreten zur Abfuhr beziehungsweise Ermöglichung von ansonsten tabuisierten Gefühlen und Affekten wie Hass oder Wut. Bekannt ist, dass Tranceinduktionen therapeutisch genutzt werden zur Implementierung neuer Bewusstseinsinhalte und neuer Verhaltensmuster. Ihre besondere kreative Chance

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Abb. 1: Präkritische Gefährdung, Krisis und postkritische Verlaufsvarianten der Verzweiflung als Grenzsituation (s. Text)

liegt darin, in dem gegebenen Zustand der „Leichtigkeit“ Bewusstseinsinhalte gewissermaßen schwerelos zu verschieben und neu zu kombinieren. Insofern ist die Trance ein günstiger Zustand, jenen Schlüssel und Zugang zu zunächst schwer verständlichen Sinnzusammenhängen zu erlangen, also jenes Zauberwort zu finden, das Joseph von Eichendorff in dem oben vorangestellten Gedicht meint, das uns die Poesie und das Wesen der Dinge erschließt. Nun mag es viele Situationen geben, denen gegenüber uns die Vieldeutigkeit der uns umgebenden Welt nicht so wichtig erscheint, uns gleichgültig lässt. Spätestens aber, wenn eine Situation Bedrohlichkeit oder gar Lebensbedrohlichkeit erkennen lässt, können wir uns der unmittelbaren Betroffenheit gar nicht mehr entziehen. Dann treten wir von der prkritischen (Abb. 1) in die kritische Phase ein, in deren Gefolge sich die existentielle Grenzsituation entwickeln kann. Trance ist ein Zustand der Öffnung hin zu Kreativität, Inspiration und Vision. Es gibt zahlreiche Berichte von Künstlern, die von Seinsverfassungen berichten, die einem Trancezustand entsprechen und mit einem Gefühl der Omnipotenz und Erhabenheit einhergehen. Die InnenAußengrenzen sind aufgehoben oder gelockert.

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Richard Strauß äußerte im Alter von 26 Jahren: „In der Inspiration habe ich ein gehobenes Selbstbewusstsein und befinde mich an der Quelle der unendlichen und ewigen Energie, die Religion nennt es Gott. Ich habe das Gefühl, ein solcher Zustand ist ein göttliches Gefühl.“1 Puccini äußerte über die Komposition seiner Oper Madame Butterfly: „Sie hat mir Gott diktiert. Ich habe es nur auf das Papier geschrieben und damit der Allgemeinheit mitgeteilt.“2 In Clara Schumanns Tagebuch findet sich folgende Notiz: „Alles Geräusch klingt ihm wie Musik. Er sagt, es sei Musik, so herrlich, mit so wundervoll klingenden Instrumenten, wie man auf der Erde sie nie hörte. Die nächstfolgenden Nächte waren sehr schlimm. Die Gehöraffektionen hatten sich so gesteigert, dass er ganze Stücke wie von einem vollen Orchester hörte, von Anfang bis zum Ende, und auf dem letzten Akkord blieb der Klang, bis Robert die Gedanken auf ein anderes Stück lenkte […], stand Robert wieder auf und schrieb ein Thema auf, welches, wie er sagte, ihm die Engel vorsangen. Nachdem er geendet hatte, legte er sich nieder und phantasierte nun die ganze Nacht immer mit offenem, zum Himmel aufgeschlagenem Blick, er war des festen Glaubens, Engel umschwebten ihn und machten die herrlichsten Offenbarungen, alles das in wundervoller Musik. Der Morgen kam und mit ihm eine furchtbare Änderung. Die Engelsstimmen verwandelten sich in Dämonenstimmen mit grässlicher Musik.“3 Beschrieben ist in Clara Schumanns Tagebuch ein Zustand, der bereits einem Zustand nach Grenzüberschreitung entspricht. Ist nämlich durch die Schwere der Traumatisierung oder durch die Verabsolutierung von relativen Werten eine Situation der Ausweglosigkeit gegeben, so kommt es aus dieser affektiven Drucksituation heraus zur Krise, die als Verzweiflung an der Grenze erlebt wird und aus der – postkritisch – die Grenzsituation hervorgeht. Der Begriff der Grenzsituation ist mit Karl Jaspers verbunden. Grenzsituationen sind letzte Situationen, die im Alltag verborgen und nicht beachtet, unumgänglich das Ganze des Lebens bestimmen. „Was der Mensch eigentlich ist und werden kann, hat seinen Ursprung in der Erfahrung, Aneignung und Überwindung der Grenz-

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Hermann Lenz, Wahn-Sinn. Das Irrationale im Wahngeschehen, Wien / Freiburg / Basel 1976, 27 – 28. Ebd. Ebd.

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situationen.“4 In den Grenzsituationen werden die Grundbedingungen des Menschseins (conditio humana), also die dauernde Bedrohung der Existenz durch Tod, Schuld und Sinnlosigkeit beziehungsweise durch das Nichts, offen gelegt. In der Grenzsituation begegnet sich die Existenz in ihrer Ganzheit. Diese Begegnung kann zu neuem Selbstsein und zu Existenzerhellung führen oder zum Scheitern (Abb.1). Die diesbezügliche Grenzüberschreitung ist irreversibel. Niemand kann wieder dahinter zurück. Jetzt entscheidet sich nämlich, und jetzt ist zu entscheiden, ob aufgrund der Existenzerhellung, also aufgrund der durch die Aufdeckung der conditio humana, das heißt der menschlichen Grenzen, resultierenden Einsichten für Versöhnung oder für Vergeltung und Zerstörung entschieden wird. Es ist der Moment der ethischen Entscheidung in Freiheit, nicht der Moment des Gefühls. Mit dem Ja ist immer zugleich ein Nein, ein Loslassen gefordert. Welche Optionen, welche Wahlmöglichkeiten gibt es nach Überschreitung der Grenze in der Grenzsituation? Dies ist zum einen der Weg des Hasses, der Unversöhnlichkeit und Vergeltung, der formalen Gerechtigkeit, „Gleiches um Gleiches“, der Rache und des Einmündens in einen Rache-Hass-Zirkel. Erkenntnismäßig bedeutet er Verdunkelung statt Erhellung, handlungsmäßig Destruktion und Zerstörung statt Konstruktion, wobei unterschiedliche Varianten der Zerstörung und Selbstzerstörung unterschieden werden können. Möglich sind Mord, Totschlag und blindwütiger Terrorismus ebenso wie Suizid und alle Varianten der Selbstzerstörung, Suchten, psychosomatische Erkrankungen und eben Psychosen mit allen charakteristischen paranoid-halluzinatorischen Ingredienzen. Paul Hindemith5 zeichnet in seiner Oper Mathis der Maler das Leben von Matthias Grünewald, dem Schöpfer des Isenheimer Altars. Es ist der Künstler, der ob seiner Schuld verzweifelt, einer Schuld, die in persönlichen Beziehungen wie in politischen Wirrnissen liegt. Nach dem Scheitern einer Liebesbeziehung und der politischen und militärischen Niederlage des Bauernaufstandes, im Rahmen dessen sich Mathis für die unterdrückten Bauern engagiert hatte, zieht er sich verzweifelt in die Einsamkeit des Waldes zurück, um nach dem seelischen Trauma sein baldiges physisches Ende zu erwarten. Doch es kommt überraschend zu 4 5

Karl Jaspers Allgemeine Psychopathologie, Berlin / Heidelberg / New York (1913) 81965, 271. Paul Hindemith, Mathis der Maler. Oper in sieben Bildern. Libretto. Mainz 1935.

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einer Wende, einer dramatischen Versuchungssituation, in der die Repräsentanzen von Schönheit, Eros, Macht, Wissenschaft und Martyrium, jede auf ihre Art, ihn aus der Verzweiflung herauszuführen versprechen (Abb. 2). Nachdem Mathis abgelehnt hat, kommt es vehement zu einem Einbruch einer neuen Qualitt, zu einem Durchbruch des Numinosen in seiner ganzen Polarität, einer Epiphanie des Heiligen in der Gestalt von Engeln wie auch einem Auftreten einer Vielzahl von Dämonen, die Mathis quälen. Diese Erlebnisse bilden, wenn man Hindemith und seiner Oper folgt, die Vorgeschichte der Gestaltung des Isenheimer Altars mit den Bildnissen des berühmten Engelskonzertes und des von Dämonen gepeinigten Antonius. Zur Vorgeschichte: Mathis steht im Dienste des Erzbischofs von Mainz, Kardinal Albrecht, ist hin- und hergerissen zwischen institutionellen Forderungen und seinem künstlerischen Auftrag. Aufständische Bauern, die auf der Flucht sind, bringen Unruhe. Der ohnehin von Zweifeln hinsichtlich seines Auftrags erfüllte Künstler begegnet dem geschundenen und verwundeten Bauernführer Hans Schwalb. Aber nicht rationale Argumentation bringt ihn vollends auf die Seite der Bauern, nein, ein häufig vergessenes und unter ideologischem Überbau verborgenes Motiv ist es: Er verliebt sich in die Tochter des Bauernführers, Regina, und in dieser neuen Beziehung begeht er Verrat an der Liebe zu seiner Verlobten Ursula Riedinger, der Tochter eines reichen Mainzer Bürgers. Mathis sagt sich von allen institutionellen Bindungen los, die das Mainz des Kardinal Albrecht repräsentiert und kämpft auf Seiten der Bauern für die neuen Ideen. Er erlebt deren Grausamkeiten gegenüber den verhassten Adeligen, ihren zügellosen und rücksichtslosen Terror gegenüber denen, die selbst noch von den alten institutionellen Strukturen abhängig sind. Ursula, die im Stich gelassene Verlobte des Mathis, steht für die passager verworfene Repräsentanz seiner seelischen Verbindung zu den edleren Werten der überkommenen Institutionen. Ursula ist dadurch, dass sie von seinem Persönlichkeitskern gelöst ist, gefährdet, sich in das politische Ränkespiel hereinziehen zu lassen, das von progressiven Bürgerlichen inszeniert wird: Sie solle, auf diese Weise von „idealistischen“ Progressiven zur Prostitution gedrängt, den Kardinal, der schon von jeher von Ursula fasziniert ist, zur Heirat verführen und ihn dadurch endgültig auf die Seite der Bürgerlich-Progressiven ziehen. Der Kardinal durchschaut jedoch, was gespielt wird, und weist Ursula zurück. Er erlebt in der Ablehnung des erotischen Angebotes und in der Würdigung der

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Abb. 2: Freiheit als Balance des Selbst. Verzweiflung als Folge der Verabsolutierung eines Wertebereichs: Bewältigungsversuch als Versuchung zur Flucht. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Varianten von Imbalancen sind exemplifiziert in der Künstlerpersönlichkeit des Mathis (s. Text)

Person von Ursula, die er zu sich erhebt, ferner in der Treue zur Institution eine Katharsis, die Entdeckung seines wahren Selbst, eine humane Synthese von Macht und Moral, die ihm vordem fehlte. Mathis selbst kann nach den seelischen Erschütterungen der vorangegangenen Tage nicht zur Ruhe kommen. Die Verzweiflung über das künstlerische und nun auch das offensichtliche politische Debakel treibt ihn in die Enge, liefert ihn den zerreißenden Kräften unterschiedlicher Wertwelten seines Inneren aus. Zu den Versuchungen des sinnlichen Genusses und der Schönheit gesellen sich jene der Macht, der wissenschaftlichen Rationalität und der Spiritualität, des Martyriums. All diese Erscheinungen möglicher existentieller Wertverwirklichung führen den Künstler nicht aus seiner seelischen Not. Es kommt zu krisenhaften visionären Externalisierungen: Mathis selbst sieht sich als heiligen Anto-

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nius, der von den Dämonen geplagt wird, wie er auf der Bildtafel des Isenheimer Altars später erscheinen sollte. Die Dämonen und die Engelsvisionen verschwinden. Mathis, in der Gestalt des Antonius, liegt nach den schweren seelischen Kämpfen erschöpft am Boden. Da erscheint der geläuterte Vertreter der Institution, Kardinal Albrecht, in der Gestalt des heiligen Paulus, eines asketischen Einsiedlers. Er ermuntert ihn, sich durch eine Beichte, die, sieht man das entsprechende Bild auf dem Isenheimer Alter, nichts anderes sein kann als eine tiefe personale Begegnung, von dem „tödlichen Krampf“, der Erkrankung, zu lösen. Durch diese Begegnung gewinnt Antonius-Mathis seine Selbstachtung wieder, seine eigentliche Bestimmung als schaffender Künstler rekonstituiert sich. Er findet zu neuer Kreativität und setzt seine Visionen künstlerisch im Isenheimer Alter um. Allerdings, es bleibt ein ungeklärter Rest, den man als irrationale Komponente in den Symbolen der Tiefenstruktur der Oper auffinden kann. Dieser verweist auf die transzendenten Aspekte der Existenz. Im Sterben händigt Regina das Band an Ursula aus, das sie einst von Mathis bekommen hatte, das dieser – Regina wusste davon nichts – jedoch von Ursula erhalten hatte. Ursula erkennt, warum Mathis sich ihr nach der Rückkehr aus dem Urlaub wirklich entzog, als er ihr seinen Sinneswandel politisch-ideologisch begründete. Ursula vermag zu verzeihen. Sie begleitet und versorgt Mathis, aber es bleibt Distanz, eine Distanz, die sie als selbst auferlegte Einsamkeit akzeptiert. Nach der Vollendung des Werkes ordnet Mathis seinen Nachlass. Mathis ist bereit, den letzten Weg zu gehen. Das gut gemeinte Angebot des Kardinals Albrecht, ihm ein Haus, Versorgung, kurzum institutionelle Sicherheit zur Verfügung zu stellen, lehnt er ab. Der Künstler legt Wert auf Abstand. Abhängigkeit von institutionellen Strukturen ebenso wie revolutionärer Aktionismus, Selbsttäuschung und Selbstbetrug, sind ihm Ausdruck künstlerischer und menschlicher Arretierung. Eben diese Gegebenheiten waren es, die zur Verzweiflung des Künstlers und in die Krise führten, einer Krise, mit deren Bewältigung sich jedoch nunmehr die Chance zur Neusynthese und Neubewertung verbindet. Diese Synthese erfordert Geduld, Verzicht und Opfer, vor allem aber das Bewusstsein und die Anerkennung eigener Angst, Schuld und Endlichkeit, jener Grundbestimmungen des Daseins also, die in der Grenzsituation offen gelegt worden sind. Der hier gewählte prozessanalytische Ansatz zeigt Folgendes: Mit Überschreiten der Grenze (Abb. 1) beginnt die Grenzsituation. Gleichzeitig gelangen neue Regeln zur Geltung. Zwischen Ausgangsituation

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und Grenzsituation besteht eine existentielle Diskontinuitt. 6 Es heißt dies auf die einzelne biographische Entwicklung bezogen, dass sich die Grenzsituation nicht bruchlos aus der präkritischen Initialsituation und der Krisis ableiten lässt. Nach Überschreiten der Grenze hat die Person zwar die Selbstverfügung über die der präkritischen Konstellation eigenen Entscheidungsmöglichkeiten verloren. Mit Beginn der Grenzsituation werden jedoch vertiefte Einsichten und neuartige Entscheidungsgrundlagen gewonnen. Die Grenzsituation ermöglicht die Sicht auf das Ganze der Existenz, eröffnet so neue Perspektiven bezüglich aktueller und vorangegangener Konstellationen und Konflikte, ermöglicht ferner eine Neuordnung der präkritischen Fragmente: Schon im historischen Vorfeld der Existenzphilosophie sprach man hier bekanntlich von einer Zerstörung beziehungsweise Fragmentierung der alten Werte und in deren Gefolge von der Umwertung aller Werte. In der Vorgeschichte (präkritische Phase) von Grenzsituationen und von Verzweiflung finden sich häufig schwerste persönliche Kränkungen, wie Trennungen und Verlassenwerden, bedrohliche Nichtbefriedigung von physischen Bedürfnissen oder auch eine elementare Verunsicherung von Identität (Abb. 1). In der Grenzsituation kommen neuartige Kräfte ins Spiel: Sie entsprechen der Faszinationskraft des Dämonischen und des Heiligen, dem Einbruch des Numinosen, das sich im Sinne von Rudolf Otto7 aus zwei Gefühlsqualitäten, dem Tremendum und dem Faszinosum, zusammenfügt. Aus der Gleichzeitigkeit an sich gegensätzlicher Gefühlsqualitäten ergibt sich das qualitativ Besondere, die besondere Tiefe8, das außerordentliche Betroffensein, dem man sich nicht entziehen kann. Der Mensch erfährt das Numinose vor allem in der Sphäre des Religiösen als Ehrfurcht erheischendes Kreaturgefühl gegenüber dem Absoluten. Doch das Numinose ist zutiefst zweideutig, wirkt nicht nur als Heiliges, sondern ebenso als Unheil bewirkendes Dämonisches. Der Einbruch des Numinosen bewirkt Krise, erzwingt Wandlung, ermöglicht aber auch die alle personalen Kräfte übersteigende Tat. Numinose Ersterlebnisse stellt

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Hermes Andreas Kick, Vom Umgang mit Mythen: Doch noch Hoffnung für danach? – Begegnungswege, in: Günter Dietz / Hermes Andreas Kick (Hg.), Grenzsituationen und neues Ethos. Von Homers Weltsicht zum modernen Menschenbild, Heidelberg 2005, 69-90. Vgl. Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München (1917) 1963. Vgl. Albert Wellek, Das Problem seelischen Seins, Meisenheim / Glan 1953.

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Viktor Emil von Gebsattel9 anthropologisch in den Kontext der psychischen Geburt, der Chance der Wandlung und der Selbstwerdung, damit der Möglichkeit, „brachliegende Werdensnotwendigkeiten“ zu integrieren. Wie Rudolf Otto10 ausführt, kann das Numinose, als Heiliges wesensmäßig Mysterium, auf zweifache Weise erscheinen, schöpferisch und zerstörerisch. Paul Tillich11 greift den Gedanken Ottos auf und nennt die Zweideutigkeit „göttlich-dämonisch“, wobei der Sieg der schöpferischen über die zerstörerischen Mächte das Göttliche charakterisiere und der Sieg des Zerstörerischen über das Schöpferische das Dämonische. Das Absolutsetzen endlicher Werte, Tillich spricht hier als Theologe von Götzenglauben, entbindet die zerstörerischen Kräfte des Heiligen desto heftiger, je weiter die endlichen Werte – absolut gesetzt – vom Unendlichen entfernt sind. Dominierendes Gefühl der Grenzsituation ist neben der Faszination die Angst. Sie ist der Preis, der für Einblicke in die Grundgegebenheiten der conditio humana zu erbringen ist, für Perspektiven, die uns in durchschnittlichen Situationen verdeckt sind. Grenzsituationen sind insofern Momente der Wahrheit, Momente der Wahrheit allerdings, die als äußerste Herausforderung, als Konfrontation mit den Grenzen des Menschseins, nur schwer erträglich sind. In der elementaren Angst der Grenzsituation ist der Mensch aufgerufen zur Entscheidung, welchen Weg er einschlagen möchte, um aus der Unerträglichkeit der Angst und Faszination herauszugelangen. In der Grenzsituation sind die auf der Basis der Angst der Schuld, der Angst des Todes und der Angst des Nichts beziehungsweise der Sinnlosigkeit erwachsenden individuellen Problemfelder als universelle Konfliktbereiche fassbar und offen gelegt. Ob jetzt die Chance zur Existenzerhellung hin zum eigentlichen Existieren ergriffen wird, ist gleichzeitig mit der Frage verknüpft, wie der weitere postkritische Weg verläuft. Immer drohen gefährdende Alternativen in Form destruktiver Prozessabläufe, die zum Scheitern führen.12 Nach dem Übergang in den Rache-Hass-Zirkel entwickelt sich bei Vorliegen weiterer, überwiegend klinisch zu fassender konstellativer Voraussetzungen ein prozesshaftes 9 Vgl. Viktor Emil von Gebsattel, Imago hominis. Numinose Ersterlebnisse, Salzburg 1968. 10 Vgl. Otto, Das Heilige (s. o. Anm. 7). 11 Vgl. Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens. Frankfurt a.M. 1973. 12 Vgl. Hermes Andreas Kick,: Entmythologisierung der Besessenheit oder Aufhebung des klinischen Krankheitskonzeptes? Zum theologischen Begriff der Besessenheit aus psychiatrischer Sicht, in: Fundamenta Psychiatrica 5, 7-11.

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destruktives Krankheitsgeschehen, das wir Psychose nennen. Zur Veranschaulichung soll die folgende klinische Fallschilderung dienen:13 Die bei der stationären Aufnahme 31jährige Patientin galt vor der Erkrankung als gut angepasst und sozial flexibel. Nach dem Mittelschulabschluss hatte sie eine kaufmännische Lehre absolviert und war danach bis zur Ersterkrankung ununterbrochen und erfolgreich als kaufmännische Angestellte bei einer größeren Firma, zeitweise im Außendienst, tätig gewesen. Seit neun Jahren war sie mit einem gleichaltrigen Mann, der den Abschluss des Jurastudiums vor sich herschob, kinderlos verheiratet. Jahrelang stellte sie ihren, wie sie sagte, sehnlichsten Wunsch nach Familiengründung, einem Kind, zurück. Die „Familiengründung“ war für die Zeit nach erfolgreich bestandenem Examen des Ehemannes geplant; „dann sollte sich auch mein Leben erfüllen“, so sagte die Patientin. Obwohl der Ehemann weiterhin das Examen nicht entschieden genug anstrebte, wagte die Patientin eine entscheidende Konfrontation mit ihrem Ehemann nicht. Zwei Jahre vor Beginn der akuten Psychose begann die Patientin eine Gruppentherapie. Diese Gruppe, mit der sie sich sehr verbunden fühlte, löste sich entgegen ihrem Wunsch zwei Monate vor Beginn der akuten Erkrankung auf. Im selben Monat scheiterte der Ehemann bei dem juristischen Staatsexamen. Nach einer kurzen Zeit der Enttäuschung und Verunsicherung entschloss sich die Patientin nun ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, entwarf Trennungspläne, ging bei einer Dienstreise eine außereheliche Beziehung ein, fühlte sich tatkräftig und selbstbewusst. Rückblickend fand die Patientin es merkwürdig, dass sie nicht verzweifelter gewesen sei. Auf dem Rückweg der erwähnten Dienstreise begann die akute Erkrankung: Die Patientin wurde auf der Autobahn von der Polizei gestoppt, weil sie Schlangenlinien fuhr. Es stand sogleich außer Zweifel, dass die Patientin unter dem Eindruck psychotischer, abnormer Bedeutungserlebnisse stand. So äußerte sie unter anderem, durch ein Überfahren der Straßen mit dem Kraftwagen die Erde wieder fruchtbar zu machen, da, wo Beton sich befinde, wieder Gras ergrünen zu lassen. Sie ließ – gedanklich zerfahren – erkennen, dass Wahnideen mit religiöser Thematik hinter ihren Äußerungen standen, so unter anderem, dass sie schwanger sei und Jesus gebären werde. Im Übrigen berichtete sie in polarisiertem Kontrast hierzu von körperlichen Beeinflussungserlebnissen, die sich auf den au13 Hermes Andreas Kick, Psychopathologie und Verlauf der postakuten Schizophrenie, Berlin / Heidelberg 1991, 114 – 115.

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ßerehelichen Partner und die Verbindung mit dunklen Mächten bezogen. Gerät die Person in den Rache-Hass-Zirkel der Selbstverdunkelung, so wird kein neuer Wert gewonnen, sondern die vorbestehenden Werte sind gefährdet und gehen nicht selten vollends verloren. Wird der Weg der Vergeltung gewählt, so beginnt damit ein zerstörerischer und selbstzerstörerischer Prozess sich laufend selbstverstärkenden Hasses und der Rache (Abb. 1). Dieser Hass beziehungsweise Selbsthass schwächt die Persönlichkeit und deren Kreativität. Die Angst der Schuld, des Todes, des Nichts und der Sinnlosigkeit wird nicht bewältigt, sondern verstärkt. Ein Ausgleich kann umso weniger erreicht werden, als das Verhalten neuen Hass und erneute Rache erzeugt. Damit ist der postkritische vitiöse beziehungsweise autodestruktive Zirkel beschrieben, der nach dem Beginn von dynamischen Entgleisungen 14, diese perpetuierend, eine bedeutsame Rolle spielt. Bleibt der affektive Druck über ein bestimmtes kritisches Maß bestehen, mündet er über den beschriebenen vitiösen Zirkel in die bekannten prozesshaften Entgleisungsvarianten, die klinisch als Psychose, Sucht, autodestruktive Persönlichkeitsentwicklung und psychosomatische Erkrankungsprozesse beschrieben sind. Der postkritische vitiöse Zirkel und die sich dadurch ergebende Destabilisierung des Personkerns können auch zu suizidalem und homizidalem Verhalten, also zu Gewaltakten gegen sich und andere führen. In der Verzweiflung der Grenzsituation erwachsen charakteristische Motive, so durch Flucht neue Sicherheit zu gewinnen. Konkret entsprechen sie klassischen existentiellen Versuchungssituationen, wie sie auch in der Vision von Mathis dem Maler zu finden sind. Es ist dies die Versuchung der Macht, der Schönheit und des Eros, der wissenschaftlichrationalen Leistung beziehungsweise materieller Werte, schließlich der spirituellen Geistigkeit, die im Martyrium und Selbstopfer gipfelt. Durch die Verabsolutierung der in den anthropologischen Konstellationen enthaltenen Werte wird nun aber die Verzweiflung nicht wirklich überwunden, sondern führt zu einer Imbalance des Selbst und über den vorgenannten vitiösen Zirkel zur fortschreitenden Verdunkelung und Perpetuierung der Verzweiflung, die in Selbst- oder Fremdzerstörung gipfelt. Wir stoßen hier auf die Gegensatzpaare, auf die Kierkegaard Bezug nimmt (Abb. 2). Es ist dies das Gegensatzpaar von Notwendigkeit und Möglichkeit und von Endlichkeit und Unendlichkeit. Nach Kier14 Vgl. Werner Janzarik, Dynamische Grundkonstellationen in endogenen Psychosen, Berlin 1959.

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kegaard15 gibt es vier Formen der Verzweiflung: die Verzweiflung der Notwendigkeit, die Verzweiflung der Möglichkeit, die Verzweiflung der Unendlichkeit und die Verzweiflung der Endlichkeit. Als Widerspruchswesen hat der Mensch den Auftrag, diese Gegensätze zu einer Synthese zu führen, die gleichbedeutend ist mit einer Balance des Selbst. Der Mensch hat also den Auftrag, in der Balance seine Freiheit zu erhalten, ohne sich der Verabsolutierung einer der Komponenten, der Notwendigkeit oder der Mçglichkeit, der Endlichkeit oder Unendlichkeit hinzugeben. Eugen Drewermann hat diesen Gedanken aufgegriffen und zusätzlich betont, dass eine starke Sehnsucht im Menschen vorhanden sei, sich als Individuum aufzugeben und in der Unfreiheit der Masse zu verschwinden.16 Keine Angst im Menschen sei innerlicher und tiefer als die Angst der Freiheit vor sich selbst. Diese Varianten der Verzweiflung nach Kierkegaard sind zu den vier Grundformen neurotischer Angst in Beziehung zu setzen.17 Einzelheiten können hier unberücksichtigt bleiben unter Hinweis darauf, dass alle Varianten von Imbalancen des Selbst über die Perpetuierung der Verzweiflung schließlich in ein pathologisches Prozessgeschehen münden. Klinisch zu nennen sind Hysterie und Zwang ebenso wie Depression und Psychose. Die Destabilisierung der Person als Ausdruck des Scheiterns der positiven Sinngebung gegenüber dem Übermächtigwerden der Angst der Schuld, des Todes und des Nichts darf umgekehrt als Aufruf zu einer Suche nach einem Weg der kreativen Konsolidierung durch einen neuen, eben zu gestaltenden Wert gehört werden: Die Grenzsituation kann zwar wie dargelegt über den beschriebenen Rache-Hass-Zirkel in eine Katastrophe münden und darin ihren Abschluss finden. Sie kann zum anderen kraft Entschlusses der Person, kraft zusätzlich des Einwirkens des Numinosen im Kairos übergeführt werden in ein Versçhnungsgeschehen. Die Überführung in ein Versöhnungsgeschehen, der Weg heraus aus der Verzweiflung, beginnt mit einer Entscheidung zur Auseinandersetzung. Dahinter steht der Wille, unter den erschwerten Bedingungen der Grenzsituation, das heißt der postkritischen Aufdeckung der conditio 15 Vgl. Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode (Kopenhagen 1849), in: Ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 4, Hamburg 1960 – 1964. 16 Eugen Drewermann, Wege und Umwege der Liebe, Düsseldorf 2005, 38. 17 Vgl. Fritz Riemann, Grundformen der Angst und Antinomien des Lebens. Eine tiefenpsychologische Studie über die Ängste des Menschen und ihre Überwindung, München 1961. Drewermann (s. o. Anm. 16) macht darauf aufmerksam.

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humana als Bedrohung durch Sinnlosigkeit, Tod und Schuld zu einer neuen Balance des Selbst zu gelangen. Friedrich Nietzsche18 schildert in Ecce homo folgendes Erlebnis: „Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block […] machte ich Halt. – Rechne ich von diesem Tage ein paar Monate zurück, so finde ich als Vorzeichen eine plötzliche und im Tiefsten entscheidende Veränderung meines Geschmacks, vor allem in der Musik.“ Er fährt fort: „Der Begriff ,Offenbarung‘, in dem Sinn, daß plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas sichtbar, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Tränenstrom auflöst; bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommenes Außersich-Sein mit dem distinktesten Bewußtsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen […], eine Glückstiefe, in der das Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als bedingt, als herausgefordert […] – die Länge, das Bedürfnis nach einem weit gespannten Rhythmus ist beinahe das Maß für die Gewalt der Inspiration … Alles geschieht im höchsten Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit […] Es scheint wirklich, um an ein Wort Zarathustras zu erinnern, als ob die Dinge selber herankämen und sich zum Gleichnis anböten [… ].“ Nietzsche erlebt hier die tiefe Erschütterung vieler Mystiker, die zunächst einmal das Erlebte nicht einordnen können. Sie gehen durch Himmel und Hölle. Das gewöhnliche Leben und das Geschaute lassen sich am Anfang nur schwer zusammenbringen. Die praktische Anwendbarkeit im Leben scheint unmöglich. Und das alles kann einem Menschen widerfahren, der es nicht gesucht hat. Erotik als ein fundierendes Element der Gestaltung menschlicher Beziehungen ist ein Konfliktfeld par excellence mit höchster dynamischer Aufladung. Kränkungen im Bereich der erotischen Beziehungsgestaltung sind häufig vor Beginn von Grenzsituationen. Zu einer Grenzüberschreitung kommt es häufig dann, wenn die affektive Spannung und Verzweiflung ein kritisches Maß überschreitet. Danach treten, wo nicht der Weg der Vergeltung und Rache oder auch der Krankheit einge18 Vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce homo. Wie man wird, was man ist, Leipzig 1908.

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schlagen wird, sondern der der Versöhnung, nicht selten den weiteren Weg bestimmende Visionen und ekstatische Zustände auf mit einer Erotik höherer Ordnung, so könnte man sagen, einer mystischen Erotik. In der christlichen, aber auch in der nichtchristlichen Mystik, gibt es hierzu eine Fülle von Erfahrungen. Bei Teresa von Avila19 ist zu lesen: „In seiner Hand hielt der Engel einen langen goldenen Speer. Von Zeit zu Zeit senkte er ihn in mein Herz und stieß ihn mir bis ins Innerste. Dann zog er den Speer zurück, und mir war, als wolle er mir die Eingeweide herausreißen; ich verweilte davon entflammt von göttlicher Liebe […] Ich weiß gewiß, der Schmerz durchdringt meine Eingeweide bis auf den Grund, und mir ist, als würden sie zerreißen, wenn mein geistlicher Gemahl den Pfeil zurückzieht, mit dem er sie durchbohrt hat.“

Der Prozess der Versçhnung beruht auf dennoch gelungener Begegnung unter erschwerten pathischen Bedingungen. Eben in solcher Begegnung entsteht eine erweiterte personale Struktur (Identität), die dem Leben dient, entwickelt sich ein neuer gemeinsamer Wert. Wohl ist wahr, dass in der präkritischen Situation das Wertgefüge den andrängenden situativen Herausforderungen nicht gewachsen war. Gerade aus diesem Grunde kam es ja zu einem Anwachsen des dynamischen Druckes, der nicht mehr zu bewältigen war, zur Grenzüberschreitung in Verzweiflung. Grenzüberschreitung bedeutet immer Gefährdung. Um diese zu einer dennoch gelungenen, das heißt versöhnlichen, und somit lebensdienlichen Lösung zu führen, bedarf es zusätzlich eines Kairos und der Einwirkung des Numinosen, Wirkgrößen, über die wir nicht einfach verfügen können. Im Kairos jedoch entwickelt sich aus der Betroffenheit, dem Moment der Angst, in einem zweiten Schritt trotz äußerster Spannung dennoch geordnete Auseinandersetzung, vollzieht sich in einem dritten, konstruktiven Schritt die Lösung. Um auf diesen Weg zu kommen, bedarf es eines künstlerischen Vorgangs, durch den das Werk als Komplement, als Erweiterung von Welt, entsteht.20 Keinesfalls kann es nur darum gehen, die bestehende seelische Ausgangslage wieder herzustellen. Gerade diese hat sich ja als nicht tragfähig genug erwiesen. Notwendig ist es vielmehr, die in der Grenzsituation offengelegten und freigewordenen strukturellen Fragmente der Person zu erfassen und neu zu verknüpfen. Aus ethischer Perspektive entspricht die neue Form einer Balance, die lebensdienlichen Ausgleich und Ordnung ermöglicht. Auf psy19 Teresa von Avila: Gesammelte Werke, München 1960. 20 Vgl. Kick, Umgang mit Mythen (s. o. Anm. 6), 69 – 90.

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chosozialer Ebene findet sich in eins mit der individuellen Lösung eine Bewährung des neuen Wertes als kommunikatives, das heißt intersubjektiv einsetzbares, Hoffnung stiftendes Symbol. Versöhnung bedeutet so die Vereinung von zunächst unvereinbar erscheinenden Widersprüchen, von Dilemmata, zur neuen Form. Für die dauerhafte Stabilisierung eines solchen Ausgleichs ist ein in der Begegnung entdeckter gemeinsamer Wert von elementarer Bedeutung. Mit solchem Wert ist gemeint: dass im Kunstwerk und in der dadurch ermöglichten Begegnung etwas Gewesenes wieder oder etwas Werdendes erstmalig, jedenfalls etwas vorher Unsichtbares zur Anschauung komme und dadurch dem Leben diene. Tab. 1: Postkritische Stadien der Versöhnung und neuer Wert (s. Text) Stadien

1. Nähe

2. Distanz

3. Lösung

Anthropologische Konstellation

universelle Symbiose MenschKosmos-Gott

Polarisierung Lebensdienliche göttlichSynthese dämonisch Versuchung

Erlebnisebene und Handlungsebene

mystische Einheit (Trance)

Vision (EngelDämon)

Erlösungserlebnis mit existentiellen Konsequenzen: Entstehung des neuen Wertes (Komplement von Welt)

Der Weg der Versöhnung in der Grenzsituation bedarf des dreifachen Mutes: Des Mutes zur Nähe, des Mutes zur Distanz und des Mutes zur innovativen Lösung, zu einem neuen Wert, zur Synthese. Der Weg zur Versöhnung kann anhand eines dreischrittigen Ansatzes21 veranschaulicht werden (Tab. 1). In der ersten Phase der Grenzsituation stellt sich die Frage so: Ist es möglich, äußerste Gegensätze zu vereinen? Beispielsweise: „Ist es möglich, jemanden zu lieben, den man hasst?“ In dem Stadium 1 beantwortet sich diese Frage im Sinne der mystischen Einheit mit ja. Die inneren Auseinandersetzungen darüber führen jedoch zur Frage nach dem Grundsätzlichen, nach den Paradoxien der Existenz, zwingen zur Auseinandersetzung mit diesen. Die Entdeckung, dass die bisher führend gewesenen persönlichen Theoremata, Dogmata und Strukturen, die lebensbestimmend waren, nicht halten, vielmehr 21 Kick (s. o. Anm. 6), ebd.

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Grund der Beziehungsblockaden und persönlichen Stagnation sind, verstärkt die Spannung. Die Faszination und gleichzeitige Angst unter den Bedingungen der Grenzsituation stellt die ernsthafte Frage nach der Liebe, der Kraft, die so stark ist wie der Tod. In der Auseinandersetzung (Stadium 2) mit der Angst der Verlassenheit und des Todes, der Angst eigener Schuld und mit dem Zorn über erlittenes Unrecht, in der Auseinandersetzung mit der Angst der Sinnlosigkeit und des drohenden Nichts stellt sich in äußerster Vehemenz die Frage nach dem Religiösen und dem Absoluten. Das erlebnismäßige Korrelat dieses Stadiums ist die Vision. Wenn es gelingt, über die Stufe 2 der Polarisierung hinaus zu gelangen, bedeutet dies vom Absoluten her, in eine künstlerische und ästhetische Distanz zu den bisher geltenden, verabsolutierten, tatsächlich aber relativen Werten zu gelangen. Nur in liebender Distanz der Stufe 3 wird es möglich, zur Entdeckung eigener Verabsolutierungen zu kommen und diese auch entweder im Rahmen von Begegnungen mit einem realen außenweltlichen Partner oder im inneren Diskurs mit einem internalisierten Partner zu dialogisieren und in eine neue transzendierende Gestalt zu bringen. In das Stadium 3 gelangt der, der eine Offenheit im mystischen Zustand der symbiotischen Nähe gewagt (Stadium 1) und die Polarisierung (Stadium 2) durchlebt hat. Der Weg führt auf den Prüfstand, stellt die Frage nach der Tragfähigkeit der gelebten Struktur in äußerster Bedrohung. Versuchungen zur Flucht sind gegeben: zum einen zurück in die illusionistische Pseudo-Harmonie (Fixierung des Stadiums 1), Flucht in die Re-Dogmatisierung der Selbstglorifizierung oder Selbsterniedrigung im Sinne einer Ideologisierung der Polarisierung der Kräfte (Paranoia als Fixierung de Stadiums 2). Wichtig zu wissen ist indessen, dass nur über das Stadium 2 der erlebten Polarisierung sich die Chance eröffnet, in das Stadium 3 der mystischen Vollendung im Erlösungserlebnis, einer Lösung mit existentiellen Konsequenzen, zu gelangen. Eine solche Lösung geht einher mit einer Wesenserkenntnis von Selbst und Welt, einer Erkenntnis ihrer inneren Beziehung und zugleich deren Überwindung durch die Transzendierung der bisher gültigen Werte und Mythen. In einem solchen dreischrittigen, poetischen Prozess geht es um nichts weniger als um die Aufhebung des Gesetzes durch die Liebe in einer neuen künstlerischen Gestalt, einem Komplement von Welt.22 Liebe erweist sich so als eine Fähigkeit und eine epistemologische – erkenntnismäßige – Grundvoraussetzung wahrer 22 Kick (s. o. Anm. 6), ebd.

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Erkenntnis seiner Selbst, des anderen und der Welt, die ihre Bewährungsprobe in der Grenzsituation zu bestehen hat.

III. Ethische Konsequenzen

Fragen an einen Weggefährten Johannes Fischer 1 Manchmal tritt der denkwürdige Fall ein, dass aus Trennendem Verbindendes hervorgeht und dass sich aus Kontroversen Weggefährtenschaft entwickelt. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn zwei Menschen sich, ohne ihre Differenzen überwinden und ausräumen zu können, aufgrund besonderer Umstände dennoch zusammenfinden und auf etwas verständigen müssen, dem sie aus innerer Überzeugung gemeinsam zustimmen können. Von dieser Art ist die Verbundenheit, die ich in Bezug auf Wilfried Härle empfinde, und das Wort ,Weggefährtenschaft‘ gibt dieser Verbundenheit treffend Ausdruck. In den Jahren, in denen Wilfried Härle sich als Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) große Verdienste erworben hat, haben wir so manche Kontroverse ausgefochten. Es ging um Stammzellforschung, Präimplantationsdiagnostik oder Sterbehilfe, um Menschenwürde oder das evangelische Verständnis der Person, und im Hintergrund standen unsere unterschiedlichen Auffassungen von Theologie und Ethik. Bei der Abfassung der bio- und medizinethischen Texte der Kammer haben wir bis zuletzt um einzelne Formulierungen gerungen. Gemeinsam war uns die Überzeugung, dass unsere Differenzen nicht zur Blockade für die Arbeit der Kammer werden durften, sondern dass wir konstruktive Lösungen finden mussten. Vielleicht brachte sich in diesem Bemühen etwas davon zur Geltung, dass der Geist, aus dem die evangelische Kirche lebt, sich nicht nur in ihren Konsensen zeigt, sondern mehr noch in der Art und Weise, wie sie mit Dissens umzugehen versteht, nämlich in der Haltung des Respekts vor dem, der anders denkt. So gesehen fällt gerade vom Trennenden her ein umso helleres Licht auf das Verbindende, dem das Trennende, so mühsam, ja belastend es auch manchmal gewesen ist, doch nichts anhaben kann. Gemeinsam ist uns die Überzeugung, dass Gegensätze nicht übertüncht oder unter dem Teppich gekehrt werden dürfen. Ich habe über die Jahre die Beharrlichkeit schätzen gelernt, mit der Wilfried Härle nach-

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fragte und verstehen wollte, was genau es ist, das mich anderer Meinung sein ließ als er, und ob es sich dabei tatsächlich um unüberbrückbare Gegensätze handelte. Das zwang dazu, die eigenen Positionen zu überdenken, und es hat der Klärung gedient. Es entspricht diesem spezifischen Charakter meiner Verbundenheit mit Wilfried Härle, wenn ich ihr im Folgenden in der Weise Ausdruck gebe, dass ich aus meiner Sicht so klar und prägnant, wie es mir möglich ist, zu benennen versuche, was uns in unseren Auffassungen von Theologie und Ethik trotz aller Verständigungsbemühungen trennt. Ich betrachte dies als Teil der kritischen Weggefährtenschaft, die mich mit ihm verbindet.

2 Würde man Wilfried Härle und mich auffordern, den Grundzug des Denkens des jeweils anderen zu benennen, an dem sich die eigene Kritik entzündet, dann würde er mich vermutlich als einen „Subjektivisten“ charakterisieren – sicherlich ohne diesen Ausdruck zu verwenden, dazu ist er Schlagworten gegenüber viel zu reserviert und sprachgenau, aber doch der Sache nach –, der dasjenige, worum es auf dem Gebiet des Glaubens und der Moral geht, in der Wahrnehmung, Intuition oder dem Gefühl fundiert, während ich ihn als einen „Objektivisten“ charakterisieren würde, der die Wahrheit des Glaubens und der Moral in Bedingungen aufsucht, die all unserem subjektiven Wahrnehmen, Erkennen oder Fühlen verbindlich vorgegeben sind. Vermutlich würden wir uns dann beide gegen diese Charakterisierungen entschieden verwahren, da wir unser eigenes Denken als sehr viel differenzierter begreifen. Aber ich glaube doch, dass sie etwas treffen von dem, was uns in unserem theologischen und ethischen Denken trennt und was im Hintergrund unserer Kontroversen gestanden ist. Ich kann nur für meine Sicht sprechen, und ich will diese zunächst an Wilfried Härles Konzeption der Theologie verdeutlichen. Wilfried Härle begreift die Theologie als eine Wirklichkeitswissenschaft.1 Als solche hat 1

Ich verwende diesen Ausdruck in dem Sinne, wie ihn Heinrich Scholz gebraucht hat, vgl. Ders., Wie ist evangelische Theologie als Wissenschaft möglich?, in: Zwischen den Zeiten 9 (1931), 8 – 53. Wirklichkeitswissenschaften sind z. B. die Physik oder die Soziologie im Unterschied zur Mathematik oder Logik. Auch Scholz war bei seinen Anfragen an die Theologie Karl Barths der Meinung, dass die evangelische Theologie, wenn sie denn eine Wissenschaft ist, eine

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sie es mit Gott und der durch Gott bestimmten Wirklichkeit zu tun. Sie teilt dabei die Perspektive des Glaubens beziehungsweise „geschieht aus der Perspektive des Glaubens heraus“2. Als Wissenschaft macht sie sich die Überprüfung der Wahrheit der Glaubensaussagen zur Aufgabe. Methodisch verfährt sie dabei nach dem deduktiv-hypothetischen Wissenschaftsmodell, wie es durch Karl Popper formuliert worden ist. Gemäss diesem Modell hat sie die Aussagen des christlichen Glaubens als „Hypothesen“3 zu „bewähren“, indem sie sie mitsamt ihren logischen Implikationen der Möglichkeit der Falsifizierung aussetzt.4 Diese Auffassung von Theologie wirft aus meiner Sicht eine Reihe von Fragen auf. Erstens: Wie kann die wissenschaftliche Theologie einerseits die Perspektive des christlichen Glaubens teilen und andererseits nach dem deduktiv-hypothetischen Wissenschaftsmodell verfahren? Der Glaube unterstellt die Wirklichkeit dessen, woran er glaubt, mit kategorischer Bestimmtheit. Wissenschaftliche Hypothesen sind demgegenüber keine kategorischen, sondern hypothetische Wahrheitsunterstellungen: ,Angenommen, A ist der Fall: Welche Konsequenzen B, C, D usw. ergeben sich hieraus?‘. Ein Wissenschaftler, der von der Wahrheit einer bestimmten Aussage ausgeht, behandelt diese gerade nicht als eine Hypothese. Was soll daher gelten: Dass die wissenschaftliche Theologie aus der Perspektive des Glaubens heraus geschieht, also diese Perspektive teilt? Oder dass sie nach dem deduktiv-hypothetischen Modell verfährt und dementsprechend gerade nicht von der Wahrheit der Glaubensaussagen ausgeht, sondern diese als Hypothesen behandelt? Damit steht ein zweites Problem in engem Zusammenhang. Wenn die wissenschaftliche Theologie die Perspektive des Glaubens teilt, dann ist ihr Gegenstand Gott beziehungsweise die durch Gott bestimmte Wirklichkeit. Verfährt sie hingegen nach dem deduktiv-hypothetischen Modell, dann ist ihr Gegenstand der Gottesgedanke beziehungsweise der Gedanke der durch Gott bestimmten Wirklichkeit, den sie zu bewähren sucht, indem sie seine logischen Implikationen dem Falsifizierungstest unterwirft.5 Was also ist Gegenstand der wissenschaftlichen Theologie: Gott oder der Gottesgedanke?

2 3 4 5

Wirklichkeitswissenschaft ist. Vgl. zu dieser Auffassung auch Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1977. Wilfried Hrle, Dogmatik, Berlin/ New York 1995, 10. A.a.O., 22 f. Vgl. a.a.O., 23 f. Vgl. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie (s. o. Anm. 1), 301 f.

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Dies führt zu einem dritten Problem: Um als Hypothesen aufgefasst werden zu können, müssten Glaubensaussagen Urteilscharakter haben. Urteile sind durch einen selbstbezüglichen Anspruch hinsichtlich der Wahrheit der Aussage charakterisiert, die sie formulieren. Mit dem Urteil ,Angela Merkel ist die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland‘ wird der Anspruch erhoben, dass die Aussage ,Angela Merkel ist die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland‘ wahr ist. Sind Glaubensaussagen von dieser Art? Wilfried Härles Beispiele sind die Aussagen „Herr ist Jesus (Christus)“ (Röm 10, 9 u. ö.), „Er ( Jesus Christus) ist auferstanden“ (Mt 28, 6 u. ö.) oder „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ (Mt 16, 16), die er wissenschaftstheoretisch als Hypothesen interpretiert.6 Ist dies sachgemäss? Falls mit dem gottesdienstlichen Ausruf „Herr ist Jesus (Christus)!“ überhaupt ein Anspruch verbunden ist, dann bezieht sich dieser ersichtlich darauf, dass Jesus Herr ist, nicht aber darauf, dass die Aussage ,Jesus ist Herr‘ wahr ist. Es wird also mit dieser Glaubensaussage kein Urteil formuliert.7 Dasselbe gilt für die anderen beiden Beispiele oder auch für eine Glaubensaussage wie „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selbst“ (II Kor 5, 20). Hierin unterscheiden sich Glaubensaussagen von wissenschaftlichen Feststellungen. Letztere haben Urteilscharakter, und Hypothesen sind Urteile, für die Wahrheit hypothetisch unterstellt wird. Wenn aber Glaubensaussagen gar keinen selbstreflexiven Anspruch auf Wahrheit erheben, dann verlangen sie auch nicht nach irgendeiner Art von Verifikation oder wissenschaftlicher „Bewährung“. Mit dem hypothetisch-deduktiven Modell wird daher etwas an sie herangetragen, was ihrem Wesen zuwider läuft. Wilfried Härle wäre nicht der sprachsensible Theologe, der er ist, wenn ihm das hier liegende Problem entgangen wäre. „Vom Selbstverständnis des christlichen Glaubens her ist es jedoch missverständlich, ja in gewisser Hinsicht sogar inakzeptabel, solche Fundamentalaussagen als 6 7

Vgl. Hrle, Dogmatik (s. o. Anm. 2), 23. Vielleicht wird man einwenden, dass dies in Bezug auf die Glaubensaussage als solche zwar richtig ist, dass aber gleichwohl derjenige, der eine solche Glaubensaussage macht, implizit ein solches Urteil fällt und sich damit in eine Rechtfertigungspflicht in Bezug auf dessen Wahrheit bringt. Ich halte diese Auffassung für falsch und habe meine diesbezüglichen Argumente entwickelt in: Johannes Fischer, Behaupten oder Bezeugen? Zum Modus des Wahrheitsanspruchs christlicher Rede von Gott, in: ZThK 87 (1990), 224 – 244. Ich würde diesen Aufsatz heute in mancher Hinsicht anders schreiben und insbesondere nicht mehr von einem „Wahrheitsanspruch christlicher Rede von Gott“ sprechen. Aber die zentrale These scheint mir nach wie vor gültig zu sein.

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,Hypothesen‘ zu bezeichnen. Für Menschen, die von der Wahrheit und Bedeutung dieser Aussagen ergriffen worden sind, also in existentieller Hinsicht, handelt es sich dabei gerade nicht um Hypothesen (im Sinne von Vermutungen oder nur bedingt gültigen Sätzen), sondern um tragende Gewissheiten, für die nicht wenige Menschen Hab und Gut, ja Leib und Leben aufs Spiel gesetzt und verloren haben. Wenn solche Fundamentalaussagen als ,Hypothesen‘ bezeichnet werden, so gilt das ausschliesslich in wissenschaftstheoretischer Hinsicht. Und in dieser Hinsicht ist die Bezeichnung akzeptabel.“8 Wenn freilich der Glaubende dessen existentiell gewiss ist, was jene Aussagen zum Ausdruck bringen, wozu bedarf es dann überhaupt der wissenschaftstheoretischen Transformation solcher Aussagen in hypothetische Urteile, deren Wahrheitsanspruch durch die wissenschaftliche Theologie im Falsifizierungsverfahren „bewährt“ werden soll? Im Kern geht es hier um die Frage, wozu es überhaupt wissenschaftliche Theologie braucht. In Bezug auf eine Auffassung von Theologie, welche die wissenschaftliche Überprüfung und Bewährung der Wahrheit des christlichen Glaubens als deren Aufgabe statuiert, haben aus meiner Sicht die Anfragen nach wie vor Gültigkeit, die Franz Overbeck an die Theologie seiner Zeit richtete: „Daher ist denn auch das Thun jeder Theologie, sofern sie den Glauben mit dem Wissen in Berührung bringt, an sich selbst und seiner Zusammensetzung nach ein irreligiçses, und kann keine Theologie jemals entstehen, wo nicht neben das religiöse Interesse sich diesem fremde stellen.“9 Nach Overbecks Sicht verhalten sich diese fremden Interessen zum Glauben und zur Religion, denen sie zu dienen vorgeben, in Wahrheit rein destruktiv. Dass „das Christenthum für die Theologie ein wissenschaftliches Problem“ ist, bedeutet nach dieser Sicht nichts anderes, „als dass die Theologie das Christenthum als Religion problematisch macht, das heißt als solche überhaupt in Frage stellt. Und zwar gilt dies von aller Theologie, welches auch ihre Resultate sein mögen. Denn selbst das Resultat, die Ehrlichkeit seiner Gewinnung vorausgesetzt, würde hier die apologetische Theologie mindestens nicht günstiger stellen als die kritische, da auch die apologetische Theologie, wenn von ihr das Christenthum wissenschaftlich bewiesen wäre, es als Religion vernichtet hätte.“10 8 Hrle, Dogmatik (s. o. Anm. 2), passim. 9 Franz Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, (Leipzig 1903) Darmstadt 31963, 24 f. 10 A.a.O., 35.

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Man muss Overbecks radikal theologiekritische Auffassung nicht teilen, um doch von ihr lernen zu können, dass es sehr gute Gründe braucht, um überhaupt so etwas wie wissenschaftliche Theologie verantworten zu können. Sollen hier nicht „neben das religiöse Interesse sich diesem fremde stellen“, dann können diese Gründe nur im christlichen Glauben selbst liegen. Nach dem Gesagten braucht es wissenschaftliche Theologie nicht deshalb, weil der Glaube danach verlangen würde, dass die Wahrheit seiner Aussagen verifiziert oder bewährt wird. Vielmehr gibt es nur einen einzigen im Glauben selbst liegenden Grund, warum es solche Theologie braucht, und das ist die Tatsache, dass das Verstndnis von Begriffen, Vorstellungskomplexen, Aussagen oder Gedankenzusammenhängen der Glaubensüberlieferung dunkel und unklar sein kann. Die Klärung dieses Verständnisses – zum Beispiel des Ausdrucks ,Gerechtigkeit Gottes‘ bei Paulus – ist keine Frage von Glaubensüberzeugungen, sondern etwas, das mit Notwendigkeit auf die Ebene des philologischen, historischen und systematischen Wissens führt und nur auf dieser Ebene erfolgen kann. Wird sie in dieser Weise begriffen, dann ist die wissenschaftliche Theologie keine Wirklichkeitswissenschaft, die Gott zu ihrem Gegenstand hat, sondern eine hermeneutische Disziplin, die das Verstndnis Gottes zum Gegenstand hat, wie es in den christlichen Glaubenszeugnissen begegnet. Ihr Ziel ist der gelebte Glaube, den sie zu einem besseren Verstehen dessen anzuleiten sucht, was er glaubt, und zwar nicht bloss im Sinne eines philologischen oder historischen Verstehens, sondern eines existentiellen, das je eigene Leben betreffenden Verstehens. Gott ist hiernach allein Gegenstand solchen Verstehens, das heißt Glaubens, nicht aber des wissenschaftlichen Wissens. Ich möchte es vorsichtig als Frage formulieren, ob nicht Wilfried Härles Konzeption von Theologie letztlich eine apologetische Zielsetzung zugrunde liegt, nämlich gegenüber denen, die im Rahmen des wissenschaftlichen Weltbilds die Wahrheit des Glaubens bezweifeln – und dabei Glaubensaussagen im Sinne von Urteilen missverstehen –, dessen Wahrheit zu erweisen oder zu bewähren. Sollte es sich in dieser Weise verhalten: Muss man sich dann nicht darüber Rechenschaft geben, dass dieses Weltbild massgeblich durch den Siegeszug der Naturwissenschaften geprägt worden ist und dass auch das deduktiv-hypothetische Modell für diese Art von Wissenschaften entwickelt worden ist? Was tut man, wenn man dieses Modell auf die Theologie überträgt? Soll die Theologie ernstlich dem fundamentalen Missverständnis nachgeben, dem sich die Religion im Rahmen dieses Weltbilds ausgesetzt sieht, indem sie die Wahrheit des christlichen Glaubens innerhalb dieses Rahmens wis-

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senschaftlich zu bewähren sucht? Müsste sie nicht vielmehr dieses Missverständnis aufklren, und zwar indem sie die Eigenart von Äusserungen beziehungsweise Aussagen des Glaubens hermeneutisch reflektiert und analysiert und deren fundamentale Unterschiedenheit von Urteilen und insbesondere wissenschaftlichen Urteilen verdeutlicht? Wilfried Härles theologische Konzeption führt jedenfalls zur Einnahme eines anderen Standpunkts jenseits des Glaubens, eben des wissenschaftlichen, von dem aus die Bewährung der Wahrheit der Glaubensaussagen methodisch geleistet werden können soll. Hat Franz Overbeck nicht schärfer gesehen, wenn er feststellt, dass dies in der Konsequenz zur Destruktion von Glaube und Religion führt? Die reformatorische Theologie unterschied zwischen dem credere Deum esse, dem credere Deo und dem credere in Deum (fiducia). Vorausgesetzt, es kann mit dem deduktiv-hypothetischen Modell in theologischer Hinsicht überhaupt etwas gezeigt werden: Kann damit mehr gezeigt werden als das Deum esse in dem weiten Sinne, in dem es Gottes Sein und (zum Beispiel schöpferisches) Handeln als facta mitumfasst? Und soll tatsächlich hierauf der methodische Fokus der wissenschaftlichen Theologie liegen? Führt dies nicht gerade weg von jenem existentiellen credere in Deum, das nach reformatorischer Sicht allein selig macht? Oder sollte ernstlich dies die Meinung sein, dass das credere in Deum die wissenschaftliche Bewährung des Deum esse zur Voraussetzung hat? Wie kann es dies, wenn es selbst gar keinen Urteilscharakter hat? Wenn zwischen beidem aber kein Voraussetzungsverhältnis besteht, wozu braucht es dann diese Art von theologischer Wirklichkeitswissenschaft? In seiner Dogmatik hat Wilfried Härle freilich seine an Popper geschulte wissenschaftstheoretische Auffassung von Theologie nicht wirklich streng und bis in alle Konsequenzen durchgeführt, und es findet sich darin vieles, was ich eher einer hermeneutischen Konzeption von Theologie zuordnen würde. Gerne füge ich hinzu, dass ich daraus manches dankbar gelernt habe. Trotz des Trennenden im Grundsätzlichen unseres Denkens scheint mir eine Verständigung in theologischen Einzelfragen keineswegs unmöglich zu sein. Ich möchte daher die Vermutung wagen, dass wir uns in dem, was uns theologisch antreibt, vielleicht näher stehen, als es unsere fundamentaltheologischen Differenzen erwarten lassen.

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3 Die Suche nach einem „objektiven“ Standpunkt, der über das persönliche, „subjektive“ Involviertsein hinausführt und der es erlaubt, unsere Orientierung innerhalb der Lebenswirklichkeit auf Grundlagen zu stellen, die von unserem Wahrnehmen, Fühlen, Wollen oder Entschliessen unabhängig sind und die uns verbindlich vorgegeben sind, scheint mir auch für Wilfried Härles ethisches Denken charakteristisch zu sein. In der Debatte über den ontologischen und moralischen Status des vorgeburtlichen Lebens sind es nach seiner Sicht die biologischen Eigenschaften von Embryonen, die diese zu Menschen und somit zu Trägern von Menschenwürde machen.11 In der Debatte über die Sterbehilfe sind es die kausalen Wirkungen einer ärztlichen Entscheidung, von denen nach seiner Sicht abhängt, ob es sich um aktive oder um passive Sterbehilfe handelt.12 Aus meiner Sicht wirft dies die Frage auf, ob man in Anbetracht unseres heutigen Wissens über Moral von einer solchen Objektivität ernstlich noch ausgehen kann. Es ist heute gesicherte Erkenntnis der empirischen Moralforschung in Psychologie und Neurobiologie, dass moralische Wertungen auf der emotionalen Bewertung von Handlungen und Situationen beruhen.13 Daher sind wir, wenn es um moralische Sachverhalte geht, immer schon subjektiv involviert. Was wir zum Beispiel mit den Sterbehilfeunterscheidungen verbinden, sind nicht Kausalabläufe, sondern emotional besetzte, normativ gehaltvolle situative ,Muster‘ oder Szenarien – ,Da wird ein Mensch getçtet!‘, ,Mit diesem Therapieverzicht wird das Sterben eines Menschen zugelassen‘ –, die wir in konkreten Situationen und Handlungen wiedererkennen und die uns entsprechend auf diese eingestellt machen. Ob eine ärztliche Handlung aktive Sterbehilfe ist, das hängt daher davon ab, ob sie zu Recht unter diesem Muster wahrgenommen werden kann, und das erfordert einerseits eine Klärung dessen, was dieses Muster beinhaltet, und andererseits eine genaue Feststellung dessen, was der betreffende Arzt tatsächlich getan hat. 11 Vgl. Wilfried Hrle, Menschenwürde – konkret und grundsätzlich, in: Ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, 381 ff. 12 Vgl. Wilfried Hrle, Nein zur aktiven Sterbehilfe, in: zeitzeichen 3/2005, 8 – 11. 13 Vgl. Johannes Fischer, Grundlagen der Moral aus ethischer Perspektive und aus der Perspektive der empirischen Moralforschung, in: Ders./Stefan Gruden, Die Struktur der moralischen Orientierung. Interdisziplinäre Perspektiven, Berlin 2010, 19 – 48.

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Demgegenüber haben sich alle Versuche, die Sterbehilfeunterscheidungen an objektiven Eigenschaften von Handlungen festzumachen, als erfolglos erwiesen. Dass es im Bereich der Moral keinen objektiven Standpunkt gibt, das zeigt sich vor allem daran, dass es keinen einzigen moralischen Begriff gibt, der sich rein begrifflich bestimmen lässt, das heißt ohne Rekurs auf die Anschauung oder Vorstellung, bei der wir immer schon emotional engagiert sind. Ein Beispiel ist der Begriff der Menschenwürde. Ersichtlich lässt sich der Gehalt dieses Begriffs nicht ohne den Rekurs auf die Anschauung beziehungsweise Vorstellung von Verletzungen bestimmen, die Menschen zugefügt werden können. Dieser Rekurs ist zum Beispiel wichtig im Blick auf Versuche, den Gehalt dieses Begriffs auf einen einzigen Aspekt zu reduzieren. So ist der Vorschlag gemacht worden, die Menschenwürde als das Recht aufzufassen, nicht erniedrigt, das heißt in seiner Selbstachtung verletzt zu werden.14 Ersichtlich ist diese Definition viel zu eng. Wenn im Bosnien-Krieg die serbische Soldateska mit Lastwagen über gefangene Muslime hinweg gefahren ist, dann betrachten wir dies zweifellos als eine Menschenwürdeverletzung. Doch soll diese tatsächlich darin bestanden haben, dass die Muslime durch diese Art der Tötung in ihrer Selbstachtung verletzt worden sind? Das mutet wie eine Verharmlosung des Geschehenen an. Die Muslime wurden schließlich auf brutale Weise umgebracht. Dasselbe lässt sich gegen die bei Kant zu findende Reduktion der Menschenwürde auf den Gedanken der Autonomie geltend machen. Soll die Menschenwürdeverletzung in diesem Beispiel sich tatsächlich darauf beschränken, dass die Autonomie der Muslime missachtet worden ist? Solche Beispiele verdeutlichen, wie problematisch ein begriffliches Denken auf dem Gebiet der Moral ist, das sich von der Anschauung und Vorstellung entfernt. Moralische Begriffe wie Grausamkeit, Erniedrigung oder Menschenwürde sind die sprachliche Artikulation erlebter beziehungsweise narrativ vergegenwärtigter Wirklichkeit, und sie können daher in ihrem Gehalt nur durch den Rückbezug auf diese Wirklichkeit expliziert werden, und dabei sind wir subjektiv involviert beziehungsweise emotional engagiert im Hinblick auf das, was sich uns solchermassen vor Augen stellt. Man mag sich an diesem Beispiel aus dem Bosnienkrieg die Bedeutung von Emotionen für die ethische Urteilskraft verdeutlichen. Es ist die emotionale Bewertung 14 Vgl. Peter Schaber, „Menschenwürde als das Recht, nicht erniedrigt zu werden“, in: Ralph Stoecker (Hg.), Menschenwürde – Annäherung an einen Begriff, Wien 2003, 119 – 131.

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des Geschehenen, die den Blick auf das Wesentliche lenkt und erkennen lässt, dass dessen Reduktion auf den Gedanken der Erniedrigung oder der Autonomie der Menschenwürdeverletzung, die hier geschehen ist, inadäquat ist. Hierin zeigt sich die kognitive Bedeutung von Emotionen. Sie generieren Erkenntnisse, die wir auf keine andere Weise gewinnen können.15 Ich habe zur Charakterisierung der Differenz zwischen Wilfried Härles Standpunkt und dem meinigen von der Unterscheidung „objektiv“-„subjektiv“ Gebrauch gemacht. Vielleicht würde Wilfried Härle für die Charakterisierung seines Standpunkts den Begriff der Rationalitt bevorzugen und dementsprechend an den meinigen die kritische Anfrage richten, inwiefern dieser dem Anspruch auf Rationalität genügt. Der Ausdruck ,Rationalität‘ ist mehrdeutig. Gemeint sein kann in dem hier in Rede stehenden Zusammenhang nur die argumentative Rationalität, im Unterschied zum Beispiel zur Zweckrationalität. Argumente sind Gründe, mit denen der Sprecher einem anderen zeigt, dass ein Urteil wahr oder dass es falsch ist. Wenn zutrifft, dass die Moral emotionale Grundlagen hat – was, wie gesagt, nach heutiger Erkenntnis als gesichert gelten muss –, dann kann die Wahrheit eines moralischen Urteils mit keinem Argument dieser Welt aufgewiesen werden.16 Vielmehr kann sie sich dann einem anderen nur selbst zeigen, indem er sich die betreffende Situation oder Handlung vor Augen führt beziehungsweise führen lässt und sie dabei emotional bewertet. Aus der Tatsache, dass moralische Wahrheit nicht argumentativ aufgewiesen werden kann, folgt jedoch nicht, dass es keine ethischen Argumente geben kann, im Gegenteil. Diesbezüglich muss zwischen Moral einerseits und Ethik als Moralreflexion andererseits unterschieden werden. So habe ich soeben gegen die Engführung des Gedankens der Menschenwürde auf den Gedanken der Erniedrigung oder der Autonomie argumentiert. Ich habe dies getan, 15 Vgl. hierzu Christoph Ammann, Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik, Stuttgart 2007. 16 Diese Auffassung hat bereits vor einem Jahrhundert Harold Arthur Prichard mit scharfsinnigen Argumenten vertreten. Vgl. Ders., Beruht die Moralphilosophie auf einem Irrtum?, In: Günther Grewendorf/Georg Meggle (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M. 1974, 61 – 82. Prichard kommt zu dem Ergebnis, „dass wir nicht durch eine Argumentation (…) zur Erkenntnis einer Verpflichtung gelangen“ (a.a.O., 71). Vielmehr ist „das Gefühl der Verpflichtung zu einer bestimmten Handlung oder die Richtigkeit dieser Handlung (…) absolut primär (d. h. von nichts anderem abgeleitet) beziehungsweise unmittelbar“ (a.a.O., 69).

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indem ich jenes Beispiel aus dem Bosnienkrieg vor Augen gestellt habe, an dem sich dem Leser selbst zeigt, dass der Begriff der Menschenwürde weitaus umfassender ist, als solche Engführungen es nahe legen, und ich habe mit der Vergegenwärtigung dieses Beispiels und des sich darin Selbst-Zeigenden dem Leser gezeigt, dass es sich in dieser Weise verhält. Insofern habe ich mit diesem Beispiel argumentiert, und zwar ethisch argumentiert, insofern es um einen moralischen Begriff beziehungsweise Sachverhalt ging. Aber ich habe nicht rational im Sinne eines Verständnisses von ,Rationalität‘, das ohne Rekurs auf Anschauung und Vorstellung meint auskommen zu können, hergeleitet, dass die grausame Tötung von Menschen eine Menschenwürdeverletzung oder dass sie moralisch verwerflich ist. Die Vorstellung, man könne dies tun und moralische Urteile rational beziehungsweise argumentativ begründen, halte ich für eine Verirrung des Denkens, von der große Teile der heutigen Moralphilosophie erfasst sind. Sie hat zur Folge, dass sich die Ethik in begriffliche und gedankliche Abstraktionen verliert und blind wird für die Lebensphänomene.17 Man operiert dann mit einem Begriff wie ,Menschenwürde‘ so, als ob es sich dabei um etwas objektiv, das heißt unabhängig von Anschauung und Vorstellung Gegebenes handeln würde, auf das man sich nach Belieben berufen kann. Die Folge ist begriffliche Verwilderung. Demgegenüber manifestiert sich moralische und ethische Sensibilität nach meinem Verständnis gerade im genauen Hinschauen auf die Situationen und Lebenslagen, in denen Menschen sich befinden. Das gilt insbesondere für den Bereich der Medizin, auf den vor allem sich die Kontroversen zwischen Wilfried Härle und mir bezogen haben. Könnte es sein, dass es im Tiefsten die Sorge ist, dass alles subjektiv und beliebig wird, wenn der Anspruch auf eine rationale beziehungsweise objektive Rechtfertigung oder „Bewährung“ des Glaubens und der Moral aufgegeben wird, welche im Hintergrund von Wilfried Härles Auffassung von Theologie und Ethik steht und welche zu den Unterschieden im Grundsätzlichen unseres Denkens führt? Wenn es sich so verhält, dann verdient diese Sorge zweifellos großen Respekt. Gleich17 Vgl. dazu Johannes Fischer, Ethik als rationale Begründung der Moral? Über eine moralphilosophische Verirrung, http://www.ethik.uzh.ch/ise/publikationen/publikationen-1.html, letzter Zugriff am 10. 8. 2010. Es handelt sich um einen Text, den ich für eine interne Diskussion mit den Philosophinnen und Philosophen am Ethikzentrum der Universität Zürich geschrieben habe. Vgl. zu dieser Problematik auch: Johannes Fischer, Sittlichkeit und Rationalität. Zur Kritik der desengagierten Vernunft, Stuttgart 2010.

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wohl ist aus meiner Sicht zu fragen, ob wir uns der Einsicht entziehen können, dass die Lebenswirklichkeit nun einmal so verfasst ist, dass sie sich nur im persönlichen Involviertsein erschließt, und zwar sowohl im Bereich des Glaubens als auch im Bereich der Moral, und dass es keinen rationalen oder „objektiven“ Standpunkt „dahinter“ gibt, den wir einnehmen könnten, um uns dessen zu vergewissern, was sich uns solchermaßen „subjektiv“ erschlossen hat. Dies muss ja nicht bedeuten, dass wir uns nicht mit Grnden im Leben orientieren und intersubjektiv über diese Gründe verständigen können. Denn dieses Involviertsein vollzieht sich im Medium einer gemeinsamen Sprache, Kultur und religiösen Überlieferung. Das Beispiel der Menschenwürdeverletzung im Bosnienkrieg macht anschaulich, dass und wie solche Verständigung möglich ist. Ein Letztes sei in diesem Zusammenhang noch angefügt. Ich habe den Unterschied zwischen Wilfried Härles Denken und dem meinigen bewusst nicht mit einem Begriffspaar gekennzeichnet, das sich hier ja ebenfalls nahe legen könnte, nämlich Realismus versus Antirealismus. Der Grund hierfür ist, dass ich mich ebenfalls als einen Realisten betrachte. Die Lebenswirklichkeit, wie ich sie soeben beschrieben habe, nämlich als etwas, das nur im persönlichen Involviertsein erschlossen ist, ist eine Realitt. Daher trifft jenes Begriffspaar den Unterschied in unserem Denken nicht, und ich habe deshalb statt von ,Realismus‘ von ,Objektivismus‘ gesprochen im Sinne einer Auffassung, die mit dem Wort ,Realität‘ etwas verbindet, das unabhängig von unserem Wahrnehmen, Fühlen oder Erkennen gegeben ist. Dies ist die Vorstellung, die wir mit der natürlichen Welt verbinden, nämlich dass sie unabhängig von uns Menschen existiert. Der Mond ist rund, auch wenn es im ganzen Universum kein Wesen gäbe, das dies wahrnehmen könnte. Für mein Verständnis ist es eine Folge des Siegeszugs der modernen Naturwissenschaften, dass diese Auffassung von ,Realität‘ weithin bestimmend geworden ist auch für das Verständnis der menschlichen Lebenswirklichkeit. Hierdurch erst kommt es zu der irreführenden Alternative ,subjektiv-objektiv‘. Das lässt sich zum Beispiel an der Wertphilosophie verfolgen, in der es eine Debatte darüber gibt, ob Werte „objektiv“ existieren oder „subjektiv“ auf eine an sich wertneutrale Welt projiziert sind. Oder es lässt sich an dem Begriff ,natürlicher Eigenschaften‘ in der Metaethik festmachen. Hiermit verbindet man Eigenschaften von Handlungen, Situationen oder Entitäten, die genauso objektiv wie die Eigenschaften des Mondes gegeben sind. Die Vorstellung ist dann, dass moralischer Wert supervenient mit diesen Eigenschaften gegeben ist, und

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das bedeutet, dass er genauso objektiv gegeben ist wie diese.18 Grausamkeit als ein thick moral concept ist dann mit den natürlichen Eigenschaften der grausamen Handlung gegeben, die moralische Qualität der aktiven Sterbehilfe ist mit der kausalen Eigenschaft der betreffenden Handlungen, den Tod eines Menschen zu bewirken, gegeben, die Menschenwürde ist mit Eigenschaften wie der Vernunftfähigkeit oder der Handlungsfähigkeit19 des Menschen gegeben, oder im Falle von Embryonen mit deren biologischen Eigenschaften. Ich möchte Wilfried Härle nichts unterstellen und es daher in Gestalt einer Frage formulieren, die sich mir aufgrund seiner medizin- und bioethischen Texte aufdrängt: Könnte es sein, dass er aus der genannten Sorge bezüglich subjektiver Willkür und Beliebigkeit heraus diese Art von „objektivistischem“ Realismus vertritt? Könnte es sein, dass er es aufgrund dieser Sorge unbedingt vermeiden möchte, dass es letztlich von unserem „subjektiven“ Bewerten abhängt, was moralisch gut oder was moralisch richtig ist, und dass er deshalb das Gute und Richtige – paradigmatisch etwa in Gestalt der Menschenwürde – als etwas „objektiv“ Gegebenes festhalten möchte? Wie dem auch sei – aus meiner Sicht liegt das Fragwürdige dieser Art des Denkens darin, dass es aus einer notwendigen eine hinreichende Bedingung macht. Zum Vergleich: Lichtwellen müssen eine bestimmte Wellenlänge haben, damit wir die Farbe ,rot‘ wahrnehmen. Aber Röte ist nicht bereits mit dieser Wellenlänge des Lichts gegeben, also unabhängig von unserer Wahrnehmung. Ebenso kann man sagen, dass ein Verhalten bestimmte natürliche Eigenschaften aufweisen muss, um als grausam erlebt und wahrgenommen werden zu können. Aber Grausamkeit ist nicht mit diesen Eigenschaften gegeben, das heißt unabhängig davon, wie wir Verhalten erleben und wahrnehmen und dabei emotional bewerten. Die emotionale Bewertung richtet sich auf die erlebte beziehungsweise 18 Man kann diese Auffassung, welche in der Metaethik verbreitet ist, mit Fug und Recht als ,Naturalismus‘ bezeichnen. Allerdings muss man dann diese Art von Naturalismus, welche moralischen Wert auf natürliche Eigenschaften zurückführt, über denen er superveniert, vom metaethischen Naturalismus im engeren Sinne unterscheiden, welcher eine Variante des moralischen Realismus darstellt und der sich auf die Bedeutung moralischer Ausdrücke bezieht. ,Gut‘ wird dann z. B. als entweder bedeutungs- oder als sachidentisch mit dem Ausdruck ,fördert das Wohl von Personen‘ interpretiert. Insbesondere in der bioethischen Debatte ist ein Naturalismus im ersten, weitgefassten Sinne verbreitet, wie man sich an den SKIP-Argumenten verdeutlichen kann. 19 Vgl. Alan Gewirth, Human Rights: Essays of Justification and Applications, Chicago 1982.

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narrativ thematisierte Realität, im Unterschied zur objektivierten, deskriptiv thematisierten Realität, auf die sich die Rede von ,natürlichen Eigenschaften‘ bezieht. Das bedeutet, dass auch moralischer Wert, insofern er auf emotionaler Bewertung beruht, nicht unabhängig von unserem Erleben gegeben ist. Daher kann er nicht mit etwas gegeben sein, das hiervon ersichtlich unabhängig ist, nämlich mit natürlichen Eigenschaften. Hieraus folgt jedoch nicht, dass moralischer Wert „bloss subjektiv“ ist. Wir können uns intersubjektiv darüber verständigen, ob eine Handlung grausam ist. Wir können dies, weil das Wort ,grausam‘ die sprachliche Artikulation eines (Wahrnehmungs-)Musters ist, das wir gemeinsam über die Sprache internalisiert haben. Es bezieht sich, wie gesagt, auf die erlebte Realität, und wir können es in vielen einzelnen Handlungen wiedererkennen. Dass eine Handlung grausam ist, das hat seine hinreichende Bedingung darin, dass sie dieses Muster aktualisiert, das seinerseits gewisse natürliche Eigenschaften im Sinne einer notwendigen Bedingung voraussetzt dafür, dass Handlungen unter diesem Muster wahrgenommen werden können. Das Urteil „Diese Handlung ist grausam“ erhebt also wie das Urteil „Dieser Teppich ist rot“ durchaus einen Objektivittsanspruch in dem Sinne, dass wir mit ihm nicht bloß unsere subjektive Sicht der Dinge kommunizieren. Aber dieser Anspruch bezieht sich nicht auf eine unabhängig von unserem Wahrnehmen und Erkennen gegebene Realität, sondern auf die für unser gemeinsames Wahrnehmen und Erkennen gegebene Realität, die durch eine gemeinsame Sprache und Kultur verbürgt ist. So, wie es im Fall der Röte das uns von Natur gemeinsame Sehvermögen ist, das uns dieselbe Farbe sehen lässt, so gibt es auch ein Sehvermögen, das uns aufgrund unserer kulturellen Prägung gemeinsam ist. Insofern halte ich die Sorge für unbegründet, dass alles subjektiv und beliebig wird, wenn man die Lebenswirklichkeit in der oben beschriebenen Weise versteht, wonach sie nur dem persönlichen Engagement erschlossen ist. Ich bin demgegenüber der Ansicht, dass das Modell des „objektivistischen“ Realismus den Blick auf die Lebenswirklichkeit gründlich verstellt. In theologischer Hinsicht bedeutet dies, dass die entscheidende Frage nicht ist, wie wir das christliche Wirklichkeitsverständnis oder wie wir die Moral „objektiv“realistisch rechtfertigen oder bewähren können, sondern vielmehr, wodurch wir uns in unserem Blick auf die Dinge bestimmen lassen. Diese Frage führt in den Bereich der Pneumatologie. Der sachliche Zusammenhang von Ethik und Pneumatologie ist trotz der diesbezüglichen neutestamentlichen Befunde in großen Teilen der evangelischen Ethik bis vor Kurzem kein Thema gewesen, vermutlich aufgrund der Meinung,

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dass wissenschaftliche Ethik es mit rationalen Begründungen zu tun hat und nicht mit derlei obskuren Dingen wie dem Heiligen Geist. Heute ist zwar die „Spiritualität“ in vieler Munde, und dieses Thema hat auch in Bereichsethiken wie die Pflegeethik und selbst in die Wirtschaftsethik Einzug gehalten, aber wenn es sich hierbei um mehr als nur eine Modeerscheinung handeln soll, dann bedarf es einer gründlichen fundamentalethischen Klärung dieses Zusammenhangs.

4 Es kann vorkommen, dass man sich am Morgen einer Sache noch gewiss war. Am Mittag meldeten sich erste Zweifel, und am Abend ist von der Gewissheit nichts mehr übrig, und die Suche beginnt von Neuem. Wie sicher können wir uns dessen sein, was uns zum jetzigen Zeitpunkt evident zu sein scheint? Über dieser Frage kann man erschrecken, da wir ja auch eine Verantwortung tragen für die Ideen, die wir in die Welt setzen. Letztlich können wir immer nur den vorläufigen Stand der uns möglichen Einsicht formulieren. In diesem Sinne verstehe ich die kritische Weggefährtenschaft, die mich mit Wilfried Härle verbindet. Wir beide haben in unseren theologischen und ethischen Kontroversen doch nichts anderes tun können, als – jeder auf seine Weise – den vorläufigen Stand der uns möglichen Einsicht zu artikulieren, immer unter dem Vorbehalt des möglichen Irrtums. Je älter man wird, umso skeptischer wird man gegenüber dem Anspruch auf endgültige Wahrheiten. Viel zu lange hat die Theologie – jedenfalls zu großen Teilen – den Gestus der Gewissheit gepflegt, so als könne man von der Sache, die sie zu verantworten hat, nur in dieser Weise sprechen. Keine andere Wissenschaft hat sich das leisten können und zu dergleichen je verstiegen. Das war zwar für die Bildung theologischer Schulen förderlich, die ihre je eigenen Gewissheiten kultivierten und die Gewissheiten der Konkurrenz bekämpften, nicht aber für das kritische Denken, das in aller Regel mit dem Zweifel beginnt. In der evangelischen Ethik hat dies teilweise zu einem Klima geführt, in dem ein unvoreingenommener, sachlicher und vor allem fairer und respektvoller Umgang in hochkontroversen ethischen Fragen unmöglich gewesen ist, wie er für eine Wissenschaftskultur selbstverständlich sein sollte.20 Ich weiß nicht, ob ich in dieser Ein20 Ich denke hier insbesondere an die Debatten über den ontologischen und moralischen Status des vorgeburtlichen menschlichen Lebens, wie sie durch die

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schätzung mit Wilfried Härle völlig einig gehe, aber ich hoffe es. Auch wenn wir uns trotz grosser Anstrengungen im Grundsätzlichen unseres theologischen und ethischen Denkens nicht haben verständigen können, und auch wenn uns in unseren materialen ethischen Überzeugungen vieles trennt, so achte und schätze ich die Ernsthaftigkeit und Leidenschaft, mit der es ihm um die Sache der Theologie zu tun ist. Ich wünsche ihm zu seinem Siebzigsten alles Gute!

Stammzellforschung ausgelöst worden sind. Wer dabei war, der mag sich diesbezüglich an den Europäischen Theologenkongress 2002 in Zürich erinnern. Ein Grundproblem scheint mir darin zu liegen, dass sich solche Debatten in der Regel auf materialethische Fragen konzentrieren, ohne dass die fundamentaltheologischen und fundamentalethischen Positionen, die dabei im Hintergrund stehen und an denen sich die Differenzen zum wesentlichen Teil entzünden, zum Thema gemacht und einer eingehenden Reflexion unterzogen werden. So prallen bei jedem neuen materialethischen Thema die eingefahrenen Fundamentalüberzeugungen unverändert aufeinander.

Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit des Menschen Frank Martin Brunn Der Begriff ,Menschenwürde‘ hat sich in neueren ethischen Debatten insofern als leistungsfähig erwiesen, als ganz unterschiedliche ethische Positionen mit diesem Begriff operieren können. Damit kann der Begriff zwischen Vertretern unterschiedlicher ethischer Konzeptionen die Basis für ein nicht unerhebliches Maß an Verständigung legen. ,Menschenwürde‘ ist sowohl ein ethischer als auch ein anthropologischer Begriff. Er gehört wie auch die Begriffe ,Vernunft‘, ,Person/Personalität‘, ,Interesse‘, ,Liebe‘ und ,Glück‘ zu einem Feld von Begriffen, die den Zusammenhang von Ethik und Anthropologie markieren. Folglich ist es für den ethischen Gehalt des Begriffs ,Menschenwürde‘ von erheblicher Bedeutung, wie der Begriff anthropologisch gefüllt wird. Es ist weithin bekannt, dass der Menschenwürdebegriff in der angewandten Ethik, insbesondere in der Bioethik, auf der Grundlage von ganz unterschiedlichen anthropologischen Konzepten in Anschlag gebracht wird, dass also in der angewandten Ethik verschiedene Begriffe von Menschenwürde miteinander konkurrieren. Zu den grundsätzlichen Differenzen gehört es dabei, ob es nur in kommunikativen Handlungen der Anerkennung konstituierte Würderelationen gibt oder ob es darüber hinaus eine Würderelation gibt, die von menschlichen Handlungen unabhängig ist und ontischen Charakter hat.1 In der christlichen Ethik wurde der Begriff ,Menschenwürde‘ erst in neuerer Zeit als ein Zentralbegriff aufgegriffen.2 Die Vorstellung von der 1 2

Vgl. auch Eilert Herms, Menschenwürde, in: Wilfried Hrle/Reiner Preul (Hg.), Menschenwürde (MJTh XVII), Marburg 2005, 79 – 134, 99. Vgl. zur Aufnahme und den unterschiedlichen theologischen Deutungen des Menschenwürdegedankens: Wolfgang Vçgele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh 2000, 392 – 412; Stephanie Schradien: Menschenwürde. Zur Geschichte und theologischen Deutung eines umstrittenen Konzepts, in: Dies./Peter Dabrock/Lars Klinnert, Menschenwürde und Lebensschutz. Herausforderungen theologischer Bioethik, Gütersloh 2004, 57 – 115, 92 – 108.

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besonderen Würde des Menschen lässt sich zwar bis ins Alte Testament zurückverfolgen und ist in der christlichen Tradition stetig präsent, bildet aber nicht den traditionellen Angelpunkt der christlichen Ethik. Während der moderne Menschenwürdebegriff entweder Menschenrechte begründet oder Ausdruck der Menschenrechte ist, gilt dieser Zusammenhang für biblische und vormoderne theologische Würdeverständnisse nicht. „Menschenwürde ist kein ursprünglich theologischer Begriff“3, urteilt die evangelische Dogmatikerin Gunda Schneider-Flume. Fehlte in einer Darstellung der Ethik Kants ein wesentliches Element, wenn der Begriff der Würde und der Menschenwürde ausgelassen würde, so lässt sich eine christliche Ethik problemlos ohne diesen Begriff darstellen. Nun gehört es allerdings zum Wesen des christlichen Glaubens, sich in die Sprach- und Denkbedingungen der jeweiligen Zeit hinein zu entfalten. Die Aufnahme des Begriffs ,Menschenwürde‘ durch die christliche Ethik ist daher naheliegend, sofern dieser Begriff in der Lage ist, Gehalte des christlichen Glaubens so zu artikulieren, dass sie heute verstanden werden. Christliche Theologen und Kirchen haben seit jeher den Begriff ,Menschenwürde‘ von der Lehre der Gottebenbildlichkeit des Menschen her interpretiert. Das führt aber keinesfalls zu einem stets identischen Begriff von Menschenwürde.4 Dieser Sachverhalt dürfte seinen Grund darin haben, dass die Differenzen über ein angemessenes Verständnis von Menschenwürde in der Ethik auf unterschiedlichen anthropologischen Entwürfen beruhen und auch in der theologischen Ethik trotz eines breiten Konsenses über die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen keinesfalls Einigkeit über ihre notwendigen Implikationen herrscht. In der Vergangenheit wurde gelegentlich – auch vom Jubilar – darauf hingewiesen, dass für eine ethische Entfaltung des Gedankens der 3 4

Vicco von Blow, Podiumsdiskussion, in: Ders./Christian Ammer/Martin Heimbucher (Hg.), Herausforderung Menschenwürde. Beiträge zum interdisziplinären Gespräch, Neukirchen-Vluyn 2010, 238 – 291, 251. Für die Gegenwart lässt sich das exemplarisch an den unterschiedlichen Konzepten von Menschenwürde des Jubilars und des Ethikers Johannes Fischer beobachten, vgl. dazu Johannes Fischer u. a., Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart 22008, 399 – 407; Wilfried Hrle, Würde. Groß vom Menschen denken, München 2010; Ders., Ethik, Berlin/New York 2011, 231 – 261; Ders., Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und zur Anthropologie, Tübingen 2005, 379 – 410; Frank Martin Brunn: Wettbewerb am Lebensbeginn, in: Deutsches Pfarrerblatt, 4/2011 (111 Jg.), 180 – 184 sowie den Beitrag von Fischer in diesem Band.

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Menschenwürde neben der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen auch die Rechtfertigungslehre sinnvoll fruchtbar gemacht werden solle.5 Dieser Impuls soll im Folgenden aufgenommen werden. Darüber hinaus soll der Gedanke entfaltet werden, dass schon für ein angemessenes Verständnis von Gottebenbildlichkeit das Thema der Rechtfertigungslehre in Anschlag zu bringen ist.6 Inwiefern sich theologisch die Gottebenbildlichkeit des Menschen als seine Würde aussagen lässt und sich umgekehrt die Würde des Menschen als seine Gottebenbildlichkeit denken lässt, ist das Thema dieses Beitrags. Dafür entfalte ich zuerst die biblische Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen aus einer heilsgeschichtlichen Perspektive (1). Daraus werden Folgerungen für die theologische Interpretation des Begriffs ,Menschenwürde‘ abgeleitet (2). Anschließend wird der Speziesismusvorwurf als einer der zentralen Vorwürfe gegen die Rede von der Menschenwürde diskutiert (3) und abschließend ein Resümee gezogen (4).

5

6

Hrle, Ethik (s. o. Anm. 4), 150; Reiner Anselm, Die Würde des gerechtfertigten Menschen, in ZEE 43 (1999), 123 – 136; Ders., Rechtfertigung und Menschenwürde, in: Eilert Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, 471 – 481; dazu verhalten kritisch: Peter Dabrock: „Leibliche Vernunft“. Zu einer Grundkategorie fundamentaltheologischer Bioethik und ihrer Auswirkung auf die Speziesismus-Debatte, in: Ders. u. a. (Hg.), Gattung Mensch. Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2010, 227 – 262, 234 – 236. Leider macht der Jubilar selbst die Rechtfertigungslehre für die eigene Entfaltung der Menschenwürde nur implizit fruchtbar, vgl. Ders., Würde (s. o. Anm. 4) und Ethik (s. o. Anm. 4), 231 – 261. Ein ausdrücklicher Bezug auf die Rechtfertigungslehre ließe sich aber im Abschnitt „1.5.1 Das Besondere am Sein des Menschen“ und „1.5.2 Geltung und Realisierungsgrad der Bestimmung des Menschen“ der Ethik sowie Kapitel 6 „Begründungen der Menschenwürde“ Unterabschnitt a des Würde-Buches gut ergänzen. Vgl. Härle, Ethik (s. o. Anm. 4), 149 f, 205. Wolfhart Pannenberg betont, dass die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen christologisch zu fassen ist: „Die christliche Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen muss die paulinischen Aussagen über Christus als Ebenbild Gottes, in das alle anderen Menschen verwandelt werden sollen, als Erläuterung der Bestimmung des Menschen schlechthin zur Gottebenbildlichkeit aufnehmen.“ Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, 241.

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1 Die biblische Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen Die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen hat gemäß den traditionellen Loci der Dogmatik ihren Ort in der Lehre von der Schöpfung. Die christliche Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der imago dei, wurzelt in der biblischen Schöpfungserzählung. Gottebenbildlichkeit ist die ursprüngliche, von Gott gegebene Bestimmung des Menschen. Die Schöpfungserzählung beschreibt, wie Gott den Menschen zu seinem Bild erschaffen hat. „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau“ (Gen 1,26 f; vgl. Gen 5,1 – 3). Verbunden ist die Gottebenbildlichkeit mit einem Herrschaftsauftrag, dem so genannten dominium terrae. „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht“ (Gen 1,28). Zwei unterschiedliche Aspekte prägen die Interpretation von imago dei, wie sie sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert hat: das Herrschen über die Schöpfung als Statthalterschaft Gottes (funktionaler Aspekt) und die grundlegende Relationalität des Menschen (relationaler Aspekt).7 7

Seit Karl Barth in KD III/1 und 2 die relationale Interpretation der Gottebenbildlichkeit auf das Dual von Mann und Frau zugespitzt und gleichzeitig die Suche nach Gott und Mensch verbindenden Eigenschaften zurückgewiesen hat, hat sich eine relationale Interpretation der Gottebenbildlichkeit in der evangelischen Theologie durchgesetzt. Vgl. zum Folgenden: Hans Walter Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, Gütersloh 72002, 233 – 242; Otto Kaiser, Der Gott des Alten Testaments. Wesen und Wirken. Theologie des AT 2, Göttingen 1998, 301 – 312; Bernd Janowski, Die lebendige Statue Gottes. Zur Anthropologie der priesterlichen Urgeschichte, in: Markus Witte (Hg.): Gott und Mensch im Dialog. FS für Otto Kaiser zum 80. Geburtstag, Teil I, Berlin/ New York 2004, 183 – 214; Christian Frevel, Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde, in: Andreas Wagner (Hg.): Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, Göttingen 2009, 255 – 274; Hrle, Menschsein (s. o. Anm.4), 401 – 402; Ders.:

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Ist das Herrschen über die Schöpfung zunächst ein Privileg des Schöpfers, so rückt der Mensch durch das mit der imago dei verbundene dominium terrae in eine Art Statthalterschaft Gottes ein. Gott ermöglicht und legitimiert das Herrschen des Menschen über die Tiere und die Erde. Dass dieses ursprünglich nicht als tyrannische Herrschaft gedacht ist, zeigt die in diesem Zusammenhang gegebene Speiseordnung, in der den Menschen von Gott Obst, Getreide und Hülsenfrüchte, den Tieren das Kraut des Feldes zugewiesen wird (Gen 1,29 f). Eine konfliktreiche Konkurrenz um Nahrungsressourcen zwischen Mensch und Tier, denen nach Gen 2 gemein ist, nefesch haja (Gen 2,19) zu sein, wird hier erst einmal gebannt. Das dominium terrae in Gen 1 scheint eine Art Frieden zwischen Mensch und Tier zu implizieren und ist im Sinn einer universalen Ordnungsfunktion zu verstehen. Das Ergebnis seiner Schöpfung bezeichnet Gott am Ende der Schöpfungserzählung – in Steigerung zu allen als „gut“ beurteilten Zwischenergebnissen – als „sehr gut“ (Gen 1,31). Nun hat die Bibel und mit ihr der christliche Glaube ein Menschenbild, zu dessen zentralen Elementen die Erfahrung menschlicher Bosheit und der Begriff ,Sünde‘ gehört.8 Der Pessimismus bezüglich des Menschen geht in den ersten Kapiteln der Genesis soweit, dass festgestellt wird, kol basar sei verderbt (Gen 6,12), also alles Fleisch, was die Tiere vermutlich einschließt, denn sie werden ebenfalls Opfer der Sintflut, die Gott auf diese Diagnose folgen lässt. Gottebenbildlichkeit und Sünde lassen sich nur schwer zusammen bringen. Es stellt sich die Frage, wie sich denn die imago dei zur Sündhaftigkeit des Menschen verhält, ja ob durch die Sünde des Menschen die imago dei nicht etwa verloren geht.9 In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass sowohl die Einleitung in den Geschlechtsregister in Gen 5,1 – 3 die Gottebenbildlichkeit des

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Dogmatik, Berlin/New York 32007, 434 – 439; Ders.: Ethik (s. o. Anm. 4), 149 – 151. Vgl. exemplarisch Röm 3,23. Diese Position wurde in der so genannten altlutherischen und altprotestantischen Bibelauslegung vertreten, vgl. Bengt Hgglund, „Was ist der Mensch?“ Psalm 8,5. Eine Grundfrage der altlutherischen Bibelauslegung, in: Ders., Chemnitz – Gerhard – Arndt – Rudbekius. Aufsätze zum Studium der altlutherischen Theologie (TSP 1), Waltrop 2003, 159 – 172; Pannenberg, Systematische Theologie 2 (s. o. Anm. 6), 242 – 243. Die Konkordienformel setzt die imago dei mit der iustitia originalis des Menschen im Paradies gleich, vgl. Formula Concordiae (1580) SD I,2 f, in: Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Stuttgart 12 1998, 848.

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Menschen auch nach dem Sündenfall noch feststellt als auch Gen 9 an ihr festhält, nachdem sich die Bosheit der Menschen als selbst noch gegen Gottes vernichtendes Strafhandeln resistent erwiesen hat. Hier, am Ende der Sintflutgeschichte, wird die Spannung zwischen Boshaftigkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen narrativ eingeholt. Als Gott auf die Überlebenden der Sintflut schaut, stellt er resignierend fest: „Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen; denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“ (Gen 8,21). Nach dieser analytisch begründeten Selbstverpflichtung segnet Gott die Überlebenden der Sintflut, hebt zu Lasten der Tiere den ursprünglichen Vegetarismus auf 10, erneuert das Verbot, Menschen zu töten, und begründet es mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen: „Auch will ich euer eigen Blut, das ist das Leben eines jeden unter euch, rächen und will es von allen Tieren fordern und will des Menschen Leben fordern von einem jeden Menschen. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem Bilde gemacht“ (Gen 9,5 f). Der Erzähler der Sintflutgeschichte war weise genug, die Vereinbarkeit von Gottebenbildlichkeit des Menschen und menschlicher Bosheit bei Gott zu suchen und sie einzig in Gestalt einer Gottesrede auszusagen.11 Wäre es ein Mensch, der die Vereinbarkeit von Gottebenbildlichkeit und Sünde behauptete, so spräche aus seinen Worten die pure Hybris. Es ist offensichtlich nicht so, dass Sünde und Bosheit des Menschen seiner Gottebenbildlichkeit nichts anhaben können, sondern Gott erkennt den Menschen trotz seiner Bosheit als sein Ebenbild an. Zum semantischen Feld der imago dei gehören auch die biblischen Aussagen über die Hoheit des Menschen. Psalm 8 beschreibt staunend die Zuwendung Gottes zum Menschen: „Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel! Aus dem Munde der jungen Kinder und Säuglinge hast du eine Macht zugerichtet um deiner Feinde willen, dass du vertilgest den Feind 10 Der Mensch bekommt den Fleischverzehr mit Einschränkungen gestattet. Seine Herrschaft ist für die Tiere nun mit Furcht und Schrecken verbunden (Gen 9,2 – 4). 11 Exegetisch korrekt wäre vom Redakteur der Sintflutgeschichte zu sprechen, weil es sich bei Gen 8,21 und 6,12 bzw. 9,5 f um unterschiedliche (nicht-priesterschriftliche und priesterschriftliche) Textschichten handelt, vgl. Jan Christian Gertz, Grundinformation Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 32009, 236 – 247, 260 – 268.

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und den Rachgierigen. Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan“ (Ps 8,2 – 7). Wie in Gen 1,28 wird hier mit der Hoheit des Menschen der Auftrag über die Schöpfung zu herrschen verbunden. Die Zuwendung Gottes zum Menschen ist dem Psalmbeter Anlass zum Staunen, scheint sie doch dem vernünftigen Denken zu widersprechen.12 Was das scheinbar Widervernünftige für das Menschenbild in den biblischen Schriften bedeutet, macht das dritte und vierte Gottesknechtlied Deuterojesajas offensichtlich13 : „Siehe, meinem Knecht wird’s gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder (…) Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ ( Jes 52,13 f; 53,2b-5). Der Knecht Gottes ist gerade nicht der heroische, starke und unverwundbare Mensch, sondern im Gegenteil der leidende und von Gewalt gezeichnete, der, auf den anderen Menschen herabschauen. Dieser ist von Gott erwählt. Sein Leiden beschreibt das vierte Knechtgotteslied als stellvertretendes Leiden. Der Mensch, der in sozialer und politischer Hinsicht entwürdigt ist, wird von Gott gewürdigt. „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft 12 Hebr 2,6 – 9 legt diesen Psalm auf Christus hin aus, dem folgt die so genannte altlutherische Bibelauslegung, vgl. Hgglund, Was ist der Mensch? (s. o. Anm.9). 13 Zur literarkritischen Einordnung der Gottesknechtlieder vgl. Otto Kaiser, Grundriss der Einleitung in die kanonischen und deuterokanonischen Schriften des Alten Testamens, Band 2, Die prophetischen Werke, Gütersloh 1994, 56 – 60.

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mir, darum werde ich nicht zuschanden“ ( Jes 50,6 f), heißt es im dritten Knechtgotteslied. Im Neuen Testament lässt sich dieser Gedanke weiter verfolgen. Liest man den Philipperhymnus (Phil 2,6 – 11) und den Johannesprolog ( Joh 1,1 – 14) im Hinblick auf die durch die Sünde fragwürdig gewordene Gottebenbildlichkeit, so ist zu ergänzen, dass Gott sie bestätigt, in dem der göttliche Logos selbst Mensch wird und darin die durch die Sünde erfolgte Infragestellung des Menschen überwindet. „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ ( Joh 1,14), heißt es im Johannesprolog. Der Johannesprolog betont, dass der Logos, der von Anfang der Welt an war, Fleisch, sarx, wird. Der göttliche Logos gibt sich also der Vergänglichkeit, Schwachheit und Hinfälligkeit preis. In den Worten des Philipperhymnus: „Er, der in göttlicher Gestalt war, … entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, wurde den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,6 f). Die Rede ist von Christus. Christus ist das Ebenbild Gottes.14 Was Jesaja über den Knecht Gottes aussagte, wird nun in vergleichbarer Weise über den Logos Gottes beziehungsweise Christus gesagt. Demnach ist der Mensch Gottes Ebenbild, weil Gott die Distanz zum Menschen überwindet und sich den Bedingungen des Menschseins preisgibt. Der Mensch ist nunmehr Ebenbild Gottes, weil Gott zum Ebenbild des Menschen geworden ist.15 Die schöpfungstheologische Bestimmung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, die sich an den Erfahrungen menschlicher Schwäche und Bosheit bricht, wird im Neuen Testament also christologisch gewendet.16 Die schöpfungstheologische 14 Vgl. II Kor 4,4; Hebr 1,3; Kol 1,15. 15 Das gilt jedoch nicht hinsichtlich der Sündhaftigkeit des Menschen (Hebr 4,15), weswegen der Philiperhymnus vermutlich davon spricht, Christus sei der Erscheinung oder Gestalt nach als Mensch erkannt worden (Phil 2,7). Allerdings geht Paulus so weit zu sagen, dass Christus, der von der Sünde nichts wusste, selbst zur Sünde wurde (II Kor 5,21). Er war nicht sündhaft, wurde aber zur Sünde. Vgl. zu diesem Aspekt der Heilsbedeutung des Kreuzestodes auch Wilfried Hrle, Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin/New York 2008, 389 – 406. 16 Vgl. „Ist nun aber unser Evangelium verdeckt, so ist’s denen verdeckt, die verloren werden, den Ungläubigen, denen der Gott dieser Welt den Sinn verblendet hat, dass sie nicht sehen das helle Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes.“ (II Kor 4,3 f); „Er [der Sohn] ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene vor aller

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Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit erhält eine soteriologische Dimension. Ihre Verwirklichung hängt nicht am Menschen, sondern an Christus. Der Mensch ist passiv.17 So schließt die Gottebenbildlichkeit nach dem Fall notwendig auch das menschliche Leiden ein. Menschliches Leiden kann deshalb zur imitatio christi werden.18 Wo mit Gottebenbildlichkeit nur die Besonderheit, Schönheit, Vernunft und Stärke des Menschen in Verbindung gebracht wird, wie es in der Renaissancephilosophie Mode wurde19, wird der Gedanke der Gottebenbildlichkeit um den wesentlichen christologischen Aspekt verkürzt! 20 Auch Leiden, Demütigung und Erniedrigung gehören zur

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Schöpfung.“ (Kol 1,15); „… belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat.“ (Kol 3,9 f) Wenn Dabrock darauf aufmerksam macht, „dass die Rechtfertigung selbst nur im Glauben … zur Wirkung gelangt“ (Dabrock, Leibliche Vernunft (s. o. Anm. 5, 236) und auf Komplikationen der Rechtfertigungslehre in Bezug auf den universalistischen Charakter der in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen angelegten fundamentalen Gleichheit aller Menschen hinweist, ist meines Erachtens zu betonen, dass es für die Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen zuerst einmal nicht darauf ankommt, dass sie im Leben aller Menschen verwirklicht wird. Selbst wenn sie im Glauben verwirklicht wird, ist auch diese Verwirklichung nur fragmental, weil der Mensch Gerechter und Sünder zugleich ist. Viel wichtiger ist, ob die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen nur einen verlorenen „Urstand“ illustriert (vgl. FC SD I,2 f, s. o. Anm.9) oder der Lebenswirklichkeit des Menschen angenähert wird. Vgl. Röm 8,29. Vgl. dazu, wie der Stichwortgeber dieser Festschrift John Donne diesen Gedanken interpretiert hat: Christoph Schwçbel: No Man is an Island. Erwägungen zu John Donnes Devotions upon Emergent Occasions XVII, in diesem Band. Vgl. z. B. Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, lateinisch-deutsch, hg. u. übersetzt v. Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass diese Schrift ihren Titel nachträglich und nicht von ihrem Verfasser erhalten hat und dass Pico an keiner Stelle von der Würde des Menschen spricht (vgl. das Nachwort a.a.O.,107 – 121, 107 – 108), was in geschichtlichen Darstellungen des Würdebegriffs oft übersehen wird (z. B. bei Franz-Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart 2005, 37 – 39; Gunda Schneider-Flume, Die Geschichte der Imago Dei als Schutzraum der Menschenwürde, in: von Blow u. a. (Hg.), Herausforderung Menschenwürde (s. o. Anm. 3), 37 – 60, 41 und 53; Nikolaus Knoepffler, Menschenwürde in der Bioethik, Berlin 2004, 25 – 48, 38; Schradien, Menschenwürde (s. o. Anm. 2), 60). Der christologische Aspekt der Gottebenbildlichkeit fehlt auch bei Fischer, obwohl er auf die Relationalität des Menschen abhebt, vgl. Fischer, Grundkurs

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imago dei. Das macht die Passion Jesu Christi überaus deutlich. Christlich verstanden ist also Gottebenbildlichkeit schöpfungstheologisch und christologisch zu denken. Das heißt Gottebenbildlichkeit ist die Bestimmung des Menschen, die der Mensch selbst faktisch nicht einzulösen vermag, sondern die erst in der Selbsthingabe Gottes in der Person Jesu Christi am Kreuz erfüllt wird. Gottebenbildlichkeit erschöpft sich nicht in der vermeintlichen Machtstellung des Menschen, sondern Ohnmacht und Leiden sind zentrale Elemente der Gottebenbildlichkeit. Gottebenbildlichkeit ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern eine Eigenschaft der Bezogenheit des Menschen auf Gott, die sowohl die Schöpfung als auch die Erlösung des Menschen einschließt. Gottebenbildlichkeit ist also eine Bestimmung des Menschen, deren Erfüllung im Evangelium von Jesus Christus verheißen ist.21 Sie gilt allen Menschen. Gottebenbildlichkeit ist nicht zu trennen vom Heilswerk Jesu Christi. Im Schöpfungs- und Erlösungswerk Gottes begründet hat die Gottebenbildlichkeit ontologischen Charakter: Sie bestimmt das Sein des Menschen. Am empirischen Menschen ist sie allerdings nicht zwingend festzustellen, weil das Erlösungswerk erst im Eschaton seine Vollendung findet und auch ein Mensch, der im Glauben an Jesus Christus seine Rechtfertigung und Erlösung gefunden hat, bis dahin zugleich Gerechter und Sünder bleibt.22 Gleichwohl lässt sich auch vom einzelnen empirischen Menschen seine Gottebenbildlichkeit aussagen.23 (s. o. Anm. 4), 391. Er fehlt ebenso in Hrle, Würde (s. o. Anm. 4), vgl. aber Ders., Menschsein (s. o. Anm. 4), 402 und Ders.: Christlicher Glaube in unserer Lebenswelt. Studien zur Ekklesiologie und Ethik, Leipzig 2007, 340, wo der christologische Aspekt der Menschenwürde ausdrücklich genannt wird. Vögele weist in seiner an die Überzeugungen des ehemaligen Justizministers und Bundespräsidenten Gustav Heinemann angelehnten Darstellung einer theologischen Perspektive auf die Menschenwürde darauf hin, dass ihr der Sündenbegriff als zweite zentrale Bestimmung theologischer Anthropologie fehle, vgl. Vçgele, Menschenwürde (s. o. Anm. 2), 273. Weil Heinemann aber davon ausgehe, dass der Mensch Würde habe, weil Gott ihn in Jesus Christus angenommen habe, entfällt bei ihm der christologische Aspekt der Würdebegründung nicht, wenn auch seine soteriologische Dimension nicht ausgeführt wird. 21 Vgl. auch Hrle, Menschsein (s. o. Anm. 4), 402. 22 Vgl. These 39, Disputatio D. Martini Lutheri de Homine 1536, in: Martin Luther Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 1 Der Mensch vor Gott, hg. v. Wilfried Hrle, Leipzig 2006, 663 – 669, 668 f. In eine ähnliche Richtung wie das hier dargestellte geht auch: Thorsten Waap, Gottebenbildlichkeit und Identität. Zum Verhältnis von theologischer Anthropologie und Humanwissenschaft bei Karl Barth und Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2008, insbesondere 540 – 558.

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2 Schöpfungstheologische, soteriologische und eschatologische Interpretation der Menschenwürde Wird Menschenwürde von der Lehre der Gottebenbildlichkeit des Menschen her verstanden, ist daher festzuhalten, dass Menschenwürde nicht durch Akte sozialer Anerkennung konstitutiert wird, wie es etwa der Philosoph Franz Josef Wetz im Sinne diskursethischer Konzeptionen beschreibt.24 Nach Wetz beruht Menschenwürde auf diskursiven Akten der Selbstbestimmung, Selbstachtung und Selbstdarstellung des Menschen. Dagegen ist aus theologischer Sicht einzuwenden, dass gerade der schwache, verletzbare, leidende, also passive Mensch selbst in seiner Verzweiflung nicht seine Würde verliert, sondern Gottes und Christi Ebenbild ist.25 Mag Verzweiflung die in Handlungen sozialer Anerkennung konstituierte Würde zwar auflösen, so löst sie doch offensichtlich die dem Menschen von Gott her zukommende Würderelation nicht auf. Nach Wetz ist grundsätzlich jedem Menschen Würde zuzuerkennen, weil sich alle Menschen darin gleichen, dass sie potentiell „als nackte, endliche, leidensfähige Wesen … gedemütigt und erniedrigt werden können“26. Versteht man den Begriff ,Menschenwürde‘ dagegen aus einer christologisch geprägten Perspektive, dann hat gerade der nackte, endliche, leidende Mensch Würde. Menschenwürde ist daher nicht zuzuerkennen, sondern anzuerkennen. Von hier aus ist auch Kant zu widersprechen, der nur ein heroisches, den Schmerz unterdrückendes, vernunftgeleitetes Leiden als der Menschheit würdig anzuerkennen 23 Der Kolosser- und der Epheserbrief sagen das in Gestalt einer Bekleidungsmetaphorik aus (vgl. Kol 3,9 f; Eph 4,23 f). Schon der Apostel Paulus begründet mit der Ebenbildlichkeit moralische Handlungspraxen, die gleichwohl heute ihre Bedeutung verloren haben (vgl. I Kor 11,7). Der Jakobusbrief nutzt die Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, um die ethische Unangemessenheit des Fluchens anderer Menschen zu beschreiben (vgl. Jak 3,9). Dem entspricht, dass Tertullian sich gegen Faustkämpfe im Stadion mit dem Argument ausspricht, dass beim Faustkampf dem Ebenbild Gottes ins Angesicht geschlagen werde. Demnach ist für Tertullian jeder Mensch, nicht nur der Christ, Ebenbild Gottes (vgl. Tertullian, De spectaculis, 18,1). 24 Vgl. Wetz, Illusion (s. o. Anm. 19), 189 – 217. 25 Dieser Gedanke findet sich nach Stephan Schaede schon bei Ambrosius von Mailand, vgl. Stephan Schaede: Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive, in: Petra Bahr/Hans Michael Heinig (Hg.): Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theologische Perspektiven, Tübingen 2006, 7 – 69, 29. 26 Wetz, Illusion (s. o. Anm. 19), 218.

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scheint.27 Im leidenden, gedemütigten und erniedrigten Menschen noch seine Würde erkennen zu können, dürfte zu den besonderen Errungenschaften christlichen Nachdenkens über eine aus der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit resultierenden Würde gehören.28 Der schwache und leidende, der Verzweiflung nahe Mensch ist der individuelle Mensch. Die Wetzsche Beschreibung gilt dagegen dem Menschen seiner Gattung nach. Seiner Gattung nach ist der Mensch potentiell leidend und schwach, genauso wie er potentiell stark und kräftig ist und keines besonderen Würdeschutzes bedarf. Veranschaulicht die schöpfungstheologische Dimension der Gottebenbildlichkeit des Menschen seine Würde der Gattung nach, so veranschaulicht die soteriologische Dimension der Gottebenbildlichkeit die individuelle Menschenwürde. Gegen die kantische Betonung der Vernunft für die Würdekonzeption spricht aus theologischer Perspektive das sogenannte Kinderevangelium. Im Kinderevangelium (Mk 10,13 – 16), das bei Markus auf eine Diskussion des Scheidungsrechts folgt, werden die Kinder und ihr ungetrübtes Vertrauen als Vorbild dargestellt. „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. … Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen“ (Mk 10,14 f). Damit werden nun gerade nicht Verstandesfähigkeiten und Vernunft als die maßgeblichen menschlichen Eigenschaften gekennzeichnet29, wie es weithin in der Philosophie ge27 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten Tugendlehre I Ethische Elementarlehre § 12, in: Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden, Bd. IV. Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, hg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 51983, 303 – 634, 571. 28 Vgl. Schaede, Würde (s. o. Anm. 25), 67 – 69. Einen völlig unterbestimmten Begriff von Gottebenbildlichkeit offenbart Franz Josef Wetz, indem er schreibt: „Soll uns Menschen also auch im Zeitalter des weltanschaulichen Neutralismus und wissenschaftlichen Naturalismus noch Würde zukommen, so muß von unserer Bedürftigkeit ausgegangen, gleichsam von dieser her aufwärts gestiegen werden und nicht wie sonst von der Wesenswürde, Gottebenbildlichkeit und Vernunft aus abwärts zu unseren Unzulänglichkeiten, Beschwernissen und Sehnsüchten. Was den Menschen zu einem besonders schützenswerten Wesen macht, ist seit jeher weniger seine metaphysische Würdigkeit als vielmehr seine physische Bedürftigkeit“, Wetz, Illusion (s. o. Anm. 19), 217 – 218. Wetz übersieht, dass der Gedanke der Bedürftigkeit zur christlichen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen wesentlich hinzugehört. 29 Eine Tendenz dazu zeigt sich auch schon in Ps 8,3. Michael Welker merkt bezüglich der heutigen Abnahme der Visualisierung menschlicher Würde in den Passageriten an: „Am ehesten ist sie [die Würde, FMB] heute wohl noch wahrnehmbar im Angesicht und in der Körperhaltung mancher Kinder beim

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schieht. Mögen Verstandesfähigkeiten und Vernunft wesentlich für die in Handlungen der Anerkennung konstituierte Würde sein, so doch nicht für die Würde, die Menschen jenseits solcher Handlungen von Gott her haben, die also ontologisch begründet ist. Eine vernunftstheoretische Begründung der Menschenwürde muss zwar nicht die Menschenwürde von unvernünftigen Kindern bestreiten, sie muss sie aber mit Hilfe des Speziesarguments und/oder mit Hilfe des Potentialitätsarguments gewinnen. Eine solche Argumentation lautet: Weil die Exemplare der Gattung Mensch grundsätzlich zu vernünftigem Denken und Handeln fähig sind, hat jeder einzelne Mensch unabhängig von seinem Entwicklungsstand Menschenwürde; oder: weil ein voll entwickelter Mensch zu vernünftigem Denken und vernünftigem Handeln fähig ist, deshalb hat auch ein unvernünftiges Kind Menschenwürde. Weder auf das Speziesargument noch auf das Potentialitätsargument ist eine Begründung der Menschenwürde in der Gottebenbildlichkeit des Menschen angewiesen30, obgleich das Speziesargument auch für diese Begründung von Bedeutung ist, wie noch zu erörtern ist. Soll also der Begriff Menschenwürde von der Gottebenbildlichkeit des Menschen her verstanden werden, kann es sich bei Menschenwürde folglich nicht um eine Eigenschaft handeln, wie etwa Vernunftbegabung oder Gattungszugehörigkeit. Vielmehr muss Menschenwürde, wie die Entfaltung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit gezeigt hat, als eine spezifische, ontische Form der Bezogenheit verstanden werden.31 Zeit seines Lebens ist der Mensch nicht alleine auf sich selbst und seine Fähigkeiten bezogen, sondern weit mehr noch auf seine Mitmenschen und seine nicht-menschliche Umwelt und in ganz fundamentaler Weise auf Gott. Diese ontischen Bezogenheiten und die sich aus ihnen ergebenden Beziehungen bedürfen permanenter Erneuerung, weil sie durch die Wirklichkeit der Sünde gestört werden. Das ist allerdings eine spezifisch Eintritt in das Schulleben.“ Michael Welker, Person, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, in: Ingo Baldermann u. a. (Hg.): Menschenwürde ( JBTh 15), Neukirchen-Vluyn 2001, 247 – 262, 255. 30 Das ist insofern ein wesentlicher Punkt, als die Biologie bisher kein objektives Kriterium zur eindeutigen Abgrenzung von Gattungen gefunden hat. Darauf weist Knoepffler, Menschenwürde (s. o. Anm. 19), 25 hin. 31 Die relationale Verfasstheit teilt der Mensch mit allem Sein. Alles Sein ist auf Gott als seinem Ursprung bezogen und alles Sein steht in Beziehung zu anderem Sein. Vgl. dazu auch Hrle, Menschsein (s. o. Anm. 4), 397 – 402; Ders.: Ethik (s. o. Anm. 4), 142.

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theologische Aussage, die der Philosophie so nicht möglich ist. Gleichwohl kennt auch die philosophische Menschenwürdediskussion das Problem der Würde des Schwerverbrechers, der die Würde anderer Menschen massiv missachtet und damit die Konstitution von Würde in Relationen der Anerkennung beschädigt.32 Die Problematik ist evident. Ihre Evidenz reicht aber an die Tiefendimension ontischer Bezogenheiten, wie sie theologisch zu beschreiben sind, nicht heran. In seiner disputatio de homine rechnet Luther die Vernunft der Philosophie zu, die vom Menschen beinahe nichts wisse.33 Dagegen mache das Wesen des Menschen aus, dass er von Gott gerechtfertigt werde, was nur die Theologie aussagen könne.34 Nicht in einer Eigenschaft, sondern in seiner relationalen Bezogenheit auf Gott liegt nach Luther das Wesen des Menschen. Menschsein ist nach Luther konstitutiv relational. Folglich kann auch die Menschenwürde nur angemessen als relational konstituiert beschrieben werden.35 Anders als gelegentlich dargestellt36 stellt die rechtfertigungstheologische Perspektive, wenn sie konsequent relational gedacht ist, die Universalität der Menschenwürde nicht in Frage, weil es nicht darum geht, dass die Gottebenbildlichkeit im Individuum qua Glaube verwirklicht ist. Sonst würde Gottebenbildlichkeit als Eigenschaft des glaubenden Menschen verstanden. Sie ist aber eine Eigenschaft der Bezogenheit des Menschen auf Gott und ist damit in der Gottesrelation eines jeden Menschen konstituiert, deren Begründung nur schöpfungstheologisch und deren Verwirklichung nur eschatologisch zu erfassen ist.37 Diese konstitutive Relationalität des Menschen hat nicht allein geistigen Charakter, wie es die Betonung der Bezogenheit auf Gott nahelegen könnte. Zu dieser Relationalität des Menschen gehört auch 32 In der angewandten Ethik begegnet das Problem in der Diskussion um die Zulässigkeit von Folter. Vgl. exemplarisch Wetz, Illusion (s. o. Anm. 19), 195; Winfried Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht zur Folter? In: Juristenzeitung 4/55. Jg, 2000, 165 – 173. 33 Vgl. These 11, Luther, Disputatio de Homine (s. o. Anm. 22), 664 – 665. 34 Vgl. These 32 a.a.O.,668 – 669, dazu: Hrle, Menschsein (s. o. Anm.4), 169 – 190. 35 Luther reflektiert allerdings den Würdebegriff nur coram deo, weshalb in seiner Theologie die Menschenwürde als sozialethischer Begriff nicht vorkommt, vgl. Svend Andersen, Macht aus Liebe, Berlin/New York 2010, 75 f. 36 Vgl. Schradien, Menschenwürde (s. o. Anm. 2), 87, 92, 101 – 102, 104; Frevel, Gottebenbildlichkeit (s. o. Anm. 7), 264 – 266. 37 Ähnlich Welker, Person (s. o. Anm. 29), 261 – 262.

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seine Leiblichkeit.38 In ihr vollziehen sich Bezogenheiten und Beziehungen. Bezogenheiten unterscheiden sich von Beziehungen darin, dass Beziehungen Ausdruck einer irgendwie gearteten, möglicher Weise auch nur ganz schwachen Form von Selbstbestimmung sind, während Bezogenheiten einem Menschen vorfindlich sind und zur Selbstbestimmung herausfordern.39 In der alttestamentlichen Rede von der Gottebenbildlichkeit, dem hebräischen zelem und demut (Gen 1,26 f) 40, klingt die Leiblichkeit des Menschen an. Die in Bezug auf den jesajanischen Gottesknecht und neutestamentlichen Christus erwähnten Formen physischer Erniedrigung und Folter verweisen ebenfalls auf die Leiblichkeit des Menschen. Wenn schließlich Paulus vom soma pneumatikon spricht, wird darin deutlich, das nicht nur der gegenwärtig lebende Mensch, der ein soma psychikon habe (I Kor 15,44), leiblich zu denken ist, sondern auch der im Eschaton vollendete Mensch. Das apostolische Glaubensbekenntnis radikalisiert diese Vorstellung im Sinne des Johannesevangeliums, wenn es von der carnis resurrektionem, der Auferstehung des Fleisches, spricht.41 Folglich ist Gottebenbildlichkeit nicht nur schöpfungstheologisch, sondern auch soteriologisch und eschatologisch als leiblich-relationales Verhältnis zu denken. Gilt Gottebenbildlichkeit allen Menschen, ist sie folglich mit dem leiblichen Menschsein verbunden und damit mit der leiblichen Abstammung des Menschen vom Menschen. Hier liegt eine Nähe zu dem erwähnten Argument der Speziezugehörigkeit.42

38 Vgl. dazu auch die (schöpfungstheologisch anschlussfähige) leibphänomenologische Würdekonzeption von Thomas Fuchs, Leib und Lebenswelt. Neue philosophisch-psychiatrische Essays, Kusterdingen 2008, 104 – 120. 39 Vgl. zu dieser Unterscheidung Hrle, Menschsein (s. o. Anm. 4), 397 – 398; Ders.: Ethik (s. o. Anm. 4), 141 – 143, wo allerdings nicht von Selbstbestimmung die Rede ist, dafür diese Unterscheidung als Strukturmerkmal für alles geschaffene Seiende stark gemacht wird. 40 Vgl. dazu Kaiser: „Der Mensch ist nach der Überzeugung des Priesters [der Priesterschrift, FMB] eine verkleinerte, vollplastische Kopie Gottes und seiner himmlischen Diener, der Engel.“ Kaiser, GAT 2 (s. o. Anm. 7), 304, dem aber Janowski, Lebendige Statue (s. o. Anm. 7), 195, Anm. 50 widerspricht. Letztlich beruht diese Differenz auf der Frage, auf welchem Abstraktionsgrad der in den Begriffen zelem und demut liegende Gedanke von Entsprechung und Repräsentanz von Mensch und Gott zu denken ist. 41 Vgl. BSELK (s. o. Anm. 9), 22. 42 Gleichwohl dürfte die Abstammung kein hartes Kriterium für die Gattungszugehörigkeit sein, wie das Beispiel Maulesel veranschaulicht.

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Was sagt das nun aus für ein theologisch qualifiziertes Verständnis von Menschenwürde? Als ontische Form spezifisch menschlicher Relationalität kann von der Gottebenbildlichkeit her gedachte Menschenwürde nicht verletzt werden. Sie ist unantastbar43 und zwar deshalb, weil Jesus Christus die ärgsten Verletzungen leiblicher Souveränität und darin liegender Würde in Folter und Kreuzigung durchlitten hat. Die Passion Christi integriert jede Form menschlicher Entwürdigung in die Gottebenbildlichkeit. Das sprichwörtliche ecce homo ( Joh 19,5) weist auf den gefolterten, dann nackt ans Kreuz geschlagenen, den Blicken einer voyeuristischen Öffentlichkeit preisgegebenen Menschen, dessen engste Freunde sich in Scham und Angst von ihm zurückziehen. Ist der gefolterte und gekreuzigte Christus Ebenbild Gottes, so wird Gott auch in jedem misshandelten und gequälten Menschen ansichtig, nicht im isoliert betrachteten einzelnen Körperteil, sondern in der gesamten leiblichen Erscheinung des Menschen, die Bewegung, Sprache, Blicke und vieles mehr einschließt. Weil die Passion Christi noch jede Form menschlicher Entwürdigung in die Gottebenbildlichkeit integriert, ist von der Gottebenbildlichkeit her gedachte Menschenwürde unantastbar, obgleich ihre intensivste Erscheinungsform die äußerste Verletzlichkeit des Wehrlosen ist. Weil das Christusgeschehen konstitutiv für vollendetes Menschsein als solches ist44, kann eine in Schöpfung und Erlösung begründete Menschenwürde nicht alleine in Akten der Anerkennung begründet sein. Vielmehr muss sie ontischen Charakter haben, also im von Gott geschaffenen und auf eine Erlösung angewiesenen Sein des Menschen begründet liegen. Nicht die Menschenwürde als ontische Gegebenheit, allerdings die Ansprüche, die aus ihr um ihrer phänomenalen Realisierung willen folgen, sind antastbar und verletzbar.

3 Der Speziesismusvorwurf Gegen christliche und metaphysische Begründungsmodelle für den Menschenwürdegedanken wird in ethischen Debatten gerne der so genannte Speziesismusvorwurf erhoben. Der auf den Oxforder Psycholo43 Dem entspricht der Literalsinn von Art. 1 Absatz 1, Satz 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. 44 Vgl. Luthers Definition des Menschen: Hominem iustificari fide, These 11, Luther, Disputatio de Homine (s. o. Anm. 22), 668 – 669.

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gen Richard Ryder zurück gehende Begriff ,Speziesismus‘45 wurde nicht zuletzt durch populäre ethische Schriften von Peter Singer zu einem ethischen Topos.46 Ryder beschreibt das Argument folgender Maßen: „Our moral argument is that species alone is not a valid criterion for cruel discrimination. Like race or sex, species denotes some physical and other differences but in no way does it nullify the great similarity among all sentiments – our capacity for suffering. Where it is wrong to inflict pain upon a human animal it is probably wrong to do so to a non human sentiment.“47 Mit dem Speziesismusvorwurf begehren Ryder, Singer und andere gegen den Anthropozentrismus in der Ethik auf, den sie von einem despotischen Anthropozentrismus her verstehen. Der SpeziesismusVorwurf zielt im Kern darauf ab, an die Stelle der diskriminierenden Spezieszugehörigkeit die individuelle Leidensfähigkeit in der ethischen Urteilsbildung zu setzen.48 Rhetorisch geschickt wird eine Reihe von Rasse, Geschlecht und Spezies aufgebaut, die suggeriert, dass Speziesismus ebenso wenig akzeptabel sei wie der weithin verurteilte Rassismus und Sexismus. Darüber hinaus werden die Speciesgrenzen mit dem Beispiel genetischer Hybridforschung in Frage gestellt.49 Gemäß Peter Singer ist an die Stelle der ,traditionellen Ethik der Heiligkeit des menschlichen Lebens‘, die bis heute an vielen Stellen Elend hervor gebracht habe und den ethischen Fortschritt blockiere, das neue ethische Prinzip der gleichen Interessenabwägung all derer zu setzen, die von einer Entscheidung betroffen sind.50 45 Vgl. Franz Josef Wetz, Die Würde des Menschen ist antastbar. Eine Provokation, Stuttgart 1998, 287. 46 Peter Singer, Animal Liberation: towards an end of man’s inhumanity to animals, New York 1975; Ders.: Practical Ethics, Cambridge 1993. 47 Richard Dudley Ryder, Animal Revolution: Changing Attitudes toward Speciesism, Oxford/New York (1989) 22000, 6. 48 Vgl. a.a.O.,238 – 239. „We are saying that whatever feels pain, whether an animal or some machine of the future, should have moral rights.“ A.a.O.,242. Anders als Singer lehnt Ryder aber die individuelle Aufrechnung von Schmerz und Lust ab, vgl. a.a.O.,239 – 240. 49 Schon in seiner Einleitung entwickelt Ryder, wie die Tierschutzbewegung in den 1960er Jahren aus demselben Geist wie die gegen Rassismus und Sexismus gerichteten Antidiskriminierungsbewegungen entstanden ist, vgl. a.a.O.,2 – 5, zum Hybrid-Argument 7. Die Tendenz des Menschen zur Diskriminierung begreift Ryder als in einem von zwei angeboren Urimpulsen begründet: dem dominierenden Impuls im Gegenüber zum mitfühlenden Impuls, a.a.O.,227. 50 Peter Singer, Leben und Tod. Der Zusammenbruch der traditionellen Ethik, Erlangen 1998, 190 – 223; Ders., Praktische Ethik, Stuttgart 21994, 155 – 176.

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Wie ist mit diesem Einwand umzugehen? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Funktionsweisen des zentralen Nervensystems von Primaten und Menschen kaum unterscheiden.51 Folglich kann das Schmerzempfinden von Menschen und Tieren in der Tat als vergleichbar betrachtet werden.52 Die Frage ist aber, ob diese Vergleichbarkeit alleine ausreicht, Speziesunterschiede im Blick auf Grundrechte und Freiheiten genauso als ethisch irrelevant zu beurteilen, wie es die Vergleichbarkeit der Geschlechter und der menschlichen Rassen erfordert, geschlechtliche und rassische Unterschiede als diesbezüglich ethisch irrelevant zu beurteilen und Sexismus und Rassismus zu verurteilen. Während Mensch und Tier sich im Schmerzempfinden vermutlich prinzipiell gleichen, unterscheiden sie sich doch erheblich in sonstigem leiblichen Erleben und in ihren leiblichen Fähigkeiten. Die biblischen Aussagen über den Menschen und Verhältnisbestimmungen zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen heben auf eine theologisch relevante Speziesdifferenz ab. Das gilt schon für die Zeit vor der Sintflut, als Gott dem Menschen noch Vegetarismus verordnet.53 Die theologisch relevante Speziesdifferenz liegt allerdings in nichts anderem, als dass Gott den Menschen als einziges 51 Vgl. Ryder, Animal Revolution (s. o. Anm. 45), 238 – 239. 52 Die neuronalen Voraussetzungen zur Wahrnehmung von Schmerzen dürfen allerdings nicht gleichgesetzt werden mit subjektiver Schmerzempfindung. Es gilt als wissenschaftlich erwiesen, „dass Menschen – selbst im Vergleich zu hoch entwickelten Säugetieren – Schmerzen und Leiden in einer ganz besonderen Weise empfinden, beurteilen und mit entsprechenden Handlungen beantworten. Aus naturwissenschaftlicher Sicht lässt sich die These von der Gleichheit aller Lebewesen nicht halten. Gerade wegen der herausragenden Sonderstellung des Gehirns ist der Mensch nur schwer in der Lage, mit Hilfe seiner subjektiven Empfindungen die Empfindungen der Tiere bei Schmerzen und Leiden zu verstehen.“ Manfred Rçhrs, Art. Tierhaltung 1. Haustiere, in: Wilhelm Korff u. a. (Hg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 3, Gütersloh 2000, 539 – 546, 542. Vgl. auch Gerhard Hçver, Art. Leidensfähigkeit, in: Wilhelm Korff u. a. (Hg.): Lexikon der Bioethik, Bd. 2, Gütersloh 2000, 590 – 592. 53 Der Vegetarismus findet sich nur in der Priesterschrift. In den nichtpriesterlichen Passagen der Urgeschichte wird dagegen berichtet, dass Abel Gott ein Tieropfer darbringt, also wurde gemäß der Autoren dieser Passagen schon in der zweiten Menschengeneration geschlachtet (Gen 4,4; vgl. zur Priesterschrift und zur nichtpriesterlichen Urgeschichte Gertz, Grundinformation AT (s. o. Anm. 11), 236 – 247, 260 – 268). Insofern ist aus christlicher Perspektive der Speziesismus kein „evil system“, wie Ryder es nahe legt (vgl. Ryder, Animal Revolution (s. o. Anm. 45), 11). Da aber Gott gemäß dem Ende der Sintfluterzählung den ursprünglichen Vegetarismus aufhebt (Gen 9,3), nachdem er die allgemeine Bosheit des menschlichen Herzens festgestellt hat (Gen 8,21), ist eine Verbindung von Bosheit des Menschen und Leiden der Tiere auch biblisch gegeben.

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Geschöpf zu seinem Ebenbild geschaffen hat und damit dem Menschen eine einzigartige Würde verliehen hat. Alle anderen Unterschiede zu anderen Geschöpfen und alle Gemeinsamkeiten mit ihnen sind dagegen bedeutungslos und begründen theologisch betrachtet keinen Unterschied im Blick auf Grundrechte und Freiheiten.54 Zudem sind Tiere, Pflanzen wie die gesamte geschaffene Umwelt des Menschen zwar Träger von Würde qua Schöpfung, sie sind aber keine Adressaten von Würde. Sie haben ein von Gott gegebenes Anrecht darauf, vom Menschen geachtet zu werden. Der Mensch hat jedoch kein Anrecht darauf, von seiner nichtmenschlichen Umwelt als Mensch geachtet zu werden. Jüdischchristliche Menschenbilder sind insofern schon an der Wurzel speziesistisch.55 Wird die Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu ihren schöpfungstheologischen auch in ihren soteriologischen und eschatologischen Aspekten bedacht, so zeigt sich, dass eine in der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründete Menschenwürde nicht grausame Diskriminierung anderer Geschöpfe legitimiert, wie es Ryder kritisiert. Vielmehr schließt eine in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründete Menschenwürde das Bewusstsein der Fehlbarkeit und Sündhaftigkeit menschlichen Urteilens und Handelns ein. Es ist also gerade der hamartiologische und soteriologische Aspekt eines christlichen Verständnis’ von Menschenwürde, der angesichts des Speziesismusvorwurfs zu bedenken ist. Der Züricher Ethiker Johannes Fischer bemüht sich den Speziesismusvorwurf zu entkräften, indem er einen sozialen Begriff des Menschen in kategorialer Abgrenzung von einem biologischen Begriff des Men54 Dabrock betont, dass spezifisch menschliche Eigenschaften die Sonderstellung des Menschen plausibilisieren und zählt „,Freiheit‘, ,Selbstbestimmung‘, ,Geist in der Welt‘, ,zur moralischen Autonomie befähigende Vernunft‘, ,Fähigkeit zur verantwortlichen Kommunikation‘“ zu solchen Eigenschaften (vgl. Dabrock, Leibliche Vernunft (s. o. Anm. 5), 241). Allerdings verfallen derartige Plausibilisierungen dem Speziesismusvorwurf, der Menschen, die diese Eigenschaften nicht aufweisen, den Würdeschutz entziehen will. Dabrock entwickelt deshalb einen Begriff der „leiblichen Vernunft“, der mit Hilfe der Kriterien Potentialität, Sozialität und Geschichtlichkeit jedem Exemplar der Spezies Mensch den Würdeschutz zukommen lassen will. 55 Vgl. auch Hrle, Menschsein (s. o. Anm. 4), 305 – 333 und 394 – 396; Ders.: Alle Menschen sind Personen. Auseinandersetzung mit dem Speziesismusvorwurf, in: Peter Dabrock (Hg.): Gattung Mensch. Interdisziplinäre Perspektiven, Tübingen 2010, 207 – 225; Ders.: Ethik (s. o. Anm. 4), 256 f.

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schen entwickelt.56 Die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Mensch soll keine ethische Bedeutung haben, weil ethische Urteile in die Kategorie soziales Menschsein und nicht biologisches Menschsein fallen. Den Begriff ,Menschenwürde‘ beschreibt Fischer als Implikat des sozialen Begriffs des Menschen. Fischer geht es dabei nicht um ein Begründen von Menschenwürde, sondern um ein Verstehen der ethischen Dimension des Menschseins. Fischer ist davon überzeugt, dass die Perzeption grundlegend für die ethische Orientierung ist. Die Perzeption ist aber nicht durch biologische, sondern durch soziale Zusammenhänge geprägt. Der Mensch ist Mensch und als ein solcher wahrnehmbar als Mitglied einer sozialen Gemeinschaft. Der soziale Begriff des Menschen enthält neben seiner deskriptiven eine normative Komponente. Auf dem Wahrnehmungsmuster Mensch basierend fordert der soziale Begriff des Menschen für ein wahrgenommenes Exemplar der Gattung Mensch die Achtung als Mensch ein. Dem sozialen Begriff des Menschen entspricht der Begriff ,Person‘.57 Die Würde des Menschen achten heißt für Fischer, „ihn als Mitglied der Anerkennungs- und Achtungsgemeinschaft der sozialen Welt achten“58, aber nicht ihn um seiner biologischen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch willen achten.59 Den sozialen Begriff des Menschen gewinnt Fischer theologisch, indem er den relationalen Sinn der biblischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen herausstellt.60 Fischer betont, dass Gottebenbildlichkeit dem individuellen Menschen eigne; es sei keine Eigenschaft der Spezies Mensch.61 Folglich ist für Fischer der soziale Begriff des Menschen in seiner Extension auch nicht mit dem biologischen Begriff des Menschen identisch.

56 Vgl. Fischer, Grundkurs (s. o. Anm. 4), 395 – 407. 57 Vgl. Johannes Fischer, Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, Stuttgart 2002, 171 – 177. 58 Fischer, Grundkurs (s. o. Anm. 4), 396. 59 Vgl. Fischer, Theologische Ethik (s. o. Anm. 56), 174 – 175. 60 Vgl. Fischer, Grundkurs (s. o. Anm. 4), 391. 61 Anders Hans Walter Wolff: „Wie aber ist in dem Satz 1,26a … a¯da¯m zu verstehen? … Der Zusammenhang klärt, daß überhaupt kein Einzelmensch gemeint ist. Die Fortsetzung in 1,26b … weist einen Plural auf. So ist a¯da¯m fraglos kollektiv zu verstehen: eine Menschheit will Gott schaffen.“ Wolff, Anthropologie (s. o. Anm. 7), 236 f. Wie oben gezeigt wurde, lässt sich der individuelle Charakter von Gottebenbildlichkeit nur soteriologisch erweisen, schöpfungstheologisch ist nur ein kollektiver Charakter von Gottebenbildlichkeit zu begründen.

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Weil die Bibel stellenweise davon spricht, dass Gott einen individuellen Menschen im Mutterleib gebildet und bereitet hat62, hat nach Fischer auch das Ungeborene im Mutterleib Anteil an der Gottebenbildlichkeit und der Menschenwürde. Er urteilt: „Das vorgeburtliche Leben hat … insoweit am Status geborener Menschen teil, wie es sich auf einen geborenen Menschen zu entwickelt.“63 Diese Entwicklung vollzieht sich in der Schwangerschaft. Mit der Schwangerschaft beginnt die soziale Wahrnehmung und Anerkennung menschlichen Lebens. Im Blick darauf ist allerdings zu bedenken, dass eine Schwangerschaft nicht von jeder Schwangeren zu einem vergleichbaren Zeitpunkt erkannt wird. Der Eintritt in die soziale Anerkennungsgemeinschaft individueller Menschen kann also in ganz unterschiedlichen pränatalen Entwicklungsstadien geschehen. Um für alle Menschen in gleicher Weise gültige Normen entwickeln zu können, kommt auch eine an der Schwangerschaft orientierte ethische Urteilsbildung nicht umhin, nach dem Beginn der Schwangerschaft zu fragen. Da dieser aber nicht über die bloße Wahrnehmung zu erfassen ist, bleibt auch hier ein biologisches Argument. Die Nidation ist bei Fischer letztlich die ethisch relevante Zäsur in der Entwicklung des Menschen.64 Das ist allerdings ein biologisches Kriterium. Auch ein sozialer Begriff des Menschen kommt in normativer Hinsicht nicht um biologische Kriterien herum. Damit ist aber offen, ob der Speziesismusvorwurf wirklich entkräftet ist. Denn es ist nach Fischer der eingenistete Embryo der Spezies Mensch, der einen Würdeschutz genießt. Die Extension eines in schöpfungstheologischer, soteriologischer und eschatologischer Perspektive entworfenen relationalen Konzept von Gottebenbildlichkeit sollte vor die Nidation des Menschen zurückreichen. Ein solches Konzept beschreibt das auf anderes und andere angewiesene menschliche Sein, das nicht erst mit der Nidation entsteht. Es entsteht vielmehr mit der Befruchtung, wie auch die Verfechter eines erst ab der Nidation wirksamen Würdeschutzes mit der

62 Fischer nennt Jer 1,5 und Ps 139,13ff, vgl. Fischer, Grundkurs (s. o. Anm. 4), 404. 63 Ebd. Eine ähnliche Position vertritt auch Anselm, Rechtfertigung (s. o. Anm. 5), 479 – 481. 64 Vgl. Johannes Fischer: Stellungnahme zum Entwurf des Schweizer „Bundesgesetz über medizinisch unterstützte Fortpflanzung“, 18. 05. 2009, 8, in: www.ethik.uzh.ch/ise/publikationen/publikationen-1/200905PID.pdf (zuletzt abgerufen am 23. 02. 2011).

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ethischen Unterscheidung von menschlichem Leben und Menschsein zugeben.65 Dennoch ist zu betonen, dass Fischer mit seinen narrativen Rekursen auf die biblischen Schriften in geschickter Weise moderne etablierte Begriffe vertiefen und die Bedeutung der christlichen Tradition für unser heutiges Wirklichkeits- und Selbstverständnis herausarbeiten kann. Gerade weil Fischer die Bedeutung biblischer Erzählungen für ein vertieftes ethisches Verständnis vom Menschen ernst nimmt, ist es aber nicht unproblematisch, dass er im Zusammenhang seiner relationalen Entfaltung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht auf die Wirklichkeit der Sünde zu sprechen kommt.66 Problematisch ist das deswegen, weil es die Wirklichkeit der Sünde ist, die die Gottebenbildlichkeit des Menschen faktisch karikiert. Eine Verbindung der Menschenwürde mit der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen ohne eine harmatiologische und christologische Reflexion ist theologisch zu kurz gegriffen und ideologieanfällig. Sie ist deshalb ideologieanfällig, weil sie die Fehlbarkeit menschlicher Urteilsbildung konzeptionell nicht berücksichtigt. Gegen einen despotischen Anthropozentrismus muss sich ein solches Modell auf andere Weise wehren.67

4 Resümee Ebenbild Gottes zu sein ist die ontologische Bestimmung des Menschen. Ihre Realisierung ist durch die Wirklichkeit und Macht der Sünde gestört und kann nur eschatologisch erfolgen. Unter den Bedingungen der Sünde bleibt sie allenfalls fragmentarisch. Wird nun ein ethischer Grundbegriff wie der der Menschenwürde von der Lehre der Gottebenbildlichkeit des Menschen her interpretiert, muss diesen dogmatischen Koordinaten Rechnung getragen werden. Das bedeutet: Der Mensch hat als leibliches Wesen eine ontische Würde. Sie gründet nicht in seinen tatsächlichen oder potentiellen Fähigkeiten oder den generellen Fähigkeiten der Spezies Mensch, sondern in seiner konstitutiven leiblichen Bezogenheit auf Gott. Am empirischen 65 Vgl. a.a.O.,6, 8 – 10. 66 Vgl. Fischer, Grundkurs (s. o. Anm. 4), 391. 67 Fischer tut dies, indem er den spirituellen Aspekt ethischen Handelns akzentuiert, vgl. Fischer, Theologische Ethik (s. o. Anm. 56), 192 – 195 sowie seinen Beitrag in diesem Band.

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Menschen ist seine ontisch gegebene Würde begründet in der überindividuellen Realität der Sünde nicht zwingend zu erkennen. Die konstitutive Bezogenheit des Menschen auf Gott besteht zusammen mit den konstitutiven Bezogenheiten auf die menschliche und nicht-menschliche Umwelt und auf sich selbst von Beginn eines menschlichen Lebens an bis zu seinem Erlöschen – streng genommen noch über den Tod eines Menschen hinaus, wie die Phänomene des Umgangs mit Verstorbenen zeigen können. In den vier konstitutiven Bezogenheiten des Menschen liegt das Anrecht und der Anspruch, diese Bezogenheiten in den gelebten Beziehungen zu achten und zu gestalten, sie phänomenal zu realisieren. Bestehen zwischen Mensch, Tier und Pflanze im Blick auf die konstitutiven Bezogenheiten große Gemeinsamkeiten, so liegt in dem Anrecht des Menschen auf Achtung und zu Gestaltung eine spezifische Differenz, die die Würde des Menschen von der Würde anderer Lebewesen klar unterscheidet. Der Speziesismusvorwurf lässt sich auf Grundlage einer ontologischen Begründung der Menschenwürde nicht eindeutig zurückweisen. Ob seine Zurückweisung in einem Konzept gelingt, das an Stelle von Begründung auf Verstehen sozialkommunikativer Realisierung von Menschenwürde abhebt, bleibt zweifelhaft. Der Intention des Speziesismusvorwurfs, einen despotischen Anthropozentrismus in die Schranken zu weisen, hat eine Begründung der Menschenwürde in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen Rechnung zu tragen. Sie kann es, indem sie die hamartiologische und soteriologische Dimension christlicher Anthropologie betont und damit der Fehlbarkeit des Menschen wie seiner Sündhaftigkeit konzeptionell Rechnung trägt.

Selbstbestimmung im medizinischen Kontext – gilt sie auch beim Hungerstreik im Freiheitsentzug? Brigitte Tag 1 Einführung Der geehrte Jubilar, Prof. Dr. Wilfried Härle, hat sich in seinem grossen wissenschaftlichen Oeuvre mit besonderer Begeisterung den Menschen gewidmet, ihren Fähigkeiten, Eigenschaften, Werten und ihrer Einbettung in die Gesellschaft. Mit dem Appell „Würde – Groß vom Menschen denken“1 hat Wilfried Härle die unterschiedlichen Aspekte der Menschenwürde in zentralen Kontexten erläutert. Die Grundlegung seiner Ausführungen steht auf zwei Säulen: Die erste beschreibt die Menschenwürde als objektives Anrecht, das von subjektiven Wünschen, Ansprüchen und Vorstellungen zu trennen und das von dem Betroffenen selbst und anderen Personen zu achten und zu respektieren ist. Die zweite Säule beschreibt Menschenwürde als Anrecht auf Achtung als Mensch. Die Achtung umschreibt Wilfried Härle als Wahrnehmen, Ernstnehmen und Rücksichtnehmen in einem Näheverhältnis, gegenüber dem Nächsten, das heißt in einem Begegnungszusammenhang. Diese Grundlegungen sind in der Ethik und im Recht von wegweisender Bedeutung. In etlichen Schriften und Werken, so in der 2011 veröffentlichten „Ethik“2, dem 2005 veröffentlichten Werk „Menschsein in Beziehungen“3, aber auch in dem Buch „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“4 zeigt der Jubilar die Konsequenzen seiner Interpretation auf. Er gibt Wissenschaft und Gesellschaft Erläuterungen an die Hand, wie die Menschenwürde in den besonders prekären Kontexten gelebt und er1 2 3 4

Wilfried Hrle, Würde – Groß vom Menschen denken, München 2010, insbesondere Kapitel 1. Wilfried Hrle, Ethik, Berlin 2011. Wilfried Hrle, Menschsein in Beziehungen, Tübingen, 2005. Wilfried Hrle/Bernhard Vogel (Hg.), Vom Rechte, das mit uns geboren ist, Freiburg i. Br. 2007.

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fahren werden kann und welche sichtbaren und unsichtbaren Klippen hierbei zu überwinden sind. Diesen Weg und die Gedanken Wilfried Härles aufgreifend soll im Folgenden ein ethisch und rechtlich umstrittenes Thema besprochen werden, das die Würde und die Selbstbestimmung des Menschen angeht. Es handelt sich hierbei um den im Jahre 2010 und 2011 in der Schweiz kontrovers besprochenen Hungerstreik im Gefängnis.

2 Hungerstreik im Gefängnis Im Folgenden sollen ein umfangreicher und drei knappere Rechtsfälle mit ethischen Implikationen nachgezeichnet werden, die sich in den letzten Jahren in der Schweiz ereignet haben. Dem ersten Rechtsfall des „widerspenstigen“ Hanfbauern Bernhard Rappaz liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Im November 1996 wurde Rappaz im Zuge der Durchsuchung und Beschlagnahme von Hanfduftkissen aus seinem Unternehmen verhaftet. Um dagegen zu protestieren, begann er sofort mit einem Hungerstreik, den er erst mit seiner Haftentlassung im Januar 1997 abbrach. Im November 2001 wurde das Unternehmen von Rappaz erneut durchsucht und es wurden ca. 51 Tonnen Hanf im Wert von ca. 35 – 40 Mio CHF beschlagnahmt. Nach seiner Verhaftung trat er erneut in einen Hungerstreik. Im November 2006 wurde Rappaz vom Bezirksgericht Martingy wegen Verstosses gegen Betäubungsmittelgesetz, einfacher Körperverletzung, ungetreuer Geschäftsbesorgung, Geldwäscherei, Verkehrsdelikte, diverser Verletzungen sozialversicherungsrechtlicher Normen zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 8 Monaten verurteilt. Zudem stellte der Staat eine Ersatzforderung in Höhe von 500.000 CHF. Das Urteil wurde im August 2008 vom Walliser Kantonsgericht bestätigt, die Ersatzforderung hingegen auf 220.000 CHF reduziert. Das Bundesgericht (BGer) bestätigte im Mai 2009 die Verurteilung, jedoch wurde die Ersatzforderung als unangemessen hoch bewertet. Das Walliser Kantonsgericht erließ im August 2009 die Zahlung der Ersatzforderung. Rappaz wurde im März 2010 in Sion zwecks Strafvollstreckung inhaftiert. Er trat in Hungerstreik und fasste eine Erklärung ab, dass er eine künstliche Ernährung ablehnt, sollte er ins Koma fallen. Im Mai 2010 setzte die Walliser Regierungsrätin Esther Waeber-Kalbermatten die Strafe aus gesundheitlichen Gründen aus, so dass sich Rappaz während zwölf Tagen wieder ernährte. Wieder ins Gefängnis verbracht, hungerte er wieder und wurde im Juni 2010 in das Genfer Universitätsspital verlegt. Sein erneutes Gesuch um Unterbruch des

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Strafvollzugs wurde durch die Walliser Regierungsrätin und durch das Walliser Kantonsgericht abgelehnt. Rappaz wurde im Juli 2010 auf Anordnung der Regierungsrätin in das Berner Inselspital verlegt. Über seinen Rekurs an das BGer gegen die Nichtgewährung des Vollzugsunterbruchs entschied das BGer kurz darauf im Rahmen eines vorläufigen Entscheids. Auf der Grundlage von Art. 104 Gesetz über das Bundesgericht5 (BGG) verpflichtete es die Regierungsrätin bis zur ordentlichen Entscheidung am 26. August 2010 alle Massnahmen zu ergreifen, um das Leben des Rekurrenten zu schützen, notfalls auch die menschenwürdige Zwangernährung durchzuführen. Seine Begründung: Pratiquée dignement, l’alimentation forcée n’est pas contraire aux art. 10 al. 3 Cst. et 3 CEDH.6 Die medizinisch-ethischen Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zur Ausübung der ärztliche Tätigkeit bei inhaftierten Personen7, über die Standesordnung der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) zum Standesrecht erhoben8, fanden dabei keine nennenswerte Beachtung. Danach ist unter anderem festgelegt, dass bei einem voll urteilsfähigen Inhaftierten der Entscheid zum Hungerstreik, auch im Falle eines beträchtlichen Gesundheitsrisikos, medizinisch respektiert wird. Fällt die Person im Hungerstreik in ein Koma, so geht der Arzt nach seinem Gewissen und seiner Berufsethik vor, es sei denn, die betreffende Person habe ausdrückliche Anordnungen für den Fall eines Bewusstseinsverlustes hinterlegt, auch wenn diese den Tod zur Folge haben können. Unter Bezug auf diese Position weigerten sich die Ärzte die Zwangsernährung durchzuführen. Die Regierungsrätin entschied daher, dem inhaftierten Hanfbauern bei einem Abbruch des Hungerstreiks einen vorübergehenden speziell überwachten Strafvollzug bei sich zu Hause im Wallis zu ermöglichen. Obgleich diese Vollzugsform gesetzlich nicht geregelt ist, war sie nach Art. 80 des schweizerischen Strafgesetzbuches9 (StGB) möglich. Gleichwohl stieß das Vorgehen in der Öffentlichkeit auf breite Kritik und wurde neben den hohen Kosten, die dadurch verursacht

5 6 7 8 9

SR 173.110. Bundesgericht v. 15. Juli 2010 6B_599/2010. Vom 28. November 2002, http://www.fmh.ch/files/pdf4/Anhang1_dt_2010. pdf (alle elektronischen Fundstellen zuletzt aufgerufen am 2. Mai 2011). Art. 18 Standesordnung FMH i.V. Anhang I http://www.fmh.ch/files/pdf4/ Standesordnung_2010.04.05_dt.sc.pdf. SR 311.0.

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wurden10, vielfach als Erpressbarkeit des Staates verstanden.11 Das BGer bestätigte in seinem Entscheid vom 26. August 2010 den vorläufigen Entscheid und verpflichtete die Strafvollzugsbehörden, Rappaz notfalls menschenwürdig zwangsweise zu ernähren. Es lehnte zugleich eine Vollzugsunterbrechung aus wichtigen Gründen nach Art. 92 StGB ab. Rappaz wurde noch am gleichen Tag wieder in den Freiheitsentzug versetzt und trat kurz darauf erneut in Hungerstreik. Ende Oktober 2010 wurde er in das Universitätsspital Genf eingeliefert. Sein Antrag auf erneuten Vollstreckungsunterbruch wurde zurückgewiesen. Zugleich wurde der zuständige Arzt im Universitätsspital Genf unter Strafandrohung nach Art. 292 StGB12 angewiesen, Rappaz notfalls zwangsweise zu ernähren. Dessen Rechtsmittel wurden verworfen13, die strafbewehrte Verpflichtung des Arztes bekräftigt. Fast zeitgleich wurde der Hof von Rappaz zwangsversteigert.14 Das BGer verwies auf seinen früheren Entscheid. Der in der Zwischenzeit angerufene Bundesrat gab in seinem Antwortschreiben an den Anwalt von Rappaz bekannt, dass es keine rechtliche Basis für eine Intervention von Seiten des Bundesrates gebe. Die Zuständigkeiten seien klar geregelt, sie lägen bei den Kantonen und den Gerichten.15 Der Grosse Rat des Kantons Wallis lehnte im November 2010 das Gnadengesuch von Rappaz mit 113 zu 14 Stimmen ab.16 Der gegen den Entscheid des BGer angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangte im Dezember 2010, dass Rappaz seinen Hungerstreik während des zwei bis drei Jahre dauernden Verfahrens in 10 Der Hausarrest kostete ca. 44.000 CHF, vgl. http://www.drs.ch/www/de/drs/ nachrichten/schweiz/211740.rappaz-muss-hausarrest-selber-bezahlen.html. 11 Vgl. z. B. Neue Zürcher Zeitung vom 23. Juli 2010, Gefängnisdirektoren setzen auf Härte bei Erpressungen. 12 Art. 292 StGB, Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen lautet: Wer der von einer zuständigen Behörde oder einem zuständigen Beamten unter Hinweis auf die Strafdrohung dieses Artikels an ihn erlassenen Verfügung nicht Folge leistet, wird mit Buße bestraft. Art. 106 StGB, Buße lautet: Bestimmt es das Gesetz nicht anders, so ist der Höchstbetrag der Buße 10.000 Franken. 13 BGE 6B_959/2010 vom 16. November 2010. 14 Tagesanzeiger vom 21. November 2010, http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/ standard/Rappaz-will-offenbar-Hungerstreik-beenden/story/23938804. 15 http://www.tagesschau.sf.tv/Nachrichten/Archiv/2010/11/17/Schweiz/FallRappaz-Dem-Bundesrat-sind-die-Haende-gebunden. 16 Berner Zeitung v. 18. November 2010 http://www.bernerzeitung.ch/schweiz/ standard/Keine-Chance-fuer-Hanfbauer-Rappaz-vor-dem-Grossen-Rat/ story/22567476; http://www.drs.ch/www/de/drs/nachrichten/schweiz/ 223806.hintergrund-der-fall-rappaz.html.

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Straßburg unterbreche. Seine Forderung nach sofortigen Maßnahmen lehnte der Gerichtshof ab. Rappaz hatte daraufhin an Weihnachten 2010 seinen Hungerstreik nach 120 Tagen eingestellt. Der unter Androhung von Strafe zur Zwangsernährung durch die Walliser Justiz im Universitätsspital verpflichtete Gefängnismediziner hatte sich zwar dagegen beim BGer zur Wehr gesetzt. Nachdem Rappaz seinen Hungerstreik jedoch eingestellt hat, hat das BGer das Verfahren aber als gegenstandslos eingestellt. Es erachtete die Frage, ob ein Arzt unter Strafandrohung zur Zwangsernährung eines Häftlings im Hungerstreik verpflichtet werden könne, grundsätzlich als bedeutend und im öffentlichen Interesse. Nachdem Rappaz den Hungerstreik jedoch beendet habe, fehle es aber an einem aktuellen und praktischen juristischen Interesse zur richterlichen Klärung. Es gebe keine Hinweise, dass die Frage nicht rechtzeitig von einem Gericht beantwortet werden könnte, falls sie sich in Zukunft wieder einmal stellen sollte. Dazu besteht jedoch begründete Aussicht. Denn nach Pressemeldungen verweigerte Anfang 2010 eine 48-jährige Frau, die wegen Betrugs und anderer Delikten zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden, ebenfalls die Nahrung. Nach 100 Tagen Hungerstreik wurde ihre Haftstrafe für sechs Monate gemäß Art. 92 StGB unterbrochen.17 Wie die Waadtländer Justiz hier weiter verfahren ist, wurde bislang nicht mitgeteilt. Zudem wurde Rappaz noch im Jahr 2010 wiederum angeklagt wegen Urkundenfälschung, Geldwäscherei und Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. Dieser in den Details durchaus komplizierte Sachverhalt zeigt, dass sich die Thematik „Hungerstreik“ über Jahre hinweg gezogen hat und die kantonalen Instanzen sowie die Gerichte auch weiter beschäftigen wird. Die Ärzte und Pflegenden waren durch die immer wieder auftretenden hungerstreikbedingten gesundheitlichen Beschwerden von Rappaz zwar laufend in den Fall involviert. Sie wurden jedoch bei den bindenden Vollzugsentscheidungen zugunsten der Zwangsernährung primär als Ausführungsorgan betrachtet. Dies hat zu erheblichen Irritationen geführt. Sie gipfelten darin, dass die FMH, der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner SBK, die SAMW, die Zentrale Ethikkommission der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften ZEK, die Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte und 17 http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Keine-Chance-fuerHanfbauer-Rappaz-vor-dem-Grossen-Rat/story/22567476 vom 18. November 2010.

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das Forum der Gesundheitsdienste des Schweizerischen Justizvollzugs im September 2010 eine Resolution veröffentlichten, die unterstrich, dass bei einem selbstbestimmten Hungerstreik intra muros keine Zwangsernährung durchgeführt wird.18 Das Rechtmittel gegen die strafbewehrte Verpflichtung zur Zwangsernährung nach Art. 292 StGB wurde vom betroffenen Arzt mit breiter, wenngleich nicht einhelliger Unterstützung durch die Ärzteschaft ergriffen, ein inhaltlicher Entscheid des BGer kam jedoch wegen Erledigung der Hauptsache nicht zustande. Betrachtet man diesen Rechtsfall, so könnte der Eindruck entstehen, dass der Hungerstreik im Gefängnis in der Schweiz bislang kein Thema war. Dies wäre jedoch ein Trugschluss. Am 1. Februar 2007 trat der in Auslieferungshaft befindliche Kurde Mehmet Esiyok in den Hungerstreik. Er wollte damit verhindern, dass seine Auslieferung an die Türkei vollzogen wird. Nach 42 Tagen Hungerstreik wurde er in die Gefängnisabteilung des Inselspitals verlegt. Dort hatte er in Anwesenheit eines Vertrauensarztes und eines Anwalts eine schriftliche Anordnung unterzeichnet, die den behandelnden Ärzten nach seinem Bewusstseinsverlust jegliche Zuführung von Nahrung untersagte. Er betonte, er wolle lieber sterben als an die Türkei ausgeliefert zu werden. Nach zwei Monaten Hungerstreik und einigen Gerichtsverfahren entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass Esiyok nicht ausgeliefert wird.19 Im Juni 2009 trat der zu langjähriger Freiheitsstrafe verurteilte und verwahrte Gefängnisinsasse René Osterwalder in der Strafanstalt Pöschwies im Kanton Zürich in Hungerstreik, bis sein von ihm getrennter Freund wieder bei ihm in der Strafanstalt sein werde.20 Beim Freund handelt es sich um einen ebenfalls verwahrten Insassen der Pöschwies, der, als die Liebesbeziehung zwischen den beiden Männern bekannt wurde, in eine Strafanstalt im Kanton Bern versetzt wurde. Osterwalder hatte schriftlich jede künstliche Ernährung verboten und verwies auf die Richtlinien der SAMW. Er hatte zudem seinen Anwalt beauftragt, Personen, die gegen diese Patientenverfügung verstoßen, wegen Körperverletzung anzuzeigen. Nachdem sich sein körperlicher Zustand aufgrund des Hungerstreiks verschlechtert hatte, wurde er von der Pö18 SÄZ 2010, 518 ff. 19 Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 17. Oktober 2008, Abteilung V E-4286/ 2008/frk {T 0/2}. 20 Tagesanzeiger vom 10. Juli 2009, http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/ kanton/Osterwalder-im-Hungerstreik/story/11564048.

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schwies in das Inselspital Bern verlegt. Nach rund einem Monat beendete Osterwalder seinen Hungerstreik, da sein Partner den Wunsch geäußert hatte, er solle den Hungerstreik abbrechen.21 Am 17. März 2010 starb der 29jährige, wegen Drogendelikten angezeigte Nigerianer Alex Uzuwulu im Flughafen Zürich, als er ausgeschafft werden sollte. Er befand sich nach den Presseberichten seit mindestens 40 Tagen im Hungerstreik und war gemäß Bodymass-Index im Grenzbereich zur Kachexie angelangt.22 Bislang ist umstritten, ob eine bis anhin unerkannte schwere Vorerkrankung des Herzens für den Tod ursächlich war23 oder ob andere Gründe wie zum Beispiel der akute Erregungszustand des 29-jährigen Nigerianers und sein vorausgegangener Hungerstreik den Tod (mit-)verursacht haben. Ein zweites rechtsmedizinisches Gutachten soll dies nun klären.24 Die genannten Fälle zeigen, dass der Hungerstreik im Freiheitsentzug ein aktuelles Thema darstellt, weitere Fälle in der Vergangenheit, auf deren Beschreibung hier verzichtet werden soll, lassen den Schluss zu, dass das Thema insgesamt nicht neu und überraschend ist.25

3 Ethische und rechtliche Betrachtung Die geschilderten Fälle sind exemplarisch zu verstehen. Bei aller Publizität, die der Hungerstreik im Gefängnis genießt, mag es erstaunen, dass sich seine große ethische und rechtliche Bedeutung bislang wenig im Recht widerspiegelt. Zwar werden einzelne Aspekte diskutiert, eine systematische Aufarbeitung und Darstellung finden sich aber nicht. Der vorliegende Beitrag hat daher ein weites Feld zu bestellen. Es gilt, eine Auswahl zu treffen, um den vorgegebenen Rahmen nicht überzustrapazieren. Ich werde mich daher beschränken und drei Themenbereiche 21 http://www.nzz.ch/nachrichten/panorama/rene_osterwalder_hungerstreik_ abgebrochen_1.3412213. html. 22 Michel Romanens, Begleitung einer Ausschaffung durch Ärzte: medizinische Aspekte, Schweizerische Ärztezeitung 2011 (92), 382 ff. 23 So nach Presseberichten das Gutachten des IRM Zürich, NZZ v. 31. August 2010, http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/schweiz/fragen_nach_tod_bei_ ausschaffung_1.7391953.html. 24 Jacques de Haller, Die Wochenzeitung, Interview v. 7. April 2011, http:// www2.woz.ch/artikel/2011/nr14/schweiz/20580.html. 25 Hierzu Franz Riklin, in: Nicolas Queloz/Frank Riklin/Ariane Senn/Philippe de Sinner (Hg.), Medizin und Freiheitsentzug, Bern 2002, S. 59 ff.

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aus dem Gesamtkomplex ansprechen: die Charakteristik des Hungerstreiks, seine rechtlichen Rahmenbedingungen und ihre Wechselwirkungen zur Ethik.

3.1 Charakteristik des Hungerstreiks a Verhaltenstypus Die eingangs geschilderten Fälle stehen für weitere, gegebenenfalls weniger spektakuläre Hungerstreiksituationen und zeigen, dass der Hungerstreik im Freiheitsentzug ein wiederkehrender Sachverhalt mit großer ethischer und rechtlicher Relevanz ist.26 Die Umstände, die zum Hungerstreik führen, bauen sich zum Teil langsam zur Konfliktsituation auf, zum Teil wird der Entschluss aber auch spontan aus einer konkreten Lage heraus gefasst, die – aus der Sicht des Inhaftierten – keinen anderen Weg mehr eröffnet, als den eigenen Körper und die eigene Gesundheit zu gefährden und zu schädigen, um auf einen tatsächlichen oder vermeidlichen Missstand aufmerksam zu machen und eine Änderung zu erzwingen. Der Tod ist im Regelfall nicht beabsichtigt, wird aber von einigen Hungerstreikenden in Kauf genommen, wenn ihren Forderungen nicht Rechnung getragen wird.27 Die Folgen für die körperliche Unversehrtheit und die Gesundheit des Hungerstreikenden sind oft gravierend. Die körperliche Beeinträchtigung wird von den Hungerstreikenden als Mittel des Protestes zumindest billigend in Kauf genommen, in der Regel sind sie sich der Folgen bewusst, manchmal streben sie diese sogar an. Damit wird zugleich deutlich, dass der Hungerstreik prinzipiell unter dem Risiko steht, tatsächlich spürbare Einbußen zu erleiden bis hin zu einer irreversibeln Schädigung des Körpers und der Gesundheit beziehungsweise dem Eintritt des Todes. b Erscheinungsformen, Ziele Die Erscheinungsformen, Beweggründe und Ziele von Hungerstreiks sind so vielfältig, dass lange darüber diskutiert werden kann. Im Vordergrund stehen in der Regel Einzelpersonen, wenngleich auch die Solidarisierung einer ganzen Gruppe, die in den Hungerstreik tritt, immer 26 WMA Declaration of Malta on Hunger Strikers, Preambel, Stand 14. Oktober 2006, http://www.wma.net/en/30publications/10policies/h31/index.html. 27 WMA Declaration of Malta, Preambel, a.a.O.

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wieder vorkommt.28 Mit der Bereitschaft zum Konflikt wird die Nahrungsaufnahme verweigert, um dadurch Druck auf die „Gegenseite“, das heißt in der Regel die Vollzugsleitung oder die Gerichte aufzubauen und dadurch den gewünschten Erfolg zu erreichen. Durch das Herstellen und den Einbezug der Öffentlichkeit – sei es durch Presseerklärungen des Gefangenen selbst, seiner Anwälte, weiteren Vertreter und Interessengruppen, sei es durch die allgemeine Berichterstattung in den Medien – soll der Druck weiter erhöht werden. Der Hungerstreik zielt im Wesentlichen darauf ab, dass Rechte, die durch den Strafvollzug, die Untersuchungs- oder Ausschaffungshaft eingeschränkt werden, ungeschmälert gewährt oder weniger stark eingeschränkt werden: Freiheit, Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Schutz vor Abschiebung sind ebenso Bezugspunkte wie die justiziellen Grundrechte, das heißt das Recht auf unabhängige und unparteiische Gerichte, auf rechtliches Gehör oder die Unschuldsvermutung, das Verbot der Doppelbestrafung und der Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“.29 Die Streikenden verweigern die Nahrungsaufnahme, weil sie damit ein, manchmal auch mehrere Zweck(e) erreichen wollen, sei es – wie im Fall Osterwalder – die persönlichen Haftbedingungen zu verbessern, oder – wie im Fall Mehmet Esiyok – die Ausschaffung zu verhindern oder – wie im Fall Rappaz – als Protest gegen die als ungerecht empfundene Freiheitsstrafe. In allen Fällen soll – durch die in Form des Hungerstreiks geäußerte Meinung – die öffentliche Aufmerksamkeit erreicht und aufgebaut werden, um den angestrebten Zweck durchsetzen zu können. Der Hungerstreik setzt damit eine Sichtbarkeit voraus, er tritt nach außen in Erscheinung, um den angestrebten Druck zu erzielen. Damit kommen wir zum nächsten Punkt: Wie muss der Hungerstreik in Erscheinung treten, um als solcher zu gelten? Ist ein mehrtägiges Fasten bereits als Hungerstreik zu werten oder benötigt es die Einstellung der Nahrungsaufnahme über Wochen oder Monate? Macht es einen Unterschied, ob der Streikende gesüßten Tee, eine mit Mineralien und Vitaminen angereicherte Brühe oder nur Wasser zu sich nimmt? Stellt man auf den zu erzeugenden Druck ab, ergibt sich rasch, dass über die 28 Zum Hungerstreik aus Solidarität wegen Todesfalls in der Ausschaffung, vgl. http://www.nzz.ch/nachrichten/zuerich/hungerstreik_zuercher_ ausschaffungsgefaengnis_1.5270946.html. 29 Zu den allgemeinen Verfahrensregeln in der seit 1. Januar 2011 geltenden schweizerischen StPO vgl. Brigitte Tag, „Allgemeine Verfahrensregeln“ in: Max Hauri/Brigitte Tag (Hg.), Schweizerische Strafprozessordnung, Ausgewählte Aspekte aus Zürcher Sicht, Zürich 2010, S. 9 – 35.

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„Wirksamkeit“ des Hungerstreiks der Einzelfall entscheidet. Bei einem Diabetiker werden im Regelfall nur sehr wenige Tage genügen, um ihn hungerstreikbedingt in eine ernsthafte Gesundheits- oder Lebensgefahr zu bringen. Bei einem an sich gesunden Gefangenen kann dies Wochen oder auch Monate dauern. Das Zusichnehmen von angereicherter Flüssigkeit zögert die Gesundheits- beziehungsweise Lebensgefahr hinaus, so dass sich zunächst der erzeugte Druck einerseits als weniger intensiv darstellen, andererseits aber als gestreckte Druckerzeugung erhebliches Potential entfalten kann. Vor dem Hintergrund dieser Feststellungen kann festgehalten werden, dass der Hungerstreik eine planmäßige vorübergehende oder auch endgültige Schädigung des eigenen Körpers beziehungsweise der eigenen Gesundheit ist, durchgeführt zu dem Zweck, den eigenen Handlungsrahmen zu erweitern und gegebenenfalls die Rechtsdurchsetzung gegen den Willen des Staates zu erzwingen. Der Hungerstreik muss zudem von einer urteils- und entscheidungsfähigen Person durchgeführt werden. Ist die Person in der Willensbildung beeinträchtigt, erwächst dem Staat – aus dem dann Vorrang gewinnenden Gesichtspunkt der Fürsorge – die Pflicht, lebensrettende Maßnahmen einzuleiten. Schwierigkeiten bereitet die Frage, nach welchen Kriterien die freie Willensbestimmung Hungerstreikender zu beurteilen ist. Offen ist auch, ob und inwieweit Haftpsychosen und Gruppenzwang eine tatsächliche freie Entscheidung gestatten. Große Zweifelsfragen treten bei den Fällen auf, in denen der Gefangene in klarer Erkenntnis der Reichweite seiner Entscheidung festgelegt hat, dass er selbst im Falle der Bewusstlosigkeit nicht künstlich ernährt oder sonst behandelt wird. So hat beispielsweise Rappaz in dem eingangs geschilderten Fall bei Exit eine Patientenverfügung erstellt, die gerade einen solchen Inhalt hatte. Wie damit im Strafvollzug umgegangen werden soll, ist bislang Gegenstand kontroverser Diskussionen, namentlich, wenn der Hungerstreikende bewusstlos wird und eine Patientenverfügung verfasst hat, in der er die Zwangsernährung ablehnt.

3.2 Rechtlicher Rahmen Die Rechtsfragen, die sich um Hungerstreik und Zwangsernährung ranken, nehmen ihren Ausgangspunkt bei dem Regelungswerk, das den Strafvollzug und die die Vollzugsmedizin umgibt. Ihn darzustellen ist eine gewisse Herausforderung, denn eine Fülle von gesetzlichen und unter-

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gesetzlichen Normen verschiedenster Rangstufe wirken hier zusammen. Internationales Recht, europäische Rechtsquellen, Bundesrecht, Konkordate und kantonales Recht ergeben ein facettenreiches Bild. Nimmt man die nationale Gesetzgebung in den Blick, ist zentraler Ausgangspunkt der intra muralen Medizin die Bundesverfassung. Im Zentrum stehen die Menschenwürdegarantie, das Grundrecht auf Leben und physische wie psychische Unversehrtheit und das Gebot der Rechtsgleichheit. Diese Gewährleistungen, die auch durch die EMRK30 verbürgt sind, verpflichten den Staat, eine zureichende medizinische Versorgung im Straf- und Maßnahmenvollzug31 sowie in der sonstigen Haft sicherzustellen. „Gesundheitsangebote gegenüber inhaftierten Personen […]“, die von denen in Freiheit abweichen, sind „nur gestützt auf sachliche Gründe zulässig“. In Art. 41 BV findet sich zudem das Sozialziel, das jeder Person die für ihre Gesundheit notwendige Pflege zusichert. Daher sind die Gefangenen im schweizerischen Strafvollzug – normalerweise – obligatorisch krankenversichert.32 In Art. 118 BV ist außerdem die Bundesaufgabe loziert, im Rahmen der Bundeszuständigkeit Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit zu erlassen. Art. 123 Abs. 2 BV ermächtigt den Bund auch, Regelungen zum Straf- und Maßnahmenvollzug zu erlassen. Solange und soweit davon kein Gebrauch gemacht ist, sind die kantonalen Bestimmungen anzuwenden. Ergänzend und konkretisierend zur Bundesverfassung regeln die einfachen Bundesgesetze weitere Rahmenbedingungen der intra muralen Medizin. Hierzu zählen die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte33 und das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und Strafe. Der in Art. 10 UNO Pakt II 30 SR 0.101, Text unter http://www.admin.ch/ch/d/sr/c0_101.html. Zur Wirkung der EMRK im Haftregime vgl. BGE 106 Ia 280, 113 Ia 328, 116 IA 421, 123 I 229. 31 BGE 102 Ia 302. 32 Vgl. Art. 1 KVG, wonach jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz sich innerhalb drei Monaten nach der Wohnsitznahme oder der Geburt in der Schweiz für Krankenpflege versichern oder von ihrem gesetzlichen Vertreter beziehungsweise ihrer gesetzlichen Vertreterin versichern lassen muss. 33 SR 0.103. Vgl. insbes. Art. 12: „(l) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an“.

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verbürgte Anspruch auf menschenwürdige Haftbedingungen ergänzt das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung. Der Grundsatz, Inhaftierte „may not be subject to any hardship or constraint other than that resulting from the deprivation of liberty“, birgt für die Staaten konkrete Pflichten, namentlich, dass eine angemessene medizinische Versorgung gewährt werden muss. Die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze für Erwachsene aus dem Jahr 200234 und die für Jugendliche aus dem Jahre 200835 sind ebenso wie die Empfehlungen über die ethischen und organisatorischen Aspekte der Gesundheitsversorgung im Gefängnisbereich36 Empfehlungen. Sie wirken aber faktisch und tragen zu einem an einheitlichen Standards ausgerichteten Strafvollzug bei. Außerdem sollen sie den nationalen Gesetzgebern Denkanstöße in Bereichen vermitteln, die bislang suboptimal geregelt sind. Das zum 1. Januar 2007 revidierte Strafgesetzbuch regelt in seinem Allgemeinen Teil die Strafvollzugsgrundsätze der Art. 74 ff. StGB.37 Grundsatz ist, dass die Rechte der gefangenen Person nur so weit beschränkt werden dürfen, als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es nötig machen. Art. 75 Abs. 1 StGB betrifft den Angleichungsgrundsatz, das heißt der Strafvollzug hat den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich zu entsprechen. Dies hat für die Medizin intra muros große Relevanz: Denn sie muss den Grundsätzen und Standards extra muros entsprechen. Eine Grundregel ist, dass die Inhaftierten Anspruch auf die notwendige Krankenbehandlung, regelmäßige medizinische Vorsorgeuntersuchungen und auf Versorgung mit Hilfsmitteln haben, soweit sie notwendig sind, um den Erfolg 34 http://www.bj.admin.ch/etc/medialib/data/sicherheit/straf_und_ massnahmen/bulletin_smv.Par.0071. File.tmp/ibs9501-d.pdf; http://www.bj. admin.ch/etc/medialib/data/sicherheit/straf_und_massnahmen/ bulletin_smv. Par.0093.File.tmp/ib0702-d.pdf; Johannes Feest, Europäische Massstäbe für den Justizvollzug. Zur Neufassung der Europäischen Gefängnisregeln (European Prison Rules), in: Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe, 55. Jahrgang, 5/2006, S. 259 – 261. 35 https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?Ref=CM/ Rec(2008)11&Language=lanEnglish&Ver=original&Site =&BackColorInternet=DBDCF2&BackColorIntranet=FDC864&BackColor Logged=FDC864. 36 https://wcd.coe.int/ViewDoc. jsp?id=473743&BackColorInternet=9999CC&BackColor Intranet=FFBB55&Back ColorLogged=FFAC75. 37 BBl 1999, 2109.

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einer Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen. Art. 75 Abs. 3 StGB betont den Vollzugsplan und damit die Fürsorgepflicht der vollziehenden Institution, die gerade auch für die medizinische Versorgung gilt. Der Gegensteuerungsgrundsatz aus Art. 75 Abs. 1 StGB verpflichtet die Vollzugsbehörde, den mit der Haft verbundenen schädlichen Nebenfolgen entgegenzuwirken. Der Resozialisierungsgrundsatz, Art. 75 Abs. 1 StGB, beauftragt die Vollzugsleitung für eine angemessene medizinische Behandlung zur sozialen Wiedereingliederung zu sorgen. Ausserdem sind die Bestimmungen des StGB Besonderer Teil nicht unwichtig für die intra murale Medizin. Im Vordergrund strafrechtlicher Betrachtung steht das Handeln beziehungsweise Unterlassen des Gefängnisarztes bei ärztlichen Behandlungen. Strafrechtliche Grenze auch der intra muralen Medizin sind die Straftaten gegen Leib und Leben, namentlich die der vorsätzlichen und fahrlässigen Tötung und Körperverletzung sowie der Tätlichkeit. Der Grundsatz, dass der Strafvollzug grundsätzlich den Kantonen zugewiesen ist, hat unter anderem zur Konsequenz, dass sie Anstalten errichten und betreiben38 und Vereinbarungen über die gemeinsame Erstellung, den Betrieb und die Mitbenutzung treffen können, so genannte Strafvollzugskonkordate. Art. 387 Abs. 1 lit. c StGB überträgt dem Bundesrat die fakultative Kompetenz für die Gesundheitsfürsorge intra muros. Danach kann er Regeln aufstellen „über den Vollzug von Strafen und Maßnahmen an kranken, gebrechlichen und betagten Personen“. 3.3 Hungerstreik als Straftatbestand? a Erpressung Der Hungerstreik von Inhaftierten wird gelegentlich als „Erpressung“39 beziehungsweise als Nötigung des Staates gekennzeichnet. Eine Erpressung im eigentlich Sinne liegt selten vor, denn diese setzt voraus, dass der Täter in der Absicht, sich oder einen andern unrechtmäßig zu bereichern, jemanden durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile zu einem 38 Zu den Bau- und Betriebsbeiträgen des Bundes vgl. Bundesgesetz über die Leistungen des Bundes für den Straf- und Massnahmenvollzug, SR 341. 39 „Gefängnisdirektoren setzen auf Härte bei Erpressungen“, NZZ vom 23. Juli 2010.

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Verhalten bestimmt, wodurch dieser sich selber oder einen andern am Vermögen schädigt, Art. 156 StGB. b Nötigung Ob eine Nötigung vorliegt, hängt stark von den Besonderheiten des einzelnen Falles ab. Der Straftatbestand der Nötigung lautet wie folgt: „Wer jemanden durch Gewalt oder Androhung ernstlicher Nachteile oder durch andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit [so genannte Nötigungsmittel, Einfügung der Verfasserin] nötigt, etwas zu tun, zu unterlassen oder zu dulden [so genannter Nötigungszweck, Einfügung der Verfasserin] wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft“, Art. 181 StGB. Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Nötigungsmittel und dem Nötigungszweck. Die Androhung beziehungsweise Durchführung eines Hungerstreiks des Inhaftierten, der beispielsweise bessere Haftbedingungen verlangt, stellt unmittelbar die Schädigung des eigenen Körpers und der Gesundheit, mittelbar den eigenen Tod in Aussicht. Dies stellt für die Erklärungsempfänger, das heißt die Anstaltsleitung beziehungsweise die Leitung der Strafvollzugsbehörde, in der Regel die Ankündigung eines ernstlichen Nachteils dar. Zwar droht der Streikende zunächst damit, sich selbst einen Schaden zuzufügen. Wenn aber derjenige, welcher dadurch zu einem bestimmten Verhalten genötigt werden soll, zum Schutz des Bedrohten verpflichtet ist, dann wird er in eine gleichartige psychische Zwangslage gebracht wie mit einer Drohung, die ihn selber betrifft.40 Wie bei der Drohung beziehungsweise Gewalt gegen Dritte, die der zu Nötigende als unmittelbar gegen ihn gerichtete Drohung beziehungsweise Gewalt empfindet, kann die Androhung des Täters, sich „als Drittperson“ umzubringen, als Bedrohung des zu Nötigenden mit einem ernstlichen Nachteil angesehen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn wie beim langandauernden Hungerstreik durch die Umstände der angedrohten Selbstschädigung beziehungsweise Selbsttötung Unruhe oder Druck durch die Öffentlichkeit ausgelöst werden sollen.41 Denn der Inhaftierte ist ihrer Fürsorge anvertraut, die hungerstreikbedingt nicht so gewährt werden kann, dass ihm keine gesundheitlichen Schäden erwachsen. 40 Zur Drohung mit Selbstmord als Nötigungsmittel vgl. bereits Baselland, Strafgericht 16. Februar 1965, SJZ 62 (1966), 207. 41 OLG Hamm, Androhung der Selbstverbrennung, NStZ 1995, 547 (zum deutschen Nötigungstatbestand § 240 StGB).

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Der Nötigungsadressat muss durch das Nötigungsmittel zu einem Tun, Unterlassen oder Dulden veranlasst werden. Hierunter fällt zum Beispiel das Gewähren von Hafterleichterung, eines Vollzugsunterbruchs oder auch das Absehen von einer bereits beschlossenen Abschiebung. Widersteht der Nötigungsadressat der Drohung, so kommt statt einer vollendeten Nötigung der Versuch einer Nötigung in Betracht, Art. 181, Art. 10 Abs. 3, Art. 22 Abs. 1 StGB. Die Nötigung ist ein offener Tatbestand, das heißt die Verwirklichung der objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale indizieren noch nicht die Rechtswidrigkeit, diese muss vielmehr für jeden Einzelfall konkret festgestellt werden.42 Danach ist eine Nötigung nur dann unrechtmäßig, „wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt ist oder wenn das Mittel zum angestrebten Zweck nicht im richtigen Verhältnis steht oder wenn die Verknüpfung zwischen einem an sich zulässigen Mittel und einem erlaubten Zweck rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist“.43 Das Mittel der Drohung, das heißt die Nahrungsverweigerung, an sich ist nicht verboten, unterfällt sie beim urteilsfähigen Gefangenen doch grundsätzlich dem Schutzbereich des verfassungsmässig gegebenen Rechts der persönlichen Freiheit, Art. 10 BV,44 und hinsichtlich des Schutzes der Menschenwürde unter Art. 7 BV. Geschützt sind nicht nur die biologische körperliche Unversehrtheit, sondern auch die hierauf bezogene Selbstbestimmung des Rechtsgutsträgers sowie alle Freiheiten, die elementare Erscheinungen der Persönlichkeitsentfaltung darstellen.45 Dies gilt auch im Strafvollzug. Darüber hinaus ist der Hungerstreik eine von dem Streikenden gewählte Form seiner Meinungsäußerung, die unter den Schutz von Art. 16 Abs. 2 BV fällt. Der Grundsatz, wonach die Rechte der gefangenen Person nur so weit beschränkt werden dürfen, als der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugseinrichtung es erfordern46, Art. 74 Abs. 1 42 So bereits BGE 108 IV 168 f. 43 BGE 119 IV 301, 306; 115 IV 214. 44 Art. 10 BV „Recht auf Leben und auf persönliche Freiheit“ lautet: 1 Jeder Mensch hat das Recht auf Leben. Die Todesstrafe ist verboten. 2 Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit. 3 Folter und jede andere Art grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung sind verboten. 45 BGE 124 I 336, 338 f. m.w.N. 46 Vgl. Art. 74 Abs. 2 StGB.

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StGB, sowie die Feststellung, dass der Patient urteilsfähig sein muss, um wirksame körperbezogene Entscheidungen treffen zu können, scheinen zwar mit Art. 371 ZGB47 zu kollidieren. Danach gehört unter Vormundschaft jede mündige Person, die zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber verurteilt worden ist.48 Diese Bestimmung ist aber im Lichte der Bundesverfassung restriktiv zu interpretieren, so dass die Verurteilung zu mindestens einjähriger Freiheitsstrafe und die dadurch erhöhte Schutzbedürftigkeit des Inhaftierten nur eine widerlegbare Vermutung für die potentielle Entmündigung begründen kann. Im neuen Erwachsenschutzrecht, das voraussichtlich zum 1. Januar 2013 in Kraft treten wird, wird die Vormundschaft durch die Beistandschaft abgelöst. Sie kann unter anderem in Frage kommen, wenn eine volljährige Person wegen vorübergehender Urteilsunfähigkeit oder Abwesenheit in Angelegenheiten, die erledigt werden müssen, weder selber handeln kann noch eine zur Stellvertretung berechtigte Person bezeichnet hat. Sie schränkt jedoch die Handlungsfähigkeit des Betroffenen nicht mehr zwingend ein, vgl. Art. 393, 394 ZGB n.F. Zudem wird die Verurteilung zu Freiheitsstrafe künftig nicht mehr ausdrücklich genannt.49 Die Konsequenz, dass auch einem zu Freiheitsstrafe verurteilten (mündigen) Gefangenen grundsätzlich Urteilsfähigkeit zuerkannt wird, findet eine weitere Bestätigung durch den Entwurf des neuen Humanforschungsgesetzes (HFG).50 Im dritten Abschnitt „Forschung mit Personen im Freiheitsentzug“ erlaubt Art. 27 HFG Forschungsprojekte mit Personen im Freiheitsentzug. Sind sie mit einem erwarteten direkten Nutzen für den Inhaftierten verbunden, gelten grundsätzlich die allgemeinen Bestimmungen.51 Besteht kein direkter Nutzen, darf das Forschungsprojekt nur mit minimalen Risiken und Belastungen verbunden sein. In beiden Fällen gilt namentlich, dass der Inhaftierte urteilsfähig und über die Risiken aufgeklärt sein muss, die Teilnahme frei, ohne Druck und mit seiner Einwilligung geschieht. Die Gesetzbegründung hält hierzu ausdrücklich fest: „Ist eine Person im Freiheitsentzug nämlich urteilsfähig und volljährig, so soll sie wie eine freie Person entscheiden können, ob sie 47 SR 210. 48 Vgl. Art. 371 Abs. 1 ZGB. 49 Entwurf Erwachsenenschutzgesetz, BBl 2009, 141 ff. vgl. http://www.admin. ch/ch/d/ff/2009/141.pdf. 50 Zum Entwurfstext vgl. http://www.bag.admin.ch/themen/medizin/00701/ 00702/07558/index.html?lang=de. 51 Mit Ausnahme der Subsidiariätsklausel, Art. 11 Abs. 2 HFG.

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sich an einem Forschungsprojekt, das einen direkten Nutzen erwarten lässt, beteiligt oder nicht.“52 Dies zeigt, dass der Entwurf des Humanforschungsgesetzes auch Strafgefangene als einwilligungs- und urteilsfähig erachtet – obgleich sie in einem Abhängigkeitsverhältnis leben, das sie besonders verletzbar macht. Besteht aber insoweit Urteilsfähigkeit, so muss dies auch für die weiteren Lebensbereiche, namentlich den Bereich der eigenen Gesundheit, gelten, selbst wenn der Entschluss des Inhaftierten dazu führt, seinen eigenen Körper planmässig als Protestmittel einzusetzen. Ob – unabhängig von dem Leben im Freiheitsentzug – im Einzelfall Urteilsfähigkeit vorliegt, ist durch einen Arzt oder eine Ärztin mit entsprechendem Fachwissen abzuklären. Dies gilt ganz besonders, wenn der Inhaftierte seit längerer Zeit hungert und aufgrund der Mangelerscheinungen auch die Urteilsfähigkeit in Zweifel gezogen wird.53 Allein der Umstand, dass der Inhaftierte trotz Aufklärung über die gesundheitlichen Folgen an seiner – für den Aussenstehenden gegebenenfalls unvernünftigen – Entscheidung, weiter zu hungern, festhält, begründet für sich aber noch keine Urteilsunfähigkeit. Ist das Mittel der Drohung, die Nahrungsverweigerung, des urteilsfähigen Inhaftierten als Ausdruck des auch im Strafvollzugs geltenden Rechts auf persönliche Freiheit und Meinungsäußerung damit nicht per se unzulässig, ist im Folgenden der damit verfolgte Zweck näher zu beleuchten. Er ist beispielsweise dann unzulässig, wenn dadurch der Adressat der Drohung zur Begehung einer Straftat gezwungen werden soll oder wenn der Täter einen Anspruch durchsetzen will, der entweder nicht besteht oder der nach der Rechtsordnung nur mit staatlicher Hilfe durchgesetzt werden soll beziehungsweise kann. Auch im Freiheitsentzug ist zu beachten, dass zur Erreichung der erstrebten Ziele primär und vorrangig die gültigen Durchsetzungsverfahren in Anspruch genommen werden müssen, wie zum Beispiel die gesetzlichen Rechtsmittel, Gnadengesuch et cetera. Zudem ist das Verhältnis zwischen dem eingesetzten Mittel und dem angestrebten Zweck zu würdigen. Maßgeblich ist namentlich, ob die Verknüpfung nicht im richtigen Verhältnis steht, 52 Botschaft zum Bundesgesetz über die Forschung am Menschen vom 21. Oktober 2009, BBl 2009, 8045, 8118. 53 Sehr weitgehend Mller/Jenni, SÄZ 2011, 285 unter Verweis auf Patrick Guilbert, Paul Sebo, Bernice Elger, Bertrand Dominique. Jeûne de protestation. In: Dominique Bertrand, Gérad Niveau (Hrsg.). Médecine santé et prison, Chêne- Bourg 2006, 371, die von „vernebeltem Restverstand“ sprechen. Zur allfälligen Patientenverfügung vgl. unter SÄZ 2011, 285.

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rechtsmissbräuchlich oder gar sittenwidrig ist. Bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit sind speziell die verfassungsmäßigen Rechte zu beachten, wobei immer eine Gesamtwürdigung vorzunehmen ist, die die Besonderheiten des Einzelfalles berücksichtigt. Sollte im Einzelfall die Rechtswidrigkeit der Nötigung angenommen werden, so ist auf der dritten Stufe die Schuld und damit zu prüfen, ob die Tat dem Täter persönlich vorzuwerfen ist oder ob er sich zum Beispiel in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden hat, Art. 21 StGB.

3.4 Zwangernährung als Straftatbestand? Eine Reaktion des Staates zur Abwendung des Hungerstreiks kann die Zwangsernährung des Inhaftierten sein. Auch sie kann Straftatbestände erfüllen und gegebenenfalls verfassungsmässig vorgegebene Rechte verletzten. Unter strafrechtlichen Aspekten sind in Betracht zu ziehen vor allem die Körperverletzungsdelikte54, aber auch die Nötigung, wenn der Gefangene, der sich im Hungerstreik befindet, mit Gewalt gezwungen wird, die Zwangsernährung zu dulden. Als Täter kommen die Ärzte, die die Zwangsernährung durchführen55, als Anstifter die anordnende Vollzugsleitung, als Gehilfen das gegebenenfalls involvierte Pflegepersonal in Betracht. Interventionen gegen den Willen des Gefangenen, sei es mittels kontinuierlicher Zufuhr durch Infusions- und Pumpsysteme, durch Einführen einer Magensonde, mit der Nahrung zwangsweise in den Magen verbracht wird, zum Beispiel der nasogastrale Sonde, oder sei es im Einzelfall durch Legen einer PEG-Sonde56 sind (schwere) körperliche Eingriffe, die das Leben des Patienten in Gefahr bringen können und mit nicht unerheblichen Komplikationen, wie Erbrechen, Aspiration der zugeführten Nahrung, Durchfall, Hyperglykämie, Reizungen von Nase und Rachen sowie Wundinfektionen verbunden sein können. Sie be54 Vgl. z. B. Brigitte Tag, Interview 20 min vom 25. Oktober 2010; http://www. 20 min.ch/wissen/gesundheit/story/16107759. 55 Zu den zahlreichen medizinischen Risiken, die mit einem Hungerstreik einhergehen, illustrativ Reto Gross im Diskussionsforum SÄZ 24. November 2010 http://forum.emh.ch/nforum/forum.cfm ?foren_id=50&beitrag_ id=706168&path=forum_beitrag_detail. cfm&cfid=81345&cftoken=68165325. 56 Zur Sondenernährung vgl. Pschyrembel Klinisches Wörterbuch, online, Stichwort Pflege, Sondenernährung.

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dürfen unter medizinischem Blickwinkel, unter dem Aspekt der Selbstbestimmung und Meinungsäusserungsfreiheit des Inhaftierten sowie der Vollzugssituation einer speziellen Legitimation. Mit Blick auf die Körperverletzungsdelikte ist daran zu erinnern, dass allein der Heilzweck und die Absicht, das Leben des Patienten zu retten, intra muros ebenso wenig wie extra muros zur Legitimation eines ärztlichen Eingriffs genügen. Die frühere Leitmaxime „Wer heilt, hat recht“ wurde durch den extra wie intra muros geltenden Grundsatz „Voluntas aegroti suprema lex“ abgelöst.57 Der medizinisch indizierte und lege artis durchgeführte ärztliche Eingriff wird daher von der Rechtspraxis58 als Körperverletzung eingeordnet, die den Stempel des Unrechtmässigen erst verliert, wenn sie durch Rechtfertigungsgründe legitimiert ist.59 In Betracht kommt namentlich und vorrangig die rechtswirksame Einwilligung des Patienten, gefolgt von weiteren Rechtfertigungsgründen, wie zum Beispiel die Notstandshilfe oder eine auf gesetzlicher Grundlage beruhende behördliche Anordnung.60 Auch die mutmassliche Einwilligung kann zum Zuge kommen, wenn eine tatsächliche Einwilligung, zum Beispiel wegen Bewusstlosigkeit des Patienten, nicht erlangt werden kann und der indizierte Eingriff dem mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht. Diese Regeln gelten grundsätzlich auch im Strafvollzug, vgl. Art. 74 ff. StGB. Liegen keine Rechtfertigungsgründe vor, verwirklicht der Arzt, der die Intervention zwangsweise durchführt, den Straftatbestand der Körperverletzung und Nötigung, die Vollzugsleitung, die die Zwangsernährung anordnet, ist wegen Anstiftung hierzu strafbar. Tritt durch die Zwangsernährung gar der Tod des Patienten ein, gelten die Tötungsdelikte. Vorbehalten bleiben im Einzelfall zu prüfende Schuldausschließungsgründe, wie zum Beispiel der unvermeidbare Verbotsirrtum, Art. 21 StGB. 57 Brigitte Tag, in: Burkhardt Madea et al. (Hg.), Praxis der Rechtsmedizin, 2. Kapitel, Bern 22011. Für die Schweiz vgl. BGE 99 IV 208 f.; 124 IV 258 ff.; für Deutschland seit RGSt 25, 375; str. vgl. z. B. Brigitte Tag, Strafrecht im Arztalltag, in: Moritz Kuhn/Tomas Poledna (Hg.), Arztrecht in der Praxis, Zürich 2 2007, 669 ff. 58 A.a.O., 676 ff. 59 Auf den Streit, ob die Einwilligung bereits den Tatbestand ausschließt, soll hier nicht näher eingegangen werden. Zur Vertiefung vgl. Tag, in: Kuhn/Poledna (Hg.), Handbuch des Arztrechts, S. 669, 680 ff. 60 BGE 99 IV 208; BGE 127 IV 154, 158.

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Die durch die Zwangsernährung möglicherweise beeinträchtigten, strafrechtlich geschützten Freiheitsrechte, namentlich auf körperliche und geistige Unversehrtheit, gelten jedoch nicht absolut. Einschränkungen sind zulässig, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind, Art. 36 BV. Zudem dürfen sie den Kerngehalt des Grundrechts nicht beeinträchtigen.61 Dies bedeutet auch, dass Eingriffe in diese Rechte, die zunächst den Tatbestand der Körperverletzung oder der Nötigung erfüllen, im Einzelfall gerechtfertig sein können. Das gilt prinzipiell auch für die Zwangsernährung. Damit ist bereits die Folgefrage angesprochen. Kann sich die Vollzugsleitung beziehungsweise der Arzt, die/der eine Zwangsernährung gegen den Willen des Patienten anordnet beziehungsweise durchführt, auf einen Rechtfertigungsgrund berufen, der die damit einhergehende tatbestandliche Körperverletzung oder Nötigung wieder kompensiert? Das Strafgesetzbuch enthält neben seinen allgemeinen Rechtfertigungsgründen keine Sonderregelung zum Hungerstreik. Die Materie wurde im Rahmen der Gesetzgebungsarbeiten zum Revidierten Allgemeinen Teil als zu komplex betrachtet62, so dass der Gesetzgeber davon absah, sich hierzu zu äußern. Nach Art. 14 StGB gilt jedoch folgende Regel: „Wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, verhält sich rechtmässig, auch wenn die Tat nach diesem oder einem andern Gesetz mit Strafe bedroht ist.“ Diese Regel unterstreicht den Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung.63 Ist namentlich ein Amtsträger per Gesetz verpflichtet, zur Erfüllung seiner öffentlichen Aufgaben in strafrechtlich geschützte Rechtsgüter einzugreifen, so kann dies dann kein strafrechtliches Unrecht sein, wenn dabei die rechtsstaatlichen Gewährleistungen eingehalten werden. Bei schwerwiegenden Eingriffen wird ein Gesetz im formellen Sinne gefordert, sonst kommt dem Grundsatz nach auch Gewohnheitsrecht als Quelle eines Rechtfertigungsgrundes in Betracht. Keine Gesetze im Sinne von Art. 14 StGB sind private berufsspezifische Regeln beziehungsweise Standesregeln, zum Beispiel der Ärzte. Bei dem Gesetz, welches die Tat erlaubt oder gebietet, kann es sich auch um eine kan-

61 BGE 125 I 369; vgl. auch Art. 5 und 36 BV. 62 Franz Riklin, in: Queloz u. a. (Hg.), Medizin und Freiheitsentzug (s. o. Anm. 25), 58. 63 Andreas Donatsch/Brigitte Tag, Strafrecht I, Zürich 82006, 240.

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tonale Regelung handeln, wobei der allgemeine Vorrang des Bundesrechts und die Verhältnismässigkeit zu beachten sind.64 Art. 14 StGB spricht weiterhin von rechtfertigenden Berufspflichten und Amtspflichten. Berufspflichten können rechtfertigend sein, falls das Gesetz bei der Ausübung einer Berufstätigkeit bestimmte Verhaltensweisen gebietet oder zulässt. Amtspflichten sind öffentlich-rechtliche, hoheitliche Obliegenheiten und Befugnisse, die sich aus einem Gesetz ergeben. Damit sie rechtfertigend wirken, müssen die materiellen Voraussetzungen, Zuständigkeits- und Formvorschriften eingehalten werden. Sie gelten zudem nur rechtfertigend, soweit sie mit dem öffentlichen Recht im Einklang stehen.65 Legitimierendes Eingriffsrecht Prüft man im vorliegenden Kontext den Vorrang von Bundesrecht, ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber (noch) nicht von der Ermächtigung nach Art. 123 Abs. 2 BV Gebrauch gemacht hat, auf Bundesebene eine Bestimmung über den Umgang mit dem Hungerstreik im Freiheitsentzug und einer allfälligen Zwangsernährung im Straf- und Massnahmenvollzug zu erlassen. Eine entsprechende Motion zum Hungerstreik im Strafvollzug und in der Ausschaffungshaft von Roberto Schmidt ist seit 29. August 2010 beim Nationalrat eingereicht.66 Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion, weil die kantonale Praxis sich bisher in zahlreichen Fällen bewährt habe und der Fall Rappaz sich als eher untypischen Einzelfall darstelle. Anlässlich von Gesprächen des EJPD mit den kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren hätten sich diese daher ausdrücklich gegen eine Regelung auf Bundesebene ausgesprochen. Die Kantone wollten jedoch prüfen, ob und welche Massnahmen auf kantonaler Ebene sinnvoll seien.67 Auch die drei Strafvollzugskonkordate, gestützt auf Art. 48 und Art. 123 Abs. 2 BV, in denen sich die Ostschweiz68, die Nordwest- und 64 Vgl. z. B. BGE 94 IV 8; 96 IV 20; 99 IV 255. 65 Donatsch/Tag, Strafrecht I (wie Anm. 63), 240 f. m.w.N. 66 10.3702 – Motion Hungerstreik im Strafvollzug und in der Ausschaffungshaft, Antrag NR Roberto Schmidt. 67 10.3702 – Motion Hungerstreik im Strafvollzug und in der Ausschaffungshaft, Anwort Bundesrat. 68 Vereinbarung der Kantone Zürich, Glarus, Schaffhausen, Appenzell-Ausserrhoden, Appenzell- Innerrhoden, St. Gallen, Graubünden und Thurgau über den Vollzug freiheitsentziehender Strafen und Massnahmen gemäss Schweizerischem

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Innerschweizer69 sowie die Westschweizer Kantone und der Kanton Tessin70 zu drei regionalen Vollzugsgemeinschaften zusammengeschlossen haben, enthalten bislang ebenfalls keine Regelungen zum Hungerstreik. Hingegen finden sich in einigen Kantonen Bestimmungen zur Zwangsbehandlung extra wie intra muros und Strafvollzugsregelungen. Die historisch gewachsenen Regelungen sind heterogen, zum Teil fragmentarisch, zum Teil detailliert.71 In einigen Kantonen bestehen formelle Gesetz über den Strafvollzug, in anderen werden die Fragen des Strafvollzugs auf Verordnungsebene geregelt. Ergänzend gelten Hausordnungen, Richtlinien und Weisungen. Trotz dieser Regelungsfülle ist der Umgang mit dem Hungerstreik im Freiheitsentzug nur in wenigen Kantonen explizit geregelt. Das Berner Gesetz ber den Straf- und Massnahmenvollzug (SMVG) 72 ist hier eine Ausnahme. Art. 61 SMVG lautet wie folgt:73 „1Im Fall eines Hungerstreiks kann die Leitung der Vollzugseinrichtung eine unter ärztlicher Leitung und Beteiligung durchzuführende Zwangsernährung anordnen, sofern Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Gefahr für die betroffene Person bestehen. Die Massnahmen müssen für die Beteiligten zumutbar und dürfen nicht mit erheblicher Gefahr für das Leben oder die Gesundheit der eingewiesenen Person verbunden sein. 2 Solange von einer freien Willensbestimmung der betroffenen Person ausgegangen werden kann, erfolgt von Seiten der Vollzugseinrichtung keine Intervention.“

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Strafgesetzbuch und Versorgungen gemäss eidgenössischem und kantonalem Recht vom 29. Oktober 2004. Konkordatstext unter: http://www.rechtsbuch. tg.ch/pdf/300/342_3c.pdf. Konkordat über den Vollzug von Strafen und Massnahmen nach dem schweizerischen Strafgesetzbuch und dem Recht der Kantone der Nordwest- und Innerschweiz vom 5. Mai 2006, in Kraft seit 1. Januar 2008. Konkordatstext unter: http://www.prison.ch/images/stories/pdf/konkordat_nw_ch/010_ Konkordatsvereinbarung.pdf. Konkordat vom 10. April 2006 über den Vollzug der Freiheitsstrafen und Massnahmen an Erwachsenen und jungen Erwachsenen in den Kantonen der lateinischen Schweiz, in Kraft seit 1. November 2007 (Konkordat über den strafrechtlichen Freiheitsentzug an Erwachsenen). Konkordatstext unter: http:// www.cldjp.ch/data/adultes/konkordat-d.pdf. Brigitte Tag, Intramurale Medizin in der Schweiz – Überblick über den rechtlichen Rahmen, in: Thomas Hillenkamp/Brigitte Tag (Hg.), Intramurale Medizin im internationalen Vergleich, Berlin/Heidelberg 2008, 3 ff. In Kraft seit dem 1. April 2004. SMVG; Syst. Nr.: BE 341.1.

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Der Kanton Genf hat im Jahr 2000 den Erlass „Santé et soins en milieu carcéral“ der Kantonsregierung verabschiedet. Darin wird ausdrücklich auf das europäische Recht Bezug genommen, insbesondere auf die Empfehlung N8 R (98) 7 des Ministerkomitees des Europarats vom 8. April 1998 zu ethischen und organisatorischen Aspekten der gesundheitlichen Vorsorge in Vollzugsanstalten und den Normen des Komitees zur Folterprävention (CPT), vgl. Ziff. 3 des Erlasses. Zudem hält Ziff. 9.3. fest, dass „tout acte médical et de soins doivent faire l’objet d’un consentement éclairé et libre. Le patient doit disposer de toute information utile sur son état de santé et son traitement.“ Der Kantonsrat hat festgelegt, dass sich die Organisation der Gefängnismedizin in Genf nach diesen Empfehlungen richten muss. Gegen die Anordnung der Zwangsmaßnahme kann der Inhaftierte oder seine Bezugspersonen innerhalb zehn Tagen gerichtliche Überprüfung beantragen. Andere Kantone verfügen ebenfalls über Regelungen, wobei es sehr unterschiedlich ist, ob eine Zwangsbehandlung beziehungsweise –ernährung angeordnet werden kann oder nicht.74 In einigen Kantonen wird auch für den Bereich des Hungerstreiks auf die allgemeinen, für den fürsorgerischen Freiheitsentzug geltenden beziehungsweise den kantonalen Patienten-75, Psychiatrie- und Gesundheitsgesetzen zu entnehmenden Regeln über Zwangsmassnahmen zurückgegriffen.76 74 Kanton Neuenburg, Loi neuchâteloise sur l’exécution des peines privatives de liberté et des mesures pour les personnes adultes, du 3 octobre 2007, RSN 351.0, Art. 68 Alimentation forcée. Kanton St. Gallen, Art. 31bis EinführungsVO zur StPO wurde eingefügt durch die Strafprozessverordnung vom 23. November 2010, ABl 2010, 3747 ff.; in Vollzug ab 1. Januar 2011. http://www.gallex.ch/ gallex/9/fs962.14.html. Der Kanton Aargau hat in Art. 47 Einführungsgesetz zur Schweizerischen Strafprozessordnung (EG StPO, Gesetzessammlung Aargau, 251.200, vom 16. 03. 2010 (Stand 01. 01. 2011), Grundsätze zur medizinischen Behandlung aufgenommen. http://gesetzessammlungen.ag.ch/frontend/ versions/890. Die Bestimmung fand sich wortgleich in § 241a Abs. 2 StPO Aargau, www.ag.ch/sar/output/251 – 100.pdf. 75 Kanton Zrich Patientinnen- und Patientengesetz Art. 3, Art. 24 ff., ZH 813.13 vom 5. April 2004. Gemäss § 26 können Behandlungen von körperlichen und psychischen Krankheiten in Notsituationen durchgeführt werden, um eine ernsthafte und unmittelbare Gefahr für die Gesundheit oder das Leben der betroffenen Personen oder von Dritten abzuwenden, http://www2.zhlex.zh.ch/ appl/zhlex_r.nsf/WebView/284C1585E12CC203C1256F4 A00448D65/ $File/813.13_5.4.04_47.pdf. 76 Siehe beispielsweise die §§ 51 ff. Patientenreglement für die Luzerner Psychiatrie, Art. 30e Gesundheitsgesetz vom 19. Oktober 1970 des Kanton Schaffhausen, Art. 28 Verordnung über die Organisation des Kantonsspitals Glarus,

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Polizeiliche Generalklausel Dies hat das Bundesgericht bewogen, zur Rechtfertigung einer allfälligen Zwangsernährung im Fall Rappaz auf die polizeiliche Generalklausel zurückzugreifen. Sie zählt zu den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen und ist subsidiärer Natur.77 Die Rechtspraxis des BGer nahm schon unter der Bundesverfassung von 1874 an, „die Exekutive sei auf Grund der polizeilichen Generalklausel befugt, auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage jene Massnahmen zu treffen, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei schweren Störungen oder zur Abwendung unmittelbar drohender schwerwiegender Gefährdungen dieser Ordnung unerlässlich sind“.78 Der Anwendungsbereich der polizeilichen Generalklausel ist auf unvorhersehbare und zugleich gravierende Notfälle ausgerichtet. Die Generalklausel kann nur dort angerufen werden, wo keine gesetzlichen Mittel vorhanden sind, um einer konkreten Gefahr zu begegnen, nicht aber, wenn typische und erkennbare Gefährdungslagen trotz Kenntnis der Problematik nicht geregelt wurden. Dies ergibt sich aus Art. 36 Abs. 1 S. 2 BV: „Einschränkungen von Grundrechten bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein. Ausgenommen sind Fälle ernster, unmittelbarer und nicht anders abwendbarer Gefahr.“ Diese Regeln gelten auch und insbesondere für den Straf- und Maßnahmevollzug und die Zwangsbehandlung. Diese Rechtslage hat das BGer im Jahre 2000 bewogen für den Kanton Bern festzuhalten, dass eine ausreichende Regelung für eine Zwangsbehandlung nicht bestanden hat79 – was in der Folge zum Erlass des Berner Gesetzes über den Strafund Maßnahmenvollzug und damit auch zur Regelung über den Hungerstreik geführt hat. Zudem hat der EGMR im Jahr 2010 in einem Schweizer Fall in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesgerichts festgehalten, dass die polizeiliche Generalklausel nur bei nicht voraussehbaren, das heißt atypischen, nicht wiederholt aufgetretenen Bedro§ 33c Gesundheitsgesetz vom 5. Juni 1985 Kanton Thurgau, Art. 49 Gesetz über das Gesundheitswesen vom 6. Mai 2007 Kanton Glarus, Art. 53 Gesundheitsgesetz vom 16. November 1999 Freiburg. 77 BGE 103 Ia 312 E. 3a; BGE 92 I 31 E. 5 und ist subsidiärer Natur, BGE 100 Ia 146. 78 Ulrich Hfelin/Walter Haller/Helen Keller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 72008, N. 312. 79 BGE 126 I 112 ff.

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hungen für ein zentrales Rechtsgut als Rechtsgrundlage für staatliche Zwangseingriffe herangezogen werden kann.80 Dass diese Voraussetzungen vom BGer im Fall Rappaz angenommen wurden, überrascht.81 War der Hungerstreik doch bereits bei der Revision des StGB Allgemeiner Teil ein bekanntes Thema, auch zeigten die exemplarisch erwähnten Fälle Esiyok und Osterwalder, dass das Phänomen im Strafvollzug beziehungsweise der Abschiebehaft sehr real werden kann. Darüber hinaus ist das Thema Zwangsmedikation im Strafvollzug für die Rechtspraxis nicht neu. Sieht man von diesen Umständen ab und werden die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der polizeilichen Generalklausel dennoch bejaht, so ist für die Verfassungsmäßigkeit der Zwangsernährung weiterhin ein öffentliches Interesse oder der Schutz von Grundrechten Dritter nachzuweisen, Art. 36 Abs. 2 BV. Ein potentielles Eingriffsinteresse kann darin gesehen werden, die vom Gericht verhängten Sanktionen durchzusetzen. Sowohl mit Blick auf die General- wie Spezialprävention und der Gleichbehandlung verurteilter Personen in Bezug auf die Durchsetzung der staatlichen Sanktionen spricht zunächst ein gewichtiges Interesse dafür, dass die Strafe vollzogen wird. Sie sollen sich weder durch Haftunterbruch noch durch Selbsttötung infolge Hungerstreiks der Sanktion entziehen können. Diese Argumentation wird ergänzt durch die noch gewichtigere Pflicht des Staates, das Leben des unter seiner Fürsorge stehenden Inhaftierten zu schützen, Art. 10 Abs. 1 BV, Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Art. 36 Abs. 2 BV davon spricht, dass die Einschränkung von Freiheitsrechten zum Schutz eines Grundrechts Dritter erfolgt. Im Falle des Hungerstreiks ist die Person, zu deren Schutz die Einschränkung erfolgen soll, zugleich die Person, deren Rechte eingeschränkt werden. Da der Wille des Inhaftierten zwar erfragbar beziehungsweise bekannt ist, dessen Befolgung aber die Lebensrettung gefährden oder zunichte machen würde, sehen sich Arzt und Strafvollzugsbehörde auch82 einer internen Pflichtenkollision auf Seiten des Patienten gegenüber. Diese Konstellation ist weder ein Anwendungsfall der mutmaßlichen Einwilligung noch des Notstandes, Art. 17 StGB, ist aber 80 Urteil des EGMR vom 8. Oktober 2009, Gsell c. Suisse, Requête no. 12675/05, §§ 56 – 58; vgl. auch Markus H.F Mohler, Die polizeiliche Generalklausel – vom EGMR anerkannt und deren Anwendbarkeit begrenzt, Jusletter 11. Januar 2010, Rz. 8 ff. 81 So auch Adrian Krhenmann/Andreas Schweizer/Tobias Tschumi, Hungerstreik im Strafvollzug, Jusletter 10. Januar 2011, Rz 29 ff. 82 Neben der Gefährdung der Zwecke des Strafvollzuges.

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letzterem von der Konstruktion her angenähert. Denn Arzt und Vollzugsbehörde sind den kollidierenden Rechtsgütern durch Pflichtengründe verbunden. Die Situation wird noch komplexer, wenn der Arzt sich nicht der Anordnung der Vollzugsleitung zur Zwangsernährung beugt, sondern eigene Rechte gegen die Zwangsernährung geltend macht. Dabei kann er sich namentlich auf die Freiheit, den Arztberuf so auszuüben, wie es der lex artis entspricht, abstützen. Die Therapie- und Methodenfreiheit ist geschützt durch die Wirtschaftsfreiheit, Art. 27 Abs. 2 BV, wobei das Recht auf freie Berufsausübung im Rahmen der privatwirtschaftlichen Tätigkeit speziell erwähnt wird.83 In Bereichen, die sich auf eine Tätigkeit beziehen, die nicht von der Wirtschaftsfreiheit erfasst wird, so zum Beispiel wenn der Arzt in einem öffentlich-rechtlichen Anstellungsverhältnis tätig ist, kommt dem Schutz der persönlichen Freiheit eine Auffangfunktion zu.84 Darüber hinaus steht dem Arzt – auch in einem Sonderstatusverhältnis85 – das Recht auf freie Gewissenscheidung zu, wenn er es ablehnt, eine medizinisch machbare, für ihn aber ethisch fragwürdige Tätigkeit durchzuführen. Rückenstärkung erhalten die Ärzte hierbei vom Europarat. Er hat sich in seiner Resolution vom 7. Oktober 2010, Nr. 176386, eindeutig für das Recht der Ärzte zur Gewissenentscheidung bei medizinischen Handlungen ausgesprochen. Dies gilt im Rahmen von Art. 9 EMRK ebenso wie im Rahmen von Art. 15 BV.87 Der Begriff des Gewissens im Sinne von Art. 15 BV und Art. 9 EMRK ist eine ethische Kategorie, nach der der Rechtsgutsträger sein gesolltes Handeln ausrichtet. Der Gewissensentscheid kann, muss aber nicht religiös fundiert sein. Auch wenn das Gewissen primär eine innere Instanz ist, kann sich die Gewissensbildung auch auf eine weltanschauliche Grundlage abstützen, die von gesellschaftlichen Gruppen oder auch Berufsverbänden entwickelt und veröffentlicht wurde. In Betracht 83 Zur alten BV: vgl. BGE 99 IA 504, 511; BGE 122 I 130, 134. 84 Thomas Gchter/Dania Tremp, Arzt und seine Grundrechte, in: Kuhn/Poledna (Hg.), Arztrecht (s. o. Fn. 57), 1, 13 ff.; a.A. BGer 2P.169/2003; BGE 128 I 280 (für hoheitliche Tätigkeiten). 85 Urs Josef Cavelti, Kommentierung Art. 15 BV Rn. 21, in: Ehrenzeller, Bernhard u. a. (Hg.), Die schweizerische Bundesverfassung Kommentar, Zürich/ St. Gallen 2002. 86 The right to conscientious objection in lawful medical care http://assembly.coe. int/Mainf.asp?link=/Documents/AdoptedText/ta10/FRES1763.htm. 87 Cavelti, Art. 15 BV Rn. 10 (s. o. Fn. 85); zur alten BV vgl. BGE 118 IA 46, 56.

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kommen zum Beispiel die medizinisch-ethischen Richtlinien der SAMW zur „Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen“88, die zudem von der FMH zum Standesrecht erhoben wurden, vgl. Art. 18 Standesordnung. Der Interpretation des BGer, wonach die Richtlinien bei der Frage, ob eine Zwangsernährung anzuordnen ist, nicht weiter zu beachten seien89, muss daher Widerspruch erfahren, selbst wenn es in diesem Entscheid um das Begehren des Hungerstreikenden, nicht aber um das des konkret zur Zwangsernährung unter Strafandrohung aufgeforderten Arztes ging. Nach Art. 15 Abs. 2 BV besteht nicht nur das Recht, das weltanschauliche Bekenntnis frei zu wählen, sondern auch es allein oder mit anderen frei zu bekennen, das heißt offen zu äußern, was der einzelne in der konkreten Situation aus Gewissensgründen für geboten erachtet. Damit das Grundrecht vollständige Wirkung entfalten kann, muss es zudem auch die Freiheit verbürgen, entsprechend dem konkreten Gewissensentscheid und den ihm zugrundeliegenden ethischen Prinzipien zu handeln. Hieraus folgt zugleich, dass die Gewissensfreiheit die Gewissensverwirklichung im Sinne ethisch fundierten Handelns als Sonderform der persönlichen Freiheit schützt. Eine Folge hiervon ist, dass Art. 15 BV dem Rechtsgutsträger das Recht gibt, staatlichen Anordnungen den Gehorsam zu verweigern, wenn sie mit seinem Gewissen kollidieren. Das bedeutet auch, dass Ärzte, die sich aus Gewissensgründen nicht in der Lage sehen, eine staatlich angeordnete Zwangsernähung umzusetzen, auf den Schutzbereich von Art. 15 BV berufen können. Auch eine Strafbewehrung der Anordnung zur Zwangsernährung gemäß Art. 292 StGB, gerichtet an den sich weigernden Arzt, muss sich in diesem Lichte betrachten lassen. Die aufgezeigten rechtlichen, medizinischen, berufsethischen und standesrechtlichen Aspekte überschneiden sich mannigfaltig. Vor diesem Hintergrund ergibt es sich fast von selbst, dass die auch im Rahmen der polizeilichen Generalklausel vorzunehmende Güter- und Interessenabwägung das Ergebnis von Kompromissen und Wertungen ist.

88 http://www.samw.ch/de/Ethik/Richtlinien/Aktuell-gueltige-Richtlinien. html. 89 BGE 136 IV 97, 113: „Mais en cas de divergence entre une règle de droit et l’éthique médicale telle qu’elle est conçue par les directives, les médecins ne peuvent exciper de ces dernières pour se soustraire à l’accomplissement de leur obligation juridique“.

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Wichtig ist jedoch festzuhalten, dass die Zwangsernährung durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt ist. Sie darf zunächst nicht mit erheblicher Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gefangenen verbunden sein. Wenn aber bei großer Gegenwehr oder aufgrund des geschwächten Zustandes des Inhaftierten die Zwangsernährung zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen kann, ist sie bereits medizinisch nicht vertretbar.90 Der Arzt muss die Vollzugsbehörden entsprechend informieren und sich jedem weiteren Eingriff enthalten. Damit läuft die Generalklausel in dem Großteil aller Fälle praktisch leer. Beugt sich der Arzt wider besseres medizinisches Wissen der Zwangsernährungsanordnung und wird der Patient in der Folge verletzt, so haftet der Arzt hierfür unter allen rechtlichen Gesichtspunkten. Sprechen ausnahmsweise keine medizinischen Gründe gegen die Zwangsernährung, bleibt die Frage, welchen Stellenwert die Selbstbestimmung des Inhaftierten und der Gewissensentscheid der Ärzte im Verhältnis zu der ihm aufgezwungenen Fürsorge und dem Vollzugsinteresse einnehmen. Unterstellt, es wäre ein Entscheid darüber zu fällen, ob ein urteilsfähiger und über die Folgen seines Hungerstreiks vollständig informierter Patient extra muros zwangsernährt werden soll, besteht heute in der Lehre und der Rechtspraxis Einigkeit, dass dies unzulässig wäre.91 Ob sich daran etwas ändert, weil der Patient im Strafvollzug die Ernährung verweigert, darüber wird kontrovers diskutiert. International und national besteht keine Einigkeit, wie mit dieser Situation umzugehen ist. Zitate wie „Ein Gefängnis sei kein Ort zum Sterben“92 zeigt eine gewisse Scheu und Verunsicherung im Umgang mit diesen Fragen. 90 Klaus Geppert, Die gegenwärtige gesetzliche Rechtslage der Zwangsernährung und Zwangsbehandlung von Gefangenen (§ 101 StVollzG, in: Wilhelm Heim (Hg.)), Zwangsernährung und Zwangsbehandlung von Gefangenen. Sechstes Symposium der Kaiserin-Friedrich-Stiftung für Juristen und Ärzte, Köln 1983, 55 – 76; veröffentlicht auch: Jura 1982, 177 – 191, hier: 181. 91 Siehe z. B. Olivier Guillod/Dominique Sprumont, Les contradictions du Tribunal Fédéral face au jeûne de protestation, in: Jusletter 8. November 2010, Rz. 41; Adrian Krhenmann/Andreas Schweizer/Tobias Tschumi, Jusletter 10. Januar 2011, Rz 48 ff.; grundsätzlich dazu bereits Brigitte Tag, Sterbehilfe – betrachtet im Lichte des Strafrechts, Vom Recht auf einen menschenwürdigen Tod oder: darf ich sterben, wann ich will?, in: Thomas Fuchs/Andreas Kruse/ Grit Schwarzkopf (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde am Ende des Lebens, Heidelberg 2010, 153, 162 ff. 92 So die Schweizer Außenministerin Michele Calmy-Rey im Interview 10 vor 10 am 16. 10. 2010.

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Die Empfehlungen Nr. R(98) 7 des Europarates halten in Ziff. 15 fest, dass – sofern Sicherheitsaspekte und medizinische Aufgaben sich in einer Situation nicht decken, wie zum Beispiel bei Behandlungs- oder Nahrungsverweigerung – vom Insassen das Einverständnis zur Anwendung von medizinischen Massnahmen eingeholt werden sollte. Nach Ziffer 16 ist in den Fällen, in denen von diesem Prinzip der freien Selbstbestimmung abgewichen werden soll, vorgesehen, dass dies gesetzlich begründet und von den Prinzipien geleitet geschehen soll, welche auch für die allgemeine Bevölkerung gelten. Unmittelbar mit Bezug auf den Hungerstreik empfiehlt Ziffer 61, dass eine medizinische Untersuchung eines Streikenden von dessen Einwilligung abhängig gemacht werden solle, es sei denn, dieser leide an einer ernsthaften psychischen Störung. Auch empfiehlt Ziffer 62 eine objektive Aufklärung über die gesundheitsschädigenden Folgen, um eine Erkennbarkeit der Gefahren eines länger anhaltenden Hungerstreiks zu gewährleisten. In Ziffer 63 wird die Pflicht des Arztes festgehalten, die Behörden über einen durch Hungerstreik erheblich verschlechterten Gesundheitszustand des Inhaftierten zu informieren und die Maßnahmen, die der jeweilige nationale Gesetzgeber vorgesehen hat, zu ergreifen. Die Empfehlungen legen die Entscheidung über eine allfällige Zwangsernährung ausdrücklich in die Hände der nationalen Gesetzgeber. Demgegenüber bezieht die Deklaration des Weltärztebundes93 eindeutig Stellung gegen die Zwangsernährung und ruft die Ärzte zu ethischem Handeln auf. Ziffer 3 der Grundsätze lautet: „Hungerstreikende dürfen nicht zwangsweise behandelt werden, wenn sie dies ablehnen. Zwangsernährung verstößt gegen eine aufgeklärte und freiwillige Ablehnung und ist daher nicht zu rechtfertigen. Eine mit der ausdrücklichen oder impliziten Zustimmung des Hungerstreikenden durchgeführte künstliche Ernährung ist ethisch vertretbar.“ Die aktuell gültigen SAMW-Richtlinien „Ausübung der ärztlichen Tätigkeit bei inhaftierten Personen“ orientieren sich weitgehend an den Grundsätzen der WHO. In Abweichung zum Entscheid des BGer vom 26. August 2010 sprechen gute Gründe dafür, auch im Strafvollzug den selbstbestimmten Willen des Gefangenen zu respektieren, selbst wenn er in der Folge 93 Verabschiedet von der 43. Generalversammlung des Weltärztebundes Malta, November 1991, revidiert von der 44. Generalversammlung des Weltärztebundes Marbella, Spanien, September 1992, und revidiert von der 57. Generalversammlung des Weltärztebundes in Pilanesberg, Südafrika, Oktober 2006.

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verstirbt.94 Dadurch wird dem Gewicht der Freiheitsrechte, das auch im Strafvollzug seine Wirkung entfaltet, adäquat Rechnung getragen und der Staat ist durch seine klare Position zum Hungerstreik weniger erpressbar. Dass der Gefangene über die Folgen seines Hungerstreiks unmissverständlich aufgeklärt sein muss, ihm jederzeit Nahrung, Wasser und ärztliche Hilfe anzubieten und zu gewähren sind, sind Selbstverständlichkeiten. Die Deklaration des Weltärztebundes von Tokio und Malta zum Hungerstreik sowie die SAWM-Richtlinien geben hierzu detaillierte Auskunft. Ist der Inhaftierte infolge des Hungerstreiks urteilsunfähig geworden, ist für eine ärztliche Intervention auf seinen mutmasslichen Willen abzustellen. Kommt der Arzt nach Prüfung der verfügbaren Umstände zum Schluss, dass der Patient der künstlichen Ernährung zugestimmt hätte, dann ist sie medizinisch adäquat durchzuführen. Hat der Patienten hingegen vor seiner Urteilsunfähigkeit und in Kenntnis der Folgen seines Hungerstreiks die künstliche Ernährung unmissverständlich abgelehnt, so muss dies – ebenso wie in Freiheit – beachtet werden. Vergleichbares gilt, wenn der Inhaftierte für diese Situation eine Patientenverfügung erstellt hat. Denn wenn die Person zum Zeitpunkt der Unterschrift eines solchen Dokuments urteilsfähig ist, dann ist diese Anordnung gültig und verbindlich. Es gibt keinen überzeugenden Sachgrund, der im Strafvollzug etwas anderes gebieten würde als extra muros. Zwar ist das neue Erwachsenenschutzrecht noch nicht in Kraft, das zu den Gültigkeitsvoraussetzungen der Patientenverfügungen explizit Stellung nimmt und Inhaftierte hiervon nicht ausnimmt. Die Anerkennung von Patientenverfügungen ist aber bereits heute Rechtspraxis. Das heißt, dass eine Patientenverfügung Gültigkeit hat, wenn sie aktuell ist und dem Willen des Patienten entspricht.95 Hierbei ist jedoch festzuhalten, dass in der Literatur zum Teil eine andere Ansicht vertreten wird. So wird namentlich die These aufgestellt, eine Patientenverfügung sei in dieser Konstellation nichtig, Art. 2 ZGB.96 94 So auch Kuhn, SÄZ 2011, 287; Resolution SÄZ 2010, 1518 ff.; Gravier u. a., SÄZ 2010, 1521 ff. 95 Brigitte Tag, Irgendwann muss man ihn sterben lassen, Landbote 19. Oktober 2010. 96 Hermann Schmid, Erwachsenenschutz, Kommentar zu Art. 360 – 456 ZGB, Zürich/ St. Gallen 2010, 41. Art. 2 ZGB lautet: B. Inhalt der Rechtsverhältnisse I. Handeln nach Treu und Glauben 1 Jedermann hat in der Ausübung seiner Rechte und in der Erfüllung seiner Pflichten nach Treu und Glauben zu handeln. 2 Der offenbare Missbrauch eines Rechtes findet keinen Rechtsschutz.

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Dies überzeugt jedoch nicht. Denn jedenfalls im Rahmen bestehender Sonderverbindungen, wie sie auch im Strafvollzug angenommen werden kann, steht die Frage, ob die Inanspruchnahme eines Rechts missbräuchlich ist, in engem Kontext mit dem Gebot zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Das heißt nicht nur Inhaftierte, sondern auch der Staat ist zur Rücksichtnahme verpflichtet. Das bedeutet aufgrund des Fürsorgeverhältnisses, dass die Grundrechte infolge des Strafvollzuges nur so weit beschnitten werden dürfen, als dies für den Strafvollzug nötig ist. Jede weitere Beschränkung ist nicht mehr reine Fürsorge, sondern Paternalismus, der im Einzelfall zu rechtfertigen ist, wobei eine aus Sicht des Dritten unvernünftige Entscheidung hierfür nicht ausreicht. Ergibt sich der Vorwurf aus dem Verhalten des Inhaftierten, ist außerdem daran zu erinnern, dass der Hungerstreik als solcher nicht per se rechtswidrig ist. Sollte er im Einzelfall den Tatbestand der Nötigung erfüllen, ist zudem zu beachten, dass nicht jede Unbilligkeit dazu führen darf, gesetzlich vorgesehene Ergebnisse, das heißt die Wirksamkeit der von einem urteilsfähigen erstellten Patientenverfügung, über Art. 2 ZGB zu korrigieren. Dies gilt auch, wenn der Inhaftierte dadurch seinen Strafvollzug nicht mehr vollständig „erlebt“. Vielmehr ist bei der Anwendung von Art. 2 ZGB Zurückhaltung opportun. Um zum Rechtsmissbrauch zu kommen, muss es um eine Sachlage gehen, die nach gewissenhafter Abwägung der kollidierenden Interessen und Rechtsgüter dazu führt, dass das aus der normalen Gesetzesanwendung folgende Ergebnis absolut inakzeptabel ist. Dies verlangt auch die Berücksichtigung aller durch die Inanspruchnahme des Rechts objektiv betroffenen Interessen, von Sinn und Zweck der Norm, auf die sich der betroffene Rechtsträger beruft, sowie von normativen Wertungen, die hier im Bereich des Erwachsenenschutzes und des Strafvollzuges zum Ausdruck kommen. Wird darüber hinaus der Vorhalt des Rechtsmissbrauchs auf das Verhalten des Betroffenen abgestützt, sind subjektive Merkmale bei der Interessenabwägung zu beachten. Stellt man hier die europäischen und internationalen Empfehlungen zum Hungerstreik mit in die Betrachtung ein, ist festzuhalten, dass der eigenverantwortlich herbeigeführte Tod im Gefängnis, so tragisch dies im Einzelfall ist, kein absolut inakzeptables Ergebnis darstellt. Vielmehr wird der Eingriff in die Selbstbestimmung des Patienten schwerer gewichtet als sein eigenverantwortlich herbei geführter Hungertod. Zudem gehört der Tod gerade auch zum Leben im Strafvollzug. Wollte man zudem Patientenverfügungen aus grundsätzlichen Überlegungen heraus im Strafvollzug verbieten, hätte das eine Ungleichbehandlung mit der Situation

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extra muros zur Folge, die nicht nur, aber gerade auch dem Angleichungsgrundsatz widerspricht.

4 Fazit Nach der hier vertretenen Ansicht ist die Zwangsernährung des urteilsfähigen, aufgeklärten hungerstreikenden Inhaftierten nicht verhältnismäßig, die polizeiliche Generalklausel kann auch unter diesem Aspekt die Zwangsernährung nicht legitimieren. Wählt der Staat dennoch den Weg der Zwangsernährung, wird das „Kräftemessen“ zwischen Inhaftierten und Staat verschärft. Je nach körperlicher und seelischer Verfassung des Inhaftierten kann eine solche Prozedur, die zunächst Leben retten soll, zu einer unmenschlichen Behandlung geraten, insbesondere, wenn sich Hungerstreik und Zwangsernährung mehrfach wiederholen. So oder so gerät der Staat in Verdacht, seine Fürsorge gegenüber dem Gefangenen nicht ausreichend wahrzunehmen. Um das Dilemma aufzulösen, gibt es mehrere Wege: Entweder wird die Regel, die im Widerspruch zu den rechtlichen und moralischen Überzeugungen steht, an letztere angepasst oder man hält an der Regel fest und revidiert stattdessen die vorgenommene Bewertung. Das BGer hat – zu Recht – an der Regel festgehalten, dass die Strafe vollzogen wird, ein Haftunterbruch hier nicht in Betracht kommt. Dabei ging es zwar davon aus, dass eine Zwangsernährung über eine Verpflichtung der Ärzte sicherzustellen sei, obgleich es die ablehnende, in den SAMW-Richtlinien veröffentlichte Antwort der Ärzteschaft kannte. In Kenntnis der ethischen Grundsätze musste das BGer bei seinem Entscheid zumindest damit rechnen, dass die umfassende und dem Gefangenen aufgezwungene Fürsorge in Form der Zwangsernährung nicht unter jeder Bedingung zu gewährleisten, die Fürsorge intra muros mit Blick auf den allfälligen medizinisch-ethischen Gewissensentscheid des behandelnden Arztes ein Stück weit zu relativieren ist. Auch wenn die Rechtmässigkeit der an den Arzt ergangenen strafbewehrten Anordnung gemäss Art. 292 StGB höchstrichterlich nicht mehr überprüft wurde, bleibt zu hoffen, dass das BGer den ethischen und rechtlichen Gewissensenscheid der Ärzte nicht verworfen, sondern ihn angemessen gewürdigt hätte. Dies bedeutet, dass ein Arzt – selbst wenn er in einem Anstellungsverhältnis zur Vollzugsleitung steht – nicht gegen seinen Willen zur Zwangsernähung gezwungen werden darf. Er untersteht im fachlich-medizinischen Bereich und in Bezug auf seinen Gewissensentscheid gegen die Zwangsernährung keinen Weisungen, da er

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hier die Letztverantwortung trägt und deshalb ohne seine Zustimmung medizinische Zwangsmaßnahmen nicht angeordnet werden dürfen. Entschliesst er sich aber infolge der Anordnung zur medizinisch vertretbaren, vom urteilsfähigen Inhaftierten abgelehnten Zwangsernährung, so ist dies eine Körperverletzung des Inhaftierten. Unter Beachtung der sehr zur Zeit kontrovers diskutierten Rechtslage befindet sich der Arzt dann aber in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum, der gemäß Art. 21 StGB seine Schuld entfallen lässt. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die derzeitige Rechtslage und die damit einhergehende ethische Bewertung der Zwangsernährung nicht zu überzeugen vermag. Sie gibt den Beteiligen zu wenig Rechtssicherheit, lässt Fragen offen, die grundsätzlich vom Gesetzgeber zu entscheiden wären und lässt dem ärztlichen Gewissensentscheid zu wenig Raum. Sowohl die Kantone wie der Bund sind aufgerufen, in diesem Bereich Rechtssicherheit zu schaffen: sei es durch eine Bundesregelung, zum Beispiel verankert im StGB, Art. 74 ff. StGB, sei es durch (inter-) kantonale Regelungen, die den Mindestanforderungen von Art. 36 StGB genügen und vor allem ein abgestimmtes Vorgehen in allen Kantonen ermöglichen. Einen Arzt gegen seinen erklärten Willen, sein Gewissen und seine medizinische Expertise zur Zwangsernährung zu verpflichten, ist jedoch weder seiner Berufsstellung noch den Grundsätzen der Gefängnismedizin angemessen.

Nachhaltigkeit leben – sapientiale Interpretation einer umwelt-ethischen Leitkategorie Hartmut Rosenau Angesichts der weltweiten ökologischen Krisen werden auch und gerade Christinnen und Christen gefragt, ob sie nicht durch ihr anthropozentrisches Verständnis der Welt und eine rigide Auslegung des so genannten Herrschaftsauftrags (dominium terrae nach Gen 1,26 ff.) erheblich zu diesen negativen Entwicklungen beigetragen haben.1 Vor diesem Hintergrund suchen ökologisch engagierte Gruppen in Theologie und Kirche nun danach, welche Möglichkeiten gerade die christliche Tradition bereitstellen kann, um einen Beitrag zur Überwindung dieser Krisen zu leisten. Zumeist wird hier die biblische Sicht von Mensch und Schöpfung insbesondere im Blick auf die beiden Schöpfungsberichte in Gen 1 und Gen 2 diskutiert, auf ihre anthropozentrische Perspektive und das angemessene Verständnis des Herrschaftsauftrags hin befragt und in den Mittelpunkt einer ökologischen Theologie gerückt. Freilich ist die Reichweite solcher theologisch-ethischer Überlegungen meist doch auf den innerkirchlichen Raum begrenzt und erreicht kaum die Menschen „extra muros ecclesiae“. Ich möchte daher im Folgenden ergänzend auf eine weitere biblische Tradition, nämlich auf die sog. Weisheitstheologie aufmerksam machen und diese auf ihren möglichen Beitrag zu einer theologischen Umweltethik hin prüfen, indem ich von der Problematik der Bestimmung einer derzeitigen umweltethischen Leitkategorie ausgehe, die nicht nur im theologischen Kontext ein zunehmendes Gewicht erhält. Es handelt sich dabei um die Kategorie der Nachhaltigkeit. In zehn Thesen möchte ich diese Problematik entfalten und mit Rückgriff auf die biblische „Weisheit“ erläutern, um im umweltethischen Diskurs ein möglichst allgemein kommunizierfähiges theologisches Konzept vorzustellen.

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Zur Berechtigung und Kritik dieser Vorwürfe vgl. Hartmut Rosenau, Das „Seufzen“ der Kreatur. Das Problem der Anthropozentrik in einer Theologie der Natur, in: NZSTh 35 (1993), 57 – 70.

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1. „Nachhaltigkeit“ ist eine abstrakt konsensfähige, aber konkret umstrittene umweltethische Leitkategorie. Umstritten ist aber nicht nur die konkrete Anwendung, sondern auch der Begriff selbst, der ursprünglich aus der spätmittelalterlichen Forstwirtschaft stammt und seit der Weltkonferenz für Umwelt in Rio de Janeiro 1992 (Agenda 21) eine führende Rolle in der Ethik (vor allem in der Wirtschafts- und Umweltethik) übernommen hat. Eine Schwierigkeit liegt schon darin, die auf der Umweltkonferenz ausgegebene englische Formulierung „sustainable development“ angemessen ins Deutsche zu übersetzen: Ist damit „dauerhaft umweltgerecht“ gemeint? Hier monieren Kritiker, dass dann diese Formulierung zu eng auf Ökologie bezogen werde und der ökonomisch-politische Kontext aus dem Blick gerate. Oder sollte sie besser mit „zukunftsfähig“ übersetzt werden? Andere Kritiker meinen, nun sei der Begriff zu weit gefasst, so dass ideologischer Missbrauch möglich und das Kritikpotential gegenüber westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen eingeschränkt wäre. Oder ist die schlichte und neutrale Übersetzung „Nachhaltigkeit“ die beste? 2 Der an sich neutrale Begriff der Nachhaltigkeit erhält aber erst dann eine normativ-kritische Leitfunktion in der Ethik, wenn er anderen derzeit gängigen ethischen Prinzipien bei- und zugeordnet wird, wie zum Beispiel Gerechtigkeit, Frieden, Würde des Menschen et cetera. Vor diesem „vernetzten“ Hintergrund hat sich die Definition von „Nachhaltigkeit“ durch den so genannten Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (1987) weitgehend Anerkennung verschafft: Nachhaltigkeit meint „…eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“.3 Dennoch meldet sich auch hier die Kritik: Diese Definition sei zu anthropozentrisch (statt ökologisch), und zudem nicht operationalisierbar im Blick auf zukünftige Subjekte und ihre unterstellten Interessen und vermeintlichen (Grund-) Bedürfnisse bezogen. Darüber hinaus werde hier ein unproblematisierter Entwicklungs-Begriff im Sinne eines anachronistischen Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts unterstellt, 2 3

Zur Begriffsgeschichte und ihrer Problematik vgl. Hans Diefenbacher, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit. Zum Verhältnis von Ethik und Ökonomie, Darmstadt 2001, 19 – 38; 58 – 72. Zitiert nach Stefan Bayer, Art. „Nachhaltigkeit“, in: RGG4 6, Tübingen 2003, 11.

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der heutzutage selbst schon äußerst fraglich sei. Aber diese an sich bedenkenswerte Kritik an der Definition von „Nachhaltigkeit“ möchte ich relativieren. Denn sie ist auch aus theologischer Sicht aufgrund des biblisch-christlichen Menschenbildes4 vertretbar. Diese These soll im Folgenden noch genauer geklärt werden. Aber unbeschadet dieser kritischen Einwände ist der Begriff „Nachhaltigkeit“ so – bis auf weiteres – im ethischen Diskurs mehr oder weniger konsensfähig. Richtig gestritten wird allerdings dann, wenn es um die konkrete wirtschafts-, sozial- und umweltpolitische Umsetzung dieser Leitkategorie in die Praxis geht, zum Beispiel in Bezug auf den Klimaschutz. Dazu kann ich leider im Rahmen dieses Aufsatzes keinen (konkreten) Vorschlag machen. Aber ich sehe ein, dass wir Grenzen des Wachstums, der Ökonomisierung von Lebensverhältnissen, des Konsums et cetera brauchen und damit auch das heute vorherrschende Leitbild vom homo oeconomicus korrigieren oder gar aufgeben müssen – ohne genau festlegen zu können, wo die Grenzen zu ziehen sind. Daher leuchten mir auch die vier umweltpolitischen Managementregeln für Nachhaltigkeit ein: 1. bei erneuerbaren Ressourcen darf die Abbaurate die Regenerationsrate nicht überschreiten; 2. bei erschöpfbaren Ressourcen müssen zeitgleich zum Verbrauch funktionsgleiche Substitute gefunden werden; 3. die natürliche Aufnahmefähigkeit (Assimilationskompetenz) der Umwelt bei Einleitung von (Schad-) Stoffen muss beachtet werden; 4. die Gewinne aus dem Abbau nicht-erneuerbarer Ressourcen sollen zur Finanzierung von Alternativforschung genutzt werden.5 Dem zuvor und zugrundeliegend kann ich hier nur für ein das Konzept der Nachhaltigkeit im Sinne der Brundtland-Definition stützendes Grenzbewusstsein plädieren, das leider (in der heute vorherrschenden Weltanschauung) alles andere als selbstverständlich ist. 2. „Nachhaltigkeit“ gewinnt nur an Profilschärfe durch Einbettung in ein ethisches Rahmenmodell. Es ist schon angeklungen, dass „Nachhaltigkeit“ ein mit anderen Leitkategorien der Ethik „vernetzter“ Begriff ist6, und nur so kann er aussagekräftig werden. Diese Vernetzung setzt aber ihrerseits die Ein4 5 6

Vgl. Hartmut Rosenau, Das „Seufzen“ der Kreatur (s. o. Anm. 1). Vgl. Stefan Bayer, Art. „Nachhaltigkeit“ (s. o. Anm. 3), 11 f. Hartmut Kress, Kulturelle Rahmenbedingungen der Wirtschaft, in: Wolfgang Deppert u. a. (Hg.), Mensch und Wirtschaft. Interdisziplinäre Beiträge zur Wirtschafts- und Unternehmensethik, Leipzig 2001, 93 – 118, besonders 106 ff.

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bindung in ein ethisches Rahmenmodell voraus, von dem her diese vernetzten Leitbegriffe ihre Bestimmung und Bedeutung erfahren. Drei solcher Rahmenmodelle könnten gegenwärtig in Frage kommen, die ich hier nur verkürzt nennen möchte: 1.) Verantwortungsethik (Max Weber7, Hans Jonas8). Sie profiliert sich im Gegensatz zu einer religiös-philosophischen (unbedingten) Gesinnungsethik beziehungsweise zu einem marxistisch-visionären „Prinzip Hoffnung“. Ihr Vorteil liegt darin, dass die Rede von Verantwortung unabhängig von Ideologien und damit für den ethischen Diskurs in einer pluralistischen, multi-kulturellen Gesellschaft wie der unsrigen in besonderer Weise geeignet zu sein scheint. Ihr Nachteil besteht jedoch darin, dass, je größer der Bereich ist, für den Verantwortung übernommen werden soll, desto konturloser oder inflationärer das Konzept wird (wer genau hat wofür vor wem Verantwortung?). Und umgekehrt: je kleiner und konkreter der Bereich wird, für den Verantwortung übernommen werden soll, desto mehr zeigt sich die Einbindung einzelner Subjekte, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, in komplexe gesellschaftliche Strukturen, die kaum noch einen Handlungsspielraum der Verantwortung erkennen lassen.9 2.) Die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Albert Schweitzer10). Sie ist im Gegensatz zu einer bloß positivistischen, aber auch im Gegensatz zu einer unrealistisch-idealistischen Weltsicht formuliert worden. Ihr Vorteil besteht darin, dass sie an weitverbreitete und anerkannte humanistische Überzeugungen sowie an (mystische) Selbsterfahrungen anknüpfen kann: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“.11 Sie spricht auch tiefe emotionale, nicht nur kognitive Schichten des Menschen an, die für die Motivation zum ethischen Handeln möglicherweise viel bedeuten7 Vgl. Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: Ders., Gesammelte politische Schriften, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen (1921) 21958. 8 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main 1979. 9 Vgl. Ludger Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns, Weilerswist 2003. 10 Albert Schweitzer, Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten, hg. v. Walter Bhr, München (1966) 92008, besonders 32 – 37. 11 Ders., a.a.O., 21. Vgl. zu dieser Frage Hartmut Rosenau, Resignation und Einfalt- Anmerkungen zur Mystik Albert Schweitzers, in: Wolfgang E. Mller (Hg.), Zwischen Denken und Mystik. Albert Schweitzer und die Theologie heute, Bodenheim 1997, 126 – 140.

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der sind. Ihr Nachteil aber ist, dass sie kaum klare Kriterien zur Entscheidung von Konfliktsituationen und Wertekollisionen bietet. 3.) Utilitarismus ( Jeremy Bentham12 ; Peter Singer13). Diesem ethischen Konzept zufolge ist für moralisches Handeln vor dem Hintergrund des Glücksstrebens aller Menschen der möglichst optimale Nutzen (größtmöglicher Nutzen für die größtmögliche Zahl) entscheidend – ebenfalls im Gegensatz zu einer kategorischen Pflicht- oder auch Güterethik (Kant, Aristoteles). Auch hier liegt ein Vorteil in der (scheinbaren) Unabhängigkeit von Ideologien und Weltanschauungen. Zudem spricht es realistisch das wohlverstandene Eigeninteresse der Menschen an. Aber ein Nachteil ist: „Nutzen“ kann (wegen des Komparativs ohne absoluten Maßstab?) nicht operationalisiert werden, und „Glück“ kann man nicht durch ethische Kalküle herstellen. Überdies können Konflikte, bei denen es nicht um Nutzen, sondern zum Beispiel um Gerechtigkeit, Anerkennung, Beteiligung an Entscheidungsprozessen et cetera geht, so nicht gelöst werden.14 3. Jedes ethische Rahmenmodell hängt von einem impliziten oder expliziten Menschenbild beziehungsweise letztlich von einem (religiösen, philosophischen, weltanschaulichen) Wirklichkeitsverständnis im Ganzen ab, das sich auf ein Selbst-, Welt- und Grundverhältnis des Menschen bezieht. Die Vor- und Nachteile, die Überzeugungskraft und Schwäche eines ethischen Rahmenmodells hängt entscheidend von einem solchen Menschenbild ab: Ist der Mensch ein homo oeconomicus, ein animal rationale, ein animal sociale, ein homo faber, ein Gemüts-, Trieb- und Sinnenwesen et cetera? Ist das Wesen des Menschen substantial oder relational zu fassen? Und dies wiederum hängt vom leitenden (idealistischen, materialistischen, naturalistischen et cetera) Wirklichkeitsverständnis im Ganzen ab. Selbst bei gemeinsam propagierten Werten und Normen (zum Beispiel Würde des Menschen, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit), wo sich prima facie alle am Diskurs in einer pluralistischen Gesellschaft Beteiligten einig sind, gibt es bei näherer Betrachtung erhebliche Ver12 Vgl. John Stuart Mill, Utilitarianism, in: John Stuart Mill/Jeremy Bentham, Utilitarianism and Other Essays, ed. by Alan Ryan, London 1987, 272 – 338. 13 Vgl. Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1984, besonders 9 – 25. 14 Vgl. Hermann Deuser, Utilitarismus und Pragmatismus, in: Stephan H. Pfrtner u. a., Ethik in der europäischen Geschichte II, Stuttgart 1988, 89 – 101.

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ständnis- und Kommunikationsprobleme (zum Beispiel in der Bioethik), wenn die leitenden Menschenbilder und Wirklichkeitsverständnisse nicht offengelegt und diskutiert werden. Daraus folgt: Eine weltanschaulich neutrale normative Ethik (für alle gleichermaßen verbindlich) gibt es nicht. Das gilt selbst für eine solch formale und deshalb der Intention nach universale Ethik wie die von Kant, die zum Beispiel auf durchaus problematische Weise den autonomen, von praktischer Vernunft geleiteten Menschen in einer nach Sinn und Zweck eingerichteten Welt unterstellt.15 Diese Einsicht relativiert alle Versuche einer globalen Ethik, die einen kleinsten gemeinsamen Nenner unter Absehung von weltanschaulichen und kulturellen Differenzen finden wollen.16 Welches Menschenbild und Wirklichkeitsverständnis also haben wir beziehungsweise wollen wir argumentativ vertreten, wenn es um Nachhaltigkeit geht? Es müsste mindestens ein relationales, geschichtliches, auf Zukunft und Gemeinschaft bezogenes sein. Ein solches ist (nicht nur, aber im besonderen Maße) in der christlichen Tradition gegeben. 4. Das biblisch-christliche Menschenbild (im Ausgang von Ps 8) 17 versteht den Menschen a.) als Gottes Ebenbild (imago Dei) und damit in seiner Geschöpflichkeit als unverfügbar. Ihm ist b) die Herrschaft über die Welt (dominium terrae) in Verantwortung seiner Sonderstellung im Vergleich zu allen anderen Kreaturen vor Gott übertragen (intramundane Anthropozentrik/transzendentale Theozentrik). Aber sein Dasein steht in allen seinen Verhältnissen und Bezügen c) unter der Macht der Sünde. Sie zeigt sich insbesondere in einer Nichtidentität, in einer Nichtübereinstimmung des Menschen mit sich selbst und darin auch mit der Welt und mit Gott (Röm 7,14 ff.). Somit ist das Sein des Menschen nicht nur unverfügbar, sondern auch unberechenbar. Menschsein ist daher ein „interesse“ (Sorge) zwischen Gottesnähe (imago Dei) und Gottesferne (Sünde), nicht definierbar, unverfügbar und unberechenbar. Darin besteht die 15 Vgl. Wilfried Hrle, Die weltanschaulichen Voraussetzungen jeder normativen Ethik, in: Ders./Reiner Preul (Hg.), Woran orientiert sich Ethik? (MJTh XIII), Marburg 2001, 15 – 38. 16 Dies schränkt z. B. die Leistungsfähigkeit von Hans Küngs „Projekt Weltethos“ erheblich ein; vgl. Hans Kng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002, besonders 19 – 35. 17 Vgl. dazu insgesamt Hartmut Rosenau, „Adam, wo bist du?“ Aspekte theologischer Anthropologie, in: Solo Verbo. FS Bischof Dr. Hans-Christian Knuth, hg. v. Knut Kammholz u. a., Kiel 2008, 178 – 192.

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Geschichtlichkeit des Menschen im Sinne des homo viator (wie Abraham, wie das wandernde Gottesvolk, wie die Kirche). So ist der Mensch um seiner relationalen Identität willen zusammen mit allem Seienden seit und mit der Schöpfung unterwegs zur eschatischen (teleologischen) Vollendung, zum Reich Gottes. Diese für das biblisch-christliche Menschenbild grundlegende Geschichtlichkeit bedeutet in Bezug auf Nachhaltigkeit die Ausbildung von Grenzbewusstsein, von Verantwortung vor Gott für unser Welthandeln in Bezug auf Mitgeschöpfe und gerade auch für kommende, zukünftige Generationen. 5. Diese Sorge um die eigene Identität zeichnet das menschliche Dasein insbesondere in Zeiten der Gottesferne aus, wie sie paradigmatisch in der alt- und zwischentestamentlichen „Weisheitstheologie“ reflektiert worden ist.18 Die Weisheitstheologie im Alten Testament (dazu gehören im wesentlichen das Buch der Sprüche, das Hohelied, das Buch Hiob, der Prediger, einige Psalmen, aber auch die Josephsgeschichte sowie die Erzählungen von Rut und Esther) ist eine durch die Erfahrung zunehmender Gottesferne motivierte Ordnungstheologie. Gott ist – analog zur gegenwärtigen Situation – nicht mehr unmittelbar und eindeutig in der Lebenswelt der Menschen erfahrbar, es breitet sich eine Verunsicherung in allen Lebensbereichen aus. Die politischen und kulturellen Veränderungen der Hellenisierung auch Palästinas, die den geistesgeschichtlichen Hintergrund der „Weisheit“ (hebräisch: chokma, lateinisch: sapientia) bestimmen, mögen äußerlich entscheidende Faktoren für diese Verunsicherung des traditionellen Gottesglaubens in Israel gewesen sein. Die Weisheitstheologie vermeidet daher sowohl apokalyptische Zukunftsund Jenseitsspekulationen wie auch den Rückgriff auf eine zwar kodifizierte, aber auslegungsbedürfige und darum auch immer strittige Offenbarung des Willens Gottes (Tora). Ebenso wenig bezieht sie sich auf die ehrwürdige Tradition von herausragenden Ereignissen der Heilsgeschichte (Exodus), die Gott mit seinem Volk zusammenbindet, und die im Kult wie in den Jahresfesten erinnernd vergegenwärtigt wird, um sich der Nähe Gottes zu vergewissern. Distanziert gegenüber einer Bundestheologie, heilsgeschichtlichen Traditionen und auch gegenüber dem Kult als dem Ort der Gegenwart Gottes, kennt die „Weisheit“ erst recht 18 Vgl. Hartmut Rosenau, Die Ordnungen der Schöpfung – zwischen Ideologie und Weisheit, in: Konrad Stock (Hg.), Zeit und Schöpfung, Gütersloh 1997, 91 – 113.

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keine unmittelbaren oder persönlichen Begegnungen Gottes, wie sie zum Beispiel von den Erzvätern berichtet werden, und wie sie noch den Prophetenworten Autorität und Gewicht verleihen konnten. Das alles ist der „Weisheit“ vergangen und für die Bewältigung des Lebens hier und jetzt mehr oder weniger bedeutungslos geworden. Stattdessen wird nun nach allgemeinen Ordnungsstrukturen in der Natur, in der Gesellschaft, in den zwischenmenschlichen Beziehungen wie auch in der Lebensführung des einzelnen gesucht, die das Leben angesichts der Verborgenheit und Ferne Gottes dennoch glücken lassen könnten, indem sie Halt, Maß und Orientierung geben, wenn sie „weise“ (sapiental) wahrgenommen werden. Diese nun forschend und lehrend herauszufindenden Ordnungen der Schöpfung sind daseinsbestimmende Mächte und Strukturen, durch die der transzendente Gott auf sehr vermittelte und indirekte, darum auch nicht immer von vornherein erkennbare, aber dann doch möglicherweise im nachhinein verstehbare Weise (Gen 50,20) mit der menschlichen Lebenswelt verbunden ist – als Vorsehung und Garant einer bei aller Fragilität doch verlässlichen und im ganzen sinnvollen Weltordnung. Freilich geben diese Ordnungen der Schöpfung keinen persönlichen Gott zu erkennen. Der entsprechende Gottesname Jahwe wird daher in den Weisheitstraditionen weitgehend vermieden und durch die neutrale, distanzierte Bezeichnung „elohim“ (Gottheit) zur Unterstreichung der Transzendenz und Heiligkeit Gottes ersetzt. So wird auch auf die Begrenztheit menschlicher Einsicht und menschlicher Handlungsmöglichkeiten hingewiesen, die den Menschen eben auch in seinen Gestaltungsmöglichkeiten der Schöpfung als Geschöpf auszeichnen. Darum wird die „(Ehr-) Furcht Gottes“ als der Anfang der Weisheit bezeichnet, und unter ihrem Vorzeichen dient das staunende Forschen nach den oft genug rätselhaften Ordnungen der Schöpfung in Natur und Gesellschaft vor allem dazu, sich angemessen als Geschöpf zu verstehen – in respektvoller Distanz zum unbestimmten, aber in den Ordnungen der Schöpfung indirekt anwesenden Gott. 6. Grundzüge einer „weisheitlichen“ (sapientalen) Einstellung zur Wirklichkeit im ganzen sind „Gottesfurcht“ und Vertrauen auf die „Vorsehung“ im Sinne eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs. Dabei meint Wirklichkeit im Ganzen, wie gesagt, das relationale Gefüge von Selbst-, Welt- und Grundverhältnis des Menschen. Diesem in „Gottesfurcht“ zu begegnen heißt vor allem, ein angemessenes Selbstverständnis des Menschen als Geschöpf in Bezug auf die Ord-

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nungsstrukturen der Schöpfung in Ehrfurcht, Demut und Selbstbescheidung, in einer zurückhaltenden, maßvollen, beherrschten und wohltemperierten Lebensführung zu entwickeln. Daher wählt die Weisheit für die Ratschläge zum gelingenden Leben aufgrund ihrer Einsicht in die Zusammenhänge der Ordnungsstrukturen der Schöpfung auch nicht die Form der gesetzlichen Vorschrift, verbunden mit entsprechenden kategorischen Drohungen oder Verheißungen, sondern die Form eines apophantischen Beschreibens von Lebensstrukturen und –situationen, wie sie im Licht angesammelter Erfahrung wahrgenommen werden können, mit den Mitteln der Erzählung und des Sprichworts, das zu bedenken gibt, aber nicht moralisierend befiehlt oder dogmatisch behauptet. Darum kann die Weisheit auch ganz allgemein menschliches, bewährtes Erfahrungswissen auch anderer Völker und Traditionen aufnehmen, zumal sie nicht den Anschluss an spezifisch heilsgeschichtliche oder kultische Sonderüberlieferungen sucht. So ist insbesondere die ägyptische Vorstellung von einer universalen Weltordnung (ma’at) von der alttestamentlichen Weisheitstheologie adaptiert und zum Grundsatz eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs zwischen gottesfürchtigem Verhalten und Segen einerseits und gottlosem Verhalten und misslingendem Leben andererseits (Ps 1) unter der Vorsehung Gottes zusammengezogen worden. Das Vertrauen auf diese Vorsehung führt hier nicht zu Fatalismus und Schicksalsergebenheit, sondern ermöglicht ein auf Zukunft bezogenes, eigenes Handeln und Entscheiden im Vertrauen darauf, dass das (begrenzte) Handeln Sinn ergibt und in ein stimmiges Gefüge eingeordnet wird. Vorsehungsglaube ist daher Sinnerwartung im Blick auf die Zukunft. 7. „Nachhaltigkeit“ lässt sich als umweltethische Variante des weisheitlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs im Rahmen eines sinnvoll geordneten Wirklichkeitsgefüges interpretieren. Nachhaltigkeit leben ist Ausdruck eines angemessenen, „weisen“ Selbstverständnisses des Menschen als Geschöpf im Beachten von Ordnungsstrukturen der Schöpfung beziehungsweise Institutionen als notwendige Bedingungen der Möglichkeit des auf Zukunft bezogenen Handelns in endlicher Freiheit. In biblisch-theologischer Sprache kann daher Nachhaltigkeit mit „Segen“ in Verbindung gebracht werden. Dazu gehört gerade auch in umweltethischer Hinsicht ein prinzipielles Grenzbewusstsein in Bezug auf Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, so dass möglicher Irrtum und Fehlerhaftigkeit bei allen Vorhaben mit eingeplant werden muss und nichts grundsätzlich Irreversibles unternommen werden sollte. Diese

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Haltung entspricht auch der „Heuristik der Furcht“ bei H. Jonas.19 Nichts ist daher als „das einzig Wahre“ durchzusetzen, vielmehr sind immer auch Alternativen zu erkunden und zu fördern. 8. „Nachhaltigkeit“ als umweltethische Leitkategorie lässt sich nicht allein rational-argumentativ, sondern vor allem ästhetisch-appellativ vermitteln im Sinne einer indikativischen beziehungsweise deskriptiven Ethik. So, wie sich die weisheitliche Welteinstellung zwischen den Befindlichkeiten „Gottesfurcht“ und „Vertrauen“ (auf die Vorsehung) entwickelt und auf Erfahrung (der Gottesferne) beruht, so lebt ihre Ethik nicht primär vom Argument und der Reflexion im Appell an die Vernunft des Menschen als animal rationale, sondern vornehmlich im Beschreiben dessen, was geschieht, wenn so oder anders gehandelt wird. Die Form ist das Sprichwort, nicht das Gebot oder der Imperativ. Es handelt sich eher um ein ästhetisch-ethisches Aufweisen von Lebensmöglichkeiten und -formen im Appell an die eigene Erfahrung im Sinne einer deskriptiven, nicht präskriptiven beziehungsweise im Sinne einer indikativischen, nicht imperativischen Ethik (Schleiermacher20). Entsprechend ist das „nachhaltig leben“ auch nicht das verfügbare Resultat einer rein-rationalen, argumentativen Ethik, die nicht unbedingt in die Tiefenschichten der Persönlichkeit führt, wo Überzeugungen und Einstellungen gebildet werden, die für die habituelle Etablierung von ethischen Werten wie „Verantwortung“, „Pflicht“, oder „Nutzen“ sorgen können. Nur argumentatives Vorgehen führt höchstens zu einer „skeptischen Ethik“21 gegenüber dem Begründungsnotstand von Prinzipien (was nicht eine respektable Tugendethik ausschließen muss). 9. Eine solche (sapientale) Ethik fördert die Ausbildung von Tugenden wie zum Beispiel Verweilenkönnen, Wartenkönnen, Seinlassenkönnen, Sensibilität, Einfühlungsvermögen, Urteilskraft für das Angemessene, respektvolle Aufgeschlossenheit für Fremdes, Horizonterweiterung, Gelassenheit, Selbstrelativierung und Demut, die zu einer Haltung (habitus) durch Gewohnheit werden müssen.

19 Jonas, Prinzip Verantwortung (s. o. Anm. 8), 8. 20 Vgl. dazu Hartmut Rosenau/Peter Steinacker, Die Ethik im deutschen Idealismus und in der Romantik, in: Stephan Pfrtner u. a., Ethik (s. o. Anm. 14), 72 – 89, besonders 76 ff. 21 Wilhelm Weischedel, Skeptische Ethik, Frankfurt am Main 1976.

Sapientiale Interpretation einer umwelt-ethischen Leitkategorie

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Dies sind in erster Linie Haltungen, die einer ästhetischen Einstellung zur Welt zugrunde liegen, ohne dass sie in Libertinismus und Amoralität führen müssten. Vielmehr kann eine solche ästhetische Einstellung durchaus in ein ethisches Gesamtkonzept eingebunden werden, das auch Wahrhaftigkeit, Sachlichkeit, Toleranz und Großmut impliziert. Denn Ethik kann sich (in Anlehnung an Friedrich Schiller) auch an Ästhetik orientieren22, wobei die Verbindung von schön (Ästhetik) und gut (Ethik) durchaus religiös (schöpfungstheologisch) begründet werden kann. Denn beides bezieht sich, wenn auch unterschiedlich, auf eine gemeinsame Welt: Ästhetik als Weltwahrnehmung und Ethik als Weltgestaltung, und beides beschreibt, wenn auch unterschiedlich, Verhaltensweisen oder Einstellungen ein und desselben Subjekts zur Welt. Somit gibt es in beiderlei Hinsicht einen jeweils möglichen Einheits- und Bezugsgrund, demzufolge zum Beispiel das Schöne als Symbol des Guten innerhalb eines gemeinsamen Horizonts erscheint, der religiös als Schöpfung bestimmt werden kann. Zur näheren Explikation von „Schöpfung“ als Einheits- und Bezugsgrund von Ästhetik und Ethik bietet sich der Begriff der Ordnung an (hebräisch: chuqah, griechisch: taxis/tagma), wie er in der ästhetischethischen Weisheitstheologie des Alten Testaments im Sinne einer tagmatischen Kalokagathie in den Vordergrund gerückt worden ist. Hier werden zum Beispiel die Ordnungen der Natur, insbesondere der Lauf der Gestirne und Jahreszeiten zum indirekten Erkenntnisgrund der Erhabenheit und Heiligkeit, aber auch der Treue des fernen Gottes in der Fürsorge für die Menschen und die gesamte Kreatur in den Blick genommen, ebenso wie soziale Ordnungen der Gesellschaft. Ihre „weise“ Beachtung und ästhetisch-ethische Wahrnehmung lässt das Leben auch angesichts der Verborgenheit und Ferne Gottes dennoch gelingen, indem sie selbst in ihrer Staunen erregenden Rätselhaftigkeit noch in gottesfürchtiger Anerkennung der eigenen Geschöpflichkeit Halt, Maß und Orientierung geben. So weiß sich der Mensch in seiner endlichen Freiheit eingebunden in einen ihm vorgegebenen und nachfolgenden, letztlich unverfügbaren, räumlich wie zeitlich kontinuierlichen, aber in sich tagmatisch differenzierten Zusammenhang von Natur und Geschichte, Raum und Zeit (Schöpfung), dessen Wert die Ästhetik sehen lässt und die Ethik nachhaltig erhalten und gestalten will. 22 Vgl. Hartmut Rosenau, Ethik und Ästhetik. Zur Konzeption eines ästhetischen Humanismus, in: Hrle/Preul, Woran orientiert sich Ethik? (s. o. Anm. 15), 91 – 111.

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Hartmut Rosenau

10. Solche Tugenden zur Habitualisierung von „Nachhaltigkeit“ erfordern Konzepte einer ästhetisch-religiösen Erziehung. Wenn Nachhaltigkeit eine effektive umweltethische Leitkategorie werden und bleiben soll, muss sie nicht nur (oberflächlich) im ethischen Diskurs vertreten, sondern auch in einem auf Befindlichkeit und Einstellungswandel abzielendes ästhetisch-religiöses Erziehungskonzept verankert werden. Insofern ist hier nicht nur die Ethik gefragt, sondern auch und vor allem die (Religions-)Pädagogik. Nicht von ungefähr ist die alt- und zwischentestamentliche Weisheit eine Theologie der Schule, der Familien- und Berufserziehung gewesen. Nachhaltigkeit leben heißt also: zur Nachhaltigkeit erziehen. Allerdings kann in einer pluralen, multi-kulturellen, postmodernen Gesellschaft mit teils extrem säkularen und teils extrem religiösen Lebensformen kaum ein einheitliches und allgemeines Erziehungs-Konzept gefunden oder entwickelt werden. Jedoch soll religiöse Erziehung mehr sein als eine kulturtheoretisch begründete Bildung im Sinne kritischer Kenntnisnahme und Auseinandersetzung mit vorhandener gelebter Religiosität. Sie soll vielmehr verstanden werden als ein durch Tradition gelenkter Prozess der Selbstwerdung des Menschen, der sozio-kulturelle Vorgaben wie eigene Lebenserfahrung zur Ermöglichung und dauerhaften Stabilisierung von Persönlichkeit und ihrer Lebensbedingungen im Modus von Aneignung, Behauptung und Bewährung von Sinn kritisch vermittelt und so zum Aufbau eines stimmigen Wirklichkeitsverständnisses in der Ausdifferenzierung eines Selbst-, Welt- und Gottesverhältnisses jenseits von Aberglaube und Fanatismus beiträgt – so, wie es das Leitbild der alttestamentlichen „Weisheit“ vorsieht und es in den sapientialen Ausprägungen verschiedenster Religionen zu finden ist.

Die Herausforderungen der Neurowissenschaften als Anfrage an das Verhältnis von Ethik und Technik1 Elisabeth Gräb-Schmidt Die Ethik kommt immer zu spät. Die Wissenschaft macht sowieso, was sie will. Es herrscht die Meinung vor, wir könnten den Optionsraum nicht beeinflussen, die Ethik müsse immer hinterherlaufen. Ethiker und Ethikerinnen lassen sich das ungern vorwerfen. Ist das ein Problem, das die Ethik immer begleiten wird? Können wir dies nicht auch einmal in Frage stellen, die Forschung als einen quasi naturgesetzlich unaufhaltsamen Prozess anzusehen? Die neuen Technologien, die durch die Neurowissenschaften ermöglicht werden, fordern dazu auf, das Verhältnis von Ethik, Wissenschaft und Technik neu zu reflektieren und zu bestimmen. Die Horrorszenarien einer sich selbst genügsamen, sich selbst produzierenden Technik, traditionell als technologischer Imperativ bezeichnet, werden durch die neuen Wissenschaften wieder aufgeheizt. Darüber hinaus werden aber auch neue Sichtweisen auf das Verhältnis von Ethik und Technik offen gelegt. Hier stellt sich die Frage: Wie gestaltet sich das Verhältnis von Ethik und Freiheit, respektive Ethik und Forschungsfreiheit? Welche Rolle kann eine Ethik in einer doch vermeintlich augenfälligen Vorherrschaft eines technologischen Imperativs tatsächlich leisten? Der unaufhaltsame Aufstieg der Hirnforschung scheint es mehr und mehr unrealistisch zu machen, unter ethischen Gesichtspunkten über Forschungsziele zu streiten. Oder können wir tatsächlich noch darüber nachdenken, welche Forschungsergebnisse wünschenswert und welche aus ethischen Gründen abzulehnen sind? Und zwar nicht im Blick auf die Anwendung, sondern die Forschung. Hier wäre vor allem an das Enhancement zu denken, an Leistungsoptimierung des Menschen, die als immer weiter steigerbar gedacht wird mit entsprechenden Konsequenzen im Sport, aber auch Anforderungen an das Funktionieren und Durch1

Wilfried Härle, dem ich über Gespräche über Freiheit und Verantwortung verbunden bin und von dem ich vielfache Anregungen erhalten habe, in Dankbarkeit zugeeignet.

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halten im Arbeitsbereich. Wollen wir solche Überlegungen anstellen, dann hätte das allerdings eine Änderung der Zugangsweisen der Bewertung von Wissenschaft und Forschung zur Folge. Es wäre eine Änderung dahingehend, dass wir uns nicht zuerst über den Stand der Forschung informieren und diesen dann ethisch bewerten, also nicht erst im Umgang mit den Forschungsergebnissen die ethische Frage stellen, sondern bereits die Ausrichtung der Forschung selbst ethisch zu bewerten hätten. Wollen wir das neurobiologische Enhancement, das eine Optimierung biologischer Fähigkeiten erzielen möchte, oder nur Therapie, das heißt eine Anwendung neuer Forschungsergebnisse zwecks Heilung? Die Ethik käme dann nicht mehr am Schluss, sondern am Anfang. Das wäre ein Gewinn im Blick auf die Frage nach dem gelingenden Leben. Wäre das dann aber bereits ein Angriff auf die Freiheit der Forschung und die Freiheit der Individuen? Oder gerade ihre Bestätigung? Im Gegenzug zu einer fatalistischen Akzeptanz unkontrollierter Forschung möchte ich hier gegen ein vermeintlich feindliches Gegenüber von Technik und Ethik sprechen. Es soll nicht einer Verhinderung der Forschung das Wort geredet werden. Den Menschen als Geschöpf Gottes anzusehen, bedeutet nicht, dass man alle Krankheiten und Behinderungen fatalistisch hinnehmen soll, im Gegenteil: Er hat als Ebenbild Gottes einen Gestaltungsauftrag und Verantwortung. Das kennzeichnet die im Ebenbild liegende mitschöpferische Qualität. In dieser Kreativität liegt seine Freiheit beschlossen. Damit muss auch Technik als Teil des Menschseins im Blick auf ihr kreatives, lebensdienliches Potenzial betrachtet werden. Aber eben dabei sollen Risiken, die mit der Technik gegeben sind, nicht ausgeblendet, sondern genannt werden, damit ein verantwortlicher Umgang mit ihnen ermöglicht wird. Mit der Frage ethischer Verantwortung ist das Thema der Freiheit angesprochen. Meine These ist: Technik bestimmt die Struktur menschlicher Freiheit. Insofern sind ethische Fragen selbst nie losgelöst von technischen Fragen zu beantworten. Dies muss man sich klarmachen, gerade – aber nicht nur – für die Bezüge der Technik zu denjenigen Bereichen, die das Selbstverständnis des Menschen im Kern betreffen, zum Beispiel die Embryonenforschung oder die Hirnforschung. In der philosophischen und theologischen Tradition, die Technik als Kulturverfall, als Abgrund der Handlungsmacht des Menschen deutet, wird diese Sicht der Bedeutung der Technik für die menschliche Freiheit und Selbsterfassung nicht oder nur negativ beleuchtet. Gerade aber die Dimension der Technik in ihrer Gestaltungskraft des Menschen selbst muss für eine künftige Technikethik allererst wahrgenommen werden. Es

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wäre lohnend und wichtig, zunächst das Verhältnis von Alltagsempfinden und Freiheit, philosophischem Verständnis und der naturwissenschaftlichen Betrachtung in der Hirnforschung zu diskutieren. Das wäre aber ein eigenes Thema2. Eine (fundamental-)anthropologische Untersuchung von Technik, wie sie hier angedeutet wird, könnte auch zukunftsweisend für ein neues Verständnis von Technikethik sein. Ein solches Verständnis wäre jedenfalls davor gefeit, Technik nur als Verhängnis wahrzunehmen; es könnte Technik als Chance wahrnehmen und müsste gleichwohl nicht in das andere Extrem einer Technikverherrlichung verfallen. Meine Untersuchung entfaltet sich in sechs Schritte. Zunächst werde ich eine Bestandsaufnahme der neueren Technologien im Bereich der Neurobiologie rekapitulieren (1.) und im Blick darauf bestimmen, was Technik ist (2.), um anhand einer Bestandsaufnahme der von uns betrachteten Technik zu fragen, wo Grenzsetzungen der Technik nötig sind. Diese Grenzsetzungen werden bei fortschreitender Technik und mit dem damit einhergehenden Ansteigen der Technikrisiken stärker gefordert werden müssen. Diese Forderung muss differenziert betrachtet werden, insbesondere wenn es sich um gegebenenfalls qualitative Sprünge im Verständnis von Technik handelt. Ein solch qualitativer Sprung scheint mir bei der Neurotechnologie gegeben, die die Grenzen von Natur und Technik durchlässig macht und insofern zu einer Verschmelzung von Technik und Natur im Menschen führt. Um eine Grenzziehung der technologischen Entwicklung angemessen zu vollziehen, ist es daher notwendig, die anthropologische Bedeutung der Technik für den Menschen näher zu bestimmen (3.), um den Charakter des Neuen im Blick auf die Neurotechnologie herausarbeiten zu können (4.). Erst dann wird die Bewertung der ethischen und der die Ethik leitenden Hintergrundannahmen weltanschaulich-religiöser Dimension im Umgang mit den Neurowissenschaften vorgenommen werden können (5.), die auf die Bedeutung der Technik für die Personalität des Menschen verweist (6.), die auf die mit dieser Technik verbundenen Chancen und Gefahren antworten kann. Es wird sich zeigen: Aus einer grundlegenden Bedeutung der Technik für das Freiheitsverständnis werden wir auf ein Selbst- und Personkonzept geführt, das in der Lage ist, 2

Vielversprechend in dieser Hinsicht erscheint mir die Technikinterpretation Ernst Cassirers – der neben Heidegger diesbezüglich bedeutende und zu diesem quer stehende Philosoph des 20. Jh.s. Vgl. hierzu Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I-III, Reprografischer Nachdr. der 2. Aufl. (1953/54), Darmstadt 1994.

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die Leistung auch der Technik für eine Selbstbesinnung der Ethik darzustellen, das uns befähigt, die Konsequenzen für die Urteilsbildung im Blick auf die neuen Herausforderungen zu ziehen. So werden Grenzziehungen angemessen in den Blick genommen werden können, die technischem Verfügungs- und ethischem Orientierungswissen den ihnen je zukommenden Stellenwert einräumen können.

1 Bestandsaufnahme, Kritik und Bedeutung der neuren Technologien im Bereich der Neurobiologie Der Mensch befindet sich im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Die Möglichkeiten der Neurochirurgie, Einfluss zu nehmen auf die hirnphysiologische Ausstattung des Menschen, sind beachtlich. Wir können durch Tiefenhirnstimulation den Menschen in seinen körperlichen Funktionen beeinflussen oder ihn gentechnologisch optimieren. Durch die Verschmelzung von Technik und Mensch, die in den so genannten „Converging Technologies“ vollzogen wird, stellen sich aber für viele beunruhigende Fragen: Ist der Mensch dem totalen Zugriff der Technik unterworfen? Sind Krankheiten, Behinderungen, ja Geburt und Tod mit allen Mitteln planbar und verfügbar zu machen? Ersetzen technische Implantate den natürlichen biologischen Prozess bald vollkommen? Die neuen Technologien jedenfalls scheinen eine neue Epoche der Naturbeherrschung, ermöglicht durch diese neuen Technologien, vorzubereiten. „Wir befinden uns im Übergang vom Schachamateur zum Großmeister, vom Beobachter zum Lenker der Natur. […] Während des größten Teils des Menschheitsgeschlechts konnten wir den wunderschönen Tanz der Natur nur beobachten – wie unbeteiligte Zuschauer. Heute stehen wir am Beginn einer gewaltigen Umwälzung: Wir werden von passiven Beobachtern der Natur zu ihren aktiven Choreografen. Das Zeitalter des Entdeckten, es geht zu Ende, und die Epoche des Beherrschens beginnt“3. Wir sind zweifellos fasziniert von den technischen Möglichkeiten. Dies führt oft dazu, dass wir ethische Probleme sowohl medizinischer als auch ökonomischer Art, wie etwa Fragen der Verteilungsgerechtigkeit der medizinischen Ressourcen, aber auch die Verschiebung der Grenze 3

Michio Kacku, Zukunftsvisionen. Wie Wissenschaft und Technik des 21. Jahrhunderts unser Leben revolutionieren, München 1998, 23.

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zwischen normal und krank oder die Identifizierung von krank und behindert, in den Hintergrund treten lassen. Allerdings scheint die Entwicklung neurobiologischer Forschung auch zu beunruhigen, wenn etwa Psychopharmaka, wie Ritalin, Prozac, Midifil oder Gehirnstimulation durch invasive Eingriffe als problemlos hingestellt werden. Das gilt ebenfalls für die Substitution ausgefallener neuronaler Funktionen durch implantierte Elektronik wie Cochlea-Implantate oder Brain-MachineInterfaces4. Bei der Anwendung einer Tiefenhirnstimulation etwa steht der Patient ständig unter Strom. Sie dient der Behandlung von schwersten Depressionen und Parkinson, in Form des Tourette-Syndroms, bei dem der Patient von unerträglichen Zuckungen heimgesucht wird. Angesichts solcher technologischer Errungenschaften jedenfalls stellen sich die klassischen Fragen nach der Identität des Menschen, nach seiner Autonomie und Freiheit. Ist das Leben noch Natur oder ist es ganz dem Zugriff technischer Gestaltung unterstellt? Hat die Technik die Natur gar abgeschafft, in sich eingezogen? Berühren die Eingriffe die Identität des Menschen? Damit einher gehen Fragen, die die Mündigkeit des Patienten betreffen. Was geschieht, wenn ein Patient aufgrund seiner Erkrankung nicht entscheiden kann? Wer soll dann für ihn entscheiden? Gehen die Eingriffe soweit, dass die Menschenwürde davon betroffen ist? Diese Fragen stellen sich vor allem auch dann – und zwar ohne medizinische Notwendigkeit, sondern allein zwecks der gegebenen Möglichkeiten des „Enhancements“ –, wenn der Einzelne sich chemisch oder durch neurophysiologische Eingriffe verbessern will. Durch massenhaften Gebrauch von Neuro-Enhancern könnte sich aber die Grenzlinie zwischen krank und normal verschieben. Die Grenze zwischen der Gestaltung des Lebens und der Annahme unseres Sogewordenseins ist fließend geworden. Wir sind daher aufgefordert, über diese Grenze nachzudenken, sie ethisch zu reflektieren, wenn wir Freiheit nicht mit Machbarkeit gleichsetzen wollen und wenn wir andererseits gleichwohl unsere Freiheit bewahren wollen. Dieses Nachdenken kann zu verschiedenen Ergebnissen führen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Einerseits könnte das – um mit Hans Jonas zu sprechen5 – zur Vorsicht mahnen und uns eine Haltung der Zurückhaltung auferlegen im Sinne einer Technikverabschiedung, 4 5

Vgl. hierzu Henriette Krug, „Credo ex medicamento?“, in: ZEE, 54 (2010), 290 – 300. Vgl. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1984.

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Technikdrosselung oder einer Warnung vor Technik, die angesichts dieser drohenden Gefahren zu einem „Ethos des Sein-Lassens“ führen soll, wie es der Wiener Theologe Ulrich Körtner formuliert hat6. Andererseits: Ist eine solche Ethik befriedigend? Und vor allem: Ist sie zu verantworten? Gehört Lebensqualität und deren Verbesserung nicht auch zum Gegenstand ethischer Überlegung? Und sind solche Überlegungen nicht allzu bekannt? Es ist die altbekannte Warnung vor der Übermacht der Technik, die uns vor unabsehbare Folgen stelle und die uns weniger zum Gestalter unseres Schicksals mache als uns die Lenkung unseres Daseins aus der Hand zu nehmen drohe, indem sie uns ihre eigenen Zwecke aufdiktiere. Solche Technikkritik war Gemeingut philosophischer und vor allem theologischer Kulturkritik, die in der Technik kaum etwas anderes als menschliche Hybris wahrnehmen konnte. Stellvertretend für viele erinnere ich an Aussagen Wilfried Joests über Luthers Verständnis vom Menschen: „Andererseits kann man fragen, ob dem optimistischen Vertrauen in die Emanzipation der Verwirklichungsmacht der Vernunft nicht tatsächliche geschichtliche Erfahrung entgegensteht. Gewiss, die Weltmächtigkeit menschlicher Rationalität ist in ständiger Erweiterung ihrer Grenzen begriffen. Es scheint aber doch, dass daraus nicht Selbstbefreiung des Menschen zum Menschlicherwerden seines Lebens, sondern die zunehmende Unterwerfung unter übermächtige Unheilsfolgen seines eigenen Fortschritts resultiert. […] Der Mensch nimmt zunehmend alles Mögliche in die Hand seines Machens – aber hat er wirklich sich selbst in der Hand und das Ziel, dem er mit diesem Machen zusteuert? Ist er nicht eher der von anonymen Mächten Getriebene als der der Sinnbestimmung und Zielverwirklichung seines Daseins Mächtige?“7 Solche Fragen stellen sich zwar zu Recht, aber wollen wir angesichts der doch großen Möglichkeiten, die uns die Medizin bietet, denken wir etwa an das Tourette-Syndrom, in die altbekannte Technikkritik verfallen? Wir kennen das zur Genüge. Wir dürfen die Technik nicht zum Sündenbock schlechthin abstempeln.

6

7

Vgl. Ulrich H.J. Kçrtner, „Lasset uns Menschen machen.“ Christliche Anthropologie im biotechnischen Zeitalter, München 2005, 57; ders.: „Converging technologies“ – die Technikethik vor neuen Herausforderungen, in: ZEE 49 (2005), 163 – 168, 166. Wilfried Joest, Die Freiheit in Luthers Verständnis vom Menschen, in: KuD 29 (1983), 127 – 138, 137, Hervorhebungen im Original.

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Insofern sollte eine Beschäftigung mit Technik auf Seiten der Philosophie oder Theologie nicht automatisch zu deren Kritik führen. Es war vor allem die Philosophie Heideggers, die letztlich die Technikorientierung des Menschen zum Seinsverlust stilisierte. In der Technik sah man das mit berechnender instrumenteller Rationalität sich einrichtende Wesen des Menschen bar allen Geistes. Die Orientierung am nackten, kalten, rechnenden Verstand wurde als ihr Markenzeichen gesehen und für die mit der technischen Zivilisation einhergehenden Probleme verantwortlich gemacht. Es scheint daher: Wo immer sich Kulturkritik meldet, kulminiert diese schließlich in der Technikkritik. Von daher verwundert es denn auch nicht, wenn sich der Graben zwischen den sogenannten zwei Kulturen nie geschlossen, sondern tendenziell verbreitert hat8. Die Kritik der Vernunft schlug um in eine Technikkritik, in eine Kritik der technischen Rationalität, die in gewisser Weise immer hinter die Errungenschaften der Technik zurückgehen wollte, um zu den Wurzeln des Seins zu gelangen, so in der Fundamentalontologie Heideggers9, aber auch bereits früher in der Kulturkritik Rousseaus10 oder später in der Kritik der technischen Rationalität durch die Dialektik der Aufklärung bei Horkheimer und Adorno11. Man sah in der kritischen Rationalität eine Einseitigkeit, mündend in die Positionen des naturwissenschaftlichen Denkens, hinter die man zurückzugehen versuchte, um dem Wesen des Menschen unverstellt ansichtig werden zu können. Indem der technische Fortschritt eine einseitige, aber dominant werdende Sicht der Wirklichkeit befördert, haftet ihm der Geruch der Verstellung der Wirklichkeit an. Die heute meist als Horrorszenarien dargestellten Manipulationen, des Ersatzes des Natürlichen durch das Virtuelle, insbesondere eben im Bereich der Neurobiologie durch das Einführen von Neuroimplantaten in den menschlichen Körper, unterstützen und fördern diese Haltung. Die um sich greifende Technisierung des Menschen und seiner Natur macht aber meines Erachtens auch deutlich: Vergessen wird in jener Technikkritik, dass Technik tatsächlich zum Menschen gehört. Vor allem wird übersehen wird, dass mit der 8 Vgl. Elisbaeth Grb-Schmidt, Technikethik und ihre Fundamente, Berlin-New York, 2002. 9 Vgl. Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre (1953), 10. Auflage, Stuttgart, 2002. 10 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Französisch – Deutsch, Hamburg, 1995. 11 Vgl. Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2002.

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Technik nicht nur Kulturverfall, nicht nur Seins- und Selbstvergessenheit des Menschen, sondern vor allem und grundlegend der Aufbau der Kultur verbunden ist. Ohne Technik ist der Mensch nicht Mensch. Um der Verantwortungsfrage zu begegnen, möchte ich zunächst diese grundlegende Bedeutung der Technik für die Kultur des Menschen beleuchten.

2 Was ist die Technik? Technik ist ein vielschichtiger Begriff. Das Verständnis von Technik ist hier relevant, insofern Technik der Orientierung dient und als handlungsleitend angesehen wird: Mit dem, was wir als Technik bezeichnen und als Technisches beschreiben, kennzeichnen wir gleichzeitig das, was vom Menschen gemacht ist. Diese Definition geht auf Aristoteles zurück. So unterscheidet Aristoteles den Begriff der Technik von dem der Natur. In seiner Physik II12 wird Natur als dasjenige bestimmt, was den Ursprung von Ruhe und Bewegung in sich hat. Technik hingegen hat diese vom Menschen her. Technisches ist somit einer Veränderung durch Manipulation zugänglich im Gegensatz zu dem, was als Natur gekennzeichnet wird. In diesem Sinne ist Technik ein relevanter gesellschaftlicher Reflexions- und Orientierungsbegriff ebenso wie Natur und Mensch. Je weiter und tiefer nun aber die Technisierung voranschreitet, desto weniger jedoch zeigt Technik ihr technisches Antlitz im Sinne des Unterschieds vom Natürlichen. Hier ist es wichtig, an Grenzsetzungen zu erinnern, an Unterscheidungen, die solche Grenzsetzungen ermöglichen13. Grundlegend lassen sich zwei Dimensionen von Technik unterscheiden: Ich nenne sie hier abgekürzt die Lebens- beziehungsweise Selbst- und die Weltbewältigungsfunktion. In beiden drückt sich die Naturbeherrschung aus, aber jeweils unter einem anderen Aspekt. Zur Lebensbewältigungsfunktion gehören die Technik als Artefakt, als Konstruktion von Werkzeugen und Maschinen, aber auch die Techniken des zwischenmenschlichen Umgangs, das heißt Sprachtechniken, Füh12 Aristoteles, Philosophische Schriften 6: Physik. Vorlesungen über die Natur, übersetzt von Hans Günter Zekl, Hamburg 1995. 13 Ulrich Beck/ Christoph Lau (Hg.), Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?, Frankfurt/M. 2004; Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen: I. Technikphilosophie als Reflexion der Medialität, Bielefeld 2006.

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rungstechniken und Verhaltenstechniken et cetera. Diese Techniken dienen der Lebensbewältigung. Zu dieser Dimension der Lebensbewältigung gehören auch die Neurotechniken. Sie versprechen eine technische Verbesserung des Menschen, ein „Improving Human Performance“14 – das ist zunächst zu begrüßen. Allerdings führt dies bis dahin, und das ist kritisch zu sehen, dass Humanität selbst als technisch machbar erscheint, wie Peter Sloterdijk es in seinen Regeln für den Menschenpark15 gezeigt hat. Demgegenüber ist mit Habermas an der prinzipiellen Naturwüchsigkeit, die er als konstitutiv für unsere Anerkennung als autonomes Wesen gekennzeichnet hat, festzuhalten16. Darüber hinaus gibt es eine weitere Dimension der Technik. Sie zeigt sich in allen Versuchen der äußeren Naturbeherrschung, sei es im Blitzableiter, in der Energiegewinnung oder in der Nahrungssicherung. Diese Dimension möchte ich als Weltbewältigungsfunktion kennzeichnen. Genau diese Dimension zeigt sich aber eben heute auch gegenüber der Natur des Menschen, und hier greifen beide Dimensionen ineinander, nicht zuletzt in den Versuchen, das Leben mittels technischer Hilfe zu verlängern. In dieser Dimension geht es um die Bewältigung der Kontingenz des Daseins. Und für die neueren Technologien ist es typisch, dass beide Dimensionen ineinander greifen. Man wird sagen können, der Mensch wird technischer und die Technik biologischer, und das heißt: „natürlicher“! Damit ergeben sich Veränderungen in der Wahrnehmung der Komplexität des menschlichen Leibes im Verständnis von Gesundheit und Krankheit, von Leben und Tod, von Heilung und Verbesserung, ja generell in der Wahrnehmung von Mensch, Natur und Technik. Beide Bezüge der Technik, die Lebensbewältigung und die Weltoder Kontingenzbewältigungsfunktion, wirken nun auf das Selbstverständnis des Menschen ein. Dass dies so ist, konnte lange verborgen bleiben. Technik wurde in unserer Kultur meist in eben der Bestimmung, wie Aristoteles sie gegeben hat, aufgenommen, nämlich, wie gesagt, in der Unterscheidung von Natur und Technik. Diese Bestimmtheit der Unterscheidung gilt heute nicht mehr, weil genau diese Unterscheidung fragwürdig wird. Denn mit der Biologisierung der Technik die Spuren 14 Mihail C. Roco/ William S. Bainbridge (Hg.), Converging Technologies for Improving Human Performance. Nanotechnology, Biotechnology, Information Technology and Cognitive Science, Dordrecht/ Boston/ London 2003. 15 Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt/M. 1999. 16 Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt/M. 2005.

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des Technischen in unserer Welt auf der einen und die Naturwüchsigkeit des Menschen auf der anderen verschwimmen. Die kulturprägenden Grenzen von Natur und Technik sind nicht mehr manifest, wenn technisch Gemachtes als natürlich Gewordenes erscheint. Und jetzt, wo sich die Unterscheidung von Natur und Technik verflüssigt, muss auch die weitere Frage gestellt werden: Was ist eigentlich Technik für den Menschen?

3 Die anthropologische Dimension von Technik: Zum Zusammenhang von Ethik und Technik17 Lange galt die Technikbegabtheit als das Unterscheidungsmerkmal des Menschen vom Tier. Jedoch angesichts neuerer Forschungen der Biologie haben wir nicht nur mit gewissen technischen Fähigkeiten auch der Tiere zu rechnen, sondern auch mit deren Bewusstsein, und es ist sicher nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, dass beides miteinander zusammenhängt. Dennoch erscheint nun aber auch im Zuge der evolutionsbiologischen Erforschungen nicht mehr die Technikbegabtheit – und das mag hier überraschend kommen –, sondern die Religion dasjenige zu sein, was die Unterscheidung des Menschen gegenüber dem Tier ausmacht. Löst also die Religion die Auszeichnung des Menschen durch die Technik ab? Ich meine: ja und nein. Dies wird deutlich, wenn wir uns die zweite Dimension von Technik, nicht diejenige, die der Werkzeugherstellung oder den Techniken des zwischenmenschlichen Umgangs dient, sondern diejenige der Welt- und Kontingenzbewältigung, näher anschauen. Diese ist meist nicht im Blick, wenn von Technik die Rede ist. Sie hängt aber direkt mit dem Selbstverständnis des Menschen zusammen. Denn diese zweite Dimension ist es schließlich, die den WeltUmgang des Menschen im Ganzen, sein Selbstverständnis und seine Vorstellung vom Leben bestimmt. Dazu müssen wir uns die biologische Struktur des Menschen näher anschauen, und zwar in ihrer Naturwüchsigkeit. Sie resultiert aus der bestimmten biologischen Struktur des Menschen, die die philosophische Anthropologie als Weltoffenheit des 17 Vgl. zu diesem Kapitel: Elisabeth Grb-Schmidt, „Die Aufgabe der Verantwortung als Erfahrung der Freiheit. Ethische Überlegungen anlässlich des Illusionsverdachtes der Freiheit seitens der Hirnforschung, in: Thomas Fuchs/ Grit Schwarzkopf, Verantwortlichkeit – nur eine Illusion?“, Heidelberg, 2010, 275 – 294.

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Menschen gekennzeichnet hat. Mit dieser ist nämlich ein spezifisches Sicherungsbestreben verbunden18. Und gerade hier in der zweiten Bedeutung von Technik als Kontingenzbewältigung, die in die geschichtliche Dimension des Menschen hineinreicht, rückt diese damit schon ganz nah an die religiösen Ausdrucksformen der Weltbewältigung heran. Wir müssen diese Dimension der Technik im Auge behalten, wenn wir die Technik bewerten, und vor allem, wenn wir uns der ethischen Steuerungsfähigkeit der Technik, also der Technikethik, versichern wollen. Das heißt: In der Auszeichnung der Technik als die differentia specifca des Menschen bleibt ein Wahrheitsmoment erhalten, auch wenn Tiere Werkzeuge herstellen. Dies betrifft nun aber nicht die Funktion der Technik als Werkzeugherstellung, sondern vor allem deren Funktion der Weltbewältigung des Menschen, die eben genau darin eine religiöse Funktion hat, dass sie im Umgang des Menschen mit der Weltoffenheit auf das Ganze und gerade damit auch auf das Selbstverständnis des Menschen ausgreift. Dieser Bezug der Technik zur religiösen Dimension und damit verbunden zum Selbstverständnis des Menschen zeigt nämlich, dass die erste und zweite Bedeutung von Technik, abkürzend genannt, die naturwissenschaftlich-schaffende und die geschichtlich-soziale Dimension, nicht voneinander zu trennen sind, sondern zusammengehören. Wie die Instinktarmut zur handwerklichen Technik führt und damit Lebensbewältigung ist, so führt die mit der Instinktarmut einhergehende Weltoffenheit zu deren geschichtlichen Kontingenzbewältigungsstrategien. Und genau in diesen Kontingenzbewältigungsstrategien kommt eine religiöse Dimension zum Vorschein, in deren Dienst die Technik tritt. Nicht zuletzt zeigt sich die manifeste religiöse Dimension und das damit verbundene Sicherheitsstreben im Griff der Technik nach den Sternen – von Anbeginn der Menschheit manifest mystisch dargestellt im Turmbau zu Babel (Gen 11). Gerade damit erübrigt sich die Aufgabe der Ethik aber keineswegs. Denn diese hat die Aufgabe, die Qualitätssicherung der Kontingenzbewältigungsstrategien durch die Technik vorzunehmen. Denn wie die Technik das tut, darin zeigt sich eine Entscheidungsaufgabe der Ethik. Die Ethik bewährt sich in einem angemessenen Umgang mit dem Sicherungsstreben des Menschen, der Freiheit und 18 Neben der Kompensation der Instinktarmut durch die Technik sieht denn auch bereits Gehlen die Aufgabe der Technik in der Bewältigung der Weltoffenheit des Menschen, was zunächst in der Magie geschah, im aufgeklärten Zeitalter dann durch Technik. Vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, erw. Auflage, Frankfurt/M. 62004.

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Sicherheit in einer Balance halten kann, die nicht in einen Verlust von Freiheit abgleitet. Die Technik ist intrinsisch mit unserer Gesamtsituation, unserem Selbst- und Weltzugang, und mithin auch mit unserer religiösen Dimension verwurzelt. Diese Aufgabe der Ethik ist klar. Aufgrund der umfassenden Bedeutung von Technik zeigt sich nun aber bereits Entscheidendes für die Frage des Zusammenhangs von Technik und Ethik. Ethik ist gar nicht losgelöst von der Technik zu betrachten, wenn anders die Bestimmung unseres Selbst- und Weltverhältnisses Ausdruck der religiös verfassten Struktur unseres Menschseins ist. Damit können wir festhalten: Die Bestimmtheit des Menschen wäre genau in der Korrelation technischer und ethischer Bezüge des Menschen anzutreffen, deren Qualität in der Bestimmung des Selbst- und Weltumgangs liegt. Das heißt das, was den Menschen ausmacht, die differentia specifica, liegt nicht bereits in der ratio des Menschen. Der Mensch ist nicht nur animal rationale – und die differentia specifica liegt auch nicht nur in der rationalen Werkzeugherstellung – er ist nicht nur homo faber, sondern in einer tieferen Schicht, die in der unvorgreiflichen Ebene des Selbsterlebens zu finden ist, aus der alle Tätigkeit und Reflexion des Menschen ihren Anfang nimmt. Man kann sagen: Die Bestimmtheit des Menschen liegt im Vollzugs- und Gestaltungscharakter des Daseins, das in der Weltoffenheit seinen Ausgang nimmt. Und in dieser Aufgabe, die Weltoffenheit bewältigen zu müssen, wurzelt die Freiheit des Menschen, bei deren Betätigung die Technik einen wesentlichen Anteil hat. Damit reicht die Technik tief in diese Urschicht des Selbstverständnisses des Menschen und seine Freiheit hinein. Der Erhellung dieses Zusammenhangs dient ein Blick auf das Technikverständnis Ernst Cassirers19. Ernst Cassirer, der neben Heidegger nicht so bekannte, aber gleichwohl ebenso bedeutende Philosoph des 20. Jahrhunderts, ordnet die Technik in den Zusammenhang seiner als Symboltheorie konzipierten Philosophie ein. Für Cassirer ist Technik der Motor der menschlichen Freiheitsgeschichte, Stolz und Emanzipationspotential der Menschheit. Cassirers Technikverständnis hebt sich wohltuend von der eingangs erwähnten kritischen Inblicknahme der Technik ab, wie sie in Theologie und Philosophie gerade im deutschen 19 Vgl. hierzu: Elisabeth Grb-Schmidt, „Technik – unser Leben“, in: Eilert Herms (Hg.): Leben: Verständnis. Wissenschaft. Technik (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 23), Gütersloh 2005, 494 – 509.

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Kontext anzutreffen ist. Im angelsächsischen Kontext war das immer anders. Die kulturpessimistische Stimmung des frühen 20. Jahrhunderts, die aus der historischen Krisensituation erwuchs, hat Cassirer nicht gegen die Technik als Sündenbock der Fehlentwicklung der Kultur gerichtet, im Sinne von Technik als Verfallsgeschichte, wie Heidegger, sondern letztlich als ein Verkennen der Chancen von Freiheit, die mit der Technik gegeben sind20. Das ist nun für die Frage der Verantwortung und des Anteils der Technik an der Verantwortungsfrage. Damit führt er nämlich nicht nur eine Rehabilitierung der Technik herauf, sondern zugleich eine schärfere Profilierung des Freiheitsbegriffs. Ohne Frage wird Freiheit als Voraussetzung von Ethik begriffen. Ohne menschliche Freiheit gibt es keine Ethik. Dass aber das Handeln gerade im freiheitlichen Planen notwendig auf Technik angewiesen ist, wird in der Regel übersehen, jedenfalls nicht reflektiert aufgenommen. Technik gehört damit – bei Cassirer – zu den Konstitutionsbedingungen menschlicher Freiheit und ist eben damit einzurücken in die Genese menschlicher Personalität. Mit Cassirer könnte man hier etwa sagen: Das geschieht durch ihre Objektivierungsleistung im technischen Werk. Im Werk begegnen und erkennen wir uns selbst. Das Werk steht uns zwar als Objekt gegenüber, aber als das, was wir geschaffen haben. Anhand der verschiedenen Deutungen des Menschen und des Lebens in Bezug auf technische Errungenschaften können wir das bereits erahnen, wenn etwa bei Descartes „Der Körper als Maschine“ oder wenn die Lebenszeit im Zeitalter der Mechanik mit einer Uhr verglichen wird21. Dieses Technikverständnis hat aber entscheidende Konsequenzen für die Einbindung von Technik im Reflexionsprozess menschlichen Selbstverständnisses. Denn Technik ist hier nicht mehr reduziert auf technische Rationalität – und das hat schließlich immer die Technikkritik bestimmt – sondern Technik hat initiierende Funktion für die Reflexivität und Freiheit und bringt sie zur Darstellung. Dadurch kommt in ihr nichts weniger als die Freiheit des Menschen als solche zum Ausdruck und Durchbruch. Durch die Technik wird der Mensch seiner selbst als frei tätiges Wesen ansichtig und damit überhaupt seiner selbst.

20 Siehe hierzu vor allem Ernst Cassirer, Symbol, Technik, Sprache, Aufsätze aus den Jahren 1927 – 1933, hg. v. Ernst Wolfgang Orth und John Michael Krois, Hamburg, 1985. 21 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen Bd. I: Die Sprache, Reprografischer Nachdr. der 2. Aufl. (1953), Darmstadt, 101994, 239.

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Gerade in der Technik, im technischen Werk, erkennen wir unsere Freiheit. Durch Technik entsteht die spezifisch menschliche Kultur, das heißt überhaupt „Kultur“. Indem der Mensch nach Cassirer in der Technik deren eigene Genese reflektiert und reflexiv mit einbegreift, verortet Cassirer sogar den Ursprung der Reflexivität und damit zugleich das Gewahrwerden menschlicher Freiheit in der Technik22. Durch die Technik wird damit ein Überschreiten unseres rein biologischen Daseins hin zum Kulturellen ermöglicht23. Technikverzicht wäre mithin keine Lösung. Der Mensch kann ohne Technik nicht überleben und nicht leben. Technikverzicht würde lediglich zum Kulturverlust führen. Es muss vielmehr um einen angemessenen Umgang mit Technik gehen, und dieser muss an unseren Vorstellungen vom Leben insgesamt ausgerichtet sein. Diese Frage nach dem angemessenen Umgang mit Technik erschwert sich jedoch angesichts der neueren Technologien, die den Gegensatz von Natur und Technik auflösen. Denn damit läuft zugleich die Basis menschlicher Freiheit ins Offene, hat sich doch Freiheit immer als Gegenüber zur Natur bewährt. Wir müssen daher zunächst den technischen Charakter der neueren Technologien klären.

4 Ist die Neurotechnologie eine neue Form der Technik? Wir haben gesagt: In der Neurotechnologie verschwindet diese Basis des Gegensatzes von Natur und Technik, der das aristotelische Verständnis von Technik bestimmt hat. Technik wird zum Medium selbst der Natur. Und Natur wird technisiert. Die Fronten verschieben sich. Aus dem traditionellen Verständnis von Technik als Prozess, Mittel und Artefakt wird nun Technik selbst zum Medium der Selbstbestimmung, wenn wir unsere Funktionsfähigkeit von ihr abhängig machen. Damit wird nun aber die Verhältnisbestimmung von Technik und Ethik erneut und auf höherer Stufe problematisiert. Das Neue besteht in der Verschiebung von Natur und Technik bis zu deren Ununterscheidbarkeit einerseits und dem Ausgriff der Technik auf Personalität und Freiheit andererseits. Man spricht hier bereits von einem neuen Zeitalter der Renaissance, welches das technologische Mittelalter ablöst. Wir können uns vorstellen, was das 22 Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte (ECN) Bd.1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, Hamburg 1995 39 f. 23 Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen I (s. o. Anm. 21), 32.

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bedeutet, war doch mit der Renaissance der Neuzeit das Zeitalter der Freiheit eingeläutet worden: „We stand at the threshold of a new renaissance in knowledge based on the structure and behavior of matter from the nanoscale up to the most complex system yet discovered, the human brain. Unification of science based on unity in nature and its holistic investigation will lead to technological convergence and a more efficient societal structure for reaching human goals. In the early decades of the twenty-first century, concentrated effort can bring together nanotechnology, biotechnology, information technology, and new technologies based in cognitive science. With proper attention to ethical issues and societal needs, rapid advances in convergent technologies have the potential to enhance both human performance and productivity.“24

Hier können wir genau sehen: Mit dieser neuen Technologie verschieben sich nicht nur die Grenzen von Natur und Technik, sondern zugleich die Unterscheidungsmerkmale von Technik und Ethik. Beides sind Dimensionen menschlicher Freiheit. Das Problematische ist, dass sich jetzt das Gegenüber verschiebt. Das Gegenüber bildet nicht mehr die Natur, sondern Hybridformen von Natur und Technik sowie Freiheit und Technik. Die Technik bestimmt die Grundlagen der Freiheit, indem sie sich selbst als Möglichkeitsraum der Freiheit setzt, der bisher Gebiet der Ethik war. Man spricht von „enabling technologies“. Dies ist neu und grundlegend: Technik wird damit letztlich mit Freiheit identifiziert. Damit verwischen sich auch die Zielbereiche von Technik und Ethik, und genau das ist die brisante neue Fragestellung, die diese modernen so genannten „converging technologies“ ganz und gar neu machen. Sie bilden ein neues Paradigma, das darin sein Merkmal hat, dass die Differenzierung selbst durchlässig zu werden scheint. Gerade dann ist es aber höchst dringlich, das Verhältnis von Technik und Ethik neu zu reflektieren, und zwar genau im Blick auf den Stellenwert der Freiheit Nicht überraschen kann jedenfalls, dass die converging technologies auf einen Tatbestand aufmerksam machen, der immer schon galt, nämlich dass die Freiheit nicht nur Gegenstand der Ethik, sondern auch der Technik ist. Genau das zeigen nämlich die „converging technologies“, und genau daran können wir für eine ethische Gestaltung dieser Technologien, wie überhaupt der Technik, anknüpfen. Das hätte auch Konsequenzen für das Verhältnis der zeitlichen Reihenfolge von Technik und Ethik. Ethik wäre nicht mehr nachgängig, sondern könnte gleich24 Roco/ Bainbridge, Converging Technologies (s. o. Anm. 14), Buchrückseite; vgl. auch ebd., IXf.

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zeitig mit der Technik auftreten. Das zeitliche Verhältnis würde als ambivalentes gleichursprüngliches Wechselspiel angesehen werden können. Die technische Freiheit mit ihrer Lust am Kreativen, am Neuen, am offenen Möglichkeitsraum würde aufgrund ihres Reflexivwerdens durch ihr Wechselverhältnis mit der Natur – was ihr als Freiheit innewohnt – mit der ethischen Freiheit zusammen kommen. Dann könnte sie als Konkretisierung der Ausgestaltung dieses Möglichkeitsraumes der menschlichen Freiheit – und zwar als diesen erhaltend – verstanden werden. Das heißt technische Forschung wäre immer verknüpft mit der Frage: Welchem Verständnis vom Menschen und der Gesellschaft fühlen wir uns verpflichtet? Die Frage ist dann nicht mehr: Wie sind Verfügungs- und Orientierungswissen, das heißt Technik und Ethik, aufeinander zu beziehen? Eine ethische Bewältigung des technischen Zuschnitts der Freiheit selbst erfordert es, ethische und technische Aspekte von Freiheit zwar zu unterscheiden, sie aber als immer schon aufeinander bezogen zu erkennen. Die Frage ist dann: Wie kann es gelingen, das die Technik selbst in die Selbstgestaltung des menschlichen Lebens einbezogen wird und es damit verhindert wird, die Freiheit ins Leere, etwa in abstrakte Forschungsmöglichkeiten laufen zu lassen? Wie kann es gelingen, sie für den Dienst am Leben selbst in seiner Bewährung der Freiheit in Anspruch zu nehmen? Dennoch bleibt eine gravierende Gefahr, nämlich die Gefahr, die nun daraus erwächst, dass Technik in den neueren Technologien selbst mediale Funktion bekommt. Darin liegt die weitere Gefahr, dass sich Ethik und Technik im Reflexivwerden nicht mehr unterscheiden lassen. Dies muss aber gewährleistet werden, wenn wir die Steuerung des Handlungsgeschehens verantwortlich in der Hand behalten wollen. Dies ist nur gewährleistet, wenn sich eine Unterscheidung über den Freiheitsbegriff selber herstellen lässt, da heißt über eine Differenzierung der Freiheit. Eine solche Differenzierung müsste darin liegen, die Bestimmung des Möglichkeitsraumes, der für die Freiheit steht, selbst zu qualifizieren, und zwar darauf hin, ob die Bestimmung der Eröffnung und Erhaltung des Möglichkeitsraumes selbst dienlich ist oder nicht. Das bedeutet schlicht: Technik selbst muss daran interessiert sein, dass die ethische Freiheit, das heißt die ihr dienliche Steuerungsfähigkeit, erhalten bleibt, und zwar als ethische Steuerungsfähigkeit. Technische Freiheit darf sich also nicht als

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Freiheit überhaupt ausgeben25. Das wäre der technologische Imperativ: Wir machen alles, was wir können. Das ist und war aber immer die Gefährdung durch die Technik und diese Gefahr potenziert sich durch die „converging technologies“. Indem wir – um nur ein Beispiel zu nennen – etwa mittels dieser unser Leben per Knopfdruck führen würden oder Enhancement durch gesellschaftlichen Wettbewerbsdruck mitmachen müssten, das heißt Prozac und Medifil schlucken müssten, um zu funktionieren. Es ist übrigens diese Gefährdung der Verselbständigung der technischen Vernunft, die immer die einseitig negative Beurteilung von Technik hervorgerufen hat – und dann natürlich zu Recht. Wie ist dieser akuten Gefährdung durch die neuen Technologien zu begegnen?

5 Die Bewährung der Freiheit in der Neurotechnik und die ethisch-religiöse Dimension Menschliches Leben ist Leben, das geführt werden muss. Der Mensch muss Entscheidungen vollziehen. Dies zeigt sich darin, dass er sich von Zielvorstellungen in seinem Handeln leiten lässt. Diese sind aber nicht durch den Menschen selbst herstellbar. Sie haften an den technisch unverfügbaren Dimensionen menschlichen Lebens als Selbsterleben. Es gilt zu bedenken: Die Technik ist zwar mit Freiheit verwoben, sie darf aber nicht mit ihr identifiziert werden. Freiheit haftet am Ursprünglichen als Ursprünglichem oder Unverfügbarem des Selbsterlebens, aus dem auch die Technik entspringt. Im Blick auf die Lebensführung orientiert sich ethische Freiheit an den im Selbstverständnis begründeten Überzeugungen über Sinn und Aufgabe des gesamten Daseins. Technische Freiheit hingegen fungiert als ein Mittel zum ethischen Ziel, in dem es grundsätzlich um die Gestaltung gelungenen Lebens als solchem geht. Damit ist dann aber die Erhaltung der Freiheit, gerade auch der technischen, an das Residuum des unverfügbaren, unhintergehbaren Selbsterlebens zurückgebunden. Und damit kommen wir zur eigentlich Gefahr der neueren Technologien: Es ist nämlich genau diese Erhaltung des Unverfügbaren, die durch den technischen Zugriff auch immer wieder verloren zu gehen droht. Dies geschieht dort, wo der technische Fortschritt an die Identitäts- und Selbstbestimmungsthematik rührt, das heißt 25 Das ist gerade in den sogenannten evolutionistischen und technokratischen Missverständnissen von Technik der Fall. Genau in dieser Gefahr der Missverständnisse von Technik besteht auch die vielzitierte Ambivalenz der Technik.

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dort, wo diese vollständig dem „Machen“ unterstellt wird. Mit solchem Machen wird aber die Unverfügbarkeit, aus der menschliche Identität allererst ihr Gewicht erhält und die sich in der Unantastbarkeit der Menschenwürde widerspiegelt, angegriffen und eingezogen. Nun ist diese Unverfügbarkeit nicht durch die Natur gegeben. Der Begriff „Naturwidrigkeit“, wie ihn Habermas verwendet, kann hier Missverständnisse hervorrufen. Dennoch symbolisiert die Natur in ihrer Vorgegebenheit diese Unverfügbarkeit26. Im Blick auf die Technik und ihr Verhältnis zur Natur ist das vor allem deswegen ein Problem, weil wir jetzt selbst zu entscheiden haben: „Was müssen oder wollen wir an unsrer Natur festhalten?“ Die aristotelische Gegenüberstellung von Natur und Technik greift hier, wie gesagt, nicht mehr, wenn wir die Natur der Technik verfügbar machen und sie nicht mehr als korrigierendes Gegenüber behalten. Wie ist nun diese neue Konstellation des Verschmelzens von Natur und Technik ethisch zu bewältigen? Hier bedarf es einer Differenzierungsarbeit, um die ethische von der technischen Dimension der Freiheit bleibend unterscheiden zu können. Wir haben gesehen: Ethik ist nicht vorstellbar ohne die Rückbindung an das Selbsterleben. Aber das heißt ganz klar – und hier behält die Ethik gegenüber der Technik die Hand im Spiel: Das Freiheitspotential der Technik kann nur dann ausgeschöpft werden, wenn der technische Ermöglichungsraum der Freiheit vom ethischen Ermöglichungsraum selbst unterschieden wird. Es gilt, klar zu sehen: Die Technik ist zwar das Realisationsprinzip unserer Freiheit, und verweist mithin auf die Möglichkeiten des Menschen, dies ist sie aber immer auf dem Grund nicht selbst gesetzter und das heißt aufgrund unverfügbarer Möglichkeiten. Genau diese Unverfügbarkeit ist ihre Grenze, und nur unter Wahrung dieser Grenze bleibt technische Freiheit selbst frei. Diese Unverfügbarkeit darf nicht eingezogen werden, soll weiterhin an Freiheit festgehalten werden können. Das heißt, die Machbarkeit, für die die Technik steht, muss selbst an den offenen Möglichkeitsraum der ethischen Freiheit zurückgebunden werden, und damit darüber hinaus an die Unverfügbarkeit, aus der menschliche Freiheit allererst entspringt. Für den Umgang mit der Technik und den neuen Technologien bedeutet das: In allem menschlichen Handeln darf nicht die Machbarkeit selbst das Ziel des Handelns werden oder auch nur ihre Steigerbarkeit. Der Dienstcharakter technischen Handelns im Blick auf unsere gewählten Vorstellungen vom Leben muss gewährleistet bleiben, als solcher bleibt er 26 Vgl. Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur (s. o. Anm. 16).

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aber unverzichtbarer Bestandteil der Freiheit, auch und gerade der ethischen. Durch diese Einsicht in das Verhältnis der technischen und ethischen Dimension der Freiheit, gewinnen wir einen neuen Ansatz gerade für die Technikethik. Nun ist es nichts Neues, dass die Technik durch die Ethik gesteuert werden soll – was meist in Appellationen und in Sonntagsreden endet. Neu ist aber, dass aufgrund eines freiheitlichen Technikkonzepts auch die ethischen Überlegungen – und zwar sämtliche – nicht an der Technik vorbei geschehen dürfen, und zwar weil Freiheit als Freiheit mit Technik verflochten ist. Gerade das machen die Neurotechnologien, die so genannten „converging technologies“, unmissverständlich deutlich, indem sie die Technikbestimmtheit des Menschen anschaulich machen. Es ist daher ein Kurzschluss, sofort für eine „Ethik des Sein-Lassens“ zu plädieren27, obwohl dies in bestimmten Fällen durchaus greifen muss. Wir dürfen nicht verkennen: Durch die genaue Bestimmung menschlicher Freiheit gewinnt nicht nur die Ethik, sondern auch die Technik Bedeutung für das Selbst- und Personverständnis des Menschen und ist mithin eben gerade deswegen für die Aufgabe der Ethik als Lebensgestaltung selbst unverzichtbar. Insofern müssen wir uns konkret der brisanten Frage zuwenden: Wie muss diese Verhältnisbestimmung nun für diejenigen Techniken aussehen, die direkt in das Identitätszentrum des Menschen eingreifen?

6 Die Bedeutung der neuen Technologien für die Bestimmung der Personalität des Menschen: Chance und Gefahr Wir haben gesehen: Freiheit ist gefährdet, wo die Technik nicht in Beziehung gesetzt wird zu ihren Ermöglichungsbedingungen, das heißt auch den externen, nicht durch sie selbst bestimmten Steuerungskriterien. Dies geschieht da, wo die Technik allein auf ihre Gegenständlichkeit, das heißt auf ihre Werkzeugherstellung in weitestem Sinne reduziert ist und wo nicht ihre reflexive Funktion vergegenwärtigt wird, die ebenso zu den Leistungen der Technik gehört. Das ist mithin dort der Fall, wo die technische Machbarkeit um ihrer selbst willen geschieht, das heißt ohne Bezug zur reflexiven Selbstvergewisserung personalen Lebens oder mit andern Worten, ohne Bezug zu der Frage, wie wir leben wollen. In der 27 Vgl. Körtner, „Lasset uns Menschen machen“ (s. o. Anm. 6).

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Orientierung allein an der technischen Machbarkeit wird aber das Freiheitspotential des Menschen überstrapaziert, und zwar gerade, weil es seinen personalen Bezug außer Acht lässt. Denn der personale Bezug verweist eben immer auch auf die Unverfügbarkeiten und Grenzen des Daseins als desjenigen, was den Menschen bestimmt. Werden diese Grenzen nicht als solche vergegenwärtigt, und das geschieht, wenn das Handeln nur auf technisch zweckrationale Machbarkeit abgestellt wird, dann wird Technik zum Repräsentant erstarrter Strukturen menschlichen Lebens. Es ist diese Technik, gegen die sich immer auch die philosophische Kritik, etwa diejenige Heideggers, gewendet hat. Das heißt aber auf der anderen Seite: Technik ist dann, aber eben nur dann, eine Verstellung von menschlicher Lebenswirklichkeit, der Verlust von Freiheit und Kulturverfall, wenn die Technik selber nicht mehr reflexiv rückgebunden wird an die ihr selbst zugrunde liegenden Unverfügbarkeiten, aus der die Freiheit als Freiheit – auch als technische Freiheit – erwächst. Dieses reflexive Verhältnis zur eigenen Freiheit ist nun gerade das, was die Person bestimmt. Denn in der reflexiven Selbsterfassung des Lebens sind die handlungsorientierenden Ziele begründet. Diese Ziele stellen sich im Lebensvollzug ein, sind also an die Lebenspraxis rückgebunden. Der Mensch ist ein Wesen, das nicht muss (instinktmäßig), sondern kann. Es ist die Ursprünglichkeit dieses Könnens, die sich uns hier aufdrängt, und es ist nun diese Erfahrung des ursprünglichen Könnens, die aber letztlich im Kern eine Transzendenzerfahrung beinhaltet, die gerade auch im technischen Machen präsent gehalten werden muss. Diese aber geht in der Regel verloren, weil wir durch unser Können so fasziniert sind, dass wir dessen Ursprung vergessen. Das führt dann dazu, dass diese Unterscheidung von Selbsterleben und Technikbestimmung aufgelöst, jedenfalls durchlöchert zu werden droht. Dabei wird die Vernachlässigung dieser Unterscheidung von Selbsterleben und technisch Gemachtem verstärkt durch eine Forschung, die nun genau darauf abzielt, diese Unterscheidung zum Verschwinden zu bringen. Dies ist dort der Fall, wo die Identität des Menschen selbst in Frage gestellt zu werden droht, etwa bei Eingriffen ins menschliche Gehirn, die die Selbstinterpretation verändern. Der Mensch ist immer zugleich ein biologisches und ein personales System, er verhält sich zu sich selbst, er verhält sich als Person zu seinem Körper – aber der Eingriff in den Körper verändert diese Beziehungen und dies ganz besonders, wenn es sich um das Gehirn handelt. Wir wissen: Neurobiologische Manipulation ist die Erweiterung des Handlungsspielraums, sie ist aber auch die Erweiterung des möglichen

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Heilungsspektrums. Von daher ist sie grundlegende Aufgabe sowohl für die technische als auch für die ethische Selbstbestimmung des Menschen. Aber wenn man sich darüber Gedanken macht und das akzeptiert, dann muss klar sein: Die Reflexion für die Dienlichkeit des Menschen in seiner Selbstbestimmung und Freiheit selbst darf auch bei den Technologien, die für die Heilung in Anschlag gebracht werden, nicht vernachlässigt werden. Hier ist also die Aufgabe der ethischen Selbstreflexion gefordert, die die Frage nach den Zielen unseres Lebens stellt, die ihrerseits an Offenheiten des Möglichkeitsraumes für die Freiheit haften. Im Blick auf die Neurobiologie wird es hier insofern brisant, weil die damit einhergehenden neuen Techniken in die Identität des Menschen selbst hineinreichen. Das Risiko des Missbrauchs bei Eingriffen in das Gehirn ist gewaltig – nicht weniger als der Eingriff in die Keimbahn, über den eine viel intensivere ethische Diskussion geführt wird28. Es stellt sich mithin die Frage, wie die Rückbindung an das Selbsterleben gewahrt bleiben kann, wenn der technische Eingriff selbst bis in die Identitätsbestimmung hineingreift. Das wird sich daran entscheiden, ob die Eingriffe so weit gehen, dass die Menschenwürde davon betroffen ist, auch davon war die Rede – und dies ist meines Erachtens genau da der Fall, wo der Freiheitsraum des Menschen in seiner Unverfügbarkeit angegriffen wird. Wo hingegen die Freiheit als selbst unverfügbares Residuum begriffen und erhalten bleibt, die es dem Menschen ermöglicht, zu handeln und zu leben, dort ist Forschung ethisch erlaubt. Sie ist dort sogar geboten. Das erstere beträfe etwa besagte Lobotomieexperimente, das andere etwa die Linderung des Tourette-Syndroms. Nicht zuletzt mit dieser Entscheidung für die Erhaltung der Freiheit verwirklicht der Mensch dann auch seine ihm als technisch begabtem Wesen entsprechende Personwerdung (Menschwerdung). Damit verweist gerade das Zusammenspiel von Technik und Ethik auf die Grenzen und Unverfügbarkeiten des Daseins und diese müssen respektiert werden. Es wird damit zugleich festgehalten: Freiheit ist Strukturmoment des Lebens als selbstbewusstes Leben. Die Technik ist dann nicht nur eine spezifische Fähigkeit menschlicher Rationalität. Vielmehr bildet die in den Technisierungsakten des Menschen gegründete Reflexivität des Bewusstseins diese Rationalität selbst an deren 28 Man denke nur daran, wie man bereits vor Jahren durch die Lobotomie eine Million Menschen in willenlose Wesen verwandelte, unter anderem, weil sie unter vermeintlichen Krankheiten wie Homosexualität oder kommunistischen Neigungen litten.

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leibliche Vollzugsakte, die das menschliche Leben im Ganzen aufgrund seiner Freiheit bestimmen. Es sollte also vor allem klar werden: Kriterium der Technik als Ausdruck der Freiheit des Menschen ist es mithin, im Dienste der Erhaltung dieser Freiheit zu stehen, die die Personalität und Würde des Menschen ausmacht. Diese kann sich auch auf Eingriffe ins Gehirn beziehen, wenn durch diese nicht das Identitätsempfinden selbst aufgelöst wird, sei es durch Drogen oder Manipulation auf Knopfdruck oder durch Neuro-Enhancement, das mich meiner selbst gestaltenden Bildungsaufgabe entledigt. Kriterium der Erhaltung der Freiheit ist es jedenfalls, das für die Struktur des Personseins maßgebliche Erleben der Unverfügbarkeit ihres Selbsterlebens und ihrer Reflexivität zu respektieren und zu schützen. Freiheit und Personalität des Menschen hängen in dieser Unverfügbarkeitsdimension zusammen. Ethik kennzeichnet genau diese Rückbindung des Handelns an die im Selbsterleben sich eröffnenden Bestimmungen und Ziele des Handelns. Wir müssen jetzt aber auch festhalten – und das ist bisher oft versäumt worden: Die Ziele des Handelns werden nur angemessen gedeutet werden können – und das heißt ihre Aufgabe auch erfüllen können –, wenn sie die technischen Möglichkeiten ernst nimmt (beziehungsweise dem technischen Anteil dieses Konstitutionszusammenhangs des Selbsterlebens) und sie als notwendiges Moment der eigenen Freiheit begreift. Die ethische Verantwortung hat also auf die mit der Technik gegebenen Chancen des Menschseins bleibend zu achten und diese zu fördern, ebenso wie ihre Gefährdungen zu begrenzen. Diese liegen nicht zuletzt im Aufgeben ihrer unverfügbaren, transzendenten Selbstvergewisserung. Erst wenn es gelingt, diese komplexen Bezüge im Blick zu behalten, in denen Technikethik vor dem Hintergrund der unverfügbaren Dimension der Freiheit entfaltet werden könnte, wird man auch der mit der Technik gegebenen Gestaltung und Führung, und das heißt ihre ethische Steuerungsmöglichkeit, nicht mehr als etwas Fremdes erleben, sondern als zu ihrer eigenen Qualität gehörig. Damit wäre Aufgabe der Ethik letztlich immer Technikethik. Mit anderen Worten, ethisches Orientierungswissen wird gerade dadurch ausgezeichnet, dass es sich durch empirisch-technische Möglichkeiten inspirieren lässt, diese allerdings selbst zurückbindet an das Selbstverständnis der Person und ihres Zusammenlebens in Gesellschaft, Politik und Kultur.

IV. Kirchlicher Auftrag

„Ich habe den guten Kampf gekämpft“ (II Tim 4,7) Ein theologischer Essay1 Konrad Stock 1 „Ich habe den guten Kampf gekämpft“! Der zweite Brief an Timotheus zieht mit diesem bündigen Satz die Bilanz des Lebenswerks des Apostels Paulus. Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass nicht etwa der Apostel Paulus selbst mit diesen Worten sein Lebenswerk bilanziert. Es dürfte vielmehr – wie in der Antike durchaus üblich – ein Schüler und Nachfolger des Apostels gewesen sein, der geraume Zeit nach dessen Martyrium während der Herrschaft des Kaisers Nero in Rom unter dem Namen des Paulus dessen Lebenswerk zum Vorbild und zum Maßstab der Verantwortung für das kirchen- und gemeindeleitende Lehramt erklärt (II Tim 2,1 – 26). Indem der pseudonyme Verfasser das kirchen- und gemeindeleitende Handeln mit Hilfe der Metapher des Kampfs anschaulich macht, nimmt er freilich ein zentrales Motiv auf, das uns bereits in den unbestritten authentischen Paulus-Briefen begegnet. Hier versteht der Apostel selbst das Leben des Glaubens als Kampf (vgl. Röm 15,30) – sei es als Wettkampf wie in einem antiken Stadion (I Kor 9,24 ff.), sei es als Kampf des Soldaten auf Leben und Tod mit Helm, Schild und Waffen (Röm 13,12; Eph 6,10 – 19). Nun wäre es eine ebenso reizvolle wie schmerzliche Aufgabe, im Gespräch mit den Bibelwissenschaften und mit der Kirchengeschichtsschreibung kritisch der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte nachzugehen, die die metaphorische Benennung des geistgewirkten Glaubens an 1

Gründlich überarbeitete Fassung eines Textes, der einem Vortrag auf der Tagung der Evangelische Akademie Loccum zum Thema „Kontemplation und Aktion. Was heißt ‘rechtes Handeln’ in christlicher Spiritualität und im Sufismus?“ am 21. November 2009 zugrunde lag. – Ich beginne mit dem vorliegenden Text eine Reihe theologischer Essays, die mit dem Mute der Verzweiflung zur theologischen Kompetenz im Interesse der öffentlichen Kommunikation des Evangeliums anleiten wollen.

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den Christus Jesus Gottes des Schöpfers als Kampf hervorrief: kommt es in ihr doch auch zu den bewaffneten Pilgerfahrten und zu den religiös verdienstvollen Kriegen der Kreuzzüge wie zu den selbstaggressiven Formen oder – besser gesagt – Fehlformen christlicher Frömmigkeit. Wir lassen uns jedoch von dieser Aufgabe nicht in Versuchung führen. Wir wollen uns vielmehr darauf konzentrieren, den Sinn und die Bedeutung zu vergegenwärtigen, die diese metaphorische Benennung der christlichen Existenz nach wie vor – und also auch und erst recht unter den tiefgreifend veränderten Lebensbedingungen der „reflexiven Moderne“ – besitzt. Wenn wir uns Sinn und Bedeutung dieser metaphorischen Benennung der christlichen Existenz für diesen Moment der gesellschaftlichen Lebenswelt vergegenwärtigen, zielen wir auf die Praxis der Kommunikation des Evangeliums in den verschiedenen öffentlichen Gesprächssituationen der Glaubensgemeinschaft der Kirche. Im Interesse dieser Praxis, im Interesse der Arbeit an der biblischen Metapher des Kampfs führt dieser Essay in der gebotenen Kürze eine prinzipientheoretische, eine dogmatische und eine ethische Besinnung zusammen.

2 „Ich habe den guten Kampf gekämpft“! Im Kontext des zweiten Briefs an Timotheus summiert dieser bündige Satz das Lebenswerk eines Menschen, der im Kreis und in der Gemeinschaft der Apostel am Anfang der Religionsgeschichte des Christentums steht. Der gute Kampf des kirchen- und gemeindeleitenden Lehrers, den der pseudonyme Verfasser zum Vorbild und zum Maßstab der Verantwortung in seiner eigenen geschichtlichen Gegenwart erhebt, gilt einer Lebensform, die ihrerseits mit Hilfe und im Lichte eines Kampfes zu begreifen ist und die sich deshalb nicht nur mit der Glaubensweise des zeitgenössischen Judentums, sondern auch mit den Lebenslehren der philosophischen Schulen zumal der kaiserzeitlichen Stoa berührt – und auseinandersetzt. Der gute Kampf des kirchen- und gemeindeleitenden Lehrers gilt einer Lebensführung, die die stetige und konsequente „Erneuerung des Sinnes“ und eben deshalb das Interesse an der Erkenntnis des guten, des wohlgefälligen, des vollkommenen Gotteswillens prägt (vgl. Röm 12,2). Bevor wir uns in der dogmatischen Besinnung der Frage widmen, aus welcher Quelle solche Lebensführung schöpfen wird, und bevor wir in der ethischen Besinnung einen Brennpunkt des hier und heute zu kämpfenden guten Kampfs benennen, werden wir deshalb in einer

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notgedrungen kurzen prinzipientheoretischen Skizze zu verstehen suchen, dass jede Lebensform auf eine Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit verweist, für die wir mangels anderer zureichender Begriffe den Begriff Religion verwenden. Ohne Rekurs auf das Begriffswort „Religion“ würden die dogmatische wie die ethische Besinnung, die Sinn und Bedeutung des biblischen Zeugnisses hier und heute vergegenwärtigen wollen, unklar und unverstanden bleiben. Ohne geduldige und hartnäckige Erinnerung an die notwendigen Bedingungen, unter denen sich das Ethos eines Menschen – die Frömmigkeit im strengen und genauen Sinne des Begriffes – bildet, wird die Glaubensgemeinschaft der Kirche den unverschämt-frechen Trends der Säkularisierung – ich spiele an auf Titel wie „Der Gotteswahn“ und „Die Schöpfungslüge“ – und den mut- und geistlosen Trends der Selbstsäkularisierung auf die Dauer schwerlich Widerstand leisten können. Der gute Kampf des kirchen- und gemeindeleitenden Lehrers gilt einer Lebensführung, die sich einer inhaltlich bestimmten Lebensgewissheit – der Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums von der Liebe Gottes des Schöpfers im Christus Jesus (Röm 8,39) – verdankt. Wie diese Lebensgewissheit die Glaubensgeschichte Israels voraussetzt und nur in deren Kontext ihre Eigen-Art gewinnt, so gehört sie in das weite Spektrum aller jener Anschauungen des Lebens und der Wirklichkeit, die wir mit dem Begriffswort „Religion“ bezeichnen. Ohne weitere gelehrte Nachweise wollen wir an diesen Anschauungen des Lebens und der Wirklichkeit zwei formale Gesichtspunkte hervorheben. Erstens: Alle inhaltlich bestimmten Anschauungen des Lebens und der Wirklichkeit setzen das Phänomen voraus, das wir uns mit Hilfe des Begriffsworts und der Theorie des personalen Selbstbewusstseins erschließen können. Sie setzen also die primäre Gewissheit voraus, die uns als das je individuelle Freiheitsgefühl gegeben ist. Weil wir im ungeheuren Raum des Lebendigen durch individuelles Freiheitsgefühl ausgezeichnet sind, können wir Menschen von einem sehr frühen Zeitpunkt der psychosexuellen Entwicklung an miteinander sprechen und miteinander handeln, spielen, singen, musizieren – und tanzen. Weil wir im ungeheuren Raum des Lebendigen durch individuelles Freiheitsgefühl ausgezeichnet sind, ist es uns allerdings unmittelbar gewiss, dass uns das individuelle Freiheitsgefühl schlechthin gegeben und mit unentrinnbarer Notwendigkeit auferlegt ist. Indem wir uns als frei erleben, sind wir auf einen Grund der Freiheit verwiesen. Ihn sucht der Mensch in aller Religionsgeschichte zu erkennen und zu verehren.

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Zweitens: Die religiösen Traditionen haben ihr einheitliches formales Merkmal darin, dass sie die jeweils geschichtlich bedingte und bestimmte Auslegung jener unmittelbaren Transzendenzgewissheit sind. Wir würden sie nun allerdings nur unzureichend verstehen, wenn wir sie nur als Auslegung jenes transzendenten Grundes lesen würden, auf den wir im Erleben unseres individuellen Frei-Seins verwiesen sind. Sie stehen vielmehr stets in Wechselbeziehungen zur Ökonomie, zur Herrschaftsform, zur Kultur des Wissens und der Erziehung und nicht zuletzt zur Kunstpraxis. Wegen dieser Wechselbeziehungen gilt das religionswissenschaftliche Interesse sinnvoller- und notwendigerweise den verschiedenen Religionskulturen, in deren Regeln und in deren Institutionen die Lebensgeschichte der Einzelnen verläuft. Eine gründliche dogmatische und ethische Besinnung auf den Wahrheitsgehalt der christlichen Glaubensweise wird für dieses religionswissenschaftliche Interesse offen sein. Auch die historische Erforschung der Geschichte des Christentums ist bezogen und ist angewiesen auf die reine, kategoriale Theorie des Sozialen, die alle diese Wechselbeziehungen zu beschreiben erlaubt. Es bleibe hier dahingestellt, wie wir uns die bestimmte geschichtliche Auslegung des transzendenten Grundes unseres individuellen Freiheitsgefühls genauer denken können, die offensichtlich die jeweilige Ursprungssituation jeder religiösen Tradition darstellt. Im Kontext der Glaubensgeschichte Israels sind es jedenfalls die Erschließungssituationen der österlichen Erscheinungen des Gekreuzigten als des Auferstandenen und zur Rechten Gottes Erhöhten, die die spezifisch christliche Transzendenzgewissheit begründen. Von einer solchen Erschließungssituation spricht der Apostel Paulus selbst durchaus lakonisch im Brief an die galatische Gemeinde (Gal 1,12.16) und im ersten Brief an die korinthische Gemeinde (I Kor 15,8). Sie – diese Erschließungssituation – hat den Charakter der geschichtlichen Selbsterschließung, des Offenbar-Werdens des Wesens Gottes, das uns in seinem schöpferischen Walten, Reden und Rufen immer schon – das ist zahlreichen Worten und Verlautbarungen kirchenleitender Gremien und Repräsentanten jedenfalls des deutschsprachigen Protestantismus gar nicht mehr bewusst – verborgen gegenwärtig ist. Wird das in seinem schöpferischen Walten, Reden und Rufen immer schon verborgen gegenwärtige Wesen Gottes offenbar, so stiftet es die jeweils individuelle Gewissheit des Wahr-Seins des Evangeliums. Das Evangelium aber hat zum Inhalt, dass das Lebenszeugnis des Christus Jesus vom Nahe-Kommen des Reiches Gottes in ihm selbst, wie es im Tode am

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Kreuz auf Golgatha vollendet und vollbracht wurde ( Joh 19,30), wahr ist. Es heilt die Blindheit für Gottes Schöpfer-Sein. Diese Wahrheit als befreiende Wahrheit zu verkündigen, sie in den öffentlichen Gesprächssituationen zu verbreiten, zu vertreten und zu erschließen: darin besteht die genuine Berufung eines kirchen- und gemeindeleitenden Lehrers, für die der zweite Brief an Timotheus die metaphorische Benennung des guten Kampfes wählt. Weil nach dem Selbstverständnis und der Selbsterfahrung der christlichen Glaubensweise niemand der befreienden Wahrheit des Evangeliums für Lebensform und Lebensführung inne wird, der nicht die sprachlichen und übersprachlichen Mitteilungsformen des menschlichen Offenbarungszeugnisses zu verstehen vermag, gehört die Besinnung auf das Gefüge der Bedingungen, unter denen die befreiende Wahrheit des Evangeliums evident wird, bereits in die Prinzipienlehre. Es ist jedenfalls reformatorische Erkenntnis, dass die Gewissheit der befreienden Wahrheit des Evangeliums, die Gottes Geist bewirkt, das ganze Ensemble der menschlichen Verkündigung – im Gottesdienst, in der Predigt, in der Feier der Sakramente, im Unterricht, im seelsorglichen Gespräch, in der Deutung der christlichen Kunstgeschichte und der Kirchenarchitektur – zur notwendigen Bedingung hat. Dass diese notwendige Bedingung dem unverfügbar-freien Wirken des Geistes Gottes zu dienen bestimmt ist, scheint mir in den evangelischen Gemeinden und Kirchengemeinschaften hier und heute keineswegs überall bewusst zu sein. Diese prinzipientheoretische Erkenntnis – die Erkenntnis, dass die individuelle Gewissheit der Wahrheit des Evangeliums, die Gottes Geist allein entstehen und bestehen lässt, durchaus die menschliche Bemühung um das angemessene Verstehen dieser Wahrheit einschließt – wollen wir jetzt in einer dogmatischen Besinnung auf die praxis pietatis im engeren Sinne des Begriffs entfalten. Damit schlagen wir die Brücke zwischen der Dogmatik, der Ethik und der Asketik als Subdisziplin der Praktischen Theologie, wie wir auch umgekehrt das wachsende lebendige Interesse an den mannigfachen Formen der Spiritualität – bis hin zum Pilgerweg nach Santiago de Compostela – einbeziehen wollen in die Sorge für das Wohl der Kirche und für deren Engagement zugunsten einer lebensdienlichen gesellschaftlichen Ordnung.

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3 „Ich habe den guten Kampf gekämpft“! Im Kreis und in der Gemeinschaft der Apostel als der primären Offenbarungszeugen hat der Apostel Paulus das Überlieferungsgeschehen maßgeblich mitbestimmt, das – wie hart und schmerzlich umstritten auch immer – in der Geschichte des Christentums die individuelle Lebensführung aus der Gewissheit des Glaubens menschlich möglich macht. Die christliche Überlieferung aber – ihre kanonische Gestalt in der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments und deren kontinuierliche Vergegenwärtigung in allen ihren Formen – setzt voraus und schließt in sich das Bewusstsein tiefer Ambivalenz zwischen dem richtigen Leben und dem falschen Leben, zwischen dem Leben im Frieden und dem Leben in der Bereitschaft zur Gewalt, zwischen dem Leben in der Suche nach dem Guten und dem Leben in der Versuchung des Bösen. Dass dieses Bewusstsein keineswegs durch frommen oder durch infamen Priesterbetrug erzeugt wird, beweisen nicht nur die Ordnungen des Rechts in aller Geschichte, sondern auch die philosophischen Lebenslehren, die zur Überwindung der Ängste und der Begierden, der Laster und der destruktiven Neigungen anleiten wollen, mit denen wir in der Aufrichtigkeit des Gewissens vertraut sind. Sowohl die Ordnungen des Rechts als auch die philosophischen Lebenslehren erwarten eine Selbstbeherrschung, ohne die die Koexistenz individueller leibhafter Freiheitswesen in einer Gesellschaft und ohne die die Konvivenz der Gesellschaften miteinander auf dieser Erde unmöglich ist. Die öffentliche Vergegenwärtigung des Evangeliums in den verschiedenen Überlieferungsorten der kirchlich verfassten Glaubensgemeinschaft hier und heute darf nur nicht zu kleinlaut und zu schüchtern sein, um das Bewusstsein der tiefen Ambivalenz klar und deutlich zu artikulieren, die alles menschliche Leben faktisch und unausweichlich bestimmt. Sie macht sich keineswegs lächerlich, wenn sie mit Hilfe und im Lichte des biblischen Sprachgebrauchs die Grund- und Erscheinungsformen der Sünde in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebenswelt analysiert. Sie dient vielmehr dem Rechtsfrieden einer Gesellschaft dadurch, dass sie die Selbstgerechtigkeit eines Moralismus anzuklagen wagt, der keiner Verzeihung fähig und bedürftig ist. Im Spektrum der verschiedenen religiösen Traditionen und ihrer kritischen Umbildung in den philosophischen Lebenslehren wie in den reflektierten Weltanschauungen zeichnet sich nun die christliche Überlieferung dadurch aus, dass sie zur Begegnung mit dem Christus Jesus

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selbst anleiten will. Der Christus Jesus selbst aber bezeugt – und zwar „bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz“ (Phil 2,8) – die Gnade, die Treue, die Liebe, die Barmherzigkeit, die das Wesen des uns Menschen allen in seinem Walten, Reden und Rufen verborgen gegenwärtigen Schöpfers aller Dinge ist. Indem der göttliche Geist das Lebenszeugnis des Christus Jesus – wie es die christliche Überlieferung symbolisiert und interpretiert – als wahr verstehen und ergreifen lässt, befreit er aus der herrschenden Ungewissheit über den Grund und über das Ziel des sterblichen Lebens in dieser Weltzeit; und indem er aus der herrschenden Ungewissheit über den Grund und über das Ziel des sterblichen Lebens in dieser Weltzeit befreit, rettet er. Er rettet, indem er die Fähigkeit, die Bereitschaft, die Liebe zum Leben in der Verantwortung vor Gott für eine Gottes schöpferischem Willen entsprechende Ordnung aller Lebensverhältnisse begründet und erhält. Es ist das Interesse aller christlichen praxis pietatis im engeren Sinne des Begriffs, die Befreiung aus der herrschenden Ungewissheit über den Grund und über das Ziel des sterblichen Lebens in dieser Weltzeit regelmäßig zu erleben und auf diese Weise immer wieder den Impuls zum Leben in der Verantwortung vor Gott für eine Gottes schöpferischem Willen entsprechende Ordnung aller Lebensverhältnisse zu empfangen. Zu den hoffnungsvollen Aufbrüchen in den evangelischen Kirchengemeinden und Kirchengemeinschaften in Deutschland seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts gehört es, dass diese praxis pietatis im engeren Sinne des Begriffs an vielen Überlieferungsorten des Evangeliums von vielen Menschen gepflegt und intensiviert wird. Wie immer wir die möglichen Zusammenhänge dieser Entwicklung mit dem nachhaltigen Boom in Sachen Spiritualität erklären mögen: im Lied und im Gebet, im Nachsinnen über ein Bibelwort und in der Meditation suchen ungezählte Mitglieder der kirchlich verfassten und geordneten Glaubensgemeinschaft das „Sein in Christus“ (II Kor 5,17) auf ihre höchstpersönliche Weise zu erfahren. In allen diesen Formen individueller Andacht wollen wir uns vertiefen können in den Sinn, in die Bedeutung und in die Tragweite des Evangeliums, in welchem sich der transzendente schöpferische Grund aller Dinge, auf den wir in unserem Freiheitsgefühl verwiesen sind, in seinem Wesen und in seiner Eigen-Art von sich selbst her erschließt. Warum die Formen individueller Andacht solche Vertiefung tatsächlich intendieren können, wäre in einer fundamentalanthropologischen Besinnung auf das Wesen des Menschen als des Ebenbildes Gottes – und zwar im kritischen Gespräch mit den verschiedenen Spielarten der Tiefenpsychologie – genauer zu entfalten.

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Eine solche fundamentalanthropologische Besinnung auf das, was schon die biblischen Quellensprachen das Herz des Menschen nennen, müssen wir uns an dieser Stelle versagen. Statt dessen werfen wir einen konzentrierten Blick auf drei essentials christlicher Andacht: nämlich auf ihren sprachlichen Charakter und auf ihre übersprachlichen Medien in Gestalt der Musik und der Bildbetrachtung. Natürlich wollen unsere Beobachtungen dazu anregen, auch die Programme der Kirchenarchitektur – nicht nur der europäischen und nordamerikanischen, sondern auch der südamerikanischen, der afrikanischen und der asiatischen – zu meditieren. Erstens: Die individuelle Andacht, in der wir uns je und je in die Wahrheit des Evangeliums vertiefen, hat auf jeden Fall sprachlichen Charakter. Sie bewegt sich seit alters im Gegenüber zum Wortlaut der christlichen Überlieferung – zur Liturgie im engeren Sinne des Begriffs, zur Liedgeschichte des Gesangbuchs, zur überwältigenden Fülle der hohen und der niederen Gebets- und Meditationsliteratur – und insbesondere im Gegenüber zu deren Kanon, dem geschriebenen, dem vorgelesenen, dem selbstgelesenen Text der Bibel. Die individuelle Andacht sucht in diesen Texten und vor allem im kanonischen Text der Bibel einen Sprachgewinn, der sich im Alltag einer Lebensgeschichte als Verstehensgewinn und deshalb als Orientierungsgewinn erweisen wird. Zwar ist das Evangelium von Gottes Liebe in der Erscheinung des Christus Jesus durch den Geist der Wahrheit das Einfachste von der Welt; aber es bedarf – zumal unter den sozio-kulturellen Bedingungen der „reflexiven Moderne“ – eines wachen und aufgeklärten Selbstbewusstseins, um die Texte der christlichen Überlieferung als eine generelle Beschreibung der eigenen Situation hören, lesen und verarbeiten zu können. Der individuellen Andacht sind die Forschungen über die Entstehung und über die Absicht aller dieser Texte nicht unwichtig; sie will aber vor allem die eigene Befreiung aus der herrschenden Ungewissheit über den Grund und über das Ziel des sterblichen Lebens in dieser Weltzeit erleben und darin immer wieder den Impuls zum Leben in der Verantwortung vor Gott empfangen. Es ist die poetische Kraft der christlichen Überlieferung, die dieser Sehnsucht Genüge tut. Zweitens: Die individuelle Andacht bewegt sich aber auch im übersprachlichen Medium der Bilder und der Plastik. Wir brauchen hier in unserem Zusammenhang weder auf die heftigen Kämpfe um das Recht der Bildverehrung in den orthodoxen Kirchengemeinschaften noch auf die Konflikte zwischen der Wittenberg’schen, der Züricher und der Genfer Reformation über das Andachtsbild im gottesdienstlichen Raum

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einzugehen. Es ist jedenfalls eine Tatsache, dass die Geschichte des Christentums eine Geschichte der Bildenden Künste einschließt, in der die reiche Fülle der biblischen Erzählungen, Motive, Gestalten und Symbole zur Darstellung gelangt. Zwar kreist die christliche Bildgeschichte um die zentralen Themen des Heilsgeschehens: um die Geburt des Christus Jesus, um die Verklärung auf dem Berge Tabor, um das letzte Mahl, um die Einsamkeit im Garten Gethsemane, um den qualvollen Tod am Kreuz auf Golgatha, um die Erscheinungen des Gekreuzigten als des Auferstandenen; aber sie bringt auch alle die Menschen vor Augen, die vom Lebenszeugnis des Erlösers für die Gnade, die Treue, die Liebe, die Barmherzigkeit Gottes des Schöpfers berührt und ergriffen sind: die Hirten auf dem Felde von Bethlehem, Maria und Joseph, den barmherzigen Samariter, den Vater des verlorenen Sohnes, die Frauen am Grabe. Nicht nur die Christusbilder im engeren Sinne des Begriffs, sondern auch die Darstellungen der vom Licht der Gnade Gottes berührten und ergriffenen Menschen evozieren und vertiefen im Betrachter jene Lebensgewissheit, die sich immer wieder gegen die noch herrschende Ungewissheit hinsichtlich des Grundes und des Ziels unseres sterblichen Lebens in dieser Weltzeit durchzusetzen hat. Das ist übrigens auch dann der Fall, wenn die bildende Kunst – wie einige Traditionen der Malerei seit dem frühen 19. Jahrhundert – als autonome Kunst die christlich-religiösen Bildformen zu profanieren scheint. Drittens: Die individuelle Andacht bewegt sich schließlich auch in der Sprache der vokalen und instrumentalen Musik. Wie die christlich-religiöse Bildgeschichte überhaupt ursprünglich in den öffentlichen Räumen des Gottesdienstes zu Hause ist, so hat auch die Musikgeschichte der neueren und der neuesten Zeit im Gemeindegesang des reformatorischen Gottesdienstes und in den verschiedenen Gattungen der Kirchenmusik eine ihrer Wurzeln. Ob wir uns nun im Gemeindegesang alle Aspekte der Wahrheit des Evangeliums anzueignen suchen oder ob wir ganz dem Hören einer Kantate, einer Motette, eines Oratoriums, einer Messe, einer Passion hingegeben sind: die Sprachen der Töne, die Melodien, die Dissonanzen und die Harmonien leihen uns eine expressive Form, in der wir das Ganze der menschlichen Antwort auf Gottes geschichtliche Selbsterschließung geben können – das Gotteslob wie die Klage, die Anfechtung wie den Trost, den Zweifel wie die Hoffnung auf die ewige, die unbedrohte Gemeinschaft mit Gott selbst jenseits des Todes und durch den Tod hindurch. Viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen fühlen sich zu den Einspielungen und zu den Aufführungen der großen kirchenmusikalischen Werke hingezogen; auch dann und womöglich

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gerade dann, wenn ihnen das Dogma – die Lebenslehre des christlichen Glaubens – aus welchen Gründen und Motiven auch immer nicht mehr zugänglich sein sollte. Hans Blumenbergs Studie über Bachs MatthäusPassion ist dafür ein bemerkenswertes Zeugnis. Wir haben in gedrängter Kürze die individuelle Andacht charakterisiert, die es den Mitgliedern der Glaubensgemeinschaft möglich macht, dem Christus Jesus Gottes des Schöpfers selbst zu begegnen und so der Wahrheit des Evangeliums inmitten aller Anfechtung immer wieder gewiss zu werden. In den Zeiten, in denen wir uns in die poetische Kraft der christlichen Überlieferung, in die Betrachtung der Bildgeschichte und in die expressive Sprache der Töne vertiefen, können wir der Nähe des Gottes inne werden, der nach Hölderlins starkem Wort schwer zu fassen ist und dessen Gnade uns nun dennoch an jedem Morgen frisch und neu erscheint. In allen diesen Formen individueller Andacht dürfen wir – in der „Einheit von Verstehen und Vollzug“ (Reiner Preul) – das radikale Gottvertrauen erschwingen, das uns als leibhaft existierenden Freiheitsund Vernunftwesen zugemutet ist; und zwar auch in den Grenzsituationen des Lebensleids, der Krankheit, des Scheiterns und des Sterbens. Alle diese Formen individueller Andacht stehen unter der Verheißung, dass sich darin Gottes Gegenwart – die Gegenwart Gottes des Vaters durch den Sohn im Geist der Wahrheit – ereignet. Aus diesem Grunde sind die Träger kirchenleitender Ämter und die Mitglieder kirchenleitender Gremien und Instanzen im engeren Sinne des Begriffs wohl beraten, wenn sie nach Kräften Wege und Formen individueller Andacht fördern und erneuern. Zu dieser großen Aufgabe gehört es nicht allein, für die poetische Qualität der Sprache des Glaubens, für das Niveau der Andachtsbilder auch und gerade in der ästhetischen Moderne und für die Pflege der Kirchenmusik – mehr als in den vergangenen Jahrzehnten – zu kämpfen; zu ihr gehört es vor allem auch, in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit für die innere Stille zu werben, die uns für das Gesamtleben der vita activa immer wieder neu beflügelt und die uns deren Mühen, deren Konflikte, deren Enttäuschungen ertragen lässt. Von der verantwortlichen Wahrnehmung dieser Aufgabe sind zahlreiche Erscheinungen auf dem Gebiet der evangelischen Publizistik – vermutlich aus prinzipientheoretischen Gründen – bedauerlicherweise weit entfernt. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebenswelt könnte Schleiermachers geistvolle These, die höchste Tendenz der Kirche sei „die Bildung eines Kunstschatzes“, ganz neue Aktualität gewinnen.

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4 „Ich habe den guten Kampf gekämpft“! Wir haben diesen bündigen Satz, mit dem der pseudonyme Verfasser des zweiten Briefes an Timotheus die Verantwortung des kirchen- und gemeindeleitenden Lehramts für die Lebensführung aus der Kraft der Glaubensgewissheit charakterisiert, bisher in einem prinzipientheoretischen und in einem dogmatischen Sinne erörtert. Wir suchten zu zeigen, dass der gute Kampf des kirchenund gemeindeleitenden Lehramts den notwendigen Bedingungen gilt, unter denen die Wahrheit des Evangeliums durch Gottes Geist zur individuellen Lebensgewissheit werden wird. Indem die Wahrheit des Evangeliums durch Gottes Geist zur individuellen Lebensgewissheit wird, wird die herrschende Ungewissheit hinsichtlich des Grundes und des Zieles unseres sterblichen Lebens in dieser Weltzeit überwunden und kommt uns das Wesen des in seinem schöpferischen Walten, Reden und Rufen verborgenen Grundes unserer selbst und unserer Welt unüberbietbar nahe. Es sind im ganzen Spektrum der christlichen Überlieferung die Formen der individuellen Andacht, in denen ein Mensch der Gegenwart des uns verborgenen Grundes unserer selbst und dieses Weltgeschehens im Ganzen inne werden wird. Insofern schließt der gute Kampf des kirchen- und gemeindeleitenden Amtes hier und heute die Aufgabe ein, zur praxis pietatis im engeren Sinne des Begriffs zu ermutigen und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit gegenüber den massenhaften Trends der Gaudi und der Späße, der Spiele und der Zerstreuung für die notwendige Funktion der vita contemplativa zu werben. Sie dient der seelischen Gesundheit, der Fähigkeit zu reflektierter sittlicher Autonomie. Nun spielt sich unser aller Leben und also auch das Leben der Mitglieder der kirchlichen Glaubensgemeinschaft in der Sphäre der Privatheit – in der Familie und in der Ehe, in der Liebe und in der Freundschaft – und in den öffentlichen Funktionsbereichen einer Gesellschaft ab. Deshalb wird die ethische Besinnung eine Antwort auf die Frage suchen, wie wir die metaphorische Benennung der christlichen Glaubensweise als Kampf und wie wir den guten Kampf des kirchen- und gemeindeleitenden Lehramts hier und heute näher bestimmen können. Die Besinnung auf die Ethosgestalt der christlichen Glaubensweise ist im Übrigen auch deshalb angebracht, weil die Geschichte der christlichen Frömmigkeit bis auf diesen Tag nicht wenige Modelle kennt, die die praxis pietatis in einem abstrakten und restriktiven Sinne missverstehen. Ge-

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genüber solchen Modellen ist es richtig und wichtig, an das Leitbild der Communauté von Taizé zu erinnern: Kontemplation und Kampf! Es bleibt natürlich einer ausgeführten Theologischen Ethik überlassen, mit Hilfe und im Lichte der Metapher des Kampfs die Selbstverantwortung der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft vor Gott für das Wohl der Kirche und für die lebensdienliche Gestalt der gesellschaftlichen Lebenswelt zu erkunden. Wir wollen an dieser Stelle nur auf die prekäre Lage der christlichen Glaubensweise in den Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne aufmerksam machen, die das Leitbild der Communauté von Taizé vermutlich übersieht. Einerseits: Die politische Verfassung der hochentwickelten Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne begünstigt ohne jeden Zweifel die Lebensführung aus der Gewissheit der Gnade, der Treue, der Liebe, der Barmherzigkeit Gottes des Schöpfers und damit die Bildung einer reflektierten sittlichen Autonomie. Sie begünstigt sie, weil ihre Grundgesetze die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates – des politischen Funktionsbereichs – vorschreiben und damit das Menschenund das Grundrecht der Religionsfreiheit, der Freiheit des Glaubens und der weltanschaulichen Überzeugung garantieren. Indem die Verfassungsgeber die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates gebieten, ziehen sie faktisch die Konsequenz aus der reformatorischen Erkenntnis, dass sich eine Anschauung des Lebens und der Wirklichkeit wie die der christlichen Glaubensweise nicht erzwingen lässt. Dieser Erkenntnis entspricht es denn auch, dass alle Varianten einer Staats- oder Gesellschaftskirche mit dem Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrecht der Glaubensgemeinschaft unvereinbar sind. Eine Kirche der Freiheit gibt es nur im säkularen Staat und unter der Geltung eines säkularen Rechts. Im Spektrum der Religionen und der Weltanschauungsgemeinschaften verdankt der geistgewirkte Leib Christi (vgl. I Kor 12,12 ff.) der politischen Verfassung einen enormen Freiheitsgewinn. Andererseits beobachten wir jedoch, wie die kulturelle Lage in den hochentwickelten Gesellschaften der euro-amerikanischen Moderne das Engagement der Mitglieder der Glaubensgemeinschaft für die lebensdienliche Gestalt aller Ordnungen des Zusammenlebens systematisch und konsequent erschwert. Sie erschwert sie dadurch, dass sie die religiösweltanschaulichen Transzendenzgewissheiten zur Privatsache erklärt und die Prinzipien des wirtschaftlichen wie des politischen, des wissenschaftlichen wie des technischen Handelns sei es in der Vernunftnatur, sei es im Lebensinteresse des Menschen begründet sieht. Der dominierenden Mehrheit in den Führungseliten und den Meinungsmachern in den

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Medien ist der Gedanke fremd geworden, die Transzendenzgewissheit einer Glaubensweise wie der christlichen schließe normative Kriterien und orientierende Maximen für die Lebensführung in den öffentlichen Praxis-Situationen ein. Mit Recht hat Eilert Herms immer wieder darauf hingewiesen, dass namentlich das öffentliche Schul- und Bildungswesen des säkularen Staates den Bedarf an sittlicher Autonomie, den eine „Risiko-Gesellschaft“ nun einmal hat, nicht deckt. Nun motiviert jedenfalls die Transzendenzgewissheit der christlichen Glaubensweise dazu, das Leben in der Selbstverantwortung vor Gott nicht nur in der privaten Sphäre der Familie und der Ehe, der Liebe und der Freundschaft, sondern auch auf den öffentlichen Praxisfeldern einer Gesellschaft zu führen. Es ist daher ein entscheidend wichtiges Moment der Verantwortung im kirchen- und gemeindeleitenden Lehramt, diesen Sachverhalt in den inneren Gesprächslagen der Glaubensgemeinschaft wie in den Gesprächslagen der Glaubensgemeinschaft mit den Funktionseliten und mit den Sachwaltern der gesellschaftlichen Lebensbereiche klar zu machen. Wer an der Aufgabe der Kirchenleitung im engeren und im weiten Sinne des Begriffs Anteil hat, wird sich vor Augen halten, dass die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft das Leben in der Selbstverantwortung vor Gott auch auf den öffentlichen Praxisfeldern einer Gesellschaft – wie fragmentarisch auch immer – zu führen suchen. Mitglieder der Glaubensgemeinschaft kämpfen sogar in Afghanistan.

5 „Ich habe den guten Kampf gekämpft“! Wir haben einen Gedankengang entwickelt, der die Verantwortung für das kirchen- und gemeindeleitende Lehramt, wie sie der pseudonyme Verfasser des zweiten Briefs an Timotheus charakterisiert, auf die prekäre Lage der kirchlichen Glaubensgemeinschaft – des geistgewirkten Leibes Christi – unter den Bedingungen einer hochdifferenzierten Gesellschaft der euro-amerikanischen Moderne übertragen möchte. Wir dürfen diesen Gedankengang zusammenfassen, indem wir Johann Wolfgang von Goethe den Begriff der „Weltfrömmigkeit“ entwinden und ihn – mit stillschweigender Kritik an manchen Modellen einer christlichen praxis pietatis – für die reformatorische Beschreibung der Freiheit eines Christenmenschen in Anspruch nehmen. Ja, die christliche Glaubensweise ist das Leben in Weltfrömmigkeit. Sie ist zumal in den verschiedenen Formen der individuellen Andacht

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ganz und gar vertieft in den schöpferischen Grund und Ursprung unserer selbst und unserer Welt, dessen verborgenes Wesen uns in der Erscheinung des Christus Jesus durch Gottes Geist als Gnade und als Treue, als Liebe und als Barmherzigkeit nahe kommt; und sie beweist sich und bewährt sich im Engagement der Selbstverantwortung vor Gott, das in der „Risiko-Gesellschaft“ für die Qualität aller Lebensbedingungen kämpft. Dem Leben in dieser Weltfrömmigkeit zu dienen – das ist der gute Kampf, der hier und heute im kirchen- und gemeindeleitenden Lehramt zu kämpfen ist.

Die Schrift als Buch der Kirche. Wege und Sonderwege katholischen Schriftverständnisses Peter Neuner Die Entwicklung der modernen exegetischen Wissenschaften erfolgte fast ausschließlich im Rahmen der evangelischen Theologie. Die großen Standardwerke der Exegese, von den Wörterbüchern über die Lexika, die klassischen Kommentare und selbst die Bibelausgaben in der Originalsprache kommen fast lückenlos aus der Feder evangelischer Autoren. Heutige Exegese steht weitgehend auf den methodischen Fundamenten, die die evangelische Theologie gelegt hat. Vielleicht muss man sogar noch einen Schritt weiter gehen und feststellen, dass die Entfaltung der historisch-kritischen Wissenschaften insgesamt ohne sie nicht zu verstehen ist.

1 Schritte in der Entfaltung der historisch-kritischen Forschung Doch so ganz freiwillig hat auch die evangelische Theologie diese Aufgabe nicht übernommen. Die Anstöße und Herausforderungen kamen von außen. Mit der Aufklärung setzte sich das historische Denken durch, vor allem änderte sich dabei die Perspektive. Ansatz der Betrachtung der Wirklichkeit war nun weithin nicht mehr die Frage nach dem Wesen, sondern nach dem Geworden-Sein. In breitem Umfang erfolgte „eine reductio in historiam, der geschichtliche Charakter aller Phänomene wird erfasst, das Sein als Gewordensein erkannt, in seinem Werden untersucht“1. Im Rahmen des Historismus wurde alles als entstanden und damit als kontingent, veränderlich und relativ erachtet. Was ist, ist geworden, hätte auch anders werden können und wird sich über kurz oder lang wiederum ändern. Dieser historischen Betrachtung konnte sich schlechterdings nichts entziehen. Ernst Troeltsch zufolge bedeutet die 1

Joseph Ratzinger, Das Problem der Dogmengeschichte in der Sicht der katholischen Theologie, Köln/ Opladen 1966, 7.

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historische Betrachtung das „Ende der dogmatischen Begriffsbildung“2, die von übergeschichtlichen, weil geoffenbarten und damit universal gültigen Prinzipien ausgegangen war. Die Methoden historischer Forschung wurden auch auf die biblischen Schriften angewandt. Man wollte den historischen Jesus neu entdecken, „die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war“ lösen und ihn „als Lehrer und Heiland in unsere Welt hineinstellen“3. Doch dann kam es ganz anders. Hermann Samuel Reimarus, Professor für Orientalische Sprachen in Hamburg, zog aus den Differenzen zwischen den biblischen Berichten die Konsequenz, man müsse den historischen Jesus völlig von dem Christus trennen, den die Kirche verkündet. Jesus hat nach seiner Deutung die jüdische Botschaft vom Himmelreich verkündet und Jünger um sich versammelt, für die sein Kreuz das Ende aller Träume bedeutete. Nachdem sie das Arbeiten verlernt hatten und sahen, dass man auch als Wanderprediger ganz gut leben konnte, erfanden sie, wie Reimarus die Geschichte deutete, die Botschaft von der Auferstehung, stahlen den Leichnam Jesu und verkündigten aller Welt, er werde bald wiederkommen. Die christliche Botschaft hat zufolge Reimarus mit dem Leben und der Lehre Jesu nichts zu tun, sie beruht auf dem Betrug der Jünger. Reimarus verfasste eine Kampfschrift. Doch bei aller Kritik, die seine Deutung erfuhr, ist festzuhalten, dass er mit streng historischen Mitteln das Leben Jesu zu erforschen suchte. Kein geringerer als Albert Schweitzer bezeichnete die von Lessing veröffentlichten Texte als „eines der größten Ereignisse in der Geschichte des kritischen Geistes“, „ein Meisterwerk der Weltliteratur“4, das seine Bedeutung auch behielt, als sich die Betrugshypothese als nicht haltbar erwies. Die historische Betrachtung der Schrift, sie als Geschichtsquelle und nicht als geoffenbartes Wort Gottes in den Blick zu nehmen, bedeutete auch für die theologische Exegese eine bleibende Herausforderung. Die Theologie im Banne der Aufklärung sah sich vor allem durch die biblischen Wunderberichte herausgefordert und suchte sie natürlich zu erklären. David Friedrich Strauß erachtete die biblischen Berichte insgesamt als Mythen, in denen allgemein menschliche religiöse Phänomene 2 3 4

Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902), München/Hamburg 1969, 29 f. Albert Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Neudruck München/ Hamburg 1966, 620. A.a.O., 58.

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an einer bestimmten Person festgemacht und als Geschichten erzählt werden. Die im Neuen Testament berichtete Gestalt Jesu erschien ihm als Produkt der „absichtslos dichtenden Sage“, so sehr von alttestamentlichen, messianischen Ideen und urchristlicher Erwartung überdeckt, dass hinter der mythischen Einkleidung die historische Persönlichkeit völlig unfassbar bleibt. In der heftigen Kontroverse um Strauß verteidigte dessen akademischer Lehrer Ferdinand Christian Baur einerseits die Freiheit der Wissenschaft, kritisierte aber dessen Vorstellung vom Mythos. Bevor man so weitreichende Thesen aufstelle, gelte es, die Texte selbst kritisch zu erforschen und sie auf ihren mythischen Gehalt hin zu befragen. Dabei ist der Begriff Kritik nicht negativ bestimmt, sondern bedeutet Prüfung der Erkenntnismöglichkeiten und der Aussagekraft von Texten. Allerdings musste Baur eingestehen, dass trotz einiger Vorarbeiten, wie sie etwa Baumgarten und Semler geleistet hatten, die nötigen kritischen Untersuchungen noch fehlten. Er war aufgerufen, eine wissenschaftliche Methode zu erarbeiten, die dies zu leisten vermochte. Baur wurde zu einem der umstrittensten, gleichzeitig aber zu einem der einflussreichsten Theologen der Neuzeit. Die historisch-kritische Methode, wie er sie benannte, die er entfaltete und praktizierte, hat sich seitdem unwiderruflich durchgesetzt und wurde in der Folge wesentlich verfeinert und ausdifferenziert; manche Folgerungen, die Baur gezogen hatte, wurden korrigiert. Doch die Forderung nach einer rückhaltlosen historisch-kritischen Behandlung der Quellen des Neuen Testaments und der kirchlichen Dokumente, einschließlich der dogmatischen und bekenntnismäßigen Formulierungen, sowie einer die Zusammenhänge deutenden Sicht der Christentumsgeschichte ist zum Allgemeingut historischer und systematischer Theologie geworden. In dieser Hinsicht muss jeder Theologe bis heute auf seinen Erkenntnissen aufbauen. Die historisch-kritische Methode versucht den Text aus seiner Zeit zu verstehen und macht ihn damit auch als Gegenüber zur gegenwärtigen Lehre und Praxis der Kirche stark. Von ihrem Ursprung her ist sie kirchenkritisch bestimmt und versteht sich „als Anwältin der Fremdheit unserer Basisschriften“5. Dieser Ansatz stellte die Kirche und ihre Gläubigen vor erhebliche Herausforderungen und breite Kreise evangelischer Theologie widersetzten sich diesem Denken und seinem Anspruch auf universale Geltung im Verständnis der Schrift und ihrer Auslegung. 5

Martin Ebner, Grundoptionen der historisch-kritischen Exegese, in: Zur Debatte 38 (2008) Nr. 5, 7.

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2 Der katholische Beitrag Im Rahmen der Entwicklung der exegetischen Wissenschaft nimmt sich der katholische Beitrag bescheiden aus. Doch auch hier wurden Themen festgehalten und Aspekte bewahrt, die heute, wo neben der historischkritischen Methode auch andere Wege der Schriftinterpretation gesucht werden, von Bedeutung sind.

a) Das Konzil von Trient Die Erfahrung, dass die Schrift von den Reformatoren als kritischer Maßstab eingesetzt wurde, um kirchliche Missstände und einseitige Entwicklungen zu entlarven, war die zentrale Herausforderung, vor der die römische Kirche im 16. Jahrhundert stand. Das Konzil von Trient forderte, „dass niemand wagen soll, auf eigene Klugheit gestützt in Fragen des Glaubens und der Sitten, soweit sie zum Gebäude christlicher Lehre gehören, die heilige Schrift nach den eigenen Ansichten zu verdrehen und diese selbe heilige Schrift gegen jenen Sinn, den die heilige Mutter Kirche festgehalten und hat und festhält, (…) oder auch gegen die einmütige Übereinstimmung der Väter auszulegen“6. Die Schrift ist das Buch der Kirche und sie kann nur im Rahmen der Kirche und ihres Glaubens recht verstanden und interpretiert werden. Diese Aussage Trients richtete sich nicht allein gegen die Reformatoren, sondern auch gegen Prediger in den eigenen Reihen, die ihrer Phantasie freien Lauf ließen. Trient verbot die Ablasspredigt aus finanziellen Interessen und es wurde sogar vorgeschlagen, zur Schriftauslegung in der Homilie nur ausgewiesene Fachleute zuzulassen und sie selbst Priestern ohne Spezialausbildung zu untersagen. Die Liturgie sollte schriftgetreu sein, in ihr durften neben den vorgeschriebenen Gebeten allein Texte der Schrift vorgetragen werden. Um dies zu gewährleisten wurde die Predigt aus der Liturgie ausgeklammert: Sie fand entweder vor der Eucharistiefeier statt, oder sie wurde als eigener Wortgottesdienst gestaltet, der von der Kanzel, nicht vom Altarraum aus gefeiert wurde und zu dem der zelebrierende und predigende Priester das Messgewand ablegte. In der Messfeier selbst sollten keine Privatmeinungen des Predigers laut werden, sondern allein das Wort Gottes. Schrifttreue des Gottesdienstes war ein wichtiges Anliegen des Tridentinums. 6

DH 1507.

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b) Richard Simon Als Vater der historisch-kritischen Exegese wird bis heute oft der französische Oratorianer Richard Simon genannt. Er verteidigte in stupender historischer und sprachlicher Gelehrsamkeit die Bibel, vor allem das Alte Testament, gegen Baruch Spinoza. Dieser hatte in seinem Tractatus Theologico-Politicus (1670), die These vorgetragen, die echte Schrift als die Trägerin des Wortes Gottes sei für uns unerreichbar, denn die Überlieferung habe den Urtext verfälscht und dieser sei unwiederbringlich verloren7. Eine unvoreingenommene historische Forschung, so Simon, komme bei aller kritischen Sichtung der Quellen zu einem anderen Ergebnis. Dies suchte er in seinem Werk Histoire critique du Vieux Testament (1678) nachzuweisen. Unterschiedliche Quellen im Pentateuch begründete er mit der These von den „öffentlichen Schreibern“ oder „Propheten“, die die wichtigsten Ereignisse des Hebräerstaates aufzeichneten und bereits Aufgeschriebenes sammelten. Sie seien die eigentlichen Verfasser des Pentateuch. Dennoch hielt Simon an der Bezeichnung „Fünf Bücher Mose“ fest, weil die Autorität des Mose hinter diesen öffentlichen Schreibern stand. Wie der Zufall spielte, kam das Inhaltsverzeichnis dem am Hof zu Paris mächtigen Jacques-Bénigne Bossuet zu Gesicht und er las als Kapitelüberschrift „Mose kann nicht der Verfasser von all dem sein, was die ihm zugeschriebenen Bücher enthalten“8. Bossuet veranlasste, dass die gesamte Auflage des bereits fertig gedruckten Buches konfisziert und verbrannt und Simon aus der Gemeinschaft der Oratorianer ausgeschlossen wurde. Doch zwei Jahre später wurde das Werk in Rotterdam gedruckt und es wurde Gegenstand scharfer Kontroversen. Auch protestantische Theologen griffen in die Auseinandersetzungen ein, nicht zuletzt Semler, der sich gleichsam zum Sprecher Simons ernannte, von dem er aber überzeugt war, sein Denken passe eher zu einem gelehrten Protestanten als zu einem Katholiken. Simon wurde in die Kategorie der antiscripturarios eingereiht. Die Tatsache, dass er Zeit seines Lebens seiner Kirche und seinem kirchlichen Amt als Priester treu blieb, konnte man weithin nur als persönliche Inkonsequenz deuten, wenn man ihm nicht gar Unredlichkeit vorwarf. 7 8

Die Darstellung des Konzeptes von R. Simon folgt weithin dem Beitrag von Marius Reiser, Richard Simons biblische Hermeneutik, in: Ders., Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift, Tübingen 2007, 185 – 217, 185. Heinrich Graf Reventlow, Richard Simon, in: Heinrich Fries/Georg Kretschmar (Hg.), Klassiker der Theologie Bd. II, München 1983, 11.

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Im Gegensatz zu diesen Urteilen war Simon davon überzeugt, „dass der treueste christliche Glaube durchaus nicht unvereinbar ist mit den höchsten Anforderungen der Wissenschaft“9. Seine historische Arbeit am Text der Schrift war von der Prämisse getragen, dass das protestantische sola scriptura- Prinzip nicht genüge, um die Schrift zu verstehen. Alle protestantischen Gemeinschaften, die Sozianer eingeschlossen, sind überzeugt, die Schrift sei klar, verständlich und für die Glaubenslehre hinreichend. Doch wenn sie dieses Prinzip anwenden, sind sie in ihren Ergebnissen himmelweit voneinander entfernt. Spöttisch berief sich Simon auf Matthias Flacius Illyricus, der einerseits die Klarheit der Schrift behauptet hatte, andererseits aber breit die Gründe dafür aufführte, warum sie schwer verständlich und nicht eindeutig sei. Für das rechte Verständnis der Schrift ist es zufolge Simon konstitutiv und unerlässlich, dass es „eine Regel gibt, die der Schrift vorausgeht und unabhängig von ihr ist“. Diese regula fidei, das „was man Tradition nennt“10, identifizierte Simon mit dem Glauben der Kirche, und er berief sich dabei auf den oben zitierten Text des Konzils von Trient. Ursprungsgetreuer Text und Vernunft allein, auf die sich Semler in seiner Auslegung der Schrift beschränken wollte, reichen nicht aus, um diese recht zu verstehen. Simon verstand sich nach eigenem Bekunden als „Verteidiger katholischer Orthodoxie gegen die protestantische Bibliolatrie“11, er wies eine rationalistische Kritik ebenso zurück wie die Vorstellung von der Verbalinspiration. Die historische Kritik an der Schrift, die Erforschung der ältesten Quellen und der besten Textüberlieferung, erschien ihm als die genuin katholische Methode, im Gegensatz zu einem protestantischen sola scriptura. Weil die Schrift nicht allein ist, sondern ihren Ort im Glauben der Kirche hat, ist es nach seiner Überzeugung möglich, sie mit den Mitteln historischer Kritik zu erforschen, ohne dass dadurch der Glaube selbst ins Wanken geraten würde. Historische Arbeit an der Schrift nahm bei Simon apologetischen Charakter an, sie war ihm Argument für sein Bekenntnis zur katholischen Kirche. Diese ist das Fundament, das historische Kritik möglich und nötig macht, ohne dass deswegen der Glaube preisgegeben oder auch nur erschüttert würde. Gedankt hat ihm seine Kirche diese Bemühung nicht. Vielmehr setzte sich das Urteil Bossuets durch, vielleicht unterstützt durch die Auslegung seines Werks durch die rationalistische Schriftauslegung Semlers und die 9 Nach Reiser, Richard Simon (s. o. Anm. 7), 198. 10 A.a.O., 210 f. 11 Reventlow, Richard Simon (s. o. Anm. 8), 14.

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protestantische Exegese im Rahmen der Aufklärung. Während bei Simon die katholische Kirche noch als „Hort der Bibelkritik“ erschien, folgte nach ihm eine lange Epoche der Defensive12, in der sich katholischer Glaube und historisch-kritische Exegese auszuschließen schienen. Fast 150 Jahre nach Simon beklagte der Begründer der Katholischen Tübinger Schule, Johann Sebastian Drey, in seiner programmatischen Schrift Kurze Einleitung in der Studium der Theologie: „Wie lange ist es seit Richard Simon, und wie wenig ist für eine genaue Theorie der Kritik geschehen“13. Simon selbst klagte, dass sich die Theologen fast ganz auf die scholastische Theologie konzentrierten. „Sie vernachlässigen vollkommen das Studium der heiligen Bücher … Diese Nachlässigkeit wird ihnen nach und nach den Geschmack an der echten Theologie nehmen“14. Offenbarung wurde weithin als Mitteilung göttlicher, der Geschichte enthobener und damit unveränderlicher Wahrheiten erachtet, die Schrift – und ebenso die verbindliche Lehre der Kirche – mittels historischer Methoden zu erforschen stand von vornherein im Verdacht, ihr einen übernatürlichen Ursprung abzusprechen und den Glauben an ihre Botschaft preiszugeben. c) John Henry Newman In deutlicher Spannung zu einer Theologie, die ihre geschichtliche Bedingtheit prinzipiell ausklammerte, steht im 19. Jahrhundert John Henry Newman. Newman hat fast alle seine Werke aus persönlicher, existentieller Betroffenheit geschrieben. Das gilt insbesondere für seinen Essay on the Development of Christian Doctrine 15. Ausgangspunkt für diese Schrift war sein Engagement in der Oxford-Bewegung, zu der er sich 1833 mit einigen Gleichgesinnten zusammenschlossen hatte. Es war ihr Anliegen, die Anglikanische Kirche als die Kirche des Credo dazustellen, die auf die Botschaft der Apostel zurückgeht, und ihren Ursprung nicht in den Eskapaden von König Heinrich VIII. und seinen Heiratswünschen hatte. Kirche ist apostolische Kirche, sie steht in ungebrochener Kontinuität zu ihrer Stiftung im Werk und in der Botschaft Jesu Christi, oder sie ist nicht 12 So das Urteil von Reiser, vgl. ders., Richard Simon (s. o. Anm. 7), 215. 13 Johann Sebastian Drey, Kurze Einleitung in das Studium der Theologie, Tübingen 1819, hg. und eingeleitet v. Max Seckler, Tübingen 2007, 82. 14 Zitiert nach: Reiser, Richard Simon (s. o. Anm. 7), 216. 15 John Henry Newman, An Essay on the Development of Christian Doctrine (1845), deutsch: Über die Entwicklung der Glaubenslehre, Mainz 1969.

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Kirche. Der Anglikanismus müsse sich darum neu auf Liturgie und Gottesdienst besinnen, die Sakramente neben dem Wort hochhalten, seine Freiheit gegenüber dem Staat verteidigen. Nur so sei er die Via Media, der Mittelweg zwischen dem Protestantismus und dem römischen Katholizismus, die beide, wie Newman überzeugt war, den Ursprung verraten haben und darum nicht mehr die apostolische Kirche sind: der Protestantismus durch seinen Bruch mit der Tradition, der römische Katholizismus durch die Einführung neuer Lehren und menschlicher Traditionen, die die göttliche Stiftung überdeckt haben. Als Newman öffentlich forderte, die Neununddreißig Artikel im Sinne der Alten Kirche und nicht im Sinne reformatorischer Ideen auszulegen, kam es zum Eklat und einflussreiche Kräfte der englischen Kirche wiesen dieses Anliegen zurück. Dies stürzte Newman in eine schwere Krise, er zweifelte, ob die Kirche, in der er als Priester wirkte, noch die apostolische Kirche sei und es überhaupt sein wollte. So gab er 1843 sein Pfarramt auf. Doch auch der römische Katholizismus schien Newman durch neue Dogmen und wuchernden Aberglauben die Verbindung mit dem Ursprung preisgegeben zu haben. Zwar hielt man hier an der Vorstellung fest, dass der Glaube der Kirche unverändert mit seinem Ursprung übereinstimme. Die dogmatischen Formulierungen sah man in ihrem Inhalt und in ihrer sprachlichen Form unmittelbar in der Heiligen Schrift bezeugt. Doch dazu musste man die Schrift oft gewaltsam interpretieren und wenn der Schriftbeweis dennoch nicht gelang, berief man sich einfachhin auf die mündliche Tradition, die alle Lücken ausfüllen sollte. Newman wusste als Historiker, dass diese Vorstellung vom Dogma und einer unveränderten und unveränderlichen Lehre der Kirche dem Verlauf der Geschichte nicht gerecht wurde. Lässt sich, so seine Frage, eine Vorstellung denken, die die historische Entwicklung zur Kenntnis zu nehmen und dennoch die ungebrochene Identität der Kirche und ihrer Botschaft mit dem Ursprung festzuhalten vermag? Nur dann könnte gegebenenfalls die römische Kirche trotz neuer Glaubensaussagen die Kirche des Credo sein. Doch eine plausible theologische Deutung, die eine Antwort auf diese für ihn existenzielle Frage gegeben hätte, war weit und breit nicht in Sicht. In dieser Gewissensnot erarbeitete Newman seine Theorie von der Identität in der Entwicklung. Er fand die Identität nicht in der Unverändertheit von Sätzen, sondern in der Selbigkeit der Entfaltung einer Idee, die sich am Wachstum eines Organismus orientiert. So wie jedes lebendige Gebilde einer Entwicklung unterworfen ist, so auch die Kirche

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und ihre Lehre. Die Tatsache, dass das römisch-katholische Lehrsystem über die Schrift hinausgeht und sich verändert hat, beweist also für sich allein keineswegs notwendigerweise einen Bruch mit dem Ursprung. In einem zweiten Schritt stellte Newman Prinzipien auf, die eine legitime Entfaltung von einer Fehlentwicklung unterscheiden lassen. Denn aus der Tatsächlichkeit einer Entwicklung folgt noch nicht deren Legitimität. In einer detaillierten Untersuchung kam er zu dem Ergebnis, dass eine legitime Entwicklung dann stattgefunden habe, wenn eine Idee „ein und denselben Typus behält, dieselben Prinzipien, dieselbe Organisation; wenn ihre Anfänge ihre nachfolgenden Phasen vorwegnehmen, und ihre späteren Erscheinungsformen ihre früheren schützen und fördern; wenn sie die Fähigkeit zur Assimilation und zum Wiederaufleben hat und eine kraftvolle Aktivität am Anfang bis zu Ende“16. Was hier benannt wird sind in Newmans Verständnis nicht isolierte Kriterien, die jeweils für sich überprüft und abgehakt werden könnten, sondern er sieht darin Aspekte einer ganzheitlichen Entfaltung, die aus dem inneren Antrieb einer Idee folgt, gleichzeitig aber auch fähig ist, neue Materialien und Aspekte in sich aufzunehmen und sie zu integrieren. In einem ausführlichen dritten Teil wies Newman in allen Kontroverspunkten, an denen von anglikanischer Seite der römisch-katholischen Auffassung Entstellung und Verfälschung vorgeworfen wurde, nach, dass es sich dabei jeweils um eine legitime Entwicklung der Idee des Christentums gehandelt habe, die den Ursprung bewahrt und ihn in neue geistige Welten und Problemstellungen hinein übersetzt hat. In der Konsequenz nahm er alle Anschuldigungen öffentlich zurück, die er gerade in dieser Zeit seines Ringens gegenüber der Kirche Roms formuliert hatte. Nun sah er in ihr die apostolische Kirche des Credo, so dass er unmittelbar mit dem Abschluss seiner Studie zu ihr konvertieren konnte. Nicht katholische Freunde oder Seelsorger, sondern die theoretische Besinnung auf die Implikationen der Oxford Bewegung, die Frage nach der Apostolizität der Kirche, verlangte und erlaubte ihm diesen Schritt. Es waren wenige Katholiken, die Newman im 19. Jahrhundert in seinem Konzept von der Entwicklung und damit in seiner Öffnung auf die Geschichte folgten. Es dominierte die Vorstellung von einer Unveränderlichkeit der dogmatischen Formulierung. Kein Geringerer als Ignaz von Döllinger, der wichtigste Repräsentant der katholischen Kirchengeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, warf Newman vor, 16 A.a.O., 153.

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„mit seiner theory of development verpflanzt er den Darwinismus auf die Religion“17. Newman hat seine Konzeption nicht auf die Schrift angewandt und keine historisch-kritische Exegese entwickelt. Aber er hat eine Theorie der Geschichte konzipiert, die Entwicklung und Veränderung nicht als Abfall vom Ursprung deutete und damit den Weg zu einem unbefangenen Umgang mit der Schrift eröffnete. Historisches Denken hatte für ihn, wie schon rund 150 Jahre früher bei Richard Simon, eine apologetische Funktion. Dieser Ansatz sollte in der Kontroverse um den Modernismus noch einmal Schule machen.

d) Alfred Loisy und der Modernismus Für die kirchlichen Autoritäten war die Schrift ein übernatürlich geoffenbarter, heiliger Text, in dem überzeitliche und für alle Menschen heilbringende Wahrheiten verkündet sind, die heute genauso gelten wie zu allen Zeiten. Sie mit den Mitteln der historischen Kritik zu untersuchen, die Quellen zu unterscheiden, fälschlich angegebene Verfasser zu entdecken, schien ihnen als Affront gegen den Gott, der die Wahrheit der Schrift verbürgt. Doch trotz aller Versuche einer Abkapselung der katholischen Kirche von den Fragen kritischer Exegese und trotz aller Bemühung, eine eigene, katholische Kultur und Denkwelt zu etablieren, ließ sich die katholische Theologie nicht völlig von den in der protestantischen Exegese entwickelten Erkenntnissen abschotten. Der Versuch, deren Methoden auch in der katholischen Theologie fruchtbar zu machen, führte zum Modernismus, der vor allem mit dem Namen Alfred Loisy verbunden ist. Alfred Loisy wurde durch den Religionskritiker Ernest Renan in die Bibelkritik eingeführt, die ihn allerdings zunächst nicht in einen skeptischen Rationalismus führte, sondern in ihm die Idee aufkeimen ließ, „eines Tages Renan mit dessen eigenen Waffen zu besiegen“18. Durch Friedrich von Hügel, seinen langjährigen Freund und Weggefährten, der selbst noch in persönlichem Kontakt zu Newman gestanden hatte, wurde er mit dessen Konzept von der Entwicklung der Glaubenslehre vertraut gemacht. Konkreter Anlass, historische Kritik mit dem Gedanken von der Entwicklung zu verbinden, war die Veröffentlichung von Adolf von 17 Zitiert nach: Johannes Finsterhçlzl, Die Kirche in der Theologie Ignaz von Döllingers bis zum ersten Vatikanum, Göttingen 1975, 444. 18 Alfred Loisy, Choses passées, Paris 1913, 66.

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Harnacks Vorlesungen über Das Wesen des Christentums. Harnack hatte das Wesen des Christentums in der Verkündigung Jesu, in seiner Botschaft vom liebenden Vatergott, vom unendlichen Wert der Menschenseele und dem Gebot unbedingter Nächstenliebe erblickt19. Alles Institutionelle, besonders das Amt, verstand er als dem Christentum wesensfremd, so dass sich nach seiner Überzeugung die Botschaft Jesu und der römische Katholizismus gegenseitig ausschließen. Diesem fehlt „jeder Zusammenhang mit dem Evangelium. Es handelt sich nicht um Entstellungen, sondern um eine totale Verkehrung“20. Auf diesen Angriff antwortete Loisy in einer Gegenschrift mit dem Titel L’vangile et l’glise21. Auch er ging vom historischen Jesus und seiner Botschaft vom Reiche Gottes aus. Als christlich verstand er aber nicht allein die Botschaft Jesu, sondern alles, was aus dessen Verkündigung hervorgegangen ist. „Für den Historiker ist alles christlich, was ein Fortleben des Evangeliums aufweist“ (230). Erst der gesamte Geschichtsverlauf lasse erkennen, was in der Botschaft Jesu wie in einem Samenkorn bereits enthalten war. Im Gegensatz zu Harnack machte sich Loisy die Vorstellung von der Naherwartung Jesu zu Eigen. Nach seiner Darlegung musste sich die Hoffnung auf das Gottesreich grundlegend umgestalten, nachdem dieses nicht eintraf. Doch das Phänomen einer tiefgreifenden Veränderung verband Loisy mit dem von Newman übernommenen Entwicklungsgedanken. Die Umgestaltung in der frühen Christenheit ist ihm nicht der Abfall vom Ursprung, sondern die Voraussetzung dafür, dass das Evangelium auch in einer grundlegend neuen geistigen Welt weiterhin lebendig bleiben konnte. Dies ist das Thema von L’vangile et l’glise. Die Entwicklung aus innerer Notwendigkeit ist für Loisy nicht die Preisgabe Jesu, sondern Bedingung für die Lebenskraft seiner Botschaft in einer fortdauernden Geschichte. Historisches Gewordensein aus innerer Notwendigkeit und als Reaktion auf die Herausforderungen der Zeit und der Kultur erachtete Loisy als 19 „In dem Gefüge: Gott der Vater, die Vorsehung, die Kindschaft, der unendliche Wert der Menschenseele, spricht sich das ganze Evangelium aus“ (Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. v. Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, 100). 20 A.a.O., 235. 21 Alfred Loisy, L’Évangile et l’Église, Paris 1902. Die um zwei Abschnitte erweiterte zweite Auflage (Paris 1903) wurde ins Deutsche übersetzt von Joseph Sauer, München 1904. Die folgenden Zitate sind nachgewiesen bei: Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt a. Main/ Leipzig 2009.

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Beweis für die Legitimität einer Entwicklung. In dieser Aufnahme des Entwicklungsgedankens verfasste Loisy sein Werk L’vangile et l’glise als historische Apologie der katholischen Kirche und ihres Lehrsystems gegen die Kritik des liberalen Protestantismus. Bedeutsam für die kommenden Kontroversen wurde Loisys Darlegung der Entwicklung zur Kirche. Er zeigte, wie diese in vielen kleinen Schritten aus der Botschaft Jesu vom Reich Gottes hervorgegangen ist und hervorgehen musste. „Nirgends in ihrer Geschichte tritt eine Unterbrechung des Zusammenhangs zutage, etwas wie die absolute Schöpfung einer neuen Ordnung, sondern jeder Fortschritt geht dergestalt aus dem Vorhergehenden hervor, dass man von der jetzigen Einrichtung des Papsttums bis auf den evangelischen Zustand mit Jesus als Mittelpunkt, so verschieden sie auch voneinander sind, zurückgreifen kann, ohne auf einen Umsturz zu stoßen, der mit Gewalt eine Änderung in der Regierungsweise der christlichen Gemeinschaft herbeigeführt hätte“ (233). Loisy gab Harnack recht, dass der historische Jesus nicht im Voraus eine verfasste Kirche intendiert und gegründet habe. Aber er hat das Reich Gottes verkündet, und aus dieser Verkündigung ist mit Notwendigkeit die Kirche hervorgegangen. „Jesus hatte das Reich angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen. Sie kam und erweiterte die Form des Evangeliums, die unmöglich erhalten werden konnte, wie sie war, seitdem Jesu Aufgabe mit dem Leiden abgeschlossen war (…) Die Perspektive des Reiches hat sich erweitert und verändert, die seiner endgültigen Ankunft ist zurückgetreten, aber der Zweck des Evangeliums ist der Zweck der Kirche geblieben“ (234 f.). Aus diesem Text, der die Kirche als legitime und unverzichtbare Konsequenz der Botschaft Jesu dartun wollte, ist in den späteren Auseinandersetzungen nur ein Satz übrig geblieben: „Jesus hat das Reich verkündet und gekommen ist die Kirche“ und dieser Satz wurde, in direktem Gegensatz zu Loisys Intention, so interpretiert, dass die Botschaft Jesu und die Kirche als Widersprüche erschienen. Und so nahm die Katastrophe ihren Lauf 22. Im Dekret Lamentabili sane exitu vom 3. Juli 1907 und in der Enzyklika Pascendi dominici gregis vom 8. September des gleichen Jahres wurden die Thesen Loisys als Modernismus verurteilt. Papst Pius X. sah in ihm eine internationale Verschwörung, die insbesondere in der biblischen Exegese, aber auch der Religionsphilosophie, der Mystik, der Literatur und der Sozialarbeit die Kirche völlig umzu22 Zur Geschichte des Modernismus siehe: Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus (s. o. Anm. 21).

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stürzen suchte, und die ihre Brückenköpfe bereits bis ins Innerste der Kirche und selbst in die Hierarchie vorgeschoben hatte. Nur als Panik gegenüber dieser Schreckvision sind die Maßnahmen gegen den Modernismus zu verstehen, die im Antimodernisteneid des Jahres 1910 gipfelten. Die Tatsache, dass Loisy im Gefolge dieser Kontroversen auch von sich aus mit der Kirche und ihrer Botschaft brach, war für den Antimodernismus nur der Beweis für die Verderblichkeit seines Ansatzes. Auf Jahrzehnte hin war es in der Folge praktisch ausgeschlossen, die Erkenntnisse der historischen Kritik in der katholischen Kirche zu vertreten. Die Exegeten waren weithin dazu verurteilt, in ungefährliche Randprobleme auszuweichen, ihre Erkenntnisse so zu verklausulieren, dass sie nicht verstanden wurden, oder nicht zu publizieren. Exegese wurde als Hilfswissenschaft der Dogmatik betrachtet. Diese gab die Themen vor, Exegese und Dogmengeschichte hatten „dicta probantia“ zu erbringen, also durch Einzelzitate zu belegen, dass die kirchliche Lehre immer schon geglaubt worden war und dass sie in der Schrift enthalten sei. Dazu wurden einzelne Stellen aus der Bibel, den Kirchenvätern oder aus sonstigen beweiskräftigen Autoren zusammengestellt, weithin ohne Rücksicht auf ihren ursprünglichen Zusammenhang. Es kam nur auf das Stichwort an, das den Beweis für das „Schon Immer“ liefern sollte. Spöttisch hat man diesen Umgang mit der Geschichte als „Steinbruchexegese“ bezeichnet: Den Bauplan lieferte das Dogma, aus der Bibel und den Kirchenvätern wurden einzelne Stücke herausgebrochen, um mit ihrer Hilfe das vom Lehramt vorgegebene System zu errichten. Im Banne dieser Auseinandersetzungen hat insbesondere die päpstliche Bibelkommission Lehrentscheidungen über die Historizität der Schrift, die mosaische Urheberschaft des Pentateuchs, die Verfasserschaft des Vierten Evangeliums, über den historischen Charakter der ersten Kapitel des Buches Genesis, die Verfasserschaft der Psalmen, zur synoptischen Frage, zur Autorschaft des Hebräerbriefes erlassen, die in der wissenschaftlichen Welt nur Kopfschütteln hervorgerufen hätten, wenn sie nicht so einschneidende persönliche Konsequenzen gezeitigt und die katholische Exegese auf Jahrzehnte hin als irrelevant gebrandmarkt hätten. Die Konsequenz war eine Entfremdung von kirchlichem Lehramt und theologischer Wissenschaft, deren Spätfolgen noch keineswegs überwunden sind. Loisys ursprüngliche Intention, mit den Mitteln der historischen Arbeit an der Schrift eine Apologie der katholischen Kirche zu entwerfen, führte zu deren verhängnisvoller Absage an die wissenschaftliche Exegese.

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3 Eine Rehabilitierung katholischer Anliegen? Der Durchbruch zu einer Neuorientierung katholischer Exegese bahnte sich 1943 an in der Enzyklika Papst Pius’ XII. Divino afflante spiritu. Sie betonte die Unterscheidung der literarischen Gattungen und propagierte eine gewisse Freiheit der Forschung gerade in problematischen Fragen. Die historisch-kritische Methode wurde den Exegeten geradezu zur Pflicht gemacht, jedoch sollte nicht allein das Historisch-Philologische erforscht, sondern auch der theologische Lehrgehalt der Schrift erhoben werden. Dennoch hielt Papst Pius XII. daran fest, dass allein das Lehramt authentischer Interpret der Schrift sei und dass diese gemäß der verbindlichen Lehre ausgelegt werden müsse. Dabei gilt, „dass die Methode ganz und gar falsch ist, mit der aus Dunklem Klares entwickelt wird“23, das heißt, die unklare Schrift ist im Licht der klaren, überzeitlichen und vermeintlich keiner Interpretation bedürftigen Aussagen des Lehramts zu interpretieren. Eine kritische Rückfrage von der Schrift an die verbindliche Lehre der Kirche wurde als prinzipiell unmöglich zurückgewiesen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die historisch-kritische Exegese grundsätzlich anerkannt, sie muss „sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte“. Dazu müsse man „genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren“24. Inzwischen ist auch in der katholischen Exegese die Verwendung der historisch-kritischen Methode selbstverständlich geworden und es gibt kaum eine ernst zu nehmende Stimme, die ihre Anwendung prinzipiell zurückweisen würde. Gegen einen Exklusivitätsanspruch dieser Methode werden allerdings zunehmend kritische Töne laut. Die historische Schriftinterpretation, so der Einwand, vermöge es kaum, einen vom Glauben getragenen Umgang mit dem Wort Gottes zu eröffnen, sie könne zwar die Vergangenheit 23 DH 3886. Als Begründung führt Papst Pius XII. in der Enzyklika Humani generis (1950) aus: „Zusammen mit diesen heiligen Quellen hat Gott seiner Kirche das lebendige Lehramt verliehen, um auch das zu beleuchten und zu entfalten, was in der Glaubenshinterlassenschaft nur dunkel und gleichsam einschlußweise enthalten ist. Diese Glaubenshinterlassenschaft nun hat der göttliche Erlöser weder einzelnen Christgläubigen noch selbst den Theologen zur authentischen Auslegung anvertraut, sondern allein dem Lehramt der Kirche“. 24 Dei Verbum 12.

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lebendig werden lassen und sie mache im Idealfall die Intention des jeweiligen Autors verstehbar, aber sie sei wenig geeignet, die Schrift als Anrede für heute zu erschließen. Insofern sei die in den konfessionellen Kontroversen seit dem Konzil von Trient immer wieder aufgestellte Forderung, die Schrift als Buch der Kirche zu lesen, nach wie vor aktuell. Ein Dekret der päpstlichen Bibelkommission aus dem Jahr 1993 über Die Interpretation der Bibel in der Kirche stellte neben die historisch-kritische Methode auch andere Zugänge zur Schrift, die als „synchron“ bezeichnet wurden, die den Zeitenabstand überwinden wollen und die Schrift als heute den Leser und Hörer unmittelbar ansprechende Botschaft verstehen25. Besonders hervorgehoben wurde dabei der „kanonische Zugang“. Joseph Ratzinger schrieb im Vorwort zu seinem Jesus-Buch, die historisch-kritische Methode sei und bleibe unverzichtbar, und er setze deren Erkenntnisse voraus, betonte aber auch, dass sie „aus ihrem eigenen Wesen heraus über sich hinausweist und eine innere Offenheit auf ergänzende Methoden in sich trägt“26. Sein Jesus-Buch wolle gerade die sich daraus ergebenden Verstehensmöglichkeiten erschließen. Auch über den katholischen Bereich hinaus ist in der derzeitigen biblischen Exegese die historisch-kritische Methode keineswegs mehr alleingültig. Nicht selten wird sie dafür verantwortlich gemacht, dass in ihrer immer weiter differenzierten Arbeitsweise die Texte selbst nicht mehr zum Sprechen kommen und oft als blutleer erscheinen. Was kann es für heutiges Verständnis der Schrift austragen, immer genauer zu erforschen, was der jeweilige Autor des Textes gedacht haben mag, auf welche Herausforderungen er wohl geantwortet hat, aber dabei letztlich über mehr oder weniger gut begründbare Hypothesen nicht hinauszukommen? Die schärfsten Angriffe hat Eugen Drewermann formuliert, für den die historische Exegese der Grund dafür ist, dass die Bibel weithin zum toten Buch verkümmerte. Die moderne Exegese ist demnach schuld an der Verkopfung und Ideologisierung der Botschaft, am Erfahrungsdefizit der Theologie und am Relevanzverlust der Kirche. Faktisch wurden in den vergangenen Jahrzehnten neue Methoden in der Schriftauslegung entwickelt und sie gewinnen zunehmend an Bedeutung. In Amerika hat der Alttestamentler Childs den canonical approach propagiert, der von der kanonischen Endform der Schrift ausgeht. Was sagt es über einen Text und sein rechtes Verständnis, dass er in den Kanon 25 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 115, Bonn 1993, 44. 26 Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth I: Von der Taufe bis zur Verklärung, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2006, 16.

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der biblischen Schriften aufgenommen wurde? Die Texte der Schrift wurden unter sich verändernden historischen Herausforderungen immer wieder neu gelesen und verstanden. In dieser Relecture, nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt, wurden sie in den Kanon der Heiligen Schrift aufgenommen. Die Zugehörigkeit zum Kanon ist dabei nicht eine äußerliche Festlegung, sondern in den Schriften selbst angelegt. Als kanonische Bücher haben die Texte einen anderen Sinn angenommen, als ihn die ursprünglichen Autoren im Blick hatten. Es kann demnach für das Verständnis der Schrift nicht ausreichend sein, sie allein von ihren frühesten Entwicklungsstufen her zu interpretieren. Als Grunddokumente des jüdischen und des christlichen Glaubens haben sie eine Qualität, an die ihre Verfasser nicht gedacht hatten. Diesem Verständnis begegnet in der amerikanischen Exegese der Ansatz von J.A. Sanders, der das Volk Gottes als Träger und Subjekt der Bibel in den Blick nimmt. In der interpretierenden und aktualisierenden Fortschreibung der Texte haben Israel und die Kirche jeweils neu ihre Identität gewonnen und sie weiter entfaltet. Im Kanon der Heiligen Schriften wird deutlich, wie sich das Volk verstand und wie die Bibel ihre Bedeutung im Rahmen der jeweils neuen Selbstfindung dieses Volkes gewonnen hat. Ansätze aus den Literaturwissenschaften haben weitere Aspekte eröffnet, die sich auch für die Schriftinterpretation als bedeutsam erwiesen. Die Rezeptionsforschung hat die Differenz zwischen Text und Autor deutlich gemacht. Ein geschriebener Text wird gegenüber seinem Autor autonom, er führt ein Eigenleben und der Autor hat keine Macht mehr über ihn und seine Auslegung. „Was der Text bedeutet, fällt nicht mehr mit dem zusammen, was der Autor sagen wollte“27. Der heutige Leser begegnet nicht dem Autor, sondern dem Text, und er legt ihn nach den Herausforderungen seiner eigenen Lebenswelt aus. Die Literaturwissenschaft hat herausgearbeitet, in welchem Maße der Leser konstitutiv und schöpferisch in den Prozess des Verstehens mit eingeht. Richtete die historisch-kritische Methode den Blick auf den Autor, seine Welt und seine Aussageabsicht, steht im Interesse heutiger Rezeptionsästhetik der Leser. Umberto Eco bezeichnet Texte „als Maschinen zur Erzeugung von Bedeutungen“28, wobei die Bedeutung erst in der Kommunikation

27 Paul Ricoeur, Philosophische und theologische Hermeneutik, in: Ders./ Eberhard Jngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, München 1974, 24 – 45, 28. 28 Zitiert nach: Ulrich H.J. Kçrtner, Der inspirierte Leser, Göttingen 1994, 89.

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mit dem Leser und in der Kommunikation der Leser unter einander entsteht. Auch die biblischen Texte stehen nicht in sich, sondern sind auf den Leser angelegt, erst in der Relation zu ihm, also im Akt des Lesens, entsteht ihr Sinn. Die eindeutige, allein richtige und jenseits konkreter Interessen stehende objektive Auslegung der Schrift als das Ziel historischer Exegese wird damit zunehmend problematisch. Texte können angesichts der Vielfalt der Leser und der möglichen Methoden29 unendlich viele Bedeutungen erzeugen. Die Vorstellung von der Einfachheit und Eindeutigkeit der Schrift ist in Frage gestellt, wenn nicht mehr der inspirierte Text, sondern „der inspirierte Leser“30 ins Zentrum des Interesses rückt. Verschiedentlich wird in diesem Kontext sogar auf die altkirchliche und die mittelalterliche Lehre vom drei- oder vierfachen Schriftsinn zurückgegriffen, um die Pluralität der Schriftverständnisse historisch zu legitimieren. Lässt sich angesichts der Pluralität der Interpretationen und in aller Polyphonie dennoch an der Überzeugung vom Einklang und der Einheit der Schrift festhalten? Oder findet die These Bultmanns von einer prinzipiellen Unmöglichkeit, eine Einheit des Neuen Testaments, geschweige denn der Bibel als Ganzer, zu behaupten, durch die Besinnung auf den Leser ihre letzte Radikalisierung? Hier stellen sich Fragen, die die christlichen Kirchen gemeinsam herausfordern und auf die sie nur in ökumenischer Gemeinsamkeit Antworten geben kann. In besonderer Weise stand Ferdinand Hahn in seiner Theologie des Neuen Testaments vor der Herausforderung, die Einheit der (neutestamentlichen) Schriften und ihrer Theologien zu erweisen. Hahn führt als inhaltliches Argument an, dass kein urchristliches Dokument außerhalb der neutestamentlichen Schriften als gleichrangig mit diesen angesehen werden könnte. Den entscheidenden Grund aber bildet, dass die urchristliche Verkündigung „ohne den ekklesiologischen Kontext nicht zu verstehen ist“. Die Kanonbildung war eine Entscheidung der Kirche und sie ist „alles andere als willkürlich gewesen. Sie beruht auf dem, was sich im Gottesdienst durchgesetzt hatte“31. Die Kanonbildung als sachgemäße 29 Christoph Dohmen nennt als Beispiele „psychologische, tiefenpsychologische, sprachanalytische, strukturalistische, materialistische, soziologische, feministische, befreiungstheologische, existentiale, kontextuelle, kanonische, mehrdimensionale, integrative usw. Auslegung“ (Ders., Die Bibel und ihre Auslegung, München 1998, 63). 30 So Kçrtner, Der inspirierte Leser (s. o. Anm. 28), z. B. 112. 31 Ferdinand Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. II, Tübingen 2002, 24 f.

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Entscheidung der Kirche zu werten ist damit Bedingung der Möglichkeit von Heiliger Schrift. Damit könnte das Hauptthema der lehramtlichen Aussagen der katholischen Kirche zum Verständnis und Gebrauch der Bibel als rehabilitiert erscheinen. Doch die Umschreibung des Kanon erfolgte, und darauf macht Wilfried Härle nachdrücklich aufmerksam, nicht durch einen lehramtlich verbindlichen Akt. „Die Kirche erschafft nicht die Schrift, sondern sie erkennt in den biblischen Büchern die Wahrheit Gottes und anerkennt damit im Prozess der Kanonbildung, welche Schriften kanonischen Charakter haben und welche nicht“32. Nicht die kirchliche Vollmacht oder eine neben der Schrift stehende Tradition umschrieben den Kanon, sondern „im Prozess der Kanonbildung versucht die Kirche durch ihre Entscheidung festzustellen und festzuhalten, welche Schriften sich selbst legitimiert haben“33. In dieser Feststellung werden nicht nur die kanonischen Schriften als Offenbarung erkannt, sondern auch die nicht-kanonischen aus der Sammlung der Heiligen Schrift ausgeschieden und dem zugewiesen, was als Tradition bezeichnet wird. „Aus vor-kanonischer Tradition wird nicht-kanonische Tradition“34, die der Schrift nicht neben- sondern untergeordnet ist. Die inhaltliche Einheit der Schrift und damit das Kriterium der sachgemäßen Entscheidung der Kirche sieht Härle im Literalsinn begründet. Damit werden die anderen Ansätze, die in der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn praktiziert wurden, nicht abgelehnt, 32 Wilfried Hrle, Tradition und Schrift als Themen des interkonfessionellen Dialogs heute aus evangelischer Sicht, in: Christoph Bçttigheimer/Hubert Filser (Hg.), Kircheneinheit und Weltverantwortung, Regensburg 2006, 617 – 632, 627. Wilfried Härle, zu dessen Ehren diese Überlegungen formuliert sind, betont dies aus ökumenischer Verantwortung. In dieser ökumenischen Gesinnung möchte ich versuchen, Hinweise zu einer Überwindung noch bestehender Kontroversen zu formulieren. 33 Wilfried Hrle, Dogmatik, Berlin/ New York 32007, 114. 34 Hrle, Tradition und Schrift (s. o. Anm. 32), 627. Dies führt Härle zu einer Kritik an der Konzilsaussage, dass Schrift und Tradition „mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden“ (DV 9). Auch Joseph Ratzinger hat in seinem Kommentar unmittelbar nach Ende des Konzils bemängelt, „daß die ausdrückliche Nennung der Möglichkeit entstellender Tradition und die Herausstellung der Schrift als eines auch traditionskritischen Elements im Inneren der Kirche praktisch fehlen (…) Gerade ein Konzil, das sich bewusst als Reformkonzil verstand und damit implizit Möglichkeit und Wirklichkeit entstellender Tradition einräumte, hätte hier ein wesentliches Stück theologischer Grundlegung seiner selbst und seines eigenen Wollens reflex vollziehen können“ (Ders., Kommentar zu Kap. I u. II von ,Dei Verbum‘, in: LThK Ergänzungsband 2, 524 f.)

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wohl aber kritisiert Härle, dass man sie „dem Literalsinn ergänzend nebengeordnet“ oder auch „gegeneinander isoliert“35 hat. Hier ist festzuhalten, dass auch in der Scholastik die „geistlichen Sinne“ auf dem Literalsinn aufruhen und in Kontroversen die geistlichen Sinne für sich nicht als Argumente herangezogen werden durften. Härles Forderung findet sich so auch bei Thomas v. Aquin, für den „alle Sinne (der Heiligen Schrift) auf dem einen gründen, nämlich dem buchstäblichen, aus dem allein ein Beweisgrund gewonnen werden kann, nicht aber aus dem, was gemäß der Allegorie gesagt wird“36. Es scheint, dass nicht nur in der exegetischen Arbeit selbst, sondern auch in den kontroversen Fragen der Hermeneutik, die zumeist in den Prolegomena zur Dogmatik abgehandelt werden, ökumenische Annäherungen erzielt werden können, die die überkommenen Verwerfungen als überholt erweisen. Das scheint auch für die herkömmliche katholische Forderung zu gelten, dass die Schrift Buch der Kirche ist und im Rahmen der Kirche als dem Volk Gottes gelesen werden muss. Bedingung für eine ökumenische Annäherung in dieser Frage aber ist, dass Kirche und ihre Tradition nicht einfachhin mit dem Lehramt identifiziert werden. Dies verbietet die systematische Besinnung ebenso wie der Blick auf die Umwege, die die katholische Exegese seit der Aufklärung durchlaufen hat.

35 Hrle, Dogmatik (s. o. Anm. 33), 131. 36 STh I 1,10 ad 1.

„Bestimmung des Menschen“ – wie lässt sich heute darüber reden? Reiner Preul Der Titel meines Beitrags ist formal ähnlich formuliert wie der Titel eines Aufsatzes von Wilfried Härle: „Welchen Sinn hat es, heute noch von Gott zu reden?“1 Während aber dort der Akzent auf dem Wort „Sinn“ lag und die Analyse sich entsprechend auf die semantische Klärung des Gottesbegriffs unter gegenwärtigen Denkmöglichkeiten richtete, geht es mir im Blick auf meinen Gegenstand um das „Reden“, wobei dieses Reden natürlich die Sinnhaftigkeit des Ausdrucks „Bestimmung des Menschen“ voraussetzt.2 Mein Essay betrifft also die kirchliche Kommunikation in Predigt, Unterricht, Seelsorge und Öffentlichkeitsarbeit. Ist der Ausdruck „Bestimmung des Menschen“ brauchbar oder sogar förderlich, wenn es um die Kommunikation des christlichen Wirklichkeitsverständnisses oder knapper, aber dasselbe meinend, um die Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart geht? Oder stört er hier eher?

1 „Bestimmung des Menschen“ ist kein Element biblischer Sprache. Stattdessen operieren die biblischen Schriften mit einer Fülle von Bildern und Wendungen, die sich teils auf das Sein und Wesen des Menschen, teils auf seine Zukunft, teils auf seine Aufgaben in der Welt und vor Gott beziehen. Auch führen sie mit Gegensatzpaaren wie Errettung und Verdammnis, Himmel und Hölle, Erwählung und Verwerfung die große 1 2

In: Wilfried Hrle/Reiner Preul (Hg.), Theologische Gegenwartsdeutung (MJTh II), Marburg 1988, 43 – 68. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass Wilfried Härle zum Thema seines Aufsatzes von 1988 jetzt einen weiteren veröffentlicht hat, der den Akzent ebenfalls auf die gegenwärtige Kommunikation legt: Der Alltagsbezug des Redens von Gott unter volkskirchlichen Bedingungen, in: Bernd-Michael Haese/Uta PohlPatalong (Hg.), Volkskirche weiterdenken. Zukunftsperspektiven der Kirche in einer religiös pluralen Gesellschaft, Stuttgart 2010, 17 – 26.

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Alternative vor Augen3, nach welcher der Mensch seine Bestimmung entweder finden und erfüllen oder auch verfehlen kann. Aber das Wort selber gebrauchen sie nicht, und deshalb können wir uns auch nicht einfach dem biblischen Sprachschatz und Wortspiel überlassen, wenn wir heute expressis verbis und verständlich von der „Bestimmung des Menschen“ reden wollen. Zu bemerken ist hier auch, dass genau diejenigen Begriffe, mit denen die biblischen Autoren den mit „Bestimmung des Menschen“ in Rede stehenden Sachverhalt umschreiben, in der gegenwärtigen kirchlichen Kommunikation aus jedenfalls teilweise einsehbaren Gründen nicht hoch im Kurs stehen. „Bestimmung des Menschen“ ist auch kein Terminus in der Theologie der Reformatoren, obwohl sie sich besonders auf das, was der Mensch coram Deo und coram mundo ist und sein soll, konzentriert haben, also auf die Sache, die mit dem Ausdruck gemeint ist.4 Sie haben ihre Soteriologie und damit das Zentrum ihrer Theologie ohne ihn formulieren können. Weshalb sollten wir dann auf ihn angewiesen sein? Auch bei Schleiermacher, dessen Theologie man sich in den letzten Jahrzehnten wieder angenähert hat5, spielt er keine hervorgehobene Rolle. Auch diejenigen, denen der Ausdruck zu verdanken ist und die ihn in die theologische und philosophische Terminologie eingeführt haben, können uns hier kaum weiterhelfen. Er stammt bekanntlich von Spalding, dem „Patriarchen der Aufklärungstheologie“ und „König der Neologie“, wie man ihn genannt hat6 ; und ein halbes Jahrhundert später hat, was weniger bekannt ist, auch Fichte ein Buch mit dem Titel „Bestimmung des Menschen“ veröffentlicht, gegliedert in die Teile 3

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Besonders ausgeprägt bei Matthäus mit seiner geradezu symmetrischen Vorstellung von Heil und Unheil; vgl. die Perikopen vom treuen und bösen Knecht (Mt 24, 45 – 51), von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25, 1 – 13) und von der Scheidung der Schafe von den Böcken im Weltgericht (Mt 25, 31 – 46). Verwiesen sei nur auf Luthers „Disputatio de homine“ (1536), die man wohl als einen systematisch zentralen Text des Reformators bezeichnen darf. Es wäre zu fragen, wie weit hier der Begriff der „Definition“/„definitio“ der Bedeutung von „Bestimmung“ entspricht. Vgl. dazu vom Verf., Friedrich Schleiermacher – das Christentum in der modernen Welt, in: Reiner Preul (Hg.), Glücksfälle der Christentumsgeschichte. Ringvorlesung der Emeriti der Theologischen Fakultät Kiel, Münster 2008, 161 – 190. Johann Joachim Spalding, Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen, (Greifswald 1748) Leipzig 71763.

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„Zweifel“, „Wissen“ und „Glaube“7. Die Gedankengänge dieser in der theologischen Aufklärung und im deutschen Idealismus verwurzelten Autoren bedürfen ebenso sehr der Vermittlung gegenüber heutigen Denkgewohnheiten und Bewusstseinslagen, wie der in Rede stehende Ausdruck selbst. Beide Autoren setzen einen Leser voraus, welcher bereit ist, in einem methodisch kontrollierten Reflexionsprozess eine Antwort auf die Frage zu suchen, was er oder sie, nicht individuell, sondern als Mensch ist und sein soll.8 Und dieser Prozess beginnt mit der Infragestellung dessen, was nach allgemeiner Meinung der Fall sein und erstrebenswert sein soll, und verläuft dann über bestimmte Stufen oder Stadien der Einsicht und der Willensausrichtung bis zu einer vollkommenen, innerhalb des Gedankengangs nicht mehr überbietbaren Erfassung der „Bestimmung des Menschen“, seines Wesens und seines Seinsollens und Seinkönnens. Wer mag sich heute auf eine so mühsame philosophische Besinnung einlassen? Es dürften nur wenige sein. Die kirchliche Verkündigung wendet sich aber tendenziell an alle Zeitgenossen. Hinzu kommt, dass die Überlegungen beider Autoren ihren Ort in bestimmten geistesgeschichtlichen Zusammenhängen haben – Spalding in der Aufklärungstheologie mit ihrer Vorstellung von einer natürlichen, aller Vernunft zugänglichen Religion, Fichte in der an Kant anschließenden erkenntnistheoretischen Debatte –, Positionen, die von heutigen Intellektuellen und Theologen kaum noch rezipiert werden. Lässt sich dann von den genannten Entwürfen gar nichts mehr lernen? Ich komme darauf zurück.

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Johann Gottlieb Fichte, Bestimmung des Menschen, Berlin 1800. Fichte hat Spalding sehr verehrt: „Welchen durch keinen Parteinamen bezeichneten ganz unverdächtigen Theologen nenne ich doch, als meinen Gewährsmann? Möchtest du, ehrwürdiger Vater Spalding, dessen Bestimmung des Menschen es war, die den ersten Keim der höheren Spekulation in meine jugendliche Seele warf, und dessen Schriften alle, so wie die genannte, das Streben nach dem Übersinnlichen und Unvergänglichen so trefflich charakterisieren, – möchtest du in meiner Sache stimmen können und wollen!“ So in der Schrift „Appellation an das Publikum“ (1799) anlässlich des so genannten Atheismusstreites. Hier zitiert nach: Johann Gottlieb Fichte, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, hg. v. Fritz Medicus, Darmstadt 1962, Bd. 3, 191 f. Derselbe Band enthält auch Fichtes oben genannte Schrift. „Es ist doch einmal der Mühe werth, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftiger Weise seyn soll.“ So Spalding, Bestimmung (s. o. Anm. 6), 2.

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2 Verundeutlicht die Vielfalt dessen, was in unserem Sprachgebrauch „Bestimmung“ (von etwas) meinen kann, auch die Rede von einer „Bestimmung des Menschen“? Ich gebe einige Beispiele, um die Spannweite der Bedeutungsvarianten zu veranschaulichen: „Was gemacht wird, bestimmt der Chef.“ – „Der Seemann bestimmt die Position seines Schiffes.“ – „Die Schüler haben Schwierigkeiten mit der Bestimmung der lateinischen Verbformen.“ – „Es war dem Komponisten nicht bestimmt, den großen Erfolg seiner Oper noch zu erleben.“ – „Unter Schmerzen zu gebären, ist die Bestimmung der Frau.“ – „Die Astronomen bestimmen die genaue Umlaufbahn der Planeten.“ – „Vergänglichkeit und Tod ist die Bestimmung alles Lebendigen.“ – „Der Mensch ist von Aristoteles als vernunftbegabtes Lebewesen bestimmt worden.“ – „Es war von Anfang an van Goghs Bestimmung, ein großer Maler zu werden.“ – „Das lässt sich nicht genauer bestimmen.“ – „Unsere Sinne werden durch die Einwirkung äußerer Gegenstände bestimmt.“ Bestimmung/bestimmen kann nach dieser gewiss willkürlichen Aufzählung also heißen: anordnen, lokalisieren, identifizieren, ein kontingentes Geschehen oder Geschick erleiden, eine Aufgabe oder ein Schicksal übernehmen müssen, etwas errechnen und darstellen, einer unabänderlichen und allgemeinen Notwendigkeit unterliegen, etwas definieren, eine nach Entfaltung drängende Begabung zu haben, etwas exakt benennen oder beschreiben können, beeinflussen beziehungsweise beeinflusst oder modifiziert werden. Dem Leser werden weitere Bedeutungsmöglichkeiten einfallen. Es ist dabei immer der Kontext, der bestimmte Satz, der die genaue Wortbedeutung jeweils festlegt. Wer einen der genannten Sätze spricht, weiß, was er meint, und der Empfänger solcher Äußerungen hat in der Regel auch keinen Anlass zur Nachfrage bezüglich des Ausdrucks Bestimmung/bestimmen; die Bedeutung des jeweiligen Satzes ist klar, man kann höchstens noch fragen, ob es denn stimmt, was da ausgesagt wird, ob zum Beispiel tatsächlich der Chef bestimmt, oder ob vielleicht seine Frau das Sagen hat. Anders liegen die Dinge, wenn von der „Bestimmung des Menschen“ die Rede ist. Hier sind Nachfragen unvermeidlich. Gewiss kommen nur wenige von den Bedeutungsmöglichkeiten, die in unseren Beispielen aufschienen, auch bei dem Ausdruck „Bestimmung des Menschen“ zur Anwendung, und insofern verundeutlicht die veranschaulichte Vielfalt der Bedeutung von „Bestimmung“ die Rede von einer „Bestimmung des Menschen“ nicht oder kaum. Man könnte auch

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einwenden, dass doch alles klar sei, wenn beispielsweise jemand aus christlicher Sicht sagt: „Die Bestimmung des Menschen besteht in der Gemeinschaft mit Gott.“ Eine Nachfrage, wenn sie denn erfolgt, wird sich hier wohl primär auf die Prädikation richten: „Gemeinschaft mit Gott“, was soll das nun heißen? 9 Aber unser Satz ist ja eine bestimmte Antwort auf die Frage, was die Bestimmung des Menschen sei. Er operiert also doch mit einer Kategorie, die man schon haben soll, die dem Menschen zumindest vermittelt werden könne. Er füllt einen Begriff, der als allgemein verstehbar vorausgesetzt wird und der formal von größerer Bedeutungsfülle ist als die christliche Konkretion, die nur eine unter mehreren möglichen zu sein beanspruchen darf. Wir müssen also fragen, welche Fragen sich auf die Semantik von „Bestimmung des Menschen“ richten können. Der Ausdruck präsentiert sich dann als ein Inbegriff von Unterscheidungen und entsprechenden Verstehensmöglichkeiten, die durch jene Fragen zum Vorschein kommen. a) Was heißt Bestimmung des Menschen? Zu fragen ist also nach dem Trger der „Bestimmung des Menschen“. Ist es der je einzelne Mensch in seiner Individualität, oder ist es der einzelne Mensch in seiner Beschaffenheit oder Natur als Mensch? Ist es überhaupt nur der Einzelne oder zugleich die Gattung Mensch, die Menschheit also oder die Menschenwelt? Moderne Zeitgenossen fragen zumeist nach ihrer persönlichen und besonderen Selbstverwirklichung und werden das, sofern sie den Ausdruck gebrauchen, als ihre „Bestimmung“ verstehen. Im christlichen Sinne bezieht sich die „Bestimmung des Menschen“ auf die jeweils zweite Alternative – auf den Menschen als Menschen und auf die Menschheit im Ganzen –, ohne dass damit individuelle Bestimmungen und deren Verwirklichung vergleichgültigt würden; sie werden als Spezifikationen der universalen Bestimmung gesichtet und gewürdigt. b) Was heißt Bestimmung des Menschen? Hier stoßen wir auf die Polarität von Faktizitt und Sinn. Meint der Ausdruck „Bestimmung des Menschen“ das „Schicksal“, dem der Mensch beziehungsweise der so oder so verstandene Träger der Bestimmung faktisch ausgeliefert ist, das „Los“, das ihm zugedacht ist, also alles, was durch Natur und Geschichte prägenden, entweder prinzipiellen oder jetzt nicht mehr zu ändernden Einfluss auf das Leben des Bestimmungsträgers hat, ihm also unver9

Zu fragen ist u. a., wie diese Gemeinschaft erlebt wird und worin sie sich manifestiert, wie sie zustande kommt und welches Ziel sie verfolgt. Dass solche Anschlussfragen gestellt werden können, zeigt, dass der Satz noch keine inhaltlich erschöpfende Auskunft zur Bestimmung des Menschen aus christlicher Sicht ist.

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rückbare Grenzen setzt oder ihm vielleicht auch eine unwiderstehliche Weise des Lebensvollzugs auferlegt, so wie die Tiere ihrem Instikt folgen müssen? Oder wird abgehoben auf eine Sinngebung des menschlichen Lebens, wieder bezogen auf den so oder so verstandenen Träger? 10 Man kann zwar je nach thematischem Zusammenhang der Rede von der Bestimmung des Menschen den einen oder anderen Aspekt betonen, es liegt aber auf der Hand, dass beide Aspekte zusammengehören. Jedenfalls kann über die Bestimmung des Menschen – sei es des Einzelnen, sei es der Menschheit – unter dem Aspekt der Sinngebung nur geredet werden, wenn dabei zugleich auf die allem Menschlichen gesetzten Grenzen, die natürlichen und die geschichtlich gewordenen, reflektiert wird. Sinn ist immer auf Faktizität bezogen, während das Umgekehrte nicht zwangsläufig der Fall ist; letzterem entspricht auch der von allen Sinnbezügen abstrahierende Begriff des „brutum factum“. Der Sinndimension der Bestimmung des Menschen entspricht es, dass diese Bestimmung, wie auch immer sie dann inhaltlich präzisiert wird, vom Menschen auch verfehlt werden kann. c) Zu fragen ist drittens nach dem Autor der Bestimmung des Menschen. Gibt der Mensch – als Einzelner oder als Kollektiv – sich seine Bestimmung selbst, oder ist ihm seine Bestimmung von einer anderen Instanz vorgegeben, so dass es nur darum geht, sie zu finden und zu ergreifen? Sofern der Mensch sich seine Bestimmung selber geben will11, kann sich das allein auf den zur Bestimmung gehörenden Sinnentwurf erstrecken, und hier kann dann auch eigentlich, unbeschadet bestimmter Angebote aus Tradition oder Gegenwart, jeder nur seine je eigene Bestimmung ethisch und weltanschaulich ausformulieren und muss allen anderen entsprechende Freiheit zu einem ebenfalls individuellen Entwurf zugestehen. Eine vom Menschen selbst vorgenommene und verantwortete Bestimmung des Menschen kann alles, was zur passionalen Schicht der menschlichen Existenz gehört und durch Faktizität im angegebenen Sinne bestimmt wird, nur hinnehmen. Soll dafür aber nicht allein Natur oder Schicksal als Ursache, sondern ebenfalls ein personaler Autor benannt werden, so könnte das nur „Gott“ sein. Dann aber hätte 10 Der Jubilar hat betont, dass die mit „Bestimmung des Menschen“ ausgedrückte „Zielsetzung“ nicht „Determination“ sondern „Destination“ bedeutet. Wilfried Hrle, Menschsein in Beziehungen. Studien zur Rechtfertigungslehre und Anthropologie, Tübingen 2005, 327. 11 Der vielleicht reinste Ausdruck dieser Position ist der von Sartre vertretene Existentialismus: Der Mensch existiert ohne jeden vorgegebenen Plan.

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man schon die andere Alternative gewählt. Denn eine göttliche Autorschaft kann nicht auf die Setzung von Faktizität eingeschränkt werden, sie betrifft ebenso die Sinnseite der Bestimmung des Menschen. Die Vorstellung von einem absichtslosen Schöpfer der Welt oder einem solchen, der den Menschen nicht in seine Absichten mit der Schöpfung einbezöge, würde nicht nur das christliche Gottesverständnis, sondern auch jeden rationalen Gottesbegriff unterbieten.12 Die Entscheidung für eine von Gott vorgegebene Bestimmung des Menschen impliziert dann aber auch, dass diese Bestimmung den Menschen als solchen betrifft und damit für jeden Menschen gültig ist. Eine Bestreitung dieser Konsequenz würde „Gott“ wieder unterbestimmen. Diese universale Gültigkeit der von Gott gesetzten Bestimmung des Menschen, wie sie beispielsweise vom christlichen Glauben vertreten wird, kann freilich nur bezeugt werden, sie kann und darf niemandem aufgezwungen werden. Insofern wird hier den anderen eine nicht geringere Freiheit zugestanden, als es bei einer Verankerung der Bestimmung des Menschen im menschlichen Subjekt der Fall sein muss. d) Es bleibt schließlich die Frage nach dem Zustandekommen der Erkenntnis der Bestimmung des Menschen, wenn diese Bestimmung Gott zugeschrieben wird. Hier tun sich wieder zwei Möglichkeiten auf. Entweder man vertraut auf die Kraft der Vernunft: Der Mensch, der sich auf sich selbst besinnt, insbesondere auf sein Streben nach Glück, findet durch Abwägung der Güter, die sich diesem Streben als Erfüllung darbieten, am Ende auch seine göttliche Bestimmung. Oder die Erkenntnis der Bestimmung des Menschen verdankt sich einem kontingenten Erschließungsgeschehen, welchem, da es nicht ohne die Wirksamkeit des Geistes Gottes im menschlichen Herzen zustande kommt, Offenbarungsqualität eignet. Den zuerst genannten Weg beschreiten in exemplarischer Klarheit Spaldings „Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen“. Das nach dem Wozu seines Daseins fragende Ich durchläuft verschiedene 12 Ich verweise hierzu auf Wilfried Härles Kommentar zu Anselms Definition des Gottesbegriffs als „aliquid quo nihil maius cogitari possit“, Hrle, von Gott reden (s. o. Anm. 1), 50 f: „Anselms Vorschlag ist insofern plausibel, als der Begriff ,Gott‘ nicht sinnvoll auf etwas angewandt werden kann, im Vergleich zu dem eine überlegene Instanz vorhanden oder auch nur denkbar ist. Dies schließt (auch bei Anselm) keineswegs aus, daß Gott größer ist als alles, was wir denken können. Wohl aber schließt es aus, daß etwas ,Gott‘ sein könne, wenn es geringer ist als das, was wir denken können.“ Vgl. auch Ders., Dogmatik, Berlin/New York 1995, 208 f.

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Stufen möglichen Selbstverständnisses; Spalding charakterisiert sie durch die Kapitelüberschriften „Sinnlichkeit“, „Vergnügen des Geistes“, „Tugend“ und „Religion“, die ihn auch zum Gedanken der „Unsterblichkeit“ als Bedingung der Möglichkeit individueller Vollendung in der Einheit von Glückwürdigkeit und Glückseligkeit (genau wie später in Kants Religionstheorie) führt. Dabei lässt jede Stufe die jeweils besten Möglichkeiten der vorhergehenden Stufe(n) zum Zuge kommen. Die Christusoffenbarung kommt in diesem Durchgang durch die Existenzformen des Hedonismus, der Bildung durch Kunst und Wissenschaft, der auf das Gewissen gegründeten Moralität und der Religiosität nicht vor.13 Auf diesen Bezugspunkt kann jedoch eine christlich-theologische Besinnung auf die Bestimmung des Menschen und ihre Erkenntnisbedingungen nicht verzichten: Die Erkenntnis der Bestimmung des Menschen verdankt sich dem Wirken des Heiligen Geistes, welches das Lebenszeugnis Jesu als wahr erkennen lässt. Aus der Sicht dieser Position ist der von Spalding exemplarisch vertretene Erkenntnisweg zwar inakzeptabel, sofern er hinreichend zu sein beansprucht, aber doch nicht gänzlich unbrauchbar. Denn die aus der Christusoffenbarung geschöpfte Erkenntnis der Bestimmung des Menschen im christlichen Sinne ist ja auch eine Antwort auf Fragen, die der Mensch schon stellt. Man muss also Spaldings Gedankengang nur als die Explikation einer Frage beziehungsweise einer zusammenhängenden Kette von Fragen, somit als die Analyse eines Suchprozesses, in welchem es um die Abwägung von Werten und Gütern geht, lesen, dann ist von ihm immer noch eine Menge zu lernen.14 13 Spalding selbst wehrt sich in einem Anhang zur dritten Auflage gegen den Vorwurf, „die Buße, die Versöhnung mit Gott, die Kraft der Gnade, überhaupt das Wesentliche und Eigenthümliche des Christentums“ übergangen zu haben: „Mich dünket: Wer die gerade Straße nach einem Ort bezeichnen will, der macht sich nicht anheischig, die Wege und Mittel anzuzeigen, wodurch ein Verirrter wieder darauf zurück gebracht werden kann. Dieß ist eine Arbeit von ganz anderer Art.“ Spalding, Bestimmung (s. o. Anm. 6), 67. Theologisch kann diese Auskunft nicht befriedigen. Spalding muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht ebenfalls den Gottesbegriff unterbestimmt, wenn er eine Beteiligung Gottes an der Entstehung der Erkenntnis der Bestimmung des Menschen nicht in Rechnung stellt oder sie auf den Gesichtspunkt einer gelegentlich notwendigen Korrektur beschränkt. 14 Alle Alternativen mit Ausnahme der dritten, unter denen wir den Begriff „Bestimmung des Menschen“ differenziert haben, hatten zwar die logische Form x oder y, wenn aber, wie wir es getan haben, jeweils y favorisiert wird, dann werden immer auch Elemente von x als in y schon vorausgesetzt oder integrierbar be-

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3 In der kirchlichen Kommunikation wollen wir mit dem Zeitgenossen über die Bestimmung des Menschen, wie sie sich aus der Sicht des christlichen Glaubens darstellt, reden. Formal realisiert das christliche Verständnis der Bestimmung des Menschen die jeweils zweite Möglichkeit der vier Alternativen: Es bezieht sich auf den Menschen als solchen, ohne individuelle Zielsetzungen auszuschließen; es betrifft den Sinn menschlicher Existenz auf der Grundlage unverrückbarer Faktizität und in Anbetracht der passionalen Dimension unserer Existenz; es benennt Gott als den Urheber der Bestimmung des Menschen; es weiß sich durch eine Offenbarung des dreieinigen Gottes, die dem nach seiner Bestimmung fragenden Menschen zuteil wird, ermöglicht. Inhaltlich besteht die Bestimmung des Menschen in der Gemeinschaft mit Gott, so wie diese Gemeinschaft durch das christliche Wirklichkeitsverständnis beziehungsweise durch die kirchliche Lehre und Verkündigung ausgelegt wird. Das ist hier nun nicht in extenso zu entfalten, denn dazu müsste ich praktisch die gesamte Glaubenslehre, Dogmatik wie Ethik, zusammenfassen. Ich begnüge mich mit wenigen Zuspitzungen. a) Die durch den Glauben gewonnene Gemeinschaft mit Gott hat Auswirkungen auf die Gemeinschaft zwischen den Menschen, da der Glaube „in der Liebe tätig wird“ (Gal 5, 6b). Diese Tätigkeit erstreckt sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen in allen Lebensbereichen, in denen Christen mit Christen und mit Nichtchristen in interaktive Verbindung treten. Die Gemeinschaft mit Gott lässt diejenige personale Eigenschaft, welche wesenhaft sowohl Gott als auch dem Menschen zukommt, nämlich die Liebe, zum Zuge kommen, und zwar in all ihren Erscheinungsformen.15 Die Gemeinschaft mit Gott stiftet zugleich eine besondere Gemeinschaftsform in der geschichtlichen Welt: die Gemeinde vor Ort sowie die Kirche als alle politischen, nationalen und ethnischen Grenzen überschreitende und relativierende ecclesia universalis. In dem Maße, wie der in ihr wirksame Geist die weltlichen Verhältnisse halten. Es ist dasselbe Verhältnis, das zwischen Spaldings Stufen herrscht: Hedonismus und Bildungsästhetizismus verhalten sich als Standpunkte exklusiv zueinander, aber während der reine und grobe Hedonist nichts von den höheren geistigen Genüssen versteht, wird der gebildete Ästhet die sinnlichen Genüsse durchaus nicht verachten, vielmehr besser damit umgehen; entsprechendes gilt für die nachfolgenden Stufen. 15 Die Frage, wie es mit der Liebe in der außermenschlichen Kreatur bestellt ist, kann hier nicht diskutiert werden.

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durchdringt, realisiert sich das von Christus ausgehende „neue Gesamtleben“ (Schleiermacher16). Die „Bestimmung des Menschen“ nach christlichem Verständnis hat somit auch eine soziale Dimension. Man verkürzt diesen Begriff, wenn man ihn allein auf den Fokus des individuellen Seelenheils bezieht. b) Wie wird die so verstandene Gemeinschaft mit Gott erlebt und gelebt? Prinzipiell in allen Lebensvollzügen des Christen, in expliziter Weise aber im Kultus und besonders im Gebet.17 Das nachhaltige Resultat des Gebetes ist die Willensausrichtung als ein velle cum Deo. In diesem Wollen und Fühlen sind wir als „Kinder Gottes“ (Röm 8, 16) unbeschadet unserer konstitutionellen Geschöpflichkeit in das Leben und Wirken des dreieinigen Gottes hineingenommen. Das velle cum Deo ist Seligkeit, die den Glaubenden in der noch nicht vollendeten Welt nur bruchstückhaft, als momentane und angefochtene, „wenn aber kommen wird das Vollkommene“ (1 Kor 13, 10), als dauerhafte und ungetrübte Seligkeit zuteil wird. Bestimmung des Menschen ist Bestimmung zur Seligkeit, zeitlich und ewiglich.18 c) Das velle cum Deo realisiert sich in der Bestimmung des Menschen, cooperator Dei zu sein. Der in wissentlicher und willentlicher Übereinstimmung mit seiner von Gott gesetzten und ermöglichten Bestimmung lebende Christ weiß sich von Gott in Dienst genommen und versteht sich als Werkzeug göttlichen Handelns an und in der Schöpfung, wie es theologisch besonders in der Zwei-Regimente-Lehre ausgelegt wird.19 d) Dass der Mensch seine Bestimmung im velle cum Deo erreicht, versteht sich nicht von selbst. Man findet nicht gemächlich in sie hinein, so wie man in manche Rollen hineinwächst. Die Entstehung des Glaubens als Eintritt in die Bestimmung ist mit einem Befreiungsakt, einem Statuswechsel und mit dem Bewusstsein einer grundstzlichen Alternative verbunden. Der Mensch wird befreit aus einem falsche Sicherheit und 16 Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830 – 31), hg. v. Martin Redeker, Berlin/New York (1960) 71999, 184, 202, 207 u. ö. 17 Zum Gebet als Kern und Ernstfall christlicher Religiosität vgl. Reiner Preul, Die Anrede Gottes im Gebet, in: Ders./Wilfried Hrle (Hg.), Personalität Gottes (MJTh XIX), Leipzig 2007, 99 – 122. 18 Vgl. Luthers Formulierung im Kleinen Katechismus: „dass wir seinem heiligen Wort durch seine Gnade glauben und göttlich leben, hier zeitlich und dort ewiglich.“ 19 Dazu Wilfried Hrle, Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Handeln Gottes, in: Ders./Reiner Preul (Hg.), MJTh I, Marburg 1987, 12 – 32.

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falsche Selbstverwirklichung versprechenden Verblendungszusammenhang; er kehrt ein in die Wahrheit seiner Existenz und nimmt den ihm seinsmäßig zukommenden Ort ein; und er weiß sich und jeden Menschen unter das zwar lebensgeschichtlich in vielfältiger Form auftretende, aber strukturell immer gleiche und gleich radikale Entweder-Oder gestellt, wie es in der Rechtfertigungslehre ausformuliert ist: sein Grundvertrauen auf eigene Werke oder auf die freie Gnade Gottes zu gründen. In das Bewusstsein dieser Alternative sind noch zwei weitere Erkenntnisse eingeschlossen: das Wissen um die Verfehlbarkeit der Bestimmung des Menschen und das Wissen, dass der Glaubende zwar auf der richtigen Spur sich bewegt, aber infolge seiner Endlichkeit und seines immer noch bestehenden Sünderseins noch nicht am Ziel ist. Die menschliche Wirklichkeit, an der der Christ wie jeder andere partizipiert, hat wie die gesamte Wirklichkeit, in die sie eingebettet ist, dynamisch-prozesshafte Struktur.

4 Die Irritationen, mit denen bei einer Verwendung des etwas altmodischen Ausdrucks „Bestimmung des Menschen“ zu rechnen ist, erweisen sich bei nherem Zusehen als heilsame Provokation und sind von daher zugleich Argumente f  r seinen Gebrauch. Ich will versuchen, diese These plausibel zu machen. Den Ausdruck für die theologische Fachsprache zu reservieren, wäre keine sinnvolle Strategie; schon deshalb nicht, weil – von wenigen Ausnahmen wie „Soteriologie“, „Pneumatologie“ oder „Eschatologie“ abgesehen – alle Begriffe der theologischen Fachsprache zugleich Elemente der unmittelbaren religiösen Kommunikation sind; das gilt für „Gott“, „Glaube“, „Gebet“, „Schöpfung“, „Erlösung“, „Sünde“, „Vergebung“, „Versöhnung“, „Kirche“, „Gemeinde“ und zahlreiche weitere Wörter. Unter allen Wissenschaften, man denke nur etwa an die Medizin, hat die Theologie bezüglich ihres Wortbestandes vermutlich die größte Nähe zur entsprechenden Alltagssprache. Natürlich wäre es möglich, den Ausdruck „Bestimmung des Menschen“ in der kirchlichen Kommunikation zu vermeiden und nur von dem zu reden, was nach Abschnitt 3 zur Bestimmung des Menschen im christlichen Verständnis gehört, was sie konkret ausmacht. Letzteres muss natürlich auch geschehen und geschieht auch beständig in der kirchlichen Verkündigung. Es ist aber die Frage, ob dabei mit hinreichender Prägnanz deutlich wird, was der Ausdruck selbst auf den Begriff bringt: dass dem Menschen vor allen

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Zielen, die er sich selbst setzen kann und soll, von seinem Schöpfer schon eine umfassende Bestimmung gegeben ist, dass er eine Bestimmung hat, die er nicht selbst produziert und der er entsprechen kann oder nicht. Unsere These spricht von Irritationen, die durch die christliche Rede von der Bestimmung des Menschen ausgelöst werden können. Sie resultieren daraus, dass die meisten Zeitgenossen, freilich ohne den Terminus „Bestimmung des Menschen“ zu verwenden, in ihrem Denken und Reden über das eigene Leben sich im Umkreis der jeweils zuerst genannten Möglichkeiten bezüglich jener vier Alternativen bewegen, die wir uns in Abschnitt 2 vor Augen geführt haben, und dass sie nun durch den christlichen Begriff der Bestimmung des Menschen auf die jeweils entgegengesetzte Möglichkeit gestoßen werden. Sie begegnen einer Antithese, einer in sich differenzierten Gegenposition; ein Perspektivenwechsel wird ihnen anempfohlen. Wo von der Bestimmung des Menschen geredet wird, stellt sich die Frage nach dem Sinn und der Wahrheit menschlicher Existenz, und zwar in einer direkten, grundsätzlichen und oft auch ungemütlichen Weise – ungemütlich, weil man hier mit dem Weltwissen, das man sich aus allerlei Studien und Lernprozessen zueigen gemacht hat und mit dem man im Alltag anscheinend auskommt, nicht weiterkommt; ungemütlich auch, weil man sich nach seinen grundsätzlichen Überzeugungen gefragt findet, sich zu offenbaren und zu positionieren genötigt sieht. Vielleicht machen sich auch noch andere ungute Gefühle bemerkbar, indem man etwa einen gebieterischen normativen Anspruch oder eine Drohung für den Fall, dass man die angebotene Bestimmung nicht ergreift, heraushört. Ist diese Beschreibung zutreffend, dann ist damit auch schon eine Herausforderung für die kirchliche Kommunikation bezeichnet, und zugleich sind Hinweise gegeben, wie diese Herausforderung wahrzunehmen ist. Auf Forderungen („Du sollst…“) und Drohungen („Wehe, wenn du nicht…“) ist gänzlich zu verzichten, nicht nur mit Rücksicht auf den zeitgenössischen Adressaten, sondern weil es auch mit der zu vermittelnden Sache unvereinbar ist. Stattdessen sind diejenigen Züge hervorzuheben, welche die evangeliumsgemäße Bestimmung des Menschen zu einer Wohltat machen: die aus der Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott und Menschen sowie aus dem velle cum Deo entspringende Seligkeit, ferner die mit der Einbeziehung des menschlichen Handelns in das erhaltende, erlösende und vollendende Handeln Gottes verbundene Sinngebung der vita activa in denkbar langfristiger Perspektive, nicht zuletzt die Erfahrung der Befreiung aus angstbesetztem, gesetzlichem, selbstbezogenem und daher lieblosem Streben. Der ver-

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langte Verzicht auf Forderung und Drohung wird von heutigen Predigern und Predigerinnen, sofern sie sich nicht einer ultraevangelikalen Richtung verschrieben haben, ohnehin geübt. In der Kunst, das Positive zum Leuchten zu bringen, ist immer noch einiges zu lernen.20 Die Dramatik, die Übel und gegebenenfalls auch die Pathologie, die mit einer Verfehlung der Bestimmung so oder so verbunden sind, sollen zwar nicht ignoriert werden, aber sie taugen nicht als Druckmittel, sondern kommen gleichsam nachträglich in den Blick als das, was durch den Glauben an Christus überwunden ist. Es sind nun noch speziell drei im Bewusstsein vieler Zeitgenossen verankerte Denkfiguren oder -gewohnheiten, die den Zugang zum Verständnis der Bestimmung des Menschen, wie es kirchlicher Lehre entspricht, erschweren. a) Die kirchliche Verkündigung beansprucht, die wahre Bestimmung des Menschen zu kennen. Wer die ihm verkündigte Bestimmung ergreift, kehrt ein in die Wahrheit seiner Existenz. Dem tritt die Vorstellung in den Weg, dass uns zwar viele kleine Wahrheiten oder Richtigkeiten in Einzelfragen zugänglich sind, dass uns aber die Wahrheit ber den Menschen und die Wirklichkeit im Ganzen, wenn es sie denn geben sollte, verborgen bleibt. Einige Intellektuelle mögen sich dazu auch auf Lessing berufen, nach dem das Streben nach der Wahrheit deren Besitz vorzuziehen sei. Die Rede von einer vorgegebenen Bestimmung, die man ergreifen oder verfehlen kann, passt dazu nicht. Man denkt lieber nach einem approximativen Schema: Alle suchen mehr oder weniger intensiv nach der für sie gültigen Wahrheit und kommen dabei mehr oder weniger weit voran. b) Man sieht sich bezüglich seines Daseinsverständnisses nicht in der Situation, angesichts eines grundsätzlichen Entweder-Oder, wie es exemplarisch von der kirchlichen Lehre vertreten wird, eine Entscheidung treffen zu müssen. Vielmehr wählt man zwischen einer ganzen Reihe von Möglichkeiten, und zwar in der Regel so, dass man Verschiedenes miteinander kombiniert. Ist denn jedes Individuum überhaupt aus einem Guss? Oder wäre das erstrebenswert? Warum soll denn der Mensch nur eine Seele in seiner Brust haben oder zwei, die miteinander kämpfen? 20 Hierzu vom Verf., Deskriptiv predigen! Predigt als Vergegenwärtigung erlebter Wirklichkeit, in: Ders., Luther und die Praktische Theologie. Beiträge zum kirchlichen Handeln in der Gegenwart, Marburg 1989, 84 – 112. Empfohlen sei auch: Reinhard Schmidt-Rost, Der evangelische Gottesdienst als Form des Massenmediums „Liebe“, in: Haese/Pohl-Patalong, Volkskirche (s. o. Anm. 2), 191 – 200.

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Warum nicht viele, die sich miteinander arrangieren? Das lässt sich dadurch erreichen, dass man die verschiedenen und miteinander konkurrierenden weltanschaulichen Positionen von der Frage nach Gut und Böse trennt und eine rein sthetische Haltung zu ihnen einnimmt. Der sthetizismus macht die Gegensätze erträglich und vermittelbar, ganz wie im Bereich der Kunst, wo man sich auch nicht auf einen Maler oder einen Komponisten oder eine Stilrichtung festlegt, und der Mensch erfreut sich nun einer buntscheckigen Seele.21 Zu bedenken ist hier auch das Phänomen der spätestens in der Frühromantik erfundenen und bis in die Gegenwart anzutreffenden Kunstreligion.22 c) Die dritte Denkgewohnheit steht in einer gewissen Spannung zu der gerade skizzierten zweiten, begegnet aber nicht selten neben ihr. Auch der spätmoderne Ästhetizist, der das Experimentieren mit weltanschaulichen und religiösen Identitätsmustern liebt, wird die Moral nicht los, kommt nicht ohne ethische Maßstäbe aus. Und diese ermöglichen ihm nun doch eine rigorose Selbstabgrenzung. Hinzu kommt, dass die von den meisten heutigen Intellektuellen, insbesondere den Publizisten und Journalisten, öffentlich vertretene humanitäre Ethik zumindest verbal ziemlich einheitlich ist. Das ermöglicht nun eine strikte moralische Grenzziehung: Wenn du kein Rassist, Faschist, Sexist, Imperialist, Terrorist oder sonst ein Fanatiker bist, dann bist du als Mensch grundsätzlich schon auf der richtigen Seite. Dass man sich, nachdem man sich von all diesen Abscheulichkeiten und Verirrungen energisch distanziert hat, immer noch auf einem Holzweg befinden könnte, kommt einem dann nicht mehr in den Sinn. An dieser moralischen Abgrenzung ist als solcher nichts auszusetzen, schon gar nicht aus der Sicht christlicher Ethik. Zu kritisieren ist sie aber insofern, als sie sich für die tiefste und letzte Grenzziehung zwischen Menschen ausgibt und sich stillschweigend oder ausdrücklich an die Stelle einer auch die Beziehung zur Transzendenz, einer über allem Menschlichen stehenden Instanz und Sinnquelle, einschließenden Abgrenzung setzt. Denn ob ich mein Leben gewinne oder 21 Zum Ästhetizismus als einem Merkmal postmoderner Existenz vgl. Christoph Schwçbel, Gnadenlose Postmoderne? Ein theologischer Essay, in: Michael Roth/Kai Horstmann (Hg.), Glauben – Lieben – Hoffen. Theologische Einsichten und Aufgaben. FS Konrad Stock, Münster 2001, 134 – 155. 22 Vgl. dazu Heinrich Detering, Kunstreligion und Künstlerkult. Bemerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne, in: Günter Meckenstock (Hg.), Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, I. Philologisch-historische Klasse, Nr. 4, Jg. 2006) Göttingen 2006, 13 – 34.

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verliere, ob ich meiner Bestimmung entspreche oder nicht, entscheidet sich nach christlichem Verständnis an der Gottesbeziehung des Menschen. Ganz allgemein gilt: Was Menschen am tiefsten verbindet, nämlich ihre religiöse Überzeugung, kann sie auch am tiefsten von einander trennen. Die drei Denkweisen, die sich der christlich-kirchlichen Kommunikation der „Bestimmung des Menschen“ in den Weg stellen, können abgekürzt als Gradualismus, sthetizismus und verabsolutierter Moralismus bezeichnet werden. Damit ist bereits angezeigt, welche gedankliche Arbeit in der kirchlichen Kommunikation zu leisten ist. Dass man auf Widerstände stößt, ist dabei auch nicht nur von Nachteil. Denn Widerstände geben Anlass zum ernsthaften Dialog und zum Streit um die Wahrheit, Anstoß, das Wesentliche in der christlichen Vorstellung von der Bestimmung des Menschen im Kontrast herauszuarbeiten; sie sind auch Bedingung der Möglichkeit, dass die christliche Verkündigung, wo sie ihr Ziel erreicht, als überwindende und befreiende Kraft erfahren werden kann.23 Klarzustellen durch die christliche Verkündigung und Lehre ist also erstens, dass die Wahrheit der Bestimmung des Menschen im Sinne des Evangeliums nicht das Produkt angestrengtester intellektueller Bemühung ist, sondern sich Deo adiuvante durch sich selbst erschließt – nämlich in der Begegnung mit dem Lebenszeugnis Jesu – und dass diese Wahrheit einfach ist und sich in wenigen Bekenntnissätzen aussprechen lässt, obwohl andererseits der geistige Prozess des Nachdenkens ber diese Wahrheit, der Prozess ihrer Auslegung in immer neuen Konstellationen nie zum Ende kommt und genügend Raum für Gradualismus und Approximation lässt: „Semper est proficere in intelligentia Scripturae.“24 Zweitens ist der fundamentale Unterschied zwischen ästhetischen Vorlieben und Urteilen einerseits und dem Entweder-Oder im Bereich weltanschaulich-religiöser Grundoptionen herauszuarbeiten. Diese Aufgabe stellt sich umso dringlicher, als man neuerdings nicht müde wird, die Affinitt zwischen Kunst und Religion zu betonen. Sie besteht darin, dass beide bezüglich der in ihnen zutage tretenden Vernunfttätigkeit mit 23 Manfred Josuttis hat schon in den 1980er Jahren die Harmlosigkeit und Zahnlosigkeit zeitgenössischer Predigten registriert: Über Feindbilder in der Predigt, in: Ders., Rhetorik und Theologie in der Predigtarbeit, München 1985, 87 – 114. Der Befund dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass man gegenläufigen Denkgewohnheiten nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hat. 24 Martin Luther, Psalmvorlesung 1513/15, in: WA 4, 319.

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Schleiermacher als „individuelles Symbolisieren“ zu charakterisieren sind. Das Geschmacksurteil, dass etwas „schön“ ist oder „erhaben“ (oder dessen Gegenteil), kann jemandem zwar zugemutet, aber ebenso wenig abverlangt oder aufgenötigt werden wie eine bestimmte religiöse Einstellung. Indem die Kunst auf ihre unersetzbare Weise Unsichtbares sichtbar, Unsagbares ausdrücklich, Jenseitiges und Hintergründiges präsent macht, berührt sie sich mit der Religion, welche ihrerseits die Sprache der Kunst als Medium religiöser Kommunikation benötigt. In der zeitgenössischen Praktischen Theologie, die sich – zumindest teilweise – als Wahrnehmungswissenschaft verstehen und gestalten möchte, forscht man nach Spuren von Transzendenz in der Kunst, insbesondere der modernen beziehungsweise postmodernen, und in dem entsprechenden kulturellen Leben, was einige Theologen dazu motiviert, überall ihr „Ick bün all do“ anzubringen. Die Fruchtbarkeit solcher Erkundungen soll hier natürlich nicht bestritten werden, es fällt aber auf, dass so gut wie nirgends zugleich nach der Differenz zwischen ästhetischen und religiösen (wie auch zwischen ästhetischen und ethischen) Urteilen gefragt wird.25 Was schließlich die voreilige und falsche absolute Grenzziehung nach Maßgabe moralischer Verurteilungen betrifft, so sollte die christliche Lehre und Verkündigung die Anerkennung eines umfassenderen Ethosbegriffs anstreben: eines solchen, der mit der fundierenden Bedeutung eines so oder so gearteten, jedenfalls aber religiös-weltanschaulich bestimmten Menschenbildes für das im engeren Sinne moralische Bewusstsein und Handeln operiert.26 Ein solches Ethos enthält dann auch nicht nur ne25 Das gilt übrigens auch für das MJTh XXII/2010 zum Thema „Ästhetik“. Der Ästhetizismus als existentielle Haltung wird zwar im Vorwort erwähnt, aber in den Beiträgen nicht weiter erörtert. 26 Ich habe dafür verschiedentlich (vgl. zuletzt: Aufgaben der Bildungspolitik aus christlicher Sicht, in: Christian Lçw/Christoph Seibert (Hg.), Verantwortete Zukunft. Christliche Perspektiven für politische Ethik und politisches Handeln, Neukirchen-Vluyn 2010, 103 – 120, dort 115; ausführlicher in meiner Kirchentheorie, Berlin/New York 1997, 161 ff.) ein vierstufiges Strukturmodell vorgeschlagen. Über der Ebene konkreter Handlungsanweisungen bzw. Normen steht die Ebene ethischer Prinzipien, nach denen die Normen beurteilt und gegebenenfalls ergänzt, reduziert oder modifiziert werden, darüber die Ebene von Werterfahrungen, ohne welche die Prinzipien nur als autoritative Setzungen auftreten könnten und die ihrerseits im Zusammenhang mit Annahmen und berzeugungen ber die Wirklichkeit im Ganzen stehen. Dieses Strukturmodell ist exemplarisch im christlichen Ethos verwirklicht, kommt aber auch in anderen Ethosgestalten mehr oder weniger deutlich zum Vorschein. Die Ausschaltung der

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gative Abgrenzungen wie die hier kritisierte Denkfigur der moralischen Selbstdistinktion, sondern auch positive Zielvorstellungen bezüglich des Daseinszwecks des Menschen, also eine Vorstellung von der „Bestimmung des Menschen“, die damit wieder kommunizierbar wird.

5 Wir haben von Irritationen gesprochen und von den Aufgaben, die sich daraus für die kirchliche Kommunikation ergeben. Aber sind nur Gegensätze zu bearbeiten und zu überwinden? Gibt es nicht vielleicht auch Anknpfungspunkte für die Rede von der Bestimmung des Menschen, einerlei, ob dabei der Ausdruck gebraucht wird oder ob einfach nur die Sache zur Sprache kommen soll, für die er steht und die oben unter 3 expliziert wurde? Ich sehe hier wenigstens drei Möglichkeiten, die man dann auch nutzen sollte. a) Die gemischt-kulturelle moderne Gesellschaft stellt den Einzelnen in eine Situation, in der ihm viele geistige Positionen und Lebenseinstellungen begegnen, und zwar nicht nur theoretisch, sie treten ihm in seinem eigenen Erlebnisbereich entgegen: anschaulich – auch vermittelt über die Medien – und in lebendigen Personen verkörpert. Zu diesen Positionen gehören nicht allein die Fremdreligionen und die spirituellen beiden mittleren Ebenen zugunsten eines direkten Kurzschlusses zwischen dem göttlichen Willen und konkreten Verhaltensvorschriften ergibt die defizitäre Ethosgestalt eines jeden Fundamentalismus. Wer das skizzierte Modell zu „hierarchisch“ findet, darf gern das, was hier oben steht, nach unten verlagern und umgekehrt. Es handelt sich bei diesem Modell ohnehin nicht um ein rigoroses Deduktionsschema, sondern um einen flexiblen Verweisungszusammenhang, der von jeder Ebene bzw. von dort auftretenden Erfahrungen aus in Bewegung gesetzt werden kann. Auch Diskrepanzen in einem lebendigen Ethos können mit Hilfe des Modells identifiziert werden, so etwa das durch Sitte und Gewohnheit bedingte Festhalten an konkreten Verhaltensweisen, die nicht mehr als adäquate Realisierung des übergeordneten ethischen Prinzips – etwa dem der Nächstenliebe – gelten können, oder die Perseveranz von Prinzipien nach dem zeitbedingtem Wegfall bestimmter Gebote und Verbote, die ehedem fest mit ihnen verknüpft waren; die Sexualmoral ist ein Anschauungsfeld für beide Möglichkeiten. Den vier Ebenen sind entsprechende Stufen in der wissenschaftlichen ethischen Reflexion zuzuordnen: normative Ethik, Prinzipienethik, Wertethik, theologische bzw. philosophische Ethik, wobei jede Stufe die Gegebenheiten auf der ihr vorausliegenden Stufe mit zu reflektieren hat. Als vollstndige Ethik erweist sich somit die alle Stufen bzw. Ebenen integrierende theologische oder philosophische Ethik.

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Angebote aller Art, sondern auch der Aberglaube in vielen Ausformungen, der theoretische und praktische Atheismus und der weit verbreitete Agnostizismus. Hier sieht sich nun der Zeitgenosse zumindest zu einer eigenen Meinungsbildung herausgefordert und eventuell auch zu einer bewussten eigenen Option oder Wahl genötigt, die ihm durch die grundgesetzlich garantierte Religions- und Meinungsfreiheit ja ermöglicht ist. Auch das Bekenntnis zu dem offenbar für viele Intellektuelle besonders attraktiven Agnostizismus, ob es nun auf gründlicher Überlegung oder auf Gedankenlosigkeit und Bequemlichkeit beruht, ist eine solche Wahl. Die kirchliche Verkündigung und Bildungsarbeit sind von Hause aus natürlich eine fortgesetzte Einladung, die existenzielle Wahl im Sinne des Evangeliums zu treffen, obwohl weder sie noch ihr Adressat die Macht über diese Entscheidung haben. In der kirchlichen Kommunikation sollten aber zugleich Kriterien für die Vernunft- und Sachgemäßheit existenzieller Entscheidungen – wie auch immer sie dann ausfallen – entwickelt und vermittelt werden. Ist nicht die Mindestbedingung einer solchen Option, dass der sich empfehlende Kandidat eine einigermaßen klar symbolisierte Vorstellung von der Bestimmung des Menschen, aller Menschen, also von dem tiefsten und letzten Daseinszweck des menschlichen Lebens, anbietet, und nicht etwa nur ein bestimmtes Feeling? Nicht alle hier um Zulauf werbenden Positionen können den gleichen Anspruch auf Qualität und Dignität erheben. Ihre „Leistungsfähigkeit“ ist vielmehr höchst unterschiedlich. Diese Unterschiedlichkeit bei allem gebotenen Respekt herauszuarbeiten, ist eine Grundaufgabe nicht nur der Predigt, sondern besonders auch des Religionsunterrichts27 und der kirchlichen Erwachsenenbildung. b) Man sollte erwarten, dass von der Bestimmung des Menschen – einschließlich der unter 2, a-d angeführten Distinktionen – zwangsläufig die Rede sein muss, wo immer man sich Gedanken über die Bildung des Menschen macht und dabei den Terminus Bildung nicht nur in dem formalen Sinne der Bildungspolitik (Bildungswesen, Bildungsabschluss, Bildungschancen etc.) verwendet. In den klassischen Bildungstheorien 27 Dass hier schon genug geschieht, um z. B. den kategorialen Unterschied zwischen Religiosität und Aberglaube zu verdeutlichen, möchte ich im Blick auf die einschlägigen Lehrpläne bezweifeln. Zu meiner eigenen Theorie des Aberglaubens vgl.: Reiner Preul, So wahr mir Gott helfe! Religion in der modernen Gesellschaft, Darmstadt 2003, 33 ff.

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von Herder bis Humboldt wird man hier auch fündig28, teilweise auch in der so genannten geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Die neuere Erziehungswissenschaft ist hier außerordentlich zurückhaltend, wobei auch Berührungsängste im Verhältnis zur Theologie und zu idealistischem Gedankengut eine Rolle spielen dürften. So bekundet Hartmut von Hentig seine Reserve gegenüber „normativen Menschenbildern“ als Grundlage bildungstheoretischer Überlegungen.29 Ähnlich Jürgen Oelkers, sonst ein bereitwilliger Gesprächspartner der Religionspädagogik: „Eine normative Anthropologie über die Annahme der Bildsamkeit hinaus ist nicht erforderlich.“30 Positiv zum Thema „Bestimmung des Menschen“ äußerte sich dagegen noch Heinrich Roth: „Der Prozeß der Menschwerdung impliziert aber auch die Frage nach der Bestimmung des Menschen, nach dem Bild, das er sich von sich macht, das er sich für sich entwirft. So werden wir auch Einsichten der philosophischen und theologischen Anthropologie einbeziehen müssen.“31 Wie das Zitat und weitere einschlägige Passagen32 zeigen, hat die erfreuliche Offenheit gegenüber dem theologischen Verständnis der Bestimmung des Menschen bei Roth keine Skepsis in Bezug auf die traditionelle pädagogische Fassung des Begriffs als menschlichem Selbstentwurf hervorgerufen. Man darf hier aber theologisch nicht engherzig urteilen, denn auch ein dem Menschen vorgegebenes Bild seiner Bestimmung muss ja von ihm selber bejaht und angeeignet werden und wird insofern auch zu einem Bild, das er sich für sich selbst macht, indem er es für sich gelten lässt. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, dass Roth erstens alle Erziehung als „Mithilfe bei der Erfüllung der Bestimmung des Menschen“ versteht33 und dass er zweitens den Begriff nicht individualistisch engführt: „Die erzieherisch durchdachte Bestimmung des Menschen […] darf sich auf keine andere Bestimmung des Menschen beziehen als auf die, die für den Menschen überhaupt gilt und die die Menschheit sich erarbeitet hat oder 28 Das gilt auch für die in der Wirkungsgeschichte Rousseaus stehenden, inzwischen in Vergessenheit geratenen „Fragmente über Menschenbildung“ (Altona 1805) von Ernst Moritz Arndt. 29 Hartmut von Hentig, Bildung. Ein Essay, Weinheim/Basel (1996) 31999, 22 ff. 30 Jürgen Oelkers, Der Mensch als Maß des Bildungswesens? In: Eilert Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, 118 – 137, dort 126. 31 Heinrich Roth, Pädagogische Anthropologie. Band I: Bildsamkeit und Bestimmung, Hannover 21968, 19. 32 A.a.O. 36, 147 und öfter. 33 A.a.O. 360.

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im Ringen der Weltbilder und Weltdeutungen erarbeiten wird.“34 In der Fortsetzung betont Roth die Unabschließbarkeit der inhaltlichen Frage nach der Bestimmung des Menschen. Damit aber ist dann auch jede zukünftige Bildungstheorie auf das Gespräch mit Theologie und Philosophie angewiesen. An solche Überlegungen lässt sich anknüpfen. Wie auch immer einzelne Pädagogen der Gegenwart sich zum Terminus „Bestimmung des Menschen“ äußern mögen, die damit angezeigte Sachfrage bleibt jedenfalls virulent. Das gilt umso mehr, als der Bildungsbegriff neuerdings wieder auf die pädagogische Tagesordnung gesetzt worden ist. Darauf kann man Bezug nehmen, sowohl in der praktischen kirchlichen Kommunikation als auch auf der Ebene des wissenschaftlichen pädagogisch-theologischen Dialogs. c) Eine dritte Möglichkeit, das christliche Verständnis der Bestimmung des Menschen auf ein schon vorhandenes vitales Interesse zu beziehen, scheint mir in dem Problem der personalen Ganzheit angezeigt zu sein.35 Es begegnet besonders in der Poimenik und in der seelsorgerlichen oder therapeutischen Praxis, nämlich immer dann, wenn es um die Bearbeitung oder Behebung von Störungen des personalen Systems geht. Dieses System, der so genannte „ganze Mensch“, kann mithilfe von theoretischen Anleihen aus verschiedenen empirischen Wissenschaften konzeptionalisiert werden. Die Soziologie liefert das Modell des „homo sociologicus“, der das Problem zu lösen hat, im Umgang mit konfligierenden Rollenerwartungen authentisch zu bleiben, sein Selbst zu konzipieren und lebensgeschichtlich durchzuhalten.36 Auch die ideologische Buntscheckigkeit moderner Individualität, wie sie die Religionssoziologie ans Licht bringt, kann zum persönlichen Problem werden. Aus der Psychologie älteren Zuschnitts ist die Frage zu entnehmen, wie die Vermögen des Menschen – insbesondere Denken, Fühlen, Wollen und Imaginieren – ineinander greifen beziehungsweise miteinander in Einklang gebracht werden können. Die Tiefenpsychologie arbeitet mit psychischen Instanzen wie Es, Ich und Überich und deren spannungsgeladenem Verhältnis, wie es etwa in der Differenz von Ideal-Ich und Real34 Ebd. 35 Vgl. zum Folgenden die einschlägigen Beiträge in: Volker Drehsen u. a. (Hg.), Der „ganze Mensch“. Perspektiven lebensgeschichtlicher Identität, FS Dietrich Rössler, Berlin/New York 1997; darunter auch vom Verf., Der Tod des ganzen Menschen. Luthers Sermon von der Bereitung zum Sterben, a.a.O. 111 – 130. 36 Grundlegend immer noch: Ralf Dahrendorf, Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, (Köln/ Opladen 1959) Wiesbaden 162006.

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Ich sich manifestiert. Die Pädagogik hat immer auch das Dauerproblem einer allseitigen und ausgewogenen Kräftebildung zu bedenken, wobei schon an Pestalozzis Formel von „Kopf, Herz und Hand“ zu erinnern ist. Es ist eine bisher nicht befriedigend gelöste Frage, wie diese verschiedenen Perspektiven noch einmal miteinander zu einer integralen Theorie der Person verbunden werden können.37 Mithilfe all dieser hier nur in vergröberter Form wiedergegebenen Modelle zum Fragmal „ganzer Mensch“ lässt sich dann auch die Pathologie des zeitgenössischen Seelenlebens beschreiben, und es können Möglichkeiten der Therapie, der Fremd- und Selbsthilfe, entwickelt werden. Je mehr man das analytische Instrumentarium verfeinert, desto mehr Fallen und Abgründe der Identitätsgewinnung und -bewahrung werden erkennbar, und entsprechend wächst der Therapiebedarf und das Sortiment der Hilfsangebote. Wer all die genannten Fragestellungen und Erkenntnismittel auf sich selber anwendet, ohne dabei bestimmte Verdrängungsmechanismen zu aktivieren, wird sich jedoch seiner eigenen Bruchstückhaftigkeit schnell bewusst werden. Die Ganzheit der eigenen Person durch eigene Anstrengung herstellen zu wollen, erweist sich als illusionär. Die christliche Vorstellung von der Bestimmung des Menschen könnte sich nun insofern als heilsam erweisen, als sie das Problem der Gewinnung personaler Ganzheit auf eine andere Ebene verlegt. Die bisher genannten Modelle kommen ja allesamt darin überein, dass sie die in Rede stehende Ganzheit als aus Teilen – Elementen oder Faktoren – zusammengesetzt denken. Die Art von Ganzheit, die durch die christlich verstandene Bestimmung des Menschen angeboten wird, ist aber nicht wieder eine systemische Verbindung von Elementen, die durch menschliche Bemühung zusammengehalten und zu funktionaler Zusammenwirkung gebracht werden müssen. Vielmehr wird der Mensch – und zwar der ganze Mensch, soweit unsere empirische Wahrnehmung reicht – im Horizont einer fundamentalen Alternative in den Blick genommen, in welcher er mittels einer wie auch immer zustande kommenden Grundentscheidung sich entweder ganz gewinnt oder an seiner

37 Man beachte schon Dahrendorfs kritische Bemerkung: „Der ganze Mensch entzieht sich nicht nur dem Zugriff einer einzigen Disziplin, sondern muß vielleicht überhaupt eine schemenhafte Gestalt im Hintergrund wissenschaftlichen Bemühens bleiben.“ A.a.O. 14.

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wahren Bestimmung vorbei lebt.38 Ergreift er sie, so mag das Problem seiner empirischen Ganzheit und Gradlinigkeit oder Bruchstückhaftigkeit und Labilität immer noch auf eine Lösung warten, aber es ist relativiert und an einen Ort gestellt, auf welchem nicht mehr um Sein oder Nichtsein, Identität und Ganzheit gerungen wird.39 Es wird zwar nicht vergleichgültigt, aber es wird aushaltbar, zumal es zugleich in die Perspektive einer noch ausstehenden, kraft des Glaubens aber schon im Werden begriffenen endgültigen Vollendung gestellt ist.

6 Fazit: Die „Bestimmung des Menschen“ nach christlichem Verständnis wird kommunikabel und erweist sich als eine außerordentlich hilfreiche sprachliche Figur in der kirchlichen Kommunikation der Gegenwart, wenn man den Ausdruck auf der Grundlage einer Analyse der in ihm enthaltenen alternativen Verstehensmöglichkeiten im biblischen Sinne konkretisiert und als sachhaltig expliziert und so gegen sperrige zeitgenössische Denkgewohnheiten kritisch zur Geltung bringt sowie die auch heute noch gegebenen Zugangsmöglichkeiten nutzt.

38 Nichts anderes bringt Luther mit dem Spitzensatz im „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ (1519) zum Ausdruck: „Darum lass es dir nur nicht aus den Augen nehmen und suche dich nur in Christo und nicht in dir, so wirst du dich ewiglich in ihm finden.“ WA 2, 690. 39 Anzumerken ist, dass auch die hier vorgeschlagene Art, die Ganzheit des Menschen zu denken, in philosophischer Terminologie zur Sprache gebracht werden kann, etwa existentialphilosophisch auf der Grundlage der Differenz von Essenz und Existenz. Vgl. dazu die knappe Skizze bei Paul Tillich, Existentialanalyse und religiöse Symbole, in: Ders., Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (Gesammelte Werke Bd. V), hg. v. Renate Albrecht, Stuttgart 1964, 223 ff. Auch auf Heideggers Ausführungen zum „Ruf des Gewissens“ als Ruf des Daseins in seine Eigentlichkeit kann hier verwiesen werden, vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen (1927) 192006, 272 – 280 (§§ 56 u. 57).

Ekklesiologie – Sensible Schnittstelle von Empirie und Theologie Klaus Tanner „Es wäre gut, eine Dogmatik einmal nicht mit der Gotteslehre, sondern mit der Lehre von der Kirche zu beginnen, um über die innere Logik des dogmatischen Aufbaus Klarheit zu stiften.“1 Die „Lehre von der Kirche“, der Bonhoeffer im Gesamtgebäude theologischer Reflexion verstärktes Gewicht geben wollte, hatte ein spezifisches Profil. So sehr Bonhoeffer in seiner Dissertation aus dem Jahr 1927 darauf insistierte, es handele sich um eine theologische, dogmatische Arbeit, so sehr liegt das Neue seiner Arbeit doch in seinem Versuch, Theorien der damals gerade im Entstehen begriffenen Soziologie fruchtbar zu machen für die Kirchentheorie2. Mit Hegels Lehre vom „objektiven Geist“ im Gepäck3 arbeitete er sich ab an dem Wechselverhältnis von empirisch beschreibbarer Kirche und der Beschreibung in den Begriffen der klassischen Ekklesiologie. Die Soziologie erschien ihm dabei als attraktiver Ausweg, den Problemen zu entkommen, die durch den Problematisierungs- und Relativierungsdruck historischen Denkens4 entstanden waren5. 1 2

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Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, Werke Bd. I, hg. v. Joachim von Soosten, München 1986, 85. Michael Welker, Bonhoeffers wegweisende frühe Ekklesiologie, in: Ders., Theologische Profile, Frankfurt a. M. 2009, 83 – 102, hier 85, hat die Dissertation charakterisiert als „einen verwegenen Versuch, eine Lehre von der Kirche multidisziplinär zu entwickeln“. Bonhoeffer, Sanctorum Communio (s. o. Anm. 1), 63 ff, 140 ff. Die Rezeption Hegels ist vermittelt über Hans Freyer (43, 62), Othmar Spann (45) und Reinhold Seeberg (38). Eilert Herms hat diese Anleihen Bonhoeffers wegen ihres „veralteten und problematischen Gehalts“, ihren „überholten soziologischen Gegensätzen“ kritisiert, betont aber doch die „Richtigkeit und Wichtigkeit der von Bonhoeffer gestellten Aufgabe“. Mit seiner grundsätzlichen Kritik wird dann im zweiten Schritt „die hauseigene Kirchensoziologie der EKD“ gleich miterledigt (Eilert Herms, Religion und Organsiation, in: Ders., Erfahrbare Kirche, Tübingen 1990, 49 – 79, Anm. 10, 51.52). Kurt Nowak, Die „antihistorische Revolution“. Symptome und Folgen der Krise historischer Wertorientierung nach dem Ersten Weltkrieg, in: Horst

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Ernst Lange hatte in seiner von Rüdiger Schloz herausgegebenen Antrittsvorlesung „D. Bonhoeffers Beitrag zur Frage einer verantwortbaren Gestalt der Kirche in der Gegenwart“ das Interesse Bonhoeffers folgendermaßen umschrieben: Bonhoeffer habe aufgrund seines Glaubens an die „Wirklichkeit Gottes“ eben nicht den „Sprung in die Abstraktion“ vollzogen. Er musste, „weil er nach der Wirklichkeit Gottes in der Welt Gottes“ fragte, „darum […] nach der empirischen Kirche fragen“6. Die Gefahr des „Sprungs in die Abstraktion“ ist mit der von Theologen betriebenen Theoriebildung über die Kirche bis heute vollzogen. Auch wenn betont wird, Ekklesiologie und „soziologisch orientierte Kirchentheorie“ dürften nicht „beziehungslos nebeneinander oder gar gegeneinander stehen“7, so kommt doch die Darstellung der „Kirche“ in der Dogmatik meistens weitgehend ohne Bezugnahme auf ihren geschichtlichen Ort und ihre konkrete soziale Gestalt aus. Legitimieren lässt sich das etwa mit der Figur von „Wesen“ und „Erscheinung“, die „Wesensdefinitionen“ sollen unabhängig bleiben von den zufälligen geschichtlichen Bedingungskonstellationen8. Die problembeladene Verhältnisbestimmung von Empirie und Theologie der Kirche hat ihre eigene Geschichte in der protestantischen Theologie. Dietrich Bonhoeffers Doktorvater hatte dem Thema schon

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Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, 133 – 171; Friedrich Wilhelm Graf, Die antihistoristische Revolution in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Jan Rohls/Gunther Wenz (Hg.), Vernunft des Glaubens, Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 1988, 377 – 405. Bonhoeffer will die Soziologie als eine „systematische Wissenschaft“ verstanden wissen, die nach „den letzten Beziehungen sozialer Art“ fragt, nach der „wesenhaften Struktur“ (Sanctorum Communio [s.o. Anm. 1], 16). Max Weber und Ernst Troeltsch werden kritisiert, weil sie letztlich „nur historisch“ interessiert gewesen seien (a.a.O., 17.18, Anm. 2). Der Gegensatz in den „Wesensstrukturen“, an denen Bonhoeffer interessiert ist, ist der von „Atomismus“ und „Gemeinschaft“ bzw. „konkreter Totalität“ (62). Ernst Lange, Kirche für die Welt, in: Ders., Kirche für die Welt. Aufsätze zur Theorie kirchlichen Handelns, hg. v. Rüdiger Schloz in Zusammenarbeit mit Alfred Butenuth, München/Gelnhausen 1981, 19 – 62, 22. Wilfried Hrle, Dogmatik, Berlin 22000, 569. Im Hinblick auf die Kirche gelte es, „Wesen“ und die „Zeitumstände“ bzw. die „zufälligen geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen […] zu unterscheiden“ (a.a.O., 590.591).

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1885 eine eigene Studie9 gewidmet. Unter Begriffen wie „sichtbare“ und „unsichtbare“ beziehungsweise „verborgene“ Kirche ist die Verhältnisbestimmung seit der Reformation immer wieder neu Gegenstand von Kontroversen gewesen.10 In der Evangelischen Theologie begann nach 1970 eine breite empirische Forschung zu den Ausdrucksgestalten, in denen der christliche Glaube faktisch gelebt wird11. In die theologischen und dogmatischen Theoriebildungen im engeren Sinn hat diese Forschung kaum Eingang gefunden. Zur empirischen Gestalt der Kirchen gehört auch ihre Rechtsgestalt: „Religion ist als regelmäßig kollektives Phänomen auf die Organisation durch Recht angewiesen“12. Die Rechtsgestalt der Kirchen mag aus der Perspektive protestantisch-theologischer „Wesensdefinition“ als weniger wichtig erscheinen. De facto kristallisieren sich an der Frage nach der Rechtsgestalt der Kirche die Probleme, die sich aus der Situiertheit von Kirchen und Theologien in ihrem jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Kontext ergeben. Die jüngste Diskussion um die „Staatsleistungen“ ist dafür ein Beispiel. 9 Reinhold Seeberg, Studien zur Geschichte des Begriffes der christlichen Kirche mit besonderer Beziehung auf die Lehre von der sichtbaren und unsichtbaren Kirche, 1885, 141 – 159. 10 Ferdinand Kattenbusch, Die Doppelschichtigkeit in Luthers Kirchenbegriff, 1928; Ernst Kohlmeyer, Die Bedeutung der Kirche für Luther, in: ZKG NF X (1928), 466 – 511; Ernst Rietschel, Das Problem der unsichtbar-sichtbaren Kirche bei Luther, 1932. Die Spuren des Problems in der neueren Theologiegeschichte verfolgte bereits Martin Honecker, Kirche als Gestalt und Ereignis. Die sichtbare Gestalt der Kirche als dogmatisches Problem, 1963. Aus der Perspektive der praktischen Theologie verfaßte Eberhard Hbner einen informativen Überblick über die protestantischen Suchbewegungen nach jener Ekklesiologie, die der theologischen wie der empirischen Dimension der Kirche gerecht zu werden vermag (Ders., Theologie und Empirie der Kirche. Prolegomena zur Praktischen Theologie, 1984); Ulrich Barth, Sichtbare und unsichtbare Kirche, in: Klaus Tanner (Hg.), Christentumstheorie, Leipzig 2008, 179 – 230. 11 Joachim Matthes (Hg.), Kirchenmitgliedschaft im Wandel. Untersuchungen zur Realität der Volkskirche. Beiträge zur zweiten EKD-Umfrage „Was wird aus der Kirche?“, Gütersloh 1990; Andreas Feige, Kirchenmitgliedschaft in der Bundesrepublik, Gütersloh 1990; Jan Hermelink/Thorsten Latzel (Hg.), Kirche empirisch. Ein Werkbuch, Gütersloh 2008. 12 Stefan Korioth, Die Entwicklung der Rechtsformen von Religionsgemeinschaften in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans G. Kippenberg/ Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Die verrechtlichte Religion, Tübingen 2005, 109 – 139, hier 109.

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Zunächst soll ein kurzer Blick auf den Wandel von Recht geworfen werden und dann die Verwobenheit in den jeweiligen Zeitkontext am Beispiel des Verständnisses der kirchlichen Ordnungsvorstellungen kurz beleuchtet werden.

1 Der Jurist Thomas Würtenberger ging in einer kleinen Studie dem Zusammenhang von „Zeitgeist und Recht“ nach. Seine These lautet: „Für Rechtspolitik und Rechtsdogmatik ist von Bedeutung, daß Rechtssetzung, Rechtsvollzug, Norminterpretation und Richterrecht in gewissem Umfang vom sich wandelnden Zeitgeist abhängig sind“13. Auch die theologische Reflexion ist von den historischen und kulturellen Bedingungen nicht ausgenommen. Für die theologischen Normsetzungen in „Dogmatik“ und „Ethik“, für den Vollzug theologischer Reflexion und die alltägliche praktische Urteilsbildung dürfte Ähnliches gelten, was Würtenberger für die Rechtsdogmatik formulierte. Während aber in der Rechtswissenschaft spätestens seit Montesquieus „De L‘esprit des Lois“ von 1748 die Reflexion auf den Zusammenhang von Rechtwandel und Wandel der geistigen Lage zum klassischen Themenbestand juristischer Hermeneutik gehört, finden sich in der theologischen Dogmatik nur wenige Spuren einer vergleichbaren Hermeneutik. In Anknüpfung an Herder und Hegel definierte Würtenberger „Zeitgeist“ als die „geistige Verfassung“ einer Epoche, die das Bewusstsein des Einzelnen prägt. Rechts- und Verfassungsordnungen sind nach Hegel „eine Manifestation des eigentümlichen Geistes eines Volkes“ oder einer Epoche. Diese Veränderungen der „geistigen Verfassung“ einer Epoche stehen in Wechselwirkung mit sozialen und ökonomischen Umbrüchen, „historischen Schlüsselereignissen“ (29), dem gezielten Propagieren neuer weltanschaulicher Programme und politischer Ideen, aber auch mit der Veränderung in der Struktur der Kommunkationsmedien, die Rolle der „geistigen Eliten“ dürfe als Faktor des Wandelns nicht unterschätzt werden. Ein kritischer Zeitgenosse notierte spitzzüngig im 19. Jahrhundert zur Zeitgeistabhängigkeit der Juristen: „Die Juristen blieben nicht hinter dem Zeitgeist zurück. Sie haben das nie getan. Als im 17. Jahrhundert der 13 Thomas Wrtenberger, Zeitgeist und Recht, Tübingen 1987, 14.22 ff.

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graueste Aberglaube Mode war, wetteiferten die Juristen, demselben ihre Dienste anzubieten. Es ist bekannt, daß die Juristenfakultät im Eifer des Hexenwahns die theologischen noch übertraf […]. Als […] die liberale [Mode] aufkam, boten die Juristen auch dieser wieder eifrig ihre Dienste an, und so kam es, daß der deutsche Juristentag im 19. Jahrhundert sich für das Gegenteil von dem begeisterte, wofür sich die Juristen vor zweihundert Jahren begeistert hatten“ – so der Politiker und Schriftsteller Wolfgang Menzel 1869 in seiner Schrift „Kritik des modernen Zeitbewußtseins“.14 Im Hinblick auf die Auslegung des GG nach 1945 beschrieb Würtenberger exemplarisch folgende Verschiebungen und Veränderungen: (1) vom Rechtsstaat zum Sozialstaat; (2) zunehmender Wille zur Partizipation; (3) von der distanziert repäsentativen zur konsensual repräsentativen Demokratie; (4) Erosion des Mehrheitsprinzips – Zunahme und positive Bewertung des zivilen Ungehorsams. Für alle diese Veränderungen lassen sich die parallel laufenden Veränderungen in Schwerpunktsetzungen der Theologie und den Aufgabenzuschreibungen an „die Kirche“ benennen. Wo Würtenberger in Aufnahme der Tradition von Zeitgeist spricht, wird heute der „Kulturbegriff“ verwendet. Exemplarisch wird das deutlich an der Denkschrift, die eine Arbeitsgruppe, die vom Wissenschaftsrat und der Rektorenkonferenz beauftragt wurde, 1990 vorgelegt hat mit dem Titel „Geisteswissenschaften heute“15. Die Autoren schlugen vor, die Aufgabe der „Geisteswissenschaften“ als „Kulturwissenschaften“ fortzuschreiben. Der Kulturbegriff beerbt in der gegenwärtigen Debatte den Geistbegriff. Das zeigt sich auch an dem Paradigma der „Kulturgeschichte“, das in den Geschichtswissenschaften zunehmend an Bedeutung gewonnen hat16. Auch im Protestantismus ist der Kulturbegriff zu neuen Ehren gekommen – nach langen Zeiten theologiepolitischer Verbahnung. Ein Zeichen für diese Rehabilitierung war das Impulspapier „Gestaltung und Kritik. Zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur“, das im Februar 1999 veröffentlicht wurde. In diesem Papier wurde Kultur definiert als 14 A.a.O., 37. 15 Wolfgang Frhwald u. a., Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a. M. 1991. 16 Wolfgang Hardtwig/Hans Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996; Gangolf Hbinger, Die Rückkehr der Kulturgeschichte, in: Christoph Cornelissen (Hg.), Geschichtswissenschaften, Frankfurt a. M. 2000, 162 – 177.

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„die Gesamtheit des gesellchaftlichen Lebens und Handelns […], sofern sie durch menschliche Zeichenbenutzung bestimmt und durch symbolische Kommunikation reproduziert wird“. Kultur sei „der Inbegriff derjenigen gesellschaftlichen Bereiche, für die Sprache und Ausdruckshandeln die Leitmedien sind“17. Diese Definition beerbt stark die neuere Kultursoziologie und Anthropologie in der der Zusammenhang von Religion und Kultur eine entscheidende Rolle spielte. Eine Schlüsselrolle spielt in diesem an kulturellen Prägekräften ausgerichten Zugriff Max Webers Werk. Kultur ist, so lautet seine berühmte Definition, „ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens. Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist […], daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen eigenen Sinn zu verleihen“18. Gestaltendes, sinngebendes Stellungnehmen zur Welt wird konkret als rationales Handeln. Recht ist eine Schlüsselform solch eines kulturellen, rationalen Weltumganges. Kulturentwicklung lässt sich nach Weber nur als multifaktorelles Geschehen verstehen. So ernst er die marxistische Unterbau-ÜberbauTheorie nahm und damit die Relevanz materieller Faktoren, so sehr wehrte er einfache, monokausale Analysen ab. Sein anderes berühmtes Diktum lautet: „Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder‘, welche durch ,Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte“19. Das schrieb Weber in der Einleitung seines Textes „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“, genauer im Kontext seines Fragens nach der Bedeutung von Erlösungsvorstellungen. Bei Weber, wie schon bei Durkheim20, sind Religions- und Kulturanalyse aufs Engste verzahnt21. Im Rahmen seiner Kultursoziologie 17 Kirchenamt der EKD (Hg.), Gestaltung und Kritik zum Verhältnis von Protestantismus und Kultur im neuen Jahrhundert (EKD, Texte 64), Hannover 1999, 18. 18 Max Weber, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 51980, 146 – 214, hier 180. 19 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 7 1978, 252. 20 „Seit langem weiß man, daß die ersten Denksysteme, die sich der Mensch von der Welt und von sich selbst gemacht hat, religiösen Ursprungs sind.“, Emile

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arbeitet Weber eine Typologie von Herrschaftsverhältnissen und eine Rechtssoziologie aus. Betrachtet man Recht und Rechtssprechung in dieser kulturwissenschaftlichen Perspektive, sind sie keine autonomen Größen. Sie sind kulturabhängig, geleitet von Grundüberzeugungen, wandeln sich deshalb auch mit den Veränderungen in der geistigen Lage22.

2 Was sich im Hinblick auf die Rechtsgeschichte als Ganzes konstatieren lässt, gilt auch für das Kirchenrecht. Adolf von Harnack hat in seinem Buch „Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den ersten zwei Jahrhunderten“ es als eine „unverbrüchliche Regel der Verfassungsgeschichte jeder neuaufstrebenden und sich universal entwickelnden öffentlichen Gemeinschaft [bezeichnet], daß sie nicht nur nicht indifferent bleiben kann gegenüber den Gemeinschaften, die sie vorfindet, sondern daß sie auch, latent oder offen, bewußt oder unbewußt, mit ihnen rivalisierend, ihnen ein Element nach dem anderen nachbildet und damit zugleich zu entziehen sucht“.23 Die Wandlungen des Verständnisses von Kirche und Kirchenverfassung und die Veränderungen der kulturellen Lage und politischen

Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M. 1981, 27. 21 Friedrich Jaeger, Der Kulturbegriff im Werk Max Webers und seine Bedeutung für eine moderne Kulturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), 371 – 393. 22 Werner Gephart, Recht als Kultur. Zur kultursoziologischen Analyse des Rechts, Frankfurt a. M. 2006, 33 ff.; Horst Dreier/Eric Hilgendorf (Hg.), Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, Stuttgart 2008 (ARSP Beiheft 113); Pascale Cancik u. a. (Hg.), Konfession im Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2009. Als Beispiel für die neue Aufmerksamkeit, die die „kulturellen Faktoren“ und „weltanschaulich-konfessionellen Aspekte“ der Rechtsentwicklung in der Theologie finden: Christoph Strohm, Calvinismus und Recht, Tübingen 2008. 23 Adolf von Harnack, Entstehung und Entwicklung der Kirchenverfassung und des Kirchenrechts in den ersten zwei Jahrhunderten, Berlin 1910, 19.

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Anschauungen stehen in engen, methodisch allerdings schwer zu bewältigenden Korrelationen24. Mit einigen exemplarischen Schlaglichtern sei das kurz verdeutlicht. Die Unterscheidung zwischen Kirchenrecht im engeren Sinne als das von den Kirchen zur Regelung eigener Angelegenheiten gesetzte Recht und dem Staatskirchenrecht, der Regelung der Außenbeziehungen, lässt sich dabei keineswegs so fein säuberlich trennen, wie das mit späteren dualistischen Rechtstheologien versucht wurde. Faktisch war das staatliche Organisationsrecht der dominante Faktor in der Entwicklung des Kirchenrechts. Wichtige Materien wie das Arbeitsrecht und das Beamtenrecht in der Kirche sind in enger Anlehnung an das staatliche Recht konzipiert. Alle großen Theorien eines dritten, eigenständigen Weges sind sehr viel mehr Modifikationen des staatlichen Rechts als autonome kirchliche Rechtssetzung. Die theologische Rhetorik geht einher mit einer praktischen Gestaltungsschwäche25. Vor diesem Hintergrund hat sich denn auch wieder die Waage geneigt zu Kirchenrechtstheorien, die an einem einheitlichen Rechtsbegriff festhalten und dualistische Ansätze zurückdrängen. Eilert Herms, Wilfried Härle und Karl Schwarz haben mit ihrem großen Projekt zum Kirchenrechtsverständnis im Rahmen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie die Argumente für diese „Rückgewinnung eines einheitlichen Rechtsbegriffs“ entfaltet26 – eine theologische Position, wie sie schon Rudolf Hermann vertreten hatte mit seinem Diktum „Es gibt nur eine Art von Recht, und das ist weltliches Recht“27. Folgt man dieser Argumentationslinie, dann ist jede Ordnung, auch die Rechtsordnung, ein Werk des Menschen. Kirchenrecht ist dann kein „ius divinum“, sondern eine Folgegestalt verantwortlichen Umgangs mit menschlicher 24 Vgl. Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien einer christlichen Rechtsethik, Gütersloh 21999, 430: „Wenn die Kirche sich als dauerhafte Institution ausgestaltet, nimmt sie auch an denjenigen Institutionalisierungsprozessen teil, die sich geschichtlich für andere gesellschaftliche Bereiche ausgebildet haben. Sie benutzt dabei das Recht als eine Form des menschlichen Verhältnisses zur geschichtlichen Wirklichkeit, die diese nach den Gesichtspunkten der Regelhaftigkeit und Erwartungssicherheit zu ordnen versucht.“ 25 Reiner Anselm/Jan Hermelink (Hg.), Der Dritte Weg auf dem Prüfstand. Theologische, rechtliche und ethische Perspektiven des Ideals der Dienstgemeinschaft in der Diakonie, Göttingen 2006. 26 Eilert Herms, Das Kirchenrecht als Thema der theologischen Ethik, in: ZevKr 28 (1983), 199 – 277. 27 Rudolf Hermann, Theologie des Rechtes? Probleme der neuern Kirchenrechtslehre, in: NZSTh 9 (1967), 262 – 274.

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Freiheit. Als eine Formgebung durch menschliches Handeln ist sie wie alles Handeln situations- und kulturspezifisch geprägt. Auch das Kirchenrecht gewinnt seine konkrete Gestalt nicht in einem Jenseits der geschichtlichen Welt, sondern in ihr mit den jeweils zeitspezifischen Prägungen. Ein kurzer Blick in die Geschichte soll das illustrieren. In den protestantischen Territorien wird das kanonische Recht ersetzt durch Kirchenordnungen, die in den Amtsstuben der Fürsten und der Städte geschrieben werden. Die Landesordnungen der vorreformatorischen Zeit sind das Modell, an dem sich der Neubau des Kirchenwesens orientiert. Die Konsistorien als landesherrliche Kirchenverwaltungen werden gebildet, in denen Juristen und Theologen eng zusammenarbeiten. Der Wandel im Verständnis der politischen Ordnung, wie er unter dem Schlagwort „Absolutismus“ zusammengefasst werden kann, führt zur Theorie des Territorialismus. Die durchgängige Orientierung der Staatsaufgabe am „bonum commune“ führt zu einer Neukonzeption des landesherrlichen Kirchenregiments, in der die Souveränität des Herrschers im Zentrum steht. Mit dem Kollegialismus wird der geistlichen Selbstverwaltung wieder ein höheres Maß an körperschaftlicher Autonomie eingeräumt. Zwar wird Kirche unter dem Vorzeichen des Vereinsgedankens interpretiert, dabei aber festgehalten, dass die Kirche sich von anderen bürgerlichen Vereinen unterscheidet, insofern die Beziehung jedes Gläubigen auf Christus zum Gedanken einer prinzipiellen Gleichheit führt. Naturrechtliche Theorien spielen dabei jeweils im Hintergrund eine Rolle. Das allgemeine preußische Landrecht von 1794 formuliert einen Regelzusammenhang, der auf eine Vielzahl innerkirchlicher Rechtsverhältnisse durchgreift, die Konsistorien unter die Direktion des Staatsministeriums stellt, die Geistlichen den Staatsbeamten gleichstellt und insgesamt ein hohes Niveau polizeistaatlicher Kontrolle der Religionsangelegenheiten etabliert28. Mit den Stein’schen Reformen wird dann die organisatorische Einbindung des Kirchenwesens in den absolutistischen Staat vollendet. Günter Holstein sprach von einer „Ueberflutung“ des Kirchenwesens mit „staatsinstitutionellen Elementen“29, die nach den Befreiungskriegen und der Erweckungsbewegung eine Gegenbewegung auf den 28 Zur Genese vgl. Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004. 29 Günter Holstein, Die Grundlagen des Evangelischen Kirchenrechts, Tübingen 1928, 116.

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Plan rief, die eine Trennung von Kirche und Staat oder wenigstens eine stärkere Eigenständigkeit forderte. In diesen Suchbewegungen zeigen sich wiederum die Einflüsse der geistigen Gesamtlage. Assoziationen, der Vereinsgedanke30, Vertragstheorien werden wichtig, der Reich-Gottesgedanke wird im Anschluss an Kant ethisiert und ein neuer, durch die Romantik gestärkter Glaube an die Möglichkeit eines harmonischen Ausgleiches zwischen Individuum und Gemeinschaft entsteht in Gestalt der organischen Gemeinschaftstheorien. Grundgedanken des politischen und theologischen Liberalismus, die vor allem am Individuum ausgerichtet sind, profilieren sich im Wechselspiel mit konservativen Theorien, die den überindividuellen Stiftungscharakter der Kirche betonen. Im Suchen nach neuen sozialen Formen lässt sich im gesamten Vormärz, in der Zeit der Revolution und danach eine enge Verzahnung von allgemeinen politischen Leitideen, Rechts- und Verfassungskonzeptionen und Kirchentheorien beobachten. Schleiermacher, der sich seit 1804 immer wieder zu Fragen der Kirchenreform geäußert hat, formulierte dies in seiner praktischen Theologie explizit: Die verschiedenen Verfassungen in der evangelischen Kirche hängen zusammen mit „den Umständen unter welchen sich die Kirche gebildet hat“31. Schleiermacher, der auch zu einer treibenden Kraft der Kirchenunion wird, privilegiert in seinen Analysen von Modellen der Kirchenordnung das Synodal- oder Presbyterialsystem. Es entspreche am meisten der protestantischen Auffassung vom Priestertum aller Gläubigen. Freiheit und Gleichheit sind für ihn aus inneren Gründen des protestantischen Selbstverständnisses zentrale Kriterien für die Gestaltung von Ordnungs- und Rechtsformen in der Kirche. Er plädiert für die Trennung von Kirche und Staat, um die Kirche aus dem polizei-

30 Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, 174 – 205; Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997; Ulrich Rosenhagen, Von der sich selbst genügenden kleinen Welt zum opferfähigen Gemeinsinn des Wirtschaftsbürgers. Genossenschaftsvorstellungen im liberalen Protestantismus des 19. Jahrhunderts bei Victor Aime Huber und Otto von Gierke, in: Klaus Tanner (Hg.), Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe. Beiträge zum sozialen Protestantismus im 19. Jahrhundert, Leipzig 2000, 135 – 153. 31 Friedrich Schleiermacher, Praktische Theologie, Berlin 1826, 556.

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staatlichen Zwangskorsett zu befreien. Ein „gezwungener Christ“ sei „ein Unding“.32 Diese Stichworte sind bei aller theologischen Legitimation aber zugleich Schlüsselbegriffe des Zeitgeistes, des kulturellen Wandels nach der französischen Revolution. Bürgerliche Verfassungsbewegung und kirchliches Verfassungsdenken erweisen sich einmal mehr als eng verknüpft. Die Forderung nach Demokratisierung konkretisiert sich in den Diskussionen um die Staatsverfassung wie die Kirchenverfassung. Die Einführung des Synodalprinzips – durch Staatsgesetze – steht in Wechselwirkung zu den Forderungen nach politischer Partizipation im Staat. Recht wird nach der Aufklärung zur Ermöglichungsbedingung von Freiheit. Diese grundlegende Funktion des Rechtsgedankens, das Zusammenbestehen der Freiheit des Einen mit der Freiheit des Anderen zu sichern, gilt in Staat und Kirche gleichermaßen. Wolfgang Huber hat in einer Studie zu Schleiermachers Reformprogrammen für die Kirchenverfassung festgestellt: „Schleiermachers Überlegungen zur Kirchenverfassung spiegeln die Situation des Bürgertums zu Beginn des 19. Jahrhunderts und sind selbst ein Teil des Emanzipationsprozesses, in dem die bürgerliche Gesellschaft sich vom Obrigkeitsstaat des Absolutismus zu befreien sucht“33. Blickt man auf das zwanzigste Jahrhundert, so sind ebenfalls die kirchenrechtlichen Weichenstellungen eng verknüpft mit den politischen Prozessen. Mit der ersten parlamentarischen Demokratie auf dem Boden des Reiches wird das landesherrliche Kirchenregiment beendet. Mit der Weimarer Reichsverfassung wird der Raum eröffnet für eine eigenständige Organisation der Kirche. Die Selbständigkeit der Kirche wird nicht erst mit Barmen zum Thema. Das Fundament für die Stellung der Kirchen bis in die Gegenwart bilden die über Artikel 140 GG inkorporierten Artikel 136 bis 139 und 141 der Weimarer Reichsverfassung. Eine Schlüsselbedeutung hat dabei der Art 137 WRV. In ihm wird einerseits dem Modell der Staatskirche eine Absage erteilt, andererseits den „Religionsgesellschaften“ der Status von „Körperschaften des öffentlichen Rechts“34 eingeräumt. Sie werden 32 A.a.O., 669. 33 Wolfgang Huber, Schleiermacher und die Reform der Kirchenverfassung, in: Festschrift für E.R. Huber, Göttingen 1973, 57 – 74. 34 Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften. Studien zur Rechtsstellung der nach Art. 137 Abs. 5 WRV korporierten Religionsgesellschaften in Deutschland und in der EU, Berlin 2003.

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damit dezidiert aus dem Bereich privatrechtlicher Regelungen herausgenommen. Zugleich wird damit ein besonderes Kooperationsverhältnis zwischen Staat und Kirchen begründet, in dem den Kirchen Vorrechte und Privilegien eingeräumt werden, auch wenn dieser Körperschaftsbegriff aus juristischer Sicht „nicht präzis ist und die Rechtslage mehr verdunkelt als erhellt“35. Gewonnen wurde der Begriff am Modell der großen christlichen Kirchen, unbestritten ist aber „daß der Körperschaftsstatus allen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften offensteht“36. Aber auch die Barmer Theologische Erklärung, von der entscheidende Impulse für die Suche nach einer eigenständigen Rechtstheologie ausgingen37, ist eingebunden in die historisch-politische Konstellation jener Jahre nach 1933 und ist geprägt durch die Auseinandersetzung mit dem totalitären politischen Programm des Nationalsozialismus. Wenn nach 1945 von einem „Öffentlichkeitsanspruch der Kirche“38 gesprochen wurde, so wird ein Begriff verwendet, der nun wahrhaftig nicht ein Schlüsselbegriff kirchlicher und theologischer Reflexion in der Neuzeit war. Er ist eine Frucht der Aufklärung und der demokratischen Bewegung, der sein Profil in den Wandlungsprozessen von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft erhielt. Er wird im Kirchenrecht dann angeeignet. Mit ihm wird nichts bezeichnet, was den Kirchen exklusiv zusteht, sondern was in einer freiheitsverbürgenden Verfassungsordnung für andere Institutionen des Gemeinwesens auch gilt. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen wurde in dem Maße gestärkt, als es gelang, den Gedanken der grundrechtsverbürgten Freiheit durchzusetzen. Auch für die jüngere Gegenwart gilt: Der kulturelle Wandel verändert die Wahrnehmung der Rechtsgestalt der Kirchen. Hier befinden wir uns mitten in einer sich schnell verändernden Gesamtlage. Die kritischen Anfragen, die verstärkt an das „klassische“ Staatskirchenrecht gestellt werden, sind nur die Oberflächenbewegung eines tiefen religi35 Axel von Campenhausen, Staatskirchenrecht, München 21983, 95.96. 36 A.a.O., 102. 37 Axel von Campenhausen, Das Problem der Rechtsgestalt in ihrer Spannung zwischen Empirie und Anspruch, in: Alfred Burgsmller (Hg.), Kirche als „Gemeinde von Brüdern“. Barmen III Bd. 1, Gütersloh 1980, 47 – 72; HansRichard Reuter, Rechtsethik in theologischer Perspektive, Gütersloh 1996. 38 Vgl. Wolfgang Huber, Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973; Götz Klostermann, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen. Rechtsgrundlagen im kirchlichen und staatlichen Recht. Eine Untersuchung zum öffentlichen Wirken der evangelischen Kirchen in der BRD, Tübingen 2000.

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onskulturellen Wandels, der sich in Deutschland vollzogen hat und vollzieht. Auf dem Feld der Bildungspolitik lässt sich die Dynamik des kulturellen Wandels ebenfalls beobachten. Bildungsprozesse sind eine Schnittstelle zwischen öffentlichen Interessen und individueller Identitätsbildung. Sowohl die Rückbindung an politische Prozesse wie das Verwobensein mit der Sphäre von Privatheit und Familie spielen am Ort der Schule eine konstitutive Rolle. Im Streit um die Bedeutung von Religionsunterricht, Ethikunterricht, Philosophieunterricht und um das sogenannte Brandenburger Modell „Lebenskunde-Ethik-Religionskunde“39 und auch an den heftigen Auseinandersetzungen, die 2008/ 2009 der gescheiterte Volksentscheid in Berlin zur Frage der Einführung des Religionsunterrichts als Wahlpflichtfach auslöste40, zeigt sich der Verlust alter Selbstverständlichkeit und der Bedeutungszuwachs anderer kultureller Traditionen. Die Kritik an der rechtlich gesicherten Sonderstellung des Religionsunterrichts nimmt zu. Die Veränderungskraft, die vom kulturellen Wandel für das Selbstverständnis der Kirchen und für die politische Rolle der Kirche ausgeht, lässt sich beobachten an dem Problemdruck, der entstanden ist durch die europäische Integration und den immer stärkeren Ausbau des Europarechts. Zwar ist mittlerweile das Steuerungsmedium Geld europäisiert. Im Geldbeutel haben alle den Euro, im Geisteshaushalt und in den Köpfen aber dominieren weitgehend noch immer nationalstaatlich gefärbte Ideenkonstrukte. Auf dem Feld von Theologien und Kirchen zeigt sich das im deutschen Protestantismus zum Beispiel an der enormen Bedeutung, die die landeskirchlichen Strukturen haben. Es sind Strukturen, die zwar „nur“ historisch zu verstehen sind, aber de facto eine enorme Prägekraft ausüben auf die Glaubenskommunikation. In der dogmatischen Beschreibung der Kirche spielen diese Faktoren ebenso wenig eine Rolle wie die rechtlichen Rahmenbedingungen, die entscheidende Fundamente kirchlicher Arbeit sichern, etwa die Finanzierung kirchlicher Arbeitsmöglichkeiten (Kirchensteuern) oder die Aus39 Wolfgang Huber/Reiner Anselm, Religion oder Ethik. Ein Beitrag zur Diskussion um die Zukunft von Religionsunterricht und Ethikunterricht, München 1995; Wolfgang Huber, Religion und Ethik in der Schule. Zur grundsätzlichen Bedeutung einer aktuellen Debatte, in: ZEE 40 (1996), 82 – 93; Christoph Gestrich (Hg.), Ethik ohne Religion?, Berlin 1996; Stephanie Rehm (Hg.), Staat und Weltanschauung, Donauwörth 1997. 40 Rolf Schieder, Religionsunterricht in Berlin nach dem Volksentscheid, in: ZEE 54 (2010), 304 – 309.

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bildung von Pfarrerinnen und Pfarrern an staatlich finanzierten Universitäten. Insgesamt geht von der europäischen Einigung ein Zug zur Delegitimierung des deutschen Systems, aus denn das deutsche Modell des Staatskirchenrechts stellt in Europa einen Sonderfall dar, dessen „Sinn“ jenseits unserer Grenzen nur schwer vermittelbar ist. Die Europäische Union hat zwar keine direkten religionsrechtlichen Konsequenzen. Es sind weniger direkte Wirkungen als mittelbare Wirkungen, welche die durch Art. 137 III WRV gesicherte Selbstverwaltung der Kirchen unterhöhlen können. Beispiele sind EU-Richtlinien im Bereich des Datenschutzes oder die Verordnung über ein europäisches Vereinsstatut. Die Garantie des freien Personenverkehrs und der Freizügigkeit von Dienstleistungen hat indirekte Auswirkungen. Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen tangieren die Kirche genauso wie andere EG-rechtliche Vorgaben für das Arbeitsrecht. Die Personalhoheit, die über das kirchliche Selbstbestimmungsrecht garantiert wurde, gilt nicht mehr in gleicher, extensiver Weise unter den Bedingungen des europäischen Arbeitsrechts. Die Diakonie als großer Arbeitgeber im Sozialbereich ist im Europäischen Kontext ebenfalls ein Ausnahmefall. Sie wird in der Perspektive des Europarechts nur noch als ein Dienstleister unter anderen gesehen. Auch hier gerät das kirchliche Selbstbestimmungsrecht unter Druck. Die Dominanz Frankreichs mit seinen laizistischen Vorstellungen bildet ein eigenes Erosionspotential für das deutsche System. Christoph Link thematisierte schon 1997 in einem Artikel „Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses“ die Sorgen, die man sich in Kirchenkreisen im Hinblick auf die immer stärkere Durchdringung des deutschen Rechtes durch Europarecht machte. Er konstatierte: „In der Tat sind indes die kirchlichen Besorgnisse nicht unberechtigt“41. Kirchen und Religion sind im Gemeinschaftsrecht nur unzureichend thematisiert und geschützt. Zwar ist das Recht auf individuelle Religionsfreiheit geschützt, aber nicht die korporative Religionsfreiheit. Die Religionsthematik stellt einen prekären, problembeladenen Punkt des Europarechts dar. Im Hinblick auf das deutsche Staatskirchenrecht wird diskutiert, ob und wie es in Richtung auf ein allgemeines Religionsverfassungsrecht 41 Christoph Link, Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses, in: ZevKr 42, 1997, 130 – 154, hier 131.

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weiterentwickelt werden kann, das weniger von Art. 137 III WRV ausgeht, als bei Artikel 4 GG als „lex regia“ ansetzt.42 Eine schärfere Kritik sieht im jetzigen Staatskirchenrecht ein Bollwerk, das die Privilegierung der beiden großen Kirchen schützt. Ob eine derartige Kritik berechtigt ist, kann mit Recht gefragt werden. Gleichwohl lässt sich damit nicht aus der Welt bringen, dass das überkommene Staatskirchenrecht eine wichtige Grundlage für die Arbeit der Kirchen, in den intellektuellen und politischen Eliten an Plausibilität verloren hat.

3 In der Bundesrepublik der Gegenwart werden die Konflikte um die öffentliche Rolle der religiösen Traditionen und der Kirchen ausgetragen im Rahmen einer Verfassungsordnung, die einst gestaltet wurde auf dem Boden einer ganz anderen weltanschaulichen Homogenität. In Gestalt ihrer juristischen Positivierung wirkt diese Ausgangslage bis in die Gegenwart hinein. Ein Blick auf die Anfänge der Bundesrepublik zeigt: Das Christentum galt nach 1945 weithin unangefochten als entscheidende kulturprägende Kraft. Ein Ausspruch K. Adenauers aus dem August 1948 gibt die mehrheitlich in den politischen Eliten geteilte Stimmungslage wider: „Wir wollen von den geistigen Grundlagen aus, die das abendländische Christentum im Laufe vieler Jahrhunderte geschaffen hat, in Deutschland das politische Leben neu gestalten […] Die persönliche Freiheit ist und bleibt das höchste Gut des Menschen! […] Dieser wesentliche Satz des abendländischen Christentums vom Wert und der Würde eines jeden einzelnen Menschen, von der Freiheit der Person ist eine der Hauptthesen unserer politischen Arbeit.“43 42 Vgl. den Literaturbericht von Michael Heinig, Zwischen Tradition und Transformation. Das deutsche Staatskirchenrecht auf der Schwelle zum Europäischen Religionsverfassungsrecht, in: ZEE 43 (1999), 294 – 312. Eine wichtige Weichenstellung erfolgte mit dem Zeugen-Jehovas-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2000, das von der „grundrechtlichen Freiheit“ des Art. 4. Abs. 1 aus argumentiert (BverGE 102, 370 ff.). Vgl. auch Michael Heinig/ Christian Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? Ein begriffspolitischer Grundsatzstreit, Tübingen 2007; Michael Heinig, Zukunftstauglich und doch in Frage gestellt. Das deutsche Religionsrecht angesichts gegenwärtiger Herausforderungen, in: Deutsches Anwaltsblatt 2010, 579 – 584. 43 Konrad Adenauer, Die CDU. Weltanschauungspartei im christlichen Europa, zitiert nach Günther Rther (Hg.), Geschichte der christlich-demokratischen und christlich-sozialen Bewegungen in Deutschland, Teil II, Köln 1986, 333.

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Die bemühten Diskussionen in der Gegenwart um „christliche Werte“ oder „Leitkultur“ sind Indizien für die Änderung der Gesamtlage. Zuwanderungsschübe und die „politische Eingemeindung“ ostdeutscher Regionen, in denen Christen die Minderheit sind, haben die Kultur verändert ebenso wie der demographische Wandel44. In der jüngeren Abgeordnetengeneration hat quer durch die Parteien die Kirchenbindung abgenommen. Der Generalsekretär der FDP Christian Lindner sinnierte im Januar 2011 öffentlich über die nachlassende Prägekraft von „Religion“ und verband damit die Kritik am deutschen Staatskirchenrecht. In der SPD wurde eine Plattform für Atheisten gegründet. Nachdem der Parteivorstand am 9. Mai 2011 gegen die Gründung votierte, wurde die Internetseite spd-laizisten.de gesperrt. Die Gruppe firmiert nun unter laizistische-sozis.de. Bei den Grünen in Bayern wurde im Dezember 2010 (17.12.) zur Gründung eines Landesarbeitskreises „Laizismus“ in die Landesgeschäftsstelle eingeladen. In einem internen Text war zu lesen: „Der LAK Laizismus soll bayerische Grüne versammeln, die sich für die Trennung von Kirche und Staat engagieren, kirchliche Privilegien abschaffen und das Verfassungsgebot einer säkularen Gesellschaft umsetzen wollen. Das beschert uns einen bunten Strauß an Themen, genannt seien hier nur beispielsweise die Zahlungen des Staates an die Kirchen aufgrund der Konkordate, der Religionsunterricht, religiöse Symbole in öffentlichen Gebäuden, die Privilegierung von Tendenzbetrieben, der Kirchensteuereinzug durch das staatliche Finanzamt, die Bezahlung der Bischöfe durch den Staat, der Einfluss und die Privilegien der Kirchen im öffentlichen Rundfunk, der Status der Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts etc etc etc.“ Die „Grüne Jugend“ verabschiedete auf ihrem Bundeskongress, der vom 13.–15. Mai 2011 in Würzburg stattfand, eine Stellungnahme zum Thema „Säkularismus“, in der gefordert wird: „Noch bestehende Verflechtungen zwischen dem Staat und bestimmten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften müssen aufgelöst werden. Auf diese Weise werden bestehende Ungerechtigkeit abgebaut und Rechtssicherheit geschaffen.“45

44 Zum enormen Veränderungsdruck, der vom demographischen Wandel für die Grundlagen unseres Zusammenlebens ausgeht, pars pro toto Corinne Michaela Flick (Hg.), Das demographische Problem als Gefahr für Rechtskultur und Wirtschaft, München/Frankfurt a. M. 2010. 45 https://www.gruene-jugend.de/themen/demokratie/881384.html.

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Insgesamt lässt sich eine zunehmende Organisationskraft atheistischer und laizister Milieus in der Bundesrepublik beobachten46. Begonnen hat ein Suchprozess, wie die Interessen der circa 4 Millionen in Deutschland lebenden Muslime besser berücksichtigt und in die politischen Diskussionen eingebracht werden können. Deutschland hat seit 2006 aufgrund der Initiative des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble eine Islamkonferenz47. Auf der Ebene der Wissenschaftsorganisation ist durch eine Empfehlung des Wissenschaftsrates im Januar 2010 ein Prozess des Ausbaus islamischer Studien in den Universitäten in Gang gekommen, der Auswirkungen haben wird auf die Stellung der „klassischen“ Theologien in der Universität48. Dezidiert wird in den Empfehlungen ein Zusammenhang hergestellt zwischen der veränderten kulturellen Lage, die gekennzeichnet sei durch eine „wachsende Pluralität der religiösen Bekenntnisse in Deutschland“, und der mangelnden Repräsentanz dieser Vielfalt im „Wissenschaftssystem“. Die „staatskirchenrechtlichen Bindungen“, die den Status der theologischen Fakultäten sichern, werden als Instrumente der „Fixierung auf den Status quo“ dargestellt, die die nötige „bedarfsgerechte Anpassung“ auf der Ebene der Wissenschaften behindern können. Auch wenn es vorsichtig formuliert ist, so ist doch die Botschaft klar: Es gibt eine nicht mehr zu rechtfertigende Verteilung von Ressourcen im Wissenschaftssystem zugunsten der klassischen katholischen und evangelischen Fakultäten. Wenn nach 1945 wie bei Adenauer vom „Christentum“ gesprochen wurde, dann bezeichnete das die beiden großen Konfessionen, die römisch-katholische Kirche einerseits, die protestantischen Landeskirchen andererseits. Die deutsche Kultur war seit der Reformation bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts durch diese Bikonfessionalität geprägt. Die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion wurde vor 46 Vgl. z.B die Gründung der Giordano Bruno Stiftung im Jahr 2004; (www.giordano-bruno-stiftung.de). Die Stiftung „belebt“ propagandistisch gezielt auch alte Debatten neu, etwa indem sie Peter Singer in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt ihren Ethik-Preis verleiht. Im April 2011 wurde im Umkreis der humanistischen Union und mit Unterstützung der GiordanoBruno-Stiftung ein „Informationsportal Staatsleistungen“ eingerichtet, das der Agitation gegen die Kirchen dient (www.staatsleistungen.de). 47 www.deutsche-islam-konferenz.de. 48 Wissenschaftsrat (Hg.), Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen, Januar 2010.

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diesem Hintergrund weitgehend nur diskutiert als Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche(n). Dementsprechend wurde auch ein Staatskirchenrecht ausgebildet. Die Vertreter der beiden großen Konfessionen waren anerkannt als die berufenen Sprecher in Sachen Religion. Die Gleichsetzung mit „Christentum“ erschien plausibel angesichts der Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen angehörte. Der Begriff „Volkskirche“ wurde dementsprechend reduktionistisch verstanden im Sinne einer Bezeichnung für numerisch fassbare Mehrheitsverhältnisse. Nach den Jahren des nationalsozialistischen Gewaltregimes, in denen einzelne Gruppen in den Kirchen aktiv im Widerstand tätig gewesen waren, galten die Kirchen für viele Deutsche, aber auch für die Vertreter der Besatzungsmächte, als Repräsentanten des „besseren Deutschland“. Diese Sicht legitimierte in den Augen der Zeitgenossen den kirchlichen Anspruch, zu grundlegenden Fragen des Zusammenlebens Stellung zu nehmen49, führte zu einer verfassungsrechtlich sehr starken Stellung der Kirchen und zu einer breiten öffentlichen Anerkennung ihrer politischen Bedeutung50. Noch nahezu 25 Jahre nach Kriegsende urteilte der Jurist Ernst Gottfried Mahrenholz: Die Kirchen „nehmen im politischen Establishment der Bundesrepublik […] die erste Stelle ein“51. Heute haben wir im Hinblick auf die religionskulturelle Landschaft eine gegenüber den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts stark veränderte Situation. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit haben sich gerade an diesem Punkt gravierend auseinanderentwickelt. Die Religionslandschaft hat sich im Westen vor allem durch Zuwanderungsschübe pluralisiert. Es gibt Kommunen, in denen Muslime die zweite große Konfessionsgemeinschaft nach einer christlichen Kirche bilden. Die deutsche Vereinigung hat zu einem weiteren Anwachsen der geistigen und kulturellen Inhomogenität geführt. Im bevölkerungsmäßig kleineren Teil der Bundesrepublik, auf dem Boden der ehemaligen DDR, sind die Kirchen zwar auch heute noch die größten Personenverbände mit einer dichten organisatorischen Infrastruktur. Gleichwohl 49 Ausformuliert wurde er im protestantischen Bereich im Modus der Selbstlegitimation in Form des sogenannten „Öffentlichkeitsanspruchs“ (vgl. Huber, Kirche und Öffentlichkeit [s.o. Anm. 37]). 50 Frederic Spotts, Kirchen und Politik in Deutschland, Stuttgart 1976. 51 Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Kirchen in der Gesellschaft der Bundesrepublik, Hannover l969, 31.

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sind die Christen eine Minderheit im Verhältnis zu den sogenannten „Konfessionslosen“, die zum Teil konfessorisch an ihrem Atheismus festhalten52. Durch die friedliche Revolution von 1989, in der Vertreter der christlichen Kirchen eine entscheidende Rolle spielten, sind Anlässe für neue Problematisierungsschübe in den religionskulturellen Debatten entstanden. An der breiten öffentlichen Diskussion, die das Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts auslöste, zeigte sich deutlich die gegenüber der Zeit nach 1949 veränderte Stimmungslage. Lautstark wurde öffentlich bestritten, dass es noch sinnvoll sei, einen Zusammenhang von Christentum und Kultur zu behaupten. Robert Leicht äußerte in der „Zeit“: „Wir leben in einer bis auf die Knochen säkularisierten, aber deswegen keineswegs gänzlich aufgeklärten Gesellschaft, die dem Materialismus, Konsumismus und der reinen Selbstverwirklichung huldigt. […] Die Kirchen müßten sich gegen die Wortblasen von der christlich-abendländischen Tradition wenden, weil sie wissen, daß es diese gute und heile Tradition nie gegeben hat.“53 Daniel Cohn-Bendit postulierte schlicht: Das „ganze Gerede über die christliche Grundlage unserer Kultur ist Unsinn“54.Und in der „mitteldeutschen Zeitung“ konnte man lesen: „Unsere Gesellschaft zudem als allein christlich geprägt zu bezeichnen, entspricht längst nicht mehr der Realität. Die religiösen Bindungen der Menschen haben rapide nachgelassen, im Osten wie im Westen. Der Begriff ,multikulturelle Gesellschaft‘ spiegelt weitaus besser die Realität. Deshalb gebietet sich größtmögliche Toleranz“55. Auch die Gegenposition wurde weiterhin vertreten: Für Rupert Scholz gehört „das christlich-abendländische Gedankengut in seiner ganzen und jahrhundertelang bewährten Fülle 52 Vgl. dazu das Kapitel „Der Blick von außen: Die Konfessionslosen“ in: Klaus Engelhardt/Hermann von Loewenich/Peter Steinacker (Hg.), Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1997, 306 – 342; Zur Konfessionslosigkeit in (Ost-) Deutschland. Ein Werkstattbericht, Berlin 1994; E. Neubert, „Gründlich ausgetrieben“. Eine Studie zum Profil und zur psychosozialen, kulturellen und religiösen Situation von Konfessionslosigkeit in Ostdeutschland und den Voraussetzungen kirchlicher Arbeit (Mission), Berlin 1996; Wolfgang Huber/Johannes Friedrich/Peter Steinacker (Hg.): Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, Gütersloh 2006, insbesondere die Beiträge von Wolfgang Pittkowski, Konfessionslose in Deutschland, 89 ff., und Friederike Benthaus-Apel, Lebensstile Konfessionsloser – im Vergleich mit Lebensstilen Evangelischer, 237 ff. 53 Robert Leicht, in: Die Zeit 18. 8. 1995. 54 Daniel Cohn-Bendit, Unsinniges Gerede, in: Wochenpost 17.8.95. 55 Heinz Verfrth, in: Mitteldeutsche Zeitung 12.8.95.

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[…] zu den Grundlagen unserer gesamten Werte- und Verfassungsordnung“. Er kritisiert das Urteil, weil es diese „Institution“ beschädige.56 Und im „Hamburger Abendblatt“ war zu lesen: „Was verdankt Deutschland dem Christentum? Es verdankt ihm seine Kultur, seine Rechtsordnung, eine liberale Gesetzgebung, die Menschenrechte, den sozialen Ausgleich. […] Immerhin gehören aber noch 28 Millionen Deutsche der evangelischen und ebenso viele der katholischen Kirche an. Das sind zusammen 70 % der Bevölkerung“57. Arnd Brummer stellte in der Zeitung „Das Sonntagsblatt“ zu Recht fest: „Das Urteil ist ein Attest. Die Richter bescheinigen den Deutschen, in welcher Verfassung, in welcher Welt sie leben. Sie bestätigen, wie verbreitet die Ansicht in unserer Gesellschaft ist, Toleranz und Liberalität sei mit Neutralisierung aller Werte und der Beseitigung ihrer Spuren in öffentlichen Räumen gleichzusetzen. Als kleinster Nenner demokratischen, kulturellen und religiösen Miteinanders erscheint die blanke Wand“58. Die Belege verdeutlichen: Der durch dieses Urteil ausgelöste Streit ist nur die Oberflächenbewegung, die sich aus der Spannung ergibt zwischen sehr unterschiedlichen Urteilen über unsere kulturelle Herkunftsgeschichte und dementsprechend die Traditionen und Quellen, aus denen sich die Orientierungssuche speisen kann. Das alles sind nicht nur Probleme, die Theologen interessieren müssen, auch wenn immer wieder der Eindruck erzeugt wird, als ginge es einigen kirchlichen Interessenvertretern nur darum, überkommene Privilegien ihrer Institutionen zu verteidigen. Die Einstellungen zu Religionen und Kirchen sind ein Indikator für Umbrüche in unserer politischen Kultur. An ihnen lässt sich nur besonders deutlich ablesen, was sonst auch gilt: Wir leben zwar in den gleichen ökonomischen und politischen Institutionen und Strukturen. Aber die Mentalitäten, Wahrnehmungs- und Beurteilungsmuster im Umgang mit dem institutionellen Grundgerüst unserer Gesellschaft sind sehr unterschiedlich. Der Streit um die Rolle der Kirchen ist eine Erscheinungsweise der in der Gegenwart an vielen Orten diskutierten Frage: Wie lassen sich unter den Bedingungen einer pluralistischen, ausdifferenzierten, über Geld und Recht gesteuerten Gesellschaft noch moralische Milieus organisieren, in denen ein Orientierungswissen kommuniziert und Lebensformen angeeignet, stabilisiert 56 Rupert Scholz, in: Welt am Sonntag 13.8.95. 57 Klaus Kramer, Das Kreuz – ein Ärgernis? in: Hamburger Abendblatt 11.8.95. 58 Arnd Brummer, Das Kreuz bleibt eine Zumutung, in: Das Sonntagsblatt 33, 18. 8. 1995, 1.

Ekklesiologie – Sensible Schnittstelle von Empirie und Theologie

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oder verändert werden können, die nicht direkt mit den Gesetzlichkeiten von Markt und staatlich-administrativem Handeln generiert werden können? Wir wissen zwar: Es muss mehr als Recht und Geld geben, damit Märkte und Staat sinnvoll funktionieren können. Aber wir wissen nicht so recht, wie wir diese kulturellen Voraussetzungen und Fundamente unseres politischen und ökonomischen Systems sichern und entwickeln können. Die Genese solchen Orientierungswissens und solcher Formen des gemeinsamen Lebens war eng an unsere christliche Herkunftsgeschichte gebunden. Wenn es davon abgelöst werden soll, bleibt die Frage, wie es dann generiert, in welchen Institutionen tradiert, weiterentwickelt und breitenwirksam kommuniziert werden kann59. Das Feld der Akteure im öffentlichen Raum ist jedenfalls sehr viel pluraler geworden. Die Auseinandersetzungen um die öffentliche Repräsentanz von Traditionen, aus denen eine Orientierung für die Lebensführung gewonnen wird, haben an Schärfe zugenommen. In diesen Auseinandersetzungen liegt aber auch die Bewegungskraft, die dazu führen kann, die bestehenden rechtlichen Ordnungen für die Kirchen und Religionsgemeinschaften so zu verändern, dass sie der neuen kulturellen Lage besser entsprechen und damit die Rahmenbedingungen für Lebensmöglichkeiten aller Bürgerinnen und Bürger verbessern. Aus der Perspektive der Kirchen ist es nötig, der Gefahr zu wehren, den faktisch bestehenden engen Zusammenhang von Theologie und Empirie der Kirchen nicht zu schnell durch den „Sprung in die Abstraktion“ aus dem Blick zu verlieren. In der Ausdifferenzierung des Fächerkanons der Theologie ist eine gefährliche Dynamik angelegt auf separierende Wahrnehmungsperspektiven von Dogmatik, Geschichte der kirchlichen Organisationsformen und praktisch-theologisch ausgerichteten Analysen „der Kirche“. Schon in der Apologie thematisierte Melanchthon die Gefahr, die Kirche als eine „civitas Platonica“ zu verstehen60. Eine Ekklesiologie, die der „Kirchenleitung“ im umfassenden Schleiermacherschen Sinne dienen will, wird die kulturellen Verände59 Vgl. die Problembeschreibungen und ihre Einzeichnung in die protestantischtheologische Diskussionslandschaft bei Stefan Grotefeld, Religiöse Überzeugungen im liberalen Staat. Protestantische Ethik und die Anforderungen öffentlicher Vernunft, Stuttgart 2006; Christian Polke, Öffentliche Religion in der Demokratie. Eine Untersuchung zur weltanschaulichen Neutralität des Staates, Leipzig 2009. 60 Apologie 7, 20 zitiert nach: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirchen, Göttingen 1930, 238, 17 f.

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rungen nicht als Adiaphora behandeln können, wenn es denn richtig ist, dass wir „den Schatz nur in irdenen Gefäßen“ (2 Kor 4,7) haben. Die alltägliche Praxis derer, die kirchenleitend handeln – ob als Kirchenvorstand, Pfarrerin, Diakon oder Bischof, bildet ein starkes Korrektiv gegen den „Sprung in die Abstraktion“ und die Abblendungen der konkreten Gestalt der Kirche, die durch fachbezogene Theologisierungen immer wieder entstehen können. Mit diesem Korrektiv ist aber noch wenig gewonnen für eine Ekklesiologie, die analytisch die „irdene Gestalt“, die komplexen empirischen Bedingungskonstellationen ernst nimmt61. Das führt zurück auf offene und kontroverse Probleme der Methodologie der Theologie, die Ernst Troeltsch einst in Heidelberg markiert hatte mit den Stichworten „historische und dogmatische Methode in der Theologie“62.

61 Da dabei stets die „Gefahr der hoffnungslosen Konfusion des Empirischen mit dem Normativen“ droht, ist das Bestreben nur zu verständlich, das Dickicht der geschichtlich-kulturellen Lebenswelten schnell zu verlassen. (Max Weber, Stammlers „Ueberwindung“ materialistischer Geschichtsauffassung, in: Ders., Wissenschaftslehre, Tübingen 51982, 291 – 359, 343). 62 Ders., Gesammelte Schriften Band II, Tübingen 1922, 729 – 753.

Autorenverzeichnis Oswald Bayer, Dr. theol., war bis 2005 Professor für Systematische Theologie an der evangelisch-theologischen Fakultät der EberhardKarls-Universität Tübingen. Frank Martin Brunn, Dr. theol., ist Geschäftsführer des Interdisziplinären Forums für Biomedizin und Kulturwissenschaften an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg und Pfarrer im Ehrenamt. Wilhelm Christe, Dr. theol., ist Pfarrer in der EKHN in Frankfurt. Hermann Deuser, Dr. theol. Dr. h.c., ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Alexander Dietz, Dr. theol., ist Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Referent für Ethik, Sozialpolitik und Gemeinwesenarbeit beim Diakonischen Werk in Hessen und Nassau. Johannes Fischer, Dr. theol., war Professor für Theologische Ethik und Leiter des Instituts für Sozialethik an der Universität Zürich. Thomas Fuchs, Dr. med. Dr. phil., ist Karl-Jaspers-Professor für philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie in der Klinik für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. Elisabeth Grb-Schmidt, Dr. theol., ist Professorin für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Eilert Herms, Dr. theol., war bis 2009 Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

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Hermes Andreas Kick, Dr. med., ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie und leitet das Institut für medizinische Ethik, Grundlagen und Methoden der Psychotherapie und Gesundheitskultur (IEPG) Mannheim. Andreas Kruse, Dr. phil. Dr. h.c., ist Professor für Psychologie und Leiter des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Athina Lexutt, Dr. theol., ist Professorin für Kirchengeschichte an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Pilgrim W. K. Lo, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie am Luther Seminary in Hong Kong. Manfred Marquardt, Dr. theol., war bis 2005 Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Reutlingen. Peter Neuner, Dr. theol., war bis 2006 Professor für Dogmatik an der katholisch-theologischen Fakultät und Direktor des Ökumenischen Forschungsinstituts der Ludwig-Maximilians-Universität München. Christian Polke, Dr. theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie, Abteilung Ethik, der Universität Hamburg. Reiner Preul, Dr. theol., war bis 2005 Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Sibylle Rolf, Dr. theol., ist Privatdozentin an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und derzeit Lehrvikarin der Evangelischen Kirche in Baden. Hartmut Rosenau, Dr. phil., ist Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Christoph Schwçbel, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie an der evangelisch-theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.

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Anja Siebert war Referentin der Präses der EKD-Synode und ist Pfarrerin in Berlin-Wilmersdorf. Konrad Stock, Dr. theol., war Professor für Systematische Theologie am Seminar für Evangelische Theologie an der Universität Köln, einer Außenstelle der Evangelisch-Theologischen Fakultät Bonn. Brigitte Tag, Dr. jur. utr., ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht und Medizinrecht an der Universität Zürich. Klaus Tanner, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Michael Welker, Dr. theol. Dr. phil. Dr. h.c., ist Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.