Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik: Eine komparatistische Studie zu Schillers und Shelleys ästhetischen Theorien in ihrem europäischen Kontext 9783110941470, 9783484180840

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Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik: Eine komparatistische Studie zu Schillers und Shelleys ästhetischen Theorien in ihrem europäischen Kontext
 9783110941470, 9783484180840

Table of contents :
Inhalt
Einleitung und Themenübersicht
1. Zur Genese des romantischen Imaginationsbegriffs Schillers und Shelleys aus der Aufklärung
2. Der »ästhetische Zirkel« der Imagination
Literaturverzeichnis

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 84

Elmar Dod

Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik Eine komparatistische Studie zu Schillers und Shelleys ästhetischen Theorien in ihrem europäischen Kontext

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985

Der Druck dieser Arbeit wurde unterstützt durch die Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften und die Wilhelm-Hahn-und-ErbenStiftung Bad Homburg v.d.H.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dod, Elmar: Die Vernünftigkeit der Imagination in Aufklärung und Romantik : e. komparatist. Studie zu Schillers u. Shelleys ästhet. Theorien in ihrem europ. Kontext / Elmar Dod. — Tübingen : Niemeyer, 1985. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 84) NE: GT ISBN 3-484-18084-6

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: Computersatz Staiger, Tübingen Druck: Sulzberg-Druck GmbH, Sulzberg im Allgäu Einband: Heinrich Koch, Tübingen.

Inhalt »Denn woher diese noch so allgemeine Herrschaft der Vorurteile und diese Verfinsterung der Köpfe bei allem Licht, das Philosophie und Erfahrung aufsteckten? Das Zeitalter ist aufgeklärt . . . woran liegt es, daß wir noch immer Barbaren sind?« "The cultivation of those sciences which have enlarged the limits of the empire of man over the external world, has, for want of the poetical faculty, proportionally circumscribed those of the internal world; and man, having enslaved the elements, remains himself a slave . . . From what other cause has it arisen that the discoveries which should have lightened, have added a weight to the curse imposed on A d a m ? " (Friedrich Schiller, 8. Brief »Uber die ästhetische Erziehung des Menschen«, S. 48, 50; P. B. Shelley, »Defence of Poetry«, S. 52)

EINLEITUNG UND THEMENÜBERSICHT 1.

1.1.

ZUR GENESE DES IMAGINATIONSBEGRIFFS SCHILLERS UND SHELLEYS AUS DER AUFKLÄRUNG

"17

Imaginationsbegriff und Dialektik der Aufklärung

17

1.1.1. Dialektik der Aufklärung als Verstrickung von Vernunft in Unfreiheit: Zum gesellschaftskritischen Denkmotiv des »sich versklavenden Herrschers« in Schillers »Uber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen» und Shelleys » A Defence of Poetry« 1.1.2. Philosophische Spekulationen im Vorfeld der Kunsttheorien: Subjektivität und Objektivität von Vernunft in Schillers »Philosophischen Briefen« und Shelleys »intellectual philosophy« 1.1.3. Zum Verhältnis von Imaginations- und Vernunftbegriff in den »Ästhetischen Briefen» und der »Defence« 1.1.4. Zur Begriffsbestimmung der Imagination als noch nicht und schon vollendeter Vernunft 1.1.5. Schillers und Shelleys ästhetische Theorien: Imagination als notwendiges Moment vernünftiger Praxis in der Dialektik der Aufklärung

1.2.

I

17

22 43 62

97

Der Imaginationsbegriff innerhalb des Dualismus von Vernunftmoral und Politik im Absolutismus

141

1.2.1. Zur Entstehung einer am Imaginationsbegriff orientierten Aufklärung innerhalb der politischen Struktur des Absolutismus .

141 V

1.2.2. Schillers Konzeption der Bühne als »moralische Anstalt» und die Wendung der Vernunftkritik am absolutistischen Staat in eine Imaginationskritik 1.2.3. Die Erfahrung der Französischen Revolution: ästhetische Erziehung im »age of despair« 1.2.4. »Freiheit in der Erscheinung« als Paradigma praktischer Autonomie 1.2.5. Liebe als Identifikationsvermögen: Shelleys »moral imagination« 1.2.6. Romantik als Imaginationsbewegung

216 233

2.

DER »ÄSTHETISCHE ZIRKEL« DER IMAGINATION

257

2.1.

Denkmotive seiner Ausdehnung und Verengung

257

2.1.1. Zum Motiv des »Menschen im Menschen« 2.1.2. Weg der »innern Gesetzgebung« und »man in society« . . . 2.1.3. Zur politischen Funktion der Wahrer des Imaginationsprinzips: Der Künstler als »legislator« — und seine Gesetzgebung in der Dichtung 2.1.4. »Ästhetischer Staat«, »poetry of life« und »great poem« . . . 2.1.5. Autonomer Zirkel und Geschichtsphilosophie in den »Ästhetischen Briefen« und der »Defence«

257 270

2.2.

157 171 185

283 293 338

Die Sistierung der Imagination z u m Kunstgebilde: Das Klassizismusproblem im Lichte von Schillers Begriff des Sentimentalischen

361

2.2.1. Kunstgattungen und Gesamtkunstwerk 2.2.2. Schillers Konzeption der sentimentalischen Dichtung und das Idyllenprojekt 2.2.3. »Weimarer Klassik« als Klassizismus der Romantik 2.2.4. »Auflösung der romantischen Kunstform« und falscher Untergang der Kunst: Einbildungskraft als »schwebende« Tätigkeit

361

LITERATURVERZEICHNIS

vi

381 432

493

503

Einleitung und Themenübersicht

Imagination, Einbildungskraft oder Phantasie werden heute wie selbstverständlich als Schlüsselwörter einer jeden Theorie des Ästhetischen und der Kunst verstanden. Doch erst am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung, in der Romantik hatte sich die Konzeption einer autonomen Imagination in Kunsttheorie und -praxis durchgesetzt. Schon die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ließ — bis hin zu Kants „Kritik der Urteilskraft" — die Einbildungskraft die zentrale Stellung einer »Mittelkraft« einnehmen, die zwischen Theoretischem und Praktischem, Verstand und Sinnlichkeit zu vermitteln weiß. So bezeichnet sie für Aufklärung als fortschreitende Vernunft noch heute den Verlegenheitspunkt, wo diese sich »bloßer« Vernunft entheben und ihre Ansprüche verwirklichen will. Als solche Kritik der Aufklärung durch die Vernünftigkeit der Imagination bildete diese am Ende des 18. Jahrhunderts in einer ganzen »Imaginationsbewegung« das Zentrum vieler somit nicht nur ästhetischer, sondern auch philosophischer und gesellschaftskritischer Überlegungen, die mit der Konzentration auf die autonome Imagination, deren »ästhetische Idee«, »Anschauung« oder »freies Spiel« das Programm einer ihre Ziele wenn nicht erreichenden, so doch reflektierenden Aufklärung entwerfen wollten. — Den Imaginationsbegriff als den Zugang auch zu Schillers und Shelleys ästhetischen Theorien zu verwenden entspricht der zentralen begrifflichen Funktion, die ihm in den grundlegenden theoretischen Schriften beider Dichter, »Uber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen« und »A Defence of Poetry«, zugewiesen wird. 1 »Imagination« bzw. »Einbildungskraft« dient in ihnen nicht nur 1

Schillers »Ästhetische Briefe« werden lediglich unter Angabe der Briefnummer und Seitenzahl nach der hervorragenden Ausgabe von Wilkinson, Elizabeth M. / Willoughby, L. A. zitiert: »On the Aesthetic education of man in a series of letters«. Edited and translated with an introduction, commentary and glossary of terms. Oxford 1967. Alle anderen Schiller-Zitate sind mit dem Hinweis »Hanser« der Werkausgabe des Hanser Verlags entnommen. Fricke, Gerhard / Göpfert, Herbert G. / Stubenrauch, Herbert: »Friedrich Schiller. Sämtliche Werke«. (5Bände). München: Hanser (Bd.I) 5. Aufl. 1973 (l.Aufl. 1965), (Bd.II) 4. Aufl. 1965, (Bd.III) 4. Aufl. 1966, (Bd. IV) 4. Aufl. 1966. - (Bd.V) 4. Aufl. 1967. - Wenn nicht anders angegeben,

1

als Schlüsselwort einer Konzeption der Kunst und des Ästhetischen, sondern wird — bei Schiller als »Spieltrieb« — zugleich als die gesetzgebende autonome Kraft verstanden, an der sich praktisches und politisches Handeln zu orientieren hätten: »Imagination« entfaltet sich im »poet«, der zum umfassenden »legislator« wird und doch »unacknowledged« bleibt. 2 Beide ästhetischen Theorien tasten die Möglichkeiten und Grenzen der Imagination ab, die sich bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem ästhetischen und dem praktischen Moment am Imaginationsbegriff abzeichnen, und drücken die Hoffnung aus, die weitreichenden Möglichkeiten der Imagination könnten eine Lösung der gesellschaftlichen und politischen Probleme ihrer Zeit verbürgen helfen. Nicht um die Konzeption einer politisch unverbindlichen Ästhetik geht es also, denn beide Dichter sind von der Auffassung geleitet, daß man — wie Schiller es programmatisch formuliert — »um jenes politische Problem in der Erfahrung zu lösen, durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert«. 3 Die Forderung nach Uberführung des Ästhetischen in die Realität, nach »poetry of life« oder einem »ästhetischen Staat«, »dem vollkommensten aller Kunstwerke, . . . dem Bau einer wahren politischen Freiheit«, 4 ist bis hin zu Marcuse — und da unter Rekurs auf Schiller5 — immer wieder in Reflexion auf die geschichtlichen Möglichkeiten der Moderne

2 3 4

5

2

wird aus Shelley's »Defence« — nur unter Angabe der Seitenzahl — zitiert nach der Ausgabe von Brett-Smith, H. F. B.: »Peacock's Four Ages of Poetry. Shelley's Defence of Poetry. Browning's Essay on Shelly«. Oxford 1972. (1. Aufl. 1921, 2. Aufl. 1923). Berücksichtigt wurde auch die kritische Ausgabe von Deslisle, Fanny Newcombe: »A Study of Shelley's >A defence of poetryVernünftigenStaat< zeigen, daß, wer im Licht der objektiven Vernunft lebt, auch im Leben erfolgreich und glücklich ist.23 Selbstinteresse und Selbsterhaltung sind Ausdrucksformen einer subjektiven Vernunft, die — wenn auch in ständigem Spannungsverhältnis — in das System einer objektiven Vernunft eingegliedert und mit der Selbsterhaltung der Gattung vermittelt werden soll. Objektivität von Vernunft bedeutet dabei das Insistieren auf vom Subjekt erkennbaren verbindlichen Zielen, deren Allgemeingültigkeit und Wahrheit als Rahmen einer umfassenden sinngebenden Welterklärung das Leben des einzelnen wie das der Gesellschaft regeln und fortentwickeln soll. Dieser Praxisbezug erhellt, daß die Vernunft ihre objektiven Begriffsmomente der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit nur zu gewinnen vermag, wenn sie als praktische — nach Objektivation in der Wirklichkeit suchende — Vernunft auftritt. In der Renaissance und noch im Rationalismus des 17. Jahrhunderts herrschte ein objektiver Begriff von Vernunft vor, mit dem das zunehmend auf sich gestellte Individuum versuchte, eine umfassende Lehre von der Wahrheit des Wirklichen und dem summum bonum des Lebens zu entwerfen. Solche Entwürfe, kraft derer sich die Vernunft schließlich von den 23

Horkheimer, »Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft«, (Kap. 1: Mittel und Zwecke), a.a.O., S. 16. Zum objektiven Vernunftbegriff vgl. auch Horkheimer: »Zum Begriff der Vernunft«. In: Sociologicall. Reden und Vorträge (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie Bd. 10), Frankfurt/M. 1962, S. 194 f. 23

kirchlichen Autoritäten emanzipierte, beabsichtigten nicht, den Bereich objektiver Wahrheit aufzulösen, sondern wollten ihm eine neue, durch das lumen naturale der Vernunft legitimierte Grundlage geben, auf der die Philosophie den Konflikt mit Religion und Offenbarung austragen konnte. Ohne nach einem übernatürlichen Licht der Offenbarung schauen zu müssen, wollte der Rationalismus Erkenntnis und sittliches Handeln auf höchste vernünftige Zwecke hin ausrichten und die Ansprüche der Religion an Lebensführung und Weltbild des Menschen überdenken und neuformulieren. Indem so die theologische Metaphysik durch den philosophischen Rationalismus abgelöst wurde, wandelte sich der antikem Denken entlehnte Begriff der vernehmenden in den der diskursiven Vernunft, für den Sein gleich Vorgestelltsein ist. Die autonome, souveräne Vernunft verfügte nun über den absoluten Ausgangspunkt, von dem aus sie den Naturzusammenhang erklärte, ohne zunächst auf den Schöpfungsgedanken verzichten zu wollen. Kants kritisches System, das Naturerkenntnis schon ganz im Sinne von Naturbeherrschung versteht, stellt den widersprüchlich geratenden Versuch dar, subjektive verstandesmäßige und objektive Vernunft als miteinander vermittelbar zu denken. 24 So steckte innerhalb dieser Entwicklung, die wir nur mit wenigen Strichen skizzieren können, die sich inthronisierende Vernunft ihre Grenzen kritisch ab, die in der Folge immer enger gezogen wurden. Die Verwertung der Vernunft in einer zunehmend rationalisierten und vom technischen Fortschritt geprägten Gesellschaft, wie sie Schiller und in fortgeschrittenerem Stadium Shelley bereits beschreiben, drohte Vernunft auf formalisiertes folgerichtiges Denken einzuengen. Indem der jenseits der eng abgesteckten Grenzen der Vernunft liegende Bereich als irrational ausgegrenzt und nicht mehr als Herausforderung an das Denken verstanden wurde, selbst letzte Ziele wie einst die Religion zu setzen, förderte die sich selbst beschränkende und beschränkte Vernunft eine Trennung, welche die gesellschaftliche Arbeitsteilung mit ihrer »Departementalisierung der Kultur« 25 schließlich sanktionierte. So befindet sich die instrumenteile Vernunft, die sich am Endpunkt dieser Entwicklung mit ihrem engen Kalkulationsbereich bescheidet, nicht mehr in echtem Konflikt mit den als irrational mißachteten Lebensbereichen und primären Werturteilen, die ihr nichtsdestoweniger die Ziele vorsetzen: In Wirklichkeit ist der Inhalt der Philosophie wie der Religion durch diese scheinbare friedliche Beilegung ihres ursprünglichen Konfliktes zutiefst beeinträchtigt worden. Die Philosophen der Aufklärung griffen die Religion im Namen der Vernunft an; letzten Endes war das, was sie zur Strecke brachten, nicht die Kirche, 24

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24

Zu diesen Schwierigkeiten im Begriff der Vernunft bei Kant s. DdA, S. 76 sowie im nächsten Abschnitt S. 55 f. unserer Arbeit. Horkheimer, »Zum Begriff der Vernunft«, In: Sociologicall, a.a.O., S. 198.

sondern die Metaphysik und der objektive Begriff der Vernunft selbst, die Quelle der Macht ihrer eigenen Anstrengungen. Schließlich wurde die Vernunft als ein Organ zum Erfassen der wahren Natur der Dinge und zur Festlegung der leitenden Prinzipien unseres Lebens für veraltet angesehen. Spekulation ist synonym mit Metaphysik und Metaphysik mit Mythologie und Aberglauben . . . Vernunft hat sich selbst als ein Medium ethischer, moralischer und religiöser Einsicht liquidiert. 26

Die von jedem Anspruch auf Wahrheit abgeschnittene, sich nicht mehr als Moment eines objektiven, auf die Ganzheit von Natur und Mensch gerichteten Vernunftbegriffes verstehende subjektive Vernunft, die als instrumenteile nurmehr der Naturbeherrschung oder Durchsetzung von Einzelinteressen dient, erscheint so als Resultat einer zerstörten Aufklärung. Dabei durchzieht Horkheimers eine Selbstreflexion der Aufklärung leistende Analyse der Widerspruch, daß dieser Prozeß der Reduzierung objektiver zu ausschließlich subjektiver Vernunft einerseits als über schlechte Metaphysik notwendig aufklärende Negation, andererseits als Abkehr der Aufklärung von ihren genuinen Positionen erscheint. Deshalb entspricht in Horkheimers Kritik der instrumenteilen Vernunft der Irreversibilität dieses deformierten Aufklärungsprozesses die Unmöglichkeit heutigen kritischen Denkens, ein objektives System von Vernunft zu entwerfen, dessen Surrogate es vielmehr ihres ideologischen Charakters zu überführen hat. Schillers in der Karlsschulzeit begonnene »Philosophische Briefe« (veröffentlicht 1786) sind als Auseinandersetzung mit dieser Entwicklung aufklärenden Denkens zu verstehen und verdeutlichen, wie diese von dem sich allein auf seine Vernunft berufenden Individuum erfahren wird, das sich aus den traditionellen theologischen Gedankengebäuden freisetzen möchte, die Schiller in den Formen seiner pietistischen Erziehung gegenwärtig waren. 27 Meine Vernunft ist mir jetzt alles, meine einzige Gewährleistung für Gottheit, Tugend, Unsterblichkeit. Wehe mir von nun an, wenn ich diesem einzigen Bürgen auf einem Widerspruche begegne! Wenn meine Achtung vor ihren Schlüssen sinkt! 28

26 27

28

Horkheimer, »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft«, a.a.O., S. 27f. Günter Rohrmoser (»Theodizee und Tragödie im Werk Schillers«, in: Wirkendes Wort 9, S . 3 2 9 - 3 3 8 , bes. 332ff.) weist auf die Bedeutung der »Philosophischen Briefe« für Schillers ästhetische Theorie hin und kehrt das Verhältnis der Schillerschen Jugendschrift zum Problem der Aufklärung des 18. Jahrhunderts hervor. Dieses als Theodizeeproblem zu formulieren drängt Aufklärung allzu leicht in einen notwendigen Widerspruch zu sich selbst, der nur durch den Rückbezug zur theologischen Tradition dann als lösbar erscheint. Der unserer Untersuchung gemäße Ansatz einer historischen Begriffsanalyse der Vernunft- und Imaginationskonzeption erscheint uns eine voraussetzungslosere und präzisere Darlegung der Schillers Reflexionen bewegenden Problematik der Aufklärung zu ermöglichen. Philosophische Briefe, Hanser B d . V , S.340.

25

Schon in dieser Jugendschrift — lange bevor er den Begriff des »Sentimentalischen« bildet — weiß Schiller um die Unwiderruflichkeit des die Bewußtsein und Reflektiertheit der Moderne konstituierenden Prozesses, dessen Geschichtlichkeit in den »Philosophischen Briefen« in der Phasenabfolge der Individualgeschichte aufgehoben ist. Weder kann sich Julius, der Protagonist in diesem teilweise fingierten Briefwechsel, in die »naive« kindliche Sicherheit seiner einstigen Theosophie zurückversetzen noch jedem Gedanken an die vergangene Zeit glücklicher Empfindung abschwören. So bildet die Apologie des Vernünftigen im religiösen Erbe der Aufklärung den gedanklichen Kern dieser Schillerschen Jugendschrift, die jedoch dieses religiöse Substrat immer wieder als Wahn, als bloße Einbildung sub specie einer aufklärenden, sich jedoch verengenden Vernunft verwerfen muß. Angesichts dieser Verengung möchte Schiller ein objektives Vernunftsystem verteidigen, dessen Zerstörung in seiner Sicht in den Tendenzen der materialistischen französischen Philosophie des 18. Jahrhunderts kulminiert. Das Universum ist ein Gedanke Gottes. Nachdem dieses idealische Geistesbild in die Wirklichkeit hinübertrat und die geborne Welt den Riß ihres Schöpfers erfüllte — erlaube mir diese menschliche Vorstellung — so ist der Beruf aller denkenden Wesen, in diesem vorhandenen Ganzen die erste Zeichnung wiederzufinden, die Regel in der Maschine, die Einheit in der Zusammensetzung, das Gesetz in dem Phänomen aufzusuchen und das Gebäude rückwärts auf seinen Grundriß zu übertragen. Also gibt es für mich nur eine einzige Erscheinung in der Natur, das denkende Wesen. Ich forsche nach den Gesetzen der Geister — schwinge mich bis zu dem Unendlichen, aber ich vergesse zu erweisen, daß sie wirklich vorhanden sind. Ein kühner Angriff des Materialismus stürzt meine Schöpfung ein.29

Zwar hatte der Materialismus in Frankreich mit seiner Betonung des empirisch Faßbaren und materiell Bedingten sein fortschrittliches, aufklärendes Moment gegenüber der institutionalisierten dogmatischen Religion, ein Moment, wie es sich Shelley in den Anmerkungen zu »Queen Mab« beispielsweise zunutze macht. Auch gegenüber der »Theosophie«, die dem Bereich vorkritischen Denkens angehört, stellt dieser »Angriff des Materialismus« Aufklärung her. Zugleich jedoch beschwört er die Gefahr einer Selbstzerstörung der Aufklärung herauf, wie sie Schiller in der Reduktion des Denkens aufs Verstandesmäßige und dem Unvermögen dieser reduzierten Vernunft erblickt, einen neuen Sinn- und Wertzusammenhang zu etablieren. Indem so Aufklärung aus ihrer Selbstbedrohung heraus das Bewußtsein ihrer Möglichkeiten und Gefährdungen, ihrer Geschichtlichkeit, entwickelt, muß sie ihren Fortschrittsgedanken und das Movens dieses Fortschritts, den Begriff der Vernunft, problematisieren. So beginnt die »Vorerinnerung« zur »Theosophie« mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, in einer Geschichte der Ver29

26

Phil. Br„ Hanser Bd. V, S.344.

nunft auf deren Fehlentwicklungen hinzuweisen, die zunächst recht vage als »Skeptizismus und Freidenkerei« sowie »Fieberparoxysmen des menschlichen Geistes« bezeichnet werden. 3 0 Während Schiller in den »Ästhetischen Briefen« Vernunft als »Formtrieb«, als natürlich gegebenes Vermögen hyposthasiert — wie Shelley »reason« in der »Defence« — und geschichtliche Entwicklungsmöglichkeiten nur noch von der Konstellation des »Formtriebs« mit anderen Trieben her definieren kann, taucht in dieser frühen Schrift der Gedanke einer Geschichtsschreibung der Vernunft auf: Die Vernunft hat ihre Epochen, ihre Schicksale wie das Herz, aber ihre Geschichte wird weit seltner behandelt... In einer Epoche, wie die jetzige, . . . wo die glückliche Resignation der Unwissenheit einer halben Aufklärung Platz zu machen anfängt . . . , scheint es nicht so ganz unwichtig zu sein, auf gewisse Perioden der erwachenden und fortschreitenden Vernunft aufmerksam zu machen, gewisse Wahrheiten und Irrtümer zu berichtigen, welche sich an die Moralität anschließen und eine Quelle von Glückseligkeit und Elend sein können, und wenigstens die verborgenen Klippen zu zeigen, an denen die stolze Vernunft schon gescheitert hat.31 Aufklärung durch Raphael erscheint Julius als eine solche Klippe, als »Sündenfall« der Reflexion und Vertreibung aus einem Paradies glücklicher Empfindungen. Denken überhaupt, zu welchen Inhalten es auch gelangen mag, bedeutet nun Unglück, Empfinden Glück, dem jedoch das Ubergewicht an Reflexionstätigkeit kaum noch Raum zu gewähren vermag. 3 2 Für Julius wie auch für Schiller bleiben die Gedanken der »Theosophie«, die Glück gewährte, dem Bereich unaufgeklärten Denkens verhaftet, 33 doch wird Aufklärung darüber zugleich als Beraubung empfunden und als unfähig betrachtet, dem Zerstörten eine gleichwertige Schöpfung nachfolgen zu lassen. Er (der Mensch) war so glücklich, bis er anfing zu fragen, wohin er gehen müsse, und woher er gekommen sei. Die Vernunft ist eine Fackel in einem Kerker. Der Gefangene wußte nichts von dem Lichte, aber ein Traum der Freiheit schien über ihm wie ein Blitz in der Nacht, der sie finstrer zurückläßt. Unsere Philosophie ist die unglückselige Neugier des Odipus, der nicht nachließ zu forschen, bis das entsetzliche Orakel sich auflöste . . . Ersetzt mir Deine Weisheit, was sie mir genommen hat?34 30 31 32

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Ebd. S. 337. Ebd. S. 336. Vgl. Rohrmoser a.a.O., S. 333: »Die Destruktion der religiösen Tradition durch die voraussetzungslos, das heißt radikal fragende Vernunft wird von dem empfindenden Subjekt als die erneute Vertreibung aus dem Paradies erfahren... Die Antithetik von Glück des Empfindens und Unglück des Denkens sollte sich für das gesamte Werk Schillers als von weitreichender Konsequenz erweisen«. Dabei ist es von biographischem Interesse, daß die vor allem in der Zeit auf der Hohen Karlsschule entwickelte »Theosophie des Julius« erst später (1786) unter Mitwirkung Körners in den Rahmen des Briefwechsels gespannt wird. Vgl. von Wiese, »Friedrich Schiller«, a.a.O., S.99. Ebd. S. 341. 27

Die Problematik von Aufklärung wird hier bereits mit an Nietzsche gemahnender Schärfe formuliert. Die Vernunft ist »in einem Kerker« von allen Möglichkeiten, Freiheit zu konzipieren und zu verwirklichen, abgeschnitten, die doch Ziel ihrer Anstrengungen waren. Somit wirkt Aufklärung als bloße Destruktion und versagt die Konstruktion eines neuen durchgängigen Wert- und Sinnzusammenhanges, der an einer objektiven, Mensch und Natur umschließenden Totalität festzuhalten fähig wäre. — Der Begriff »Freidenkerei«, der oben von Schiller zusammen mit »Skeptizismus« als Synonym einer falschen oder »halben Aufklärung« gebraucht wird, erhält in diesem Zusammenhang eine genauere Bestimmung und muß vor dem Hintergrund des Begriffes »Gedankenfreiheit« gesehen werden, der wenig später zum zentralen Begriff im »Don Karlos« wird und dessen geschichtliche Voraussetzungen und Bedeutungshorizont Böckmann erhellt. 35 »Freidenkerei« erscheint so als negative Seite von »Gedankenfreiheit«, als ein zunächst notwendiger Skeptizismus, 36 der jedoch — indem er sich von allen ethischen Verbindlichkeiten freihält — steril bleibt, solange er nicht die Grundlage bildet, auf der durch Vernunftgebrauch legitimierte Ansprüche an Lebensführung und politische Ordnung des Menschen gestellt werden. Aufklärung, wie sie Raphael leistet, erschöpft sich in solcher »Freigeisterei« und führt nicht in die »Gedankenfreiheit«, läßt Freiheit abstrakt und vermag nicht, sie in immer erneuten Versuchen zu realisieren. Der Skeptizismus Raphaels, dem ein entsprechend argumentierender Körner Pate gestanden hat, ist ein notwendiger, unumgänglicher Schritt, der für Julius jedoch bedrohlich wird, indem er nicht zu neuen Verbindlichkeiten innerhalb eines Progresses von Aufklärung weiterführt. So hat Aufklärung Julius zwar aus den Grenzen des »väterlichen Horizonts«, 3 7 den Sicherheit gewährenden, aber auch Unfreiheit implizierenden Traditionen und Konventionen freigesetzt, doch diese Freiheit der »Vaterlosigkeit« orientierungslos gelassen. Auf seiner erfolglosen Suche nach neuer, aufgeklärter Autorität präsentiert er aus der Retrospektive einer unglücklichen Aufklärung seine »Theosophie« als eine Art philosophisches Glaubensbekenntnis, das an dem prinzipiellen Anspruch 35

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Böckmann: »Der Begriff >Gedankenfreiheit< und seine geschichtlichen Voraussetzungen«. In: P. B.: »Schillers Don Carlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar«. Stuttgart 1974 ( = Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft Band30). S. 5 0 8 - 5 2 8 . »Skeptizismus und Freidenkerei« sollen als »die Fieberparoxysmen des menschlichen Geistes« »durch eben die unnatürliche Erschütterung, die sie in gut organisierten Seelen verursachen, zuletzt die Gesundheit befestigen helfen... die Erkenntnis der Krankheit muß(te) der Heilung vorangehen«. - In »Don Carlos« erwähnt Posa in Zusammenhang mit seiner Forderung nach »Gedankenfreiheit« des »Freigeists Lästerung«. Vgl. Don Carlos, Hanser Bd. II, 111/10, S. 126f. Phil. Br„ Hanser Bd.V, S.338.

des Denkens festhalten möchte, vernünftige Ziele und Werte in einer Mensch und Natur umfassenden Einheit zu setzen, doch diesen Anspruch bloß emphatisch formulieren und philosophisch-begrifflich im Sinne von Aufklärung nicht mehr einlösen kann. Das Denkgebäude der »Theosophie« bleibt unwiderruflich einem unaufgeklärten, vergangenen Lebensabschnitt zugeordnet. Dies muß bedacht werden, wenn es als »das eigentliche philosophische Glaubensbekenntnis des jungen Sch(iller)«38 verstanden werden soll. Fragen wir nun weiter nach der Konzeption des oder der Vermögen, welche dieses theosophische Denkgebäude tragen, das als objektives System der Vernunft, als »das Glaubensbekenntnis meiner Vernunft«39 nur widersprüchlich eingeordnet werden kann. Mein Herz suchte sich eine Philosophie, und die Phantasie unterschob ihre Träume. Die wärmste war mir die wahre. Es mag sein, daß ich dort und da meine Phantasien strengern Vernunftschlüssen unterschiebe, daß ich Wallungen meines Blutes, Ahndungen und Bedürfnisse meines Herzens für nüchterne Weisheit verkaufe, auch das, mein Guter, soll mich dennoch den verlorenen Augenblick nicht bereuen lassen. 40

In diesem noch nicht abgeklärten, unaufgeklärten Verhältnis von Vernunft und Imagination bleibt diese das den Verstand Täuschende, über das es — was Raphael tut — aufzuklären gilt. Andererseits artikuliert gerade die Imagination die unbewußten und unterdrückten sinnlichen Wünsche und »Träume« des Menschen, deren Wahrheitsgehalt die Vernunft nicht anerkennen will, die in ein Konzept von Aufklärung im vollen Sinne jedoch eingehen müßten.41 Schon in der »Theosophie des Julius« fällt damit dem imaginativen Bereich die für Schillers spätere ästhetische Theorie entscheidende Funktion zu, die Sinnlichkeit und Leiblichkeit des Menschen vor der Jurisdiktion der Vernunft geltend zu machen. Da jedoch in der »Theosöphie« der Geltungsbereich von Vernunft und Imagination noch nicht klar abgesteckt ist, kann diese dem Verstand ihre Träume unterschieben, sich seiner — in Umkehrung des von Kant analysierten Erkenntisprozesses — als Instrument bedienen, so daß eine Klärung des Zuständigkeitsbereiches beider Vermögen zum Gebot der Aufklärung und eine Kritik der Imagination zum dringlichen Thema der späteren theoretischen Schriften Schillers wird. So unterschiebt 38 39 40 41

Vgl. Fricke / Göpfert in den Anm. zu den Phil. Br., Hanser Bd. V, S. 1093. Phil. Br., Hanser Bd.V, S.354. Ebd. S. 344 und 356f. Vgl. Rohrmoser, a.a.O., S. 333: »Der Grund subjektiver Befriedigung an der durch die Phantasie erstellten Welt wird zum Kriterium der Wahrheit des Empfundenen. Der emotionale Aufschwung in eine eingebildete Unendlichkeit hat das Bewußtsein der objektiven Irrealität unmittelbar bei sich«. 29

die »Theosophie des Julius« als »das Glaubensbekenntnis meiner Vernunft« 4 2 dieser immer wieder die Imagination oder stellt sie ihr als konkurrierendes bzw. komplementierendes Vermögen zur Seite. D e r Imaginationsbegriff soll als objektiver Vernunftbegriff fungieren, kann diese Substitution im Lichte der aufklärenden Vernunft Raphaels jedoch nicht leisten, die solche Objektivität als usurpierte negieren muß, wiewohl sie selbst zu keinem objektiven Denksystem gelangen kann. Das vornehmlich von der Kraft der Imagination getragene System der »Theosophie« möchte an einer Mensch und Natur umfassenden Ganzheit orientieren. Durch die Vorstellungkraft der Imagination soll das Individuum an jenem Gedanken Gottes teilhaben, als dessen Emanation das spekulative Denken der »Theosphie« das Universum begreift. Die Aufdeckung seiner Gesetzmäßigkeit, die Einsicht in den Plan Gottes, der sich in besonderen, idealen Mustern abbildet, verbindet sich in dem vorstellenden, »imaginierenden« Subjekt mit Lust, ja seine Imagination selbst produziert oder reproduziert dieses Weltgebäude. Diesen Weltentwurf der Einbildungskraft versieht die »Theosphie« mehrfach mit den Attributen des Kunstwerks. So schreibt Schiller am 1 5 . 4 . 1 7 8 8 — die »Philosophischen Briefe« fortsetzend — an Körner: Du verwirfst die Kunstidee, die ich auf das Weltall und den Schöpfer herübertrage; aber hier, glaube ich, sind wir nicht so weit von einander, als Dir scheint... 4 3 Transzendentale und äshetische Leistungen der Einbildungskraft mischen sich in deren Weltentwurf. Die auf die Welterkenntnis expandierte »Kunstidee« weist wiederum auf das ungeklärte Verhältnis von Imaginations- und Vernunftbegriff hin. So bedarf in dieser Welt »der erkennende Künstler Mensch« 4 4 vornehmlich der Phantasie, die zu seinem eigentlichen Erkenntnisorgan wird, 4 5 denn sie vermag jene idealen Muster aufzudecken, die den Schöpfungsplan repräsentieren, und läßt so den Menschen das über naturae zu seiner Unterrichtung und seinem Heil entziffern. 4 6 N u r in dieser Expansion des Ashetischen auf den vornehmlich von der Imagination getragenen Erkenntnisprozeß enthüllt sich dem Menschen noch die Verwandtschaft mit seiner Welt, seine Einbezogenheit in einen Schöpfungsplan, und teilt sich ihm mit als Freude, in der er sich als denkend-erkennendes und zugleich sinnlich-natürliches Wesen fühlen kann: 42 43 44 45 46

30

Phil. Br., Hanser Bd.V, S.354. Zit. nach Hanser Bd.V, S. 1095 (Anm. zu den Phil. Br.). von Wiese: »Friedrich Schiller«. Stuttgart 1959, 1963, S. 109. Ebd. S. 105. Vgl. Rohrmoser (a.a.O., S.333f.) zur Beziehung der »Theosophie des Julius« zur Theosophie F. C. Oetingers, wo Schiller den Begriff einer »Chiffrenschrift der Natur« vorgebildet fand, und von Wiese (a.a.O., S. 107) zum pansophischen Konzept des »über naturae«.

Harmonie, Wahrheit, Ordnung, Schönheit, Vortrefflichkeit geben mir Freude, weil sie mich in den tätigen Zustand ihres Erfinders, ihres Besitzers versetzen, weil sie mir die Gegenwart eines vernünftig empfindenden Wesens verraten und meine Verwandtschaft mit diesem Wesen mich ahnen lassen. Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravitation, der entdeckte Umlauf des Blutes, das Natursystem des Linnäus, heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike, in Herkulanum hervorgegraben — beides nur Widerschein eines Geistes, neue Bekanntschaft mit einem mir ähnlichen Wesen. Ich bespreche mich mit dem Unendlichen durch das Instrument der Natur, durch die Weltgeschichte — ich lese die Seele des Künstlers in seinem Apollo. 4 7

In diesem spekulativ entfalteten Rahmen einer künstlerisch entworfenen »prästabilierten Harmonie«, die Weltgeschichte und Natur ursprünglich aufeinander bezieht, wären Naturwissenschaften und technische Rationalität vernünftig orientiert und nicht auf ihre naturbeherrschende Funktion reduziert. Sie wären auf die Erkenntnis der Verwandtschaft des Menschen mit seiner natürlichen Welt und auf die Idee der Aussöhnung beider gerichtet, welche die Vernunft im Rahmen bloß technischen Gebrauchs ausgrenzt. Wie die historischen Wissenschaften über die Antike »neue Bekanntschaft mit einem mir ähnlichen Wesen« vermitteln, würden die Naturwissenschaften, die gegenüber den Geisteswissenschaften noch keine »zweite Kultur« gebildet hätten, an der Natur solche Ordnung letztlich dartun. Doch diese Utopie einer für die ehedem objektive Vernunft einspringenden Imagination muß der Briefwechsel des Julius mit Raphael als »schlechte« Metaphysik abweisen. Die »Theosophie« kann nicht aus diesem Rahmen des sie negierenden Briefwechsels herausgelöst werden, innerhalb dessen sie das nostalgisch betrachtete Erinnerungsbild eines objektiven Systems der Vernunft, genauer: eines dieses zu substituieren bestrebten Systems der Imagination bleiben muß. Eben darin liegt das Prekäre dieser Jugendschrift Schillers, daß sich hier Aufklärung und Glück des Menschen gegenseitig unterlaufen und verneinen. Aufklärung ereignet sich nur noch im kalten Licht einer zur subjektiven sich verengenden, den Menschen beraubenden Vernunft, deren Objektivität allein unaufgeklärtem Wähnen, Glauben, bloßen Einbildungen der Imagination möglich ist. Vernunft möchte am vollen Begriff von Aufklärung sich orientieren und kann als solche doch nicht mehr Vernunft sein. Zwar möchte die Intention der »Philosophischen Briefe« an der Konzeption einer objektiven Vernunft festhalten und diese als aufgeklärte in den blockierten, »halben«48 Aufklärungsprozeß wegweisend einbringen, doch Interpretationen, die aus den Briefen des Julius ein mehr als nur emphatisches Bekenntnis zu jener Konzeption herauslesen, suchen einen Widerspruch zu schlichten, den 47 48

Phil. Br., Hanser Bd. V, S.344f. Siehe das Schiller-Zitat auf S. 27 unserer Arbeit.

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Schiller in aller Schärfe zur Geltung kommen läßt und den allenfalls eine ironische, philosophische Positionen durchspielende Rollenverteilung in diesem Briefwechsel mit Körner mildert. Zu solchen Schlichtungsversuchen gehört auch der Theodizeebegriff, wie ihn von Wiese und vorsichtiger Rohrmoser verwenden. 49 Nach der Aufklärung durch Raphael, die von der »Theosophie des Julius« nicht wegzudenken ist, kann diese nicht mehr als echte Rechtfertigung Gottes und seines Weltplanes gelten, und auch der Gedanke einer ins Subjektive gewendeten Theodizee, die Gott auffordere, seine Schöpfung vor dem Weltentwurf der Phantasie des Menschen zu behaupten, 50 zeigt doch nur die Schwierigkeiten und Ungereimtheiten, in die der Verlust an Objektivität der Vernunft geführt hat. Indem sie diesen Verlust beklagen, aber nicht ersetzen können, lassen Schillers »Philosophische Briefe« die Leerstelle hervortreten, an der sich seine Konstruktion des Ästhetischen in diesen Rahmen von Aufklärung einfügen und in den »Ästhetischen Briefen« eine neue, aufgeklärte Autorität für das Denken und Handeln bilden wird. Wie Schillers »Philosophische Briefe« sind auch Shelleys philosophische Spekulationen in den Aufsätzen zu einer »intellectual philosophy« als Auseinandersetzung mit dem französischen Materialismus insbesondere Holbachs zu verstehen, 51 dem sich Shelley zur Zeit der »Queen Mab« noch selbst zurechnete. Anders als dem jungen Schiller, der den Angriff des Materialismus als Einsturz einer durch die objektive Vernunft oder die Imagination erschaffenen Welt erfährt, geht es Shelley zunächst darum, gegenüber den vom Materialismus und Positivismus beanspruchten »objektiven« Positionen Subjektivität geltend zu machen und diese Positionen durch den subjektivistischen Ansatz seiner intellectual philosophy aufzulösen. So gründet diese »mental philosophy« Shelleys, die sich auch gegen die — den Dualismus von Geist und Materie als zweier getrennter Entitäten behauptende — »populär philosophy« richtet, im englischen Empirismus und Skeptizismus 52 und beruht auf dem Axiom des »esse est percipi« 53 : 49

50 51 52

53

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Vgl. von Wiese zum Gedanken einer subjektiven Theodizee bei Schiller; v.W.: »Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 109 sowie Rohrmoser, a.a.O., passim. Vgl. Phil. Br., Hanser Bd.V, S.355. Vgl. Cameron: »Shelley — The Golden Years«, Cambridge (Mass.) 1974, S. 156. Vgl. Wasserman, Earl R.: »Shelley - A Critical Reading«, (Partll, 4: The Intellectual Philosophy); Baltimore, London 1971, S. 136: »In effect, Shelley's metaphysical speculations recapitulate the course of eighteenth-century empiricism and result in a special brand of idealism rooted in a persistent epistemological skepticism«. Zu Shelleys Skeptizismus vor allem C . E . Pulos: »The Deep Truth: a Study of Shelley's Scepticism«. Lincoln, Nebraska 1954. On Life, Julian Bd. VI, S. 194. Vgl. Speculations on Metaphysics, Julian Bd. VII, S. 59.

I confess that I am one of those who am unable to refuse my assent to the conclusions of those philosophers who assert that nothing exists but as it is perceived . . . the solid universe of external things is "such stuff as dreams are made of". D i e »Objektivität« einer unabhängig v o m Subjekt wirkenden, wie n o c h in » Q u e e n M a b « d e m ehernen Prinzip v o n » N e c e s s i t y « gehorchenden Materie ist in diesem H i n w e i s auf die grundsätzliche Abhängigkeit aller G e g e n s t ä n d lichkeit v o n der P e r z e p t i o n ihrer Subjektivität ü b e r f ü h r t . 5 4 D o c h m ö c h t e Shelley in einem weiteren gedanklichen Schritt aus dieser Verbindung v o n E m p i r i s m u s u n d Skeptizismus das perzipierende Subjekt als die einzig gewisse »objektive« Instanz hervorgehen sehen: The science of mind possesses eminent advantages over every other with regard to the certainty of the conclusions which it affords. It requires indeed for its entire development no more than a minute and accurate attention to facts. Every student may refer to the testimonials which he bears within himself to ascertain the authorities upon which any assertion rests. It requires no more than attention to perceive perfect sincerity in the relation of what is perceived . . . We are ourselves then despositories of the evidence of the subject which we consider. Metaphysics may be defined as the science of all that we know, feel, remember and believe; inasmuch as our knowledge, sensations, memory and faith constitute the universe considered relatively to human identity. 55 D i e intellectual philosophy, »a t e r m chosen t o indicate its mental orientat i o n « , 5 6 ist i m Intellekt, der ( A p - ) P e r z e p t i o n des Subjekts verankert, einer empirischen und d o c h zugleich auf E w i g k e i t bezogenen K o n z e p t i o n v o n Subjektivität, der o b e n erwähnten » h u m a n identity«, u m die die K e r n g e d a n ken des intellectual system kreisen. V o r d e m H i n t e r g r u n d der Schillerschen » T h e o s o p h i e des Julius« m ö c h t e m a n v o n einem philosophischen Glaubensbekenntnis Shelleys sprechen, das auch hier eine A n t w o r t auf den französischen Materialismus formuliert : . . . materialism is a seducing system to young and superficial minds. It allows its disciples to talk, and dispenses them from thinking. But I was discontented with such a view of things as it afforded; man is a being of high aspirations, "looking both before and after", whose "thoughts wander through eternity", disclaiming alliance with transcience and decay; incapable of imagining to himself annihilation; existing but in the future and the past; being, not what he is, but what he has been and shall be. Whatever may be his true and final destination, there is a spirit within him at enmity with nothingness and dissolution. This is the character of all life and being. Each is at once the centre and the circumference; the point to which all things are referred, and the line in which all things are contained. Such contempla54 55 56

Vgl. S. 346 unserer Arbeit. Speculations on Metaphysics, Julian Bd. VII, S. 63 und 62 f. Wasserman: »Shelley — A Critical Reading«, a.a.O., S. 139. 33

tions as these, materialism and the popular philosophy of mind and matter alike forbid; they are only consistent with the intellectual system. 57

Die Gedanken des Menschen wandern nach Shelleys Zitat durch die Ewigkeit und opponieren allen Vorstellungen von Vergänglichkeit, auch wenn diese die tatsächliche Bestimmung des Menschen sein sollte. Diese Ewigkeit mag mit platonischen Vorstellungen angereichert sein, ist jedoch auch als Ewigkeit der Subjektivität, als Einheit der sich gegenüber ihren Inhalten gleichbleibenden subjektiven Perzeption zu verstehen. 58 Von diesem Einheitspunkt, den die Subjektivität bildet, gehen die »high aspirations« aus, und mit ihnen soll der voraus- und zurückschauende (»>looking both before and afterphysical being< responding to self-serving instincts (as Hobbes had earlier argued and Malthus implied) was a degrading one. Such a >being< could never build a new world based on humanitarian principles«. So Hillgärtner, Rüdiger: »Bürgerlicher Individualismus und revolutionäre Moral — Percy Bysshe Shelley«. Darmstadt 1974, vgl. S. 140 f. und passim. Vgl. die Frage Schillers zu Beginn des 9. Briefes, S.592 und S. 212 unserer Arbeit. Vgl. Schiller, »Ästhetische Briefe«, 4. und 11. Brief, S. 577 und 601 f. sowie S. 259ff. unserer Arbeit.

kens könne nicht wiederum das Denken sein,63 und möchte mit dieser Abstraktion des Denkens von Kausalverknüpfungen wohl Unbedingtheit zur Geltung bringen, ohne wiederum Geist dualistisch von Materie abzuspalten: »Mind cannot be considered pure«. 64 In solchen, nach Konsistenz noch suchenden Gedankengängen will Shelley die als sein »philosophisches Glaubensbekenntnis« zitierte Intention aufrechterhalten und begründen, in der alle Dinge vermittelnden, Bedingungen unterworfenen wie unbedingten Subjektivität einen objektiven Einheitspunkt zu finden, der weder materialistisch herleitbar ist, weil seine Ewigkeit sonst in einer Vielzahl von Zuständigkeiten zerginge, noch vom damals populären Dualismus von Geist und Materie her erklärt werden kann. Dabei ist nun deutlich geworden, wie Shelley seiner intellectual philosophy eine Ungereimtheit aufbürdet, die kaum lösbare Frage, in die Schillers transzendentaler Ansatz, über den er bei Abfassung der »Ästhetischen Briefe« verfügt, nicht hineinführt: Wie kann im Rahmen einer empiristisch-skeptizistisch angelegten Konzeption von Subjektivität diese zugleich als objektiver Einheitspunkt, als Basis einer Theorie der objektiven Vernunft dienen? — Erinnern wir uns daran, daß Shelley in Abwehr einer vom französischen Materialismus beanspruchten »Objektivität« deren subjektive Vermittlung in einem empiristisch-skeptizistischen Ansatz zur Geltung brachte, so wird nun deutlich, wie Shelley vor den Folgen seines Skeptizismus zurückschreckt und unter Wahrung seines philosophischen Ansatzes die völlige Subjektivierung und Relativierung von Vernunft vermeiden möchte. Shelleys empiristisch-skeptizistischer Ansatz droht in den völligen Relativismus hineinzuführen, der mit der Mannigfaltigkeit der perzipierenden Subjekte gegeben ist, die intellectual philosophy zur Theorie einer letztendlich subjektivierten, aller Objektivität verlustig gehenden Vernunft zu mißraten. Zwar möchte Shelley in der prinzipiell subjektiven Vermittlung aller Dinge, einer »human identity« oder »that connection in the train of our successive ideas« einen objektiven Einheitspunkt finden, eine Art »leb denke«., das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muß,65 doch zergeht diese durchs Subjekt vermittelte Objektivität einem empirischen — und nicht wie bei Kant und Schiller transzendentalen — Ansatz angesichts der Vielfalt der denkenden und perzipierenden Subjekte. Eben hier setzt Shelleys Konzeption eines »one mind« an, mit der Shelley wie schon sein Vorbild Drummond in den »Academical Questions« 66 die Steri-

63 64 65

66

Vgl. On Life, Julian (Bd. VI), S.196f. Vgl. »Speculations on Metaphysics«, Julian Bd. VII, S. 61. Kant, »Kritik der reinen Vernunft«, (§16. Von der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption), Darmstadt 1966, S. 136. Vgl. Cameron: »Shelley — The Golden Years«, a.a.O., S. 156. 35

lität des Skeptizismus umgehen möchte, ohne doch begrifflich mehr zu leisten, als ihn in der bloßen Expansion ins Kollektive gar zu verabsolutieren. Der Begriff der Einheit, in dem Shelley einen Kerngedanken seiner »intellectual philosophy« sieht, wird nun über die Einheit der einzelnen subjektiven Perzeption hinaus erweitert zu einem als allgemein behaupteten Geist, der sich in den einzelnen Subjekten spezifiziert und in dem die Vorstellung eines »Gemeingeistes« als Kooperation aller Individuen angelegt sein dürfte. Wieder wird der Leitsatz der »intellectual philosophy«, das »esse est percipi«, angeführt, doch ergibt sich aus ihm nicht bruchlos die Konzeption des »one mind«, wie Shelley suggerieren möchte: The view of life presented by the most refined deductions of the intellectual philosophy, is that of unity. Nothing exists but as it is perceived . . . Pursuing the same thread of reasoning, the existence of distinct individual minds, similar to that which is employed now in questioning its own nature, is likewise found to be a delusion. The words "I, you, they", are not signs of any actual difference subsisting between the assemblage of thoughts thus indicated, but are merely marks employed to denote the different modifications of the one mind. 67

Die im empiristisch und skeptizistisch verstandenen »esse est percipi« letztlich subjektivierte Vernunft soll an einem »one mind«, einer allgemeinen objektiven Vernünftigkeit orientiert werden. Zwar wäre es eine »monstrous presumption«, 68 eine direktere Verbindung von einzelnem und allgemeinem Geist zu behaupten (»I am but a portion of it« 69 ). Doch bleibt auch mit dieser Einschränkung unverständlich, wie das einzelne empirische Subjekt einen Anspruch auf Allgemeinheit erheben kann und wie diese Allgemeinheit in der unüberschaubaren Mannigfaltigkeit empirischer Subjekte denkbar sein soll. Zumal Shelley auf das Problem stößt, wie sich das einzelne Individuum der Subjektivität anderer, die ihm doch nur als Objekte begegnen, vergewissern könne, ist es sich doch nur der eigenen Existenz und Identität intuitiv bewußt, 7 0 die aus der Begegnung mit einer jeweils unterschiedlichen Gegenständlichkeit heraus erfahrbar ist. Die »Speculations on Morals« wiederum suchen gerade in der Unterschiedlichkeit der Individuen eine Basis für das Ethische. 71 Unübersehbar sind die Ungereimtheiten geworden, in die Shelleys Bestreben führt, unter Wahrung eines empiristisch-skeptizistischen Ansatzes die Konsequenzen eines völligen Relativismus und Subjektivismus abzuweisen und eine objektiv Vernunft zu konzipieren. Diese soll wie in der »Theosophie des Julius« durch die alle Individuen einbeziehende Vernünf67 68 69 70 71

36

»On Life«, Julian, Bd. VI, S. 196. Ebd. Ebd. S. 160. Vgl. »Speculations on Metaphysics«, Julian Bd. VII, S. 61 und passim. »Speculations on Morals», Julian Bd. VII, S. 83.

tigkeit eines »one mind« und eine Mensch wie Natur umfassende Einheit denkbar werden. — Auch »Life« ist bei Shelley die einer objektiven Theorie der Vernunft eigene, sich auf die Ganzheit von Mensch und Natur beziehende Konzeption, deren unfaßliche Einheit sich dem Denken, das ihrer habhaft werden möchte, entzieht: Life and the world, or whatever we call that which we are and feel, is an astonishing thing. The mist of familiarity obscures from us the wonder of our being. We are struck with admiration at some of its transient modifications, but it is itself the great miracle . . . What is the universe of stars, and suns, of which this inhabited earth is one, and their motions, and their destiny, compared with life? Life, the great miracle, we admire not, because it is so miraculous. It is well that we are thus shielded by the familiarity of what is at once so certain and so unfathomable, from an astonishment which would otherwise absorb and overawe the functions of that which is its object. 72

Einen Vergleich zwischen der Schönheit der Natur und den Leistungen des Künstlers bringt Shelleys hier ansetzende Überlegung, daß eine Betrachtung der Welt als Kunstwerk den Creator zugleich als Künstler identifizieren müsse: . . . and it would not have been a vain boast to have said of such a man, " N o n merita nome di creator, sennon Iddio ed il Poeta". 73

»Life — that which includes all« 74 erscheint in diesen Passagen als ein Begriff, der wie »world« eine kosmologische, vernünftig geordnete und zugleich künstlerische Einheit ansetzt und menschliches Leben dezidiert in diese einbezieht. In solcher Zuwendung zum unmittelbar gegenwärtigen Lebensbereich des Menschen spielt Shelley »life« jedoch gegen die kosmologische Vorstellung aus. Denn die Erhabenheit des Universums nimmt hier wie in Shelleys frühem Poem »Queen Mab« und den zugehörigen Anmerkungen eine doppeldeutige Stellung ein: Einerseits ist dieses Planetensystem Gegenstand des naturwissenschaftlichen Denkens, das seinen Gegenstand in Kausalverhältnisse auflöst und so mit einer ästhetisierenden Betrachtung nichts Gemeinsames hat. Andererseits stört Staunen vor der Großartigkeit der planetarischen Systeme die von Shelley als notwendig erachtete und von ihm selbst betriebene naturwissenschaftlich-kritische Betrachtungsweise. »Life« ist die im unmittelbaren Lebensbereich des Menschen selbst entdeckbare, der Kosmoskonzeption analoge Einheitsvorstellung. Hier freilich ist es das wunderbare, für selbstverständlich genommene Zusammenspiel des Organischen, das in unversöhntem Gegensatz zum zergliedernden Vermögen »reason« stehen dürfte, mit dem das Subjekt aus der in »life« realisierten Einheit 72 73 74

»On Life«, Julian Bd. VI, S. 193. Ebd. Ebd.

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heraus und dieser gegenübertritt. So wiederholt sich an »life« der Gegensatz, der zwischen Makrokosmos und naturwissenschaftlichem Weltbild aufgebrochen war. Zu registrieren bleibt die für Shelleys wie Schillers Denken grundlegende Problemstellung, die subjektive Vernunft verstandesmäßigen Rationalisierens mit der objektiven, auf die Vernünftigkeit eines Kosmos gerichteten vermitteln zu wollen. 75 Shelleys im Irrealis vorgetragene Erwägung: If any artist, I do not say had executed, but had merely conceived in his mind the system of the sun, and the stars, and planets, they not existing, and had painted to us in words or upon canvas, the spectacle now afforded by the nightly cope of heaven, and illustrated it by the wisdom of astronomy, great would be our admiration...76

deutet auf eben jenen Widerspruch auch der »Philosophischen Briefe« hin, die Welt in spekulativer oder theosophischer Konzeption als Kosmos sehen zu wollen und eine solche Sichtweise zugleich als Einbildung durch eine Aufklärung der Art Raphaels zu verbieten. Die Frage muß auch für Shelleys philosophische Spekulationen gestellt werden, welche Funktion der Imagination in ihnen bei dem Versuch zukommt, von einem skeptizistisch-subjektivistischen philosophischen Ansatz her Objektivität des Denkens oder Perzipierens zu versichern. Dabei geht es den Lösungsversuchen zu diesem für die Epoche zentralen Problem weniger um die Restauration von Metaphysik, sondern Versatzstücke jener Tradition werden — wie in Shelleys wiederholtem Rückgriff auf Tasso — nur zitiert, um das gänzlich vom Subjekt her konzipierte Vernunftvermögen eine äußere natürliche Bestätigung in analogischen, spiegelbildlichen Konstruktionen finden zu lassen: Sie sind »an acknowledgement of the beauty of the universe« (Wordsworth); eben hier wird das romantische Symbol, das der Vernunft den Anschein eines Natürlichen, Objektiven verleiht, relevant, wie an anderer Stelle auszuführen sein wird. 77 Der Skeptizismus soll durch Befreiung vom Aberglauben aufklärend wirken, aber nicht wie im französischen Materialismus jeden objektiven Wahr75

Dieser Widerspruch könnte in der poetischen Praxis beider Dichter als Auseinandersetzung zwischen wissenschaftlich geprägter und kosmologischer Metaphorik aufgezeigt werden, insbesondere da, wo die Schönheit oder Erhabenheit der Natur thematischer Vorwurf ist. Zu Schiller vgl. Düsing, Wolfgang: »Kosmos und Natur in Schillers Lyrik«. In: Schiller-Jahrbuch 13 (1969), S. 1 9 6 - 2 2 0 . - Siehe diesen Gegensatz z . B . in Schillers »Die Götter Griechenlands«; hierzu S.241 - 2 4 3 unserer Arbeit.

76

»On Life«, Bd. VI, S.193. Vgl. die bekannten Passagen in W . Wordsworths »Preface« zu den »Lyrical Ballads« (1802), R. L. Brett / A. R . Jones eds., London 1963, S. 252f. Zu epochalen, die Romantik betreffenden Aspekten vgl. 2.1.6., zum in solchen Analogiebildungen relevant werdenden romantischen Symbolbegriff S. 237f. und S. 445 ff. unserer Arbeit.

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heitsgehalt, »the eternal truths«, zerstören, »charactered u p o n the imaginations of m e n « , wie die » D e f e n c e « schließlich formuliert. 7 8 D e r Imaginationsbegriff soll wie in Schillers »Theosophie des J u l i u s « in A b w e h r des französischen Materialismus z u m Statthalter eines objektiven Vernunftbegriffes aufrücken. Z w a r ist auch die Imagination im esse est percipi der intellectual p h i l o s o p h y verankert, fungiert für Shelley aber zugleich als Wahrer einer o b jektiven Vernunft, indem nach der Beseitigung des Irrtums durch den Skeptizismus die Imagination neue Verbindlichkeiten setzen soll. So greift die » D e f e n c e « den Leitsatz der »intellectual p h i l o s o p h y « auf, u m gerade an ihm die B e d e u t u n g der Imagination zu demonstrieren. E r behält seine Gültigkeit, wird jedoch zugleich als Fluch gewertet, der das perzipierende Subjekt der Zufälligkeit und Nebensächlichkeit seiner Eindrücke ausliefert. D a s esse est percipi wirft - wie das Milton-Zitat verdeutlicht — das Subjekt immer wieder auf sich zurück und birgt das Problem eines Solipsismus in sich, in dem Innen und Außen ineinander verschwimmen. 7 9 V o n jenem Fluch soll die I m a gination durch ihr M e d i u m » p o e t r y « — in noch unklarem Verhältnis von ästhetischen und erkenntnistheoretischen Kategorien — befreien: All things exist as they are perceived; at least in relation to the percipient. "The mind is its own place, and of itself can make a heaven of hell, a hell of heaven". But poetry defeats the curse which binds us to be subjected to the accident of surrounding impressions. And weather it spreads its own figured curtain, or withdraws life's dark veil from before the scene of things, it equally creates for us a being within our being. It makes us the inhabitant of a world to which the familiar world is a chaos. It reproduces the common universe of which we are portions and percipients, and it purges from our inward sight the film of familiarity which obscures from us the wonder of our being. It compels us to feel that which we perceive, and to imagine that which we know. It creates anew the universe, after it has been annihilated in our minds by the recurrence of impressions blunted by reiteration. It justifies the bold and true word of Tasso: "Non merita nome di creatore, se non Iddio ed il Poeta". 80 A u c h die Imagination ist im esse est percipi verankert, denn in ihrem M e d i u m » p o e t r y « produziert oder reproduziert sie ein U n i v e r s u m , dessen Teil und Perzipient der Mensch ist. Zugleich befreit sie in einem gleichsam gerei78 79

80

Defence, S. 50. Vgl. Cameron: »Shelley — The Golden Years«, a.a.O., S. 156: »Shelley, then, was uneasily aware of the solipsism inherent in his new epistemology: if >I< know nothing except >my< sensations, how do I know that the world is not just my dream?« Vgl. auch Wasserman: »Shelley, A Critical Reading« (Partll, 4. The Intellectual Philosophy), a.a.O., S. 147: »Shelley's philosophic evolution followed the logical course from the empiricism that was his native heritage to skepticism and then, dodging the implicit solipsism, to an objective idealism dependent upon a non-theistic and nontranscendent Absolute...« Defence, S. 56. Vgl. unsere S. 37 u. Anm. 52. 39

nigten Sehen von den festgefahrenen Wiederholungen, der Abgestumpftheit des gewöhnlichen Perzipierens und restituiert ein Universum, wie es im Geist des Menschen ursprünglich angelegt ist. Hier taucht — wie aus dem abschließenden Tasso-Zitat hervorgeht — doch wieder die — freilich säkularisierte — Vorstellung des Creator mundi auf, die Shelley in den Anmerkungen zu »Queen Mab« noch ablehnte,81 weil sie den Menschen in blindes Staunen über die Wunder des göttlichen Schaffens versetzen und die kritisch-forschende Haltung behindern kann. In der Perzeption des Subjekts verankert, doch mit einer besonderen Erkenntnisfähigkeit ausgestattet, hat die Imagination Zugang zu einer dem esse est percipi sonst verschlossenen Objektivität, den »eternal truths« und »eternal proportions«,82 den Ideen und idealen Mustern im Sinne Piatons, deren Erkenntnismöglichkeit Shelley dem empiristisch-skeptizistischen Ansatz seiner intellectual philosophy deutlich in der »Defence« aufpfropft. — Trotz der Unvereinbarkeit zwischen Shelleys philosophischem Ansatz und dieser Imaginationskonzeption ist diese in der »intellectual philosophy« bereits angelegt und wird in ihr in widersprüchlicher Weise geradezu vorbereitet. Die Imagination enthüllt in obigem Zitat aus der »Defence« »a being within our being«, »the wonder of our being«, wovon schon »On Life« spricht.83 Auch »the centre and the circumference; the point to which all things are referred, and the line in which all things are contained« — in Shelleys »philosophischem Glaubensbekenntnis« in »On Life« noch auf »all life and being« bezogen — wird in der »Defence« wörtlich übernommen und somit die Beziehung von Zentrum und Zirkumferenz des Zirkels wichtiges Charakteristikum von »poetry«.84 Freilich ist die »Defence« als Kunsttheorie und Theorie der Imagination von der »intellectual philosophy« abzugrenzen, doch gehen die — größtenteils früher zu datierenden — Überlegungen der philosophischen Fragmente und Essays Shelleys in seine kunsttheoretischen Überlegungen ein, insofern das intellectual system mit seiner offenen Frage nach der Möglichkeit von Objektivität die Konzeption der Imagination in der »Defence« vorbereitet und von dieser her eine Antwort erhält, wie Shelleys »Speculations on Metaphysics« betonen: Most of the errors of philosophers have arisen from considering the human being in a point of view too detailed and circumscribed. He is not a moral and intellec-

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40

Vgl. Hutchinson (S. 812ff.) sowie dasselbe Tasso-Zitat, das auch in »On Life« (Julian Bd. VI, S. 193) das Schöpferkonzept vorsichtig in einem säkularisierten Sinn wieder einbringt. Defence, S.50 und 32. Vgl. »On Life«, Julian Bd. VI, S.193. Vgl. »On Life«, Julian Bd. VI, S.194 und Defence S.53.

tual, — but also, and pre-eminently, an imaginative being. His own mind is his law; his own mind is all things to him. 85 Eine Theorie der Imagination und deren P r o d u k t » p o e t r y « soll in der » D e fence« gewähren, was die intellectual philosophy nicht gewähren kann, »new truth«, »additional insight into our hidden nature«: It (the intellectual system) establishes no new truth, it gives us no additional insight into our hidden nature, neither its action nor itself . . . It makes one step towards this object; it destroys error, and the roots of error. It leaves, what it is too often the duty of the reformer in political and ethical questions to leave, a vacancy. It reduces the mind to that freedom in which it would have acted, but for the misuse of words and signs, the instruments of its own creation.86 Schulze interpretiert: The analytical process of doubt is fundamental to Shelley's conception of philosophy. This process has nothing to do with the illumination of "truth", or the "hidden nature" of man; but it prepares the way for such illumination. This must be the sense in which he speaks of the "freedom" to which the mind is reduced when error is eliminated. At the same time, he tends not to deceive himself by thinking that the eradication of error and the building up of truth are the same thing. In the essay, "On Life", he records the "wonder" of seeing nature stripped of "the mist of familiarity", and compares nature to a "gigantic and wondrous work of art". He is awed by the greatness that he sees. But it is basically an internal truth he pursues, a truth of the imagination. His metaphysical speculation, formless as it is, provides him with a critique of error. His poetry is an attempt to build an imaginative truth on the freedom which this critique establishes.87 A u c h Wassermann betont die F u n k t i o n der »intellectual p h i l o s o p h y « , auf die Leistungen der Imagination hinzulenken: In brief, skepticism alone proves inadequate for Shelley, for although it "destroys error and the roots of error", it also leaves a "vacancy" and can result in paralysis, since it arrives only at "negative truth". The ultimate function of Shelley's empirical skepticism . . . is to clear the ground for a probabilism based on imagination and belief...88 N a c h der Beseitigung des Irrtums durch den Skeptizismus soll diese unausgefüllte, z u m bedrohlichen »dark abyss of h o w little we k n o w « sich ö f f nende Freiheit, 8 9 die vor der Folie der Schillerschen Überlegungen als »Skeptizismus« im Sinne von »Freigeisterei«, nicht aber »Gedankenfreiheit«, charakterisiert werden kann, durch das System einer erkennenden Imagination 85 86 87 88

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Julian Bd. VII, S.65. »On Life«, Julian Bd. VI, S. 195. Schulze: »Shelley's Theory of Poetry«. The Hague - Paris 1966, S.68 und 69f. Wasserman: »Shelley - A Critical Reading«, (Partll, 4. The Intellectual Philosophy), S. 151. »On Life«, Julian Bd. VI, S. 196. 41

ausgefüllt werden, die auf der »negative truth« der »intellectual philosophy« allgemeinverbindliche, objektive Positionen aufbaut. Doch gerät hier Shelleys von einem empirischen Ansatz ausgehendes philosophisches Denken, das nicht wie Schiller über einen transzendentalphilosophischen verfügt, in den Widersinn zweier »Vernünfte«, der negierenden skeptizistischen seines philosophischen Ansatzes und der ponierenden, die Objektivität von Vernunft zu restaurieren trachtenden seiner Theorie der Imagination. Mit einem »imaginative leap from the realm of Existence to the realm of Being« 9 0 soll das Problem der intellectual philosophy, wie ein empiristisch-skeptizistischer und die Vernunft letztlich zur subjektiven verengender Ansatz zu einer Theorie der objektiven Vernunft sich erweitern könne, unter Beibehaltung jenes Ansatzes gelöst werden. Allzu unbekümmert setzen dabei Shelleys philosophische Spekulationen die Imagination als gleichsam zweite, ponierende Vernunft an und muten ihr eine Erkenntnisfähigkeit zu, die Schillers »Philosophische Briefe« — wenn auch nur widerstrebend — als »Theosophie« negieren müssen. Nicht von der Einheit und Konsistenz des Shelleyschen Philosophierens, die Pulos in einem durchgehaltenen Skeptizismus begründet sieht, 91 sollte also die Rede sein, und auch ein Probabilismus, 92 der die imaginativ gewonnenen Erkenntnisse als Mutmaßungen, Gefühle, Erwägungen einschränke, kittet nicht den Bruch in Shelleys Epistemologie, denn allzu gewiß und unverrückbar gesetzt sind die »ewigen«, durch die Imagination vermittelten Wahrheiten, von denen Shelley in der »Defence« spricht. So bricht zwischen der negierenden, ein Vakuum zurücklassenden intellectual philosophy und Shelleys Theorie der Imagination eine unüberbrückbare Kluft auf, die dem Dualismus der popular philosophy ähnelt, den Shelleys philosophische Spekulationen doch überwinden wollten. Die kritische Auseinandersetzung mit ihnen muß ihre Unzulänglichkeiten und Ungereimtheiten aufdecken, 93 darf Shelleys philosophischen Spekulationen im Rahmen der »intellectual philosophy« nicht die Dignität eines philosophischen Systems zusprechen, das gleichberechtigt neben die anderen dieser Zeit treten könnte. — Wenn wir uns hier auf Shelleys philosophische Gedankengänge einließen, so konnten ihre Antriebe und Zielsetzungen doch gerade aus den Brüchen und Ungereimtheiten der »intellectual philosophy« heraus verstanden werden: Sie rekurriert in Abweisung der vom französischen Materialismus gesetzten Positionen auf einen in der englischen Tradition vorbereiteten 90 91 92

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42

Vgl. Wasserman: »Shelley - A Critical Reading«, a.a.O., S. 153. Vgl. Pulos: »The Deep Truth«, a.a.O., S.8, 43f., 107. Wasserman: »Shelley — A Critical Reading« (Partll, 4. »The Intellectual Philosophy«), a.a.O., S. 151 (oben zitiert)und Pulos, a.a.O., S. 77. Vgl. dagegen Wasserman, der beständig bemüht ist, Shelleys philosophische Versuche als schlüssige philosophische Theorie zu referieren.

empiristisch-skeptizistischen Ansatz und möchte doch eine Objektivität für die in diesem Ansatz letztlich subjektivierte Vernunft reklamieren, die ihr von ihm her nicht zukommen kann. Die »intellectual philosophy« soll Raum schaffen für eine — in der »Defence« auch als ästhetische vorgetragene — Theorie der Imagination, als deren philosophisches Präludium die »intellectual philosophy« dient. 94 Um philosophische Stringenz unbesorgter als Schiller, der seine »Theosophie« negieren muß, vertraut Shelley den Setzungen seines Vernunftersatzes, dem zum Zauberwort werdenden Begriff imagination, mit dessen Konzeption als zweiter, ponierender Vernunft Shelley jedoch in unauflösbaren Widerspruch zu seinem eigenen philosophischen Denkansatz tritt. Wie in der »Theosophie des Julius« soll in der »intellectual philosophy« eine Imaginationskonzeption an die Stelle eines objektiven Vernunftbegriffes treten, der im Aufklärungsprozeß verlorenzugehen droht und dessen Verlust Schiller wie Shelley in der Auseinandersetzung insbesondere mit dem französischen Materialismus beklagen und überwinden möchten. Sind »Philosophische Briefe« und »intellectual philosophy« noch der vorwiegend im philosophischen Terrain verbleibende Versuch, in der Konzentration auf den Imaginationsbegriff die Restitution der Objektivität von Vernunft denkbar werden zu lassen, so gewinnt in Schillers und Shelleys ästhetisch-theoretischen Schriften die Imaginationskonzeption mehr noch aus der unmittelbaren Kritik an gesellschaftlicher Praxis und den diese prägenden Formen von Rationalität ihre Konturen. Wenn wir nach der Beschäftigung mit den sich im philosophischen Vorfeld dieser ästhetischen Theorien bewegenden Spekulationen nun nach der Konzeption des Vernunftbegriffes in den »Ästhetischen Briefen« und der »Defence« fragen, so um vor dem Hintergrund dieser Konzeption Art und Funktion des Imaginationsbegriffes besser beurteilen zu können und mit dieser Zielrichtung die Fragestellungen weiterzuverfolgen, die sich aus dem Philosophieren beider Dichter wie deren geschichtlichen Erfahrungen für ihre ästhetischen Theorien ergaben. —

1.1.3. Zum Verhältnis von Imaginations- und Vernunftbegriff in den »Ästhetischen Briefen« und der »Defence of Poetry« Nach einer Untersuchung der philosophischen Versuche Shelleys ist in der Diskussion von »reason« und »imagination« zu Beginn der »Defence« die Gegenüberstellung des in dem empirisch-skeptizistischen Ansatz der »intellectual philosophy« zur Geltung kommenden rationalistischen Denkvermögens mit einer Theorie der Vernünftigkeit der Imagination zu vermuten. Die 94

Zur Konzentration auf den mit dem Imaginationsbegriff eng verwandten Liebesbegriff in den »Philosophischen Briefen« und der »intellectual philosophy« s. 1.2.5.

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Konzeption von »reason« innerhalb der »Defence« entstammt freilich weniger philosophischen Überlegungen als Shelleys im letzten Drittel der Abhandlung vorgetragener Gesellschaftskritik an einer übermächtigen »calculating faculty«, die zu Beginn vor aller Bezugnahme auf Gesellschaftliches als grundlegendes menschliches Vermögen angesetzt wird. »Reason« zählt Quantitatives auf, während »imagination« — Funktionen des traditionellen objektiven Vernunftbegriffes übernehmend — den Anspruch auf Qualität und Wertsetzung des Denkens gegenüber dieser beschränkten Vernunft aufrechterhält: Reason is the enumeration of quantities already known; imagination is the perception of the value of those quantities, both separately and as a whole. 95

Die instrumentelle Vernunft denkt in Relationen, klammert die Besonderheit und Identität von Gegenständen und Gedanken aus und betrachtet ausschließlich das Wie ihrer Beziehungen untereinander: . . . (reason) may be considered as mind contemplating the relations borne by one thought to another . . . its action (of reason) regards the relations of things, simply as relations; considering thoughts, not in their integral unity, but as the algebraical representations which conduct to certain general results."

Aber diese Art von Synthesen, die »reason« schafft, sind in Wahrheit bloße Summationen, die immer wieder in das Nebeneinander der akkumulierten Fakten zerfallen und keine »integral unity« bilden. So sehr dieses Denken durch Relationen, Quantitäten, »general results« auch Einheiten herstellt, so bleibt es in Shelleys Sicht eine letztlich doch bloß dissoziierende Fähigkeit, »principle of analysis«,97 deren Einheiten vorläufigen, arbeitshypothetischen Charakter haben. Bei aller Sachlichkeit bewirkt »reason« eine »meta-physische« Einheitsstiftung, die von Besonderheit und Eigenart der Dinge sich abstrahierend entfernt. Prinzip der Synthese, »principle of synthesis«,98 ist allein die Imagination, denn sie wahrt in Stellvertretung einer objektiven Vernunft den prinzipiellen Zusammenhang und Zusammenhalt von Mensch und Natur . . . and has for its object those forms which are common to universal nature and existence itself." 95 96

97 98 99

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Defence, S.23. Ebd. — Vgl. Horkheimer, »Kritik der instrumentellen Vernunft«, a.a.O., S.60f.: »Die Neutralisierung der Vernunft, die sie jeder Beziehung auf einen objektiven Inhalt und der Kraft, diesen zu beurteilen, beraubt und sie zu einem ausführenden Vermögen degradiert, das mehr mit dem Wie als mit dem Was befaßt ist, überführt sie in stets wachsendem Maße in einen bloßen stumpfsinnigen Apparat zum Registrieren von Fakten«. Defence, S.23. Ebd. Ebd.

An einer prinzipiellen, auf Versöhnung hin angelegten Einheit von Mensch und Natur ist die auf sich gestellte instrumentelle Vernunft nicht mehr orientiert. Natur, der sie keine eigene Identität zuerkennen kann, ist ihr nur immer wieder das Objekt von Beherrschung. Diese Stetigkeit des Herrschaftsverhältnisses, das von der instrumentellen Vernunft gegenüber Natur perpetuiert wird, mag in Shelleys Äußerung angesprochen sein, »reason« beziehe sich nur auf bereits bekannte Quantitäten (»quantities already known«), 1 0 0 die er als durch Perzeption gewonnene Bewußtseinsinhalte versteht. Trotz deren Vielfalt bleibt das Raster der Relationen herstellenden, quantifizierenden Vernunft dasselbe, der in diesem Sinne nichts Neues begegnen kann. »Reason« abstrahiert von der dem einzelnen Gegenstand oder Bewußtseinsinhalt eigenen Besonderheit, wie sie »imagination« zu wahren sucht: . . . as mind acting upon those thoughts so as to colour them with its own light, and composing from them as from elements, other thoughts, each containing within itself the principle of its own integrity. 101

Die Imagination ist ein die Ähnlichkeiten der Dinge bezeichnendes, im weitesten Sinne metaphorisches Vermögen, während »reason« klassifizierend trennt: Reason respects the differences, and imagination the similitudes of things. 102

Auch der Verstand schafft Gemeinsamkeiten, doch im Sinne der Subsumption unter vom Besonderen abstrahierende Begriffe, durch die Gegebenes unterscheidbar und bestimmbar wird. Als so differenzierendes Vermögen negiert »reason« die unverwechselbare Integrität und Identität des einzelnen Gegenstandes durch »algebraical respresentations«, 103 »bloße Abbreviaturen der einzelnen Gegenstände«: Ihr operativer Wert (der instrumenteilen Vernunft), ihre Rolle bei der Beherrschung der Menschen und der Natur, ist zum einzigen Kriterium gemacht worden. Die Begriffe wurden auf Zusammenfassungen von Merkmalen reduziert, die mehrere Exemplare gemeinsam haben. Indem sie eine Ähnlichkeit bezeichnen, entheben sie die Begriffe der Mühe, die Qualitäten aufzuzählen, und dienen so dazu, das Material der Erkenntnis besser zu organisieren. Man sieht in ihnen bloße Abbreviaturen der einzelnen Gegenstände, auf die sie sich beziehen. Jeder Gebrauch, der über die behelfsmäßige, technische Zusammenfassung faktischer Daten hinausgeht, ist als eine letzte Spur des Aberglaubens getilgt. Begriffe sind zu widerstandslosen, rationalisierten, arbeitssparenden Mitteln geworden. Es ist, als ob Denken selbst

100 101 102 103

Ebd., vgl. das Zitat S.44 unserer Arbeit. Defence, S.23. Ebd. Ebd., vgl. das Zitat S.44 unserer Arbeit.

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auf das Niveau industrieller Prozesse reduziert worden wäre, einem genauen Plan unterworfen — kurz, zu einem festen Bestandteil der Produktion gemacht.10'' Diese technische Rationalität, die Shelley in ihrer unmittelbaren gesellschaftlichen Beziehung als »calculating faculty« beschreibt und in einem allgemeineren, anthropologischen Sinne als »reason« ansetzt, erscheint zugleich als Instanz des Selbstinteresses, so das Shelley von »the selfish and calculating principle« spricht. 1 0 5 Das Selbstinteresse, auf das bestimmte Naturrechtslehren und hedonistische Philosophien in erster Linie den Ton legten, sollte nur eine solche Einsicht sein und wurde als etwas angesehen, das in der objektiven Struktur des Universums wurzelt und damit einen Teil im ganzen Kategoriensystem bildet. Im Industriezeitalter gewann die Idee des Selbstinteresses allmählich die Oberhand und unterdrückte schließlich die anderen Motive, die als grundlegend für das Funktionieren der Gesellschaft betrachtet wurden; diese Haltung herrschte in den führenden Schulen des Denkens und während der liberalistischen Periode im öffentlichen Bewußtsein vor.106 Während sich im Rahmen eines objektiven Vernunftbegriffes das Selbstinteresse in eine Gesamtkonzeption einordnete, an der es Korrektur und Orientierung erfahren konnte, hat es sich in der liberalen Wirtschaftsordnung und Ideologie des frühen 19. Jahrhunderts verabsolutiert 107 und erscheint Shelley in dieser ökonomischen Verflechtung als weltbeherrschender Mammon, der dem Imaginationsprinzip in »poetry« feindlich entgegentritt: »Poetry and the principle of Seif, of which money is the visible incarnation, are the G o d and Mammon of the world«. 1 0 8 Was Shelley der ungezügelten Entfaltung des kalkulierenden Denkens anlastet, trifft zugleich die ökonomische Struktur und Dynamik des englischen Kapitalismus, der sich in dieser Denkform, die sein Abhub ist, in Shelleys Sicht konzentriert. Hier bieten sich Möglichkeiten an, eine sozio-ökonomische Herleitung der bei Shelley virulenten Rationalitätsvorstellung zu versuchen; doch ist zu einer Diskussion der instrumentellen, naturbeherrschenden Vernunft von deren Manifestationen im B e reich von Ökonomie, Produktion und Markt her ein schwieriger Weg, der hier nicht gegangen zu werden braucht, wenn wir uns daran erinnern, daß Begriffsmomente von »reason« entwickelt werden sollen, um vor diesem Hintergrund die Stellung des Imaginationsbegriffes zu klären. Auch erstellt 104

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Horkheimer, »Kritik der instrumentellen Vernunft«, a.a.O., S. 30f. — Vgl. auch Horkheimer, »Zum Begriff der Vernunft«, a.a.O., S. 199. Defence, S.53. Horkheimer, »Kritik der instrumenteilen Vernunft«, a.a.O., S. 29. Bei Horkheimer stellt sich die Verabsolutierung des Eigennutzes dar als »(d)er geistige Imperialismus des abstrakten Prinzips des Selbstinteresses«; »Kritik der instrumenteilen Vernunft«, a.a.O., S.29. Defence, S.52.

das Problem einer dialektisch verlaufenden Aufklärung einen größeren Rahmen, der die Diskussion von Rationalität als ausschließliche Diskussion einer bestimmten Gesellschaftsform nicht nahelegt, zumal sich die Instrumentali tat von »reason« als die der Vernunft von ihrer Naturgeschichte her eigene an anderer Stelle unserer Überlegungen erweisen wird. 109 Auch für die sozio-ökonomischen Phänomene einer verwerteten, rein technisch funktionierenden Rationalität, wie sie sich in Gesellschaftsdarstellung und -kritik der »Ästhetischen Briefe« manifestieren, bleibt hier festzuhalten, daß es uns nicht um die Frage geht, inwiefern Schiller Elemente Marxscher Kapitalismuskritik vorwegnimmt, 110 sondern wie Schillers gesellschaftskritisch mitbestimmte Konzeption des Formtriebs die eines »Spieltriebs« beeinflußt hat. Selbstinteresse (»principle of Seif«), Kalkulation (»calculating faculty«) und ein enger Begriff von Nützlichkeit (»Utility, in this limited sense«) 111 sind die historisch-gesellschaftlichen Erscheinungsformen instrumenteller Vernunft, die Shelleys Rationalitätsbegriff »reason« zusammenfassend benennt und als geradezu naturwüchsiges, dem Menschen schlechthin eigenes Vermögen zu Beginn der »Defence« supponiert. Wie gezeigt wurde, ist »reason« als negierender, empiristisch-skeptizistischer Verstand zugleich das die Basis der »intellectual philosophy« bildende Vermögen, das den Irrtum beseitigt, jedoch eine Leere zurückläßt, die wir als Verlust an Objektivität von Vernunft zu verstehen versuchten und die gleichsam aufgefüllt werden soll von einer neue Verbindlichkeiten und Einsichten setzenden, »vernünftigen« Imagination. So werden auch in der »Defence« auf »imagination« Eigenschaften und Ansprüche transferiert, wie sie die einer objektiven Vernunft waren, die in »reason« zerstört ist. So hat »reason« als menschliches Grundvermögen nur scheinbar die Liquidation der objektiven Vernunft und deren Reduktion zum letztlich unvernünftigen Organon der Kalkulation besiegelt, denn diese objektive Vernunft ist unverkennbar in Shelleys Konzeption der Imagination eingegangen. So hält Shelley, wie wir schon seiner »intellectual philosophy« entnehmen konnten, am Begriff einer objektiven Vernunft fest, indem er den Imaginations- als Vernunftbegriff diskutiert und so die Enge von »reason« gleichsam zu kompensieren sucht. Shelley spricht der Imagina109 110

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Vgl. unten S. 54—56 unseres Abschnittes. Vgl. solche Fragestellungen bei Popitz, Heinrich: »Der entfremdete Mensch. Zeitkritik und Geschichtsphilosophie des jungen Marx«. 1967, 2. Aufl. 1968 Frankfurt a.M., S.23—41; sowie bei Hahn, Peter: »Kunst als Ideologie und Utopie. Schillers Ästhetik in politischer Absicht«. In: Glaser / Hahn / Hansen u. a.: »Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften. Grundlagen und Modellanalysen«. Stuttgart 1971, S. 172—179; Tomberg, Friedrich: »Die Kunst und die Idee einer freien geplanten Gesellschaft«. In: F . T . : »Politische Ästhetik. Vorträge und Aufsätze«. Darmstadt, Neuwied 1973. S. 9 - 2 2 . Defence, S.49.

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tion vieles zu, was Attribut des weitergefaßten Vernunftbegriffes war, sie dringt — wie Schillers Formtrieb — auf Wahrheit und Recht: 1 1 2 A man, to be greatly good, must imagine intensely and comprehensively . . . The great instrument of moral good is the imagination; and poetry administers to the effect by acting upon the cause.

Wenn Shelley die Möglichkeiten von »imagination« in ihrem Produkt »poetry« wieder einschränken muß und »cause« und »effect«, Potentialität und Aktualität des Moralischen trennt, d.h. den Wirkungskreis von »poetry« auf das Vorfeld der einzelnen moralischen Willensbildungen der Menschen beschränkt sieht, so tritt eine Eingrenzung des Imaginationsprinzips hervor, die den weitreichenden Hoffnungen, die sich auf es richten und der Übertragung von Vernunftfunktionen auf den Imaginationsbegriff entstammen, oft uneingestanden entgegensteht. Auch als Substitut eines objektiven Vernunftbegriffes will Shelley den Imaginationsbegriff nicht im Sinne eines antiaufklärerischen Irrationalismus ins Zentrum der »Defence« stellen, wiewohl es den irrationalen Momenten der Imaginationsleistungen gegen Shelleys aufklärende Intention nachzuspüren gilt. Im Gegenteil soll »imagination« als Träger der »eternal truths« fungieren, deren Auflösung Shelley angesichts des Materialismus der französischen Enzyklopädisten befürchtet. Als Aufklärer erkennt Shelley die Gefahr einer Selbstzerstörung der Aufklärung, deren Skeptizismus mit Aberglauben, Dogmatismus und schlechter Metaphysik auch jeden objektiven Wahrheitsgehalt zu negieren droht, an dem Shelleys an einen skeptizistischen philosophischen Ansatz angeschlossene Theorie der Imagination festhalten möchte: But whilst the sceptic destroys gross superstitions, let him spare to deface, as some of the French writers have defaced, the eternal truths charactered upon the imaginations of m e n . 1 "

Eine frühere Fassung verwendet hier noch die allgemeinere Formulierung »minds and imaginations of men«, 1 1 4 bevor Shelley sein Schlüsselwort in eine exklusive Stellung bringt und es dem Vernunftbegriff der Aufklärung unterschiebt: Dessen Objektivität, nicht die Vernünftigkeit der Imagination lösten jene von Shelley kritisierten geistigen Tendenzen in Frankreich auf, denen die Imagination ohnehin nur als ein inferiores Vermögen in der Hierarchie der menschlichen Kräfte galt. Im Uberschwang dieser Kritik an einer 112

113 114

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Defence, S. 33. Zu dieser moralischen, auf Identifikation und Sympathie beruhenden Funktion der Imagination siehe S. 222 ff. unserer Arbeit. Vgl. zu Schillers Formtrieb S. 50 ebd. Defence, S. 50. So in der Ausgabe von H. Buxton Forman: »Shelley's Prose Works«, 1880 (Vol. VII p. 130); siehe Julian (Bd. VII), S.356.

sich selbst zerstörenden Aufklärung werden Locke, Hume, Gibbon und sogar Voltaire als »mere reasoners« abqualifiziert, und Shelley hebt nur Rousseau von ihnen ab: » . . . he was essentially a poet«. 115 Uneingeschränkt wird der Titel »poet« — im weiten Sinne dieses Shelleyschen Begriffes — Lord Bacon zuerkannt, der als Bahnbrecher naturwissenschaftlichen Denkens zum Zwecke der Naturbeherrschung eben jene Entwicklung technischer Rationalität einleitete, deren fortgeschrittenes Stadium Shelley zum Problem wird. 116 Wenn auch Shelley Bacon mehr aus stilistischen Gründen huldigen mag, so wird zugleich doch deutlich, daß Shelley nicht die Entwicklung technischer Rationalität an sich kritisiert, sondern im Gegenteil diese als Fortschritt wertet, wenn eine Steuerung des Wissens nach Vernunftprinzipien gewährleistet ist, wie sie prinzipiell bei Bacon durch die mittelalterliche Metaphysik gegeben war, von der dieser sich aufklärend zu emanzipieren suchte. — Shelley wendet sich nicht ab von dem Wissen, das der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt akkumuliert, und den ungeahnten Möglichkeiten der Befreiung, die es verheißt. Die Bemühungen der Exponenten technischer Rationalität, als »reasoners and mechanists« und »promoters of utility, in this limited sense« tituliert, sind nach Shelleys Urteil »of the highest value«,117 solange von ihnen der Satz gilt, der sich allen in Shelleys Gesellschaftskritik verarbeiteten Erfahrungen radikal entgegensetzt: »They follow the footsteps of poets«. 118 Diese Rangfolge ist vorbereitet in dem bloß scheinbaren Dualismus der »two classes of mental action, which are called reason and imagination« zu Beginn der »Defence«, 119 den Shelley in ein merkwürdig instrumentelles Verhältnis auflöst, das die am Verstand kritisierte Instrumentalität und Naturbeherrschung überwinden möchte und nun der Imagination aufzubürden droht: »Reason is to the imagination as the instrument to the agent, as the body to the spirit, as the shadow to the substance«.120 Nur der Verstand ist der verworfene, der aus dem von der Imagination gesteckten Rahmen gefallen und von keiner objektiven Vernunft mehr geleitet ist. Shelleys sich empirisch gebende Untersuchung der menschlichen Geistestätigkeit entwirft im Indikativ, nicht Imperativ, das gesellschaftliche Gegenbild eines »Menschen in der Idee«, nicht den »Menschen in der Zeit«. Darin drückt sich Shelleys Anspruch aus, die hier vollzogene und 115 116

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Defence, S. 51 und Anm. Defence, S. 29. Zu dieser Beurteilung Bacons siehe auch Defence, S. 51 und S. 57. — Zum Begriff »poet« Abschnitt2.1.3. unserer Arbeit. — Die »Dialektik der Aufklärung« zitiert Bacon als Kronzeugen einer auf totale Naturbeherrschung abzielenden Aufklärung, siehe DdA, S. 7f. und S.41. Defence, S . 4 9 f . Ebd. Ebd. S.23. Ebd.

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prinzipiell in jedem Menschen als möglich gedachte Leitung des Verstandes durch eine »imaginative Vernunft« Wirklichkeit werden zu lassen und die in der Gesellschaft ziellos wirkende Rationalität an letzten vernünftigen, objektiven Zwecken auszurichten. Die These: »He (the human being) is not a moral, and an intellectual, — but also, and pre-eminently, an imaginative being«, 121 auf die Shelleys intellectual philosophy zuarbeitete, wird nun von seiner ästhetischen Theorie in gesellschaftskritischer Absicht in der »Defence« ausgeführt. Ein Vergleich von Schillers »Formtrieb« und Shelleys »reason« demonstriert die Verengung des Vernunftbegriffes der Aufklärung, der in den »Ästhetischen Briefen« als objektive Vernunft Kantscher Provenienz »auf Wahrheit und auf Recht« dringt, 122 in den instrumentellen Vernunftbegriff, wobei freilich daran zu erinnern ist, daß Shelleys Imaginationsbegriff den Anspruch einer objektiven Vernunft übernehmen soll. Während Shelleys Begriff »reason« im Rahmen der industriellen Revolution die rationalisierte ökonomische Gewalt zu definieren sucht, reduziert Schiller den »Formtrieb« nicht auf die verwertete Rationalität im Wirtschaftsprozeß, der im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts von der industriellen Revolution noch kaum erfaßt war. Allerdings kennt Schiller schon den » Nutzen« als »das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen«, 123 den »Egoism«, der »mitten im Schöße der raffiniertesten Geselligkeit« »sein System gegründet« habe. 124 Die Aufklärung des Verstandes, deren sich die verfeinerten Stände nicht ganz mit Unrecht rühmen, zeigt im Ganzen so wenig einen veredelnden Einfluß auf die Gesinnungen, daß sie vielmehr die Verderbnis durch Maximen befestigt. Wir verleugnen die Natur auf ihrem rechtmäßigen Felde, um auf dem moralischen ihre Tyrannei zu erfahren, und indem wir ihren Eindrücken widerstreben, nehmen wir unsre Grundsätze von ihr an. Die affektierte Dezenz unsrer Sitten verweigert ihr die verzeihliche erste Stimme, um ihr, in unsrer materialistischen Sittenlehre, die entscheidende letzte einzuräumen. Mitten im Schöße der raffiniertesten Geselligkeit hat der Egoism sein System gegründet . . .

Maßlose Naturbeherrschung schlägt um in die »Tyrannei« der vermeintlich Beherrschten. Die Verleugnung oder Unterjochung alles Stofflichen durch den Formtrieb rächt sich in einer Resurrektion der Natur, die sich desto un121 122 125 124

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»Speculations on Metaphysics«, Julian (Bd. VII), S. 65. Vgl. 12. Brief, S.80. 2. Brief, S.6. 5. Brief, S.26. Vgl. auch Fügen: »Hauptrichtungen der Literatursoziologie und ihre Methoden«. Bonn 1964, S. 5: »Schiller erkannte nicht nur >das Idol der Zeitgeistiges Tierreich< wird von Hegel bereits die kapitalistische Gesellschaft bedeutet, die der betrügerisch werdenden Relativität, des Eigennutzes, jedoch ebenso, im Sinne des Adam Smith, der durch ihn bewirkten Nützlichkeit«. Vgl. Hegel, »Phänomenologie des Geistes«, Hamburg, 6. Aufl. 1952, (Das geistige Tierreich und der Betrug oder die Sache selbst), S. 285 — 301. Zu Schillers Begriffen »Wildheit« und »Barbarei« oben S. 17f. unserer Arbeit.

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tete instrumenteile Vernunft ankündigt, muß Schiller den auf Wahrheit und Recht gerichteten Formtrieb absetzen, wiewohl er die Gefahr einer solchen Trennung von objektiver und subjektiver Vernunft sieht. Indem der spekulative Geist im Ideenreich nach unverlierbaren Besitzungen strebt, mußte er ein Fremdling in der Sinnenwelt werden und über die Form die Materie verlieren. Der Geschäftsgeist, in einen einförmigen Kreis von Objekten eingeschlossen und in diesem noch mehr durch Formeln eingeengt, mußte das freie Ganze sich aus den Augen gerückt sehen und zugleich mit seiner Sphäre verarmen. So wie ersterer versucht wird, das Wirkliche nach dem Denkbaren zu modeln und die subjektiven Bedingungen seiner Vorstellungskraft zu konstitutiven Gesetzen für das Dasein der Dinge zu erheben, so stürzte letzterer in das entgegenstehende Extrem, alle Erfahrung überhaupt nach einem besondern Fragment von Erfahrung zu schätzen und die Regeln seines Gschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied anpassen zu wollen. Der eine mußte einer leeren Subtilität, der andre einer pedantischen Beschränktheit zum Raube werden, weil jener für das Einzelne zu hoch, dieser zu tief für das Ganze stand.128

Der Formtrieb müßte auch als spekulative objektive Vernunft alle Formen von Rationalität in der Gesellschaft in seine Reflexionen einbeziehen, eben als Gestalten von Rationalität, die er selbst ist, erkennen, um nicht eine Trennung zu übernehmen, die ihm das Feld beliebiger, unverbindlicher Spekulation zuweist. Die Ähnlichkeit von »spekulativem« und »Geschäftsgeist«, die Schiller dualistisch gegeneinander hält, geht aus ihrer Charakterisierung durchaus hervor, denn jeder versucht, »die subjektiven Bedingungen seiner Vorstellungskraft zu konstitutiven Gesetzen für das Dasein der Dinge zu erheben« bzw. »die Regeln seines Geschäfts jedem Geschäft ohne Unterschied anpassen zu wollen«, worin uns jeweils die verwaltende, schematisierende Vernunft begegnet. Der »spekulative Geist im Ideenreich« ist damit nicht nur seines grundsätzlich subjektiven Charakters überführt. Vielmehr ist es das gewaltsame Vorgehen solcher Subjektivität, welches die Schwierigkeit bezeichnet, in die aufklärende, um objektive Verbindlichkeit noch bemühte Vernunft geriet. Selbst wenn sie objektive Vernunft und »Formtrieb« sein will, taucht sie mit dem Gestus des Geschäftsgeistes auf, strebt »im Ideenreich nach unverlierbaren Besitzungen« und will »das Wirkliche nach dem Denkbaren modeln«. Wenn sie auch anders als technische Rationalität auf »das freie Ganze sich richtet«, so geht aus deren umfassender Entwicklung und gesellschaftlichen Manifestationen objektive Vernunft doch nicht unbeschadet hervor: Auch an ihr tritt der Zug von Rationalität nun deutlich hervor. — Hier wäre der Ausgangspunkt für die in den »Philosophischen Briefen« erwogene Geschichtsschreibung der Vernunft.129 So versuchen der 128 129

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6. Brief, S.38. Vgl. S.27 unserer Arbeit.

24. und 25. Brief das Phänomen einer im Bereich der Sinnlichkeit verstrickten, vom Stofftrieb beherrschten Vernunft zu erklären und in ein allgemeines anthropologisches, kultur- und geistesgeschichtliches Schema der Vernunftentwicklung zu bringen, deren Phänomenologie in Ansätzen entworfen wird. 1 3 0 Die Vernunft »fängt erstlich damit an, seine (des Menschen) sinnliche Abhängigkeit grenzenlos zu machen«, und Schiller nennt dies ein Phänomen, dessen »Wichtigkeit und Allgemeinheit noch nicht gehörig entwikkelt scheint«. Die Vernunft kann gar »durch eine . . . Mißdeutung auf das physische Leben sich richten« und — statt den Menschen in Freiheit zu führen — ihn »in die furchtbarste Knechtschaft stürzen«. In solchen — wenn auch vom Formtrieb durchwirkten — physischen Zuständen spielt der »Trieb des Lebens über den Formtrieb den Meister«, so daß der Mensch hier zwar kein »vernunftloses«, aber doch »ein vernünftiges Tier« ist, weil Vernunft und Moral dem sinnlichen Bereich nur dienen. Wenn auch der F o r m trieb mit anderen Trieben in verschiedene Konstellationen treten kann, so bleibt er doch von der Konzeption her statisch und kann seiner Aufgabe nur gerecht werden, wenn er sich »von den Sinnen gereinigt« als deren Herr im Antagonismus der Kräfte etabliert und so in barbarischer Naturverleugnung »der Sklaverei des tierischen Standes« entrinnt; »Wildheit« und »Barbarei« sind die beiden Wege jener »doppelten Verirrung«, mit der der Formtrieb geschlagen erscheint. 1 3 1 In dieser Statik des Formtriebs die Verhärtung von Vernunft gegenüber Natur registriert, den Zwangscharakter, wie er im praktischen und theoretischen Vernunftgebrauch herrscht, als Problem erkannt zu haben bildet eine wesentliche Einsicht der »Ästhetischen Briefe«: Der schlimme Einfluß einer überwiegenden Sensualität auf unser Denken und Handeln fällt jedermann leicht in die Augen; nicht so leicht, ob er gleich ebenso häufig vorkommt und ebenso wichtig ist, der nachteilige Einfluß einer überwiegenden Rationalität auf unsre Erkenntnis und auf unser Betragen . . . Die Natur mag unsre Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren — alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie hinaus streben. Kommt alsdann in Jahrhunderten einer, der sich ihr mit ruhigen, keuschen und offenen Sinnen naht und deswegen auf eine Menge von Erscheinungen stößt, die wir bei unsrer Prävention übersehen haben, so erstaunen wir höchlich darüber, daß so viele Augen bei so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen. Dieses voreilige Streben nach Harmonie, ehe man die einzelnen Laute beisammen hat, die sie ausmachen sollen, diese gewalttätige Usurpation der Denkkraft in einem Gebiete, wo sie nicht unbedingt zu gebieten hat, ist der Grund der Unfruchtbarkeit so vieler denkenden

130 131

Siehe 24. und 25. Brief, S. 170-189, bes. S. 174 und 178, 180. Vgl. 26. Brief, S. 192 und unseren Abschnitt 1.1.1. 53

Köpfe für das Beste der Wissenschaft, und es ist schwer zu sagen, ob die Sinnlichkeit, welche keine Form annimmt, oder die Vernunft, welche keinen Inhalt abwartet, der Erweiterung unserer Kenntnisse mehr geschadet haben. 132

Schiller stößt über die Kritik an Einseitigkeiten der Verstandeskultur des 18. Jahrhunderts hinaus auf die Schwierigkeiten im transzendentalphilosophischen Vernunftbegriff, Naturerkenntnis anders als potentielle Naturbeherrschung denkbar werden zu lassen.133 Schiller wird es zum Problem, daß die Vernunft ihre Selbstgesetzgebung im praktischen wie theoretischen Gebrauch, in der Präformation des sinnlichen Materials durch den Schematismus der reinen Vernunft, nur um den Preis der Unterwerfung des Sinnlichen und Einzelnen wahrt: Der Gedanke, daß die Reflexion dem Sinnlich-Gegebenen in stärkerem Maße erlauben könne, »sich gegen uns herein zu bewegen«, führt Schiller zu keiner neuen Inhaltslogik oder Revision des Kantschen Verstandes- bzw. Vernunftbegriffs, den er als Formtrieb ansetzt, sondern im Spieltrieb, dessen besonderer Art von Rezeptivität möchte Schiller das zur Geltung bringen, was der vernünftige Zwang des Formtriebs versäume. Deutlicher noch verletzt Shelleys instrumenteller Vernunftbegriff durch die Bildung bloßer Relationen die Besonderheit und Integrität des einzelnen Gegenstandes und Gedankens, die »imagination« nach Shelleys Definitionen zu Beginn der »Defence« zu respektieren vermag. Shelleys Begriff »reason« erscheint durch diese Akzentuierung des — dem »Formtrieb« ebenso anhaftenden Herrschaftscharakters — nicht nur als der verengte und degradierte Vernunftbegriff der Aufklärung, sondern demonstriert in dieser Reduktion aufs bloß Instrumentelle zugleich den herrschaftlichen, instrumenteilen Charakter auch des weitergefaßten, spekulativen oder objektiven Vernunftbegriffes. »Reason« ist das herrschaftliche Substrat von Vernunft, in dem durch die umfassende Entfaltung naturbeherrschender Mittel in der industriellen Revolution das manifest geworden ist, was Vernunft schon immer anhaftete: ihr naturbeherrschender Charakter. Wie sich Adorno/Horkheimer zufolge aus einer Geschichte bzw. Naturgeschichte der Vernunft ergibt, ist sie ursprüngliches Mittel der Selbsterhaltung und planenden Naturbeherrschung.134 Die »Unnatur« der entwickelten instrumenteilen Vernunft, 132 133

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13. Brief, S.88 Anm. Vgl. das folgende Horkheimer-Zitat über Kants »Kritik der reinen Vernunft« S. 55 unseres Abschnittes. — Vgl. Horkheimer, »Materialismus und Metaphysik« (in: M. H . , »Traditionelle und kritische Theorie«. Vier Aufsätze. Frankfurt/M. 1968, S. 6 5 - 94), S. 79. Vgl. hierzu Baumeister / Kulenkampff über die »Dialektik der Aufklärung« : »Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik«, in: Neue Hefte für Philosophies, Göttingen 1973, S . 7 4 - 1 0 4 , S.80f. - Vgl. oben S.20 (1.1.1.).

die der N a t u r nur als d e m möglichen O b j e k t v o n H e r r s c h a f t entgegentreten kann, bedeutet zugleich R e g r e s s i o n auf die natürliche, barbarische Stufe v o n V e r n u n f t . D e r e n R e d u k t i o n z u m O r g a n o n der K a l k u l a t i o n ist somit nicht n u r F o l g e der V e r w e r t u n g v o n Rationalität u n d deren E i n g e b u n d e n h e i t in eine b e s t i m m t e ö k o n o m i s c h e Struktur, sondern w i r d generell erklärbar aus einem materialistischen naturgeschichtlichen A s p e k t v o n V e r n u n f t . 1 3 5 Vern u n f t u n d F o r m t r i e b sind z w a r an der Realisierung v o n Freiheit orientiert, haben j e d o c h zugleich die M o m e n t e v o n H e r r s c h a f t an sich, die sich in »reas o n « als n a t u r b e h e r r s c h e n d e m I n s t r u m e n t par excellence verdichten. » R e a s o n « w i e » F o r m t r i e b « d o k u m e n t i e r e n gleichermaßen die Herrschaftlichkeit u n d Z w a n g h a f t i g k e i t des D e n k e n s , wie sie die A u f k l ä r u n g an ihm hervortreten ließ, sie enthüllen »die Schwierigkeiten im B e g r i f f der V e r n u n f t « , der seine O b j e k t i v i t ä t als Allgemeinheit u n d N o t w e n d i g k e i t v o n den Subjekten her erzwingen m u ß : Die Schwierigkeiten im Begriff der Vernunft, die daraus hervorgehen, daß ihre Subjekte, die Träger ein und derselben Vernunft in realen Gegensätzen stehen, sind in der westlichen Aufklärung hinter der scheinbaren Klarheit ihrer Urteile versteckt. In der Kritik der reinen Vernunft dagegen kommen sie im unklaren Verhältnis des transzendentalen zum empirischen Ich und den anderen unversöhnten Widersprüchen zum Ausdruck. Kants Begriffe sind doppelsinnig. Vernunft als das transzendentale überindividuelle Ich enthält die Idee eines freien Zusammenlebens der Menschen, in dem sie zum allgemeinen Subjekt sich organisieren und den Widerstreit zwischen der reinen und empirischen Vernunft in der bewußten Solidarität des Ganzen aufheben. Es stellt die Idee der wahren Allgemeinheit dar, die Utopie. Zugleich jedoch bildet Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung. Die wahre Natur des Schematismus, der Allgemeines und Besonderes, Begriff und Einzelfall von außen aufeinander abstimmt, erweist sich schließlich in der aktuellen Wissenschaft als das Interesse der Industriegesellschaft. Das Sein wird unter dem Aspekt der Verarbeitung und Verwaltung angeschaut. 136 D i e D o p p e l s i n n i g k e i t des K a n t s c h e n V e r n u n f t b e g r i f f e s , den Schiller als F o r m trieb ü b e r n i m m t , liegt in der V e r s c h r ä n k u n g v o n solchen objektiven, 135

In Shelleys Fragment »On Marriage« (Julian Bd. VII, S. 149) wird »Reason« im Sinne natürlich — ursprünglicher Selbsterhaltung und Herrschaft gebraucht: »The superiority of strength inherent in the male rendered him the posessor and the female the posession, in the same manner as beasts are the property of men thro their preeminence of reason...« — Unter dem in diesem Zusammenhang sich ergebenden Aspekt von Vernunft ist Shelleys Ansetzung von »reason« als eines natürlich gegebenen Vermögens zu rechtfertigen; vgl. die konträren Argumente auf S. 46f., 276f. unserer Arbeit. Zur sozio-ökonomischen Herleitung des instrumentellen Vemunftbegriffes S. 46 f. ebd.

136

Horkheimer / Adorno, DdA, S. 76. 55

Versöhnung intendierenden und instrumenteilen, auf Naturbeherrschung abzielenden Momenten. Die dem »Formtrieb« anhaftende Doppelsinnigkeit, auf die schon Böhm hinweist, 137 ist kein semantisches Problem bei Schiller, sondern ergibt sich zwangsläufig aus einer Diskussion des Vernunftbegriffes. Fortschritt wäre die schrittweise Aussöhnung des Prinzips der Selbsterhaltung, das Vernunft immer wieder auf deren Herrschaftscharakter reduziert, mit den Ansprüchen einer objektiven Vernunft auf Freiheit und Versöhnung. 138 Wird Vernunft als natürliches Mittel der Selbsterhaltung und Naturbeherrschung verstanden, so mag es naheliegen, den Widerspruch der Vernunft mit sich selbst als ahistorischen, prinzipiellen festzuschreiben: In der Tat ist es die entscheidende These von Horkheimer/Adorno, daß reine autonome Vernunft in Wahrheit eben die technische Rationalität sei, die zur Kritik ansteht. Dieser Uberzeugung zufolge muß sich deshalb alle Vernunft in den Widerspruch zwischen ihrem Anspruch und der Rationalität verstricken.139 Doch die Frage, ob Vernunft ihren herrschaftlichen Charakter in der Geschichte transzendieren könne, wird von Adorno/Horkheimer offengehalten, klärt doch gerade die »Dialektik der Aufklärung« die Vernunft über sich selbst auf, so daß »die Erfüllung des Begriffs der Vernunft« im Rahmen einer sich allerdings negierenden Utopiekonzeption doch anvisiert bleibt. 140 Dabei weist Horkheimer auf die Unmöglichkeit gegenwärtigen Philosophierens 137

138

139 140

56

Böhm, Wilhelm: »Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen», Halle/Saale 1927, S. 189 (»Schlußsätze«, Nr. 4): »Die Begriffe Moral und Vernunft . . . sind bei Schiller durchweg doppeldeutig, als Ausdruck bald >bloßer< Formgesetzlichkeit, bald einer umfassenden Wertgesetzlichkeit«. Zu der sich hier anbahnenden Affinität von »Vernunft« und »Liebe« S.217ff. unserer Arbeit. Baumeister / Kulenkampff, a.a.O., S. 79. Vgl. Horkheimer (»Zum Begriff der Vernunft«, a.a.O., S.203f.): »Nur indem sie (die Vernunft) sich selbst und jeden ihrer Schritte seinem Sinn nach als Moment der geschichtlichen Auseinandersetzung zwischen den Individuen, zwischen den gesellschaftlichen Klassen, zwischen den Völkern und Kontinenten begreift, gewinnt sie die Beziehung auf jene Totalität, die ihr zugleich gegenübersteht und sie selber umfaßt, und in der ihre isolierten Konsequenzen als Unvernunft immer wieder sich erweisen können. Dieser gleichsam von der Hybris des sich emanzipierenden Subjekts vergessene Zusammenhang war, wie sehr auch in unreflektierter, naiver Form, in der Lehre einer objektiven, nicht in der reinen Zweck-Mittel-Funktion sich erschöpfenden Vernunft festgehalten. Die subjektive, formale Vernunft, der alles zum Mittel wird, ist die des Menschen, der den anderen und der Natur bloß entgegensteht, weil ohne Durchgang durch die Entzweiung die Versöhnung sich nicht ereignen kann. Die Aufhebung der Entzweiung aber ist nicht einzig ein theoretischer Prozeß. Erst wenn die Beziehung von Mensch zu Mensch und damit auch die von Mensch zu Natur anders gestaltet ist als in der Periode der Herrschaft und Vereinzelung, wird die Spaltung von subjektiver und objektiver Vernunft in einer Einheit aufgehen. Dazu aber bedarf es der Arbeit am gesellschaftlichen Ganzen, der ge-

hin, subjektive und objektive Vernunft in einem systematischen Zusammenhang zu verbinden, und sieht die Aufgabe kritischer Theoriebildung eher darin, solche Verbindungen, an deren Intention die Kritische Theorie freilich festhalten möchte, als ideologische zu negieren.141 Die Frage, wie die Kritische Theorie den Begriff einer objektiven Vernunft weiterdenkt, welche theoretischen Momente sie dabei entfaltet, kann uns hier nicht beschäftigen. 142 Für unsere Untersuchung bleibt lediglich festzuhalten, daß die Lösungsmöglichkeiten des Vernunftproblems nicht a priori auf den ästhetischen Bereich in einem geradezu arbeitsteiligen Sinne abgeschoben werden dürfen. 143 Wenn Schiller deutlich den Herrschafts- und Zwangscharakter des Formtriebs herausstellt, so konzipiert er zugleich einen »Spieltrieb«, der die Gegensätzlichkeit von Form- und Stofftrieb aufzuheben vermag, die der Formtrieb, auch wenn ihm die Durchformung und Beherrschung des Stofflichen gelingt, nicht versöhnlich beseitigt, sondern immer wieder als Widerspruch zu sich selbst und seiner Aufgabe Gegenstand der Reflexion werden läßt. Dabei stellt der Spieltrieb die Versöhnung von Stoff- und Formtrieb nicht als dritte Kraft her, sondern ist eher als eine Art Kräfteresultante zu verstehen, 144 in der »beide verbunden wirken« und sich die Zwänge von Stoff- und Formtrieb gleichermaßen verlieren.

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schichtlichen Aktivität. Die Herstellung eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem der eine dem anderen nicht zum Mittel wird, ist zugleich die Erfüllung des Begriffs der Vernunft, der in der Spaltung von objektiver Wahrheit und funktionellem Denken jetzt verloren zu gehen droht«. Vgl. Horkheimer, Max: »Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft«. (Kap. 5: Zum Begriff der Philosophie), a.a.O., S. 1 5 3 - 1 7 4 . Vgl. oben 1.1.2. S. 2 2 - 2 5 unserer Arbeit. Zu dieser Frage vgl. insbesondere das obige Horkheimer-Zitat zur »Erfüllung des Begriffes der Vernunft« sowie Horkheimers Aufsätze »Materialismus und Metaphysik« sowie »Traditionelle und kritische Theorie«. In: M. H . , »Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze«. Frankfurt/Main 1968. Wie dies bei Baumeister / Kulenkampff geschieht, a.a.O., S . 8 4 : Die Dialektik der Aufklärung sei auf den ästhetischen Erfahrungsbereich verwiesen, »der nicht eo ipso vom diskursiven Begriff verdorben ist und in dem der Gedanke einer nicht herrschaftlichen Vernunft möglich i s t . . . « . Mit dieser säuberlichen Trennung von herrschaftsfreiem Ästhetischen und eo ipso herrschaftlichem Denken wird das Vernunftproblem bei Adorno / Horkheimer nicht erledigt, zumal Adornos »Ästhetische Theorie« den Gedanken der ästhetischen Versöhnung als einer Gewalttat entwickelt. Theodor W . Adorno »Ästhetische Theorie« ( = Gesammelte Schriften Bd.7), Frankfurt/M. 1970, z . B . S.78. Vgl. Petsch, Hanser Bd. V, S . 1 1 5 0 ( A n m . zum H.Brief). Ähnlich v.Wiese (»Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 490): »Der Spieltrieb ist das Resultat der zwischen den beiden anderen Trieben betätigten Wechselwirkung und damit das Hinaufgestimmtwerden des Menschen zu seiner Ganzheit, die er nur auf diese Weise wiedergewinnen kann«.

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Der sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei. Derjenige Trieb also, in welchem beide verbunden wirken, . . . der Spieltrieb also würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren.145 Person und Zustand wie auch die anderen Dualismen der »Ästhetischen Briefe« werden in der Wirksamkeit des Spieltriebs als aufgehoben gedacht. Diese Wirksamkeit bildet die Folie, vor der Schiller auch den Zwang durch Vernunft seiner letztendlichen Heteronomie überführt und den Gedanken des autonomen Individuums nicht primär mit dem Wirkungskreis des F o r m triebs, sondern dem des Spieltriebs verbindet. Für Schiller ist »der materielle Zwang der Naturgesetze« und »der geistige Zwang der Sittengesetze« nur im Medium des Spielerischen aufhebbar, so daß erst hier »die wahre Freiheit« möglich erscheint. 1 4 6 »Totalität des Charakters«, 1 4 7 verstanden als die allseitige harmonische, von Herrschaft und Zwängen — und seien es auch die vernünftigen — freie Ausbildung der menschlichen Kräfte vermag der Formtrieb alleine nicht mehr zu gewährleisten. Vielmehr muß Schiller einen Prozeß fortschreitender Arbeitsteilung in der Gesellschaft registrieren, der nur als Rationalisierung, Einwirkung auch dessen, was Formtrieb meint, erklärt werden kann. Als vorläufiges Ergebnis dieses Prozesses erkennt Schiller einen Verlust an Harmonie in Gesellschaft und Individuum, das seine Fähigkeiten isolieren, arbeitsteilig ausbilden und einsetzen muß: Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.148 Dies sind Einwirkungen des Formtriebs, die Schillers Begriff Kultur zusammenfassend benennt. 1 4 9 Deren Aufgabe in politischer Hinsicht ist es, vermittels des Formtriebs aus dem N o t - oder Naturstaat den Vernunftstaat herauszuschälen. 1 5 0 Indem sich dabei jedoch der Formtrieb immer wieder in Herrschaft verstrickt, scheint die sich entfaltende Vernunft das Gelingen von Kultur alleine nicht mehr verbürgen zu können, ist sie in Unvernunft umge-

145 144 147 148 149 150

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14. Brief, S.96. Vgl. 15.Brief, S. 108; wichtige Belege auch im H.Brief, S.96. Vgl. das Schiller-Zitat auf S. 18 unserer Arbeit. 6. Brief, S.34. Zu Schillers Kulturbegriff vgl. 6. Brief, S.32 und ff. Vgl. den 3. Brief.

schlagen, da die in der Gesellschaft wirkende Rationalität Formen der Arbeitsteilung und isolierten Ausbildung einzelner menschlicher Vermögen bewirkt hat, die der Vernunftforderung nach Verwirklichung einer »Totalität des Charakters« widersprechen. Doch ein Rückfall hinter das durch Vernunft Erreichte oder gar in den Zustand einer von Vernunft unberührten »Wildheit«151 wird von Schiller wie Shelley nicht einmal erwogen. Schiller wendet sich nicht ab vom Prozeß der Arbeitsteilung und Rationalisierung, wie auch Shelley das Rad des wissenschaftlich-technischen Fortschritts nicht sich zurückdrehen sehen möchte. Vielmehr beurteilt Schiller die dissoziierenden Tendenzen in Individuum und Gesellschaft als notwendiges Durchgangsstadium, innerhalb dessen sich die menschlichen Kräfte gerade als isolierte effizienter ausbilden konnten. »Einseitigkeit in Übung der Kräfte führt zwar das Individuum unausbleiblich zum Irrtum, aber die Gattung zur Wahrheit«. 152 Nur durch isolierte, arbeitsteilige Ausbildung können einzelne Fähigkeiten weit über ihre ursprüngliche, natürliche Grenze hinaus ausgebildet werden. Schiller gibt das Beispiel, daß die menschliche Denkkraft niemals eine Analysis des Unendlichen oder eine Kritik der reinen Vernunft würde aufgestellt haben, wenn nicht in einzelnen dazu berufnen Subjekten die Vernunft sich vereinzelt, von allem Stoff gleichsam losgewunden und durch die angestrengteste Abstraktion ihren Blick ins Unendliche bewaffnet hätte.

Bei allem Fortschritt, aller »Wahrheit« für die Gattung trifft solche isolierte Ausbildung menschlicher Vermögen — als individuelle oder gesellschaftliche in Form der Arbeitsteilung — das Individuum als »Fluch«, das unter diesem »Weltzweck« zu leiden hat; und es ist das Problem einer unter solchen Bedingungen rationeller Arbeitsteilung ausgebildeten Vernunft, daß sie kaum noch vermag, die strengen Fesseln der Logik mit dem freien Gange der Dichtungskraft zu vertauschen und die Individualität der Dinge mit treuem und keuschem Sinn zu ergreifen. ..

Anders als Shelley, der in der Gesellschaftskritik der »Defence« das Problem technischer Rationalität als Widerspruch zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Praxis diskutiert, lenkt Schiller immer wieder den Blick aufs Individuum und dessen Harmonieverlust. Dieser erhält seinen Sinn aus einem kulturgeschichdichen triadischen Schema, nach dem es eine entwickeltere, reflektiertere Harmonie, als sie einst den Griechen möglich war, zu verwirklichen gelte.153 Was ins Blickfeld rückt, ist für 151 152 153

Vgl. S. 17f. sowie S. 410 ff. unserer Arbeit. 6. Brief, S.40, 42; dort auch die folgenden Zitate. Vgl. 6. Brief, S. 42. Zu solcher Dreiteilung der Geschichte auch bei Herder, Novalis und Fichte s. den Uberblick bei Popitz; a.a.O., S.20ff.

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Schiller eine sich auf den Spieltrieb, für Shelley auf die Leistungen der Imagination gründende Kultur, die Vernunft ihrem Begriff und Freiheitspostulat gerecht werden lassen soll. Gerade im Sinne von Aufklärung und deren von Vernunft gesetzten Zielen wird eine Kultur postuliert, die doch durch Vernunft in Gestalt des Formtriebs oder der »reason« benannten Rationalität alleine nicht verwirklicht werden kann. Nicht der Vernunftstaat, sondern der »ästhetische Staat« des Spieltriebs ist das Ziel dieses Geschichtsprozesses. So verbindet Schiller die Konzeption eines Menschen, der nach dem Durchgang durch die Entzweiung zur Versöhnung findet, primär mit dem homo ludens, nicht dem homo faber, der sich die Welt und die eigne Natur formend unterwirft. Im Zuge dieses Entwurfes eines idealen Menschenbildes spricht Schiller mit einer Geringschätzung vom »Philosophen« und »Analysten«, wie sie Shelley den Philosophen der Aufklärung als »mere reasoners« gegenüber zeigt.154 Nicht die isolierte und in Formen von Herrschaft sich verstrikkende Ausbildung der Verstandes- und Vernunftkräfte bedeutet für Schillers Programm Autonomie, sondern die versöhnliche Wirksamkeit des Formtriebs im Rahmen eines Zusammenspiels aller menschlichen Vermögen, in dem sich der Spieltrieb entfaltet. Wir konnten aufzeigen, wie Shelley aus seiner Gesellschaftskritik heraus das ideale Gegenbild eines »reason« unter die Obhut von »imagination« nehmenden Menschen zu Beginn der »Defence« entwickelt. Als Parallele hierzu kann Schillers Bild eines vom Spieltrieb durchwirkten Menschen gesehen werden, der sich nicht — wie Schiller es in der Gesellschaft als empirisches Faktum registrieren muß — »nur als Bruchstück« ausgebildet hat: Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigem Lebenskunst tragen.155

Vor dem Hintergrund dieses ästhetischen Spiels überführt Schiller auch den Zwang durch Vernunft seiner letztendlichen Heteronomie und verbindet den Gedanken des autonomen Individuums primär mit dem ästhetischen Bereich. Die dissoziierende und isolierende Tendenz, die Diremption, 156 welche nach Schillers historischer Erfahrung durch die fortschreitende Rationa154

155 156

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Vgl. S.48f. unserer Arbeit und Schillers Brief an Goethe vom 7.1. 1795 (Jonas Bd. IV, S. 96): »Soviel ist indes gewiß, der Dichter ist der einzige wahre Mensch, und der beste Philosoph ist nur eine Carricatur gegen ihn«. 15. Brief, S. 106, 108. Vgl. Popitz, »Der entfremdete Mensch«, a.a.O., S. 38.

lisierung der Gesellschaft herbeigeführt worden ist, teilt sich seiner Konzeption des Formtriebs mit, läßt die Rationalität von Vernunft hervortreten. N u r das ästhetische Spiel könnte die Polarität von Stoff- und Formtrieb aufheben, die der Formtrieb, gerade wenn ihm totale Durchformung gelingt, nicht beseitigt, sondern in deren Zwangscharakter lediglich stillstellt. Der Vergleich zwischen diesem ästhetischen Spiel, das der 27. Brief mit den Leistungen der Einbildungskraft in Verbindung bringt, 157 und Shelleys »child at play« drängt sich auf, das in der »Defence« die Wirkungsmöglichkeiten der Imagination veranschaulichen und klären helfen soll.158 Das sich hier auftuende Problem der bloß imaginierten, scheinhaften Verwirklichung des homo ludens sei an dieser Stelle nur benannt: Die Apotheose des spielenden Menschen im klassischen Kunstgebilde tritt der »schwierigem Lebenskunst« im 15. Brief schroff gegenüber.159 Sollen Individuum und Kultur, soll sich die Vernunft in den Leistungen der Imagination spielerisch vollenden, so muß diese These, die Schiller und Shelley nur mit verschiedenen Akzentuierungen in den »Ästhetischen Briefen« und der »Defence« verfechten, auch in einer generellen Diskussion des Imaginationsbegriffes überprüft werden, der nicht lediglich aus den beiden Autoren abzuleiten ist. Wird die Imagination in »Defence« und »Ästhetischen Briefen« als Aufklärung betreibende Kraft konzipiert, so muß unsere Untersuchung deren irrationalen Momenten auch gegen Schillers und Shelleys Intentionen nachspüren. Wenn die verschiedenen Funktionen und Aktionsweisen von Vernunft und Imagination nicht unterschieden werden, wenn diese wie in »Theosophie« und »intellectual philosophy« eine Zuständigkeit usurpiert, die Verstand und Vernunft zukommt, so muß die Dissoziation der Vernunft- und Imaginationsfunktionen gerade Ziel von Aufklärung sein. Die Diskussion des Imaginations- als Substitut eines objektiven Vernunftbegriffes kann dem Verdikt des Irrationalismus verfallen, auch wenn sie mit der Intention geführt wird, an den Ansprüchen von Aufklärung festzuhalten. — Im folgenden Abschnitt beabsichtigen wir keine umfängliche historische Darstellung des Begriffes Imagination, sondern möchten auf dessen wichtige Funktionen und Leistungen und die diesem Begriff inhärenten Schwierigkeiten eingehen. Dabei kann die aus den bisherigen Untersuchungen der Imaginationskonzeption Schillers und Shelleys und der Beziehung zum Aufklärungsproblem sich ergebende Leitfrage die Zielrichtung angeben: Inwiefern kann eine Konzeption begründet werden, welche die Imagination als Vernunft ansetzt? 157 158 159

27. Brief, S.208, 210. Defence, S.24. Hierzu S.120ff. unserer Arbeit. Zu dem Problem des Scheins bes. S. 103ff., 137ff. unserer Arbeit.

61

1.1.4. Zur Begriffsbestimmung der Imagination als noch nicht und schon vollendeter Vernunft In einer generellen Diskussion des Imaginationsbegriffes müssen wir über die Frage nach der — ihrer Untauglichkeit leicht zu überführenden — Substitution eines objektiven Begriffes von Vernunft durch den der Imagination hinausgehen und die grundsätzlichere Frage stellen, in welcher Hinsicht der Bereich des Imaginativen gegenüber der Vernunft ein kritisches Moment entfaltet und so die Vernunft »aufzuklären« vermag. Eine solche — noch unentwickelte — Auffassung der Imagination als Moment einer ihrem Ziel zugeführten Aufklärung dürfte auch da zu vermuten sein, wo der Imaginationsbegriff den Vernunftbegriff geradezu ersetzen soll, wie dies in Schillers »Philosophischen Briefen« und Shelleys Theoriebildungen stellenweise aufgezeigt werden konnte. In der Diskussion eines über solche Substitutionen hinausreichenden Problemzusammenhanges könnte sich die »Vernünftigkeit« der Imagination als notwendiges Moment einer den Vernunftbegriff selbst reflektierenden Aufklärung profilieren. Wenn wir in dieser generellen Diskussion des Imaginationsbegriffes vor allem auf Kant rekurrieren, dann deshalb, weil er die wesentlichen Funktionen der Imagination im Erkenntnisprozeß in gültiger Weise und unter Einbeziehung der vorausgegangenen Problemstellungen analysiert hat und dabei der unmittelbar folgenden »Imaginationsbewegung«, zu der Schiller, Schelling, Fichte und — durch Coleridges Vermittlung deutscher Philosophie — auch die englischen Romantiker gehörten, die entscheidenden Impulse gab. Die Frage nach der »Vernünftigkeit« der Imagination oder Einbildungskraft muß von deren Rolle beim Zustandekommen von Erkenntnis her, d.h. im Rahmen einer Kritik der Erkenntnisvermögen beantwortet werden. Kants »Kritik der reinen Vernunft« setzt die transzendentale Funktion der Einbildungskraft von deren empirischer produktiver und reproduktiver Funktion ab, deren Synthesis lediglich empirischen Gesetzen, nämlich denen der Assoziation unterworfen ist, und welche daher zur Erklärung der Möglichkeit der Erkenntnis a priori nichts beiträgt, und um deswillen nicht in die Transzendentalphilosophie, sondern in die Psychologie gehört.160 160

62

Kant, »Kritik der reinen Vernunft« (§24), hrsg. von Weischedel (= Werke Bd. II), Darmstadt 1966, S. 149 (B152/3). - Kant unterscheidet folgende Formen oder Funktionen der Einbildungskraft in der »Kritik der reinen Vernunft«: »Es gibt zwei empirische Vermögen der Einbildungskraft und zwei nicht- empirische. Die empirischen Vermögen sind reproduktive und produktive - die nicht-empirischen sind die reine Einbildungskraft und die transzendentale Einbildungskraft. In dieser schematischen Allgemeinheit ist die Aufzählung allerdings ziemlich nichtssagend. Erst wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Funktion jeder Einbildungskraft zukommt,

Die reproduktive Einbildungskraft ist das Vermögen, uns von einem anwesenden oder abwesenden Gegenstand ein Bild zu verschaffen, denn »Einbildungskraft

ist das Vermögen, einen Gegenstand auch ohne dessen

Gegen-

wart in der Anschauung vorzustellen«. 161 Diese Basisdefinition drückt insofern ein praktisches Moment aus, als die Einbildungskraft dem Bewußtsein Anschauungen von Gegenständen entwerfen kann, selbst wenn diese in der Wirklichkeit nicht mehr präsent sind. Die Einbildungskraft ist «Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Andern, nicht Gesetzten« 1 6 2 in dem Sinne, daß sie in Anschauungen und Vorstellungen von Gegenständlichkeit diese dem Subjekt vermittelt. Damit aber überhaupt eine in sich zusammenhängende Anschauung verfügbar wird, leistet die Einbildungskraft bereits in der empirischen Anschauung eine Synthesis des Mannigfaltigen. Denn die Einbildungskraft rezipiert nicht nur den Stoff der Sinnlichkeit, zu der sie als Vermögen der Anschauungen gehört, sondern bearbeitet diesen zugleich, indem sie die Mannigfaltigkeit sinnlicher Data zu Bildern zusammenfaßt und damit eine vom Verstand bestimmbare Synthesis liefert. Dieses synthetische Moment ist insofern praktisch, als die Einbildungskraft hierbei die tätige Zusammenfassung sinnlicher Data bewirkt und allererst so Wahrnehmung, d.h. empirisches Bewußtsein einer Anschauung ermöglicht: Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüte an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nötig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können. Es ist also in uns ein tätiges Vermögen der Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Tätigkeit aufnehmen, d.i. apprehendieren.143

161

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wird sie sinnvoll. Zunächst ist noch hinzuzufügen, daß die Einteilung auch so vorgenommen werden könnte, daß man die reproduktive von der produktiven Einbildungskraft unterscheidet und dann innerhalb der produktiven die empirisch produktive von der nicht-empirischen abhebt, denn die nicht-empirischen Vermögen der Einbildungskraft sind durchweg produktiv«; Biemel, Walter: »Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst«. ( = Kantstudien Ergänzungsheft Bd. 77) Köln 1959, S. 103. - Zu Kants »Kritik der reinen Vernunft« s. insbesondere Liebrucks, Bruno: »Die erste Revolution der Denkungsart« ( = Sprache und Bewußtsein Bd. IV), Frankfurt/M. 1968, bes. S. 462-478 und 520-553. »Kritik der reinen Vernunft« (§24: Von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt), a.a.O., S. 148 (B151). Theodor W. Adorno, »Ästhetische Theorie« ( = Gesammelte Schriften Bd. 7), Frankfurt/M. 1970, S.86f. »Kritik der reinen Vernunft«, a.a.O., S. 176 (A120/21). 63

Diese Apprehension ist eine »unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung«, eine »Tätigkeit«, in der sich die Einbildungskraft als »ein tätiges Vermögen der Synthesis« erweist. Hier schon läßt sich eine rudimentäre Form von Praxis ausmachen, wenn wir diese im weitesten Sinne verstehen als Aneignung und Verarbeitung von Wirklichkeit durch das seinen vernünftigen Interessen folgende Subjekt. — Kant betont gegen die vorherrschende Auffassung seiner Zeit, »daß die Einbildungskraft ein notwendiges Ingrediens der Wahrnehmung selbst sei«, auch als empirische keineswegs auf Perzeption, nämlich die Rezeption und Reproduktion von — durch die Sinne etwa selbst zusammengesetzten — Eindrücken und Bildern eingeengt werden könne. 164 Vielmehr schließt die Einbildungskraft in den empirischen Wahrnehmungsvorgängen das Unabgeschlossene des vereinzelten SinnlichGegebenen ab zu vom Verstand bestimmbarer Sinnlichkeit. In dieser dem Verstand zuarbeitenden Funktion bedeutet die Tätigkeit der Einbildungskraft Bearbeitung und Präformation des sinnlichen Materials, wobei sich rezeptive, Sinliches bloß empfangende, und das Empfangene tätig formende, spontane Momente verbinden. Dieses in der Apprehension der Einbildungskraft auszumachende synthetisch-praktische Moment der ordnenden Zusammenfassung von Sinnlichkeit konstituiert erst das in der Wirklichkeit sinnlich Erfahrene, geht aber nicht über es hinaus. Dies geschieht in der Reproduktion bereits wahrgenommener Gegenstände in der Einbildung. Da der Reproduktion »kein bestimmter Zusammenhang« der Eindrücke, »sondern bloß regellose Haufen derselben, mithin gar keine Erkenntnis entspringen würde«, muß die Reproduktion ihren empirischen Grund in den Regeln der »Assoziation der Vorstellungen« haben, 165 denn erst so können sich Vorstellungen »vergesellschaften«.166 Auch in dieser reproduzierenden Leistung vermittelt die Einbildungskraft zwischen dem Bereich der Sinnlichkeit und dem Verstand, indem sie diesem zusammenhängende Anschauungen von Wahrgenommenem liefert.

,M

165 166

64

Vgl. Kants Anm. auf S.176 (A120/21) der »Kritik der reinen Vernunft«, a.a.O. Hierzu Biemel, a.a.O., S.91 f.: »Dagegen weist Kant auf, daß selbst in der Wahrnehmung nicht ein bloß passives Aufnehmen, eine pure Perzeption stattfindet, vielmehr schon in ihr eine synthetische Funktion der Einbildungskraft am Werk ist — im Sinne der Apprehension als zusammenfassendes Auffassen. Durch die Synthesis der Einbildungskraft ist also selbst in der Rezeptivität schon Spontaneität am Werk«. »Kritik der reinen Vernunft«, a.a.O., S. 176f. (A120-22). Ebd. S. 163 (A100). In seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798/ 1800), hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1964 (= Werke Bd. 10), S.399ff., nennt Kant dies eine Art des »sinnlichen Dichtungsvermögens«, das »beigesellende der Anschauung in der Zeit (imaginatio associans)«. Vgl. S.475f. (A79).

Über die reproduktiven Leistungen hinaus vermag die empirische produktive Einbildungskraft, »einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen«, dem so, wie er sich in der Anschauung darbietet, kein wirklicher Gegenstand entspricht und je entsprochen hat. Dabei verarbeitet die Einbildungskraft die in wirklicher Erfahrung gewonnene Sinnlichkeit und ist somit empirisches Vermögen, kann diese jedoch zu etwas Neuem produktiv zusammensetzen bzw. verarbeiten. So nennt Kant in seiner »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«167 diese Einbildungskraft im Unterschied zur reproduktiven (»zurückrufenden«) zwar »dichtend« im Sinne von »fingierend«, betont aber deren Angewiesensein auf die nur durch Erfahrung gewinnbare Sinnlichkeit: Die produktive aber ist dennoch darum eben nicht schöpferisch, nämlich nicht vermögend, eine Sinnenvorstellung, die vorher unserem Sinnenvermögen nie gegeben war, hervorzubringen, sondern man kann den Stoff zu derselben immer nachweisen.168

Der sich im Umbilden der rezipierten Sinnlichkeit dartuenden Spontaneität der »dichtenden« Einbildungskraft gilt Kants Mißtrauen; denn diese hat bei aller Produktivität keine Vernunft an sich. So warnt er vor den »Vergehungen (vitia) der Einbildungskraft«, wenn »ihre Dichtungen entweder bloß zügellos oder gar regellos sind (effrenis aut perversa)«.169 Die »Originalität« der Einbildungskraft ist »Schwärmerei«, wenn sie nicht »zu Begriffen zusammenstimmt«.170 Die Spontaneität und Selbständigkeit der Einbildungskraft gerät in Konkurrenz zu der des Verstandes, droht gar dem Bewußtsein Anschauungen zu geben, mit denen sich der Verstand nicht mehr kritisch, d.h. realitätsbezogen auseinandersetzt. Er bezieht dann gar solche Anschauungen auf Objekte und wird selbst zu einem die Einbildungen fixierenden Mittel des Phantasierens. So ist der »Phantast«• jemand, der Einbildungen »für (innere oder äußere) Erfahrungen zu halten gewohnt ist«.171 Wenn auch die Tätigkeit der empirisch produktiven Einbildungskraft willentlich erfolgt, so ist solche Willensbildung selbst von empirischen Umständen und nicht Vernunft bestimmt. Der Mensch im Zustand wildwüchsiger produktiver Einbildungstätigkeit wird zu deren Objekt und Opfer: Wir spielen oft und gern mit der Einbildungskraft; aber die Einbildungskraft (als Phantasie) spielt eben so oft und bisweilen sehr ungelegen auch mit uns; 167

168

169 170 171

Kant, »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, a.a.O., S. 399ff. Zur Stellung der Einbildungskraft in Kants »Anthropologie« s. Biemel, a.a.O., S. 81—85. »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, a.a.O., (§25), S.466 (A67/8); ebenso S. 468 (A70). Ebd., (§30), S.484 (A91). Ebd., (§27), S. 472 (B76). Ebd., (§25), S.466 (A67/8).

65

dieses »Spiel der Phantasie mit dem Menschen« verrät im Wachen sogar einen »krankhaften Zustand«. 172 Die »regellose« Einbildungskraft nähert sich gar dem Wahnsinn, wo die Phantasie gänzlich mit dem Menschen spielt, und der Unglückliche den Lauf seiner Vorstellungen gar nicht in seiner Gewalt hat. 173

Diese die empirischen Funktionen der produktiven Einbildungskraft ausführenden Überlegungen Kants in seiner »Anthropologie« ergeben für unsere Fragestellung, daß ein Kriterium gesucht werden muß, an dem sich Leistung und Wert dieser empirisch produzierenden Einbildungskraft bestimmen lassen. Denn die bloße Freisetzung der Anschauungen vom Bezug auf Objekte und die Produktion solcher realitätsvergessener Einbildungen gehorcht empirischen psychologischen Gesetzen der Reproduktion und Assoziation und zeigt das Individuum nur im Zustand der Unfreiheit: Es ist der Unvernunft der in ihm wirkenden Einbildungen ausgeliefert. Es ließe sich somit im Realitätsbezug ein Kriterium für die Vernünftigkeit der Einbildungskraft angeben. Denn offenbar wird die Imagination unvernünftig, wenn sie ihre vernünftige Funktion, aufs Wirkliche sich objektivierend zu beziehen, d.h. ihre Vorstellungen als realitätsbezogene zu erstellen, vernachlässigt und verrät. Dieser bislang nur umrissene, realitätsbezogene Aspekt der Vernünftigkeit der Einbildungskraft läßt sich präzisieren und grundsätzlicher entwickeln, wenn wir verfolgen, welche Rolle die Einbildungskraft in Kants die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis reflektierender Theorie als transzendentales Prinzip einnimmt. Die in ihrem empirischen Gebrauch der Apprehension, Reproduktion und Assoziation auszumachende Leistung der Einbildungskraft, die dualistisch voneinander abgesetzten Bereiche von Sinnlichkeit und Verstand in der Herstellung von Synthesen aufeinander zu beziehen, so daß schließlich eine Kognition der Erscheinungen im Begriff leistbar ist, muß — als Ermöglichungsgrund allen empirischen Gebrauchs — für Kant eine zentrale philosophische Bedeutung gewinnen, indem die Einbildungskraft einerseits zur Sinlichkeit gehört, andererseits das Vermögen ist, die Sinnlichkeit a priori selbst in der Weise zu bestimmen, daß die synthesis speciosa der Einbildungskraft der synthesis intellectualis der Kategorien entsprechen kann. Das praktische Moment der Einbildungskraft, durch das dem Bewußtsein Sinnlich-Materielles zugeeignet wird, entfaltet zugleich, wie an der Tätigkeit der Apprehension zu ersehen war, in solcher Praxis eine Produktivität, die als Hervorbringen von Anschauungen für ein an Gegenstandserkenntnis interessiertes Bewußtsein zu verstehen ist: 172 173

66

Ebd., (§28), S.476 (A80). Ebd., (§30), S.485 (A92).

Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Einbildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeif, so fern aber doch ihre Synthesis eine Ausübung der Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperzeption gemäß bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft so fern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäß, muß die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung i s t . . . So fern die Einbildungskraft nun Spontaneität ist, nenne ich sie auch bisweilen die produktive Einbildungskraft ... 1 7 4 Der auf Synthesis gerichtete Grundzug der Einbildungskraft tritt hier hervor, indem sie — wie Biemel betont — nicht nur Synthesen ermöglicht, sondern die grundsätzliche Voraussetzung der Synthesis zwischen den Vermögen des Subjekts ist. 175 Die Einbildungskraft ist als ein solches bestimmendes oder spontanes Vermögen »eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben«, ein Vermögen also, das dem Verstand zuarbeitet und dessen Arbeit grundsätzlich ermöglicht. 176 N u r in diesem funktionalen, auf den Verstand bezogenen Sinne ermöglicht die transzendentale produktive Einbildungskraft die grundsätzliche Synthese, die prinzipielle Bezogenheit des Verstandes in der transzendentalen Einheit der Apperzeption auf Gegenständiges, das nur in dieser Relation einem Bewußtsein Gegenüberstehendes und damit überhaupt erfahrbar und erkennbar wird: Diese synthetische Einheit (der transzendentalen Apperzeption) setzt aber eine Synthesis voraus, oder schließt sie ein, und soll jene a priori notwendig sein, so muß letztere auch eine Synthesis a priori sein. Also bezieht sich die transzendentale Einheit der Apperzeption auf die reine Synthesis der Einbildungskraft, als eine Bedingung a priori der Möglichkeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einer Erkenntnis. Es kann aber nur die produktive Synthesis der Einbildungskraft a priori 174

175

176

Kant, »Kritik der reinen Vernunft« (§24: Von der Anwendung der Kategorien auf Gegenstände der Sinne überhaupt), a.a.O., S. 148f. (B151/2). So Biemel, a.a.O., S. 86: »Die Einbildungskraft vollzieht also die vermittelnde Synthese, und wenn diese Vermittlung streng genommen wird, so besagt das: die Synthese der Synthesen, da es nicht nur eine Synthese in Bezug daraufist, was dem Subjekt gegeben wird, sondern eine Synthese zwischen den Vermögen des Subjekts selbst...«. Vgl. »Kritik der reinen Vernunft«, a.a.O., S. 117 (A78): »Die Synthesis überhaupt ist, wie wir künftig sehen werden, die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind. Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstände zukommt, und wodurch er uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschaffet«. 67

stattfinden; denn die reproduktive beruht auf Bedingungen der Erfahrung. Also ist das Principium der notwendigen Einheit der reinen (produktiven) Synthesis der Einbildungskraft vor der Apperzeption der Grund der Möglichkeit aller Erkenntnis, besonders der Erfahrung.177 Die Urteilsformen werden nur durch die Funktion der Einbildungskraft als Kategorien denkbar, indem sie das allererst gewinnen, was ihre transzendentale Funktion ausmacht, ihr a priorisches immanentes Bezogensein auf mögliches Gegenständiges. Die transzendentale Synthesis impliziert notwendigerweise die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, durch die der Verstand auf Empfindungsdata hin orientiert wird. Diese synthetische Leistung der Einbildungskraft weist sie als Grundvermögen aus, freilich nicht im Sinne eines Voraussetzungsverhältnisses, sondern — wie Kants Formulierungen in obigem Zitat zu erkennen geben — nur innerhalb der Funktionseinheit der transzendentalen Apperzeption. Wir haben also eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt. Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits, und mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperzeption andererseits in Verbindung. Beide äußerste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, müssen vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammenhängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände eines empirischen Erkenntnisses, mithin keine Erfahrung geben würden.178 In dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft, ihrer alle mögliche Erfahrung bedingenden Fähigkeit, Sinnlichkeit und Verstand in Relation zu setzen, so daß Synthesis in der Einheit der transzendentalen Apperzeption ermöglicht wird, gründet in transzendentaler wie empirischer Hinsicht die Affinität der Erscheinungen und somit alle Synthesisleistung der Einbildungskraft in den Bereichen der Apprehension, Reproduktion, Assoziation und Rekognition. Die Einbildungskraft ist also auch ein Vermögen einer Synthesis a priori, weswegen wir ihr den Namen der produktiven Einbildungskraft geben, und, so fern sie in Ansehung alles Mannigfaltigen der Erscheinung nichts weiter, als die notwendige Einheit in der Synthesis derselben zu ihrer Absicht hat, kann diese die transzendentale Funktion der Einbildungskraft genannt werden. Es ist daher zwar befremdlich, allein aus dem Bisherigen doch einleuchtend, daß, nur vermittelst dieser transzendentalen Funktion der Einbildungskraft, sogar die Affinität der Erscheinungen, mit ihr die Assoziation und durch diese endlich die Reproduktion nach Gesetzen, folglich die Erfahrung selbst möglich werde: weil ohne sie gar keine Begriffe von Gegenständen in eine Erfahrung zusammenfließen würden.179 177 178 179

68

Ebd., S. 174f. (A118/9) (erster Zusatz und Unterstreichungen von mir). Ebd., S. 179 (A125). Ebd., S. 178 (A123/4).

Biemel bemerkt: Für die überlieferte Auffassung der Einbildungskraft ist allerdings diese Deutung ganz und gar ungewöhnlich und befremdlich. Denn die Einbildungskraft, das Vermögen der Vorstellung ohne die Gegenwart des Gegenstandes, entpuppt sich nun als produktive Einbildungskraft, als Synthesis zwischen der Sinnlichkeit und der transzendentalen Einheit der Apperzeption, also als das Grundvermögen. 180

Die Einbildungskraft kann somit als essentieller, die transzendentale Synthesis verbürgender Faktor des transzendentalen Konzepts aufgezeigt werden, ohne welchen »Synthesis« nur die Vereinigung des reinen Verstandes in den logischen Urteilsformen ohne jedes a priorische Bezogensein auf heterogen Inhaltliches sein könnte. In der essentiellen Funktion der Vermittlung von Sinnlichkeit und Verstand ist das »transzendentale Schema« der reinen Einbildungskraft sinnlich wie auch intellektuell: Nun ist klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letzte möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Scbema.m

Diese Konzeption eines Sinnlichkeit und Verstand vermittelnden »Dritten« kann jedoch nicht bedeuten, daß die Einbildungskraft in der »Kritik der reinen Vernunft« als ein im emphatischen Sinne vereinigendes drittes Grundvermögen aufzufassen wäre, in dem die Vereinigung der Gegensätze wie in Heideggers Interpretation im Grunde schon vollzogen ist. 1 8 2 Für ihn ist die transzendentale Einbildungskraft ausdrücklich ein »drittes Grundvermögen«, eine »ursprünglich bildende Mitte«: Sie ist ursprünglich einigend, d.h. sie als eigenes Vermögen bildet die Einheit der beiden anderen, die selbst zu ihr einen wesenhaften strukturalen Bezug haben.

Doch ist für Kant diese Synthesis nur in der Funktionseinheit der transzendentalen Einheit der Apperzeption konstituierbar und nicht dieser vorgängig. N u r innerhalb dieser vom Verstand bestimmten Funktionseinheit ist die grundsätzliche Synthesis der Einbildungskraft als die a priorische Bezogen-

180

181

182

Biemel, a.a.O., S. 93. Seine ontologisierende Auffassung wird jedoch im folgenden wie auch die Heideggers abgewiesen. »Kritik der reinen Vernunft«, (Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe), a.a.O., S. 187f. Vgl. Heidegger, Martin: »Kant und das Problem der Metaphysik«. 4. Aufl. 1973 Frankfurt/M., bes. S. 1 2 1 - 1 9 7 (Dritter Abschnitt), S. 129 und 132. Ähnlich Mörchen, Hermann: »Einbildungskraft bei Kant«. 2. Aufl. Tübingen 1970, bes. S. 107—129. Weniger entschieden Biemel, s. das vorangegangene Zitat und Biemel, S. 85 ff.

69

heit von Sinnlichkeit und Verstand zu verstehen, diese Synthesis ist — wie Kant in obigem Zitat formuliert 183 — »eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung . . . « . Das Wort Synthesis freilich übte schon von Beginn der Kant-Interpretation an seine Faszination aus, indem es den Gedanken nahelegte, schon auf dem Boden einer Kritik der reinen Vernunft die Einbildungskraft als das schöpferische Vermögen der Erkenntnis verstehen zu können. 184 So wird die — für das Funktionieren des transzendentalen Konzeptes essentielle — transzendentale Einbildungskraft, die »für die Begründung der Philosophie unmittelbar nach Kant zentral« ist,185 in einer nun einsetzenden »Imaginationsbewegung«186 als eine im emphatischen Sinne vereinigende, schöpferische Kraft gedeutet, wobei dieser Gedanke einer schöpferischen Ineinsbildung des Getrennten durch die Einbildungskraft die Zusammenschau ihrer Erkenntnis- und ästhetischen Funktionen nahelegen muß. Doch ist im Rahmen der Kantschen Kritiken die Bedeutung von Synthesis zu differenzieren, wenn Faszination durch Begriffe nicht in deren Verunklärung hineinführen soll. Erst durch diese Differenzierung, mit der eine ontologisierende Auffassung der Einbildungskraft abzuweisen ist, wird erhellt, inwiefern deren Synthesis des Mannigfaltigen an der Rationalität des Denkens teilhat oder dieser opponiert: Die Synthesis des Mannigfaltigen bezieht sich formend-herrschaftlich auf das in den Sinnen Rezipierte (Bedeutung I). Diese transzendentale Synthesis kann jedoch nicht beanspruchen, Synthesis des Formenden und dieses Anderen zu sein, Einigung im Sinne der Versöhnung also (Bedeutung II). Nicht ohne Widerspruch zu dieser Differenz wird es schon in Schellings »System des transzendentalen Idealismus« zum Theorem, daß jenes wunderbare Vermögen, durch welches nach der Behauptung des Philosophen in der produktiven Anschauung ein unendlicher Gegensatz sich aufhebt,

die Einbildungskraft als »das Dichtungsvermögen« sei, 183

184

185

186

70

Kritik der reinen Vernunft, (§24), a.a.O., S. 148f. (B151-53); zit. S.67 in unserem Abschnitt. Vgl. Biemel zu dem grundsätzlichen, in allen ihren Funktionen auszumachenden syn-haften Charakter der Einbildungskraft, a.a.O., S. 106f. sowie zur Einbildungskraft in der »Kritik der reinen Vernunft« S. 85—103. — Noch stärker hebt Heidegger, a.a.O., bes. S. 155—165, den eigenständigen und vereinigenden Charakter der transzendentalen Einbildungskraft in der »Kritik der reinen Vernunft« hervor. Vgl. schon Schellings onthologische Interpretation; hierzu im folgenden. Siehe Homann, K. sub. Einbildungskraft, in: Ritter (Hrsg.): »Historisches Wörterbuch der Philosophie«, Bd. 2, Basel, Darmstadt 1972, Sp. 348 und ff. Vgl. zur Romantik als »Imaginationsbewegung« Abschnittl.2.6. unserer Arbeit.

durch welches auch der Kunst das Unmögliche gelingt, nämlich einen unendlichen Gegensatz in einem endlichen Produkt aufzuheben. Es ist das Dichtungsvermögen, was in der ersten Potenz die ursprüngliche Anschauung ist, und umgekehrt, es ist nur die in der höchsten Potenz sich wiederholende produktive Anschauung, was wir Dichtungsvermögen nennen. Es ist ein und dasselbe, was in beiden tätig ist, das einzige, wodurch wir fähig sind, auch das Widersprechende zu denken und zusammenzufassen, — die Einbildungskraft. 187

Schellings »System des transzendentalen Idealismus« ist von den Leistungen der transzendentalen Einbildungskraft als »intellektueller Anschauung«188 und der »ästhetischen Anschauung«, zwei Extremen her gedacht,189 die durch die grundlegende Fähigkeit der Einbildungskraft zur Ineinsbildung, d.h. Produktion der Identität des Getrennten, in Beziehung treten, wobei »die ästhetische Anschauung nur die objektiv gewordene transzendentale ist (Schellings Korrektur: intellektuelle) . ..«. 1 9 0 Die das Schellingsche System tragende Einbildungskraft ist in einem emphatischen, schöpferischen Sinne als in-eins bildende konzipiert, indem in der intellektuellen Anschauung die Möglichkeit einer Uberwindung der Trennung von Subjektivem und Objektivem bereits angelegt, doch noch nicht — wie in der Sinnlichkeit der »ästhetischen Anschauung« — objektiv geworden ist. In der intellektuellen Anschauung ist die prinzipielle Einheit von Mensch und Welt, deren prästabilierte Harmonie angesetzt.191 Die Konzeption einer transzendentalen produktiven Einbildungskraft wird so von Schelling in schöpferischer Hinsicht verstanden, indem die Einbildungskraft als intellektuelle Anschauung nicht nur »erste Anwendung« des Verstandes und Moment einer Funktionseinheit zwischen diesem und dem Sinnlich-Gegebenen ist, sondern als eine das Getrennte verbindende Mittelkraft fungiert, die Synthesis als noch unentwikkelte Identität ursprünglich an sich hat. Weil die produktive oder intellektuelle als innere Anschauung noch nicht objektiv geworden ist, bedarf sie der Objektivation der ästhetischen Anschauung, die »nur die in der höchsten Potenz sich wiederholende produktive Anschauung« ist. Damit wird die Fähigkeit der Einbildungskraft, »auch das Widersprechende zu denken und zusammenzufassen«, Identität zu produzieren, wie sie schon »in der ersten Potenz« als »ursprüngliche Anschauung« angelegt ist und ihren höchsten Ausdruck im Gelingen der Kunst findet, »einen unendlichen Gegensatz in einem

187

188 189

1,1

F . W . J . Schelling: »System des transzendentalen Idealismus«, Hrsg. von R . - E . Schulz ( = Philosophische Bibliothek Bd.254) Hamburg: Meiner 1957, S.295f. (Im folgenden abgekürzt als: Schelling, System). Schelling, System, S.297. Vgl. ebd., S.299. Ebd., S.297. Vgl. ebd., S. 16 und 298.

71

endlichen P r o d u k t aufzuheben«, zur Grundlage einer am Identitätsdenken orientierten Philosophie. W e n n nun in diesem Verständnis der »ursprünglichen« oder «intellektuellen Anschauung« Kants Funktionsbestimmung der produktiven transzendentalen Einbildungskraft in der »Kritik der reinen Vernunft« radikalisiert und verlassen ist, so verdeutlichen doch Schellings Überlegungen, wie die Stellung der Einbildungskraft in einer Kritik der Erkenntnismöglichkeit f ü r die »Imaginationsbewegung« Ansätze bot, die Einbildungskraft schon hier — in Hinblick auf deren ästhetische Funktion — als das vernünftig-schöpferische Vermögen des Menschen zu deuten. Halten wir jedoch f ü r unsere Frage nach der Vernünftigkeit der Einbildungskraft an der präzisen Bedeutung von Synthesis im Rahmen der Kantschen Kritik der Erkenntnis fest. Die transzendentale produktive Einbildungskraft wirkt hier als vernünftiges oder genauer gesagt: »verständiges« Vermögen, indem sie eine Synthesis des Mannigfaltigen leistet, die vom Verstand begrifflich fixierbar u n d somit auf Realität bezogen ist, so daß deren Erfahrung und Erkenntnis Zustandekommen kann. Die Einbildungskraft erweist sich dabei als tätigpraktisches Vermögen, indem sie das Sinnlich-Mannigfaltige »apprehendierend« zusammenfaßt u n d das Bewußtsein an sinnlich-realen Empfindungsdata orientiert. Sie ist produktiv, indem sie in solcher praktischer Tätigkeit Anschauungen von Gegenständen — auch ohne deren reale Gegenwart — hervorbringen u n d einem an Erfahrung und Erkenntnis interessierten Bewußtsein zugänglich machen kann. Vernünftigkeit kann diese Synthesis der Einbildungskraft als eines praktischen und produktiven Vermögens nur im Rahmen einer vom Verstand bestimmten Funktionseinheit beanspruchen, deren Herrschaftsmomente hervorzukehren sind, so daß Synthesis nicht schon als Versöhnung, Vernünftiges also, hier interpretierbar wird. D e n n die Einbildungskraft ist als Erkenntnisvermögen Sektor oder »Infrastruktur«, »eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste A n wendung desselben«, der unter dem Titel Einbildungskraft sich auf Sinnlichkeit bezieht: 192

1,2

72

Liebrucks, Bruno: »Die erste Revolution der Denkungsart« (= Sprache und Bewußtsein Bd. IV), a.a.O., S. 551 (zum Schematismus der reinen Verstandesbegriffe); vgl. S. 67 dieses Abschnittes unserer Arbeit und »Kritik der reinen Vernunft«, a.a.O., S. 175 (AI 19): »Die Einheit der Apperzeption in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungskraft ist der Verstand, und eben dieselbe Einheit, beziehungsweise auf die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft, der reine Verstand«. (Herv. im Text). — A.R. Manser (sub: IMAGINATION, in: Edwards, Paul, ed.: »The Encyclopedia of Philosophy«, Vol. IV, London / New York 1967, S. 136): »So central is the work of the imagination to the first Critique that it is sometimes hard to separate from the understanding...«.

Damit ist der Herrschaftsanspruch des reinen Denkens über die Anschauung festgehalten, obwohl doch dieser Herr ohne Knecht nicht leben, d.h. gar keine Bedeutung haben kann.

Das mimetische Verfahren der Einbildungskraft, das vom Subjekt nicht Gesetzte in Anschauungen erfahr- und erkennbar zu machen, arbeitet in erkenntnistheoretischer Hinsicht der Gesetzmäßigkeit des Verstandes, der Rationalität des Subjektes zu, das die Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum Material der Unterjochung. 1 9 3

Diese Herrschaft, der die Einbildungskraft als Erkenntnisvermögen in der Funktionseinheit mit dem Verstand unterliegt und die sie selbst ausübt, läßt allererst verständlich werden, weshalb in ästhetischem Zusammenhang in der »Kritik der Urteilskraft« von der Freiheit der Einbildungskraft und einem freien Spiel der Erkenntnisvermögen gesprochen werden kann. Dabei darf unsere Frage nach der Vernünftigkeit der Einbildungskraft nicht mehr alleine unter dem Aspekt des Realitätsbezugs gestellt und beantwortet werden, wenn sie nun in ästhetischem Zusammenhang aus ihrer den begrifflichen Fixierungen des Verstandes zuarbeitenden Funktion freigesetzt ist, von ihrer vernünftigen bzw. »verständigen« Aufgabe absieht, sich objektivierend auf Wirklichkeit zu beziehen. Welche Vernünftigkeit der Einbildungskraft jenseits solcher Realitäts- und Objektbeziehung zukommen kann, muß somit die Leitfrage sein, wenn wir nun die Rolle der Einbildungskraft in ästhetischem Zusammenhang untersuchen. In ästhetischer Funktion ist die Einbildungskraft nicht mehr dem Verstand in der Weise unterworfen, daß ihre Synthesis des Mannigfaltigen von diesem durch einen Begriff vom Objekt bestimmt und fixiert würde. Die über die Einbildungskraft dem Bewußtsein vermittelte Sinnlichkeit wird aus der Fixierung durch bestimmte Begriffe freigesetzt. Die so unbestimmt bleibende »Vorstellung eines Objekts« gewinnt ihre »ästhetische Beschaffenheit« nur durch »ihre Beziehung auf das Subjekt«, ist »bloß subjektiv«, ohne »logische Gültigkeit« »zur Bestimmung des Gegenstandes (zum Erkenntnisse)« zu besitzen. 194 Der §35 der »Kritik der Urteilskraft« führt zusammenfassend zum Verhältnis der Erkenntnisvermögen aus: 193

194

W . Adorno / Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, a.a.O., S. 76; vgl. die Diskussion von Vernunft als Herrschaft bzw. Rationalität im vorigen Abschnitt S. 55 f. unserer Arbeit. Kant: »Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie«, ( = Werke Bd. V), hrsg. von Weischedel, Darmstadt 1966 (im folgenden abgekürzt als: Kr. d. Urt.); EinleitungVII. Von der ästhetischen Vorstellung der Zweckmäßigkeit der Natur, S.263 ( A X L I ) . Dieser rein subjektive Charakter des Ästhetischen wird ebenso im §1 der »Analytik des Schönen« definiert; hierzu S. 76 f. unserer Arbeit.

73

Weil nun dem Urteile hier kein Begriff vom Objekte zum Grund liegt, so kann es nur in der Subsumption der Einbildungskraft selbst (bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird) unter die Bedingungen, daß der Verstand überhaupt von der Anschauung zu Begriffen gelangt, bestehen. D.i. weil eben darin, daß die Einbildungskraft ohne Begriffe schematisiert, die Freiheit derselben besteht: so muß das Geschmacksurteil auf einer bloßen Empfindung der sich wechselseitig belebenden Einbildungskraft in ihrer Freiheit, und des Verstandes mit seiner Gesetzmäßigkeit, also auf einem Gefühle beruhen, das den Gegenstand nach der Zweckmäßigkeit der Vorstellung (wodurch ein Gegenstand gegeben wird) auf die Beförderung des Erkenntnisvermögens in ihrem freien Spiele beurteilen läßt; und der Geschmack, als subjektive Urteilskraft, enthält ein Prinzip der Subsumption, aber nicht der Anschauungen unter Begriffe, sondern des Vermögens der Anschauungen oder Darstellungen (d.i. der Einbildungskraft) unter das Vermögen der Begriffe (d.i. den Verstand), sofern das erstere in seiner Freiheit zum letzteren in seiner Gesetzmäßigkeit zusammenstimmt." 5

Einbildungskraft wie Verstand werden in ihrer Erkenntnis ermöglichenden Funktion angesprochen, doch da »kein Begriff vom Objekte« bestimmte Erkenntnis hervorbringt, sind die Erkenntniskräfte in ihrem grundsätzlichen Vermögen angesprochen, sich »in ihrem freien Spiele« aufeinander zu beziehen. Auch die ästhetisch relevante Funktion der Einbildungskraft wird von deren Rolle als Erkenntnisvermögen her bestimmt, doch da hier die Synthesis des Mannigfaltigen nicht vom Verstand fixiert und auf Objekte bezogen wird, kommt es ohne Erkenntnis von Objekten zu einem Zusammenspiel mit der Verstandestätigkeit. Indem »die Einbildungskraft ohne Begriff schematisiert«, worin »die Freiheit derselben besteht«, ist sie in ihrem Vermögen der »Darstellungen« von Begriffen angesprochen und aktiviert, ohne doch die Synthesis des Sinnlich-Mannigfaltigen sub specie der begrifflichen Subsumption und Bestimmung leisten zu müssen. Die Einbildungskraft behält ihre für den Erkenntnisprozeß relevanten Leistungen bei, ohne sie in der vom Verstand bestimmten Funktionseinheit unter der Herrschaft des Begriffs vollbringen zu müssen. Damit ist die Einbildungskraft — verglichen mit ihrer Erkenntnis ermöglichenden Funktion in der »Kritik der reinen Vernunft« — im ästhetischen Zusammenhang in Freiheit gesetzt, soll aber zugleich zum Verstandesvermögen »in seiner Gesetzmäßigkeit« zusammenstimmen. Die »Allgemeine Anmerkung zum ersten Abschnitte der Analytik« läßt diesen Widerspruch einer freien Gesetzmäßigkeit der Einbildungskraft hervortreten: 1 ' 6 Wenn nun im Geschmacksurteile die Einbildungskraft in ihrer Freiheit betrachtet werden muß, so wird sie erstlich nicht reproduktiv, wie sie den Assoziationsgesetzen unterworfen ist, sondern als produktiv und selbsttätig (als Urheberin willkür195

74

Kr. d. Urt., §35, a.a.O., S.381f. (A144/45), Hervorhebungen im Text. Kr. d. Urt., S.324 (A68).

licher Formen möglicher Anschauungen) angenommen; und, ob sie zwar bei der Auffassung eines gegebenen Gegenstandes der Sinne an eine bestimmte Form dieses Objekts gebunden ist und sofern kein freies Spiel (wie im Dichten) hat, so läßt sich doch noch wohl begreifen: daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne, die eine Zusammensetzung des Mannigfaltigen enthält, wie sie die Einbildungskraft, wenn sie sich selbst frei überlassen wäre, in Einstimmung mit der Verstandesgesetzmäßigkeit überhaupt entwerfen würde. Allein daß die Einbildungskraft frei und doch von selbst gesetzmäßig sei, d.i. daß sie eine Autonomie bei sich führe, ist ein Widerspruch.

In der ersten Fassung der Einleitung in die »Kritik der Urteilskraft« bezeichnet Kant eine solche Form von Autonomie in Beziehung auf die Gesetzgebung der Urteilskraft als Heautonomie, da hier nicht wie in der Kritik der reinen und praktischen Vernunft ein Gegenstandsbereich begrifflich bestimmbar wird, sondern die Urteilskraft sich selbst das Gesetz gibt.197 Eine solche heautonome Struktur muß auch die Einbildungskraft bei der Beurteilung des Schönen haben, wenn sie »frei und doch von selbst gesetzmäßig« mit der Gesetzmäßigkeit des Begriffsvermögens zusammenspielen kann. So erhellt der Duktus der »Kritik der Urteilskraft«, daß die Entgegensetzung von Freiheit und Gesetzmäßigkeit nicht starr vorzunehmen ist: Im Zusammenspiel mit der Einbildungskraft erhält die Gesetzmäßigkeit des Verstandes die Freiheit, die an ihm — wie noch auszuführen ist — Vernunft manifest werden läßt. Als heautonome, freie und doch von selbst gesetzmäßige beläßt die Einbildungskraft, auch wenn sie »bei der Auffassung eines gegebenen Gegenstandes der Sinne an eine bestimmte Form dieses Objekts gebunden ist«, dieses doch im vorgegenständlichen Bereich der begrifflich nicht fixierten schönen Vorstellung. Somit können per definitionem keine objektiven, einen Gegenstandsbereich charakterisierende Strukturen der Anschauung hervortreten, welche die im freien ästhetischen Zusammenspiel mit dem Verstand befindliche Einbildungskraft in Erfahrung realer Gegenstände oder »als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen« hervorbringt. Zwar mutmaßt Kant, »daß der Gegenstand ihr gerade eine solche Form an die Hand geben könne«, wie sie die Einbildungskraft in ihrem freien und doch gesetzmäßigen Spiel produzieren würde, doch läßt sich auf dem Boden der Analytik des Schönen dieser Formbegriff nicht vom Objekt her bestimmen. Kants Definition von Schönheit als »Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird« meint lediglich die subjektive Zweckmäßigkeit des als lustvoll empfundenen Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand:

1,7

Kr. d. Urt., S.203.

75

So fällt die Zweckmäßigkeit der Form des Gegenstandes mit der Form der Zweckmäßigkeit im freien Spiel der Erkenntnisvermögen zusammen . . . Das Gefühl der Lust ist das Bewußtsein von der Harmonie der Erkenntnisvermögen, nicht das Bewußtsein von einer harmonischen Form des schönen Gegenstandes."8 So verbleibt das ästhetisch reflektierende Subjekt — wie § 1 der Analytik des Schönen festlegt und der Entwicklung der einzelnen Momente des Geschmacksurteils vorgibt — ganz im Räume des Sich-Selbst-Fühlens, denn das Geschmacksurteil, das »die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstände verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben« bezieht, ist ein Urteil über diese Beziehung, »wodurch gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt«. 199 Da nichts im O b jekt sich bestimmen läßt, was als Anschauung der ästhetisch agierenden Einbildungskraft taugt, kann auf dem Boden der Analytik des Schönen kein spezifisch ästhetischer Gegenstandsbereich umrissen werden, d.h. sie ist in der von G. F . Meier und Baumgarten geprägten Tradition ästhetischer Theorie in Deutschland als Kritik der ästhetischen Erfahrung

angelegt. 200 Indem prin-

zipiell alle Gegenständlichkeit zur schönen Vollstellung im Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand werden kann, eröffnet die Kritik der U r teilskraft einen Naturbegriff, der nicht auf begriffliche Erfassung und Beherrschung abzielt: Der ursprünglich aus der Urteilskraft entspringende und ihr eigentümliche Begriff ist also der von der Natur als Kunst, mit anderen Worten der Technik der Natur in Ansehung ihrer besonderen Gesetze . . . Hierdurch aber wird die Kenntnis der Natur mit keinem besonderen objektiven Gesetze bereichert, sondern nur für die Ur198

1,5

200

76

Scheer, Brigitte: »Zur Begründung von Kants Ästhetik und ihrem Korrektiv in der ästhetischen Idee«. In: »Philosophie als Beziehungswissenschaft«, Festschrift für Julius Schaaf, hrsg. von W. F. Niebel und D. Leisegang, Bd. 11, Frankfurt 1971, S. 16. Kr. d. Urt., §1, S.279 (A3/4). Siehe Scheers Interpretation (a.a.O., S.9): »D.h. das Wie der Wahrnehmung von Äußerem (seine Form) wird sofort zu einem Wie des Sich-selbst-Fühlens modifiziert. Das ästhetisch reflektierende Subjekt bleibt offensichtlich im Urteilen ganz bei sich selbst. Das totale Für-sich-sein der ästhetischen Beurteilung ist hier bereits besiegelt, noch ehe die andern Momente des Urteils abgehandelt sind«. Ohne diesen Traditionszusammenhang im einzelnen zu verfolgen, seien hier nur genannt: G.F. Meier, »Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften«, 3 Teile, Halle 1754-1759, (Nachdruck Hildesheim, New York 1976) - A.G. Baumgarten, »Aesthetica«, Frankfurt 1750 (Nachdruck Hildesheim 1961). — Zu den der Analytik des Schönen und Erhabenen folgenden Paragraphen und ihren Ansätzen zu einer Philosophie der Kunst siehe die Ausführungen in unserem Abschnitt S. 79 ff.

teilskraft eine Maxime gegründet, sie darnach zu beobachten und die Formen der Natur damit zusammen zu halten.201

Es gibt keine objektivierbaren Strukturen als »Auslöser« schöner Vorstellungen, sondern diese sind allein Leistung des Subjekts, Ergebnis seiner Verhaltensänderung gegenüber seiner Welt, indem die reflektierende Urteilskraft, die einzelne Vorstellungen von Gegenständen auf Begriffe zu beziehen hat, in dieser ihrer Tätigkeit »wider ihre Intention auf ein Außeres« »in ihrer Bewegung gehemmt und zurückgebogen« wird auf das Subjekt,202 das die so unbestimmt bleibende Vorstellung im Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand als schön beurteilen kann. Die Herausnahme der doch in Tätigkeit versetzten Urteilskraft aus ihrem der Erkenntnis dienenden Funktionszusammenhang gründet in dieser vom Subjekt her geleisteten reflexiven Wendung, in der die Urteilskraft von objektiven Bestimmungen absieht und somit ein von der Herrschaft des Begriffes gelöstes Verhalten des Subjekts ermöglicht. Doch dieses Abweisen von theoretischen wie praktischen Urteilen, diese von Objektivität sich absetzende reflexive Wendung der Urteilskraft verleiht ästhetischer Heautonomie eine Angestrengtheit, die in Widerspruch gerät zur Freiheit, die im Zusammenspiel von Sinnlich-Anschaulichem und Begrifflichem im Subjekt fühlbar wird. Denn diese Freiheit bestimmt sich als Leistung des Subjekts, seine Vermögen aus theoretischen wie praktischen Urteilszusammenhängen herauszunehmen, sie von diesen sonst gültigen Funktionszusammenhängen abzusetzen. Die Freiheit von der Herrschaft des Objektivität bestimmenden Begriffs wird ermöglicht durch eine Absetzbewegung, die vom angestrengten Verzicht auf Objektbezug geleitet ist. Wenn so die Abkapselung der ästhetischen Heautonomie des ganz für sich bleibenden, alle objektiven Bestimmungen abweisenden Subjekts eine Zwanghaftigkeit erhält, die zu der im Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen fühlbaren Freiheit in Widerspruch gerät, dann dürfte die Nahtstelle sichtbar werden, an der ästhetische (He-)Autonomie in ihrer Widersprüchlichkeit als eine spezifische und im Gültigkeitsbereich begrenzte Verhaltensweise des Subjekts zu gelten hat, die — wie die Analytik des Schönen zeigt — gerade in Absetzung von den heteronomen Bereichen des Erkennens und Handelns, via negationis also, definiert ist. Die Eingebundenheit des Subjekts in lebenspraktische Zusammenhänge, die ihm im Prinzip der Selbsterhaltung aufgezwungene Notwendigkeit, sich Objektivität in Theorie und Praxis verfügbar zu machen, definiert ästhetische Erfahrung, die auf Selbstbewahrung hin angelegt ist, als eine nur partikulare Erfahrung, wenn auch in dieser »die Gemütskräfte zweckmäßig in Schwung versetzt« sind, »d.i. in ein 201 202

Kr. d. Urt. (Einleitung, Erste Fassung), S. 181. Vgl. Scheer, a.a.O., S.8.

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solches Spiel, welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt«. 203 In der bloß formalen Zweckmäßigkeit, deren objektives Korrelat das funktionslose Fürsichsein, die immanente, geschlossene Zweckmäßigkeit des Kunstwerks ist, bildet sich der Zwang zur Selbsterhaltung ab, der die Herrschaft des Subjekts über Natur begründet und dem ästhetische Autonomie doch opponiert. Diese ist der Widerschein der Herrschaftlichkeit dessen, wovon sie sich in völligem Fürsichsein gerade abschließt. Im Verhältnis zur empirischen Realität sublimiert Kunst das dort waltende Prinzip des sese conservare zum Ideal des Selbstseins ihrer Erzeugnisse . . . Daß die Kunstwerke als fensterlose Monaden das »vorstellen«, was sie nicht selbst sind, ist kaum anders zu begreifen als dadurch, daß ihre eigene Dynamik, ihre immanente Historizität als Dialektik von Natur und Naturbeherrschung nicht nur desselben Wesens ist wie die auswendige, sondern in sich jener ähnelt, ohne sie zu imitieren. Die ästhetische Produktivkraft ist die gleiche wie die der nützlichen Arbeit und hat in sich dieselbe Teleologie; und was ästhetisches Produktionsverhältnis heißen darf, alles worin die Produktivkraft sich eingebettet findet und woran sie sich betätigt, sind Sedimente oder Abdrücke der gesellschaftlichen. Der Doppelcharakter der Kunst als autonom und als fait social teilt ohne Unterlaß der Zone ihrer Autonomie sich mit.204

In dieser demonstriert — im Bereich der Beurteilung und Erfahrung — die reflexive Wendung der Urteilskraft die Herrschaft des Subjekts über seine Vermögen: Deren herrschaftsfreier Gebrauch ist ein von ihm herbeigezwungenes Zusammenstimmen der Erkenntnisvermögen zur Konzentration auf den reinen Subjektbezug. Die dem ästhetisch reflektierenden Subjekt über die Einbildungskraft vermittelte Sinnlichkeit wird freigesetzt nur in Hinblick auf die Möglichkeit, sie fürs Subjekt verfügbar zu halten. Auch die heautonome, freie und doch von selbst gesetzmäßige Einbildungskraft hat an jenem Zwang teil, mit dem das Subjekt durch Rationalität sich seine Welt unterwirft: »Versöhnung als Gewalttat, ästhetischer Formalismus und unversöhntes Leben bilden eine Trias«.205 Kapselt sich in der ästhetischen Erfahrung das Subjekt ab zur Heautonomie der bloßen Selbstbeurteilung und Selbstbespiegelung, ist die schöne Vorstellung bloßer Anlaß eines Sich-Selbst-Fühlens,206 so bleibt zunächst offen, was das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand, was die schöne Vorstellung für uns bedeutet. Wenn gerade das Fehlen von Erkenntnisleistungen es Kant erlaubt, die Besonderheit der ästhetisch fungierenden Einbildungskraft zu charakterisieren, dann bleibt diese nur negativ definiert 203 204

205 206

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Kr. d. Urt., (§49), S.413 (A190). Theodor W. Adorno, »Ästhetische Theorie« (= Gesammelte Schriften, Bd. 7), Frankfurt/M. 1970, S. 14 und 15 f. Ebd., S. 78. Vgl. Scheer, a.a.O., S. 10 und 19.

als in ein Zusammenspiel mit dem Verstand versetztes, aber keine Erkenntnis hervorbringendes Erkenntnisvermögen, dieses Zusammenspiel nur »das Andere der Erkenntnis«.207 Der Weg von dieser Begründung der Ästhetik zu einer Philosophie der Kunst erweist sich als ausgeschlossen. Die Frage danach, was Kunst überhaupt sei, nach ihrer Wirklichkeit und ihrer Funktion kann nicht genügend beantwortet werden, wenn der Geschmack zur einzigen Instanz ihrer Beurteilung wird. Die paradoxe Antwort müßte lauten, daß Kunst der Gegenstand reiner ästhetischer Kontemplation sei und daß es Kunst wegen ihrer Beurteilung geben solle. Die lediglich einfühlende Kunstbetrachtung bleibt gänzlich folgenlos für unsere Weltansicht. Die spezifische Leistung der Kunst, in der sich ästhetische und kognitive Moigente verbinden, kann nicht erfaßt werden.

Wegen der Abweisung von Erkenntnisleistungen kann von Vernünftigkeit der Einbildungskraft in ästhetischem Zusammenhang nicht unter dem Aspekt des Realitätsbezugs gesprochen werden, denn sie ist — so ließe sich etwas schematisch zusammenfassen — nicht realitäts-, sondern freiheitsbezogen im Zusammenspiel der Erkenntniskräfte. Gerade damit hat die Analytik des Schönen jedoch — jenseits der Frage nach Gegenstandserkenntnis — den Blick auf die Vernünftigkeit der Einbildungskraft in diesem — wenn auch widersprüchlichen — Freiheitsbezug eröffnet. Diesen Aspekt verfolgt Kant — ohne einen Neuansatz vorzunehmen, der etwa den rein subjektiven Charakter der ästhetischen Vorstellung in Frage stellen würde — in dem der Analytik des Schönen und Erhabenen folgenden Teil der »Kritik der ästhetischen Urteilskraft«, wo er das Schöne als solche Darstellung von Freiheit, als »ästhetische Idee« in den Mittelpunkt rückt. Unter diesem ideen- oder geistbezogenen Aspekt profiliert sich — unabhängig von der Frage nach dem Objektbezug — am schärfsten die Vernünftigkeit der Einbildungskraft, ihre erst im ästhetischen Erfahrungszusammenhang erstellte Beziehung zu dem, was nicht Erfahrung von Gegenständlichkeit sein kann, den Ideen der Vernunft. Die realitätsbezogenen wie ideenbezogenen Leistungen der Einbildungskraft beruhen auf deren grundsätzlicher Fähigkeit, »einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen«.208 In ihrem Ideenbezug freilich ist die Einbildungskraft weniger das Vermögen der Vorstellung von Gegenständen als das der Darstellung von Begriffen, denen Anschauungen »untergelegt« werden.209 Hierin zeigt sich eine Präponderanz des Begriff207 208 209

Scheer, a.a.O., S . 6 und 20f. Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 148 (B151). Kant spricht freilich auch von der Darstellung von Gegenständen. Vgl. S. 81 unserer Arbeit. Biemel, a.a.O., S. 82: »Die produktive Einbildungskraft ist ein Vermögen der Darstellung — dieser Zug bleibt erhalten, sowohl in der Kr. d. r. V. als auch in der Kr. d. U . , wobei nur Weise und Gegenstand der Darstellung variieren«.

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liehen, wie wir sie in der Konstruktion der »ästhetischen Idee« verfolgen werden. Doch auch in diesem Vernunftbezug bleibt die Einbildungskraft das sinnliche Vermögen der Anschauungen, das den in der Erfahrung gewonnenen sinnlichen Stoff zu einer »andern Natur« umbildet, einer von der Gegenwart unabhängigen Vorstellungswelt, in der über das an realer Gegenständlichkeit gewonnene sinnliche Material frei verfügt werden kann: Die Einbildungskraft (als produktives Erkenntnisvermögen) ist nämlich sehr mächtig in Schaffung gleichsam einer andern Natur, aus dem Stoffe, den ihr die wirkliche gibt. Wir unterhalten uns mit ihr, wo uns die Erfahrung zu alltäglich vorkommt; bilden diese auch wohl um: zwar noch immer nach analogischen Gesetzen, aber doch auch nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen (und die uns eben sowohl natürlich sind, als die, nach welchen der Verstand die empirische Natur auffaßt); wobei wir unsere Freiheit vom Gesetze der Assoziation (welches dem empirischen Gebrauche jenes Vermögens anhängt) fühlen, nach welchem uns von der Natur zwar Stoff geliehen, dieser aber von uns zu etwas ganz anderem, nämlich dem, was die Natur übertrifft, verarbeitet werden kann.210

Da kein Verstandesbegriff versinnlicht, sondern »die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d.i. der Ideen« produziert werden soll, denen aber »schlechterdings keine Anschauung gegeben werden kann«, nimmt die Einbildungskraft ihre schematisierende Funktion bloß per analogiam in symbolischer Darstellung auf.211 In dieser Formalität des Schematisierens durch indirekte Vorstellungen212 wird die Einbildungskraft auf Begriffe bezogen, ohne daß ihr doch Freiheit abgesprochen werden müßte, da eine vom Begriff her bestimmte Versinnlichung, ein Schematisieren dem Inhalte nach, nicht möglich ist. Die Vorstellung der Einbildungskraft in ästhetischem Zusammenhang ist somit in ihrer Unbestimmtheit, die sich aus dem Zusammenspiel der Erkenntniskräfte ergibt, sinnlich und begrifflich, vernünftig und natürlich zugleich. Eben dieser Schwebezustand ist die »ästhetische Idee«, die in ihrem Doppelcharakter des Sinnlich-Anschaulichen und Begrifflichen eine paradoxe Struktur annehmen muß: . . . unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. — Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.213

Da die ästhetische Idee inexponibel, die Vernunftidee indemonstrabel 210 211 212 213

80

Kr. d. Urt., (§49), S.414 (A191), Vgl. ebd., (§59), S.459 (A252). Vgl. ebd., S.459f. (A252/53). Ebd. (§49), S.413f. (A190/91).

bleibt, 214 leistet die Einbildungskraft eine in begriffliches Denken nicht überführbare und deshalb zu beständiger Reflexion anregende sinnliche Vorstellung, die in keiner anderen Weise als durch die Einbildungskraft zur Existenz gelangt. Diese »ästhetische Idee« erweckt nur den »Anschein«, als sei Vernunft zur Darstellung oder objektiven Realität in der Anschauung gelangt: Man kann dergleichen Vorstellungen der Einbildungskraft Ideen nennen: eines Teils darum, weil sie zu etwas über die Erfahrungsgrenze hinaus Liegendem wenigstens streben, und so einer Darstellung der Vernunftbegriffe (der intellektuellen Ideen) nahe zu kommen suchen, welches ihnen den Anschein einer objektiven Realität gibt; andererseits, und zwar hauptsächlich, weil ihnen, als innern Anschauungen, kein Begriff völlig adäquat sein kann.215

War jedoch im Kontext der Analytik des Schönen das Verhältnis von Einbildungskraft und Verstand als harmonisches Zusammenspiel charakterisiert worden, so muß nun, da die Vernunftideen ins Spiel kommen, Kant — entgegen den Ergebnissen der Analytik — die Inkongruenz der Erkenntnisvermögen herausstellen. Zwar zitiert der Beginn des §49 aus der Analytik das »Spiel« der »Gemütskräfte«, »welches sich von selbst erhält und selbst die Kräfte dazu stärkt«, doch nun, da »Geist, in ästhetischer Bedeutung« als »das belebende Prinzip im Gemüte« erkannt ist, 216 muß Kant die Widersprüchlichkeit und Disharmonie der ästhetischen Idee als des objektiven Korrelats des Zusammenspiels von Einbildungskraft und Verstand herausstellen: Wenn nun einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft untergelegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert: so ist die Einbildungskraft hiebei schöpferisch, und bringt das Vermögen intellektueller Ideen (die Vernunft) in Bewegung, mehr nämlich bei Veranlassung einer Vorstellung zu denken (was zwar zu dem Begriffe des Gegenstandes gehört), als in ihr aufgefaßt und deutlich gemacht werden kann.217

In solcher ästhetischer Erweiterung des Begriffs erhält die Gesetzmäßigkeit des Verstandes die Freiheit, die an ihm Vernunft manifest werden läßt. Wird dieses Vernunftmoment entwickelt, wie Kant dies in den der Analytik des Schönen folgenden Abschnitten tut, so wird ein neuer, die Harmonie und das Spiel der Erkenntnisvermögen offenbar störender Aspekt des Asthe214

215 216 217

Vgl. Kants Begriffsbestimmungen in der Anm. I zum §57, Kr. d. Urt., S. 447—449 (A236-39). Kr. d. Urt., (§49), S.414 (A191). Ebd. S.413 (A190). Ebd. S.415 (A192/3).

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tischen aufgedeckt. Zwar nutzt Kant die Inkongruenz von Anschaulichem und Begrifflichem in der ästhetischen Idee, um deren Unabgeschlossenheit und Begriffsüberschwenglichkeit zu demonstrieren, doch müßte von der ästhetischen Idee als einer inexponiblen Vorstellung her das Konzept einer bruchlosen harmonischen Versöhnung des Getrennten in Frage gestellt werden, wie sie in der Analytik des Schönen doch konzipiert ist. Die Brüche in der »Harmonie« der Erkenntnisvermögen treten offener noch im §59 hervor, wenn Kant die Art der Versinnlichung in der ästhetischen Idee in Hinblick auf die Leistung der Einbildungskraft näher zu bestimmen sucht. Kant versteht diese Darstellung als symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt wird, mit welcher das Verfahren der Urteilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch, d.i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach, übereinkommt. 218

Wenn wir an anderer Stelle die Kantsche Symbolkonzeption im Rahmen des Klassizismusproblems diskutieren, so ist dafür festzuhalten, daß der herangezogene Analogiebegriff gerade das Auseinanderfallen von Anschaulichem und Begrifflichem in der »ästhetischen Idee« indiziert: Nicht in deren Harmonie, sondern der Inkongruenz von Einbildungskraft und Verstand werden Analogien erstellt, die an die Möglichkeit eines Praktischwerdens von Vernunft denken wie an diesem zweifeln lassen. Kants Kunsttheorie ist, in uneingestandener und unausgetragener Wendung gegen die gleichfalls verfochtene Geltung des positiv Schönen, gegen diesen begrifflich noch unentwickelten Klassizismus, Theorie der nicht mehr schönen Kunst. Denn Kants Symbol- ist als Analogiekonzeption zu interpretieren, nicht als Theorie der »klassischen« Ineinsbildung von Anschauung und Begriff, nicht als Sinnbildtheorie, sondern jene romantische Auffassung des Ästhetischen, wie sie Schiller in seiner Theorie einer »sentimentalischen«, geistvollen und nach Harmonie nur suchenden Dichtung entwickelt hat. 219 Hatte Kant zu Beginn des §49 — wie als Kritik seiner Analytik des Schönen — bemerkt, daß Geschmack auch ohne Geist in der Beurteilung des Schönen möglich sei,220 so läßt sich nun das Ge/si-volle des Zusammenspiels der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand, der sich zur Vernunft erweitert, formulieren: Die ästhetischen Ideen als Vorstellungen der 218 219

220

82

Ebd. (§59), S.459 (A252). Vgl. Scheer, a.a.O., S. 23f., wo die Sinnbildtheorie unter Betonung der paradoxen Struktur der ästhetischen Idee abgelehnt wird. — Siehe die Diskussion des Klassizismusproblems in Abschnitt2.2 unserer Arbeit. Kr. d. Urt., (§49), S.413 (A190).

Einbildungskraft weisen im Schein- oder Symbolcharakter sinnlich-anschaulicher Darstellung auf die Möglichkeit eines Praktischwerdens von Vernunft hin. Wir haben gesehen, daß Kant, der in der Analytik des Schönen von einem harmonischen Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen Einbildungskraft und Verstand gesprochen hatte, da, wo es um den geistigen Gehalt jenes ästhetischen Verhältnisses, die »ästhetische Idee« geht, die sie hervorbringende Einbildungskraft differenzierter konzipieren muß: In der »ästhetischen Idee« gelangen Anschauungen und Begriffe nicht zur Deckung, sie sind auf Harmonie nur bezogen, wenn auch Kant den Begriff der schönen Kunst in dem der ästhetischen Idee festhalten möchte, obwohl beide längst unvereinbar geworden sind. Im Kontext des Klassizismusproblems in Schillers Abhandlung »Uber naive und sentimentalische Dichtung« kann noch gezeigt werden, wie erst in der geschichtsphilosophischen Reflexion auf die Konstitution ästhetischer Harmonie diese Differenz zwischen einer ungebrochenen »naiven« Harmonie und einer nach geistvoller Versöhnung suchenden sentimentalischen Kunst, die Dopplung des Kunstbegriffes bei Kant221 begriffen wird. Für unseren Zusammenhang bleibt auch in Hinblick auf die Konzeption eines ästhetischen »Spiels«, den Spielbegriff bei Schiller, die paradoxe, disharmonische Struktur der »ästhetischen Idee« festzuhalten. Sie hat als ein Geistiges, das Sinnliches — diesseits aller Identifikation und Versöhnung — zur Vorstellung bringt, die Auseinandersetzung in sich, die Harmonie und Schönheit ausschließt. Diese Unangemessenheit von Anschauung und Begriff manifestiert sich als bloßer Anschein von objektiver Realität der Vernunft, und nur in diesem Schein gründet die vernünftige Leistung der Einbildungskraft als Produzentin der »ästhetischen Idee«. Hatten wir verfolgt, wie in der Kritik der reinen Vernunft die Einbildungskraft Erkenntnisvermögen nur in Funktionseinheit mit den Fixierungen des Verstandes genannt werden und zur Erkenntnis nur unter der Herrschaft seiner Gesetzmäßigkeit tauglich sein kann, die Vernünftigkeit der Einbildungskraft dort die Beziehung auf den Verstand, eine »Verständigkeit« ist, so dokumentiert nun die »ästhetische Idee« das höchste Vermögen der Einbildungskraft, Vernunft zu entwickeln. Diese wird manifest im Zusammen-»spiel« der Erkenntnisvermögen, einer — wie die schwierigere Struktur der »ästhetischen Idee« offenlegt — gebrochenen Harmonie. War Synthesis im Erkenntniszusammenhang die formend-herrschaftliche, rational bestimmte Zusammenfassung des Mannigfaltigen, so scheint die Synthesisleistung der Einbildungskraft in ästhetischem Kontext nur die versöhnliche Einigung des Formenden und Geformten zu sein.222 Das Sinnlich-Anschauliche wird so

221 222

Hierzu unsere Arbeit S.442ff. Vgl. S. 70 unserer Arbeit.

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vorgestellt, daß dieses in Freiheit gesetzt erscheint, doch ist eben diese Objektivation ihrer Unwirklichkeit und Unwahrheit zu überführen als bloßer Schein von Freiheit: Sie ist bloß subjektive Veranstaltung, die ihren rationalen Charakter vergessen lassen möchte. Wenn wir uns an den Zwangscharakter erinnern, der in der Wendung der Urteilskraft aufs Subjekt, der reinen Subjektbezogenheit der ästhetischen Vorstellung auszumachen war, dann ist es das täuschende Moment des Scheins von Freiheit in der »ästhetischen Idee«, daß diese ihren Zwangscharakter verleugnet, den sie als rein subjektive Vorstellung doch hat. War das Schöne begriffen als der vollendete Schein der Identität von Reellem und Ideellem, von Kant in der »Analytik des Schönen« angesetzt als das widerstandslose, harmonische Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand, so versetzt der gedankliche Duktus der »Kritik der Urteilskraft« das Schöne, das Kant als geistreich, als Ort »ästhetischer Ideen« ausweisen will, auf die ideelle Seite und löst es damit auf. Der Schein des Schönen ist Leistung des herrschaftlichen rationalen Subjekts, das sich darin verbirgt, darin aufgehoben zu sein vorgibt. Dies ist der Trug, den das Subjekt nur als Formalität, unter Verzicht auf Geist, der sich in Gedanken substantiiert, vollbringen kann. Der Trug der im Sinnlichen sich vollendenden Vernunft gelingt nur, weil Vernunft ausgeschlossen ist. Sobald diese — auf ihre Leistung reflektierend — eingelassen wird, zergeht der Schein ihrer Aufhebung. Er tritt im Kunstwerk hervor als das Ideelle, diesseitig und unversöhnt, womit die Schönheit dahin ist. Er wird aufgehoben in der Reflexion, welche — die harmonische Ineinsbildung von Anschauung und Begriff verunmöglichend — in der »ästhetischen Idee« das Ubergewicht behält. Die Einbildungskraft, sobald »ästhetische Ideen« als ihre Produkte gelten, ist nicht mehr die Einbildungskraft, die die Autonomie der Vernunft an sich zu haben scheint und Sinnlichkeit und Verstand im schönen Schein übereinbringt. Kants Konzeption der »ästhetischen Idee« unterläuft vielmehr solche Synthesis, an der sein Insistieren auf einer geistvollen und immer noch schönen Kunst nur oberflächlich festhält. Die Einbildungskraft, oft Zentrum ontologisierender wie harmonisierender Kantauslegungen,223 treibt als Produzentin der »ästhetischen Idee« die Widersprüchlichkeit, gar Unmöglichkeit, dieser »Synthesis« nur hervor. 223

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Vgl. z.B. Biemel, a.a.O., S. 107. »Bei der empirisch-produktiven Einbildungskraft wird dieser Synthesischarakter noch eindringlicher deutlich. Es kommt darauf an, eine Synthesis hervorzubringen, die es noch nicht gegeben hat und durch die nicht nur die Sinnlichkeit und der Verstand, sondern auch die Sinnlichkeit und die Vernunft in Einklang gebracht werden, anders ausgedrückt: durch die die Einheit des Menschen als sinnliches und sittliches Wesen erreicht werden soll. Die ästhetische Idee gibt einen Ausblick auf Verwandtschaft, ruft ständig neue verwandte Vorstel-

Ist der Schein einer vollendeten, objektiv gewordenen Vernunft in der Reflexion bewußt geworden, verliert die Einbildungskraft den Schein solcher Autonomie und gewinnt dafür das wahrhaftige Vernunftmoment der Kritik. Die Einbildungskraft begibt sich des Schein, in sich Sinnliches und Geistiges vereint zu haben, und produziert »ästhetische Ideen«. Sie bekennt sich damit als ein subjektiv-geistiges Vermögen; denn sind diese Ideen auch »ästhetisch« und »inexponibel«, d.h. nicht in den Begriff zu fassen, so sind sie doch ideell, nicht sinnlich; zugleich ist ihre Idealität gebrochen durch das Sinliche, das sie zu geistiger Vorstellung bringt — in Gespanntheit und Unversöhntheit. Das Sinnliche und das Geistige treten in der ästhetischen Idee, nicht mehr durch den Zwang des totalitären Subjekts in Schönheit trügerisch identifiziert, auseinander im Modus des Geistigen, als »Idee«. Adorno greift Kants Gedanken auf, wenn er — im Abschnitt über den »Geist im Kunstwerk«224 — die Dialektik von Anschaulichkeit und Geistigkeit entwickelt. Sinnlichkeit, so legt Adorno ganz im Sinne des Kantschen Kunstkonzepts dar, geht in Kunst nur vermittelt durch Geist — aber nicht in Harmonie und Ubereinkunft mit diesem — ein; andererseits ist der Geist der Kunstwerke nicht ungebrochen Geist, sondern ist eingespannt in die Funktion, Sinnliches erscheinen zu lassen — geisterhaft zu sein:225 So wenig ein Geistiges an ihnen (d.i. den Kunstwerken) zählt, das nicht aus der Konfiguration ihrer sinnlichen Momente entspränge . . . so wenig ist ein Sinnliches an den Werken künstlerisch, das nicht in sich durch Geist vermittelt wäre. Weil der Geist der Gebilde nicht in ihnen aufgeht, zerbricht er die objektive Gestalt, durch die er sich konstituiert; dieser Durchbruch ist der Augenblick der apparition.

Geradezu als Ausführung des Konzepts der »ästhetischen Idee« heißt es:226 Während die Norm der Anschaulichkeit den Gegensatz zum diskursiven Denken urgiert, unterschlägt sie die unbegriffliche Vermittlung, das Unsinnliche am sinnlichen Gefüge, das, indem es das Gefüge konstituiert, es immer auch schon bricht und der Anschaulichkeit entrückt, in der es erscheint. Der Einschlag von Begriffen ist nicht identisch mit der Begrifflichkeit von Kunst; sie ist Begriff so wenig wie Anschauung, und eben dadurch protestiert sie wider die lungen auf den Plan, so daß der Umgang mit ihrer Darstellung nie an >Interesse< verliert«. Biemel übersieht freilich, daß eben dieser Einklang von Sinnlichkeit und Verstand Vernunft demonstriert, indem die Gesetzmäßigkeit des Verstandes, wie wir sahen, die Freiheit gewinnt, die an ihm Versöhnung manifest werden läßt. Diese jedoch zergeht im bloß subjektiven Schein einer »Synthesis«. 224 225 226

T h . W . Adorno, »Ästhetische Theorie«, a.a.O., S. 1 3 4 - 1 5 4 . Ebd., S. 135 und 137. Ebd., S. 146 und 148. 85

Trennung. Ihr Anschauliches differiert von der sinnlichen Wahrnehmung, weil es stets auf ihren Geist sich bezieht. Sie ist Anschauung eines Unanschaulichen, begriffsähnlich ohne Begriff.

Damit bringt die Einbildungskraft in ästhetischem Zusammenhang nicht mehr die »schöne Vorstellung« hervor, sondern ein Sinnliches, das in seiner Differenz zu den Begriffen diese anregt wie enttäuscht. Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen; kein Vorrationales oder Irrationales, wie es angesichts der Verflechtung jeglicher menschlichen Tätigkeit in die gesellschaftliche Totalität vorweg zur Unwahrheit verurteilt wäre. 227

Diese Differenz zur bloßen Rationalität der Begriffe, die zum Begreifen dennoch herausgefordert werden, ergibt die Vernünftigkeit der »ästhetischen Idee«, ihren Geist: In ihr gewinnt die Einbildungskraft — gerade durch die »nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Andern, nicht Gesetzten« 228 — ein Vernunftmoment, da das Begreifen der einseitig rationalen, herrschaftlich bestimmenden Funktion der Begriffe, in denen solche Mimesis nicht aufgeht, inne wird. Die Objektivität der Vernunft — als deren praktische Verwirklichung und Versöhnung — wird durch die Einbildungskraft in der Weise vermittelt, daß diese im Bilden des Anscheins solcher Objektivität das der Vernunft innewohnende Praxispostulat in ihre Tätigkeit aufnimmt und »als Urheberin willkürlicher Formen möglicher Anschauungen« »in Schaffung gleichsam einer andern Natur«, 2 2 9 nämlich der der Vernunft, dieses Postulat eindringlicher werden läßt. Es ist nicht die Willkür des Bildens, sondern die »nach Prinzipien, die höher hinauf in der Vernunft liegen« zielende Umarbeitung des Sinnlich-Gegebenen, welche die Leistung der produktiven Einbildungskraft in ästhetischem Zusammenhang ausmacht. Dieser Begriff der Einbildungskraft als eines Darstellungsvermögens ästhetischer Ideen ist also von der Vernunft her konzipiert; diese — so ließe sich sagen — wird hier zur Einbildungskraft, die Einbildungskraft produktiv als Vernunft, doch läßt sich eine solche Substitution der Begriffe, ihr Umschlagen ineinander nur als gegenseitige Negation vollziehen. Denn gemäß der paradoxen Struktur der ästhetischen Idee wird Vernunft produktiv als Einbildungskraft, diese die Objektivation von Vernunft nur in dem Sinne, daß sich die Anschauung der Vernunftideen als bloßer analogischer Anschein erweist. Dieser muß sich einem ästhetischen Reflexionsbewußtsein auflösen, dem das Schöne als posi227 228 229

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Ebd., S. 87. Vgl. oben S. 63 unserer Arbeit. Vgl. Kr. d. Urt., (Allgemeine Anm. zum ersten Abschnitte der Analytik), S.324 (A68) und (§49), S.414 (A191).

tive Erscheinung seiner Ideen von Vernunft und Freiheit ein Unwahres ist. Gerade in solchem Verzicht auf den schönen Schein gewinnt das Produzieren der Einbildungskraft seine Wahrheit. Was wir den realitäts- und den ideenbezogenen Aspekt der Vernünftigkeit der Einbildungskraft nannten, trifft zusammen in dieser Auflösung des ästhetischen Scheins von Freiheit, der — als so reflektierter — den rationalen Charakter der »ästhetischen Idee« ausmacht: Unter dem Aspekt des Realitätsbezugs ist die »ästhetische Idee« Anschauung von Vernunft, ohne daß dieser doch Realität zugesprochen werden könnte, noch nicht vollendete Vernunft also. Unter ideen- oder freiheitsbezogenem Aspekt freilich bringt die »ästhetische Idee« in einzigartiger Weise Vernunft zur sinnlichen Darstellung und entwickelt das Moment der Täuschung, der Vorspiegelung einer objektivierten, im Sinnlichen dargestellten und schon vollendeten Vernunft. Diese Darstellung freilich ist unter dem Aspekt des Objektbezugs vom Verstand zu negieren, muß sich selbst im bloß analogischen Charakter des Schematisierens negieren, wenn der ästhetische Schein vernünftig bleiben, d.h. des Bewußtseins seines — fehlenden — Gegenstandsbezugs nicht verlustig gehen soll. Die Einbildungskraft als Produzentin der ästhetischen Idee ist noch nicht vollendete Vernunft unter dem vernünftigen oder einschränkend gesagt »verständigen« Aspekt des Realitätsbezugs. Zugleich ist es nur die Leistung der »ästhetischen Idee«, Vernunft als vollendet in der Sinnlichkeit der Anschauung — wenn auch nur zum Schein — darzustellen, einem Schein, der erst in der Reflexion, die ihn auflöst, Vernunft hervorbringt. Die Einbildungskraft ist in der »ästhetischen Idee« noch nicht und schon vollendete Vernunft zugleich und läßt diese Diskrepanz erkennen im Schein, in dem realitätsbezogener und ideenbezogener Aspekt der Vernünftigkeit der Einbildungskraft als bloßer Schein eines Nichtwirklichen und als Scheinen der Idee zusammentreffen. Die Einbildungskraft läßt so einen Hinweis ergehen auf das Praxispostulat der Vernunft, sie hat diese vernünftige Forderung in ihre Tätigkeit aufgenommen, nicht im Modus des Scheins der Vollendung freilich, sondern als Provokation solcher Praxis. In solcher Affinität zu vernünftiger Praxis gewinnt die Einbildungskraft eine Vorbildlichkeit für das Denken und Handeln, wie sie Schelling — Kants Konzeption der Einbildungskraft aufgreifend — in besonderer Weise hervorgekehrt hat. Wenn wir uns auch hier Schelling zuwenden, dann um zu zeigen, in welchem philosophischen Begründungszusammenhang die Bewegung, der er angehörte, Imagination als Vernunft auffassen und ins Zentrum aller Überlegungen zu einer objektiv werdenden Vernunft stellen konnte. Schelling versteht die Einbildungskraft als eine »Theoretisches und Praktisches vermittelnde Tätigkeit«, wenn er hinsichtlich der praktischen Philosophie im »System des transzendentalen Idealismus« ausführt, wie Freiheit, 87

das Bewußtsein der Unendlichkeit, durch die Vorstellung des Objektes des Wollens in die Endlichkeit hineingezogen wird und innerhalb dieser Entgegensetzung von auf vernünftige Praxis abzielendem Denken und Wirklichkeit die Einbildungskraft in die Zielrichtung des Wollens wirkt: 2 3 0 Es muß also mit diesem Widerspruch eine Tätigkeit entstehen, die zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit in der Mitte schwebt. Wir nennen diese Tätigkeit indes Einbildungskraft ...eine solche zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit schwebende, oder was dasselbe ist, eine Theoretisches und Praktisches vermittelnde Tätigkeit .. .Jenes Vermögen also, was wir indes Einbildungskraft nennen, wird in jenem Schweben auch notwendig etwas produzieren, das selbst zwischen Unendlichkeit und Endlichkeit schwebt, und was daher auch nur als ein solches aufgefaßt werden kann. Produkte der Art sind, was man Ideen nennt im Gegensatz gegen Begriffe, und die Einbildungskraft ist eben deswegen in jenem Schweben nicht Verstand, sondern Vernunft, und hinwiederum, was insgemein theoretische Vernunft heißt, ist nichts anderes als die Einbildungskraft im Dienste der Freiheit. Wenn sich hier auch eine Identifikation von Einbildungskraft und Vernunft zeigt, wie sie in dem Paradoxon einer »ästhetischen Idee« bei Kant nicht konzipiert wird, so ist Schellings Auffassung der Einbildungskraft als praktisch werdender Vernunft, einer über den Verstand hinausreichenden, in der Einbildungskraft tätig und »objektiv« werdenden Vernunft da triftig, wo — in Erinnerung an Kants Konzeption des Schönen als Symbol des Sittlichen — eine solche Einbildungskraft dem praktischen Handeln in der Sinnlichkeit ein ideales Vorbild setzt: Wie nun aber das Ich im Wollen den Ubergang von der Idee zum bestimmten Objekt auch nur in Gedanken mache (denn wie ein solcher Ubergang objektiv möglich sei, wird noch gar nicht gefragt), ist nicht zu begreifen, wenn es nicht abermals etwas Vermittelndes gibt, was für das Handeln eben das ist, was für das Denken bei Ideen das Symbol, oder bei Begriffen das Schema ist. Dieses Vermittelnde ist das Ideal. — Durch die Entgegensetzung zwischen dem Ideal und dem Objekt entsteht dem Ich zuerst die Entgegensetzung zwischen dem Objekt, wie es die idealisierende Tätigkeit verlangt, und dem Objekt, wie es, dem gezwungenen Denken nach, ist; durch diese Entgegensetzung aber unmittelbar der Trieb, das Objekt wie es ist, in das Objekt, wie es sein sollte, zu verwandeln.231 Indem sie die Vernunft in Sinnliches einbildet, wird die Einbildungskraft zur Vorbildnerin einer vernünftigen, idealen Wirklichkeit. Sie löst modellhaft die — in der Einleitung zum System des transzendentalen Idealismus definierte — Aufgabe der praktischen Philosophie, »wie durch ein bloß Gedach230

231

88

Schelling, »System des transzendentalen Idealismus«, (Vierter Hauptabschnitt: System der praktischen Philosophie nach Grundsätzen des transzendentalen Idealismus), a.a.O., S. 226f., vgl. S. 16 ebd. — Wir legen durchweg die aligemeine Definition von Praxis - auf den verschiedenen Stufen deren Gelingens — zugrunde, wie sie auf S. 64 unserer Arbeit gegeben wurde. Schelling, System, S.227.

tes ein Objektives veränderlich sei, so, daß es mit dem Gedachten vollkommen übereinstimme«. 232 — Für die theoretische Philosophie läßt sich ebenso der Vorbildcharakter der von der Einbildungskraft hervorgebrachten ästhetischen Anschauung erweisen, denn diese ist »nichts anderes als die allgemeingültig, oder objektiv gewordene intellektuelle«. 233 Die ästhetische Anschauung hat das Getrennte sinnlich-anschaulich in-eins gebildet, eine Vereinigung objektiviert, welche die intellektuelle Anschauung nur prinzipiell oder »ursprünglich« vollzogen und innerhalb der systematischen Entfaltung des auf Identität abzielenden Denkens noch zu produzieren hat. Schellings System ist das einer auf Objektivität — durch die produktive Einbildungskraft vermittelt — abzielenden Vernunft, wobei die ästhetische Anschauung als eine Form der Identität, eine Erscheinungsweise des Absoluten konzipiert ist, 234 die dem Denken, das sich in der transzendentalen Differenz von seinen Inhalten absetzen muß, als Motivation dient, seines Zieles eingedenk zu bleiben. So gewinnt für die Transzendentalphilosophie Schellings, die das Ziel hat, aus dem Subjektiven ein Objektives, aus Intelligenz Natur hervorgehen zu lassen, die Möglichkeit dieser Identität zu demonstrieren, 235 die ästhetische Anschauung eine höchst vorbildliche Bedeutung, ist doch hier die — noch prozeßhaft ihr Ziel zu realisieren suchende — intellektuelle Anschauung zu einer Praxis gelangt, in der subjektives Denken objektiviert erscheint, eben jene Identität von Vernunft und Natur eingebildet ist, die der Philosophie nur Ziel sein kann: Wenn die ästhetische Anschauung nur die objektiv gewordene transzendentale ist (Schellings Korrektur: intellektuelle), so versteht sich von selbst, daß die Kunst das einzige wahre und ewige Organon zugleich und Dokument der Philosophie sei, welches immer und fortwährend aufs neue beurkundet, was die Philosophie äußerlich nicht darstellen kann, nämlich das Bewußtlose im Handeln und Produzieren, und seine ursprüngliche Identität mit dem Bewußten. Die Kunst ist eben deswegen dem Philosophen das Höchste, weil sie ihm das Allerheiligste gleichsam öffnet, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung gleichsam in Einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln ebenso wie im Denken ewig sich fliehen muß. 236

Diese einzigartige, alle anderen menschlichen Produktionen überragende Stellung der Kunst, wie sie Schelling — zusammen mit Hölderlin und Hegel — bereits im sogenannten »Systemprogramm des deutschen Idealismus« vor232 233 234

235 236

Ebd., S. 15. Ebd., S. 299. Die Einbildungskraft ist »das Dichtungsvermögen«, »durch welches auch der Kunst das Unmögliche gelingt, nämlich einen unendlichen Gegensatz in einem endlichen Produkt aufzuheben«. Schelling, System, S.295f. Vgl. oben S. 70f. unserer Arbeit. Vgl. Schelling, System, S. 10. Ebd., S.297.

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formulierte, 237 ergibt sich konsequent aus dem höchsten Ziel des Denkens, die Identität von Natur und Intelligenz zu produzieren, d.h. als Vernunft praktisch zu werden. Deshalb ist »der höchste Akt der Vernunft . . . ein ästhetischer Akt«, 238 indem die Philosophie das ihr eigene abstrakte, subjektive Denken zu verlassen sucht, das das zu Vereinigende immer wieder als Entgegengesetztes scheiden muß, um als Kunst, eine Art »ästhetische Philosophie«,239 die Einheit der Gegensätze im Medium sinnlicher Anschaulichkeit zu objektivieren. Diese Objektivierung von Wissen, welche die Kunst der Transzendentalphilosophie als »der Wissenschaft alles Wissens« vorhält,240 muß Vorbild jeder Wissenschaft sein, die noch zu keiner Praxis des von ihr erreichten Wissens gelangt ist: Was insbesondere das Verhältnis der Kunst zur Wissenschaft betrifft, so sind sich beide in ihrer Tendenz so sehr entgegengesetzt, daß wenn die Wissenschaft je ihre ganze Aufgabe gelöst hätte, wie sie die Kunst immer gelöst hat, beide in Eins zusammenfallen, und übergehen müßten, welches der Beweis völlig entgegengesetzter Richtungen ist. Denn obgleich die Wissenschaft in ihrer höchsten Funktion mit der Kunst eine und dieselbe Aufgabe hat, so ist doch diese Aufgabe, wegen der Art sie zu lösen, für die Wissenschaft eine unendliche, so, daß man sagen kann, die Kunst sei das Vorbild der Wissenschaft, und wo die Kunst sei, soll die Wissenschaft erst hinkommen. 241

Indem sie eine Objektivation von Wissen darstellt, »vollzieht sich bei Schelling ein Umschlag im Verhältnis von Wissen und Kunst, wie er in gleicher Radikalität in der neuzeitlichen Metaphysik nicht mehr geschehen i s t . . . «242 Kunst, die in ihrer Werkhaftigkeit erst wirkliche Objektivität der ästhetischen Anschauung verleiht, »(d)as eine« ist, »welchem die absolute Objektivität gegeben ist«,243 hat das Wissen von einer Praxis des Wissens an sich. Wird jedoch die Einbildungskraft als produktiv und praktisch werdende Vernunft angesetzt, so kann die ästhetische Anschauung nicht als in einem Kunstgebilde vollkommen objektivierte gedacht werden. So faßt Schelling innerhalb der Kunstsphäre die einzelnen Kunstwerke, die in dem Widerspruch existieren, absolute Identität als ein Unendliches endlich darstellen zu wollen, in »Ein absolutes Kunstwerk« zusammen, in dessen Totalität sich die expandierende Tendenz der Kunst dartut. Denn sind Kunst und ästheti237

238 239 240 241 242 243

90

Siehe Beissner, Friedrich (Hrsg.): »Hölderlin. Sämtliche Werke«. (= Kleine Stuttgarter Hölderlin Ausgabe) Stuttgart 1965, (Bd. 4), S. 309-311 und Anm. S.407. Ebd., S. 310. Ebd. Schelling, System, S.22. Ebd., S. 292. Biemel, a.a.O., S. 154. Schelling, System, S.299.

sehe Anschauung das sinnenhafte Modell für das allgemeine Postlat, Vernunft solle verwirklicht werden, so kann dieses weder in der Partikularität des einzelnen Werkes noch in der Abgegrenztheit der Kunstsphäre stillgestellt sein. Denn obgleich die wirkliche Welt ganz aus demselben ursprünglichen Gegensatz hervorgeht, aus welchem auch die Kunstwelt, welche gleichfalls als Ein großes Ganzes gedacht werden muß, und in allen ihren einzelnen Produkten nur das Eine Unendliche darstellt, hervorgehen muß, so ist doch jener Gegensatz jenseits des Bewußtseins nur insoweit unendlich, daß durch die objektive Welt als Ganzes, niemals aber durch das einzelne Objekt ein Unendliches dargestellt wird, anstatt daß jener Gegensatz für die Kunst ein unendlicher ist in Ansehung jedes einzelnen Objektes, und jedes einzelne Produkt derselben die Unendlichkeit darstellt. Denn wenn die ästhetische Produktion von Freiheit ausgeht, und wenn eben für die Freiheit jener Gegensatz der bewußten und der unbewußten Tätigkeit ein absoluter ist, so gibt es eigentlich auch nur Ein absolutes Kunstwerk, welches zwar in ganz verschiedenen Exemplaren existieren kann, aber doch nur Eines ist, wenn es gleich in der ursprünglichsten Gestalt noch nicht existieren sollte.244

Indem die wirkliche Welt im unbewußten, »die Kunstwelt« im bewußten Produzieren der Einbildungskraft hervorgebracht wird, 245 die intellektuelle nur die erste Potenz der ästhetischen Anschauung ist, stellt »die objektive Welt als Ganzes« ein Unendliches dar, kann als — noch unvollkommenes, weil in seinen einzelnen Teilen noch nicht objektiviertes — Kunstwerk aufgefaßt werden, während umgekehrt das einzelne Kunstgebilde, »in Ansehung jedes einzelnen Objekts«, Unendlichkeit in dieser Partikularität nur widersprüchlich objektiviert, eine noch unvollkommene Darstellung des Absoluten ist, das als Konsequenz des Schellingschen Identitätsdenkens erst in einem die ganze Kunstsphäre vereinigenden Kunstwerk, der Welt als Kunstwerk gar, seine angemessene Darstellung fände. 246 Wird die Vernunft des Subjekts — durch die Einbildungskraft produktiv werdend und sich in Sinnlichkeit einbildend — so als umfassendes Prinzip der Wirklichkeit angesetzt, kann diese umgekehrt nur Anspruch auf Vernunft erheben, wenn sie von der Einbildungskraft als einem Prinzip, das allem vorausgesetzt werden muß, mit Vernunft in-eins-gebildet ist, dann kann Philosophie nicht die höchste Bestimmung, sondern »nur gleichsam ein Bruchstück des Menschen« sein: 244 245 246

Ebd., S. 296. Vgl. ebd., S. 17. Zu Schellings Gedanken der Welt als Kunstwerk, des umfassenden Einbildens des Absoluten in die Wirklichkeit, der hier nur angedeutet sei, siehe die »Philosophie der Kunst« (1859), Darmstadt 1960, bes. S. 122-131. Vgl. Biemels Darstellung, a.a.O., S. 158. 91

Die Kunst bringt den ganzen Menschen, wie er ist, dahin, nämlich zur Erkenntnis des Höchsten, und darauf beruht der ewige Unterschied und das Wunder der Kunst.247

Erst der der ästhetischen Anschauung sich hingebende Mensch wird seiner Ganzheit inne, ist der in seiner Vernunft und Sinnlichkeit angesprochene Mensch. Doch diese Ganzheit bleibt in begriffliches Denken nicht überführbares »Wunder«, so daß der unüberwindbare Unterschied von Kunst und Philosophie formuliert werden muß: Nehmt, kann man sagen, der Kunst die Objektivität, so hört sie auf zu sein, was sie ist, und wird Philosophie; gebt der Philosophie der Objektivität, so hört sie auf Philosophie zu sein, und wird Kunst.248

Der Ubergang in Kunst wäre Vollendung und Ende der Philosophie zugleich, Verlust der für das Denken unabdingbaren transzendentalen Differenz, innerhalb deren es als subjektives sich Objektivität entgegensetzen muß und doch — als praktische Vernunft — in dieser zu realisieren hat. Damit markiert die in der Kunst demonstrierte Identität für das philosophische Denken den Verlegenheitspunkt, an dem es seines Ziels: der Produktion von Identität, wie der Unmöglichkeit gewahr werden muß, als Denken dieses Ziel zu erreichen, das doch nur als Objekt von Subjektivität im Status der Auseinandergesetztheit beider gedacht werden kann. So bleibt die in der Kunst leistbare Identität für das sich zum philosophischen System entfaltende Denken ein nicht in Begriffe überführbares »Wunder«, das Schellings Metaphern vom sich der Philosophie auftuenden »Allerheiligsten« nurmehr umschreiben können. Was diese Metaphern erhellen, ist der sich der bloßen Rationalität des Denkens versperrende Zug der »ästhetischen Anschauung«, deren Begriffsüberschwenglichkeit, wie sie Kant an der »ästhetischen Idee« — wenn auch in harmonisierender Wendung — hervorgekehrt hat: Die ästhetische Erweiterung des Begriffs, die diesen seiner Funktion nicht mehr gerecht werden läßt, kehrt den herrschaftlichen rationalistischen Zug des Denkens hervor, welches das ihm Heteronome als objektiv zu Bestimmendes subsumieren möchte und dabei der Einseitigkeit dieser Funktionsweise gewahr werden muß. Gerade das Auseinandergesetztsein von Sinnlichem und Geistigem in der »ästhetischen Idee« aktiviert den Verstand. Er entzündet sich an ihr zur Unruhe des Denkens, ohne daß doch dieses zur Erfüllung im Begreifen käme; ist ihm doch in der ästhetischen Idee nicht Anschauung, sondern die ungeschlichtete Spannung zwischen Anschaulichkeit und Begrifflichkeit selbst gegeben. Nicht zur Bewältigung des Sinnlichen, sondern zur Bewältigung des begrifflichen Denkens fordert die ästhetische Idee zu247 248

92

Vgl. Schelling, System, S.17. Ebd., S. 299.

nächst heraus. Sie kehrt die Einseitigkeit der Rationalität im Denken hervor, das den vollen Begriff von Vernunft noch zu entwickeln hat. Denn der Zweck aller Rationalität, des Inbegriffs der naturbeherrschenden Mittel, wäre, was nicht wiederum Mittel ist, ein Nichtrationales also . . . Fortlebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Hervorgebrachten zu seinem Andern, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und insofern ihrerseits als »rational«. Denn worauf das mimetische Verhalten anspricht, ist das Telos der Erkenntnis, das sie durch ihre eigenen Kategorien zugleich blokkiert. Kunst komplettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene und beeinträchtigt dadurch wiederum den Erkenntnischarakter, ihre Eindeutigkeit. 249

Kunst ist Kritik an der bloßen Rationalität des Denkens, indem dessen Fixierungen in dem Zug zur Unendlichkeit der werkhaften Objektivation der »ästhetischen Idee« nicht ans Ziel gelangen. Diese »komplettiert« das Denken, indem sie dessen Rationalismus opponiert: Dem in Rationalität verstrickten Denken muß, was solche Rationalität übersteigt, als Irrationales und doch das Denken Bewegendes, als »Wunder« erscheinen. Kunst ist »Organon« der Philosophie nicht als deren — selbst philosophisches — Endstück, sondern als unbegreifliches Werkzeug, das der Philosophie fortwährender Vorwurf und Anstoß ist, sich ihres — die Möglichkeiten des Denkens übersteigenden — Zieles bewußt zu bleiben. Die »ästhetische Anschauung« als »die höchste Potenz der Selbstanschauung«, die — wie Schelling zu definieren versucht — »selbst schon über die Bedingungen des Bewußtseins hinausliegt, und vielmehr das von vorn sich schaffende Bewußtsein selbst ist«, 2 5 0 ist höchste Leistung des Denkens, die dieses übersteigt. Die Objektivation von Vernunft in der ästhetischen Anschauung geschieht um den Preis eines unbegreiflichen Wunders, das in seiner sinnlichen Anschaulichkeit der auf Objektivierung bedachten Vernunft das Ziel setzt und in diesem Sinne Vernünftigkeit beanspruchen kann. Wenn sich aber so an der Schellingschen Konzeption der »ästhetischen Anschauung« und deren Objektivation in der Kunst die Schwierigkeit einer Vereinigung von Sinnlichkeit und Vernunft ausmachen läßt, die Angewiesenheit auf das begreifende Denken, so kann sie nicht als Form der Identität und Aufhebung der Trennung bestimmt werden, sondern zerfällt in die paradoxe Struktur der »ästhetischen Idee«, die in der »Kritik der Urteilskraft« als bloßer Schein von Vernunftrealität bestimmt wurde. In solchem Scheinen kehrt das »Allerheiligste« der Kunst seinen rationalen Charakter, seine aufklärende Intention hervor, die vom Anspruch auf schon geleistete Identität absehen muß zugunsten einer auf Versöhnung in der Wirklichkeit bedachten, nicht durch die Imagination

249 250

W. Adorno, »Ästhetische Theorie«, S. 86f. Schelling, System, S.302, vgl. S.299.

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leistbaren, Praxis. Der Imaginationsbegriff ist transzendentalphilosophisch zwar entwickelbar als Prinzip eines Schaffens, das die theoretische Vernunft in eine praktische zu überführen vermag, doch bricht dabei das Problem einer imaginativen Praxis auf, die den Modus moralisch-politischen Wirkens nicht erreicht und die auch da, wo sie ästhetische Praxis des Künstlers ist, dem Anspruch ihres Prinzips — ihr Gelingen als Schönheit auszuweisen — nicht genügt. Nicht in rationaler Veranstaltung des souverän sich dünkenden Subjekts, sondern in der materiellen Wirklichkeit, auf die das Subjekt seine Rationalität zu wenden hat, muß, wenn irgend, reale Vernunft und reale Autonomie erstehen. In dieser Auflösung des einseitig subjektiven Charakters des Identitätsdenkens weicht das von Schelling formulierte Primat der Kunst der Wechselseitigkeit der Erhellung von Kunst und Philosophie, deren Hierarchisierung in solcher Bezogenheit kaum sinnvoll erscheint. Philosophie, der sich das Praxispostulat der Vernunft als Problem stellen muß, hat an der in Kunst dargestellten Identität das über diese hinausweisende Moment des bloßen Scheins von Vernunftrealität aufzuzeigen, in Reflexion aufzulösen. Philosophie hat an Kunst den Begriff einer wirklichen Identität und Versöhnung des Getrennten zu entwickeln. Doch die philosophische Kritik am bloßen Scheincharakter der Kunst richtet sich gegen das Denken selbst, das als Denken die Praxis, die es fordert, nicht leisten kann. Gegenüber diesem unpraktischen Medium des Begriffs ist die von der Einbildungskraft provozierte und im Kunstwerk in Anschauungen präsente »ästhetische Idee« wiederum ein Vorwurf, die Freiheit, die alleine hier zu sinnlicher subjektiver Vorstellung geworden ist, in wirklicher vernünftiger Praxis zu objektivieren. Kunst und Philosophie — so ließe sich zusammenfassen — konvergieren, sind in ihrem Wahrheitsgehalt aufeinander angewiesen, weisen jedoch in dieser Konvergenz über das ihnen jeweils Mögliche hinaus, »verlöschen« ineinander im Verweis auf eine vernünftige Praxis in der Wirklichkeit. 251 Schellings Betonung des Vorbildcharakters der Kunst als höchster Objektivation der »ästhetischen Anschauung« hat da ihre Berechtigung, wo er — die Kantsche Konzeption der »ästhetischen Idee« ausführend — das Moment vernünftiger Praxis hervorkehrt, das die Einbildungskraft hier entwickelt, freilich nicht als schon geleistete Identität, sondern als Kritik wie Provokation des auf Praxis abzielenden Denkens. Was bei Kant sozusagen an der Grenze erspäht wird, rückt bei Schelling ins Zentrum und begründet die hervorragende Rolle der Kunst für Philosophie. Allerdings stellt Schelling nicht nur das von Kant erblickte Moment der Unendlichkeit als Zug der Einbildungskraft heraus, sondern dieses Unendliche wird als Aufhebung des Widerspruchs gefaßt, der aller menschlichen Tätigkeit zugrunde l i e g t . . . Eigentlich 251

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Vgl. Adornos Metapher, »Ästhetische Theorie« (Paralipomena), a.a.O., S. 507.

darf sie (die Einbildungskraft) gar nicht mehr ein Vermögen unter anderen genannt werden, da durch sie die Entfaltung des Ich geschieht, sie das alle Tätigkeiten Ermöglichende und Tragende ist — das Vermögende schlechthin.252 Schelling radikalisiert die Kantsche Konzeption einer produktiven Einbildungskraft, indem er deren ästhetische Ideen in der eigenen Konzeption einer die intellektuelle Anschauung potenzierenden und objektivierenden »ästhetischen Anschauung« als Erscheinung des Absoluten, Form von Identität auffaßt. Damit lassen Schellings Gedanken deutlich werden, wie ein Begriff der produktiven Einbildungskraft entwickelbar ist, der diese als Produktivkraft der Vernunft und allen menschlichen Tätigkeiten vorbildliches Vermögen ansetzt, als Vorbildnerin vernünftiger Praxis. So wird es uns die philosophische Begründung dieser Schellingschen Konzeption der Einbildungskraft ermöglichen, den — noch unentwickelten — philosophischen Gehalt der Imaginationskonzeption Shelleys hervorzukehren, der — wie Schelling — in der »Defence of Poetry« »imagination« und deren Objektivation »poetry« als ein umfassendes Prinzip vernünftiger Wirklichkeit ansetzt. 2 5 3 Zugleich sei hier am Beispiel Schellings nur angedeutet, wie in einer um 1800 einsetzenden »Imaginationsbewegung« — so bei Fichte, Hölderlin, Novalis, Coleridge und anderen — der Gedanke der Einbildungskraft als produktiv werdender Vernunft in den Mittelpunkt rücken konnte. 2 5 4 Dabei wird Schillers Imaginationskonzeption in den »Ästhetischen Briefen« als der Versuch einzuordnen sein, unter strikter Betonung des Scheincharakters des Ästhetischen die von der »Kritik der Urteilskraft« eröffneten Möglichkeiten eines Praxisbezugs der Einbildungskraft weitestgehend auszuführen. 2 5 5 Unsere Überlegungen zur Begriffsbestimmung der Vernünftigkeit der Imagination haben aufgewiesen, daß Einbildungskraft nicht Vernunft neben dieser sein kann, so daß der Widersinn zweier »Vernünfte« entstünde; vielmehr gewinnt die Auffassung der Einbildungskraft als Vernunft darin ihre philosophische Begründung und Berechtigung, daß die Einbildungskraft im ästhetischen Zusammenhang ein Vernunftmoment entwickelt, in der Hervorbringung der »ästhetischen Idee« eine Vernünftigkeit, die nicht im Sinne eines Substitutionsverhältnisses an die Stelle der Vernunft tritt, sondern sich nur in der Beziehung zu dieser entfaltet. Denn die vernünftige — wenn auch 252

253

254 255

Biemel, a.a.O., S. 155. Vgl. aber die unmittelbar folgende Bewertung: »So wird Kants Ansatz der produktiven Einbildungskraft, die in der ästhetischen Idee ihre Entfaltung findet, bei Schelling fortgeführt und vollendet«. Biemels ontologisierende Kant-Auslegung wurde oben abgewiesen. Siehe den nächsten Abschnitt dieser Arbeit (1.1.5.) zur Imaginationskonzeption Shelleys und Schillers. Vgl. Abschnitt 1.2.6. Siehe hierzu S.99ff. 95

scheinhafte — Praxis der Einbildungskraft bleibt Anstoß, zu begreifendes »Wunder« für die Vernunft, die in diesem der Einseitigkeit ihrer Rationalität wie ihres solche Rationalität übersteigenden Ziels gewahr wird. Aufklärung »im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens« 256 ist auf dieses die Vernunft aufklärende Moment angewiesen, will Aufklärung ihren vollen Begriff von Vernunft realisieren, welchen als pure Rationalität und Herrschaft die von der Einbildungskraft produzierte »ästhetische Idee« in Frage stellt. So entwickelt die Einbildungskraft ein kritisches Moment gegenüber der Herrschaftlichkeit von Vernunft, wird sie aufklärende Kraft in einer dialektisch verlaufenden Aufklärung, die gerade diese Rationalität einseitig hervortreibt und sich in Unfreiheit, Unvernunft also, zu verstricken droht. Die »ästhetische Idee« der Einbildungskraft ließe sich somit als notwendiges Moment von Aufklärung definieren, die ihr Praxispostulat — als Objektivation und Versöhnung der Vernunft in der Wirklichkeit — zu erfüllen hat. Denn die Einbildungskraft eröffnet in der »ästhetischen Idee« die Einsicht in die Notwendigkeit einer Praxis, die sie doch selbst nicht leisten kann. In dieser Orientierung am grundsätzlichen Praxisverhältnis der Vernunft »könnte selbst der empirisch-produktiven Einbildungskraft eine transzendentale Funktion zugesprochen werden«, 257 wie Schiller dies in den »Ästhetischen Briefen« tut. 2 5 8 Diese Vernünftigkeit aber gewinnt die Einbildungskraft gerade dann, wenn sie sich des Scheins vollendeter Vernunftautonomie begibt und in der Gespanntheit und Unversöhnlichkeit der »ästhetischen Idee« das Moment von Vernunftkritik entfaltet. Die durch die Imagination geleistete Aufklärung der Aufklärung ist in dieser Wahrheit der Kritik mit Schönheit und Harmonie unverträglich zugunsten der Reflexion: Einbildungskraft muß in Vernunft, deren Praxis in der Wirklichkeit noch umschlagen, um das zu erfüllen, woran die »ästhetische Idee« denken wie zweifeln läßt, eine objektive und so vollendete Vernunft. Wir werden zu verfolgen haben, wie Schillers und Shelleys ästhetische Theorien der Vernünftigkeit der Imagination dieses Denkmotiv einer — durch die Einbildungskraft provozierten — Praxis der Vernunft im Rahmen der gesellschafts- und kulturkritischen Zusammenhänge verwenden, des Aufklärungsproblems, wie es als geschichtliche Erfahrung Anstoß dieser Theorien ist. Unsere Begriffsbestimmung der Vernünftigkeit der Einbildungskraft unter dem Doppelaspekt noch nicht und schon vollendeter Vernunft wird dabei den theoretischen Begründungszusammenhang weiter erhellen helfen, innerhalb dessen der Einbildungskraft eine zentrale Aufgabe im Aufklärungsprozeß auch in den »Ästhetischen Briefen« und der »Defence« zugewiesen wird. 256 257 258

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W. Adorno / Horkheimer: »Dialektik der Aufklärung«, a.a.O., S. 7. Biemel, a.a.O., S. 107, ebenso 106. Hierzu in unserem folgenden Abschnitt S. 1 0 9 - 1 1 2 .

1.1.5. Schillers und Shelleys ästhetische Theorien: Imagination als notwendiges Moment vernünftiger Praxis in der Dialektik der Aufklärung Schillers Konzeption des Spieltriebs, der die Uberwindung des Antagonismus, die Kongruenz von Stoff- und Formtrieb meint, gründet in dem Vermögen der produktiven Einbildungskraft. Dieser Zusammenhang wird in seiner Bedeutung deshalb leicht unterschätzt, weil ihn Schiller erst im letzten der Briefe benennt, w o er Kants Begriffe der reproduktiven und produktiven Einbildungskraft aufgreift. N u r von hier aus entwickelt Schiller seinen Spielbegriff in den »Ästhetischen Briefen«. Das »Spiel der freien Ideenfolge«,259 das psychologische Vermögen der Assoziation von gespeicherten Sinnesdaten zu neuen Kombinationen, sieht Schiller als ersten Schritt zu dem »ästhetischen Spiele«, 260 denn ehe die Imagination in ihrer produktiven Qualität nach eignen Gesetzen handeln kann, muß sie sich schon bei ihrem reproduktiven Verfahren von fremden Gesetzen frei gemacht haben.261 Weil diese Unabhängigkeit der Phantasie von äußern Eindrücken wenigstens die negative Bedingung ihres schöpferischen Vermögens262 ist, kann sich dieses nach einem Prozeß der Zügelung als »(d)er ästhetische Spieltrieb« konstituieren. 263 Die Notwendigkeit einer solchen Zügelung betonen in den Ästhetischen Briefen zahlreiche Hinweise auf die Tätigkeit einer die Erkenntnis gefährdenden, Aufklärung behindernden Einbildungs259 260 261 262 263

27. Brief, S.208. Ebd. Ebd. Anm. Ebd., vgl. auch 22. Brief, S.154. 27. Brief, S.210. — Schiller verwendet — wie das Zitat verdeutlicht — die Begriffe Einbildungskraft, Imagination und Phantasie ohne Bedeutungsunterschiede. Julia Wernly kommt in ihren »Prolegomena zu einem Lexikon der ästhetisch-ethischen Terminologie Friedrich Schillers« (Leipzig 1909) zu dem Schluß (S. 139 und 152): »Bei unserem Dichter ist die Sache viel einfacher, wenn auch vielleicht nicht ganz korrekt, indem bei ihm die Termini >EinbildungskraftImagination< und >Phantasie< gleichbedeutend sind. Er ist darin nicht der Erbe Kants, denn dieser nennt die Einbildungskraft nur dann Phantasie, wenn sie auch unwillkürliche >Einbildungen< hervorbringe. Hingegen sind bei dem Popularphilosophen Feder, dessen Schriften Schiller bekannt waren, die Ausdrücke gleichgesetzt«. »Die gleiche Bedeutung wie »Einbildungskraft haben bei Schiller die Ausdrücke >Imagination< und >PhantasieSchein< in the Light of Recent Aesthetics«, The German Quarterly 28,4 (1955), S. 219-227; Lohner, Edgar: »Schiller und die moderne Lyrik«. Göttingen 1964. Bes. S. 18f. Rasch, a.a.O., S. 13 spricht von Schillers »Theorie von der Kunst als Spiel«. Damit unterscheidet sich Schillers Ansatz zur Entwicklung einer Spielkonzeption grundlegend von dem beispielsweise J. Huizingas: »Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel«. Hamburg 1959.

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lein Aufgabe des Formtriebs bleibt, als dessen telos utopisches Vorbild sein kann. Vollendetes wäre spielerisches Handeln wie in Schillers Perspektive der Juno Ludovisi, 2 9 ' doch der Weg dorthin führt durch das Handeln, das dem Zwang der Vernunft zu gehorchen hat. Der Spieltrieb wird nicht als Handlungsalternative konzipiert, so daß er für praktisches Handeln substituierend einspringen könnte, sondern als dessen Ermöglichungsgrund im »ästhetischen Zustand« und Modell des vollendeten Handelns. 3 0 0 Schiller entwickelt seine Konstruktion des Spieltriebs nicht vom Spielbegriff als einem Handlungsbegriff, sondern der ästhetischen Funktion der produktiven Einbildungskraft her, wenn diese auch erst im 27. Brief als Movens des ästhetischen Spielens auftritt, so daß die begriffliche Basis der Schillerschen Konstruktion leicht übersehen werden kann. 301 Die in Kowatzkis Uberblick zum Stand der Forschung in Hinblick auf die Bedeutung von »Spiel« und »Spieltrieb« aufgezeigte Unmöglichkeit, eine kohärente Definition bei Schiller zu finden, resultiert gerade daraus, daß man eine über die »Kritik der Urteils299 300

301

1 5. Brief, S. 108. Vgl. aber Barnouw, Jeffrey: »Das »Problem der Aktion« und »Wallenstein«« (in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, 1972, S. 330-409, S.330): »Zweitens antworten die »Ästhetischen Briefe« auf die gewaltsame politische Stockung der Französischen Revolution und die kulturelle Blockierung der deutschen Aufklärung mit einer Konzentration auf die Kunst nicht nur als Alternative zur Aktion, sondern als neues Modell der Aktion«. Barnouw entwickelt den Zusammenhang von Spieltrieb und staatlichem Ordnungsmodell, womit sich jedoch für Schiller noch kein neues, »alternatives« Handlungsmodell zur Erreichung dieses Staatsmodells ergibt (vgl. unseren Abschnitt2.1.4.). Schillers Spieltrieb ist also nicht als Alternative zum Handeln, sondern als dessen Orientierungsmodell gedacht. Praktisches Handeln bleibt Aufgabe des Formtriebs, an dessen Konzeption Schiller festhält und ihn nicht um spielerische, »stoffliche« Momente erweitert. Barnouws Formulierung kann nicht belegt werden: »Die ausführende Vernunft oder der gesetzgebende Wille sollten . . . einer »höheren« passiveren Fähigkeit weichen, einem politischen Stofftrieb, der offen ist für die Artikulation von Widerstand und Antwort«. Ebd. S. 335. Engeil, »The Creative Imagination«, a.a.O., geht auf die Gründe ein, weshalb Schiller den Begriff Einbildungskraft (zunächst) nicht explizit verwendet (S.231, 236): »While Schiller uses »Einbildungskraft, Kunsttrieb, Phantasie«, and »Imagination« elsewhere, his idea of »Spieltrieb« parallels the idea of imagination in other major figures. »Spieltrieb« can be taken to stand for the imagination when it operates in an aesthetic context that includes not only art but perception and the conduct of life. One reason Schiller employs »Spieltrieb« and places less emphasis on more traditional terms is that, like Herder, he was deterred by the use of »Einbildungskraft« in Kant, Fichte, and Maimon. In the 1780s and 1790s these thinkers often used »Einbildungskraft« in a strictly philosophical and purely speculative sense. Like Herder, Schiller turns to »Bildungstrieb« as the »imitative and shaping power« of art habitually associated in British thought with »imagination««. — »Also there was the pleasant rhetorical shock produced by saying that play, not reason, duty, or religion, was the highest fulfillment of humanity«. 105

kraft« hinausgehende Spielkonzeption in den »Ästhetischen Briefen« aufzuzeigen bemüht war.302 Dabei wurde - wie in der Interpretation Marcuses303 eine vom Status ästhetischer Verwirklichung losgelöste Verbindung von Spiel- und Handlungsbegriff bei Schiller unterstellt bzw. der Scheincharakter als das bloß verbrämende, ideologische Moment in der Schillerschen Begriffsbildung beiseitegeschoben. Doch läßt sich - wie sehr es auch Schillers Intention ist, eine größtmögliche praktische Wirksamkeit für den Spieltrieb zu erweisen — aus der theoretischen Verwirklichung dieses Begriffes in den »Ästhetischen Briefen« kein vom Schein von Freiheit in Darstellung oder ästhetischem Zustand losgelöstes Begriffsmoment herauslesen. Wie auch Sdun bemerkt,304 hebt Schiller lediglich die Begriffe Spiel und Freiheit, die in Kants Analyse des speziellen Zustandes der Erkenntnis- oder Gemütskräfte, durch den ästhetische Urteile als allgemein mitteilbar begründet werden, eine beschreibende, charakterisierende Funktion haben, als Begriffe hervor, die den Gehalt des Ästhetischen und dessen wesentliche Momente ausdrükken.305 Mit dieser besonderen Akzentuierung des in der »Kritik der Urteilskraft« bereits entwickelten Spiel- und Freiheitsmomentes in der Konstruktion des Ästhetischen ist für Schiller, dem Vernunft am Formtrieb zum Problem wird, jedoch ein wesentlicher Gedanke ausgedrückt und entwickelbar: Vom Bereich der freien und doch gesetzmäßigen, d.h. spielerischen produktiven Einbildungskraft her sind die Herrschaftsmomente von Vernunft mit deren Freiheitspostulat zu kontrastieren und der Mangel einer in Zweckrationalität befangenen Vernunft am Gegenbild des freien ästhetischen Spiels 302

303

304 305

Kowatzki, a.a.O., S. 11-38. - Pott (a.a.O., S.90ff.) argumentiert, Schiller habe mit der Konzeption der »lebenden Gestalt« als Äußerung des Spieltriebs den traditionellen Kunstbegriff überschritten, seine Ästhetik sei — konsequent zu Ende gedacht — eine ontologisch fundierte, wenn auch Schiller selbst diese Ontologie begrifflich nicht stringent verwirklicht habe. Dabei verkennt Pott, indem er den Spieltrieb zur grundlegenden Seinsweise erweitert, dessen Charakter als Schein und Nicht-Wirkliches, wodurch Schiller gerade das praktische Handeln in sein Recht zu setzen vermag. Marcuse, Herbert: »Triebstruktur und Gesellschaft« (zuerst unter dem Titel: »Eros and Civilisation«, 1955) Frankfurt/M. 1971, bes. S. 185ff. Wir gehen auf Marcuses Interpretation des Spieltriebs in Zusammenhang mit der Konzeption des »ästhetischen Staates« in Abschnitt2.1.4. ein. Sdun, a.a.O., S.506. Käthe Hamburger kritisiert in Hinblick auf die Kalliasbriefe, Schiller habe Metaphern mit eigentlichen, den Gegenstandsbereich definierenden Begriffen vermischt. Die Definition des Spieltriebs ist keine solche »Metabasis eis allo genos«. Kants Begriff des Spiels in der »Kritik der Urteilskraft« ist keine metaphorische Umschreibung, sondern ein die eigentliche Relation und Aktionsweise von Verstand und Einbildungskraft ausdrückender Begriff. Vgl. K. Hamburger, »Schillers Fragment »Der Menschenfeind< und die Idee der Kalokagathie«, a.a.O., S. 103—105, S. 119ff.

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der Einbildungskraft eindringlicher hervorzukehren. Dabei dient der Spielbegriff in seiner Affinität zum Handlungsbegriff der Hervorhebung des Praxismomentes der Einbildungskraft, die in ihrer scheinhaften Realisierung einer spielerisch tätigen Vernunft an die Möglichkeiten praktischen Handelns denken läßt. Schillers Begriff des ästhetischen Spiels geht in der ästhetischen Funktion der produktiven Einbildungskraft auf, deren Praxismoment nicht nur im Spielbegriff, sondern auch dadurch akzentuiert wird, daß Schiller sie in Anlehnung an eine gängige Vermögenspsychologie sowie Reinholds und Fichtes Vorbild als Spieline^ ansetzt. Wie im Formtrieb, der Vernunft als vernunftbestimmtes Wollen, als in der Wirklichkeit tätig sein wollende Vernunft akzentuiert, meint Trieb im Umkreis solcher Trieblehren den Ausdruck der Tathandlung des reinen Ich, eine Tendenz des sich verwirklichenden Selbstbewußtseins.306 — Schwierigkeiten, Schillers Trieblehre mit dieser Triebkonzeption zu vereinbaren, bereitet nur Schillers Stofftrieb, der mit dieser sein Gemeinsames in der Betonung der grundsätzlichen Vermitteltheit des Stofflich-Sinnlichen durch Subjektivität in Bewußtsein wie Unbewußtsein, Gefühl und Affekt haben dürfte. 307 Das Praxismoment, das schon in der allgemeinen Charakterisierung als Trieb und im Spielbegriff enthalten ist, erhält in der Verbindung mit dem Imaginationsbegriff für Schiller eine besondere Bedeutung, denn der Gedanke, das Einbilden oder Vorstellen Verwirklichen sei, läßt sich weit in die vorkritische Periode bis zur Austauschbarkeit der Begriffe zurückverfolgen. In seiner ersten medizinischen Dissertation, der »Philosophie der Physiologie« (1779) definiert Schiller die »Vorstellung« einer »materielle(n) Phantasie« oder des »Denkorgans« auf empirischem wie spekulativem Wege als Weltentwurf und »Weltveränderung«:308 306

307

308

Vgl. Hegel: »Phänomenologie des Geistes«. Hamburg: Meiner 6. Aufl. 1952, S. 438. — Zum Verhältnis der Schillerschen Trieblehre zu Fichte siehe Barnouw, Jeffrey: »>Der Trieb, bestimmt zu werdenUber die ästhetische Erziehung des Menschen< im Hinblick auf die Begegnung mit Goethe«. Bern 1977. S. 64f. 15. Brief, S. 102.

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weitert, 314 zur Schönheit als deren wesentliches Moment gehört. Daß es die ästhetische Idee der Einbildungskraft gibt, muß uns interessieren, wenn wir den vollen Begriff von Vernunft — der die Vernünftigkeit der Einbildungskraft einschließt — entwickeln wollen. Der Umgang mit dem Schönen kann als ein Bedürfnis des Menschen im Sinne der Praxisforderung der Vernunft 314

Ansätze zu einer den geistigen Gehalt des Schönen hervorkehrenden Interpretation und einer Differenzierung des Begriffs des »interesselosen Wohlgefallens« bietet bereits der §42 »Vom intellektuellen Interesse am Schönen«, in dem Kant, nachdem er die Autonomie des Geschmacksurteils als dessen Freiheit von Interesse, Begriff, Zweck und Notwendigkeit bestimmt hat, ein unmittelbares Interesse — wenn auch nur am Naturschönen — einräumt. Kants Argumentation geht vom Interesse der Vernunft aus (Kr. d. Urt., §42, S. 398, A I 6 8 ) : »Da es aber die Vernunft auch interessiert, daß die Ideen (für die sie im moralischen Gefühle ein unmittelbares Interesse bewirkt) auch objektive Realität haben, d.i., daß die Natur wenigstens eine Spur zeige, oder einen Wink gebe, sie enthalte in sich irgend einen Grund, eine gesetzmäßige Ubereinstimmung ihrer Produkte zu unserm von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen... anzunehmen: so muß die Vernunft an jeder Äußerung der Natur von einer dieser ähnlichen Ubereinstimmung ein Interesse nehmen; folglich kann das Gemüt über die Schönheit der Natur nicht nachdenken, ohne sich dabei zugleich interessiert zu finden. Dieses Interesse aber ist der Verwandtschaft nach moralisch. . . « . Das Naturschöne kann als nicht vom Subjekt hergestelltes und dennoch dessen Vernunftinteresse an Objektivität korrespondierendes für dieses Interesse besondere Bedeutung gewinnen als ermutigende »Spur« einer möglichen Bezogenheit von Vernunft und Natur. Nicht der Herrschaft des Subjekts über Natur entstammend vermag nur das Naturschöne die Möglichkeit einer gewaltfreien, nicht vom Subjekt verfügten Objektivation von Vernunft anzudeuten. In solcher Objektivation hat die ästhetische Idee ihr Vorbild, das sie im Werk, der von Schelling herausgestellten Objektivität der Kunst zu verwirklichen hat, die »nur schön genannt werden« kann, »wenn wir uns bewußt sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht« (Kr. d. Urt. §45, S. 405, A178/9). Die ästhetische Ideen produzierende und diese im Kunstwerk objektivierende Einbildungskraft erweckt »in Schaffung gleichsam einer andern Natur« (ebd., §49, S. 414, A191) das Interesse der Vernunft an Objektivität und enttäuscht es zugleich im Schein, der die eigene Unwirklichkeit erkennen läßt. Das Schöne als »Symbol des Sittlichen« ist eine Form der Autonomie der praktischen Vernunft, in der diese wirkliche Erfüllung nicht finden kann. Das Schöne als Gegenstand des interesselosen Wohlgefallens erweckt doch das grundsätzliche Interesse der Vernunft, sich in der Wirklichkeit zu realisieren, »den letzten Zweck unseres Daseins« (vgl. Kants Formulierung im §42, Kr. d. Urt., S.399, A169/70) zu erreichen: »Wenn aber das Schöne der großen Kunst nicht als etwas Beiherspielendes und Blindes gesehen wird, sondern uns als welteröffnend angehen soll, so muß ich von ihr ebenso wollen, daß sie existiert, wie ich dies vom Guten wollen muß, und diese Existenz geht in mein Wohlgefallen ein, das mit Recht kein indifferentes, sondern ein interessiertes ist«. (Scheer, a.a.O., S. 12). Wenn aber so ein auf vernünftige Praxis gerichtetes Interesse der Absetzung der Heautonomie des Ästhetischen von den Bereichen der Erkenntnis und Moral widerstrebt und die Heautonomie des ästhetisch-reflektierenden Subjekts in ihrer Abkap-

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gelten, w o b e i Schiller die K a n t s c h e n B e s t i m m u n g e n der E r k e n n t n i s - u n d Gesinnungsfreiheit ästhetischer A u t o n o m i e g e w a h r t wissen kann. D e r Z u stand des ästhetisch reflektierenden Subjekts, dessen Zusammenspiel v o n Einbildungskraft u n d Verstand sich selbst Z w e c k , auf D a u e r hin angelegt u n d m i t L u s t verbunden ist, 3 1 5 erlaubt ein Verhältnis z u r über die Einbildungskraft vermittelten Sinnlichkeit, w o r i n diese z u m Zusammenspiel m i t der Gesetzmäßigkeit des Verstandes freigesetzt wird. D e r Spieltrieb bezeichnet ein freieres Verhalten des Subjekts z u r Sinnlichkeit. Schiller konzipiert einen Trieb, der Vernunft an sich hat und zugleich in der Sinnlichkeit verankert ist, einen vernünftigen T r i e b . 3 1 6 O b Schiller damit — wie er in obigem Zitat andeutet — ein neues, im Sinne Kants transzendentales Prinzip gefunden hat, ist oft und mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert w o r d e n . 3 1 7 Z u bedenken bleibt, daß Schillers K o n s t r u k t i o n des Spieltriebs kein die B e dingungen der Möglichkeit v o n E r f a h r u n g und E r k e n n t n i s bestimmendes synthetisches A p r i o r i ist, sondern n u r in empirischer ästhetischer E r f a h r u n g im U m g a n g m i t Schönheit seinen B e d e u t u n g s h o r i z o n t eröffnet. Andererseits k o n n t e gezeigt w e r d e n , daß der ästhetischen Idee der produktiven Einbildungskraft insofern eine transzendentale Struktur z u g e s p r o c h e n

werden

seiung von diesen Bereichen widersprüchlich werden läßt, dann kann sie nicht in jenem völligen Fürsichsein verharren, als das sie die Analytik des Schönen konzipiert. Wenn sich in der Bezogenheit von ästhetischem Erfahren und ästhetischer Idee der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Praxis der Vernunft realisiert, deren höchste Objektivation in der Kunst nur Schein sein kann, dann muß sich ästhetische Autonomie eben den Bereichen praktischer und theoretischer Urteile öffnen, von denen sie sich als autonome doch abzusetzen hat. Ästhetische Autonomie muß sich frei von allen Interessen halten, doch das grundsätzliche Interesse der Vernunft an objektiver vernünftiger Praxis mischt sich in sie ein. 315

Vgl. Wenzel, a.a.O., S. 58: »Der >Trieb< im >Spieltrieb< meint doch nur das Verlangen, diese Erfahrung immer wieder zu machen, diesen Zustand — der ja die Vollendung seines (des Menschen) Daseins ist — immer wieder einzunehmen. Diesen >Trieb< dürfen wir auch dem ästhetischen Zustand< zusprechen. Und das >Spiel< im >Spieltrieb< meint, daß beide Triebe in ihren >Tendenzen< spielend übereinkommen, denn sie wollen beide dasselbe«.

316

In dieser von der Vernunft bzw. dem Selbstbewußtsein her bestimmten Tendenz dürften Schillers Triebkonstruktionen von psychoanalytischen Trieblehren abzusetzen sein. Hierzu v.Wiese, »Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 487. Siehe zu diesem Thema die (im Literaturverzeichnis nachgewiesenen) Arbeiten von Hamburger (in: »Philosophie der Dichter«), Heuer, Henrich in Hinblick auf »Uber Armut und Würde« (Zeitschrift für philosophische Forschung), Janke, Kroner, Kühnemann, Lukäcs (»Beiträge zur Geschichte der Ästhetik«, S. 18f.; »Geschichte und Klassenbewußtsein«, S. 153—55), Marquard, Menzer, Meyer, Rasch, Rohloff, Rosalewski, Schaarschmidt, Schaper, Seidel, Sommer, Tenenbaum, Wilkinson / Willoughby (»Friedrich Schiller. O n the Aesthetic Education of Man«, Introduction, S . X X - X X I X ) .

317

111

könnte, als die Einbildungskraft im Bereich der Sinnlichkeit gleichsam an deren Grenzen stößt und etwas bildet, das auf Ubersinnliches, Vernünftiges hindeutet. 3 1 8 — D o c h die Einseitigkeit dieser mit Kants Ästhetik vergleichenden Fragestellung, mit der die Forschung Schillers Theoriebildung fortwährend untersucht und gewertet hat, ist von R o h l o f f , K o w a t z k i , U e d i n g und schon R o h r m o s e r zu Recht kritisiert worden. 3 1 9 R o h r m o s e r fordert die Anerkennung der Geschichtlichkeit in Schillers Theorie des Schönen, denn ihm sei es » u m die Beantwortung und L ö s u n g einer in der Wirklichkeit aufgebrochenen Problematik« gegangen, während die Schillerforschung von diesem geschichtlichen Problem abgesehen, »an der Auslegung der Schillerschen Ästhetik von K a n t her festgehalten« und sich dabei »vorwiegend im Felde begrifflicher Distinktionen und Subtilitäten« aufgehalten habe. 3 2 0 R o h r m o s e r s eigener Weg setzt — mit sehr unterschiedlicher Zielrichtung — an der Interpretationsposition von L u k ä c s an. Es ist das Verdienst der marxistischen Schillerinterpretation, mit einer einseitig an Kant orientierten Deutung der Ästhetik Schillers gebrochen und seine Philosophie in die Bewegung hineingestellt zu haben, die zu Hegel führt und die wir im allgemeinen als den Weg vom subjektiven zum objektiven Idealismus verstehen.321

Vgl. den vorangehenden Abschnitt S. 96 unserer Arbeit. " Kowatzki, a.a.O., S.21f. Rohloff, a.a.O., bes. S.6—16. Günter Rohrmoser: »Schillers ästhetische Versöhnung und die Begründung des absoluten Bedürfnisses nach Kunst durch Hegel«. In: G. R., »Herrschaft und Versöhnung«. Freiburg 1972. S. 72—109. (Unter dem Titel: »Zum Problem der ästhetischen Versöhnung: Schiller und Hegel« zum Teil schon in Euphorion53, 1959, S. 351—366). Zu Ueding s. S. 7 unserer Arbeit. 320 Rohrmoser, »Zum Problem der ästhetischen Versöhnung: Schiller und Hegel«, Euphorion53, 1959, a.a.O., S.353. 321 Rohrmoser, »Herrschaft und Versöhnung«, a.a.O., S. 87. Rohrmoser bezieht sich auf Georg Lukäcs: »Geschichte und Klassenbewußtsein«. Berlin 1928, S. 153f. Lukäcs führt hier aus, in den »Ästhetischen Briefen« sei das Grundproblem der klassischen Philosophie in besonderer Weise erkennbar. Schiller habe das Problem, wie der gesellschaftlich entfremdete, »zerstückelte« Mensch als Mensch theoretisch wieder herzustellen sei, nur rein ästhetisch lösen können, da er die »Schranke« des »Dogmatismus der kritischen Philosophie« nicht habe überwinden und so nur eine subjektivistische Lösung habe anbieten können. Diesem Ansatz folgt Rohrmoser (»Herrschaft und Versöhnung«, a.a.O., bes. S. 88): Schiller kann das sich in der geschichtlichen Erfahrung stellende Problem nur in den Grenzen der kritischen Philosophie Kants lösen, so daß aus diesem subjektiven Charakter seiner Theorie eine »bloß« im ästhetischen Bereich angesiedelte Lösungsmöglichkeit sich ergeben muß. Rohrmoser ersetzt die auf Marx hininterpretierende Sichtweise Lukäcs' lediglich durch die auf Hegel hininterpretierende. Beiden Interpretationsversuchen gilt also die im folgenden vorgetragene Kritik. — Vgl. denselben Ansatz Lukäcs' in: »Beiträge zur Geschichte der Ästhetik«. Berlin 1954, S. 11-96 (Zur Ästhetik Schillers). 318 3

112

Von diesem Ansatz her ordnet Rohrmoser Schiller der Intention nach als Hegelianer ein, der die Konzeption eines absoluten Geistes — infolge des Kantschen Begriffsinstrumentariums — nur unzureichend theoretisch habe verwirklichen können: Die Einheit des Allgemeinen und Besonderen, der Freiheit und Notwendigkeit, der Geistigkeit und des Natürlichen, die Idee (im Sinne Hegels) ist bei Schiller zwar richtig bestimmt und tritt bei ihm erstmalig als solche wieder hervor, aber nur als ästhetische, durch die Einbildungskraft des Künstlers erzeugte und in ihrer Wirklichkeit auf die Versöhnung des Subjekts beschränkte Idee . . . Es gehört zu den wenig geklärten Ereignissen unserer geistigen Uberlieferung, daß Schiller eben in den Grenzen seiner ästhetischen Philosophie entscheidend dazu beigetragen hat, daß die für ihn unüberwindbaren Schranken überschritten werden konnten . . . Er (Hegel) vollendet damit einen Weg, den Schiller ermöglicht und vorbereitet hat. 322

Schillers Leistung auf dem Gebiet der ästhetischen Theorie sei — wie auch in Henrichs Sicht — nur im Scheitern faßbar: 323 So zeigt sich am Ende die epochale Bedeutung des Prozesses, der sich im Scheitern der Schillerschen Gedankenbestimmungen vollzieht.

In der — unterstellten — Progressivität der Denktradition von Kant zu Hegel bleibt Schiller so als Zwischenfigur auf der Strecke, wird im perpetuum mobile der Schillerforschung bald auf Kant, bald auf Hegel hininterpretiert. Rohrmosers berechtigte Kritik an der Einseitigkeit einer fortwährend mit Kant vergleichenden Auslegung der Ästhetik Schillers führt lediglich in die neue Einseitigkeit einer auf Hegel hin orientierten, die nur um so problematischer ist, als Schillers Begriffsbildungen — wie Rohrmoser und Henrich konzedieren — über Kants Transzendentalphilosophie in der theoretischen Verwirklichung der Begriffe nicht hinausgehen. Es ist somit dieser Schillerforschung die Frage vorzulegen, ob das — hier nicht weiter zu diskutierende und in der Philosophie selbst nicht unbestrittene — Axiom einer Vollendung der Philosophie der Aufklärung durch Hegel als Interpretationsansatz der »Ästhetischen Briefe« tauglich und alleine fähig ist, deren geschichtlichen Gehalt hervorzukehren. Vielmehr hoffen wir zu zeigen, daß Schillers Leistung als Theoretiker nicht erst im auf die Hegeische Philosophie verweisenden Scheitern hervortritt und erst dort in ihrer geschichtlichen Dimension erkannt werden kann. Ebensowenig sollte in der Diskussion der systematischen Frage, ob Schiller ein neues, im Sinne der Kritiken transzendentales Prinzip im Bereich der ästhetischen Theorie habe aufstellen können, Schil322 323

Ebd. S. 92f., 94, 98 und S. 7 2 - 1 0 9 passim. Henrich, »Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik«, Zeitschrift für philosophische ForschungXI, 4, 1957, S. 527—548, S. 545. Den gleichen Interpretationsansatz verfolgt Kroner: »Von Kant bis Hegel«. Tübingen (1.1921/24) 2.1961. S. 4 5 - 5 3 .

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lers wesentliche und originelle gedankliche Leistung verschwinden, die den »Ästhetischen Briefen« ihre vielbeachtete, weit über ihre Zeit hinausreichende kulturkritische Dimension verliehen hat: Schiller leistet dadurch eine Selbstreflexion der Aufklärung, daß er den Widerspruch von Vernunft und Rationalität, dessen er am Kantschen Vernunftbegriff gewahr wird, als Zwanghaftigkeit des Formtriebs hervorhebt, eine in Rationalität verstrickte Vernunft ihrer — sich in gesellschaftlichen Formen von Rationalität dokumentierenden — Unvollendetheit und gar Unvernunft überführt und mit dem Freiheitspostulat konfrontiert. Dieses geschichtsphilosophische Denkmotiv einer dialektisch verlaufenden Aufklärung, das Schiller über Ansätze hinaus bereits entwickelt,324 ist kein außerhalb der ästhetischen Theorie Schillers gefaßtes und an diese herangetragenes Axiom einer bestimmten philosophiegeschichtlichen Betrachtungsweise und Wertung, sondern das in den »Ästhetischen Briefen« selbst als zentrales aufgezeigte und von Schiller entwickelte Problem der Unvollendetheit und noch bestehenden Unvernünftigkeit des Formtriebs. In der Entwicklung dieses Problems, innerhalb deren Schiller seine Konstruktion des Spieltriebs definiert und vom ästhetischen Bereich her eine Lösung des vom Charakter des Formtriebs her gestellten Vernunftproblems versucht, liegt Schillers genuine, die kritische Philosophie Kants um ein geschichtsphilosophisches Denkmotiv erweiternde theoretische Leistung. Damit dürfte ein zentraler Zugang zu Schillers ästhetischer Theorie gewiesen sein, der nicht in den circulus vitiosus von Interpretationsansätzen hineingerät, die bald Kant, bald Hegel als Optimum der Aufklärungsphilosophie ansetzen und alleine von diesem her in der Abweichung oder Konformität Schillers dessen Leistung messen können und mit alternierender Unterschiedlichkeit bewerten müssen. So kann sich die Verfolgung dieses aufgezeigten Denkmotivs nicht im Nachweis oder Verwerfen eines neuen transzendentalen Prinzips bei Schiller erschöpfen. Rohrmosers Mahnung an den Interpreten:

324

Bei aller Beachtung der Schillerschen Gesellschaftskritik ist dieses Denkmotiv im Duktus der »Ästhetischen Briefe« bisher nicht beachtet worden. Vgl. den bloßen Hinweis bei zur Lippe, Rudolf (»Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung«, Frankfurt a.M. 1975), S. 137: » . . . die Kritik an dem bloß Instrumentellen solch praktischer Vernunft ist ungewöhnlich genug für das ausgehende achtzehnte Jahrhundert. Schiller hat sich, wenn auch nicht gerade wirklich stringent, so doch mit überzeugender Intention, gegen das Zwanghafte gewandt, das >einer Zweckverbindung unter diesem Gedränge der Erscheinungen in den »Kritiken der Vernunft< anhaftet«. (Vgl. das Zitat aus Schillers »Über das Erhabene«, Hanser Bd.V, S.802f.). Vgl. auchH. Mettler, »Entfremdung und Revolution...«, a.a.O., S. 64 f. — Zum Denkmotiv einer Dialektik der Aufklärung auch die Hinweise bei Pott, a.a.O., S. 105 und 120.

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Es ging Schiller nicht um eine abstrakte Definition des Schönen und der Kunst überhaupt, sondern um die Beantwortung und Lösung einer in der Wirklichkeit aufgebrochenen Problematik, die in ihrer sachlichen Struktur den Versuch einer Lösung überdauert hat und uns heute mit einer verschärften Aktualität betrifft... 3 2 5

muß mit der Hinwendung zur Diskussion des geschichtsphilosophischen Motivs einer dialektisch verlaufenden Aufklärung beherzigt werden, wobei gerade der Gegensatz von Vernunft mit ihrer sich auch gesellschaftlich manifestierenden unvernünftigen Rationalität, der das zentrale Problem der »Ästhetischen Briefe« ist, die Verbindungslinie zu »einer verschärften Aktualität« Schillers angeben dürfte. Vor dem Hintergrund dieses Gegensatzes wäre Befreiung der Vernunft die Uberwindung ihrer Herrschaftsmomente, die versöhnende Praxis in ihrem Anderen, Nicht-Rationalen. Im Spieltrieb drückt sich das Bestreben der Vernunft aus, sich ihrer Herrschaftsmomente zu entledigen. Schiller setzt in der Konzeption des Spieltriebs also, welche sich an die Kantschen Bestimmungen der produktiven Einbildungskraft in ästhetischer Funktion hält, den Begriff Einbildungskraft in seiner kritischen Funktion gegenüber der Rationalität von Vernunft an. Der Spieltrieb ist eine in der Einbildungskraft produktiv und praktisch werdende Vernunft, hat selbst Vernunft an sich, da er Aufklärung über den rationalen Charakter von Vernunft leisten kann, die in der Einbildungskraft als von einseitiger Rationalität befreite, spielerische sich zeigt. Das Spiel ist das von Schiller in der Aktivität der Einbildungskraft hervorgehobene Gegenbild zu einer Vernunft, die in Zweck- und Begriffsetzungen Natur beherrscht, ohne daß Schiller in der Formalität des Zusammenspiels der Erkenntnisvermögen wiederum eine Form von Rationalität erkennen würde. Das Bedürfnis der Vernunft nach einer sie befreienden Praxis formuliert Schiller als Trieb, der in der Sinnlichkeit der spielerischen Produktivität der Einbildungskraft, die Vernunft darzustellen versucht, seine materielle Verankerung hat. Da der Spieltrieb diese Leistungen der produktiven Einbildungskraft umfaßt und ein für das Gelingen der Aufklärung wesentliches vernünftiges Postulat ausdrückt, kann Schiller ihn als notwendiges Moment einer auf Praxis abzielenden und so ihren Begriff geschichtlich zu realisieren suchenden Aufklärung ansetzen. Indem sich im Spieltrieb die Vernunftforderung ausdrückt, daß sich der »Begriff der Menschheit« vollende, 326 bringt Schiller das über den schönen Schein der Vollendung hinausweisende Moment der Einbildungskraft, die Symbolfunktion des Schönen für das Sittliche zur Geltung. Damit entfaltet Schillers Konzeption des Ästhetischen eben die Geistigkeit der ästhetischen Idee, wie sie auch in der 325 326

Rohrmoser, »Herrschaft und Versöhnung«, a.a.O., S. 89. Siehe das Zitat S. 109 in unserem Abschnitt.

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Kritik der Urteilskraft die Auffassung von Schönheit als vollendeter Harmonie unterläuft. Wird auf das reflektiert, was Schönheit intendiert, aber nicht ist, kann sie nicht mehr ungestörtes Spiel und vollendete Harmonie sein. In dieser Verweisungsfunktion deutet der in den Leistungen der produktiven Einbildungskraft gründende Spieltrieb auf eine Praxis hin, die nicht wiederum im Medium der Einbildungskraft realisierbar ist. Gelangt hier Vernunft nur zum Schein zur Darstellung, so löst sich dieser auf in Reflexion, die Idee einer Vollendung des Menschen. Ihre Vernünftigkeit gewinnt die Einbildungskraft erst in diesem Verweis auf Praxis, einer Idee, deren praktisch-politischen Gehalt Schiller schließlich in die Konzeption des ästhetischen Staates faßt. 327 — Versuchen wir vor dem Hintergrund unserer generellen Diskussion des Imaginationsbegriffes Shelleys Imaginationskonzeption einzuordnen, so wird deutlich, daß diese den — in vielem noch unentwickelten — Gehalt der Schellingschen Konzeption der Einbildungskraft impliziert und von einer solchen philosophischen Position her die Einbildungskraft als umfassendes Prinzip vernünftiger Wirklichkeit und Formen von Identität schaffendes Vermögen ansetzt, wobei in der »Defence« — in deutlichem Gegensatz zu Schillers »Ästhetischen Briefen«, deren Klärungsversuche in eine Diskussion des Scheinbegriffes münden — der Status des ästhetischen Scheins unbesprochen bleibt. Wie unsere begriffsanalytischen Untersuchungen zum Verhältnis von Imaginations- und Vernunftbegriff in der »Defence« (in Abschnitt 1.1.3.) erkennen ließen, entwickelt Shelley seinen Imaginationsbegriff von dessen Synthesisfunktion her. Damit geht Shelley über das gängige Assoziationsmodell hinaus, das in einer Vorfassung des Exordiums noch zur Klärung der Frage herangezogen wurde, wie eine Ordnung der Masse sinnlicher Eindrücke in der Perzeption denkbar sei. 328 Dabei suchte Shelley nach dem Ursprung und Ermöglichungsgrund des Assoziationsgesetzes, das lediglich passiven Charakter habe, und nahm in jenen Fragment bleibenden Gedankengängen eine — nur vage angedeutete — Beziehung zum Bewußtsein an. Shelleys Neuansatz vermeidet die Schwierigkeiten, in die das Assoziationsmodell als alleiniges, psychologisches Erklärungsmodell der Einheit der subjektiven Perzeption offensichtlich hineingerät. Denn diese den Assoziationsgesetzen der Psychologie gehorchende Herstellung von Einheit im Wahrnehmen und Erkennen bleibt bezüglich des Bewußtseins der Freiheit des Subjekts äußerlich und zufällig, ist eine dieses Bewußtsein ausschließende »Einheit«. — Shelley setzt die Imagination nun — unter Einbeziehung ihrer als Assozia327

528

Hierzu unser Abschnitt 2.1.4. Vgl. dieses Fragment in Julian Bd. VII, S. 107.

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tionsvermögen erreichbaren Synthesisleistungen — als Vermögen einer umfassenden Synthesis an, welche als »mind acting . . . and composing« die Spontaneität des Subjekts mit einbezieht.329 »Imagination« hat einen grundsätzlich vereinigenden Charakter, ist «principle of synthesis«. Sie fungiert als das vermittelnde Brückenglied in einem epistemologischen Ansatz, der von einer empiristischen Position her die Möglichkeit eines sinnvollen Zusammenhangs von subjektiver Perzeption und Natur erklären will: » . . . and has for its object those forms which are common to universal nature and existence itself«. Die Imagination bemerkt »the similitudes of things«, stellt — wie auch in der Metaphorik der poetischen Sprache — die »Affinität« der Dinge als somit praktisches Vermögen her.330 Indem sie eine Beziehung des Bewußtseins zur sinnlichen Mannigfaltigkeit vermittelt, kann »imagination« die Integrität bzw. das Besondere der einzelnen Bewußtseinsinhalte auch in der weiteren gedanklichen Verarbeitung wahren: »each (thought) containing within itself the principle of its own integrity«. 1st so die Imagination einerseits an die Besonderheit des sinnlichen Materials gebunden, so ordnet sie dieses andererseits zu einem Ganzen und perzipiert den Wert der von »reason« differenzierten Quantitäten »both separately and as a whole«. Die Wichtigkeit, welche diese — eine Ganzheit erstellende — Ordnungsfunktion der Imagination für Shelleys empiristischen epistemologischen Ansatz hat, betont Dawson, 331 der allerdings unbedacht eine Ur-Ordnung (»the original order«) voraussetzt: All man's knowledge comes from his experience of the world, including the inner world, but this experience is a »chaos« of unorganized impressions which can only receive order from the creative activity of man, who can only create order by imposing it on this original chaos. The ability to create order itself involves an important kind of freedom, for it means that man is not bound to the original order of his impressions.

Wie im transzendentalphilosophischen Zusammenhang der »Kritik der reinen Vernunft« ist für Shelleys empiristische epistemologische Argumentation die Einbildungskraft das zentrale Vermögen der Verbindung von Rezeptivität und Spontaneität; die Synthesis der »imagination« ist »bestim329

330 331

Vgl. auch im folgenden den Beginn der »Defence« S. 23 (Hervorhebungen von mir) und die vorbereitenden Begriffsuntersuchungen in Abschnitt 1.1.3. — Earl J. Schulze (»Shelley's Theory of Poetry. A Reappraisal«. The Hague, Paris 1966, S.227): »Shelley does not attack >associationism< (the mode of mere Fancy in Coleridge) as a description of imaginative process; he finds it, instead, one among several ways in which the imagination w o r k s . . . Association was simply a lesser form of synthesis«. Vgl. Defence, S.26. Zu Kants Begriff der Affinität S.68 unserer Arbeit. P.M. S. Dawson: »The Unacknowledged Legislator. Shelley and Politics«. Oxford 1980. S. 248 (u. f.).

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mend, und nicht, wie der Sinn, bloß bestimmbar«. 332 »Imagination« ist ein tätiges Vermögen der Synthesis, das die ursprünglich chaotische sinnliche Mannigfaltigkeit spontan zu einer vom quantifizierenden Verstand bestimmbaren Ganzheit anordnet, » . . . as mind acting upon those thoughts so as to colour them with its own l i g h t . . . «. »Imagination« ist wie »reason« »mind«, aber ein tätiges Bewußtsein, das in der Sinnlichkeit wirkt und so den Gedanken korrespondierende Anschauungen liefert, was Shelley recht vage mit »to colour« umschreibt. Während der Verstand in Shelleys Darstellung als ein Vermögen angesetzt wird, das lediglich kontemplativ die Relationen zwischen Bewußtseinsinhalten betrachtet bzw. »re-flektiert«, fällt deren Hervorbringung (»however produced«) in den Funktionsbereich von »imagination«, welche Shelley zu Beginn der »Defence« als das eigentlich produktive Vermögen hervorhebt. Es ist dieser die Konzeption der produktiven Einbildungskraft radikalisierende Ansatz der Imagination als des Vermögens der in Schellings Sinn »produktiven« oder »intellektuellen Anschauung«, welcher die gedankliche Basis der Imaginationskonzeption und als deren Konsequenz Shelleys Auffassung von »poetry« bildet. Ganz den philosophischen Fragestellungen seiner Zeit gemäß sucht Shelley — in freilich ästhetischtheoretischer Absicht — nach den Möglichkeiten der vom Subjekt her leistbaren Synthesis in den empirisch-psychologischen Bewußtseinsvorgängen und hebt die Imagination als das zentrale, zwischen Bewußtsein und Rezeptivität vermittelnde Vermögen hervor. Von diesem philosophischen Ansatz her — nicht den ihre Herkunft kaum noch verratenden (neo)platonischen Denkmotiven der Ideenlehre333 — entwickelt Shelley im weiteren Gedankengang der »Defence« die Synthesisleistung der Imagination in ihren Objektivationen zu einem Vorbild, an dem sich wie in Schellings System alle

332

333

Vgl. das Zitat aus der Kritik der reinen Vernunft im vorangehenden Abschnitt S. 67 unserer Arbeit. Den Untersuchungen, die einen (Neo-)Platonismus Shelleys in der »Defence« ins Zentrum rücken wollen, muß also widersprochen werden. Als Beispiel sei nur auf Abrams' Kapitel: »Shelley and Romantic Platonism« verwiesen (»The Mirror and the Lamp. Romantic theory and the critical tradition«. New York 1958. S. 126f.): »There is more of Plato in the >Defence< than in any earlier piece of English criticism, even though it is a Plato who has obviously been seen through a vista of Neoplatonic and Renaissance commentators and interpreters. But Shelley was also familiar with the poetic theory of Wordsworth and other contemporaries, had been a close student of the English sensational psychologists, and continued to support the benevolistic ethics that Godwin had adopted from his English predecessors. In the >Defence< these various traditions remain imperfectly assimilated, so that one can discriminate two planes of thought in Shelley's aesthetics...«. Es geht uns also um eine andere Gewichtung dieser beiden philosophischen Ansätze, auf die in Abschnitt 1.1.2. bereits verwiesen wurde.

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menschlichen Aktivitäten in theoretischem wie praktischem Bereich zu orientieren haben. Damit muß Scriveners oder Dawsons These, die in Abwandlungen viele britische und amerikanische Kritiker vertreten, Shelley habe in der »Defence« unter Godwins und Hazlitts Einfluß die Konzeption einer »moral imagination« entwickelt, modifiziert werden: 334 Diese typisch englische Tradition der Diskussion des Imaginationsbegriffes als Identifikationsvermögens, die in einer späteren Passage zum Durchbruch kommt und an anderer Stelle in dieser Arbeit im einzelnen diskutiert werden soll, ist Folge, nicht Grund der Shelley sehen Imaginationskonzeption. 335 Denn die Identifikation mit dem Anderen, die Beziehung von Einzelwesen und Gattung, die wesentliches Moment der als »instrument of moral good« fungierenden Imagination sein soll, beruht auf eben der synthetisierenden, Affinität herstellenden Kraft der Imagination, welche Shelley in seiner Grundlegung der «two classes of mental action« zu Beginn der »Defence« in erkenntnistheoretischer Hinsicht hervorhebt und begründet. Shelleys erkenntnistheoretischen Überlegungen gründen in dieser Subjektphilosophie und der besonderen Bedeutung, die der Imagination in ihr zukommt, nicht der platonischen Ideenlehre, die — auf diese Basis aufgepfropft — doch mit ihr unverträglich ist. Nach der kopernikanischen Wende verliert der Piatonismus in Shelleys empirischem Skeptizismus seine philosophische Substanz, wird zum rhetorischen Mittel der »Defence«, die Absolutheit der »ästhetischen Anschauung« der Imagination, deren »Ewigkeit« zu affirmieren, die doch eine der subjektiven Perzeption ist, oder geht ohne philosophische Wahrheit in die Bildlichkeit der Shelleyschen Poesie ein, um diese der Mächtigkeit ihrer »ästhetischen Ideen« zu versichern. Entwirft der erste Absatz der »Defence« in freilich skizzenhaften epistemologischen Gedankengängen die Schellings Denken verwandte Konzeption einer »intellektuellen Anschauung«, so versucht der nächste »poetry« als «expression of the imagination«, 336 Ausdruck des Imaginationsprinzips in einer »ästhetischen Anschauung« zu definieren, die — zwar auf Kunstwerke 334

Dawson, a.a.O., (ChapterVI), S.211-258, S.225: »Shelley's account of the imagination was originally developed as part of his moral philosophy, rather than of his aesthetics«. Ähnlich Scrivener, Michael Henry: »Radical Shelley. The Philosophical Anarchism and Utopian Thought of Percy Bysshe Shelley«. Princeton, New Jersey 1982, bes. S.247ff. - Was Harold Bloom (»Shelley's Mythmaking«, New Haven 1959, S. 1 — 10) die »mythopoeic mode« oder »mythopoeic perception« nennt, meint eben diesen in der »Defence« entwickelten Ansatz der Imagination als produktiver, sich zur poetischen potenzierender Anschauung. Bloom rekurriert jedoch auf Martin Buber (»I and Thou«; Ronald Gregor Smith trans.; Edinburgh, New York 1937). Zum Mythosbegriff vgl. unseren Abschnittl.2.6. S.238-244.

335

Defence S.33. Siehe Abschnittl.2.5. unserer Arbeit, S.244f. Vgl. auch im folgenden Defence, S. 23 f.

336

119

bezogen — der Manifestation in diesen vorgängig ist, so daß Shelley im weitesten Sinne von »poetry« sprechen kann. Der Grundzug solcher Poesie ist Harmonie, ein vom Individuum hergestellter Einklang mit seiner Umwelt, wie Shelleys Beispiele in diesem Absatz der »Defence« ausführen. Der Mensch ist nicht wie die Leier als passiv bearbeitetes Musikinstrument zu Melodie, sondern zu Harmonie fähig »by an internal adjustment of the sounds and motions thus excited to the impressions which excite them«, genauso wie der Sänger seine Stimme auf den Klang des Instruments abstimmen kann. Der Mensch ist so nicht dem Akzidentellen der empirischen Eindrücke ausgeliefert 337 wie die »ever-changing melody« der Leier, sondern vermag das rezipierte Sinnliche mit seiner Spontaneität in Einklang zu bringen. Auch das »child at play« gleicht (»by itself«) seine Stimme und Bewegungen seinen sinnlichen Eindrücken an, erzeugt Harmonie durch diese subjektive Leistung der Ubereinstimmung von spontanen und rezeptiven Verhaltensweisen. Jede Veränderung in Stimme und Bewegung hat ihre Entsprechung »in the pleasurable impressions which awakened it«. Objektive auslösende und subjektiver Hervorbringung entstammende Faktoren dieses Zusammenspiels verschränken sich in Shelleys Betrachtungsweise bis zur Austauschbarkeit. Was zunächst als Aktivität und Expression des Kindes erschien (»A child at play by itself will express its delight by its voice and motions«), wird nun umgekehrt als passives Aufnehmen charakterisiert, was die Kongruenz von Rezeptivität und Spontaneität des spielenden Kindes dokumentiert: » . . .it will be the reflected image of that impression«. Dieses Zusammenspiel von aktiven und passiven Vermögen ist wie das Zusammenspiel, das die Kritik der Urteilskraft konzipiert und Schiller in seiner Konstruktion des Spieltriebs aufgreift, auf Dauer hin angelegter Selbstzweck, da jede objektive oder subjektive Zwecksetzung die im spielenden Kind erreichte Balance von spontaner Hervorbringung und Rezeptivität stören würde. In diesem Sinne folgt das Kind seinem SpieltWe^: . . . and as the lyre trembles and sounds after the wind has died away, so the child seeks, by prolonging in its voice and motions the duration of the effect, to prolong also a consciousness of the cause.

Da dieses Spiel mit »delight« und »pleasurable impressions« verbunden ist, hat Shelley wie Schiller eine in der Sinnlichkeit wirkende Triebkraft von »poetry« gefunden. »Pleasure« ist — wie im Fortgang der »Defence« entwickelt wird — eine unabdingbare Voraussetzung jeder Kultur, denn »pleasure« verbindet »poetry« und Gesellschaft: 337

Vgl. Defence S. 56: »But poetry defeats the curse which binds us to be subjected to the accident of surrounding impressions«.

120

Poetry is ever accompanied with pleasure: all spirits on which it falls open themselves to receive the wisdom which is mingled with its delight.

Alle Menschen öffnen sich der Wirkung von »poetry« und deren Erkenntnisgehalt (»wisdom«), weil er von »pleasure« und »delight« begleitet wird, wobei »pleasure« den wesentlichen Bestandteil des Poetischen bildet. Es ist das Zusammenspiel der sinnlichen und geistigen Doppelnatur des Menschen, deren Harmonisierung als Lust fühlbar wird. Pleasure or good, in a general sense, is that which the consciousness of a sensitive and intelligent beeing seeks, and in which, when found, it acquiesces. 338

Die Lust der ästhetischen Erfahrung ist für Shelley wesentlich auf das Zusammenspiel von Sinnlichkeit mit der Intelligenz des Subjekts bezogen. Der geistige Faktor erhält sogar — in Widerspruch zum mit »poetry« verbundenen Harmoniekonzept — die höhere Gewichtung. Dies ist der Grund, weshalb Shelley davon abrückt, das Spiel des Kindes, das zunächst als Beispiel für »(p)oetry, in a general sense« angeführt wurde, als »poetry« zu bezeichnen: In relation to the objects which delight a child, these expressions are what poetry is to higher objects.

Shelley, der an anderen Stellen den Terminus »poetry« im weitesten Sinne verwendet, meint hier »poetry in a restricted sense« und will mit dieser Verengung des sonst recht unbekümmert extendierten Begriffes betonen, daß im Spiel des Kindes die Beziehung auf Gedankliches noch unentwickelt ist. Bleibt hier die Formulierung »higher objects« auch recht vage, so läßt der Gesamtzusammenhang der »Defence« deutlich werden, daß gerade die Beziehung zu Gedanken »poetry« im ausgezeichneten Sinn charakterisiert, daß für »poetry« das Zusammenspiel zwischen Sinnlichem und Geistigem wesentlich ist. So tritt in Shelleys Auffassung der poetischen Sprache das sinnliche Material hinter den auszudrückenden geistigen Gehalt, die Beziehung zu Gedanken, als geradezu hinderlich zurück.339 Ähnlich gerät Shelleys Versuch, das Vergnügen an »poetry« gegen ein Vergnügen niederer Art abzugrenzen, das bloß physisch »Angenehme« im Sinne der Kantschen Unterscheidung, in den krassen Dualismus physischer und »rein« geistiger Lust hinein, der somit gerade die Sinnenhaftigkeit sich verflüchtigt, die Shelley im materiellen Gehalt von »poetry« als wirklicher Form von Identität betont. Die Schwierigkeit der Abgrenzung der Lust am Angenehmen und am Schönen, wie sie der Kritik der Urteilskraft nur mit Hilfe einer prekären Kon338 339

Defence S.49. Zu Shelleys Sprachauffassung s. Abschnitt2.2.1, S.370ff. u. 2.2.3., S.483ff. 121

struktion gelingt, 340 führt Shelley somit gegen seine Intention einer möglichst umfassenden Anwendung des Begriffes »poetry« zu einer Einengung des Begriffsfeldes. Das Spiel des Kindes ist — wie Schillers Darstellung des noch unentwickelten Spieltriebs auf frühen kulturellen Stufen der Menschheit 341 — eine rudimentäre Vorform des ästhetischen Spiels. Die Beziehung auf Verstand und Vernunft ist im kindlichen Spiel noch unentwickelt wie in den von Shelley mit dem Kind verglichenen Versuchen des Wilden (»for the savage is to ages what the child is to years«), in den verschiedensten Formen von Expression die Wirkung seiner Umwelt auf ihn auszudrücken und in diesem Ausdruck eine Ubereinstimmung herzustellen. Soll dem Spiel ein geistiger Gehalt zukommen, so muß die Reflexion auf diesen — wie in Schillers Gedankengang — die Konzeption ästhetischer Harmonie stören. Wo das Spielerische in der Imaginationsaktivität am Geist partizipiert, da ist es — so wird auch gegen Shelleys klassizistische Insistenz auf der reinen ästhetischen Harmonie in den Gedankengängen der »Defence« deutlich — der Widerspruch zum Sinnlichen, der der Einbildungskraft eine Vernünftigkeit verleiht, die bloßem Spiel und ungetrübter Harmonie entgeht. In einem weiteren Ansatz zieht Shelley — wie er später selbst formuliert 342 — den Zirkel des Poetischen enger: Nach Betonung des synthetisierenden Charakters der Imagination in der Perzeption, des Ausdruckes solcher Synthesis als Harmonie in spielerischen und in den Naturzusammenhang eingebetteten Aktivitäten, die sich in der Kompliziertheit gesellschaftlicher Interaktion des »man in society« nicht bruchlos fortsetzen können, 3 4 3 geht es ihm im dritten Absatz der »Defence« um das Mimesisproblem im engeren Sinne in den Medien der verschiedensten künstlerischen Aktivitäten, das im allgemeinen Charakter von »poetry« als Expression eines Einklangs, subjektiv zweckmäßiger Wiedergabe von Impressionen schon angelegt war. Im Tanzen, Singen und der Nachahmung natürlicher Objekte bemerken die Menschen einen bestimmten Rhythmus, eine den jeweiligen Aktivitäten gemäße Ordnung, die jeweils ähnlich, aber nicht identisch ist: For there is a certain order or rhythm belonging to each of these classes of mimetic representation, from which the hearer and the spectator receive an intenser and purer pleasure than from any other: the sense of an approximation to this order has been called taste by modern writers. 344 340

Kr. d. Urt. (§9: Untersuchung der Frage: ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe), a.a.O., S. 2 9 5 - 2 9 8 . Hierzu Theodor W. Adorno, »Ästhetische Theorie«, a.a.O., S.25.

341

z . B . 27.Brief, S.210. Vgl. Defence, S.28. Hierzu unser Abschnitt2.1.2. Defence, S.25.

342 343 344

122

Der Geschmacksbegriff, den Shelley nur hier als Zitat einbringt, soll die Wahrung der dem jeweiligen Material entsprechenden Ordnung im Ausdruck von Harmonie garantieren. »Taste« ist der Sinn für eine Angemessenheit, die in graduellen Abstufungen erreichbar ist und vom Rezipienten mit entsprechenden unterschiedlichen Graden von Lust empfunden wird: Every man in the infancy of art, observes an order which approximates more or less closely to that from which this highest delight results: but the diversity is not sufficiently marked, as that its gradations should be sensible, except in those instances where the predominance of this faculty of approximation to the beautiful (for so we may be permitted to name the relation between this highest pleasure and its cause) is very great. Those in whom it exists to excess are poets, in the most universal sense of the word. 345

Hatte Shelley bislang im Gedankengang der »Defence« die Synthesisleistung der Imagination als eines allgemeinen, jedem Menschen eigenen Vermögens besprochen, so wird nun die besondere, dem Ideal der Schönheit sich approximativ nähernde Synthesis der Imagination des »poet« — wenn auch »in the most universal sense of the word« — vom gewöhnlichen Imaginieren abgehoben, sogleich aber — wie in Sorge um die Konsequenzen solcher Eingrenzung des Imaginationsprinzips in ästhetischer Hinsicht — durch »pleasure« der Wirksamkeit ih der Gesellschaft versichert: (...) and the pleasure resulting from the manner in which they (the poets) express the influence of society or nature upon their own minds, communicates itself to others, and gathers a sort of reduplication from the community. 346

Shelleys »poet« ist das Genie, 347 in dem das Imaginationsprinzip zur vollen Entfaltung gelangt, das somit — wie noch zu untersuchen ist — nur aus der Exklusivität solcher Entfaltung heraus seine generelle Orientierungsfunktion in der Gesellschaft übernehmen könnte, wie sie zu Beginn der »Defence« in der Diskussion der beiden allen Menschen eigenen Vermögen beansprucht wird. Wenn Shelley gegen Ende des Absatzes die Aufgaben des »poet« und somit auch die Leistung des Imaginationsprinzips zusammenfaßt, so kann dies als Synopse der Schellingschen Konzeption der Einbildungskraft gelesen werden: . . . and to be a poet is to apprehend the true and the beautiful, in a word, the good which exists in the relation, subsisting, first between existence and perception, and secondly between perception and expression.348

345 346 347 348

Ebd. Defence, S.25f. (Zusatz von mir). Zur Konzeption des »poet« Abschnitt2.1.3. Zum Geniebegriff 2.2. S.391ff. Defence S.26. 123

Der »poet« erfaßt in der »intellektuellen Anschauung« den Wert der in dieser vermittelten Bezogenheit des Existierenden auf die Perzeption und steigert diese »intellektuelle« zur »ästhetischen Anschauung« in dem objektivierenden Ausdruck jener mit allen Werten des Wahren, Schönen und Guten besetzten Beziehung. Wie in Schellings System erreicht so in Shelleys — in vielem noch unentwickelten — Definitionsversuchen die Synthesisleistung der Imagination eine Spitzenstellung, in der sie Vorbild aller praktischen und theoretischen Aktivitäten des Menschen wird und alle Werte sich in ihr konzentrieren. Wie Dawson bemerkt, haben Shelleys Wertbegriffe die Tendenz, ineinander überzugehen: »...again Shelley's values all tend to merge into each other . . . «349 Diese Assimilation aller Wertbegriffe ist die Konsequenz einer Imaginationskonzeption, die deren Synthesisleistung in ästhetischer Funktion von einer philosophischen Konzeption her, wie sie Schelling eingenommen hat, als Form absoluter Identität ansetzt. Wo Schelling jedoch verschiedene Wertbereiche differenziert und hierarchisch voneinander absetzt, sollen platonische Vorstellungen eine Zusammenschau des Reiches der Ideen in der »Defence« ermöglichen und deren »ewige Geltung« affirmieren. »A poet participates in the eternal, the infinite, and the one . . . « ; die Poeten »imagine and express this indestructible order«.350 Das Imaginationsprinzip vermittelt einen nicht mehr überschreitbaren, absoluten Wahrheitsgehalt und wird gleich zu Beginn der »Defence« als das alleinige wertsetzende Vermögen der auf Quantitatives beschränkten instrumenteilen Vernunft übergeordnet. 351 Shelley teilt in der »Defence« die Überzeugung: daß der höchste Akt der Vernunft, . . . indem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist, und daß Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind.352

Indem Vernunft in der Einbildungskraft produktiv wird, enthält die so hervorgebrachte Poesie ein Wissen, das — wie in den ähnlichen Formulierungen Schellings353 — die Kunst zum Vorbild der Wissenschaft erhebt: Poetry is indeed something divine. It is at once the centre and circumference of knowledge; it is that which comprehends all science, and that to which all science must be referred. It is at the same time the root and blossom of all other systems 349

350 351 352

353

Dawson, a.a.O., S. 249, vgl. auch S. 224f. und S. 242. Weitere Belege für solche Assimilation aller Wertbegriffe auf S. 53 und 55 der Defence. Vgl. zu diesem Problem der Expansion des Begriffes »poetry« unsere S. 311—313. Vgl. Defence S.27 und 26. Defence S.23; S.44f. unserer Arbeit. Siehe das wohl 1796 entstandene, von Friedrich Beissner so genannte »älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« in F. Beissner: »Hölderlin. Sämtliche Werke«. (= Kleine Stuttgarter Ausgabe) Bd. IV, Stuttgart 1965, S.310. Vgl. die Ausführungen zu Schelling in unserem vorangehenden Abschnitt S. 87ff. und das Schelling-Zitat dort S. 90.

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of thought; it is that from which all spring, and that which adorns all; and that which, if blighted, denies the fruit and the seed, and withholds from the barren world the nourishment and the succession of the scions of the tree of life. 354 Solche Begeisterung in der H e r v o r h e b u n g der h ö c h s t e n V o l l k o m m e n h e i t des Poetischen u n d der geradezu missionarischen W i r k u n g , die v o n ihm ausgehen k ö n n e , teilt auch Schiller, w e n n er beispielsweise i m letzten Brief in h y m n i s c h e n F o r m u l i e r u n g e n v o m »ästhetischen Staat« spricht. D o c h verbindet sich diese h ö c h s t e W e r t s c h ä t z u n g des Ästhetischen bei Schiller m i t einer strikten B e a c h t u n g der G r e n z e n dessen W i r k s a m k e i t , einem i m m e r w a chen Bewußtsein der Gefahren, die eine G r e n z ü b e r s c h r e i t u n g mit sich f ü h ren k ö n n t e . Shelley jedoch setzt allzu selbstverständlich die Einbildungskraft als produktives E r k e n n t n i s v e r m ö g e n an, o h n e wie Schiller auf ihre den V e r stand in Einbildungen verstrickende Tätigkeit einzugehen. So weisen W i l k i n s o n / W i l l o u g h b y einerseits auf die Gemeinsamkeit Schillers mit den G e danken des » S y s t e m p r o g r a m m s « der »Imaginationsbewegung« in D e u t s c h land hin, das er beeinflußte, heben zugleich aber auch die vereinseitigende R e z e p t i o n des Schillerschen Gedankens einer »ästhetischen E r z i e h u n g « h e r vor, when a »Systemprogramm des deutschen Idealismus« was drawn up — as some think by Hölderlin, but more likely by Schelling - setting forth the new Romantic attitude to art, science, and philosophy . . . This grandiose claim for the civilizing mission of art obviously owes much to Schiller's doctrine of aesthetic education. It no less obviously alters — one may with justice say that it distorts — its whole emphasis and intent. Gone are all distinctions, vanished all his scruples. There is no hint here of the dangers of the aesthetic. And there is no trace, either, of Schiller's committedness to maximum differentiation . . . N o wonder Crabb Robinson could write home from Jena: »Poetry & Mysticism are the idols worshipped here — Beauty & Truth are asserted to be one — Poetry is maintained to be nothing but esoterick philosophy and Philosophy esoteric poetry!!!« 3 5 5

354 355

Defence S.53. Wilkinson / Willoughby: »Friedrich Schiller. O n the Aesthetic Education of Man«. A . a . O . , Introduction, S. C L X I I I . Siehe auch dort die Abgrenzung zwischen Schiller und Schelling S. C L X I V , C L X X X I , C L X X X I X . - Crabb Robinsons Brief vom 17.10. 1802 in »Crabb Robinson in Germany 1 8 0 0 - 1 8 0 5 . Extracts from his Correspondence«. Ed. Edith J . Morley, Oxford 1929, S. 114. — Zur Interpretation und Gewichtung des Briefes Schillers vom 4.11. 1795 an die Gräfin Schimmelmann, in dem sich eine Schellings Gedanken ähnliche Formulierung findet, siehe Wilkinson / Willoughby, a.a.O., S. C L X I I I Anm.5. Vgl. Jonas Bd. IV, S.315: »Die höchste Philosophie endigt in einer poetischen Idee, so die höchste Moralität, die höchste Politik. Der dichterische Geist ist es, der allen Dreien das Ideal vorzeichnet, welchem sich anzunähern ihre höchste Vollkommenheit ist». 125

W e n n Shelleys Imaginationskonzeption in unseren A u s f ü h r u n g e n in die N ä h e der Schellings gerückt wird, s o nicht im Sinne einer — etwa d u r c h C r a b b R o b i n s o n o d e r C o l e r i d g e vermittelten — Beeinflussung. 3 5 6 Vielmehr ist es unsere Intention, den n o c h unentwickelten philosophischen Gehalt und systematischen O r t der Imaginationskonzeption Shelleys d u r c h diesen Vergleich z u entwickeln. D a b e i dürfte der Vergleich m i t Schiller, der an der K a n t s c h e n K o n z e p t i o n der Einbildungskraft festhält, geeignet sein, die t h e o retische Leistung dieser Imaginationskonzeption und einer sie radikalisierenden wechselseitig z u erhellen. D a b e i soll die systematische Differenzierung nicht vergessen lassen, daß es u m die theoretische Verwirklichung des den »Ästhetischen Briefen« und der »Defence« gemeinsamen Interesses geht, d u r c h die K o n z e n t r a t i o n auf das Imaginationsprinzip das geschichtliche P r o blem einer blockierten Aufklärung im E n t w u r f einer ästhetischen T h e o r i e in dezidiert praktischer A b s i c h t z u lösen. W i r d » p o e t r y « als objektivierte »ästhetische A n s c h a u u n g « , als F o r m des A b s o l u t e n angesetzt, so m u ß dessen Z u g z u r Unendlichkeit, der W i d e r spruch zwischen absolutem Gehalt u n d endlicher, begrenzter Darstellung

356

Die Vermittlung Crabb Robinsons zwischen englischer und deutscher Romantik untersucht Eudo C . Mason: »Deutsche und englische Romantik. Eine Gegenüberstellung«. Göttingen 2. Aufl. 1966. — Gemeint sind die bekannten Imaginationsdefinitionen von S . T . Coleridge: »Biographia Literaria«, J . Shawcross ed., 2. Vols., Oxford 1907; vol.1, S.202 und S. 107. - Eine direkte Beeinflussung Shelleys durch Schelling kann nach den vorliegenden Untersuchungen zu den Beziehungen zwischen deutscher und englischer Romantik nicht angenommen werden. Einen Überblick über die Einflüsse, die auf Shelley gewirkt haben, gibt die von Frederick L. J o nes zusammengestellte Lektüre Shelleys; in: Jones, »The Letters of Percy Bysshe Shelley», Vol. II, a.a.O., (AppendixVIII: Shelley's Reading), S. 4 6 7 - 4 8 8 : Demnach hat Shelley zur Zeit der Abfassung der »Defence« vielleicht die »Kritik der reinen Vernunft« in französischer Übersetzung gelesen. Mary Shelley vermerkt in ihrer jährlich geführten Leseliste Shelleys Bekanntschaft mit Coleridges »Biographia Literaria« für das Ende des Jahres 1817. — Ein Hinweis auf die geistige Verwandtschaft der Imaginationskonzeption Shelleys und Schellings findet sich in William K. Wimsattjr. / Cleanth Brooks (»Literary Criticism. A Short History«. Vol. III: Romantic Criticism. London 1970, S.423): »The autonomously moral and religious power of poetry stands out much more prominently in Shelley's view than in that of Wordsworth or Coleridge. The Kantian >Reason< which Coleridge, following Fichte and Schelling, improved from a hypothetically constructive to a gnostic faculty does not appear in Shelley's system. The honor conferred upon poetic imagination, though nebulous, is the highest possible. In general import, if not in metaphysical precision, and doubtless not by any direct indebtedness, Shelley's poetic is close to that of Schelling in the >absolute< phase of his idealism and to the mythopoeia of Friedrich Schlegel«. Dieser Hinweis wird von Wimsatt / Brooks nicht ausgeführt und durch die Zuordnung Shelleys zu platonischen bzw. anderen Denktraditionen verunklärt. Ebd. S. 417ff.—

126

die Konzeption des Poetischen über die Partikularität des einzelnen Kunstgebildes hinaustreiben. Wie Schelling »Ein absolutes Kunstwerk« gedanklich konstruiert, formuliert Shelley den Gedanken an ein »great poem« in der »Defence«, das nicht nur alle Kunstgebilde traditioneller Art versammeln, sondern darüber hinaus Formen gelungener politisch-gesellschaftlicher Wirklichkeit einbeziehen, sich zu »poetry of life« öffnen soll. 357 Nicht nur wird der Begriff »poetry« auf das »Poetische« in Mythologie, Religion, Philosophie und Geschichtsschreibung ausgedehnt, sondern auch in der Realität etwa der römischen Institutionen oder bestimmter Höhepunkte der römischen Geschichte als verwirklicht gedacht. 358 Shakespeare, Dante und Milton werden als »philosophers of the very loftiest power« charakterisiert, die Bereiche von »beauty« und »truth« in der Formulierung von den »poetic philosophers« im Sinne des deutschen Systemprogramms »verschwistert«, 359 indem »beauty« als Kulminationspunkt aller geistigen Tätigkeiten und Hervorbringungen gilt. Ohne auf Shelleys Expansion des Begriffes »poetry« im Einzelnen hier einzugehen, 360 läßt sich vorweg feststellen, daß überall da, wo Vernunft in theoretischem oder praktischem Bereich als substantielle Sittlichkeit sich zeigt, Shelley geneigt ist von »poetry« zu sprechen. Dies ist einerseits Folge eines zu eng gezogenen Begriffes von Vernunft als Verstand (»reason«), andererseits einer Konzeption der Imagination, die diese als produktiv werdende Vernunft ansetzt und umgekehrt alle in der Wirklichkeit wirkende Vernunft aufs Imaginationsprinzip zurückführen will. Zwar spricht auch Schiller von »dem vollkommensten aller Kunstwerke . . . dem Bau einer wahren politischen Freiheit«, dem »ganze(n) Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigem Lebenskunst«, dem »ästhetischen Staat«. 361 Und diese Formulierungen sind nicht rhetorischer Redeschmuck, sondern meinen den eigentlichen Gehalt des Verweisungscharakters des Ästhetischen, die vernünftige Praxis, die der schöne Schein darstellt, aber nicht ist. Doch Schillers Formulierungen einer Überführung des Ästhe357

358

359 360 361

Siehe die einschlägigen Zitate und die detaillierte Untersuchung dieser Konstruktionen poetischer Expansion in Abschnitt2.1.4. Zu Schellings parallelem Gedanken S. 91 unseres vorangegangenen Abschnittes. Plato und Bacon werden als »poets« eingeordnet (Defence S. 29); »And thus all the great historians, Herodotus, Plutarch, Livy, were p o e t s . . . « (Defence, S. 31); Shelley spricht von »the poetry of the Christian and chivalric systems«, »the poetry of the religion of the ancient world« (Defence S. 51), »the poetry existing in their mythology and institutions (of the Celtic nations)« (Defence S.44). Siehe die weiteren Beispiele und Ausführungen zur Expansion des Begriffes »poetry« in Abschnitt2.1.4. Defence S.30 und 51. Siehe hierzu Abschnitt2.1.4. 2. Brief, S.6, 15. Brief, S.106 und 27. Brief.

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tischen in die Realität ergeben sich nicht in mechanischer Begriffsausdehnung, als ob es wie in der »Defence« um die Expansion eines »Zirkels des Poetischen« zu »poetry in an universal sense« ginge. 362 Vielmehr impliziert der Verweisungscharakter des in seinem Gültigkeitsbereich abgegrenzten ästhetischen Scheins bei Schiller die Forderung nach seinem Umschlagen in die ihm heteronomen Bereiche des Erkennens und des praktischen Handelns, in denen das im schönen Schein gezeigte Versprechen einer vernünftigen Praxis sich zu erfüllen hätte. Während jedoch Shelleys Gedankenführung einerseits suggeriert, daß die Realisierung des absoluten Gehaltes in einer bloßen Ausdehnung des »Zirkels« von »poetry« sich ereignen könne, verengt eine gegenläufige Gedankenbewegung in der »Defence« »poetry« zu »poetry in a restricted sense«, 363 wobei — oft uneingestanden und gegen Shelleys Intention — die Ansprüche in der theoretischen Verwirklichung der Begriffe eingeschränkt werden müssen, die von einem Ansatz her mit »poetry« zunächst verbunden werden, der die Imagination als umfassendes Prinzip produktiv werdender Vernunft und vernünftiger Wirklichkeit ansetzt. Wenn Shelley schließlich gegen Ende der »Defence« — auf deren Fortsetzung verweisend — zusammenfaßt, daß »poetry in a restricted sense« eine gemeinsame Quelle mit »poetry in an universal sense« im Imaginationsprinzip habe, 364 so liegt dies ganz auf der Linie der zu Beginn vorgetragenen Konzeption einer produktiven und sich zur ästhetischen Expression steigernden Anschauung, an deren Vorbildlichkeit sich alle menschliche Aktivität zu orientieren hat, soweit sie Anspruch auf Vernünftigkeit erheben will. Mainusch hat somit nicht Recht, wenn er in diesem Gedanken Shelleys an eine universale Poesie einen vereinzelten Passus sieht, »der einen der wichtigsten Beiträge zur romantischen Kunstlehre« en passant formuliere. 365 Vielmehr stößt Mainusch hier auf die »durchgehende gedankliche Linie«, die er in der »Defence« vermißt und welche Shelley in der konsequenten Entwicklung der zu Beginn der »Defence« entworfenen Imaginationskonzeption verfolgt. 366 Wenn der Schelling verwandte Ansatz der Imaginationskonzeption als die theoretische Basis der Argumentation der »Defence« erkannt wird, innerhalb deren (neo-)platonische Gedanken nur als Einsprengsel auftauchen, tritt die gedankliche Kohärenz hervor, die sich hinter der essayistischen Form leicht verbirgt und durch Shelleys historische Rückblicke nur stellenweise gestört wird (»But I disgress«). 367 Doch fügen sich diese dem 362 363 3M 365

366 367

Defence, S. 58. Ebd. Defence, S.58. Mainusch, Herbert: »Romantische Ästhetik«. Bad Homburg etc. 1969, (Kap. V: Shelley und die universale Poesie), S. 329. Ebd. S. 328. Vgl. unsere S. 11 zu der Schlußfolgerung, die Mainusch zieht. Defence, S.36.

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objektiven Ansatz Shelleys ein, indem sie Dokumente der ästhetischen Anschauung aus der Geschichte der Kunst als Beispiele anführen und den Objektivationen des Imaginationsprinzips nachgehen, das im historischen wie aktuellen, gesellschaftskritischen Sinn als Prinzip vernünftiger Wirklichkeit konzipiert ist. Von eben diesem Ansatz her entwickelt Shelley den gesellschaftskritischen Höhepunkt der »Defence«, wenn er wie Schiller in den »Ästhetischen Briefen« die zentrale Frage nach der Möglichkeit der Überwindung der Blockierung der Aufklärung und einer Praxis des in ihr akkumulierten Wissens stellt. Ganz im Zeichen der industriellen Revolution und des durch sie angesammelten technischen, szientifischen Wissens und doch mit Blick auf eine nicht bloß technisch funktionierende Praxis sucht Shelley nach einem »know how«, das die Brücke zwischen Theorie und Praxis schlagen könnte, und formuliert den Wunsch nach »poetry of life«, der als der programmatischzentrale Satz der »Defence« gelten kann: We have more moral, political, and historical wisdom, than we know how to reduce into practice; we have more scientific and economical knowledge than can be accomodated to the just distribution of the produce which it multiplies. The poetry, in these systems of thought, is concealed by the accumulation of facts and calculating processes. There is no want of knowledge respecting what is wisest and best in morals, government and political economy, or at least what is wiser and better than what men now practise and endure... We want the creative faculty to imagine that which we know; we want the generous impulse to act that which we imagine; we want the poetry of life: our calculations have outrun conception; we have eaten more than we can digest. 368

»Poetry« meint hier — weit über die traditionelle Konzeption des Poetischen hinaus — die durch die Imagination erwirkte vernünftige gesellschaftliche Praxis, innerhalb deren »reason« als technische Rationalität an vernünftigen Zwecken orientiert wäre. »Imagination« fungiert hier als »zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit schwebende, oder was dasselbe ist, eine Theoretisches und Praktisches vermittelnde Tätigkeit«, 369 da »to imagine« das Brückenglied zwischen »know« und »to act« bildet. Indem technische Rationalität das wird, was sie ihrem Wesen nach ist, bloßes Instrument, das nach vernünftigen Zwecken auszurichten ist (»the instrument to the agent«), 370 könnte die Positivität von Wissen, die durch technische Rationalität akkumuliert worden ist, in einen neuen, humanen Zweckzusammenhang treten. Die Frage nach der Lösung des Widerspruchs zwischen tatsächlicher und möglicher gesellschaftlicher Praxis verbindet sich für Shelley mit Defence, S.52. " Vgl. das Schelling-Zitat im vorangegangenen Abschnitt S. 88 unserer Arbeit. 370 Defence, S.23. 368 3

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dem Problem der vernünftigen Orientierung von »reason«. Anders jedoch als die »Ästhetischen Briefe«, deren Formtrieb als Vernunft eine vernünftige Zwecksetzung zu leisten fähig ist, befrachtet die »Defence« den Imaginationsbegriff mit der doppelten Aufgabe, das Orientierungswissen der zu »reason« verkürzten Vernunft bereitzustellen (»true utility«) 371 und zugleich praktisches Vermögen zur Verwirklichung dieses Wissens zu sein: Beides wird von Shelley als »poetry« bezeichnet. Infolge dieser Doppelfunktion der Imagination und ihres Produktes »poetry« gerät Shelleys Ansatz in den Widerspruch, daß die Instrumentalität der mit »reason« bezeichneten Verstandestätigkeit einerseits aufgehobenen, andererseits in »imagination« als an objektiven, guten Zwecken orientierendem Vernunftersatz aufrechterhalten werden soll. »Imagination«, die als »instrument of moral good« dient, 372 gerät in eben die Mittel-Zweckrationalität hinein, die »poetry« als »beauty«, harmonische Kongruenz von »form» und »spirit« überwinden will. 373 Shelleys Konzeption einer »ästhetischen Anschauung«, die als praktisch gewordene Vernunft Kritik an deren Rationalität sein will, gerät als Mittel der Zwecksetzung in Widerspruch zum Gedanken der Versöhnung, den Shelley wie Schiller mit dem Imaginationsprinzip verbindet. Aufgrund seines enggefaßten Begriffes »reason« muß Shelley der Imagination ein Wissen zusprechen, wie es nur einem objektiven Vernunftbegriff zukäme. Umgekehrt scheint die verhärtete technische Rationalität zu keiner Selbstkorrektur fähig zu sein, da sie nur in ihrer affirmativen, gesellschaftlich stabilisierenden Funktion genommen und in dieser beurteilt wird. Auch der »political economist« taucht in der »Defence« als Vertreter der »reasoners and mechanists« auf, 374 ohne zu der »poetischen« Nationalökonomie, die Shelley anvisiert, beitragen zu können. Hier werden positive Möglichkeiten technischer Rationalität, die in England etwa im Rahmen des Utilitarismus auch reformerisch eingesetzt wurde, abgeschnitten. 375 Dieser Nichtbeach371 372 373 374 375

Defence, S. 51, im Sinne von Shelleys Unterscheidung, S. 49. Vgl. »Defence« S. 33 sowie hierzu Dawson, a.a.O., S.240. Vgl. Defence S. 55. Vgl. Defence S. 50. Daß Shelley hier eine vielleicht typische Reaktion auf die industrielle Revolution und die entwickelte technische Rationalität zeigt, könnte ein Hinweis auf Dickens' »industrial novel« »Hard Times« (1854) erhärten, einen Roman, in dem Thomas Gradgrind als Exponent eines engen, an »reason« erinnernden Nützlichkeitsdenkens auftritt: Dieses Denken wird nur unter dem Aspekt seiner systemerhaltenden Funktion gesehen und die Möglichkeit, dieses Instrument wenigstens reformerisch einzusetzen, negiert oder zu gering veranschlagt. Raymond Williams kommentiert diese Verengung des Blickwinkels, deren Konsequenzen ganz auf der Linie des von Shelley entwickelten Dualismus liegen: »Gradgrind is a Utilitarian: seen by Dickens as one of the >feeloosofers< against whom Cobett thundered, or as one of the >steam — engine intellects< described by Carlyle. This line is easy enough, but one could

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tung von Korrektur- und Lösungsmöglichkeiten entspricht die kompensatorische Funktion, die »imagination« übernehmen muß. Während »reason« nur »the concerns of the inferior powers of our nature« diene und nur in dieser Funktion von Shelley akzeptiert wird, soll es alleinige Aufgabe der Imagination sein, Anwalt der »superior ones« zu sein.376 In dem krassen dualistischen Schema von Körper und Geist, in das Shelleys Denken hineingerät, ist »reason« zu keiner Selbstgesetzgebung der Vernunft fähig, sondern reflektiert nur die physischen Bedürfnisse (»the importunity of the wants of our animal nature«) und deren Absicherung, vermag lediglich »the grosser delusions of superstition« zu vertreiben und den sozialen Umgang der Menschen nur insoweit sicherzustellen »as may consist with the motives of personal advantage«.377 Shelley weist der Imagination ein alles partikulare Wissen steuerndes Wissen zu, das ihr nur als Substitut eines über »reason« hinaus erweiterten Vernunftbegriffes unterschoben werden kann. Doch das imaginative oder poetische Wissen kann kein Wissen und keine Wahrheit neben oder über dem rationalen Wissen sein als das »know how« dessen vernünftiger Anwendung. 378 Die von Shelley beanspruchte Funktion einer solchen Orientierungsinstanz einer gleichsam zweiten Vernunft kann dem Imaginationsprinzip gegenüber den Wissenschaften nicht zukommen. 379 Shelleys Uberfrachtung des Imaginationsprinzips resultiert aus der Funktion von »imagination« als Substitut eines über »reason« hinaus erweiterten Vernunftbegriffes und findet sich bei Schiller nicht, da der Formtrieb zu solcher vernünftiger Zwecksetzung fähig ist. Gegenüber diesem kann das »ästhetische Spiel« der Einbildungskraft aber insofern ein »Wissen« beanspruchen, als diese ein Verhältnis von Theorie und Praxis ins Spiel bringt, innerhalb dessen das Praktischwerden von Vernunft dargestellt und der Gedanke der Versöhnung der Vernunft mit ihrem Anderen, die Uberwindung ihrer bloßen Rationali-

376 377 378 379

easily draw another: say, Thomas Gradgrind, Edwin Chadwick, John Stuart Mill... It is easy now to realize that Mill was something more than a Gradgrind. But we are missing Dickens's point if we fail to see that in condemning Thomas Gradgrind, the representative figure, we are invited also to condemn the kind of thinking and the methods of inquiry and legislation which in fact promoted a large measure of social and industrial reform... Public commissions, Blue Books, Parliamentary legislation — all these, in the world of >Hard Times< — are Gradgrindery«. R. W., »Culture and Society«, Harmondsworth 1968, S. 105f. Vgl. Defence, S. 50. Vgl. Defence, S.49. Defence, S.52. Zwar kann Imagination als festgefahrene wissenschaftliche Bahnen überspielendes, konstruktives oder prognostisches Vermögen dienen, doch bleibt sie in dieser Rolle ganz im Bereich des rein technischen Gebrauchs der Wissenschaften.

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tat evoziert wird. N u r in diesem eingeschränkten und zugleich erweiterten, weil ins Grundsätzliche gekehrten Schillerschen Sinne kann Shelleys K o n zeption von »poetry« als »the basis of all knowledge«, der Imagination als Vernunft in der »Defence« ihre Geltung behaupten und über ein bloß austauschendes, verwechselndes Substitutionsverhältnis hinaus ihren philosophischen Wahrheitsgehalt entwickeln. Shelley negiert gegen die eigene Intention in der theoretischen Verwirklichung seines Begriffes »poetry« die Möglichkeit, ihm ein bloß substituierendes Orientierungswissen zuzusprechen: Indem »poetry« als Harmonie von Sinnlichem und Gedanklichem bestimmt wird, muß solches Zusammenspiel durch den Absenz objektiver F i xierungen konstituiert sein. Shelley betont solche Abweisung von objektiven Erkenntnisleistungen und Formulierungen moralischer Direktiven in dichtungstheoretischer Hinsicht, indem er »poetry« von allem Didaktischen freigehalten wissen will. 3 8 0 Wenn so die Autonomie des Poetischen als Konsequenz des Begriffes »poetry« gedacht ist, so wird eingestanden, daß die Imagination nicht das alleinige wertsetzende Vermögen sein kann, als das sie der erste Absatz der »Defence« ansetzt. Denn aus dem Imaginationsprodukt »poetry« können — wenn es harmonisch, allem Didaktischen entsagend sein will — keine einzelnen Wert- und Zielformulierungen ablesbar sein, die zu objektiven Bestimmungen tauglich wären. Vielmehr strebt Shelleys Begriff »poetry« ganz den Konsequenzen einer autonomen Kunstauffassung zu, wie sie Schiller als Indifferenz der Kunst in Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung formuliert hat. 3 8 1 Indem »poetry« Prinzip einer neu zu ordnenden politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit sein soll, gewinnt die in ihm herrschende Ordnung Modellcharakter. Wie Dawson ausführt, ist »imagination« und deren Produkt »poetry« schon in den anfänglichen Begriffsbestimmungen und Beispielen der »Defence« als ordnendes Prinzip sinnlicher Mannigfaltigkeit im Rahmen eines empiristischen epistemologischen Ansatzes konzipiert. 3 8 2 Die Imagination, die in der Erkenntnis die Ähnlichkeit und Affinität der Dinge herstellt und Synthesis ermöglicht, bringt in den das Entstehen von »poetry« verdeutlichenden Beispielen des Musizierens und des spielenden Kindes einen Einklang zwischen Rezeptionsvermögen und spontanen Aktivitäten zustande, in welchem diese sich zu einer subjektiv zweckmäßigen und lustvoll empfundenen Harmonie zusammenfügen. »Poetry« schafft in der Darstellung der Kongruenz von »form« und »spirit« eine Gedankliches und Sinnliches zusammenfügende Harmonie, deren »order« Vorbild aller ordnenden 380 381

382

Vgl. Defence, S.33f. 21. Brief, S. 146. Zu Shelleys und Schillers autonomer Kunstkonzeption vor allem Abschnitte 2.1.4./5. Dawson, a.a.O., S. 244-246, 248-250.

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Aktivitäten des Menschen sein könnte. 3 8 3 Zu Recht kritisiert Dawson die neo-platonische Interpretation Wassermanns, der die in »poetry« geschaffene Ordnung als approximative Annäherung an eine ewige Wertordnung sieht. Vielmehr ist — wie Dawson zusammenfassend bemerkt — die »ordering activity of the imagination« von Shelley als ein subjektives und dem Subjekt dienendes einheitsstiftendes Vermögen konzipiert, »most evident in its ability to create unity out o f diverse and disparate materials«. 3 8 4 Shelley führt zur Verwirklichung von Poesie in den Höhepunkten der politischen Geschichte Roms aus: The imagination beholding the beauty of this order, created it out of itself according to its idea: the consequence was empire, and the reward everlasting fame.385 Die Imagination schafft aus sich heraus eine Ordnung, in der sich für Shelley zugleich der Freiheitsgedanke verwirklichen soll, diese Objektivation »poetry« ist frei und zugleich gesetzmäßig. Den Widerspruch dieser Autonomie, daß die Einbildungskraft in ihrem freien Zusammenspiel mit Gedanklich-Verstandesmäßigem dem Zwang der völligen Subjektivierung unterliegt, wodurch die ästhetische Versöhnung zu einer besonderen Form von Herrschaft wird, problematisiert Shelley nicht. D o c h gelangt der Herrschaftscharakter der »poetry« bestimmenden Synthese von Freiheit und G e setzmäßigkeit in den politischen Konsequenzen der Übertragung auf Wirklichkeit in obigem Zitat deutlich zum Ausdruck: Die Imagination herrscht als imperiale Macht in der Wirklichkeit. So wird das römische Imperium, das Shelley als Beispiel heranzieht, in der ungefähr gleichzeitig entstandenen Schrift »A Philosophical View of Reform« unter dem hier vorherrschenden politischen Aspekt »that vast and successful schema for the enslaving (of) the most civilized portion of mankind« genannt. D e r von Shelley wie Schiller nicht entwickelte Gedanke einer besonderen Herrschaftlichkeit des Ästhetischen wird auch in der paradigmatischen Funktion zu verfolgen sein, die 383

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Defence, S. 55; der Begriff »order« wird mit »poetry« auf S. 58 und 52 ausdrücklich verbunden. Dawson, S. 249. Vgl. Wasserman: »Shelley. A Critical Reading«. Baltimore, London 1971, S.270. Northrop Frye (»The Critical Path«. Bloomington and London 1971, S. 95) nähert sich dieser Auffassung Dawsons, wenn er den Unterschied zu Sidney hervorhebt: »But in Sidney's day it was accepted that the models of creation were established by God: for Shelley, man makes his own civilization, and, at the centre of man's creation are the poets, whose work provides the models of human society«. Defence, S. 42. Shelley schwankte freilich in der Bewertung des römischen Imperiums; vgl. seine Äußerung in »A Philosophical View of Reform«, Julian Bd. VII, S.5. Vgl. »Ode to Liberty«, Hutchinson S.605f. (91-105). Zum Problem imperialer Verwirklichung der Imagination in einem »ästhetischen Staat« vgl. unseren Abschnitt 2.1.4. S. 319-323. 133

die Begriffsbestimmung von Schönheit als »Freiheit in der Erscheinung« im Zusammenhang der Kallisabriefe und der dort entwickelte strenge Formbegriff in Hinblick auf politisch-gesellschaftliche Ordnungsversuche gewinnt, wie sie die »Ästhetischen Briefe« erwägen. 386 U m einen geschichtlichen Begründungszusammenhang für die These zu erstellen, daß die freie und doch gesetzmäßige Einbildungskraft Ordnungsmodell der Gesellschaft und orientierender Fluchtpunkt der Wissenschaften sei, rekurriert Shelley auf die in der Romantik beliebte Ursprungsthese. 387 Der diese einleitende Gedankengang der »Defence« zeigt deutlich die Schwächen und Gefahren einer Perspektive, die die Leistungsfähigkeit aufklärenden Denkens auf »reason« beschränkt, wenn in einer Anmerkung die Philosophen der Aufklärung als »mere reasoners« abqualifiziert werden: 388 The exertions of Locke, Hume, Gibbon, Voltaire, Rousseau, and their disciples, in favour of oppressed and deluded humanity, are entitled to the gratitude of mankind. Yet it is easy to calculate the degree of moral and intellectual improvement which the world would have exhibited, had they never lived. A little more nonsense would have been talked for a century or two; and perhaps a few more men, women, and children, burnt as heretics. We might not at this moment have been congratulating each other on the abolition of the Inquisition in Spain.

Shelley führt dieses Gedankenspiel mit der Behauptung fort, ohne »poetry« wäre die Menschheit in kaum vorstellbarer Weise hinter ihrer tatsächlichen moralischen Entwicklung zurückgeblieben. Diese wenig überzeugende Argumentation versucht Shelley zu präzisieren, indem er Peacocks Gedankengang aufgreift, der »poetry« als »the mental rattle that awakened the attention of intellect in the infancy of civil society« historisch einordnete, 389 und ihn gegen seinen Opponenten zur Begründung der vorrangigen Stellung der Kunst im Rahmen der Ursprungsthese benutzt: The human mind could never, except by the intervention of these excitements (poetry), have been awakened to the invention of the grosser sciences, and that application of analytical reasoning to the abberations of society, which it is now attemped to exalt over the direct expressions of the inventive and creative faculty itself. 390 386 387

388 389 390

Siehe diese Diskussion in Abschnitt 1.2.3. und 2.1.4. Hierzu Mainusch, Herbert: »Romantische Ästhetik«, a.a.O., bes. S. 39ff. Er übersieht jedoch die Ursprungsthese bei Shelley, vgl. Mainusch, S.330f. Das von ihm herangezogene Zitat, das die Gleichzeitigkeit und wechselseitige Abhängigkeit der Künste in der griechischen Antike betont, dient Shelley nicht zur Ablehnung der Ursprungsthese, sondern der - historisierten — Konzeption der Kunst als Gesamtkunstwerk; hierzu unser Abschnitt2.2.1. Defence, S.51 und Anm. Vgl. S.48f. Abschnitt 1.1.3. Thomas Love Peacock: »The Four Ages of Poetry«. In: Defence, S. 18. Defence, S.51, Zusatz von uns.

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Nebenher erwähnt Shelley zwar, technische Rationalität könne zur Beseitigung gesellschaftlicher Mißstände eingesetzt werden, doch nur, um auch diese positive Wirkung letztlich dem Poetischen zuzuschreiben, das durch seine »ursprüngliche« Aufklärung des menschlichen Geistes die Entwicklung des die Naturwissenschaften antreibenden Denkens ermöglicht habe, so daß diese — ihres Ursprungs eingedenk — am Poetischen zu re-orientieren seien. N u r durch diese ausschließliche Orientierung an den Zielvorstellungen der Imagination kann in Shelleys Sicht technische Rationalität aus ihrer inhumanen Verstrickung in den herrschenden ökonomisch-gesellschaftlichen Betrieb gelöst werden. Doch ist dieses gesellschaftskritische Moment der Ursprungsthese überzeugender gegen Shelleys Intention zu wenden: Gerade der Blick auf die Geschichte des Verhältnisses von Kunst und Wissenschaft läßt Peacocks Gedanken aufkommen, daß das Primat der Poesie einer vergangenen, frühen kulturellen Entwicklungsstufe der Menschheit zugehört. Shelleys Definition: »poetry is connate with the origin of man«, seine Erklärungsmodelle des Poetischen, die nicht zufällig einer frühen kulturellen Stufe der Menschheit entstammen, 391 laufen Gefahr, die von Hegel getroffene Unterscheidung zwischen einer »ursprünglichen« und einer »sich inmitten eines schon vollständig fertigen prosaischen Lebenszustandes« entwikkelnden Poesie zu unterschlagen, so daß die unterschiedliche historisch-gesellschaftliche Funktion und Stellung dieser beiden Arten von Kunst nicht ins Blickfeld treten kann, die Peacock gerade als Argument diente, der Kunst in der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft jeden orientierenden Funktionswert abzusprechen. 3 9 2 Die Ursprungsthese findet sich auch in Schillers der vorkantischen Periode zugehörendem Gedicht »Die Künstler« (1789), 393 das ein Schema der kulturellen Entwicklung der Menschheit entwirft, innerhalb dessen der Kunst gegenüber den Wissenschaften nach einer Phase deren »Ungehorsams« wieder die Führung zufallen soll. Zu Beginn portraitiert das Gedicht den Menschen an der Neige des Jahrhunderts der Aufklärung. Er ist »frei durch Vernunft, stark durch Gesetze«, steht da »in edler stolzer Männlichkeit« und wird angeredet als »Herr der Natur, die deine Fesseln liebet,/Die deine Kraft in tausend Kämpfen übet/Und prangend unter dir aus der Verwildrung stieg!«. 3 9 4 Diesem Lobpreis des Siegs umfassender rationaler Naturbeherrschung folgt sogleich die Mahnung, die Kunst nicht zu vergessen, »Die, reifer nur ihn 3.1 5.2

3.3 3.4

Defence, S.23 und 24-27. Hegel: »Vorlesungen über die Ästhetikiii« (= Werke Bd. 15) Frankfurt/M. 1970, S.240—242 (Drittes Kap.: Die Poesie). Peacock: »The Four Ages of Poetry«, a.a.O., S. 15ff. Hanser Bd. I, S. 173-187. Ebd. S. 173 Verse 1-12. 135

wieder zu empfangen,/In fremde Arme ihren Liebling gab,... «. 3 9 5 Die Wissenschaften verdanken der Kunst Aufstieg und Sieg, denn »Nur durch das Morgentor des Schönen/Drangst du in der Erkenntnis Land.«. 3 9 6 In diesem Schema der kulturellen Entwicklung der Menschheit werden Vernunft und Wissenschaft dem Poetischen in der Weise zugeordnet, daß sie ihm ihren Aufstieg verdanken und diesen Dank wieder abstatten sollen, indem Wissenschaft »der Schönheit zugereift«, zum »Kunstwerk« »geadelt« sein soll. 397 Ohne diese Zuordnung sind die Wissenschaften » . . . Glieder aus dem Weltenplan,/Die jetzt verstümmelt seine Schöpfung schänden«. 398 Wie für Shelley das Poetische »centre and circumference of all knowledge« ist, wird in »Die Künstler« alles Wissen dem Poetischen zugeordnet: »Die von dem Ton, dem Stein bescheiden aufgestiegen,/Die schöpferische Kunst, umschließt mit stillen Siegen/Des Geistes unermeßnes Reich«. 399 Obwohl Schiller in der Gesellschaft seiner Zeit registrieren muß, daß die Kunst nicht als Orientierungsmodell der Wissenschaften fungiert, versichert er den Künstlern in den hymnischen Wendungen dieses Lobpreises der Kunst mit einem Optimismus, den die »Ästhetischen Briefe« verloren haben: Wenn auf des Denkens freigegebnen Bahnen Der Forscher jetzt mit kühnem Glücke schweift Und, trunken von siegrufenden Päanen, Mit rascher Hand schon nach der Krone greift; Wenn er mit niederm Söldnerslohne Den edeln Führer zu entlassen glaubt, Und neben dem geträumten Throne Der Kunst den ersten Sklavenplatz erlaubt: Verzeiht ihm — der Vollendung Krone Schwebt glänzend über eurem Haupt. 4 0 0

Shelley formuliert: But poets have been challenged to resign the civic crown to reasoners and mechanists . . . Undoubtedly the promoters of Utility, in this limited sense, have their appointed office in society. They follow the footsteps of poets . . . 4 0 1

Die These vom Vorrang der Künstler bleibt in Shelleys »Defence« wie Schillers »Die Künstler« vor dem Hintergrund der zugleich vorgetragenen Gesellschaftskritik, welche die tatsächliche Funktionslosigkeit der Kunst in eiEbd. S. 174 Vers 26 f. Ebd. Vers 34 f. 397 Ebd. S. 185 Vers 404 f. 3 , 8 Ebd. Vers 416 f. 3 " Ebd. S. 185 Verse397—399. 400 Hanser Bd.I, S. 184 Verse383-392. 401 Defence, S.49f. 3.5 3.6

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ner von technischer Rationalität geprägten Gesellschaft beklagt, bloße Emphase, wobei auch die Ursprungsthese im Rahmen einer triadischen Struktur der Geschichte dem Gedanken der Wiederversöhnung von Wissenschaft und diese orientierender Kunst keine Plausibilität verleihen kann. Nachdem Schiller in diesem als »philosophisches« bezeichneten Gedicht402 im Medium poetischer Bildersprache eine kunsttheoretische Position umschreibt, die der Shelleys oder Schellings nahekommt, behalten die »Ästhetischen Briefe« nach dem Studium Kants den retrospektiven Aspekt der Ursprungsthese bei — nun mit den Begriffen des Spiels und des Scheins verbunden — und schränken den Zukunftsgehalt wesentlich ein. Die Ursprungsthese dient primär als Erklärungsmodell des Ubergangs des »Wilden« aus dem »ersten physischen Zustande« in die kulturellen Formen des »moralischen«.403 Und was ist es für ein Phänomen, durch welches sich bei dem Wilden der Eintritt in die Menschheit verkündigt? So weit wir auch die Geschichte befragen, es ist dasselbe bei allen Völkerstämmen, welche der Sklaverei des tierischen Standes entsprungen sind: die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele... der Schein der Dinge ist des Menschen Werk, und ein Gemüt, das sich am Scheine weidet, ergötzt sich schon nicht mehr an dem, was es empfängt, sondern an dem, was es tut. 404

Der Schein ist »Betrachtung (Reflexion)«, »das erste liberale Verhältnis des Menschen«, in dem er nicht mehr gänzlich durch die Beziehung von Objekten auf sein Begehrungsvermögen bestimmt ist, denn im Genuß des Scheins entwickelt sich der Mensch zum »Gesetzgeber«, indem er Natur nicht »bloß empfindet«, sondern »denkt«.405 Das Spiel mit dem Schein ist der Umgang mit einer subjektiv erzeugten, eingebildeten Objektivität, die in dieser Fiktionalität Lust bereitet. Ist so in Schillers Sicht der Geschichte der aus dem Naturzustand führende »ästhetische Zustand« als Hinwendung zum subjektiv hervorgebrachten und als Subjektives erkannten, rationalen Schein einerseits eine nicht nur historisch, sondern auch systematisch verstandene Vorstufe zum »moralischen Zustand«, so wird andererseits der »ästhetische Staat« als das telos von Geschichte angesetzt, auf das der ästhetische Schein verweist. Indem dieser Verweisungscharakter von Kunst im 27. Brief neben den »dynamischen« und »ethischen Staat« tritt, schränkt Schiller die geschichtsutopische Wendung der Ursprungsthese ein und behauptet das Pri402 403

404 405

Hanser Bd.I Anm. S.874. 25. Brief S. 182 und 24. Brief S. 170. Zur historischen und systematischen Abfolge von physischem, ästhetischem und moralischem Zustand siehe Abschnitt2.1.4. 26. Brief S. 192. Vgl. 25. Brief S. 182 und 184. 137

mat der Kunst im Umkreis der ihrer beständigen Gültigkeit zugleich versicherten heteronomen Bereiche.406 Um einer gelückten Aufklärung willen, die den Begriff von Vernunft verwirklichen möge, richten sich Schillers und Shelleys Hoffnungen auf das Imaginationsprinzip. Der eklatante Widerspruch zwischen tatsächlicher und möglicher, vernünftiger gesellschaftlicher Praxis, der ihre einschneidende Erfahrung am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung war, hat seitdem immer wieder die Möglichkeit verheißen, das durch Rationalität Erreichte im Rahmen einer neuen gesellschaftlichen Praxis zu nutzen. So gehört es zum doppelschlächtigen Charakter der Aufklärung, daß sie dem Menschen die noch ungenutzten Möglichkeiten seines Denkens im wissenschaftlich-technischen Fortschritt vor Augen hält, Möglichkeiten, die ihm gerade die entfaltete Rationalität bietet, die ihn als »sich versklavenden Herrscher« in ihren Bann schlägt. In der Hoffnung, diesen Bann zu lösen, konzentrieren sich die »Defence« und die »Ästhetischen Briefe« auf die Leistungsmöglichkeiten des Imaginationsprinzips mit der Intention, diese weitestgehend ausdehen zu können. Die historische Gemeinsamkeit dieses Lösungsversuchs, dessen Grenzen die theoretische Verwirklichung der Begriffe bezeichnet, ist diese begeisterte Hinwendung zum Imaginationsprinzip, die sich in der Rhetorik beider Schriften niederschlägt und bei Schiller von einem pessimistischen Zug begleitet wird. Die »Defence« und die »Ästhetischen Briefe« sind zwei Dokumente der »Imaginationsbewegung«, die in der dezidiert gesellschaftskritischen, praktischen Bezogenheit ihre Besonderheit und Verwandtschaft innerhalb dieser umfassenderen Bewegung in der Spätzeit frühbürgerlicher Aufklärung erhalten. Uber die unmittelbare Kritik an den ihre Gesellschaft beherrschenden Formen von Rationalität hinaus bedenken Schiller und Shelley die Rationalität von Vernunft, das »Motiv der souveränen mathematischen Erzeugung des Erkenntnisinhaltes«, das »von Galilei, Hobbes, Descartes bis Kant den Stolz strenger, methodisch reiner Wissenschaftlichkeit ausgemacht hat«, und stoßen auf jene umfassende historische Tendenz, der Hegel mit der Konzeption seiner Inhaltslogik, seines Geistbegriffes geantwortet hat. 407 Schiller und Shelley jedoch suchen das Problem der Rationalität von Vernunft in der Insistenz auf der Vernünftigkeit der Imagination zu bewältigen. Shelleys Diskussion von »imagination« als Vernunft ist über die bloße Substitution von Begriffen hinaus da triftig, wo die Imagination eine vernünftige Kritik an der einseitigen Rationalität von Vernunft zu leisten fähig ist, Anschauungen und 406 407

Hierzu Abschnitt 2.1.4 unserer Arbeit. Vgl. Bloch, Ernst: »Subjekt — Objekt. Erläuterungen zu Hegel«. Erweiterte Ausgabe. Frankfurt/M. 1962, S.60 und ff.

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Erfahrungen produziert, die solche Vernünftigkeit dem Begreifen zur Aufgabe stellen.408 Schiller kehrt am Formtrieb die Rationalität von Vernunft hervor, deren Herrschaftlichkeit er als Moment von Unvernunft erkennt. Gegenüber diesem Herrschaftsmoment wird das versöhnliche Zusammenspiel von Sinnlichem und Gedanklichem in der freien und zugleich gesetzmäßigen produktiven Einbildungskraft in seiner Vernünftigkeit als Kritik der noch bestehenden Rationalität von Vernunft zur Geltung gebracht, ohne daß Schiller und Shelley »Form« und »order« solcher ästhetischen Harmonie wiederum als besondere Form von Rationalität problematisieren oder den Harmonie- und Schönheitsbegriff für die moderne, aufgeklärte Kunst differenzieren würden.409 Erst in diesem Bezugsrahmen einer Diskussion von Aufklärung, deren Gelingen die Konzeption der Einbildungskraft als produktiv werdender Vernunft dient, erhält Schutzes Hinweis auf die geistige Verwandtschaft der ästhetischen Theorien Schillers und Shelleys seine geschichtliche und begriffliche Fundierung, denn der homo ludens als das durch die Imagination gebildete Individuum ist als Gegenbild zum homo faber gedacht und Moment der ernsthaften Auseinandersetzung mit Natur innerhalb des Aufklärungsprozesses. When we examine the critical questions he (Shelley) has asked, either explicitly or tacitly, we can see with some clarity his limitations as a critic. Let me remark here that these limitations place him securely within his age; they are the limitations, or »difficulties«, of Romantic criticism in general. First, Shelley, like Schiller and others of his time, advances an idea of man as Homo Ludens. Man is »pre-eminently an imaginative being«. His ideas and his actions have their origin in the mediating activity of play, in the effort (often, of course, a serious and tragic struggle) to find or produce harmonies between himself and his environment, his desires and the reality of things.410

Schiller wie Shelley setzen die ästhetische Leistung der produktiven Einbildungskraft als Moment vernünftiger Praxis, als einzigartiges Vorbild für diese an. Doch sie erfüllt sich nicht in der Vollendung von Schönheit und Harmonie, an deren Ungebrochenheit und reinem Spielcharakter beide ästhetische Theorien festhalten möchten. Vielmehr wird in ihnen der über solche Vollendung hinausdrängende — und diese damit versagende — geistige Gehalt der ästhetischen Konstruktion zum Thema. Die von der Einbildungskraft produzierte ästhetische Anschauung provoziert das Denken, das 408

409 410

Hinweise auf das bloße Substitutionsverhältnis, daß Shelley »imagination« als »Vernunft« oder »höhere Vernunft« angesehen habe, finden sich bei Frye (»The Critical Path«, Bloomington 1971, S. 95), Rieger (»The Mutiny Within«, New York 1967, S. 98 und 40), Wimsatt / Brooks (s. S. 126 Anm. 356 unseres Abschnittes). Diese Problematisierung nimmt erst Schillers Abhandlung vor; hierzu Kap. 2.2. Schulze, a.a.O., S.225f. Siehe auch den Hinweis bei J. Barnouw, »Das >Problem der Aktion< und >WallensteinWallensteinVernunftstaat« in die Hände eines unmündigen, unvorbereiteten Geschlechts geriet, wurde er in Wahrheit ein Staat der Barbaren«. 89 90

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menschlichen Natur aus den Augen setzte, solange es noch galt, ihre Existenz zu verteidigen? Daß er eilte, durch die Schwerkraft zu scheiden und durch die Kohäsionskraft zu binden, wo an die bildende noch nicht zu denken war? Seine Auflösung enthält seine Rechtfertigung. Die losgebundene Gesellschaft, anstatt aufwärts in das organische Leben zu eilen, fällt in das Elementarreich zurück.

Schärfer noch urteilt der entsprechende Brief an den Herzog von Augustenbürg: 92 Es waren also nicht freie Menschen, die der Staat unterdrückt hatte, nein, es waren bloß wilde Tiere, die er an heilsame Ketten legte. Hätte der Staat die Menschheit wirklich unterdrückt, wie man ihm Schuld gibt, so müßte man Menschen sehen, nachdem er zertrümmert worden ist. Aber der Nachlaß der äußern Unterdrückung macht nur die innere sichtbar und der wilde Despotismus der Triebe heckt alle jene Untaten aus, die uns in gleichem Grad anekeln und schaudern machen.

Ohne das Wechselverhältnis zwischen dieser inneren und äußeren Unterdrückung zu entwickeln, verengt sich in Schillers Perspektive die Französische Revolution zum Rückfall in den Bürgerkrieg, vor dessen Hintergrund die Autorität des absolutistischen Staates zumindest die Leistung beanspruchen kann, den Schutzraum für die Existenzerhaltung des Individuums zu garantieren. In diesem Argumentationszusammenhang einer Apologie souveräner politischer Autorität gründet Kosellecks Begriff »aufklärerischer Hypokrisie«. Doch muß Schillers Abwendung von dem in Frankreich vorgeführten Versuch der Etablierung des Vernunftstaates in Zusammenhang mit der im 5. bis 8. Brief entwickelten Kritik an den bestehenden politischgesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland gesehen werden. Schiller rechtfertigt diese nicht in Hinblick auf die Ereignisse in Frankreich. Vielmehr bedingt seine doppelseitige Kritik an den von der bürgerlichen Revolution geprägten wie den von der absolutistischen Staatsreform abgestützten politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen eine generelle Distanzierung vom Bereich des Politischen. Schiller deutet gar am Ende des 7. Briefes auf die Gefahr hin, daß nach dem Scheitern von Versuchen, Freiheit zu verwirklichen, die »Usurpation« sich auf die »Schwachheit der menschlichen Natur« berufen könne. 93 Schiller wendet sich nicht von dem in der Französischen Revolution verfochtenen Ziel einer »politischen Schöpfung der Vernunft« ab, sondern sucht nach neuen Mitteln ihrer Verwirklichung in einer solcher vernünftigen politischen Praxis vorgängigen Distanzierung vom Bereich der Politik:94 Sollte diese Wirkung (der Herstellung der »Totalität in unsrer Natur«) vielleicht von dem Staat zu erwarten sein? Das ist nicht möglich, denn der Staat, wie er jetzt 92 93 94

Jonas, Bd. 3, S.333f. 7. Brief, S.46. 7. Brief, S. 44 (Zusatz von uns).

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beschaffen ist, hat das Übel veranlaßt, und der Staat, wie ihn die Vernunft in der Idee sich aufgibt, anstatt diese bessere Menschheit begründen zu können, müßte selbst erst darauf gegründet werden. Und so hätten mich denn die bisherigen U n tersuchungen wieder auf den Punkt zurückgeführt, von dem sie mich eine Zeitlang entfernten. Das jetzige Zeitalter, weit entfernt, uns diejenige Form der Menschheit aufzuweisen, welche als notwendige Bedingung einer moralischen Staatsverfassung erkannt worden ist, zeigt uns vielmehr das direkte Gegenteil davon. Sind also die von mir aufgestellten Grundsätze richtig und bestätigt die Erfahrung mein Gemälde der Gegenwart, so muß man jeden Versuch einer solchen Staatsveränderung so lange für unzeitig und jede darauf gegründete Hoffnung so lange für schimärisch erklären, bis die Trennung in dem innern Menschen wieder aufgehoben und seine Natur vollständig genug entwickelt ist, um selbst die Künstlerin zu sein und der politischen Schöpfung der Vernunft ihre Realität zu verbürgen.

Wie auch die sich hier anschließenden Gedankengänge Schillers belegen, zieht er aus den Ereignissen in Frankreich, wie sie ihm aus der Distanz erscheinen, als Konsequenz die Forderung nach einer erzieherischen Vorbereitung und Abstützung des Versuchs der Verwirklichung bürgerlicher Freiheit, dessen Abruptheit in der Französischen Revolution zum Scheitern verurteilt war. Dabei entwickelt Schiller ein Ursache-Folge-Verhältnis, das vom politischen Bereich zunächst wegführen muß und den für die Situation im Absolutismus typischen Dualismus aufbaut: Staat und Politik, die als das Unmoralische schlechthin erscheinen, müssen auf eine »Form der Menschheit« gegründet werden, den Bildungsprozeß des seine »Trennung« überwindenden »innern Menschen«, damit nach dieser individuellen Kultivierung die Realisierung einer den Dualismus von Moral und Politik überwindenden Ordnung vorgenommen werden kann. Indem die gebildete Natur des Menschen dabei zur »Künstlerin« wird, ist das im 9. Brief formulierte Hauptthema der »Ästhetischen Briefe« seiner Lösung zugeführt: Die von der Politik unbeschadete Kunst soll aus dem circulus vitiosus der Interdependenz von politischer und individueller Humanisierung herausführen, 95 die über das Programm einer ästhetischen Erziehung bewirkte individuelle Bildung soll schließlich den Schein des Unpolitischen abstreifen und als conditio sine qua non politischer Vernunft fungieren. Die Wendung der Vernunftkritik in eine von den Leistungen der Einbildungskraft ausgehende Kritik ist damit vollzogen. Die diese Wendung bedingende Distanzierung vom Bereich des Politischen, mit der die von der aufgeklärten Moral einhergeht, als Flucht aus der politischen Wirklichkeit zu interpretieren, erweist sich im geschichtlichen Kontext der vom Absolutismus vorgegebenen dualistischen Denksituation als eine unzulässige Vereinfachung: Schiller distanziert sich nur vom Politischen, um einen von dessen »Unmoral« unbeschadeten Punkt zu finden, von dem eine Regeneration der Politik ausgehen könne. Diese 95

Siehe den nächsten Abschnitt unserer Arbeit, S. 212.

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von Wilkinson so bezeichnete »Indirektion« des »reculer pour mieux sauter« folgt der Inversionslogik der Maurer, die von ihrer politischen Machtlosigkeit auf die Moralität ihrer Ziele schlössen.96 Der Rückzug in den rein individuellen, unpolitischen Bereich erfolgt nur unter dem Aspekt einer Zurückführung ins Politische und in Hinblick auf die in der Französischen Revolution zu Recht verfochtenen Ziele. Wirkliche politische Freiheit bleibt für Schiller das summum bonum, die Beschäftigung »mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit« die wichtigste menschliche Aktivität.97 Daß Schiller auf dem Wege der Indirektion das Individuum als eigentliche Instanz des Fortschritts ansetzt, ist der liberale Kern seines Lösungsversuchs, der nur vom Konsens des Individuums, der von diesem zu vollbringenden Leistung her den Fortschrittsgedanken entwickelt. Dieses Denkmotiv der Wahrung des Konsenses des Individuums zum Fortschreiten der Vernunft, die Repräsentation des Individuellen in deren Allgemeinheit, mußte für Schiller eine um so größere Bedeutung gewinnen, als in der Französischen Revolution eine despotische Vernunft aufgetaucht war, die jenes Zustimmen des Individuums zu den Forderungen der politischen Vernunft ignoriert hatte. Schillers Prophezeiung am Ende des 7. Briefes war so schon damals exemplarisch in der Geschichte erfüllt worden: »... und zu einer Unterdrückung, welche sonst die Kirche autorisierte, wird die Philosophie ihren Namen leihen«.98 Führt einerseits das Scheitern des Versuchs, Vernunft in politischem Handeln zu verwirklichen, ins »Elementarreich«, die Wildheit oder Barbarei des Naturzustandes zurück, so erscheint andererseits die im Vernunftstaat sich rigoros durchsetzende Vernunft tyrannisch wie in der Schreckensherrschaft der Jakobiner. Die Verstrickung der sich voll entfaltenden ratio, das Umschlagen von Aufklärung in Unfreiheit wird in einem politischen Kontext erfahren, innerhalb dessen die zur Raison gebrachten Individuen ihre Individualität in den Allgemeinheiten politischer Rationalität nicht wiederfinden können. Diesen politisch akzentuierten Gedanken einer individualitätsauslöschenden despotischen Vernunft, die sich gleichwohl mit republikanischen Zielen und dem Freiheitspostulat verbinden kann, hat Schiller bereits kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution in seinen 1788 erschienenen »Briefen über Don Carlos« gefaßt und mit der Figur des Freiheitskämpfers Marquis Posa verbunden. An dem historischen Stoff des 16. Jahrhunderts entwickelt Schiller das Problem der politischen Verwirklichung von Aufklärung, wobei Posas »republikanische Tugend« der der Illuminaten oder Mau96

97 98

Wilkinson / Willoughby, »Friedrich Schiller«, a.a.O., S . L X X X I und f. (Introduction) und S. 262 (ad 20. Brief, 3) unter Hinweis auf Lessing; Koselleck, a.a.O., S. 78. 8. Brief, S.48. 2. Brief, S.6. 7. Brief, S.46.

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rer verglichen wird." Was diese Gesellschaften als Geheimorganisation zu verwirklichen suchen, will Posa durch die Aufklärung eines einzigen Individuums, des politisch gesetzgebenden Fürsten erreichen. Bei diesem Vergleich weist Schiller auf das Phänomen hin, daß solche Orden sich allzu oft mit »Gewalttätigkeit«, »Heimlichkeit« und »Herrschsucht« verbinden. 100 Denn bei Durchsetzung eines, von jeder unreinen Beimischung auch noch so freien moralischen Zweckes, insofern sie sich nämlich diesen Zweck als etwas für sich Bestehendes denken und ihn in der Lauterkeit erreichen wollten, wie er sich ihrer Vernunft dargestellt hatte,

werden solche Gesellschaften dazu verleitet, »sich an fremder Freiheit zu vergreifen«, »den willkürlichsten Despotismus« zu üben, ohne doch die Moralität ihrer Gesinnung aufgegeben zu haben. Schiller sucht die Erklärung dieses Phänomens in einer Diskussion des Vernunftbegriffes: Ich erkläre mir diese Erscheinung aus dem Bedürfnis der beschränkten Vernunft, sich ihren Weg abzukürzen, ihr Geschäft zu vereinfachen und Individualitäten, die sie zerstreuen und verwirren, in Allgemeinheiten zu verwandeln. Aus der allgemeinen Hinneigung unsers Gemüts zur Herrschbegierde oder dem Bestreben, alles wegzudrängen, was das Spiel unsrer Kräfte hindert. Ich wählte deswegen einen ganz wohlwollenden, ganz über jede selbstsüchtige Begierde erhabenen Charakter, ich gab ihm die höchste Achtung für anderer Rechte, ich gab ihm die Hervorbringung eines allgemeinen Freiheitsgenusses sogar zum Zwecke, und ich glaube mich auf keinem Widerspruch mit der allgemeinen Erfahrung zu befinden, wenn ich ihn, selbst auf dem Wege dahin, in Despotismus verirren ließ.

Die zum Despotismus tendierende Vernunft der Orden oder einzelner Freiheitskämpfer101 charakterisiert Schiller als ungeduldig vorgreifende und beschränkte und formuliert damit zugleich das der Konzeption von Vernunft als »Formtrieb« generell anhaftende Problem, die Eigenart des ihr Entgegenstehenden zu respektieren, und das heißt hier: die Individualität des Bürgers als »Gegenstand« einer um Durchsetzung von Vernunft bemühten Politik. Wie die Kalliasbriefe nach einer Möglichkeit suchen, dem Bereich der Natur eine eigene Individualität und Selbstbestimmtheit zuzugestehen, welche die »bloße« Autonomie der Vernunft nicht gewährleisten kann, so geht es Schiller im politischen Kontext um die Behauptung von Individualität im Zuge staatlich-politisch sich manifestierender Rationalität. Die Forderung, »den Menschen endlich als Selbstzweck zu ehren«,102 die Behauptung des Indivi99 100 101

102

Hanser Bd. II (10. Brief), S.257. Ebd., S. 261. Hier auch die folgenden Zitate. Hervorhebungen im Text. Ebd., S. 227: »Der Charakter des Marquis Posa ist fast durchgängig für zu idealisch gehalten worden (...)«. Siehe das Zitat oben auf S. 173. Zu den Kalliasbriefen unser nächster Abschnitt.

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duellen, das nicht in der Rationalität von Vernunft aufgeht, die ihren Weg gleichsam verkürzend und vom Konsens der Individuen absehend ihre Allgemeinheit herzustellen sucht, wird in den Kalliasbriefen von der Vernünftigkeit des ästhetischen Bereiches her zur Geltung gebracht, der der »Freiheit der Natur« Entfaltungsmöglichkeiten bieten könnte. 103 Der Gefahr, »daß man sich in moralischen Dingen . . . von dem natürlichen praktischen Gefühl entfernt, um sich zu allgemeinen Abstraktionen zu erheben«, von »dem eingeschränkten Gesichtspunkt des Individuums« aus eine falsche Allgemeinheit behauptet wird, sucht Schillers Forderung nach Öffentlichkeit der Diskussion moralischer Zwecke in der Gesamtheit der sich an diesen orientierenden Individuen zu begegnen.104 Diese Forderung erheben auch Shelleys »Proposais for an Association« vor dem Hintergrund bürgerlicher Geheimgesellschaften, wobei die Beachtung der rechten Zweck-Mittel-Relation im Sinne von »expediency« eine Leitlinie abgibt: I propose not an Association of Secrecy. Let it open as the beam of day . . . I disclaim all connexion with insincerity and concealment. The latter implies the former, as much as the former stands in need of the latter. It is a very latitudinarian system of morality that permits its professor to employ bad means for any end whatever. Weapons which vice can use are unfit for the hands of virtue . . . I propose, therefore, that the association shall be established and conducted in the open face of day, with the utmost possible publicity.105

Erst die Öffnung der Gesellschaften in die Öffentlichkeit der Kritik kann deren vollkommene Moralität und den wahren Konsens der Allgemeinheit herstellen, so daß das arcanum der bürgerlichen Gesellschaften von der fortschreitenden Aufklärung erhellt wird. Shelleys Forderung nach in der Öffentlichkeit wirkenden Organisationen, die mit der Vorbereitung der Verwirklichung bürgerlicher republikanischer Forderungen betraut werden sollen, ergibt sich aus seiner Sicht und Beurteilung der Französischen Revolution. In seinem Vorwort zu »The Revolt of Islam« (1817) formuliert Shelley aus einem größeren historischen Abstand heraus die Gefahr einer Reaktion auf die Französische Revolution, wie sie sich bei Schiller abzeichnet. Das Mißlingen der Revolution ist für Shelley nur ein partielles und darf nicht in eine Rechtfertigung des politischen Status quo und politischer Unterdrückung bürgerlicher Freiheitsbestrebungen umgemünzt werden. Die anfänglich übergroße Enttäuschung über den Verlauf der Revolution sei einer nüchterneren Betrachtung gewichen, die die fortschrittlichen Elemente erkenne und an ihnen festhalte. Die anti-napoleonischen, nationalen Befreiungsbewegun103 104 105

Siehe den folgenden Abschnitt unserer Arbeit, bes. S. 190 ff. Hanser Bd. II, S.262, 261. Julian, Vol. V, S.259.

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gen z u Beginn des 19. Jahrhunderts, die republikanische Ziele aufgriffen, b e stärkten Shelley in d e m Glauben, daß der V e r s u c h einer Befreiung des M e n schen in der F r a n z ö s i s c h e n R e v o l u t i o n Teil eines langanhaltenden, weltweiten Prozesses der E m a n z i p a t i o n darstellte, innerhalb dessen zunächst n u r Teilerfolge zu erringen w a r e n : The panic which, like an epidemic transport, seized upon all classes of men during the excesses consequent upon the French Revolution, is gradually giving place to sanity. It has ceased to be believed that whole generations of mankind ought to consign themselves to a hopeless inheritance of ignorance and misery, because a nation of men who had been dupes and slaves for centuries were incapable of conducting themselves with the wisdom and tranquility of freemen so soon as some of their fetters were partially loosened. That their conduct could not have been marked by any other characters than ferocity and thoughtlessness is the historical fact from which liberty derives all its recommendations, and falsehood the worst features of its deformity. There is a reflux in the tide of human things which bears the shipwrecked hopes of men into a secure haven after the storms are past. Methinks, those who now live have survived an age of despair. 106 » F e r o c i t y « u n d »thoughtlessness«, die Schiller als den »wilde(n) D e s p o t i s m u s d e r Triebe« verurteilt, 1 0 7 dienen hier nicht einem A r g u m e n t a t i o n s z u s a m m e n h a n g , der — w e n n auch widerwillig und n u r vorläufig — souveräne politische G e w a l t h i n z u n e h m e n bereit ist, sondern sprechen in Shelleys Sicht gerade für die D u r c h s e t z u n g v o n »liberty« u n d gegen die deformierende M a c h t v o n »falsehood«. D i e falsche Alternative zwischen politischer U n t e r d r ü c k u n g u n d A n a r c h i e im »age o f despair« erkennt Shelley in ihrer G e f ä h r lichkeit und demagogischen F u n k t i o n . Diese b e z w e c k e . . . to trample upon our rights and liberties for ever, to present to us the alternatives of anarchy and oppression, and triumph when the astonished nation accepts the latter at their hands, to maintain a vast standing army, and add, year by year to a public d e b t . . . 1 0 8 D a w s o n führt aus, wie Shelley den in der politischen R h e t o r i k beliebten Dualismus v o n A n a r c h i e und D e s p o t i s m u s d a d u r c h ironisiert, daß er den 106

Hutchinson, S. 33. Vgl. Shelleys »A Philosophical View of Reform« (Julian Bd. VII, S. 15 ff.), der einen universalen Aspekt politischer Befreiungsbewegungen eröffnet. — Diese im »Preface« ausgedrückte Einschätzung der Französischen Revolution findet sich bereits in den »Proposais«, Julian Bd. V, S. 263f., und ist von Shelley in ihren wesentlichen Momenten durchgängig beibehalten worden. Siehe Hillgärtner, a.a.O., S. 58 und 69 (zur zitierten Stelle): »Es ist eine Argumentation gegen die Selbstgerechtigkeit, Kleinmütigkeit oder sogar Resignation eines bornierten Urteils über die Ereignisse in Frankreich, das mit der Revolution zugleich auch alle Reformen auf immer aus dem Blickfeld verbannen möchte«.

107

Siehe das Schiller-Zitat auf S. 174 unseres Abschnittes sowie 5. Brief, S. 24. Shelleys »An Address to the People on the Death of Princess Charlotte« (1817), Julian Bd. VI, S. 80.

108

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anarchischen Charakter der Despotie als »misrule« hervorhebt und die Entscheidung nahelegt: ( . . . ) anarchy is better than despotism — for this reason — that the former is for a season & that the latter is eternal. 10 '

Shelleys Beurteilung der Ereignisse in Frankreich berücksichtigt die Abhängigkeit des Menschen von den ihn prägenden politischen Institutionen, die Interdepedenz einer »Verbesserung im Politischen« und einer »Veredlung des Charakters«, 110 die Schiller als Teufelskreis bezeichnet, den es zu durchbrechen gelte. Anders als Schiller begibt sich Shelley in dieses Wechselverhältnis hinein und billigt den politischen Institutionen eine — wenn auch sehr begrenzte — positive Funktion zu, während bei Schiller, der noch ganz dem »age of despair« verhaftet ist, die Tendenz sich durchsetzt, dem politischen Raum jede positive Einflußmöglichkeit abzusprechen. In Schillers resignierender Perspektive hat die Französische Revolution nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert. 111

Der vom politischen Raum dualistisch abgespaltene ästhetische Bereich wird Ausgangspunkt eines Regenerationsprozesses, der sich schließlich in politicis manifestieren soll. Schillers Gedanke individueller Triebkultur als innere Harmonisierung des Menschen können wir aus diesem verschärften Dualismus von unmoralischer Politik und unpolitischer Moral erklären, an deren Seite nach der ästhetischen Wendung der Vernunftkritik mit besonderen Aufgaben die Kunst tritt. 112 Bei allen Unterschieden in der Bewertung der Französischen Revolution haben Schillers und Shelleys Reaktion auf diese ihr Gemeinsames in der Uberzeugung, daß der Wegfall der Bindungen an die alten Institutionen vorbereitet sein muß und die neugewonnene Freiheit ungenutzt bleibt, wenn die Menschen nicht zu ihr hinerzogen worden sind. Schiller formuliert dieses Problem unter transzendentalphilosophisch-anthropologischem Aspekt. Wenn die Vernunft den »Naturstaat« aufhebt und dem Individuum dabei einen durch die Naturzwänge wenigstens äußerlich garantierten Halt nimmt, muß ein Ubergang gefunden werden zwischen der wirklichen physischen Natur des Menschen und seiner sittlichen, nur problematischen. 109

110 111 112

Jones, Letters Vol. II, S.412. Siehe Dawson, a.a.O., S. 244f. und die dort angegebenen weiteren Belege. 9.Brief, S.54, hierzu S.212ff. unserer Arbeit und das Zitat oben S. 174f. Jonas, Bd. 3, S.333. Zu diesem Denkmotiv der »innern Gesetzgebung« bei Schiller s. unseren Abschnitt2.1.2.

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Es käme also darauf an, . . . einen dritten Charakter zu erzeugen, der . . . von der Herrschaft bloßer Kräfte zu der Herrschaft der Gesetze einen Übergang bahnte und . . . zu einem sinnlichen Pfand der unsichtbaren Sittlichkeit diente. 113

Shelleys Formulierungen verraten unmittelbarer die empirischen historischpolitischen Erfahrungen, die in eine langfristige historische Perspektive eingehen, in der die auf den Menschen wirkende Formkraft des gesellschaftlichpolitischen Bereiches als mögliches positives Moment mitveranschlagt wird: Could they listen to the plea of reason who had groaned under the calamities of a social state according to the provisions of which one man riots in luxury whilst another famishes for want of bread? Can he who the day before was a trampled slave suddenly become liberal-minded, forbearing, and independent? This is the consequence of the habits of a state of society to be produced by resolute perseverance and indefatigable hope, and long-suffering and long-believing courage, and the systematic efforts of generations of men of intellect and virtue. Such is the lesson which experience teaches now. 114

Die historische Lehre, die die Französische Revolution erteilt, ist die Notwendigkeit einer schrittweisen, vorbereiteten und der Rigidität entsagenden Durchsetzung der zu Recht verfochtenen Ziele. Dabei sollen »men of intellect and virtue«, eine erziehende Elite, die in der »Defence« in der Gruppe der »poets« auftritt und Schillers »einigen wenigen auserlesenen Zirkeln« im letzten der »Ästhetischen Briefe« ähnelt, 115 behilflich sein. In der politischen Situation um 1800 gehören sie zu jener Gruppe von Menschen, die als Vertreter und Erzieher einer neuen Gesellschaft ihre geistigen Positionen bezogen, indem sie den absolutistischen Staat und die herrschende Kirche negierten.116

Es ist der Gedanke einer Vorbereitung und Kultivierung des Menschen für die im politischen Bereich zu realisierende Freiheit, der nun für Shelley an Gewicht gewinnt und sich mit der Konzeption einer Elite von Kulturträgern verbindet, die doch nur den allgemeinen, demokratischen Freiheitsanspruch verwirklichen helfen soll: Had there been more of those men France would not now be a beacon to warn us of the hazard and horror of Revolutions, but a pattern of society, rapidly advancing to a state of perfection and holding out an example for the gradual and peaceful regeneration of the world. 117

113 114 115

116 117

3. Brief, S.14. »Preface« zu »The Revolt of Islam«, Hutchinson, S. 33. Vgl. »Proposals for an Association«, Julian Vol.V, S.265. 27. Brief, S.218. Zum Denkmotiv der »poets« als Kulturträger siehe unseren Abschnitt2.1.3. Koselleck, a.a.O., S. 103. »Proposais for an Association«, a.a.O., S.265. Vgl. unseren Abschnittl.2.1., S. 146.

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War es in der Situation der »Proposais« der Gedanke der moralisch-philanthropischen Organisation, welche die Kultivierung des Menschen herbeiführen, den »cultured garden of the human mind« heranziehen sollte,118 so verbindet sich um 1820 bei Shelley der Bildungsgedanke und damit auch die Kritik an Staat und Gesellschaft dezidiert mit den Wirkungen von »poetry«, die in »A Philosophical View of Reform« (1819) und der »Defence« (1821) als kritisches Moment gegenüber Staat und Gesellschaft exponiert werden. Dieser Wendung der moralischen in eine poetische Kritik entspricht die utopische Konzeption von »poetry of life« wie auch die Konzeption einer Elite der Wahrer des Imaginationsprinzips, der »poets«. So geht schon das »Preface« zu »The Revolt of Islam«, das die Französische Revolution als einen gescheiterten und im Scheitern die Notwendigkeit einer vorbereitenden Bildung aufzeigenden Versuch wertet, zugleich auf die Funktion des »poet« ein, der in der »Defence« Vertreter der die Gesellschaft am Imaginationsprinzip ausrichtenden Elite ist. Wenn das so eingeleitete Gedicht als »narrative, not didactic« charakterisiert wird, 119 so formuliert Shelley die Hinwendung zu einer autonomen Dichtung, die von einer früheren didaktischen Poesie wie »Queen Mab« abrückt und damit die Unterordnung der poetischen unter die moralische Kritik auflöst.120 Der späte Shelley begibt sich somit auf die theoretische Position, die Schiller in den »Ästhetischen Briefen« formuliert: Die Wendung der Vernunftkritik an Staat und Gesellschaft in eine Imaginationskritik impliziert die Loslösung des ästhetischen Bereiches von den Zwecken der aufgeklärten Moral. Diese Autonomisierung von »poetry« bewirkt die Wendung des Erziehungs- und Bildungsanspruches der Aufklärung in die Konzeption einer ästhetischen Erziehung, auch wenn bei Shelley der Begriff Erziehung nicht expressis verbis auftaucht. Er ist aber impliziert in dem Gedanken einer Vorbereitung und Bildung der Menschen in Hinblick auf die politische Verwirklichung ihrer Freiheit im Rahmen des Prozesses einer »gradual and peaceful regeneration of the world«, dieser »Aufgabe für mehr als Ein Jahrhundert«.121 So stellt Schulze in seiner Zusammenfassung der Shelleyschen Beurteilung der Französischen Revolution zu Recht den Erziehungsgedanken heraus, der durch die Revolution auch für Shelley an Gewicht gewonnen hat, da die Entwicklung jener Qualitäten nun Aufgabe ist, deren Fehlen das Gelingen der Französischen Revolution verhinderte: His (Shelley's) point is that such qualities are developed only gradually through education. It is precisely a lack of general education on the part of the people, an 118 119 120 121

»Proposais...«, ebd. Hutchinson, S. 32. Vgl. unsere Besprechung von »Queen Mab« in Abschnitt 1.2.1., S. 155f. 7. Brief, S.46.

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education which would have pre-supposed institutional reform, that is responsible for the course the Revolution took.122 Diese bei Schiller wie Shelley gleichermaßen wichtige Verbindung zwischen ästhetischem Bereich und Erziehungsgedanken ist Folge der aus der Französischen Revolution gemeinsam gewonnenen Erfahrung, daß das aus den Bindungen der absolutistischen Staatsform in Freiheit gesetzte Handeln einer Autorität bedarf und an einem Theorie-Praxisverhältnis orientiert werden muß, das die Revolution nicht herstellen konnte. Deren Unfähigkeit zu wirklicher vernünftiger Praxis ist nur Beispiel für die allgemeine Blockierung der Aufklärung, ihre Diskrepanz von Wissensstand und Praxis: 123 The French Revolution may be considered as one of those manifestations of a general state of feeling among civilized mankind produced by a defect of correspondence between the knowledge existing in society and the improvement or gradual abolition of political institutions. Die Französische Revolution gibt ein politisch-historisches Beispiel für das die »Defence« und die »Ästhetischen Briefe« bewegende Grundproblem einer Praxis der Vernunft ab. Die Einbildungskraft gilt nun als Modell vernünftiger Praxis, als Autorität des politischen Handelns, das sich in Schillers und Shelleys Sicht in der Französischen Revolution in anarchische Maßlosigkeit oder Despotismus verirrte. Die Revolution wird als Krise der Vernunft erfahren, die der Abstützung durch einen »dritten Charakter«, einer Aufklärung im Bereich der Einbildungskraft bedarf, auf deren Praxisgehalt sich ein pädagogisches Interesse richtet. Mit dem Gedanken einer Erziehung zum politischen Handeln gemäß der Autorität des Beispiels vernünftiger Praxis der Einbildungskraft antworten Schiller und Shelley auf das Erlebnis der Französischen Revolution und setzen mit dieser Konzentration auf den Erziehungs- und Bildungsgedanken im Sinne einer »Erziehung des Menschengeschlechts«, der sich nun mit den Möglichkeiten der Einbildungskraft verbindet, die wesentlich pädagogische Tradition des Jahrhunderts der Aufklärung fort. D e r »ästhetische Staat« soll nach dem Scheitern des Vernunftstaa122 123

Schulze, a.a.O., S.44. »Preface« zu »The Revolt of Islam«, S. 33. Vgl. Wilkinson / Willoughby, »Friedrich Schiller«, a.a.O., S.XX (Introduction): »The course the French Revolution had taken was after all but one example, if an outstanding one, of a failure to put principle into practice which he beheld everywhere around him even after a century of intellectual Enlightenment«. — Es ist dieses Theorie — Praxis — Verhältnis, dessen Widersprüchlichkeit Shelley in diesem Zitat als den Grund für den Ausbruch der Französischen Revolution angibt. Hillgärtner sieht hier zu Unrecht eine Widersprüchlichkeit in der Shelleyschen Argumentation (vgl. S. 60f.): Shelley kann wie Schiller behaupten, Aufklärung sei zu einem großen Ausmaß Teil des allgemeinen Bewußtseins in Hinblick auf den Wissensstand der Gesellschaft geworden, und zugleich das faktische Verhalten der Bevölkerung als unaufgeklärt werten.

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tes in Frankreich eine politische Realisierung der Vernunft verbürgen. 124 Wie in Lessings Schrift »Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer« (1778) die Maurer als Brüder die tugendhafte bürgerliche Gesellschaft heranbilden und in diesem Sinne bereits den Staat vorwegnehmen, dessen Ausdehnung und Vollendung das Ziel ihres moralischen Tuns bleibt, so hegt auch der »ästhetische Staat« diese Erwartung der Aufklärung, daß die neue Gesellschaft, die er als die noch unpolitische Institution »ästhetischer Erziehung« vorbildhaft realisiert, sich durch diese verwirklichen möge. 125 Die Wendung der Vernunftkritik in eine Imaginationskritik entfernt sich mit der Autonomisierung des ästhetischen Bereiches in den Vorraum moralischen Urteilens und Handelns. Ist die moralische Kritik schon dualistisch von der Politik abgespalten, so distanziert sich die imaginative in einem weiteren Schritt der »Indirektion« von dieser in den Raum des Unpolitischen, der rein privaten bürgerlichen Sphäre hinein. Denn waren im Umfeld moralischer Kritik Inhalte und Handlungsanweisungen — auch in direkter politischer Opposition — formulierbar, so kann der Verzicht auf alles Didaktische, die Konzentration auf die reine Autonomie des Ästhetischen, eine doppelte, zweizügige Indirektion gegenüber dem politischen Bereich genannt werden. Der »ästhetische Zustand« hat keine Bestimmtheit an sich, ist zwar »reale und aktive Bestimmbarkeit«, »erfüllte Unendlichkeit«, aber »Null« in Hinblick auf Handeln und Erkenntnis. 126 It (poetry) awakens and enlarges the mind itself by rendering it the receptacle of a thousand unapprehended combinations of thought. 127

Wird so in der Insistenz auf der ästhetischen Autonomie jede inhaltliche, direkte moralische Aussage abgewiesen, gilt dieser im Bereich der Dichtung gar der Abscheu Shelleys, wiewohl die Poesie seiner gleichzeitig betonten »passion for reforming the world« dienen soll, 128 so ergibt sich schon als Umkehrschluß, daß es die Form von »poetry« sein muß, die den Gehalt der Imaginationskritik auch im politischen Zusammenhang der Kritik am Staat ausmacht. Ohne daß Shelley wie Schiller einen Begriff der Form oder ästhetischen Autonomie entwickeln würde, sind diese Begriffe doch in der »Defence« impliziert, die in der Verwirklichung des Begriffs »poetry« eine autonome Kunstkonzeption entwickelt. 129 Schillers Begriffsbildungen dagegen 124 125 126 127 128

129

So von Wiese: »Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 504. Zu Lessings Schrift Koselleck, a.a.O., S. 68ff. 20. Brief, S. 140, 21. Brief, S. 144 und 146. Defence, S.33. »Preface« zu »Prometheus Unbound«, Hutchinson, S. 207. Ebenso wird in der Defence S. 33 f. die didaktische Dichtung abgelehnt. Zur implizit autonomen Kunstkonzeption bei Shelley siehe auch S. 214f. sowie die Abschnitte 1.1.5. und 2.1.4. unserer Arbeit.

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eröffnet der Rekurs auf den Autonomiebegriff Kants eine philosophisch fundierte Definition des kritischen Momentes ästhetischer Autonomie, des Sinns der ästhetischen Form. Diese im transzendentalphilosophischen Rahmen der Kalliasbriefe geführte Diskussion nimmt die beiden zentralen Denkmotive der Aufklärung auf, welche sich in deren praktisch-politischer Konsequenz mit der Erfahrung der Französischen Revolution zugespitzt hatten: die Frage nach der Möglichkeit der Behauptung der nicht subsumierbaren Besonderheit des Individuellen, die doch keine Maßlosigkeit annehmen, sondern mit der wahren Allgemeinheit abzustimmen ist, und — im Spannungsverhältnis zu diesem ersten Denkmotiv — die Frage nach den Bedingungen einer in der Wirklichkeit praktisch werdenden Selbstgesetzgebung der Vernunft. 1.2.4. »Freiheit in der Erscheinung« als Paradigma praktischer Autonomie Schillers Autonomiediskussion in den Kalliasbriefen verbindet die Frage nach der Selbstgesetzgebung durch Vernunft mit der nach den Möglichkeiten einer Selbstgesetzgebung des Individuellen, einer »Freiheit der Natur«, der »Person des Dings«. 1 3 0 Vor dem Hintergrund des Aufklärungsproblems und dessen Zuspitzung in der Französischen Revolution erweist sich die von Schiller aufgeworfene systematische Frage nach einem über die Ergebnisse der »Kritik der Urteilskraft« hinausgehenden »objektiven« Prinzip der Beurteilung des Schönen jedoch als vordergründig. 131 Wir wollen nicht diese Frage in den Mittelpunkt stellen, ob Schiller ein solches transzendental zu nennendes Prinzip über Kant hinaus gefunden bzw. damit zu Hegels objektivem Ansatz einer Philosophie der Kunst übergeleitet habe. 132 Diese Frage, mit der eine Interpretation des Begriffes »transzendental« einhergeht, ist von

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131

132

»Kallias oder über die Schönheit. Briefe an Gottfried Körner«. Hanser Bd.V, S.407f. und 411. Vgl. Hanser Bd.V, S.394 sowie Schillers Brief an Körner vom 5.5. 1793, Jonas Bd. 3, S. 311 f. Besonders wichtig hinsichtlich des Weiterdenkens der Kantschen Ästhetik in Schillers Kalliasbriefen ist die Arbeit von Fritz Heuer: »Darstellung der Freiheit. Schillers transzendentale Frage nach der Kunst«. Köln, Wien 1970. Während Heuer zu dem Ergebnis kommt, Schiller habe die Kantsche Ästhetik um ein solches objektives Prinzip des Schönen erweitern können, ist z . B . Latzel gegenteiliger Auffassung (»Die ästhetische Vernunft. Bemerkungen zu Schillers Kallias mit Bezug auf die Ästhetik des 18.Jahrhunderts«. In: »Literaturwissenschafliches Jahrbuch«, N F 2 , 1961, S. 3 1 - 4 0 . Sowie »Vernunft, Verstand und Witz bei Schiller«. München 1958). Systematische Aspekte der Frage nach einem »objektiven« Prinzip des Schönen im transzendentalen Sinne behandelt auch Joachim Fritsche: »Interpretation zur Ent-

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der Schillerforschung recht unterschiedlich beantwortet worden. Die Wichtigkeit der dabei diskutierten systematischen Distinktionen sollte nicht den Blick dafür versperren, daß Schillers Schrift als Kommentar zum Aufklärungsproblem und zur Französischen Revolution zu lesen ist und in den ästhetisch-theoretischen politische Fragestellungen impliziert sind, wie sie die »Ästhetischen Briefe« aufgreifen. So ist in unserem Zusammenhang des Aufklärungsproblems in seiner Verschärfung durch die Französische Revolution Schillers Frage nach der theoretischen Möglichkeit, dem Individuellen Autonomie einräumen zu können, als die zentrale hervorzukehren, denn auch da, wo Schiller in grundsätzlichem, transzendental-philosophischem Zusammenhang nach der »Freiheit der Natur« fragt, ist mit einer solchen »Person des Dings« das für das ausgehende 18. Jahrhundert wichtige Individualitätsproblem formuliert. Dieses stellt sich grundsätzlicher noch als Problem der Vernunft in der Dialektik der Aufklärung, denn Schillers Frage nach der Möglichkeit der Freiheit der Dinge in der Erfahrung meint zugleich die Freiheit des Subjekts zu herrschaftsfreiem Vernunftgebrauch. Ist die Einzigartigkeit des sinnlich Erfahrenen, die Schiller mit der Metapher des Individuellen versieht, das Nicht-Verallgemeinerbare und Unteilbare, so muß der Rationalität der Vernunft solche Individualität als Irrationales erscheinen. Dabei ist Schillers Fragestellung im Zuge der Etablierung der Ästhetik als philosophischer Disziplin im 18. Jahrhundert zu sehen, die sich — wie Baeumler gezeigt hat — als Auseinandersetzung mit dem von ihm so bezeichneten »Irrationalismusproblem« vollzogen hat, der Frage nach der Behauptung des Individuellen im Geltungsbereich der Vernunft. 133 Während

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wicklung und Verwirklichung des Gedankens der >Freiheit in der Erscheinung« und ihre Realisation mit Hilfe verschiedener philosophischer Schriften und Gedichte Friedrich Schillers«. Würzburg 1970, S. 35—54. — Gewinnbringend für jede Untersuchung der Kalliasbriefe erscheint uns die Auseinandersetzung mit den Arbeiten von J. M. Ellis (»Schiller's Kalliasbriefe and the study of his aesthetic theory«. The Hague, Paris 1969) und S. S. Kerry (»Schiller's Writings on Aesthetics«. Manchester 1961. S. 29— 73), der zwei gedankliche Bewegungen in den Kalliasbriefen sieht: den subjektivistischen, systematischen Ansatz Kants (»die Natur steht unter dem Verstandesgesetz«) und das Schiller als Dichter eigene »main intuitive argument«, mit dem er »at certain critical stages from philosophical reasoning proper into the aesthetic mode of vision« falle (vgl. S.30f.). Man hat sich jedoch zu sehr angewöhnt, den Philosophen und Dichter Schiller gegeneinander auszuspielen (dagegen überzeugend Ellis, a.a.O., bes. S. 12ff.). Kerrys Versuch, zwei zunächst gleichgewichtige Argumentationsstränge aufzudekken, wobei sich der Kantsche Ansatz schließlich durchsetze, drängt Schiller allerdings auch da in eine »naive« Naturauffassung, wo er den Analogiebegriff durchhält, den er als das a priori aller weiteren Überlegungen zu einer möglichen Autonomie der Dinge in die Kalliasbriefe einführt. Baeumler, a.a.O., vgl. S. 1-17.

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der Renaissance die Individualität vornehmlich Erlebnis gewesen war, wurde sie im 18. Jahrhundert, der »Epoche der Ästhetik«, zum Problem. Diese Epoche nennt Baeumler »die klassische Zeit des Irrationalismus«, weil die Erfahrung des Individuellen, das sich der vollkommenen logischen Erfassung sperrt, als rationales philosophisches Problem der Aufklärung auftritt. 134 Dieses »Irrationalismusproblem« erweist sich als das Problem der Vernunft, sich ihrer Irrationalität zu entledigen und den vollen Begriff von Vernunft zu entwickeln. So spricht Schillers Schrift in der generellen Frage nach dem vollen Gehalt von Vernunft zugleich die praktisch-politischen Forderungen des Bürgertums nach Autonomie an, mit denen die seit der Renaissance hervorgetriebene Entwicklung des bürgerlichen Individualismus ihren Höhepunkt im Zeitalter der Französischen Revolution erreichte. Die Frage nach der Behauptung des Individuellen stellt sich hier im spezifischen historischen Kontext der Forderung nach einem Vernunftstaat, der in seiner Ordnung der Einzigartigkeit des Individuums ihre Geltung verschafft. Am Modell der Autonomie der praktischen Vernunft entwickelt Schiller den Gedanken einer Autonomie des Natürlichen, die doch keine Selbstbestimmung durch Vernunft sein kann. Diesen Widerspruch zwischen der Konzeption einer Selbstbestimmung des Naturwesens und dessen notwendiger Naturbestimmtheit löst Schiller mit Hilfe des Analogiebegriffes auf: Entdeckt nun die praktische Vernunft bei Betrachtung eines Naturwesens, daß es durch sich selbst bestimmt ist, so schreibt sie demselben (wie die theoretische Vernunft in gleichem Fall einer Anschauung Vernunftähnlichkeit zugestand) Freiheitähnlichkeit oder kurzweg Freiheit zu. Weil aber diese Freiheit dem Objekt von der Vernunft bloß geliehen wird, da nichts frei sein kann als das Übersinnliche und Freiheit selbst nie als solche in die Sinne fallen kann — kurz — da es hier bloß darauf ankommt, daß ein Gegenstand frei erscheine, nicht wirklich ist: so ist diese Analogie eines Gegenstandes mit der Form der praktischen Vernunft nicht Freiheit in der Tat, sondern bloß Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung.135

So meint der Analogiebegriff eine Konzeption des Ästhetischen, die das Schöne als sinnliche Realität von Freiheit definiert und zugleich der Scheinhaftigkeit dieser Vereinigung des ästhetischen mit dem ethischen Bereich eingedenk bleibt, dem der Autonomiebegriff entstammt. 136 So setzt die in den 134 135 136

Ebd. S. 1 und 5. Hanser Bd. V, S.400. »Autonomie« war mit Kant ein zentraler philosophischer Begriff geworden und tauchte zuerst im Rahmen der praktischen Philosophie in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) auf, wo »die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit« definiert wird (Kant, Werke Bd. 6: »Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie«, Erster Teil, Darmstadt 1975, S. 74 und f.). Kants Begriff der Autonomie steht »für die Möglichkeit und Bestimmung des Menschen, sich durch sich selbst in seiner Eigenschaft als Vernunftwesen zu bestimmen«, für vernünftige

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Kalliasbriefen geführte Diskussion, wie der Besonderheit des Individuellen im Vernunftgebrauch Geltung zu verschaffen sein am Autonomiebegriff an, den Schiller auf den Bereich des Natürlichen ausdehnt, ohne in die Metaphysik der »Theosophie des Julius« zurückzufallen, die auf eine naturimmanente Vernünftigkeit angewiesen war. Dagegen nennen die Kalliasbriefe nur im Sinne eines Analogieschlusses zur Autonomie der praktischen Vernunft »diejenige Form in der Sinnenwelt, die bloß durch sich selbst bestimmt erscheint, eine Darstellung der Freiheit . . . « , »ein Analogon der reinen Willensbestimmung«.137 — Hinter dem Analogiebegriff steht freilich die gründlichere Erklärung der Autonomie des Schönen als Einbildung und Schein in der »Kritik der Urteilskraft«. Fragen wir nach dem Grund, weshalb Schiller die Verbindungslinie zwischen seiner Bestimmung des Schönen als Analogon und dem in dieser Bestimmung implizierten Einbildungsbegriff nicht gezogen hat, so könnte als Antwort Schillers Suche nach einem »objektiven«, nicht in der Wirkung eines Gegenstandes oder einer Vorstellung auf die Erkenntniskräfte des Subjektes aufgehenden Prinzip des Schönen genannt werden. Schillers Heranziehen des Analogiebegriffes kann jedoch als Rekurs auf den § 59 der »Kritik der Urteilskraft« gesehen werden, in dem die symbolische Versinnlichung durch die Einbildungskraft, das formale Schematisieren der Urteilskraft als »analogisch« charakterisiert wird. 138 Schiller aber verwendet den Begriff Einbildungskraft erst nach der Definition des Schönen im letzten der Kalliasbriefe, der sie auf Fragen der Kunstproduktion anwendet: Das Vermögen der Anschauungen ist die Einbildungskraft. Ein Gegenstand heißt also dargestellt, wenn die Vorstellung desselben unmittelbar vor die Einbildungskraft gebracht wird. — Frei ist ein Ding, das durch sich selbst bestimmt ist oder so

137

138

Selbstgesetzgebung (so zusammenfassend R. Pohlmann: Autonomie. In: »Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von Joachim Ritter (Bd. 1), Darmstadt 1971, Sp. 707). Da diese Selbstgesetzgebung Freiheit von naturgesetzlicher oder politisch-gesellschaftlicher Fremdbestimmtheit impliziert, ist Autonome Freiheit des Menschen als eines Vernunftwesens: »Denn Freiheit und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin Wechselbegriffe« (Kant, ebd. S. 86). Der Autonomiebegriff, der Selbstgesetzgebung durch Vernunft und damit die Ansprüche der aufgeklärten Moral des Bürgertums meint, steht also in enger Beziehung zur Autonomie des Individuums, dessen praktisch-politischer Emanzipation und bewahrt so seine aus der Antike stammende Tradition als politische Kategorie. Hanser Bd. V, S.401. - Auch Fritz Heuer (a.a.O., bes. S. 87-92, 165) betont, daß in ihrer Analogisierung ästhetische und ethische Urteile gerade strikt getrennt werden. Heuers Auseinandersetzung mit abweichenden Auffassungen in der Sekundärliteratur können wir hier also voraussetzen. Kr. d. Urt. (§59), S.459 (A252). Hierzu auch unsere S.82.

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erscheint. Frei dargestellt heißt also ein Gegenstand, wenn er der Einbildungskraft als durch sich selbst bestimmt vorgehalten wird. 139

Einbildungskraft taucht als neutrales Vermögen auf, dem der frei dargestellte Gegenstand nur »vorgehalten« werde. Deutlicher äußert sich Schiller zur Funktion der Einbildungskraft da, wo es um die besondere Aufgabe des Poeten geht, im Medium der darstellenden Sprache deren Tendenz zur annulierenden Verallgemeinerung des Besonderen zu überwinden: Die Natur des Mediums, dessen der Dichter sich bedient, besteht also »in einer Tendenz zum Allgemeinen«, und liegt daher mit der Bezeichnung des Individuellen (welches die Aufgabe ist) im Streit. Die Sprache stellt also alles vor den Verstand, und der Dichter soll alles vor die Einbildungskraft bringen (darstellen); die Dichtkunst will Anschauungen, die Sprache gibt nur Begriffe. 140

Den Anschauungen der Einbildungskraft kommt die Aufgabe zu, in der Tendenz der Sprache zum Allgemeinen, der in dieser wirkenden Rationalität, das Individuelle der Dinge zu retten und den Aspekt einer Freiheit der Natur aufzuschließen. Damit ist die Verbindung zum zentralen Anliegen der Kalliasbriefe hergestellt, doch Schiller führt nicht aus, was die analoge Struktur einer Autonomie der Erscheinung für die Konzeption der Einbildungskraft bedeutet. Dagegen hätte es in der Konsequenz der Autonomiediskussion gelegen, die Einbildungskraft — in rezeptiver oder künstlerisch-produktiver Hinsicht — dezidiert als das die Analogie zur praktischen Vernunft bildende Vermögen zu bestimmen, das in dieser Tätigkeit Freiheit nur als Einbildung und Schein in der Sinnenwelt vorführt. Die Einbildungskraft erwirkt den Schein von Selbstbestimmtheit, die dem schönen Gegenstand nicht objektiv zukommt, sondern ihm lediglich qua Einbildung »geliehen« wird. 141 So betont Kerry:142 139

140 141 142

Hanser Bd. V, S. 427; der Terminus Einbildungskraft auch auf den folgenden Seiten 428, 431, 432f. Vgl. S. 401: »Die Freiheit in der Erscheinung ist also nichts anders als die Selbstbestimmung an einem Dinge, insofern sie sich in der Anschauung offenbart«. Ebd. S. 432. Vgl. ebd. S.400, das vollständige Zitat S. 187 unserer Arbeit. Kerry, a.a.O., S. 67. Ebenso S. 69. Auch Henrich kommt zu dem Ergebnis (unter Rekurs auf Rosalewski, »Schillers Ästhetik im Verhältnis zur Kantischen«, Heidelberg 1912, S. 32—48): »Wenn er (Schiller) in der freien ungehinderten Entwicklung der Gestalt Schönheit findet, so nicht deshalb, weil sie an ihr selbst, gleichsam aus eigener Kraft sich so entfaltet hat (ist diese Gestalt doch in Wahrheit Resultat natürlicher Prozesse) sondern weil sie der Einbildungskraft als frei entfaltet erscheint«. Henrich, a.a.O., S.536. - Düsing (»Schillers Idee des Erhabenen«. Köln 1967, S. 64) stellt fest: »Später, unter dem sich verstärkenden Einfluß Kants, bezieht Schiller die Vernunft nicht mehr unmittelbar auf den ästhetischen Gegenstand, sondern verbindet beide durch die Einbildungskraft«. Doch muß anders gesagt werden, daß 189

...Schiller must be speaking in the language of the aesthetic illusion, in which language alone what he has said is coherent and meaningful. Only in the irrational aesthetic awareness could the merely verbal separability of the »existence* and technical form» of an artefact yield a distinction of substance. The term »Naturding« conveys the analogy, always active in the background of thought, between the animate order and all other organized forms to which noumena cannot rationally be imputed, but which in aesthetic imagination may well be equivalents of living organic forms. Die Hereinnahme des Einbildungsbegriffes in die Schönheitsdefinition der Kalliasbriefe, die diesen impliziert, hätte Schiller stärker dazu drängen müssen, daß von ihm im Sinne einer Darstellungsästhetik aufgesuchte »objektive« Prinzip des Schönen seines eingebildeten, subjektiven Charakters zu überführen, den Scheinbegriff der »Ästhetischen Briefe« schon hier in den Mittelpunkt zu stellen. Darstellung als Analogie, d.h. als Einbildung und Schein, meint nicht die bloße Umsetzung der Autonomiekonzeption, wie sie die Kantsche Ethik mit der praktischen Vernunft verbindet, in die Sinnenwelt. Denn entscheidend für Schillers definitorische Formel von Schönheit als »Freiheit in der Erscheinung, Autonomie in der Erscheinung« ist die gewaltfreie Erscheinung von Autonomie. So kommt in den Kalliasbriefen wie in den Ästhetischen Briefen Schillers zentraler, seine ästhetische Theorie prägender Gedanke zum Tragen, auch der Zwang durch Vernunft sei letztlich Heteronomie und widerspreche dem von der Vernunft selbst aufgestellten Freiheitspostulat: Offenbar hat die Gewalt, welche die praktische Vernunft bei moralischen Willensbestimmungen gegen unsere Triebe ausübt, etwas Beleidigendes, etwas Peinliches in der Erscheinung. Wir wollen nun einmal nirgends Zwang sehen, auch nicht, wenn die Vernunft selbst ihn ausübt; auch die Freiheit der Natur wollen wir respektiert wissen, weil wir »jedes Wesen in der ästhetischen Beurteilung als einen Selbstzweck« betrachten und es uns, denen Freiheit das Höchste ist, ekelt (empört), daß etwas dem anderen aufgeopfert werden und zum Mittel dienen soll.143 Indem Schiller den ästhetischen Autonomiebegriff auf eine — wenn auch nur als Analogie, genauer: Schein begründete — Autonomie des Natürlichen

1,3

Schiller die Einbildungskraft — von Beginn an im Sinne der »Kritik der Urteilskraft« — als im formalen Schematisieren bzw. symbolischen Darstellen produktiv werdende Vernunft ansetzt, als produktives Erkenntnisvermögen, ohne daß ein verstärkter Einfluß Kants angenommen zu werden braucht. — Im Gegensatz zu unserer Auffassung der Funktion der Einbildungskraft in den Kalliasbriefen stehen die Ausführungen von Heuer (a.a.O., S. 170—176): Die Konzeption der Einbildungskraft muß vom Prinzip der freien Darstellung bzw. der Darstellung der Freiheit eines »Begegnenden« her verstanden werden, das in seinem Dasein anerkannt wird (vgl. unsere S. 191 Anm. 145). Heuer zufolge hat Schiller den subjektivistischen Ansatz der Kantschen Ästhetik hier um ein objektives Prinzip erweitert. Hanser Bd. V, S.407f.

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ausdehnt, auf »eine solche Vorstellungsart der Dinge, wobei von allem übrigen abstrahiert und bloß darauf gesehen wird, ob sie frei, d.i. durch sich selbst bestimmt erscheinen«, 144 kehrt er am Begriff der Autonomie der praktischen Vernunft den Herrschaftscharakter des Sittengesetzes hervor, das an Natur vollstreckt werden soll. Was Baeumler die »individualitätsauslöschende Norm« der Ethik nennt, deren Tendenz zu einer Besonderes bloß subsumierenden Allgemeinheit, bewegt Schiller dazu, das Maximum von Freiheit erst in dem Schein von Selbstbestimmtheit des natürlichen Objektes, nicht in einer von dieser Autonomie des Natürlichen absehenden Durchsetzung der praktischen Vernunft erfüllt zu sehen, wobei er die Konsequenzen, die dies für seine Auffassung der Ethik nach sich zieht, in den Kalliasbriefen und deren Diskussion ästhetischer. Autonomie nur streift. Schillers Begriffsbestimmung des Schönen kehrt den Herrschaftscharakter der autonomen praktischen Vernunft hervor, den diese gegenüber dem Aspekt der Freiheit oder Selbstbestimmung des Naturdinges notwendig entwickelt. Dessen Regelhaftigkeit, die Schiller als Technik bezeichnet, muß im Bereich des Schönen sich aus der Natur des Dinges selbst ergeben, darf nicht von außen auf dieses im Sinne von Fremdbestimmtheit angewendet erscheinen: Der Technik gegenübergestellt, ist Natur, was durch sich selbst ist, Kunst ist, was durch eine Regel ist. Natur in der Kunstmäßigkeit, was sich selber die Regel gibt — was durch seine eigene Regel ist. (Freiheit in der Regel, Regel in der Freiheit.) Wenn ich sage: die Natur des Dinges: das Ding folgt seiner Natur, es bestimmt sieb durch seine Natur: so setze ich darin die Natur allem demjenigen entgegen, was von dem Objekt verschieden ist, was bloß als zufällig an demselben betrachtet wird und hinweggedacht werden kann, ohne zugleich sein Wesen aufzuheben. Es ist gleichsam die Person des Dings, wodurch es von allen andern Dingen, die nicht seiner Art sind, unterschieden wird.145 Die »Natur des Dinges«, die ihm eigene Regelhaftigkeit, wird als »Person des Dings«, als dessen Individualität zur Geltung gebracht, indem gerade an 144 145

Ebd., S. 408. Ebd., S. 411. - Kerry (a.a.O., S. 57) bemerkt hier: »The interplay of the naive vision and the abstract argument is very evident...«. Ein echtes Spannungsverhältnis liegt jedoch nicht vor, nennt Schiller doch unmißverständlich die »Natur« oder das »Wesen« des Dings »gleichsam« dessen »Person«. Schiller kann hier den Analogiebegriff, den er bereits einführte, voraussetzen. Kerry beachtet dies auch an anderen Stellen nicht, an denen er Schillers Rede von einer »Person« des Dings als Beleg einer intuitiven, animistischen oder naiven Tendenz der Naturauffassung zitiert, die der an Kant geschulten Argumentationsebene widerstreite (z. B. S. 66). Heuer gerät in der Interpretation dieser Stelle in eine unzulässig ontologisierende Betrachtungsweise. Vgl. a.a.O., S. 98f. »Dasjenige Erscheinende, das uns als >Darstellung der Freiheit begegnet, ist für uns weder ein durch den Verstand noch durch die Vernunft aus der Subjektivität des Subjekts Gesetztes, sondern ein in seiner Freiheit Anerkanntes«. (Herv. von Heuer). Ebenso S. 154 f. 191

dem Erkenntnisvermögen des Subjekts, der Gesetzmäßigkeit des Verstandes Freiheit manifestiert wird. Die »reine Zusammenstimmung des innern Wesens mit der Form, eine Regel, die von dem Dinge selbst zugleich befolgt und gegeben ist«, lenkt Schillers Augenmerk auf den Organismus, dessen objektiv gegebene Regelhaftigkeit jedoch schwerlich als bloße Analogie zur Vernunftautonomie bzw. als Schein zu verstehen ist. So nennt Schiller diese Technik des Organischen »objektive Beschaffenheiten der Gegenstände, . . . denn sie bleiben ihnen, auch wenn das vorstellende Subjekt ganz hinweggedacht wird«,146 führt diese Untersuchung einer Naturteleologie aber nicht weiter, die die Argumentation der Kalliasbriefe in Inkonsequenzen bringen würde. Worum es Schiller bei der Betrachtung der Zweckmäßigkeit des Organischen wie der Konzeption einer Selbstbestimmung des Natürlichen geht, ist ein Begriff von Natur, dem diese mehr ist als Widerstand und Material rationaler Bearbeitung. Die als ästhetischer Schein gewonnene Selbstbestimmtheit des Natürlichen wird zum Problem der Vernunft, die Ausschließlichkeit ihres Charakters als naturbeherrschender Rationalität abzulegen. So entwickeln die Kalliasbriefe eine neue Auffassung der Vernunft, die an ihrer Einheit zwar festhält, aber der Mannigfaltigkeit entschiedener Raum geben will." 7

Doch in den Kalliasbriefen wie den »Ästhetischen Briefen« wird keine Neukonzeption des Vernunftbegriffes selbst versucht, sondern dessen Problematik von der Ästhetik her angegangen. Indem die Autonomie der Vernunft als Freiheit in Erscheinung tritt, muß dem der Rationalität der Vernunft entgegenstehenden »Irrationalen« der selbstbestimmt erscheinenden Individualität in der Schönheit Respekt gezollt bzw. jene Rationalität ihrer Momente von Unvernunft überführt werden. Die Einbildungskraft, die in ästhetischer Funktion jene von Schiller in den Mittelpunkt gerückte Analogie zur Vernunftautonomie bewirkt, gewinnt ihre Vernünftigkeit also nicht in der Vollendung des schönen Scheins, sondern in dem Moment von Vernunftkritik, das solchen Schein aufhebt und durchschaubar macht. Die Einbildungskraft entwickelt ihr Vernunftmoment, indem sie die Reflexion auf die Begrenztheit der Rationalität von Vernunft in Gang setzt, eine Provokation herstellt, die gerade in der Vollendung des Scheins von Freiheit in der Sinnenwelt unterginge. Schiller hat diese Konsequenz für seinen Begriff ästhetischer Har146

Vgl. Hanser B d . V , S. 416 und f. Vgl. S.413 zur »Autonomie des Organischen«. — Zu diesem in Widerspruch zum Analogie- und Scheinbegriff der ästhetischen Konzeption geratenden Versuch Schillers, ein objektives, organisches Prinzip des Natürlichen begrifflich zu fassen, siehe Kerry, a.a.O., bes. S.68ff. Es handelt sich hier jedoch um keinen eigenen durchgängigen Argumentationsstrang, sondern eine einzelne, die Stringenz der Gedankenführung Schillers verunklärende Passage.

147

v.Wiese: »Friedrich Schiller«, a.a.O., S.459.

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monie nicht gezogen, doch wird deren Negation in dem Widerspruch von Freiheit und Zwang, der aus der Subjekti vierung des ästhetischen Verhältnisses resultiert, geradezu gegen Schillers eigene Argumentation und Insistenz auf der Vollendung von Schönheit in den Kalliasbriefen zum Ausdruck gebracht. »Natur in dieser Bedeutung« ist nicht die Autonomie des Verstandes oder der Vernunft, die objektive Begriffe von Dingen oder Handlungen hervorbringen, dem Bereich der Natur oder der Freiheit Gesetze geben, sondern eine »subjektive« Autonomie, die Schiller im Mittelteil der Kalliasbriefe mit dem von Kant eingeführten Begriff der Heautonomie bezeichnet: 148 Was wäre also Natur in dieser Bedeutung? Das innere Prinzip der Existenz an einem Dinge, zugleich als der Grund seiner Form betrachtet; die innere Notwendigkeit der Form. Die Form muß im eigentlichsten Sinne zugleich selbstbestimmend und selbstbestimmt sein; nicht bloße Autonomie, sondern Heautonomie muß da sein. Wie Kant dient Schiller der Begriff der Heautonomie zur Bezeichnung einer Form der Autonomie, die Gegenständiges nicht als einer bereits bekannten Allgemeinheit subsumierbar behandelt, sondern sich den nicht schon vom Subjekt her vorbestimmten Gegebenheiten öffnet — freilich aber unter der Prämisse völliger Subjektivität. 149 Die Differenzierung von »bloßer« Autono148

Hanser Bd. V, S.416. Vgl. Kant, Kr. d. Urt., Erste Fassung der Einleitung, S.203. — Auch diese Stelle der Kalliasbriefe ist verzerrend auf Goethes Gedanken der Entelechie hininterpretiert worden. Spranger führt aus (»Schillers Geistesart gespiegelt in seinen philosophischen Schriften und Gedichten« = Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Nr. 13, Berlin 1941, S. 33): »Das ist, in etwas laienhafter Gestalt, ungefähr dasselbe, wie die sich in Raum und Zeit und Stoff hinein entfaltende Entelechie. Schiller bedient sich dieses Namens nicht; auch Goethe tut es erst spät. Aber der Sache nach liegt hierin der Schritt von der Transzendenz der Idee zur Immanenz der forma substantialis, — und somit eine Wendung vom dualistischen Idealismus zum objektiven Idealismus, vom Typus Plato zum Typus Aristoteles«. Und Kerry, (a.a.O., S. 66), der sich auf Spranger beruft, interpretiert die zitierte Stelle: »The >thing< which he wishes to raise above a subjective intuition, and yet, clearly, cannot equate with the materiality of the object, takes on a curious metaphysical existence, suspiciously like the prohibited >Thing-in-itselfKalliasÜber Anmut und WürdeVerwirklichung< nicht problematisiert wird«, überwunden. Seine Überlegungen, und das muß berücksichtigt werden, will man ihn nicht als den abstrakten »Moraltrompeter« mißverstehen, werden entscheidend von der Erkenntnis getragen, daß Zeit und Mensch, Staat und in Klassen geteilte Gesellschaft noch nicht reif sind, durch revolutionäre Aktion den idealen Staat in der Wirklichkeit einzurichten. »Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß selbst zum Gedanken drängen« — dieser klassische Satz formuliert prägnant das problematische Verhältnis von Theorie und Praxis, dem sich auch Schiller konfrontiert sieht.

Es dürfte ein aufschlußreicher Aspekt der Geschichte der Schillerrezeption sein zu untersuchen, wie jeweilige Zeitströmungen einer Hinwendung zur Innerlichkeit oder zum politischen Aktivismus in die Bewertung des Schillerschen Gedankens der ästhetischen Erziehung eingegangen sind, wobei die Schillerforschung der späten 60-iger und 70-iger Jahre dazu tendiert haben dürfte, wie Lepenies die Kategorie der Innerlichkeit als vorweg reaktionäre zu desavouieren. 94 Doch hoffen wir gezeigt zu haben, daß Schillers Begriff der »innern Gesetzgebung« auf dem Wege zur »schönen Seele« nicht »erst dann gestaltend der Welt an(gehört), nachdem die Welt verändert worden ist«, nicht bloß in »der Antizipation dieses Zieles, zu dessen Realisierung sie nichts beitragen kann« »ihr Verdienst... von Güte, Wohlwollen, Freundlichkeit und Solidarität entfaltet«, 95 wenn nur die Reziprozität von Selbst92

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Rudolf zur Lippe: »Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung«. A . a . O . , S. 130. Ueding, a.a.O., S. 30f. (Hinweise auf Popitz, a.a.O., S. 40 und Marx, »Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie«, in: Karl Marx und Friedrich Engels: Studienausgabe in 4Bdn. Hrsg. von Iring Fetscher. Frankfurt/M. 1966. Bd. 1 S.25). Lepenies: »Melancholie und Gesellschaft«. A . a . O . , z . B . S.76ff., 84, 90, 96f. und 197ff. Vgl. unseren Abschnitt 1.2.6. zum Thema Individualismus und Innerlichkeit (S. 244 ff.). So Ueding, a.a.O., S. 64. Vgl. jedoch das vorangegangene Zitat aus seiner Arbeit.

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und Gesellschaftsreform im Aufklärungsprozeß anerkannt wird. Daß die Konzeption der »innern Gesetzgebung« im 19. Jahrhundert auch zum Sammelbegriff der eskapistischen Tendenzen des Bürgertums wurde, ist ein die Schillerrezeption betreffender Sachverhalt, der mit der Interpretation der »Ästhetischen Briefe« selbst nicht vermengt werden sollte. So seien abschließend einige Sätze aus Wilkinsons Interpretation zitiert, deren ausgewogene Beurteilung des Gedankens der Triebkultivierung einen Maßstab für die künftige Schillerrezeption setzen könnte: 96 Das Werk (Schillers »Ästhetische Briefe«) steht in der ehrwürdigen Tradition der Lehren vom »Seelenheil«. Seine Vorfahren sind unter den mehr oder weniger mystischen, mehr oder weniger esoterischen heiligen Büchern aus Ost und West zu finden, seine Nachfahren unter den praktisch-theoretischen Schriften der Psychoanalyse. Und wenn diese Briefe in ihrem Bemühen um das Seelenheil des Einzelwesens einem Kult der Persönlichkeit zuzuneigen scheinen, so zielen sie doch auch von Anfang bis zum Ende auf das, was Henry James »the civic use of imagination« nannte.

2.1.3. Zur politischen Funktion der Wahrer des Imaginationsprinzips: Der Künstler als »legislator« — und seine Gesetzgebung in der Dichtung Die Schwierigkeit des Umschlagens der Kategorie individueller Bildung in die der politisch verfaßten Allgemeinheit kehrt wieder in der Frage, wie die Funktion der durch ihr Imaginationsvermögen gebildeten, zunächst vereinzelten Kulturträger, die gleichsam am Ende des Wegs einer »innern Gesetzgebung« angelangt sind, die Rolle des »(Staats)Künstlers« und »poet« als »legislator« zu verstehen ist. Im »poet« greift Shelley auf jenen Modellmenschen zurück, den er als Veräußerung des Menschen im Menschen zu Beginn der »Defence« darstellt. Hier ist das Imaginationsprinzip zur vollen Entfaltung gelangt und hat reason in seinen Dienst gestellt. So soll im exzellierenden »poet« ein Widerspruch geschlichtet sein, der in der Gesellschaft und im gewöhnlichen Menschen fortbesteht. Infolge dieser Versöhnung des Widerstreits der beiden Grundvermögen möchte Shelley im Leben des »poet« das geglückte, poetische Leben sehen, den ästhetischen Zirkel auf solche Lebenswirklichkeit ausdehnen und diese als Beispiel für »poetry of life« zitieren. Doch fällt dieser Intention entgegen die Betonung unüberhörbar auf das »he ought... to be« : 97

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Wilkinson: »Zur Sprache und Struktur der >Ästhetischen BriefeProblem der Aktion< und >WallensteinAesthetic Education< has as its theme exactly what its title promises. The description of the moral stage is not promised, nor is it given. Let us admit that the statement leaves a philosophical problem open and even implies a contradiction in Schiller's idea of evolution«. Vgl. diese sich wie ein roter Faden durch die Schiller-Literatur ziehende Fragestellung schon bei E. Kühnemann »Kant«, Bd. II, München 1924, S. 541 f. in Hinblick auf »Die Künstler«.

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lität« aufgestellt habe, sei nach einer Veränderung des Argumentationsgefüges der »Ästhetischen Briefe« an »eine weitergehende gesellschaftlich-politische Realisation des Ästhetischen... nicht mehr gedacht«. 169 Die Ausbildung einer ästhetischen Kultur in dem vom absolutistischen Staat gesetzten bürgerlichen Binnenraum ist »nicht mehr ein nur vorläufiges Moment, sondern bereits deren letztendliche Bestimmung«. 1 7 0 Diese Argumentationswende leitet in Ewers Sicht der 26. Brief mit seiner Entwicklung des Scheinbegriffes ein, denn ästhetische Erziehung soll nun »nichts anderes als die E t ablierung des Reichs des schönen Scheins« sein. 171 Damit gehen »ästhetischer Staat« und »Erziehung« selbst ihres politischen Anspruches verlustig, denn diese »ist die Etablierung des Reichs des schönen Scheins und hat damit ihr Bewenden.« 1 7 2 Unter diesem Blickwinkel taugt ästhetische Erziehung nicht einmal als Mittel zur Erreichung des sittlichen oder Vernunftstaates, der nun zum politischen Handlungsziel wieder aufrückt, nachdem Schiller doch das Ästhetische als Modell maximaler Freiheit, »Konsummation seiner (des Menschen) Menschheit«, »die wahre Freiheit« eingeführt hat: 1 7 3 Damit aber tut sich eine Diskrepanz zwischen Weg und Ziel, Mittel und Zweck auf. Wenn Schiller derart die Errichtung des sittlichen Staates von der Voraussetzung ästhetischer Erziehung abhängig macht, dann erklärt er die Ausbildung eines an sich Höheren und Vollkommenen zur Voraussetzung der Verwirklichung eines demgegenüber beschränkten politischen Zieles. Zur Errichtung des sittlichen Staates wird in Gestalt ästhetischer Erziehung ein Mittel eingesetzt, das im Ziel nicht aufgehoben, in ihm keine vollständige Verwirklichung finden kann, das das Ziel vielmehr überragt... Es (das Ästhetische) ist dem sittlichen Staat jetzt als das Höhere nachgeordnet. Von hier aus ließe sich durchaus eine Position entwickeln, die umgekehrt die Errichtung des sittlichen Staates zur Voraussetzung einer ästhetischen Kultur macht. Indem der Verweisungscharakter des ästhetischen Scheins auf vernünftige Praxis ausgeblendet wird, gelingt es Ewers, die Schillersche Konstruktion des »ästhetischen Staates« nahtlos in den Weg der schrittweisen Entpolitisierung des bürgerlichen Kunstideals von Kant zu Hegel einzureihen: Indem 169

170 171

172 173

Ewers, Hans-Heino: »Zur Genesis des bürgerlichen Kunstideals«. Stuttgart 1978 ( = Frankfurter Diss.), S. 59. Ebd. Ebd. S.63. Doch hatte schon der 15.Brief sichergestellt: » . . . der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen«. (S. 106). Es muß also bezweifelt werden, daß Schiller eine Argumentationswende im Duktus der »Ästhetischen Briefe« vollzieht. Vielmehr wird der Begriff des ästhetischen Scheins, der schon vorher angelegt und mitgedacht wurde, hier auf dem Höhepunkt der Briefe nur hervorgekehrt und dezidiert besprochen. Dies wird am Doppelcharakter des ästhetischen Staates deutlich; hierzu im folgenden. Ewers, a.a.O., S.64. Ewers, S.64 f. Vgl. S.63f. 15. Brief S.102, 108, vgl. S.106.

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dieser schließlich das Ideal des Schönen auf das Kunstschöne einengt, geht der Gedanke des frühen Idealismus an »eine umfassendere,... eine politischgesellschaftliche Realisation von Schönheit« verloren.174 Vor dem Hintergrund solcher Interpretationen, die den »Ästhetischen Staat« als das gegenüber praktisch-politischen Handlungsansprüchen stillgestellte Reich des schönen Scheins deuten, hatte Marcuses Interpretation das Verdienst, die materiellen Gehalte der Schillerschen Konstruktion hervorzukehren, auch wenn dies um den Preis einer wiederum vereinseitigenden Interpretation geschah, deren primäres Interesse der Entwicklung der eigenen Theorie galt. Marcuse will »den vollen Gehalt der Auffassung Schillers vor der wohlwollenden ästhetischen Behandlung... retten, die die traditionsgemäße Deutung ihr zuteil werden ließ«.175 Dabei verabsolutiert Marcuse den Verweisungscharakter des ästhetischen Phänomens bei Schiller auf eine zukünftige wirkliche Praxis hin und füllt — hier Schillers Konzeption schöpferisch weiterdenkend — diese mit materiellen psychologisch-gesellschaftlichen Inhalten. Der Verweis auf vernünftige Praxis in Schillers Konstruktion des Spieltriebs wird so eindringlich hervorgekehrt. Indem Marcuse jedoch den »Spieltrieb, dessen Gegenstand die Schönheit, dessen Endziel die Freiheit ist«, zugleich als »das Vehikel dieser Befreiung« auffaßt, 176 als reale Form des praktisch-politischen Handelns und Verhaltens, das schon hier und jetzt eine nicht-repressive Kultur herbeiführe, macht sich seine Interpretation einer Grenzüberschreitung schuldig, die Schiller sorgsam vermieden hat, für den der Spieltrieb nicht als Handlungsalternative für praktisches Handeln einspringen kann. Was Marcuse an kritischem Potential durch den Rückgriff auf vorgesellschaftliche natürlich-sinnliche Dimensionen in seinem Verständnis des Spieltriebs aktivieren möchte, hat Schiller unzweideutig unter den Bereich des Stofftriebs subsumiert und löst sich in dessen »Wildheit« und Unaufgeklärtheit auf: Hierin gründet die Affinität von Utopie und Katastrophe, auf die Marcuse selbst hinweist. Schillers Spieltrieb kennt keine Selbstsublimierung der Sinnlichkeit, sondern ist besondere Form der Bezie174

175

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Ewers, ebd., z. B. S. 1. Ewers verfolgt »die schrittweise Einschränkung des Schönen auf die Kunst«, »die Entwicklung des idealistischen Schönheitsbegriffes vom politischen Ideal zum Kunstideal«. (S. 4f.). Wenn Ewers' These einer solchen regressiven Entwicklung unterstellt wird, müßte Schiller auf einer früheren Position gesehen werden, die am »politischen Ideal« noch festhält. Anzumerken bleibt, daß Ewers die Entwicklung von Kant zu Hegel in Hinblick auf die Konstruktion des Ästhetischen gegenläufig interpretiert hat zum sonst geläufigen Denkmotiv der Vollendung der klassischen Philosophie durch Hegel. Vgl. hierzu S. 7f., 112ff. unserer Arbeit sowie Abschnitt2.2.4. Marcuse, Herbert: »Triebstruktur und Gesellschaft«. (Zuerst unter dem Titel: Eros and Civilisation«, 1955) Frankfurt/M. 1971, bes. S. 185ff. Vgl. ebd. S. 185.

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hung von Rationalität und Sinnlichkeit, eine Vernunftforderang, in der Sinnlichkeit im Sinne des vollen Begriffs von Vernunft zur Geltung gebracht werden soll.177 Bezeichnenderweise nimmt Marcuse den Scheinbegriff einseitig als Uberflußphänomen,178 nicht als die besondere Realisationsweise des Ästhetischen, von dessen besonderem Status das losgelöst wird, worauf es verweist. Bekanntlich hat der späte Marcuse die materiellen Gehalte des Spieltriebs rigider als Schiller in jenen Scheinbezirk wieder ausgegrenzt, in dem sie in den »Ästhetischen Briefen« allererst erscheinen.179 Damit zeigt Marcuses Denkbewegung in ungereimter Weise im Nacheinander die Ausdehnung und Verengung des »ästhetischen Zirkels« als zweier grundsätzlicher, aufeinander bezogener Tendenzen ästhetischer Theorie in der Moderne, die bei Schiller als sich wechselseitig bedingende Begriffsmomente einer Konstruktion gesetzt sind. Indem Marcuse jeweils das Moment des Scheins und dessen deiktischen Charakters verabsolutiert, gerät die Entwicklung seiner Theoriebildung in eklatante Ungereimtheiten hinein, welche Schiller mit der Doppeldeutigkeit des »ästhetischen Staates« eher vermeidet.— Wir wollen nun die Bedeutungsverschiedenheiten des »ästhetischen Staates« zu dessen Typologie zusammenstellen, die doch das Ganze seines Bedeutungshorizontes im Blickfeld beläßt, angesichts der Verschiedenheit der in der Forschung zusammengetragenen Interpretationsergebnisse die einzelnen Bedeutungen auflisten und eine schematische Trennung dadurch vermeiden, indem wir die Beziehung der verschiedenen Begriffsmomente zueinander untersuchen, so daß schließlich die Frage nach der Schlüssigkeit und Konsistenz der Konzeption des »ästhetischen Staates« bei Schiller beantwortet werden kann. Dabei dürfte der Vergleich zu Shelleys parallelen Denkmotiven »great poem« und »poetry of life« eine wechselseitige Erhellung dieser Konstruktionen des Ästhetischen ermöglichen. Wenn Schiller gegen Ende des 27. Briefes den »ästhetischen Staat« einführt, so hat bereits »der hohe Begriff«, den der vorhergehende Brief von dem ästhetischen als dem »aufrichtigen« und »selbständigen« Schein aufstellte, die Frage nach dessen Abgrenzung von der Wirklichkeit entschieden.180 In dieser »Welt des Scheins«, diesem »wesenlosen Reich der Einbil177

178 179

180

Vgl. unsere S. 108ff. — Zur N ä h e von Utopie und Katastrophe bei Marcuse s. Pott, a . a . O . , S. 127. Diese N ä h e ergibt sich jedoch nicht durch die Affinität zum Stofftrieb, sondern gerade aus dem rationalen Charakter des ästhetischen Spiels der Einbildungskraft. Vgl. hierzu im folgenden S. 319—323. Marcuse, a . a . O . , S. 191. z. B. Marcuse: »Die Permanenz der Kunst. Wider eine bestimmte marxistische Ästhetik«. München, Wien 1977. Vgl. 27. Brief, S.204, 26. Brief, S . 1 9 0 f f .

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dungskraft«, 1 8 1 das »mitten in« der Austragung der Widersprüche v o n Stoffund Formtrieb entsteht, nimmt der Mensch an diesen nicht teil und ist aus den realen geschichtlichen Konflikten ausgegrenzt: 1 8 2 Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet. Wenn in dem dynamischen Staat der Rechte der Mensch dem Menschen als Kraft begegnet und sein Wirken beschränkt — wenn er sich ihm in dem ethischen Staat der Pflichten mit der Majestät des Gesetzes entgegenstellt und sein Wollen fesselt, so darf er ihm im Kreise des schönen Umgangs, in dem ästhetischen Staat, nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüber stehen. Freiheit zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz dieses Reichs. D a s Reich des schönen Scheins — nun mit dem Begriff des Staates belegt — ist bereits hier und jetzt im Prozeß der Entstehung, des Aufbaus durch den Spieltrieb begriffen. Existenz kann nach Schillers Scheindefinition diesem neben d e m dynamischen und ethischen wirkenden ästhetischen Staat nur in d e m Sinne z u k o m m e n , daß er »sich v o n allem Anspruch auf Realität ausdrücklich lossagt« 1 8 3 und als Schein v o n Realität, als Einbildung gilt, die u m die Unwirklichkeit ihrer Inhalte weiß. N u r durch diesen Dispens v o n theoretischen Absichten, die auf die Erkenntnis realer Objekte, sowie v o n praktischen, die auf deren Veränderung oder K o n s u m p t i o n abzielen, ist ein Zusammenspiel v o n Einbildungskraft und Verstand, deren »eigene absolute Gesetzgebung« möglich, 1 8 4 welche das »Herrscherrecht« des Kunstschein und Wirklichkeit trennenden Menschen verbürgt: 185 Aber er besitzt dieses souveräne Recht schlechterdings auch nur in der Welt des Scheins, in dem wesenlosen Reich der Einbildungskraft, und nur, solang' er sich im Theoretischen gewissenhaft enthält, Existenz davon auszusagen, und solang' er im Praktischen darauf Verzicht tut, Existenz dadurch zu erteilen. Sie sehen hieraus, daß der Dichter auf gleiche Weise aus seinen Grenzen tritt, wenn er seinem Ideal Existenz beilegt, und wenn er eine bestimmte Existenz damit bezweckt. Denn beides kann er nicht anders zu Stande bringen, als indem er entweder sein Dichterrecht überschreitet, durch das Ideal in das Gebiet der Erfahrung greift und durch die bloße Möglichkeit wirkliches Dasein zu bestimmen sich anmaßt, oder indem er sein Dichterrecht aufgibt, die Erfahrung in das Gebiet des Ideals greifen läßt und die Möglichkeit auf die Bedingungen der Wirklichkeit einschränkt. Sind s o im »reinen Schein« die Grenzen zwischen Dasein und Erscheinung, Ästhetischem und Wirklichem »auf ewig gesichert«, 1 8 6 so ist eine Interpreta181 182 183

26. Brief, S.196. 27. Brief, S.214. 26. Brief, S.196.

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Ebd. S. 202. Ebd. S. 196. Ebd. S. 200, 202. 305

tion des »ästhetischen Staates«, für den Schillers vorausgegangene Begriffsbestimmungen des Ästhetischen ihre Gültigkeit behalten, als einer realpolitischen Konzeption unmöglich. Damit aber ist die Frage zu stellen, weshalb Schiller denn das Reich des schönen Scheins schließlich mit dem dezidiert politischen Begriff des Staates belegt bzw. was die Staatlichkeit des ästhetischen Bereiches ausmacht. Sicherlich wird der Begriff des Staates hier nicht als inhaltsleere, bloß mechanische Parallelbenennung zum dynamischen und ethischen bzw. Not- und Vernunftstaat verwendet187 noch der zuvor auf strenge Trennung von der Wirklichkeit insistierende Scheinbegriff aufgegeben, der als unabdingbares Begriffsmoment des Ästhetischen entwickelt wurde. So läßt sich unzweideutig an der Konstruktion des »ästhetischen Staates« ablesen, daß Schiller im Begriff des Staates den deiktischen Charakter des Scheins, dessen Verweisungscharakter auf eine wirkliche vernünftige, politische Praxis hervorgekehrt und expliziert hat. Der »ästhetische >StaatStaatStaats der Freiheit«. 188 Der politische Anspruch, das Ästhetische möge wirklich werden, bleibt auch in dieser Verengung des ästhetischen Zirkels bestehen und wird zur Geltung gebracht, indem Schiller diese Autonomie des Ästhetischen mit dem Begriff »Staat« belegt. Neben der Bestimmung des »ästhetischen >StaatesStaat«< (Typl) durch die politische Metapher auf das Glücken der Expansion des »ästhetischen Zirkels« zum realpolitisch gemeinten »ästhetischen Staat« (Typ II) in geschichtsutopischem Sinne bezogen, so drückt sich doch innerhalb des autonomen ästhetischen Eigenbereiches der Expansionswunsch aus, indem einzelne ästhetische Gebilde oder Vorstellungen nicht in dieser Vereinzelung verbleiben, sondern zu einer alle ästhetischen Phänomene umfassenden »staatlichen« Totalität versammelt werden. Indem »Staat« diese Zusammenstellung aller ästhetischen Befunde wie auch den über den schönen Schein hinausweisenden Anspruch des Ästhetischen meint, werden der Expansionswunsch eines Ubertritts der Kunst in Realität wie die von diesem Wunsch zeugende expansive Bewegung innerhalb des ästhetischen Bereiches selbst in ihrer Bezogenheit aufeinander benannt. In dieser — im ästhetischen Bereich selbst eingefangenen — romantischen Expansionsbewegung, in der sich dessen deiktischer Charakter kundtut, hat Schillers Konstruktion eines »ästhetischen >StaatesStaatStaatorder of wordsStaatStaatStaatesStaatesästhetische Staat« lasse sich wie >die reine Kirche und die reine Republik« nur in »einigen wenigen auserlesenen Zirkeln« antreffen, entlarvt die versprochenen politischen Gratifikationen als reine Fiktionen. Mein Einwand, daß die Aporien politischen Handelns im Handlungssystem >Kunst< auf anderer Ebene wiederkehren, kommt hier insofern zur Geltung, als der »Staat des schönen Scheins« nun unter Abzug politischer Illusionen zum exklusiven Kreis von Künstlern und Kunstliebhabern degeneriert, in welchem die Probleme der Erziehung zur Ästhetik bereits gelöst, kunstfremde Einstellungen und Vorurteilsstrukturen bereits abgebaut sind«. (S. 372). Strenger zu scheiden wären jedoch die Schillersche Konstruktion und die ihr eigenen Postulate, die diesen widerständigen bestimmten sozialen und historischen Bedingungen (in Deutschland um 1800) sowie die spätbürgerliche Rezeption dieser Denkmotive. Erst unter Beachtung der Differenzen dieser Argumentationsebenen können statt eines Verdiktes über »die aporetische Struktur seines (Schillers) Lösungsversuchs« (S.371) dessen Möglichkeiten und Grenzen hervortreten. Vgl. unseren Abschnitt2.1.5., S. 358—360.

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der Staatlichkeit des Ästhetischen bei Schiller den Anspruch auf allgemeine Realisierung hervorkehren. Nicht Schillers theoretischer Konzeption also haftet der Verlust des Anspruches auf Allgemeinheit an, sondern es ist genauer zu fragen, was dessen Realisierung in der Empirie entgegensteht. Der Weg der »innern Gesetzgebung« zur individuellen harmonischen Kultivierung der Vermögen war an eine weitgehend gesicherte, bestimmte materielle Basis gebunden: Zu seiner Unabhängigkeit (des Bürgers als Nachfolger des Aristokraten) gehörte nicht zuletzt auch das Interesse an der eigenen Kultivierung... Die Anstrengung war sinnvoll, weil die materielle Basis der Individualität nicht völlig ungesichert war. Obgleich die Massen nicht die Stellung des Bürgers anstreben konnten, bildete das Vorhandensein einer relativ zahlreichen Klasse von Individuen, die wirklich an humanistischen Werten interessiert waren, den Hintergrund für die Art theoretischen Denkens wie auch für die der künstlerischen Manifestationen, die vermöge ihrer immanenten Wahrheit die Bedürfnisse der Gesamtgesellschaft ausdrücken.264 Solche Verflechtungen der Konzeption einer »ästhetischen Erziehung« mit der materiellen Basis der Individuen, ihren sozialen Ungleichheiten und U n sicherheiten, mußten in Widerspruch zu dem demokratischen Anspruch geraten, den Schiller mit seinen volkspädagogischen Überlegungen verband. Schiller glaubt, die Problematik einer schichtenspezifischen, institutionell vermittelten Bildung aufgrund der Unmittelbarkeit des Ästhetischen in einseitigem Hinblick auf die voraussetzungslos in jedem Individuum zu realisierende Allgemeinvernunft umgehen zu können. 2 6 5 Die Abhängigkeit der Vervollkommnung des Menschen von seiner sozialen Rolle geht aus Schillers Klage in den »Ästhetischen Briefen« über die Folgen der Arbeitsteilung hervor und wird in »Uber naive und sentimentalische Dichtung« angesprochen. Schiller will sich hier nach einer Klasse von Menschen umsehen, welche, ohne zu arbeiten, tätig ist und idealisieren kann, ohne zu schwärmen; welche alle Realitäten des Lebens mit den wenigstmöglichen Schranken desselben in sich vereiniget und vom Strome der Begebenheiten getragen wird, ohne der Raub desselben zu werden. Nur eine solche Klasse kann das schöne Ganze menschlicher Natur, welches durch jede Arbeit augenblicklich und durch ein arbeitendes Leben anhaltend zerstört wird, aufbewahren und in allem, was rein menschlich ist, durch ihre Gefühle dem allgemeinen Urteil Gesetze geben. Ob eine solche Klasse wirklich existiere, oder ob diejenige, welche unter ähnlichen äußern Verhältnissen wirklich existiert, diesem Begriffe auch im Innern entspreche, ist eine andere Frage, mit der ich hier nichts zu schaffen habe.266

264 265

266

Horkheimer, »Zur Kritik der instrumenteilen Vernunft«, a.a.O., S. 254. Horkheimer, »Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie...«, a.a.O., S. 52f. und 63. Hanser Bd. V, S. 768.

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Auch diese hypothetische Volksklasse, die dank ihrer gesicherten materiellen Existenz die Möglichkeit nutzen könnte, ästhetische Erziehung als individuell geleistete Triebkultivierung zu realisieren, wäre wie die im 27. Brief angedeuteten Bildungszirkel nur als Wegbereiter des »ästhetischen Staates« aller Volksklassen zu verstehen. Nach Schillers Gedankengängen kann sich der »ästhetische Staat«, dessen Grundgesetze Freiheit und Gleichheit aller Bürger sein sollen, 2 ' 7 in der Exklusivität selbstgenügsam sich abkapselnder Bildungszirkel gar nicht unbeschadet realisieren, denn diese treten nicht an die Stelle, sondern sind wie die Logen Stellvertreter des noch zu verwirklichenden Staates.268 Damit deutet sich ein Gedanke an, der in Schillers Ästhetik nicht ausreichend entwickelt wird. Insofern nur eine bestimmte Volksklasse »das schöne Ganze menschlicher Natur« ausprägt, nur der Bildungszirkel oder das vereinzelte Individuum, bleibt solche Harmonie unvollendet oder negiert, zerfällt sie in den Versuch der Harmonisierung auf dem Weg der »innern Gesetzgebung«, welcher in der Reziprozität von Selbst- und Gesellschaftsreform die äußere Umgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, welche die Kultivierung der Allgemeinheit noch verhindern, einzubeziehen hätte. Die Interdependenz der Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit führt Schiller, der den Zirkel der wechselseitigen »Verbesserung im Politischen« und »Veredlung des Charakters« durchbrechen möchte, in den neuen Zirkelschluß, daß ästhetische Erziehung eine Erziehung zum Ästhetischen im Sinne der Schaffung einer dessen Rezeption ermöglichenden sozialen Basis voraussetzt.269 Erst in dieser Notwendigkeit einer Komplettierung ästhetischer Theorie durch Modelle des politischen Handelns und der Gesellschaftsreform wird die Begrenzung des Schillerschen Gedankens der »ästhetischen Erziehung« deutlich, die dessen aufklärenden, fortschrittlichen Momenten entgegensteht. Die bei Schiller angesprochenen Bildungszirkel des »ästhetischen >StaatesStaatesStaateshighest impersonations«. The a c companiment rather than the core of drama has corrupted«. Ebd., S. 37. Vgl. die die Bedeutung der »Vorlesungen...« besonders hervorhebende Arbeit von Körner, Josef: »Die Botschaft der deutschen Romantik an Europa«, Augsburg 1929; S.32 zusammenfassend über A.W. Schlegels »Vorlesungen«: »Die 2.Vorle-

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King Lear... may be judged to be the most perfect specimen of the dramatic art existing in the world; in spite of the narrow conditions to which the poet was subjected by the ignorance of the philosophy of the drama which has prevailed in modern Europe.8 Trotz solcher Anerkennung Shakespeares erscheint vor dem Hintergrund des antiken Dramas die moderne Dramenform als prinzipiell ungeeignet, die poetische Vorstellung des Künstlers angemessen und umfassend zu verwirklichen, da diese für Shelley auf eine die Trennung der Kunst in die Künste überwindende, diese vereinigende poetische Realisierung hin angelegt ist. Der Gegensatz von »inspiration« bzw. »original conceptions« und »composition« kehrt hier wieder und läßt auch die vereinzelte Kunstgattung als Augenblick erscheinen, in dem sich »poetry« flüchtig und fragmentarisch realisiert. 9 On the modern stage a few only of the elements capable of expressing the poet's conception are employed at once. We have tragedy without music and dancing; and sung handelt vom Unterschied des Poetischen und Theatralischen... vom Theater als Gesamtkunstwerk... Aber das Beste, was der Verfasser über diese Begriffe zu äußern hat, findet sich nicht hier beisammen, sondern ist durch die folgenden 5 Vorlesungen verstreut, die das griechische Theater darstellen«. — Eine Wiedergeburt des antiken Dramas hielt A.W. Schlegel kaum für möglich: »Uberhaupt möchte wohl die griechische Tragödie in ganz unveränderter Gestalt für unsre heutigen Theater immer eine ausländische Pflanze bleiben, der man kaum im Treibhaus gelehrter Kunstübung und Kunstbeschauung einiges Gedeihen versprechen darf. Der Stoff der alten Tragödie, die griechische Mythologie, ist der Denkart und Einbildungskraft der meisten Zuschauer ebenso fremd als deren Form und theatralische Darstellungsweise. Einen ganz andern Stoff aber, z. B. einen historischen, in jene Form zwängen zu wollen, ist ein mißlicher Versuch, ohne Hoffnung des Ersatzes unter den offenbarsten Nachteilen«. August Wilhelm Schlegel, »Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur«. Erster Teil ( = Kritische Schriften und Briefe Bd.V). Lohner, Edgar (Hrsg.), Stuttgart etc. 1966, Fünfte Vorlesung, S. 66. In Mary Shelley's »Journal«, 16., 20. und 21.3. 1818, wird berichtet, Shelley habe auf der Reise nach Italien seinen Begleiterinnen aus Werken von Schlegel vorgelesen. Vgl. Jones, FrederickL. (ed.): »Mary Shelley's >JournalFaust< (2nd part) are permeated with myth and symbolism of the Schlegel — Novalis variety, and since, paradoxically, Schiller (unromantic to the Germans) is considered in France to be eminently romantic. 2 " In der französischen wie angloamerikanischen Literaturgeschichtsschreibung wird der deutschen Antithese von Klassik und Romantik mit allgemeiner Nichtachtung begegnet. Die von P. Boerner gesammelte Ubersicht über diese englische und französische Nichtachtung einer nur in Deutschland florierenden Periodisierung kann dazu beitragen, die Legende von einer »Weimarer Klassik« Goethes und Schillers zu zerstören. 262 Freilich ist die bloße 259

Brown, Marshall: »The Shape of German Romanticism«. Ithaca und London 1979. S. 14. 260 >jjr ]j Fleischmann: »Classicism«. In: Preminger, Alex (ed.): »Encyclopedia of poetry and poetics«, Princeton 1965, S. 141. 261 Weinberg, Kurt: Romanticism. In: Preminger, a.a.O., S. 719. (Zu Schillers Rezeption in Frankreich S. 720 f.). 262 Peter Boerner: »Die deutsche Klassik im Urteil des Auslands«, in: Grimm, Reinhold / Hermand, Jost (Hrsg.): »Die Klassik — Legende«, Frankfurt/M. 1971, S. 79-107. Die Ablehnung des deutschen Klassikkonzeptes ergibt sich auch aus der Dominanz der französischen Klassizismusvorstellung, die sich mit Racine, Corneille oder Molière verbindet und die europäische Literaturgeschichtsschreibung prägte. »Das Resultat ist, daß heutzutage fast alle einschlägigen, außerhalb des deutschen Sprachraums erschienenen Literaturgeschichten die »deutsche Klassik< in der französi433

Nichtachtung der deutschen Unterscheidung noch keine Problematisierung, vielmehr ist diese Nichtachtung oder Ablehnung einer deutschen Klassik nur Schillers und Goethes, eines Klischees unserer Literaturgeschichtsschreibung, selbst von Klischees nicht frei, etwa dem des Deutschen als Romantiker schlechthin, wobei Wanderlust und Alt-Heidelberg gängige Assoziationen bilden. 263 Schon 1831 konnte Carlyle in einem Artikel über Schiller beruhigt feststellen: With ourselves too, who are troubled with no controversies on Romanticism and Classicism... Schiller is no less universally esteemed by persons of any feeling for poetry. 2 6 4

Carlyle rechnet Schiller — der »romantischen« Rezeption Coleridges folgend265 — zur Romantik: Indeed, to the Romanticist class, in all countries, Schiller is naturally the pattern man and great master.. . 2 6 6

Die Antithese klassisch-romantisch, die schon bei den außerdeutschen Zeitgenossen auf Ablehnung stieß, tauchte zuerst bei F. Schlegel auf (»Das Athenaeum«, 1798) und diente ihm zur Definition des Eigenwertes der modernen, romantischen Poesie gegenüber der antiken, einer Abgrenzung, wie Schiller sie in ihren grundsätzlichen Zügen bereits vorgenommen hatte. Zugleich grenzte die Schlegelsche Konzeption der Romantik sich von der »Klassik« Goethes ab. 267 Von Beginn an war diese Antithese Ausfluß der deutschen »Querelle des anciens et des modernes« und mit Polemik, Rivali-

schen oder vielfach auch in der englischen Version darstellen, das heißt als >die Zeit Goethes und Schillers< oder schlechtweg als >Romantikromantisch< tragen«. 263

Siehe Boerner, a.a.O., S.90—93, S . 9 3 : »So sehr solche Urteile aus dem Munde angesehener Forscher überraschen, so sehr helfen sie uns doch zu verstehen, warum unsere Nachbarn nicht gern von einer deutschen Klassik< sprechen. Eine Enttäuschung bedeutet es freilich für den deutschen Kritiker, der sich mit Hilfe ausländischer Urteile von ihm abgenutzt erscheinenden Begriffen der deutschen Forschung lösen will, auch in diesen Urteilen wieder auf bedauernswerte Klischees zu stoßen«.

264

Carlyle, Thomas: »The Works of Th. C . in Thirty Volumes«. Centenary Edition. Vol. X X V I I : Critical and Miscellaneous Essays. II. London 1899. S. 171 (»Frazer's Magazine« N o . 14). Hierzu Boerner, a.a.O., S. 8 5 - 8 7 . Carlyle, a.a.O., S. 171. Fleischmann, a.a.O., S. 140.

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täten, persönlichen Querelen aufgeladen. 268 Eine jüngere Dichtergeneration suchte sich von den Größen in Weimar abzusetzen und formulierte ihr eigenes Selbstverständnis. Die Polemik, die dabei entstand, wurde durch Polemik erwidert. Sie spitzte sich in Goethes bekannter Äußerung gegenüber Eckermann (1820) zu, das Klassische sei das Gesunde, das Romantische das Kranke, 2 6 9 die trotz ihrer Dürftigkeit bis ins 20. Jahrhundert hinein die Vorstellung von Klassik und Romantik geprägt hat. 2 7 0 Goethes Warnung in dem Aufsatz »Literarischer Sansculottismus« (1795) dagegen erschien den Kritikern weniger bemerkenswert. Goethe gibt hier zu bedenken: Wer mit den Worten, deren er sich im Sprechen oder Schreiben bedient, bestimmte Begriffe zu verbinden für eine unerläßliche Pflicht hält, wird die Ausdrücke: klassischer Autor, klassisches Werk höchst selten gebrauchen.271 Die deutsche Literaturgeschichtsschreibung jedoch ist der Versuchung erlegen, die Einteilung der Dichter in Romantiker und Klassiker zu übernehmen, zumal wenn hinter dieser Einteilung die Autorität der Dichter selbst zu stehen schien. Die Frage, ob es sich nur um scheinbare Dualismen und Antithesen handelte, ob diese (Selbst-)Klassifizierungen rivalisierender Gruppen für den nach historisch-begrifflicher Fundierung seiner Einteilungen suchenden Literarhistoriker tauglich sind, wurde dabei allzu oft übergangen. 272 Die Frage nach der Gültigkeit der Bezeichnung »Weimarer Klassik« muß somit trennen zwischen den vielfach mit Polemik aufgeladenen Abgrenzungs268

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272

Den Zusammenhang mit der vorausgegangenen französischen »Querelle« beleuchtet Jauß, Hans Robert: »Schlegels und Schillers Replik auf die >Querelle des Anciens et des Modernesromantic< varies in the different countries considerably... Surely, all these facts (even though the dates may be corrected) point to the conclusion that the history of the term and its introduction cannot regulate the usage of the modern historian, since he would be forced to recognize milestones in his history which are not justified by the actual state of the literatures in question. The great changes happened, independently of the introduction of these terms either before or after them and only rarely approximately at the same time«. 435

versuchen der Künstler und Theoretiker um 1800 und einer historisch-wissenschaftlich begründeten Periodisierung der deutschen Literaturgeschichte. Ebenso sei an die Differenz erinnert zwischen der Motivation eines Dichters, etwa ein klassi(zisti)sches Werk zu schaffen und der poetischen Verwirklichung, die ja alle Merkmale des Romantischen aufweisen könnte. Ferner muß das Selbstverständnis der »Weimarer Klassiker«, wie es etwa aus Schillers Abhandlung hervorgeht, von einer verfälschenden, Legenden bildenden Klassikerrezeption der Folgezeit unterschieden werden. Bevor wir von der ästhetischen Theorie Schillers her fragen, wie sich sein Selbstverständnis zu der Vorstellung einer »Weimarer Klassik« verhält, welche Beziehung zwischen Schillers Klassizismus und der Romantik zu entwickeln ist, soll zunächst den geläufigen Bedeutungen von Klassik bzw. Klassizismus nachgegangen werden. Premingers »Encyclopedia of Poetry and Poetics« unterscheidet sechs Bedeutungen von »classicism« bzw. »classic(al)« und stellt schließlich die Frage, ob der Klassizismusbegriff angesichts der Vielzahl seiner divergierenden Bedeutungen noch eine nützliche Funktion erfülle. Große Vorsicht beim Gebrauch dieses Begriffes sei zumindest geraten. Eine einigermaßen kohärente, doch recht weitläufige Bedeutung erhält der Begriff Klassizismus in seiner Anwendung auf die französische Literatur und die von ihr beeinflußten literarischen Strömungen in Europa. Dieser französische Klassizismus Corneilles, Racines oder Molières (1660—1700) wurde geprägt durch den Kanon der »Art Poétique« Boileaus, der die Horazisch-Aristotelische Tradition aufgriff. Auch in England meint das W o r t »classicism«, das sich mit den Namen Dryden und Pope verbindet, einen in dieser Boileauschen Tradition stehenden Klassizismus: 2 7 3 In one measure or the other, however, French neoclassical doctrine became known and imitated in the 18th-c. literature of almost every European country — Sweden, Denmark, Holland, Russia, Poland, and Hungary all had their >classical< periods under French influence. Thus the term classicism, in the critical sense, refers, in most European literary histories, to the imitation of Greek and Latin models by Boileau's rules, or to the emulation of French works >classical< by virtue of their Horatian-Aristotelian character. — The main exception to this rule is German literary historiography, where cl(assicism) (>KlassikKlassizismus, Klassikromantic< and >Victorian< poets of the 19th c. than among the avowed followers of Boileau in the late 17th and 18th c. Historians of Eng. letters have, especially of late, chosen to speak of classical >context< and >aspects< related to individual works or groups of writers — a definition of cl. in Eng. literature, based on these phenomena, is yet to be formed. 275

Dieser ebenso für die deutsche Literaturgeschichte zutreffende Sachverhalt veranlaßt Wellek zu einer freilich recht behutsam formulierten Kritik an der deutschen Antithese von Klassik und Romantik: There was, one must admit, a pronounced stage of Hellenism in the German movement; its roots are in Winckelmann, an ardent student of Shaftesbury, and this Hellenic enthusiasm early became extremely fervid in Germany... Still, one need not speak of a >Tyranny of Greece over Germanyclassicism< and >romanticismklassisch< bei Goethe und Schiller«) und Wilfried Malsch (»Die geistesgeschichtliche Legende der deutschen Klassik«) (beide in: »Die Klassiklegende«, a.a.O.,) untersuchen den Begriff »Klassik« in erster Linie wortgeschichtlich, sammeln Äußerungen zum Selbstverständnis Goethes und Schillers und zur vielfach verfälschenden Einschätzung beider Dichter in einer »Klassik«-rezeption. Schillers Begriff des Sentimentalischen sowie grundsätzliche, sich aus Schillers ästhetischer Theorie ergebende Überlegungen kommen dabei nicht zum Tragen.

442

d e u t e . 2 9 7 A u c h Schillers Ü b e r l e g u n g e n in der A b h a n d l u n g verdecken in der K o n s t r u k t i o n zweier Schönheiten, die in plastischer B e g r e n z u n g und u n e n d lichem G e d a n k e n r e i c h t u m gründen sollen, n u r die Einsicht, daß Schönheit selbst d e m G a n g d e r G e s c h i c h t e unterliegt: Man hätte deswegen alte und moderne — naive und sentimentalische — Dichter entweder gar nicht oder nur unter einem gemeinschaftlichen höhern Begriff (einen solchen gibt es wirklich) miteinander vergleichen sollen. Denn freilich, wenn man den Gattungsbegriff der Poesie zuvor einseitig aus den Poeten abstrahiert hat, so ist nichts leichter, aber auch nichts trivialer, als die modernen gegen sie herabzusetzen. Wenn man nur das Poesie nennt, was zu allen Zeiten auf die einfältige Natur gleichförmig wirkte, so kann es nicht anders sein, als daß man die neuern Poeten gerade in ihrer eigensten und erhabensten Schönheit den Namen der Dichter wird streitig machen müssen, weil sie gerade hier nur zu dem Zögling der Kunst sprechen und der einfältigen Natur nichts zu sagen h a b e n . . . Keinem Vernünftigen kann es einfallen, in demjenigen, worin Homer groß ist, irgendeinen Neuern ihm an die Seite stellen zu wollen, und es klingt lächerlich genug, wenn man einen Milton oder Klopstock mit dem Namen eines neuern Homer beehrt sieht. Ebensowenig aber wird irgendein alter Dichter und am wenigsten Homer in demjenigen, was den modernen Dichter charakteristisch auszeichnet, die Vergleichung mit demselben aushalten können. Jener, möchte ich es ausdrücken, ist mächtig durch die Kunst der Begrenzung; dieser ist es durch die Kunst des Unendlichen. 298 D a s Gingeständnis, daß Schönheit m i t der A n t i k e vergangen ist, m ö c h t e Schillers Klassizismus umgehen. Dieser orientiert sich an der Vollendung sentimentalischer Poesie in der »idealischen« u n d deren klassisch-moderner Schönheit, in w e l c h e m U m s c h l a g der essentiell p r o z e ß h a f t e sentimentalische K u n s t c h a r a k t e r d o c h ü b e r w u n d e n w ä r e . Diese U b e r w i n d u n g verweist — wie an Schillers Ü b e r l e g u n g e n z u m Idyllenprojekt deutlich — auf die Ü b e r w i n d u n g der realgeschichtlichen W i d e r s p r ü c h e i m »ästhetischen Staat«. So ist es fraglich, ob in der Neuzeit das Verfahren des poetischen Geistes seine Vollendung in der Kunst hat; ob das Zeugnis dieser Vollendung, der reifen Humanität des sich in schöner Individualität zum Objekt gewordenen Ich, noch ein Kunstwerk i s t . . . ob das in Frage stehende Werk des Vollendungszustands überhaupt gattungspoetisch bestimmbar sei; ob es nicht jenseits aller Gattungen, weil nämlich jenseits von Dichtung, die Realität einer gelungenen Lebenspraxis i s t . . . Schönheit der Kunst fällt so — unwiederbringlich — der Antike zu; Wiederkunft der Schönheit, so deutet sich an, wird nicht als Kunst, sondern als Wirklichkeit zu erwarten sein. Solange aber Kunst nachantik gelingt, gelingt sie als nicht mehr schöne Kunst, die des Eintritts des aus der Kunst geschiedenen Schönen in die Wirklichkeit harrt«. 2 " 297 2,8

299

Vgl. Jonas Bd. IV, S. 366 f. Hanser Bd. V, S. 718 f. — Schillers »Nänie« entwickelt den Gedanken, daß Schönheit vergänglich sei; jedoch wird dieses vanitas-Motiv hier historisch unspezifisch verwendet und bleibt ohne Folge für eine Selbstreflexion postklassischer Dichtung. Siehe Hofmann / Lenz, a.a.O., S.250f. in Bezug auf Hölderlins Klassizismus. 443

Diese Position einzubekennen weigert sich der Klassizismus Schillers, wiewohl sie in der Doppelheit der Begriffsmomente des »ästhetischen Staates« als Schein und Wirklichkeit, auf welche dieser verweist, angelegt ist. Indem solche »ästhetische« Wirklichkeit jedoch die Wiederkehr der Notwendigkeit des antiken Mythos heraufbeschwört, der moderne Freiheitsbegriff in solcher Vergegenständlichung der ihn tragenden prozeßhaften Momente verlustig geht, 300 hält die Insistenz des Klassizismus, daß Kunst schön und Schönheit in Kunst zu realisieren sei, an der Intention von Aufklärung fest, über für objektiv erachtete Einbildungen aufzuklären. Dieser Aspekt des Klassizismusproblems — wenn auch in Schillers ästhetischer Theorie nicht auf den Begriff gebracht — dürfte es verbieten, die klassizistische Eingrenzung des Schönen auf die Kunst gegenüber der Realutopie des »ästhetischen Staates« als das ideologische, die Zurücknahme fortschrittlicher Intentionen des Bürgertums involvierende Moment unbesehen einzuordnen. 301 Schillers Klassizismus gründet in der Insistenz auf der Schönheit auch sentimentalischer Poesie, der doch die geschichtliche Situation der Moderne und der für diese von Schiller selbst entwickelte Poesiebegriff entgegensteht. Denn dieser »Begriff der Vollendbarkeit« wird gefaßt in einem Geschichtszusammenhang, der selber in Entwicklung begriffen . . . und daher kein perennierender Grund für einen gleichbleibenden Modus menschlicher Vollendung.. .(ist). 3 0 2

Schillers Klassizismus erweist sich im Kontext ästhetischer Theorie als romantischer Klassizismus, insofern Begrenzung und antikische Durchformung des sentimentalischen Kunstgebildes Gegenstand unendlicher Suche im übergreifenden Zusammenhang der »Kunst des Unendlichen« bleiben. Den dialektischen Verschränkungen dieser Bewegungen wäre — gerade in der Analyse der poetischen Praxis — nachzugehen und zu zeigen, wie Schillers Klassizismus dem unendlichen Progreß romantischer Poesie eine Begrenzung des Poetischen im Kunstgebilde entgegenzusetzen sucht, indem sich dieses an der Schönheit antiker Kunst orientiert und doch in deren U n wiederbringlichkeit»entgrenzt« wird. Die Suche der »sentimentalischen« Einbildungskraft nach vollendeter Ineinsbildung von Anschauung und Begriff, das in der poetischen Praxis sich gegen diese klassizistische Intention dartuende Hervortreiben der Unmöglichkeit und Ungültigkeit solcher Ver-

500 301 302

Vgl. hierzu S.204f., 211, 3 1 9 - 3 2 2 unserer Arbeit. Vgl. z . B . Ewers, a.a.O., passim. Vgl. Hofmann / Lenz, a.a.O., S.250. Eben diesen Gegensatz von antiker Vollendung und Offenheit der modernen geschichtlichen Situation, in die der Klassizismus die antike Ganzheit durch die Kunst hineintragen möchte, arbeitet Schiller in der Abhandlung heraus; vgl. das Zitat oben S. 443 (Hanser Bd. V, S. 718f.).

444

s ö h n u n g w ä r e dabei m i t poetologischen Kategorien anzugehen, die den G o e t h e s c h e n Symbolbegriff hinsichtlich der Leistungen r o m a n t i s c h e r Poesie z u differenzieren hätten. E r s t dieses U b e r d e n k e n des Symbolbegriffs aus den » M a x i m e n u n d Reflex i o n e n « , der allzu unbesehen den K e r n der uns geläufig g e w o r d e n e n V o r stellung v o n einer » W e i m a r e r Klassik« bildet, k ö n n t e die an Schillers D i c h tung im übereinstimmenden U r t e i l seiner Interpreten h e r v o r g e h o b e n e » A b straktheit« in einen P r o b l e m h o r i z o n t rücken, der die individualpsychologische Fragestellung n a c h der E i g e n a r t der Schillerschen Dichterpersönlichkeit transzendiert. V o n C a r l y l e , 3 0 3 der die frühe deutsche Schillerrezeption in den wesentlichen P u n k t e n in E n g l a n d zusammenfassend wiedergibt, bis hin z u Staiger, 3 0 4 v. W i e s e und W . A d o r n o ist der Stilzug z u r Abstraktheit h e r 303

Bereits in den Äußerungen Carlyles, des frühen Kritikers und Vermittlers Schillers in England, versammeln sich die wesentlichen Motive auch der späteren Schillerrezeption (Carlyle, Thomas: »The Works of Th. C . in Thirty Volumes«. Centenary Edition. Vol. X X V I I , Critical and Miscellaneous Essays II. London 1899, S. 165—216): » . . . every finite t h i n g . . . is as a window, through which solemn vistas are opened into Infinitude itself«. Carlyle setzt Schiller von Goethe ab, der als der reinere Dichter erscheint, da ihm jener Schillersche Zug zum Abstrakten fremd sei: »Herein Schiller, as indeed he himself was modestly aware, differs essentially from most great poets; and from none more than from his great contemporary G o e t h e . . . Less in rising into lofty abstractions lies the difficulty, than seeing well and lovingly the complexities of what is at hand«. (S. 199). »No one knew better than himself (Schiller) that Goethe was a born Poet, so he was in great part a made P o e t . . . « (S. 214). So relativiert Carlyle — wenn auch in durchgängig psychologisierender Betrachtungsweise — den Begriff des ästhetischen »Spiels« für Schillers eigene Dichtung (S. 201): »His works are full of laboured earnestness; he is the gravest of all writers... he himself attains not the height which he saw so clearly; to the last the >Spieltrieb< could be little more than a theory with h i m . . . A rigid intensity, a serious enthusiastic ardour, majesty rather than grace, still more than lightness or sportfulness, characterises him«.

304

Emil Staiger, »Friedrich Schiller«, Zürich 1967. Bes. S. 9 8 - 1 0 0 . Auch noch Adornos beiläufiges Urteil sei hier erwähnt, Schiller habe »Philosophie als poetischen Vorwurf ausgeschlachtet« (»Versuch, das Endspiel zu verstehen«. I n : »Noten zur Literaturll«, Frankfurt/M. 1961, S. 191. Abwertend äußert sich Adorno auch im Aufsatz »Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie« (»Noten zur LiteraturlV«, Frankfurt/M. 1974, S . 7 - 3 3 ) : Goethes Werk, dem die Gewichtigkeit des Mythischen Dignität verleihe, unterscheide sich »vom Klassizismus Schillers, der die Kantische Ideenwelt zelebriert« »als freischwebend Verkündetes« (S. 8). Die mythische Schicht des Goetheschen Werkes, »kein Symbol für Ideen, sondern leibhaftige Verstricktheit in Natur« (S. 8), verleiht diesem — wenn auch in einem andersartigen Begründungszusammenhang als bei Staiger oder v. Wiese — eine Vorrangigkeit gegenüber Schillers »künstlicherem« Klasszismus. So lassen u. E. Adornos — freilich marginale — Urteile über Schiller jene Einsicht in die geschichtliche Dimension des Zerbrechens der »klassischen« Synthesis vermissen, wie es an Hölderlins »Parataxis« festgestellt wird; vgl. unsere S. 453f., 477.

445

vorgehoben worden, wie er an Schillers Lyrik vielleicht besonders hervortritt; v. Wieses Urteil über Schillers »Klassische Lyrik« kann als repräsentativ gelten: 305 Woran liegt es nun, daß in Schillers Gedichten das spezifisch >Lyrischeerlebt< wird, sondern erst durch das Gedicht selbst erreicht werden soll. Eben damit dürfte das wesentliche Charakteristikum der Suche sentimentalischer Poesie formuliert sein, doch wie Staiger sucht v. Wiese nach einem individualtypischen Spezifikum der Schillerschen Phantasie, wo doch eine grundsätzlichere, sich aus dem Klassizismusproblem ergebende Problematisierung des Vollendungsbegriffes von Kunst, wie er in der Konzeption des Symbolbegriffes nur poetologisch spezifiziert wird, vonnöten wäre. Nicht die Kritik an der Einseitigkeit des in Staigers Poetik 3 0 6 kanonisierten lyri305

306

v.Wiese, »Friedrich Schiller«, a.a.O., (Kap.21: »Die Klassische Lyrik«) S.565ff., 566. Staiger, »Grundbegriffe der Poetik«. Zürich 1946, München 1971. Als Prototyp des Lyrischen gilt Staiger das liedhafte Erlebnisgedicht. Lyrik in diesem Verständnis ist subjektiver Gefühlsausdruck, läßt sich von einer Stimmung tragen, geht im einzigartigen Augenblick, einem Besonderen auf. Dagegen unterstreicht Schiller gerade das an Lyrik, was für Staiger nicht eigentlich lyrisch ist, den Ausdruck von Ideen: Schillers Begriff des Naiven, dem Natur zur Idee wird, korrespondiert eine poetische Praxis, der sich Natur zur Idee verflüchtigt. Solche Lyrik kann für Staiger nicht anders als mit dem Makel des Unlyrischen behaftet sein. Erst die Verwunderung darüber, daß hier überhaupt Lyrik entstand, konstituiert in Staigers Sicht Schillers Größe, denn Lyrik, wird ihr Idealtypus so gesetzt, gehört zu den Schiller verwehrten Möglichkeiten von Dichtung. Schiller muß verschlossen bleiben, »was zu einem Dichter der Goethezeit wesentlich zu gehören scheint: ein Einverständnis irgendwelcher Art, ein trunkenes Allgefühl, eine mystische oder lyrische Innigkeit, eine Symbolik, durch die der Geist in der Natur, die ihn umgibt, Gleichnisse des inneren Seins entdeckt und so die Möglichkeit gewinnt, sich selber außen anzuschauen. Dies alles war Schiller versagt oder nur in unzureichendem Maße vergönnt. Weniger als die meisten seiner Zeitgenossen konnte er sich auf die Geschenke der Götter verlassen; mehr als alle andern blieb er angewiesen, auf seine Kraft, das Aufgebot seines eigenen Willens, auf seine Entschlossenheit und Geduld«. (»Friedrich Schiller«, a.a.O., S.415, ebenso S.22). Schillers Dichtung verrät die subjektive, bewußte Anstrengung, die sich von der — wie auch immer prätendierten oder unterstellten — Unmittelbarkeit Goethescher Erlebnislyrik unterscheidet. Von Reflexion durchdrungen, erscheint Schillers »Gedankenlyrik« weniger als subjektiver Gefühlsausdruck, sondern strahlt eine dem Gedanklichen eigene Abstraktheit aus. Doch dem wahrhaft lyrischen Dichter bleibt nur übrig, die »Gunst der Ubereinstimmung zu erwarten... Ein ungeheuerliches Dasein, das die Beseligungen der Gnade mit einer erschütternden Hilflosigkeit in allem, was Verdienst ist, erkauft...« (»Grundbegriffe der Poetik«, a.a.O., S.61).

446

sehen Ideals der »Erlebnispoesie« muß so in den Mittelpunkt gerückt werden (Storz) 307 oder das Aufdecken der emblematischen Tradition (Vosskamp), 308 in der Schiller steht, sondern die geschichtliche Dimensionierung der »Struktur der Schillerschen Phantasie«, 309 deren Abstraktheit im Kontext des Aufklärungsprozesses zu untersuchen ist. Schillers Phantasie sucht fast durchweg das Konkrete und Individuelle zu generalisieren und damit ins generisch Objektive zu erheben, es auf seine weiteste Bedeutung zu bringen, so daß sich mit einer einzelnen generischen Anschauung ihr Allgemeines noch gleichsam mitdenken läßt, mit einem König Königtum überhaupt, mit einem Priester Priestertwm überhaupt, mit einem Schiff Schiffahrt überhaupt usw., während umgekehrt begriffliche Abstraktionen und Ideen in genau entgegen-

307

Überzeugend wendet Gerhard Storz (»Gesichtspunkte für die Betrachtung von Schillers Lyrik«, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 2 5 9 - 2 7 4 , S.260) ein: » . . . ja gerade die Lehrgedichte entspringen dem Drang, den man unter dem Eindruck der Erlebnisdichtung als den eigentlich lyrischen Impuls geradezu kanonisiert hat, nämlich dem Verlangen nach Konfession und Selbstkundgabe«. Zu Schillers »Gedankenlyrik« als Bekenntnisdichtung s. auch ebd., S.269. Storz' Einwand muß gegen v. Wiese vorgebracht werden, der die Schillersche Darstellungsart vom Goetheschen Erlebnisgedicht dadurch unterscheidet, »daß die eigene individuelle Person und ihr jeweiliges Gestimmtsein nicht selber Gegenstand des Gedichtes werden« (v.Wiese, a.a.O., S. 569). Doch nicht nur bleibt die Einseitigkeit eines lyrischen Ideals zu kritisieren, das sich ausschließlich an der Erlebnislyrik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts orientiert, eine Einseitigkeit, der etwa Hölderlins Hymnendichtung lange Zeit zum Opfer fiel. Auch nicht die Bedenken gegenüber dem, was an der sog. »Erlebnislyrik« geschätzt bzw. dieser angedichtet und dann zum lyrischen Ideal erhoben wird, das Lob der Gefühlsseligkeit und unzeitgemäßer dichterischer Naivität, auf deren etwaige Vereitelung im Gedichteten selbst nicht reflektiert wird, sollen hier Thema werden. So wichtig der Einwand von Storz und die Kritik an Einseitigkeiten der Lyrikdefinition sind, so werden solche poetologisch—gattungsmäßigen Probleme doch von der primären Frage nach dem Vollendungsbegriff der Kunst der Moderne überlagert. Von hier aus muß der abstrakte und allegorische, im Goetheschen Symbolbegriff nicht aufgehende Charakter der Schillerschen Dichtung — vor allen gattungstypischen Diskussionen — verstanden werden.

308

Wilhelm Vosskamp (»Emblematisches Zitat und emblematische Struktur in Schillers Gedichten«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, X V I I I 1974, S. 388—406) untersucht diesen Traditionsstrang: Ausgehend von Ansätzen zu einer Emblemtheorie in der »Theosophie des Julius« umreißt Vosskamp die Einflüsse der emblematischen Tradition insbesondere in Schillers frühen Gedichten. Schiller trifft eine »punktuelle Auswahl aus dem europäischen Emblemmagazin« (S.400). Der Eindruck des Zitathaften, den diese Auswahl und die mit ihr notwendigen Erläuterungen für einen mit der Emblematik nicht mehr vertrauten Leser erwecken, indiziert das Ausklingen der Emblemtradition. Schillers poetische Klischees dürften als bewußtes Spielen mit Versatzstücken diese Tradition zu verstehen sein, wobei das Emblem als Sonderfall der Allegorie nur Beispiel für den generell abstrakten, allegorischen Charakter der Dichtung Schillers ist (hierzu im folgenden).

309

v.Wiese, a.a.O., S. 565 ff. zur »Struktur der Schillerschen Phantasie«; ebd., S.568.

447

gesetzter Bewegung dem Bildhaften angenähert werden und damit einen spezifischen Empfindungswert gewinnen.

Schillers poetische Bildersprache bewegt sich im Bereich der Allegorisierung von Begriffen bzw. der allegorischen Behandlung des Besonderen, so daß — um Goethes Allegoriedefinition zu zitieren — »der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen« ist. 310 Der Stilzug zur Abstraktheit der Schillerschen Lyrik ist der »generische«, allegorische Charakter ihrer Bildlichkeit. Als Folie für diese ausschließlich individualpsychologisch verstandene Eigentümlichkeit dient v. Wiese Goethes Fähigkeit, ganz im Sinne dessen Symbolbegriffes im Besonderen Allgemeines und Gattungsmäßiges aufzuspüren und in der Besonderheit des poetischen Bildes darzustellen.311 Schiller dagegen präsentiert Individuelles sub specie dessen Gattungscharakters und läßt so diesen Zug zum Abstrakten in die Bildlichkeit und Darstellung von Besonderem bzw. Individuellem eingehen. Solche Durchdringung der poetischen Darstellung mit Reflexion drückt sich aus in der Formelhaftigkeit der Schillerschen lyrischen Sprache, den festen Wendungen, in denen die allgemein gehaltenen Epitheta geradezu einem Zwang gehorchen, in der Nähe zum Klischee.312 Schiller legt bereits in die Wahrnehmung bzw. Vorstellung des einzelnen Gegenstandes Allgemeines hinein: Alle Bilder der Welt sind von vornherein auf das Große und Allgemeine hin entworfen, das in ihnen zum Ausdruck gelangt. Nur auf solche Weise geschaute Bilder können mit der auf Ideen gerichteten reflektierenden Kraft des Schillerschen Geistes in Ubereinstimmung gebracht werden. Unvermeidlich mußte Schiller dabei die Mannigfaltigkeit des Erfahrbaren reduzieren.. , } 1 3

Dennoch läßt Benno von Wiese aus dieser »gereinigten sinnlichen Sphäre«,314 dieser Präponderanz an Abstraktem in Schillers Lyrik, eine klassische »ästhetische Synthesis« hervorgehen:

310

311

312

313 3,4

Goethes Definition der Allegorie in den »Maximen und Reflexionen«, a.a.O., S. 813. Der emblematische Charakter der Lyrik Schillers (Vosskamp) wäre also als Sonderfall dieses generell Allegorischen zu behandeln. Vgl. v.Wiese, a.a.O., S. 569. Goethe definiert in den »Maximen und Reflexionen« (a.a.O., S. 689) die Allegorie in Absetzung von Schiller. Zu dieser »zarten Differenz«, wie Goethes versöhnliche Formulierung lautet, vgl. unsere S. 453 Anm. 333. Zum poetischen Klischee bei Schiller siehe Martin Dyck, a.a.O., S. 11 und seine Einleitung S. 7—9 passim. Dyck spricht von »Bildzwängen« angesichts der Schillerschen Tendenz zum Gebrauch eines festgelegten Bildrepertoires. Vgl. ebd., S. 15. v.Wiese, a.a.O., S.570. Ebd.

448

Indem Schiller die Anschauungen in die Nachbarschaft der Ideen bringt, ihnen etwas >Ideelles< abgewinnt, und die Ideen zu Anschauungen verdichtet, das heißt sie als etwas >Reelles< konkretisiert, erreicht er erst jenes für ihn so bezeichnende >GleichgewichtAufhebung< des Ideellen im Konkreten und des Konkreten im Ideellen >ästhetische Synthesis< nennen. 315 Diese freilich bleibt m i t d e m zugleich aufgewiesenen Stilzug der A b s t r a k t heit unvereinbar. So stößt v o n W i e s e auf die U n g e r e i m t h e i t zweier klassischer Synthesen, v o n denen Schillers v o m Individuellen stärker abstrahierende gegenüber G o e t h e zweitklassig b z w . — klassisch bleiben m u ß , w e n n er folgerichtig die Gültigkeit des G o e t h e s c h e n Symbolbegriffs für Schillers Gestaltungsweise — z w a r n u r i m einzelnen und nicht das W e r k g a n z e betreffend — in F r a g e stellt: Denn generalisierte (generische) Anschauungen als solche sind ebensowenig bereits Symbole wie anschaulich gewordene Begriffe. Symbolisches Gestalten im Sinne Goethes geht auf die Wahrnehmung des Allgemeinen im Individuellen. Schiller hingegen will das Besondere der Erscheinung solange vom Besonderen reinigen, bis die Erscheinung an das Allgemeine des Gedankens grenzt. 316 D e r Begriff der Allegorie drängt sich hier auf b z w . die N o t w e n d i g k e i t einer der B e s c h r e i b u n g sentimentalischer Poesie gemäßen Revision des klassischen, w e n n auch d u r c h G o e t h e s A u t o r i t ä t sanktionierten Symbolbegriffs. D a m i t w ä r e eine revidierende Diskussion des Klassikbegriffes u n v e r m e i d bar, die k a u m anders u m g a n g e n w e r d e n kann als d u r c h die A u s k l a m m e r u n g der geschichtlichen »Gesichtspunkte für die B e t r a c h t u n g v o n Schillers L y r i k « . 3 1 7 N u r in deren H e r a u s l ö s u n g aus d e m übergreifenden Z u s a m m e n h a n g der R o m a n t i k kann Schillers D i c h t u n g ein Vollendungsbegriff unterschoben w e r d e n , den Schiller selbst -nicht n u r generaliter, sondern auch in der C h a rakterisierung der Stilzüge sentimentalischer Poesie in F r a g e gestellt hat.

315

316

317

v.Wiese, a.a.O., S.568. Zur »ästhetischen Synthesis« auch S. 569, 574, 578f. und 624. v.Wiese, a.a.O., S.576. Die von Vosskamp umrissene Bedeutung des Emblems bei Schiller — eines Sonderfalles der Allegorie — ist für diese Revision wichtig, indem Schillers »Abstraktheit« aus der Wechselbeziehung von Pictura und Scriptura zu verstehen wäre. In Schillers späterer, sog. klassischer Lyrik stellt Vosskamp ein Schwinden des Einflusses tradierter emblematischer Bildlichkeit fest zugunsten eines emblematischen Strukturprinzips: »Schillers Bemühen um eine ästhetische Synthesis< (B.v.Wiese) in der Doppelbewegung von der Idee zur Anschauung und von der Anschauung zur Idee k ö n n t e . . . unter dem Gesichtspunkt des emblematischen Darstellungs-/Deutungsprinzips neu befragt werden«. Vosskamp, a.a.O., S.404. Wie bei G. Storz unter diesem Titel, a.a.O., S. 2 5 9 - 2 7 4 . 449

Sentimentalische Poesie hebt sich ab durch ihren im weitesten Sinne musikalischen Charakter, ihre Tendenz zum Stimmungshaften, ihren Gedankenreichtum.318 Während die naiven Dichter durch Plastizität, sinnliche Gegenwart des als Besonderes dargestellten Objektes ansprechen, rühren die sentimentalischen durch Ideen, übertreffen sie durch ihre Gedankenfülle die antiken Künstler.319 Damit tritt in der Charakterisierung sentimentalischer Dichtung der Stilzug der Abstraktheit hervor, wie er an Schillers Dichtung in der Forschung aufgewiesen und von Schiller selbst als Problem seiner Dichtung empfunden worden ist. Schiller hat das Problem der Abstraktheit seiner Poesie durch Hinweise auf Musikalisches zu erläutern versucht und damit die Beziehung zum Klassizismusproblem der Abhandlung erhellt: Oft widerfährt es mir, daß ich mich der Entstehungsart meiner Produkte, auch der gelungensten schäme. Man sagt gewöhnlich, daß der Dichter seines Gegenstandes voll sein müsse, wenn er schreibe... Wie ist es aber nun möglich, daß bei einem so unpoetischen Verfahren doch etwas Vortreffliches entsteht? Ich glaube, es ist nicht immer die lebhafte Vorstellung seines Stoffes, sondern oft nur ein Bedürfnis nach Stoff, ein unbestimmter Drang, nach Ergießung strebender Gefühle, was Werke der Begeisterung erzeugt. Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin. 320

Auch ein Brief an Goethe hebt das Unplastische der Schillerschen Einbildungskraft hervor und bringt diese mit Musikalischem in Verbindung:321 Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand, dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.

Diese Selbstcharakterisierungen Schillers, die seine »musikalische« Einbildungskraft von einer plastischen absetzen, rücken in »Uber naive und sentimentalische Dichtung« in einen geschichtlichen Kontext, wird dort doch der wesentlich musikalische Stilzug der sentimentalischer Poesie von der klassischen plastischen Gestaltungsweise abgehoben. Indem diese Schillers Klassizismus als Vorbild dient, sieht er das Hauptproblem seines Schaffens in der Herstellung von Anschaulichkeit.322 So berühren Schillers Bemerkungen in einem Brief an Körner, 323 der von seinem »hermaphroditischen, halb schrift318 319 320 321 322

323

Vgl. hierzu im einzelnen oben S. 388-390. Vgl. oben S.388f. Brief an Körner vom 25. Mai 1792, Jonas Bd. 3, S.202f. Vom 18.3. 96, Jonas Bd. 4, S.430. Dies wird auch hinsichtlich Schillers Sprachauffassung deutlich, vgl. unten S. 483-487. Jonas Bd. 2, S. 165 (vom 1.12. 1788).

450

stellerischen, halb dilettantischen Zustande« berichtet hatte, das eigene Problem, den Verstand aus seiner dominierenden Rolle herauszubringen und ein »freies ästhetisches Spiel« der Einbildungskraft herzustellen: Der Grund Deiner Klagen liegt, wie mir scheint, in dem Zwang, den Dein Verstand Deiner Imagination auflegte. Ich muß hier einen Gedanken hinwerfen und ihn durch ein Gleichniß versinnlichen. Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachtheilig zu seyn, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert... Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle — mêle herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen. Insbesondere war es die Begegnung mit Goethe, die Schiller den Zwang gewahr werden ließ, den sein Verstand seiner Imagination auferlegte, die Reflektiertheit, die der Unmittelbarkeit sinnlichen Erfahrens entgegenstand. Die Abstraktheit seiner Einbildungskraft wird mit Goethes größerer Nähe zum Anschaubaren kontrastiert. Erwarten Sie bei mir keinen großen materialen Reichthum von Ideen; dieß ist es was ich bei Ihnen finden werde. Mein Bedürfniß und Streben ist, aus Wenigem Viel zu machen... Sie haben ein Königreich zu regieren, ich nur eine etwas zahlreiche Familie von Begriffen, die ich herzlich gern zu einer kleinen Welt erweitern möchte.324 Wie Schiller weiter ausführt, besitzt Goethe in größerem Maße Intuition, während Schillers eigenes Dichten — zwischen Anschauung und Begriff schwankend — »mehr symbolisierend« wirke: Ihr Geist wirkt in einem außerordentlichen Grade intuitiv, und alle Ihre denkenden Kräfte scheinen auf die Imagination, als ihre gemeinschaftliche Repraesentantinn, gleichsam compromittiert zu haben. Im Grund ist dieß das Höchste, was der Mensch aus sich machen kann, sobald es ihm gelingt, seine Anschauung zu generalisieren und seine Empfindung gesetzgebend zu machen. Darnach streben Sie, und in wie hohem Grade haben Sie es schon erreicht! Mein Verstand wirkt eigentlich mehr symbolisierend, und so schwebe ich, als eine ZwitterArt, zwischen dem Begriff und der Anschauung, zwischen der Regel und der Empfindung, zwischen dem technischen Kopf und dem Genie. Dieß ist es, was mir, besonders in frühern Jahren, sowohl auf dem Felde der Spéculation als der Dichtkunst ein ziemlich linkisches Ansehen gegeben; denn gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte. Noch jetzt begegnet es mir häufig genug, daß die Einbildungskraft meine Abstraktionen, und der kalte Verstand meine Dichtung stört. Kann ich dieser beiden Kräfte in so weit Meister werden, daß ich einer jeden durch meine Freiheit ihre Grenzen bestimmen

324

Jonas Bd. III, Brief an Goethe vom 31.8. 1794, S.480f. 451

kann, so erwartet mich noch ein schönes Loos... Eine große und allgemeine Geistesrevolution werde ich schwerlich Zeit haben in mir zu vollenden.. ,325

Schiller verwendet hier den Symbolbegriff in einem seiner eigenen, sentimentalischen Dichtung gemäßen Sinne,326 indem er nicht die vollendete »klassische« Ineinsbildung, sondern die Suche nach einem Gleichgewicht von Anschauung und Reflexion, Bild und Bedeutung hervorhebt. Die Erreichung dieses Gleichgewichts wird auch Goethe mehr als Ziel denn als Status seines Dichtens vorgehalten. Dieser freilich läßt Schillers dichterisches Bemühen ganz in die Bestätigung des eigenen Symbolbegriffs einmünden: Ihren Gedichten hab ich auf meiner Rückkehr hauptsächlich nachgedacht; sie haben besondere Vorzüge, und ich möchte sagen, sie sind nun, wie ich sie vormals von Ihnen hoffte. Diese sonderbare Mischung von Anschauen und Abstraktionen, die in Ihrer Natur ist, zeigt sich nun in vollkommenem Gleichgewicht, und alle übrigen poetischen Tugenden treten in schöner Ordnung auf.327

Schiller läßt sich von diesem Kompliment über Stunden des Kleinmuts hinwegtrösten. 328 Doch bleibt die klassische Synthesis, die sehr selbstsicher Goethe Schiller bescheinigt hatte, für diesen ein höchst labiles Gleichgewicht, das er in ständigem Hin- und Herschwanken zwischen Anschauung und einem Uberwiegen an Abstraktion herstellen, »in einer Art von Solution erhalten« möchte. 329 Schillers dichterisches Bemühen um die Vereinigung von Anschauung und Gedanke stößt im Schaffensprozeß in der Abstraktheit der poetischen Produkte auf eine Präponderanz des Denkens im Dichten. Wie Sautermeister ausführt, umreißt Schiller in der Abhandlung mit der »sentimentalische(n) Operation«, die die »symbolische« der Matthison-Rezension meint, einen Symbolbegriff, der »aus einem beschränkten Objekt ein unendliches«, das Wirkliche zum Träger von Ideen macht. 330 Doch Schillers in der Diskussion seines Idyllenprojektes besonders hervortretendes Bestreben, die sentimentalische Operation in der rein darstellenden Zurückgewinnung von Naivität zu vollenden, ist als Markierung der Differenz von 325

326

327

328 329 330

Ebd., S.481. Zu weiteren, den Symbolbegriff differenzierenden Stellen bei Schiller (z. B. Jonas Bd. 5, S. 251 f., an Goethe 7.9. 1797) siehe die Interpretation Sautermeisters, a.a.O., S. 49, 55, zum Begriff der »symbolischen Operation« in »Über Matthisons Gedichte« und die Entwicklung des Schillerschen Symbolbegriffs ebd., S.44ff. Er kommt der Goetheschen Definition von Symbolik nahe, wie sie in den »Maximen und Reflexionen«, S. 813 gegeben wird; hierzu unsere S. 418f. Staiger, Emil (Hrsg.): »Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe«. Frankfurt/M. 1966. (Nr. 107) Goethe an Schiller (vom 6.10. 1795), S. 143. Schiller hatte Goethe u. a. die »Elegie«, später »Der Spaziergang«, vorgelesen. Vgl. den Antwortbrief vom 16.10. 1795, Jonas Bd. 4, S.293. Ebd. Sautermeister, a.a.O., S.47f. Vgl. Hanser Bd.V, S. 756 Anm. 1.

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ästhetisch-theoretischer Reflexion und klassizistischer Praxis festzuhalten. Daß Schillers Dichtung — »klassischer« Synthesis entratend — nach der Seite der Reflexion tendiert, einen die ästhetische Harmonie störenden Zug zum Abstrakten und Allgemeinen aufweist, nicht »ein Besonderes« ausspricht, »ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen«, 331 läßt an den für die Charakterisierung der Suche sentimentalischer Poesie geeigneteren Begriff der Allegorie denken, der durch die Goethesche Definition, die ins Symbol »die Natur der Poesie« setzte, 332 »eine folgenschwere Herabsetzung« erfahren hat 333 und der die Abstraktheit der Schillerschen Dichtung bezeichnet. An dieser, insbesondere Schillers Lyrik, wäre noch aufzuzeigen, was in Hinblick auf die Abstrakta der Hölderlinschen Hymnen als Differenz von klassizistischer Intention und poetischer Praxis konfrontiert worden ist: 334 331 332 333

334

Goethe, »Maximen und Reflexionen«, a.a.O., S. 689. »Maximen und Reflexionen«, a.a.O., S. 689. Sautermeister, a.a.O., S. 54 und ff. zur »Symbolik Schillers und Goethes in ihrer Beziehung zur Allegorie«. Hier freilich wird — unter Rekurs auf eine Wendung Goethes (vgl. unsere S. 448 Anm. 311). — Schillers Allegorisieren und Goethes Symbolisieren in eine nur »zarte Differenz« gebracht. Auch Sautermeisters Annahme einer »Vermittlung zwischen symbolischem und allegorischem Sprechen« in der deutschen »Klassik« entschärft nur die hier vorzunehmende Problematisierung des Goetheschen Symbolbegriffes — auch für dessen eigene Dichtung — in Bezug auf das Klassizismusproblem. Vgl. ebd., S.41 f., 43, 56. Sautermeister stellt freilich konsequent »sinnbildliche, der Allegorie sich nähernde Formen« (S. 63) in Schillerschen Dramen heraus. Zum Verhältnis von ästhetischer Theorie und poetischer Praxis bei Goethe schreibt er (S. 57): »Daß bei Goethe Theorie und künstlerische Praxis in Fragen der Symbolik nicht immer übereinstimmen müssen, lehrt ein Blick auf sein Revolutionsdrama >Die Natürliche TochterGestaltsymbol< identisch, dessen zentralen Stellenwert in Goethes Poetik Curt Müller und B. A. Sörensen beschrieben haben... Daß dieser »Begriff des Gestaltsymbols< indessen >am meisten vom Geist der deutschen Klassik geprägt< sei, wie Sörensen behauptet, ist eine sehr anfechtbare These. Denn der >Geist der Klassik< bezeugt sich nicht nur in einzelnen theoretischen Äußerungen, sondern auch in der Dichtung. Und diese widerlegt in ihren sinnbildlichen Formen vielerorts die Schlußfolgerung, in die Sörensens Ausführungen münden: »Man kann das Goethesche Symbol nicht in dem Sinne >deutenAlastorEpipsychidionscene of thingsabstractabstract< has among modern critics almost universally become synonymous with >badabstractness< which is also a defence of his poetic qualities seems not inappropriate at the present time. In Vergleichen mit Keats u n d W o r d s w o r t h erscheinen diese als »naive«, Shelley — w i e Schiller — als »sentimentalischer« D i c h t e r , dessen Bildern der Z u g z u m Generischen der Erscheinungen, Allegorischen anhaftet: Keats is minute in observation, with an eye to every particular of every object; Shelley usually working on a panoramic scale, generalizes and reduces, in order that the details of his scenes may fit within a unity of the whole. Keats is naturalistic

371

372

Ebd., S. 95, 86; vgl. S. 4. Das Zitat aus Pongs, H . : »Das Bild in der Dichtung«. Marburg 1927, S. 154. Vgl. Shelleys Fragment »Igniculus Desiderii«, Hutchinson S. 549. Richard Harter Fogle: »The Abstractness of Shelley«, in: Ridenour, George M. (ed.): »Shelley. A Collection of Critical Essays«. Englewood Cliffs 1965. S. 13 — Zuerst in: P Q X X I V (1945), 362 - 3 7 9 , sowie in: Fogle, »The Imagery of Keats and Shelley. A Comparative Study«, Hamden, Conn. 1962 (Chapel Hill 1949), S. 215—40. Hier im VI. Kapitel (»Romantic Bards and Metaphysical Reviewers«) Fogies Auseinandersetzung mit den New Critics, S. 241—278, mit F. R. Leavis, S.242 und 2 6 4 - 2 6 6 . 463

and representative, whereas Shelley more noticeably imposes his subjective conceptions upon what he sees.375 Desgleichen wird Keats größere Konkretheit und Plastizität, Hinwendung zum individuellen einzelnen Gegenstand, eine synthetische, organische Bildentfaltung, Shelley hingegen Abstraktheit, eine mehr analysierende und generalisierende Betrachtungsweise, größere »Künstlichkeit« in Schillers Sinn bescheinigt. 374 So konsolidieren Fogies aus einer statistischen Analyse zum poetischen Bildgebrauch gewonnene Ergebnisse schließlich nur das gängige Urteil über Shelleys Abstraktheit, die sich in der Dichtung als Prozeß einer durchs Bildliche hindurchführenden Suche dartut: Shelley's poetry strives continually to express by images an absolute truth or beauty beyond the scope of imagery. Face to face with this ultimate reality, he is unable to summon the words which will fix its identity; he falls back in defeat... >the deep truth is imageless< ( . . . ) Shelley, then, is abstract in that his poetry continually climbs toward abstraction on steps of concrete imagery.375 Diese Shelleys Dichtung bewegende Suche nach Wahrheit führt Fogle zur Frage nach der Beziehung von Philosophie und Dichtung bei Shelley, dessen Skeptizismus und Piatonismus die Negation von Sinnlichkeit in der Dichtung »erklären« könnten. D o c h verbietet sich Fogle hier zu Recht eine zu enge Bezugnahme, denn Shelley ist kein »poetic philosopher«, bebildert nicht sein Philosophieren in seiner Dichtung. Der diese prägende Prozeß der Versinnlichung eines über Dichtung Hinausreichenden läßt Shelleys Sym373

R. H. Fogle, »The Imagery of Keats and Shelley. A Comparative Study«, a.a.O., S.37. Diese Konstrastierung der Poesie Shelleys and Keats' bzw. Wordsworths kommt dem Standardurteil über die Unterschiede Schillerschen und Goetheschen Dichtens recht nahe. Siehe Fogle ebd., S. 30: »The purpose of this analysis is in part to examine the validity of a generalization very common in Shelley and Keats criticism, so prevalent that to most uf us the thought of Shelley immediately suggests poverty of the senses, vagueness, evanescence, dim infinitude, while with Keats we associate concreteness, solidity, and sensuous intensity«. Vgl. z.B. v.Wiese, »Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 568f. Schon Swinburne (a.a.O., S. 379f.) und Claude Lee Finney (»The Evolution of Keats's Poetry«, I., Cambridge, Mass. 1936) hielten der Shelleyschen Abstraktheit die größere poetische Konkretion Keats' entgegen. Shelleys poetische Bildsprache verrät »the least sensuous of sensations«, denn er begab sich »into a world of ideal abstractions, to which his imagination gave ethereal voice and motion« (Finney, S. 154). Vgl. auch Huscher, a.a.O., S. 146. F. R. Leavis wiederum hält Shelleys Abstraktheit die größere Konkretheit bzw. »Naivität« Wordsworths entgegen; »Revaluation«, a.a.O., S.212—214. Ebenso Harding, a.a.O., S.210.

374

Ebd., S.46f„ 57, 59f. Fogle, »The Imagery...«, (Kap.V: »Concrete and Abstract Imagery«), a.a.O., S. 222. Zitat aus »Prometheus Unbound«, Hutchinson, S. 238.

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bole zu suchenden werden, die immer wieder auf die Unangemessenheit von Anschauung und Idee, Bild und Bedeutung stoßen. 376 Dies betonen die von Fogle referierten Äußerungen von W.B. Yeats:377 Shelley's symbols are expressive of his search for Truth, but a poetic Truth imaginatively pursued. It is this pursuit which evokes the deepest feelings of Shelley's spirit. His most characteristic imagery embodies an attempt to establish the relationship between the finite and the infinite... It is not too daring, I think, to assert that this finite-infinite relationship is the focal point of Shelley's imagery.378

Das Zerfallen einer klassischen Einheit im Symbol wird in Shelleys Poesie registriert, welche im Rahmen einer Endlichkeits-Unendlichkeitsbeziehung nach dieser Einheit sucht und in Gegensatz gerät zu den Ausführungen Fogies im einleitenden Kapitel über poetischen Bildgebrauch, welche eher die Erreichung poetischer Harmonie betonen. 379 Fogies Untersuchung kann Shelleys Abstraktheit bestätigen, sie als Form einer Suche, eines ungelösten Dualismus verstehen zwischen dem Interesse an Einheit und Mannigfaltigkeit, »The One« und »the many«, des Lebens »dome of many — coloured glass« und »the white radiance of Eternity«. 380 Fogies Apologie der Abstraktheit Shelleys bleibt jedoch unbegründet. Diese erscheint als Ausfluß Shelleyschen Philosophierens, Phänomen einer Suche, die philosophisch notwendig, in ihrer Bedeutung für die Dichtung aber fragwürdig bleibt, bringt diese Suche Dichtung doch von Harmonie und Schönheit ab, so daß Abstraktheit — wie in Urteilen über Schillers und beispielsweise dem F. R. Leavis' über Shelleys Dichtung — Ausdruck eines unschlüssigen Schwankens zwischen Dichten und Denken, ein Mangel bleibt, dessen etwaige dichterische Notwendigkeit und Begründung Fogle nicht zu geben vermag. Die geschichtlichen Möglichkeiten und Hemmnisse der Shelleyschen Einbildungskraft können in Fogies deskriptiv und innerliterarisch ausgerichteter Studie nicht hervortreten. So führt dieser Versuch, die in einer langen Tradition der Shelley-Kritik bald bloß registrierte, bald bemängelte Abstraktheit dieser Poesie verständlich zu machen, deren Leistung und Eigenwert zu begründen, in Inkonsequenzen hinein, solange »Abstraktheit« nur aus dem individualpsychologischen dichterischen Habitus und nicht den grundsätzlichen Vollendungsmöglichkeiten nach-klassischer Poesie erklärt wird, die der 376 377

378 379 380

Ebd., S.226ff., bes. S.239f. Fogle, ebd., S.229. (W.B. Yeats, »The Philosophy of Shelley's Poetry«, in: »Ideas of Good and Evil«, S. 80f., zit. nach Fogle). Fogle, »The Imagery...«, S.229. Ebd., S . 3 - 2 5 passim. Fogle, ebd., S.55, 240. Adonais, StropheLII, Hutchinson S.443. 465.

klassische Symbol- und Harmoniebegriff eher hinsichtlich ihres Ziels denn realen Status zu beschreiben geeignet ist. — Indem eine solche geschichtliche Erklärung in Hinblick auf das Klassizismusproblem nicht unternommen wurde, wie es sich in Shelleys Wunsch nach Nachfolge der antiken Dichter im Vorwort zu »Prometheus Unbound« doch eindringlich stellt,381 blieb das Problem der Abstraktheit der Shelleyschen Dichtung liegen, war doch diese Stileigentümlichkeit immer wieder hervorgehoben und in demselben Argumentationszusammenhang bald kritisiert, bald entschuldigt worden. Auch die Arbeit von Engler eröffnet kein neues Erklärungsmodell, denn Shelleys »(ä)therische Bildqualität« wird hier aus einer kosmischen Gesamtschau oder gar der intuitiven Vorwegnahme der späteren naturwissenschaftlichen Betrachtung und Erkenntnis abgeleitet, ohne daß sich der Sinn eines solchen »poetischen Philosophierens« erhellen würde.382 »Abstraktheit« bildet immer noch das Verlegenheitswort der Shelley-Kritik, das eben den Ubergang der ungebrochen schönen, harmonischen Ineinsbildung von Bild und Bedeutung in die Bildersprache der Allegorie bezeichnet, die auch für Shelleys Dichten aus ihrer Herabsetzung zu befreien und als der dieser sentimentalischen Poesie eigentümliche Stilzug zu begreifen wäre. Nicht aus spekulativen Gewohnheiten oder der Hinwendung zu bestimmten philosophischen Richtungen ist die Abstraktheit sentimentalischer Poesie erklärbar, sondern aus dem generellen Reflexionsstand von Aufklärung, auf dem der sentimentalische Dichter seine Einbildungskraft zu dennoch naivem Spiel und Gestalten freisetzen möchte. Die Präponderanz der Reflexion jedoch steht solchem naiven, »reinen« Anschauen entgegen. Die in der Bildstruktur sich dartuenden reflexiven Momente sind das unpoetische Prosaische, das in die Poesie hineinreicht, die anders als die »ursprüngliche« im bewußten Unterschied zum Nicht-Poetischen sich ausbilden muß. 383 Was solche Abstraktheit für Shelleys und Schillers poetische Praxis bedeutet, soll an zwei so häufig anthologisierten Gedichten wie »To A Skylark« und »Der Tanz« gezeigt werden, ohne damit den Anspruch zu stellen, die poetische Praxis beider Dichter auch nur exemplarisch abgehandelt zu haben. Denn Tanz und Lerche, die Schillers und Shelleys Gedichten als konkreter Vorwurf dienen, verflüchtigt in der poetischen Bildersprache jener Zug zum Abstrakten, der als allgemeiner Stilzug dieser »sentimentalischen« Lyrik gelten kann. — Zunächst weist ein einleitendes »Siehe« in Schillers »Der Tanz« auf die Anschaulichkeit des wahrgenommenen oder imaginierten Bildes hin: 381 382

385

Hutchinson, S. 204-207. Vgl. Engler, a.a.O., S.431, S. 401 ff., 423ff. - Vgl. Göller, K. H.: »Shelleys Bilderwelt«. GRM (NF) XIII (1963), S. 380-397. Vgl. zu Hegels Unterscheidung S. 135 unserer Arbeit.

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Siehe, wie schwebenden Schritts im Wellenschwung sich die Paare / Drehen, den Boden berührt kaum der geflügelte Fuß. 384 Das Schweben der Tanzpaare, die alle Erdenschwere abgestreift zu haben scheinen, ihre beflügelte Leichtigkeit entspricht dem Charakter des Tanzes, in dessen Bild Schiller ein freies ästhetisches Spiel, das Abstreifen alles bloß Stofflichen dichterisch gestalten möchte. Dabei verliert der Tanz jedoch an optischer Qualität, wird schemenhaft und geradezu gespenstisch: Seh ich flüchtige Schatten, befreit von der Schwere des Leibes? / Schlingen im Mondlicht dort Elfen den luftigen Reihn? Auch der Vergleich mit zerfließendem leichtem Rauch, der »vom Zephir gewiegt wird«, schafft jene Luftigkeit, die »den ätherischen Leib« der Tanzenden aus dem Bereich festumrissener, kräftiger Bildlichkeit heraushebt. Das zweite »Sieh!« gar verweist auf ein dem Blick entschwindendes Paar. Wichtiger als Visuelles ist dabei die Motorik der tänzerischen Bewegung: Jetzt, als wollt es mit Macht durchreißen die Kette des Tanzes, / Schwingt sich ein mutiges Paar dort in den dichtesten Reihn. / Schnell vor ihm her entsteht ihm die Bahn, die hinter ihm schwindet, / Wie durch magische Hand öffnet und schließt sich der Weg. / Sieh! jetzt schwand es dem Blick... Sein Wiederauftauchen dient der sentenzartigen, epigrammatisch anmutenden Formulierung der Regelmäßigkeit und des allgemeinen Charakters des Tanzes: Nur mit verändertem Reiz stellet die Regel sich her. / Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende Schöpfung, / Und ein stilles Gesetz lenkt der Verwandlungen Spiel. Weniger das einzelne individuelle Bild eines Tanzes als die allgemeine, generische Vorstellung vom Tänzerischen ist in Schillers Gedicht von Bedeutung. 3 8 5 Der Plastizität der Vorstellung »Tanz« wird geradezu eine Absage erteilt, wenn schließlich »des Wohllauts mächtige Gottheit« als das den Tanz ordnende Prinzip genannt wird, die Musik, die wiederum in Analogie zu den »Harmonien des Weltalls« gesetzt wird. Der in Schillers allgemeinem 3,4 385

Schiller: »Der Tanz«. Hanser Bd.I, S.237f„ Vers 1/2. Zu Schillers »generischer Bildlichkeit« v. Wiese, »Friedrich Schiller«, S. 565ff., 568. »Schillers Phantasie sucht fast durchweg das Konkrete und Individuelle zu generalisieren und damit ins generisch Objektive zu erheben, es auf seine weiteste Bedeutung zu bringen, so daß sich mit einer einzelnen generischen Anschauung ihr Allgemeines noch gleichsam mitdenken läßt, mit einem König Königtum überhaupt, mit einem Priester Priester£«m überhaupt, mit einem Schiff Schiffahrt überhaupt usw. ( . . . ) « . Mit Schillers kontrastiert v. Wiese Goethes andersartige Beziehung zur Individualität, in deren Vereinzelung bereits Allgemeines sichtbar gemacht werde. Vgl. ebd., S. 569.

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Sinne musikalische Zug des Gedichtes, das Charakteristikum sentimentalischer Poesie, wird im Gedicht selbst durch den Hinweis auf Musikalisches angedeutet und tritt im folgenden in unmittelbare Beziehung zur Abstraktion. 386 Denn das von Anfang an luftige Bild des Tanzes verflüchtigen die in der zweiten Gedichthälfte einsetzenden Reflexionen über Sinn und Bedeutung des Tanzes und setzen es nach der Konstatierung der tänzerischen Regel in Reflexion um, deren bloßer Anlaß es war. Nicht nur diese Reflexionen ordnen Schillers Gedicht dem Typus der Gedankenlyrik zu, sondern bereits der Zug zum Abstrakten im generischen Bild des Tanzes selbst, das eine in Reflexionen schließlich umschlagende, die Bedeutung ihrer Bilder stark akzentuierende Einbildungskraft umreißt. Solche Reflektiertheit, in der die Konkretion des einzelnen Bildes zurückgedrängt wird, prägt ebenso Shelleys »Bild« der Lerche. Mehr als bei Schiller treten hier schon vom gewählten Sujet her visuelle Reize zurück zugunsten motorischer und musikalischer. Gleich die erste Strophe bringt den sinnlichen Eindruck der Lerche und ihres Gesanges auf den Begriff der »unpremeditated art«. Von Anfang an besitzt die Lerche jenen Zug zum Geisterhaften, wie ihn stellenweise Schillers Bild des Tanzes aufweist: »Hail to thee, blithe Spirit!«, und kaum ist nach dieser Anrede an ein Geist-Naturwesen, »Sprite or Bird«, die Vorstellung »Vogel« erweckt, wird sie auch schon negiert: »Bird thou never wert«. 387 386

387

Zu Schillers Plan der Vertonung des Gedichtes siehe den Brief an Fritz Reichardt vom 3.8. 1795, Jonas Bd. 4, S.217f. Shelley: »To A Skylark«, Hutchinson, S. 602. Wolfgang Clemen führt das »Geisterwesen« Lerche als Beispiel für »Shelleys Geisterwelt« an (1948, S. 49f.), v. Freyberg (S. 127) für seine motorische Grundhaltung (vgl. oben), Firkins (S. 85) zählt sie zu den »unearthly beings«, die Shelleys Abstraktheit dokumentieren. — F. R. Leavis (Revaluation S.214f.) fällt bei seiner Ablehnung der Shelleyschen Abstraktheit ein vernichtendes Urteil über »To A Skylark«, dessen Unhaltbarkeit unsere folgende Interpretation zeigen dürfte. Als Folge des Inspirationsbegriffs Shelleys, der rationale Durchdringung des Gedichteten zu gering veranschlage (vgl. aber unseren Abschnitt2.1.1.), sieht Leavis die »poetical habits«, die Shelleys poetischen Stil prägen und den Vorwurf der Abstraktheit rechtfertigen würden: »They manifest themselves as decidedly deplorable in >The Cloud< and >To A Skylarks which illustrates the dangers of fostering the kind of inspiration that works only when critical intelligence is switched off. These poems may not be unfairly, described as the products of switching poetry o n . . . it is, or should be, so plain that the poem is a mere tumbled out spate ^spontaneous overflowfavorite imagery< of stars and clouds, radiates out from the image of the bird itself. While most of the images are drawn from nature, like the bird, they are (again like the bird) the least earthbound of natural things, the most bodiless and pure — moonlight, raindrops, flower, poet, and maiden«. Hutchinson, Vers 2 6 - 3 0 .

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und Vorstellungen verborgen, und doch flößen seine Hymnen aus dieser Verborgenheit heraus der Menschheit zuvor unbekannte Hoffnungen und Ängste ein. Er ist — um das Bild der »Defence« zu verwenden — eine Nachtigall, deren Gesang ihre Einsamkeit versüßt und sich aus dieser Verinnerung heraus in einer Zuhörerschaft veräußert.390 Das Mädchen im Palastturm sucht seine Seele mit Musik zu besänftigen, die den Wunsch nach Liebe fast vergessen läßt und ihn doch aus der Abgeschiedenheit des Gemaches hinausträgt. Das Glühwürmchen »In a dell of dew« verleiht Blumen und Gras, die es dem Blick verbergen, einen goldenen Farbton. Die in ihre Blätter eingeschlossene Rose scheint durch ihren Duft die diebischen Winde abzuwehren, die sie entblättern möchten. In ihrer Abkapselung sind all diese Geschöpfe Paradigmen einer unseligen Seligkeit, aus der sie durch Musik, Licht oder Luft ausbrechen möchten. Die Imagination des Protagonisten hat durch dieses Ausspinnen von Vergleichen die Vorstellung Lerche eher entgrenzt und von ihr abstrahiert als ihr deutlichere Konturen gegeben. Die Logik dieser Bildkette entspringt dem Annäherungsweisen, Uneigentlichen solcher Bilder, die über sich hinausdrängen, weil sie das zu Vergleichende nicht aufschließen, sondern nur annäherungsweise dessen Bedeutung ertasten. Dabei erweist sich in der Unseligkeit, mit der diese Vergleiche die Lerche umgeben wollen, die Subjektivität dieser poetischen Bilder; ist diese Unseligkeit doch Projektion des Protagonisten, der die Lerche und vor allem deren »umpremeditated art« verstehen möchte. 391 Die vergleichende Bilderkette hat die Frage nach der Bedeutung der Lerche vorgedrängt und sie noch ganz im Medium des Bildlichen als ein Wesen charakterisiert, das sich verschließt und doch seine Abgeschlossenheit zu durchbrechen scheint. Der Protagonist, der nun mit seinen Fragen nach der Bedeutung dieser Erfahrung immer stärker in den Vordergrund tritt, will in diese Abgeschlossenheit eindringen, die Naivität dieses Naturwesens ins Bewußtsein heben. Andererseits ist der »blithe Spirit« nicht eindeutig als naives Naturwesen bestimmt. Denn gerade die Vergleiche, die an Anfang und Ende der Bilderkette stehen, rücken die Lerche ab von der übrigen Natur, die der Lerchengesang an Schönheit übertrifft: From rainbow clouds there flow not / Drops so bright to see / As from thy presence showers a rain of melody. . . // Sound of vernal showers / On the twinkling grass, / Rain-awakened flowers, / All that ever was / Joyous, and clear, and fresh, thy music doth surpass... //. 3.0 3.1

Vgl. Defence, S.31. Vgl. Chernaik, a.a.O., S. 128: »To recapitulate the rationale behind the intervening figures ( . . . ) : each simile presents a figure which is like the skylark in that it is hidden, and yet its song (or hue or scent) through a spontaneous excess overflows its secret place into the world ( . . . ) « .

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Die Lerche, »Spirite or Bird«, bleibt eine »Belle Dame Sans Merci« (Keats), ein Zwitterwesen, wie es die Romantiker gerne gestalteten. Als anthropomorphe Natur ist es wie geschaffen für die Kommunikation mit dem Protagonisten, der Zugang zu einer Natürlichkeit finden möchte, die ihm verschlossen bleibt. 392 Das Zwitterwesen Lerche ist jedoch sein Geschöpf, insofern seine Subjektivität es mit den eigenen unnatürlichen, geist(er)haften Zügen ausstattet und so Gefahr läuft, gerade ein Gespenst zu produzieren. Die Natur, mit der er in Kontakt treten möchte, entpuppt sich als eigenes Produkt, und die Fatalität dieser Begegnung mit einer Wunschprojektion wirft ihn auf sich selbst zurück. Das Ich fragt nach »sweet thoughts«, die die Lerche nicht hat, und stößt nur bei allem Fragen und Vergleichen auf den eigenen menschlichen Wunsch nach einem Denken, das den Gegensatz zur Natur überwunden hätte. Diese Harmonie von Natur und Geist gerät in den Bereich des Göttlichen: Teach us, Sprite or Bird, / What sweet thoughts are thine: / I have never heard / Praise of love or wine / That panted forth a flood of rapture so divine.

Dem Ich, das den Lerchengesang hört, können sich nur Vergleiche mit den Möglichkeiten menschlichen Singens aufdrängen, mit Liebes- oder Weinlied, »Chorus Hymeneal, / Or triumphal chant«. 393 Der Protagonist stellt die menschliche Frage nach dem Inhalt des Lerchengesanges: What objects are the fountains / Of thy happy strain? / What fields, or waves, or mountains? / What shapes of sky or plain? / What love of thine own kind? what ignorance of pain?

Was die Vergleichskumulation im Medium poetischer Bildersprache versuchte, wird in prosaischer Weise in den Fragen und Reflexionen des Prot3,2

m

Chernaik behandelt das Gedicht deshalb unter »Nature Humanized & Natural Myth«, Chap. V, S. 121-140, S. 125ff. Vgl. John Keats: »La Belle Dame Sans Merci«. In: Herrig, Melier, Sühnel: »British and American Classical Poems«. Braunschweig 1966. S. 45.— Shelleys »sensitive plant« ist auch ein solches Zwitterwesen; hierzu Wasserman, »Shelley...«, a.a.O., S. 157: »Although a member of the garden, it (the Sensitive Plant) is radically differentiated from all the other flowers, especially by its participating in the world less perfectly than the others and by its finding the garden inadequate to its desires... Like man, therefore, the Sensitive Plant is a native of the world-garden and yet is alien to i t . . . « , vgl. S. 159. Einer ähnlichen Situation entspringen die Fragen des Protagonisten nach dem Lied der Schnitterin in Words worths »The Solitary Reaper«. Der Protagonist möchte die Schnitterin ganz als Naturwesen sehen, kommt jedoch in Strophe III, die nach dem Inhalt des Liedes fragt, nur auf die verschiedenen menschlichen Möglichkeiten eines Gesanges. Die gespenstischen Züge, die das statische Bild der Schnitterin in der letzten Strophe wohl aufweist, sind die eines Zwitterwesens aus dem Grenzbereich von Mensch und Natur. In: Herring, Melier, Sühnel, a.a.O., S.97.

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agonisten manifest, die um die Bedeutung des Lerchengesanges kreisen und die zweite Gedichthälfte bestimmen. Von Beginn an sieht der Protagonist den Lerchengesang unter dem »abstrakten« Aspekt der Möglichkeit einer »unvorherbedachten«, d.h. in Schillers Sinne naiven Kunst, wie sie sich zwanglos aus der Natürlichkeit des Vogels ergibt, ohne Ergebnis bewußten, angestrengten Machens zu sein. Weil der Gesang der Lerche Kunst sein, die Möglichkeit eines menschlichen, zugleich natürlichen Gesanges vergegenwärtigen soll, kann sie nicht bloßes Naturwesen bleiben. Auch hier vollzieht sich die Begegnung mit der Natur in einem Zirkel, der den Menschen zu sich selbst zurückführt. Die Bezeichnung »art« entstammt dem Vergleich mit den eigenen künstlichen und künstlerischen, menschlichen Möglichkeiten. Die Lerche wird mit einem Poeten verglichen (Strophe 8) und soll das Ich des Gedichtes in ihrer Kunst unterweisen (»Teach us«, »Teach me«, Vers 61 und 101). Diese naive, fröhliche Kunst der Lerche tut sich dar im Tänzerischen des »scorner of the ground«, der ähnlich den Tanzenden in Schillers Gedicht »befreit von der Schwere des Leibes« diese Schwere des Stofflichen in einer Einheit von Gesang und Bewegung überwindet: Higher still and higher / From the earth thou springest / Like a cloud of fire; / The blue deep thou wingest, / And singing still dost soar, and soaring ever singest.

Tänzerische Elemente, unterstützt durch Metrum und Partizipien, 394 erwekken die Vorstellung von Freiheit, die sich mit der »unpremeditated art« der Lerche verbindet. 395 Der Schlußakt des im selben Jahr veröffentlichten »Prometheus Unbound« (1820) kann als geradezu choreographisch inszenierter, aufführbarer Tanz verstanden werden, der die universale Befreiung der Menschheit versinnbildlicht. Im Tänzerischen, der Harmonie von Musik und Bewegung, der »Ruhe« »in der bewegten Gestalt« (Vers 20 / »Der Tanz«), realisiert sich die naive Kunst der Lerche, die hier in der Kreatürlichkeit des Organischen praktisch erscheint. Dies fordert den Protagonisten zum Nachdenken über die eigenen menschlichen und künstlerischen Möglichkeiten heraus. Shelleys »To a Skylark« wird sich als Gedicht selbst zum Problem, indem es die Frage nach der künstlerischen Bedeutung von Naivität in wiederum dichterischer Weise stellt, wobei Dichten gerade nicht als naive, unvorherbedachte Kunst möglich ist, sich in den poetischen Bildern nicht die gesuchte Bedeutung bruchlos »symbolisch« dartut. Vielmehr ist es 394 3,5

Vgl. Huscher, a.a.O., S. 144. Ist von der Abstraktheit dieses Gedichtes die Rede, so muß gleichzeitig solche Gestaltungsweise des tänzerischen Vogelflugs von etwa J. Hoggs Lerchengedicht abgesetzt werden, in dem an die Stelle solcher Gestaltungskraft der Hinweis tritt, die Lerche sei »Emblem of Happiness«. Zit. nach Huscher, S. 144.

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gerade die Unangemessenheit von Bild und überschwenglicher Bedeutung, die Shelley zur Kumulation der Vergleiche und schließlich zu prosaischer Reflexion im Prozeß des Gedichtes zwingt. Solche Selbstproblematisierung bedingt auch die Abstraktheit des Schillerschen Gedichtes, das den äußeren sinnlichen Eindruck in Bedeutung und Reflexion zu übersetzen sucht. Formuliert Schiller doch in den Kalliasbriefen die sinnbildliche Beziehung von Freiheit und Tanz, der Schiller als das freie ästhetische Spiel par excellence gilt, von dem die »Ästhetischen Briefe« handeln. 396 So ist das gegen Ende ihrer Abfassung entstandene Gedicht »Der Tanz« ein Gedicht über die Kunst, deren Charakter und Bedeutung sich im Tänzerischen offenbaren soll und in dichterischer Weise umrissen wird, indem Schillers Gedicht nicht selbst »tänzerisch«, d.h. rein spielerisch und harmonisch sein kann, sondern solches Dichten zum Gegenstand der Reflexion werden läßt. Die Einbildungskraft möchte in Darstellung des Tanzes selbst »tänzerisch« werden und so ihre höchste Leistungsmöglichkeit, ein freies ästhetisches Spiel zu gestalten, im Gedicht thematisieren. Dabei muß sie jedoch in Reflexion umschlagen, ihren Bildern eine »abstrakte« Bedeutsamkeit verleihen, die sie von naivem poetischem Schaffen abrückt, so daß die Diskrepanz erscheint, wie sie sich in sentimentalischer Dichtung von deren aufgeklärtem Status her dartut. So distanziert sich der Protagonist, der sich zunächst vom Anblick des Tanzes fesseln ließ, in der zweiten Gedichthälfte von diesem ästhetischen Zirkel, in dem die »mächtige Gottheit« der Musik, die im Tanz alles zu schöner Geselligkeit »ordnet«, die »Nemesis«, jeden Ausbruchsversuch rächend, »das Maß« immer wieder erzwingt, und gewinnt in der Distanz des Reflektierens und Fragens eine Freiheit, die der Tanz nicht gestattet. Bleibt dieser auch für den Protagonisten Sinnbild der Freiheit, so versuchen doch die Fragen nach der Bedeutung des Tanzes diesen mit einem Geistigen auszustatten oder zu umgeben, das solches In-Sich-Kreisen nicht kennt. Im Tanz herrschen Ruhe und Ordnung: Das einzelne Paar, das »die Kette des Tanzes« »durchreißen« will, wird durch »die Regel« wieder eingegliedert. »Sprich, wie geschiehts, d a ß . . . die Ruhe besteht in der bewegten Gestalt?« Der Tanz droht zum Gegenbild der Freiheit zu werden, die er versinnbildlichen soll, zum goldenen Käfig, in dem das Individuum »an des Rhythmus goldenem Zügel« liegt, der es »lenkt« und »zähmt«. Im Tanz ist »Jeder ein Herrscher, f r e i . . . « . Diesen Widerspruch greifen die »Kalliasbriefe«, die den Tanz als Sinnbild der Freiheit einführten und von der »Härte« und »Brutalität« »der 3,6

Vgl. die zentrale Stelle in den Kalliasbriefen, Hanser Bd. V, S. 425. »Ich weiß für das Ideal des schönen Umgangs kein passenderes Bild als einen gut getanzten und aus vielen verwickelten Touren komponierten englischen T a n z . . . Es ist das treffendste Sinnbild der behaupteten eigenen Freiheit und der geschonten Freiheit des andern«.

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Verstandesgröße, oft selbst der moralischen« absetzten, wie auch die anderen theoretischen Schriften Schillers nicht auf. 397 Nur in bestimmten Formulierungen und Gedankengängen verrät sich in ihnen die Gewaltsamkeit auch ästhetischer Versöhnung, ein Zwang, der hier in der poetischen Praxis Schillers gegen dessen Intention hervortritt, im Tanz eine durch das Ästhetische vermittelte Freiheit zu gestalten und den Tanz als Figur des Idealen durchzuhalten. Wie im ästhetischen Staat »eigne schöne Natur« den Menschen durch »die verwickeltsten Verhältnisse« führt, 3 9 8 so gehorcht auch im Gedicht jeder der Tanzenden »nur dem eigenen Herzen«, in das »ein stilles Gesetz« Eingang gefunden hat, eine Regel, welche die eigene Bewegung auf die der anderen abstimmt und sich auch in scheinbarer Verwirrung und Verwicklung durchsetzt. Das einzelne Tanzpaar entschwindet dem Blick, und in wildem Gewirr durcheinander / Stürzt der zierliche Bau dieser beweglichen Welt. / Nein, dort schwebt es frohlockend herauf, der Knoten entwirrt sich, / Nur mit verändertem Reiz stellet die Regel sich her.

Das »nur« verrät ein Element von Monotonie, das sich in die Darstellung des Tanzes einschleicht. »Ewig zerstört, es erzeugt sich ewig die drehende Schöpfung...«. Der Tanz erweckt den Eindruck eines maschinellen In-SichKreisens, des Geistlosen und Unfreien. Indem Schiller den Protagonisten nach dem Sinn des Tanzens fragen und dessen Naivität aufklären lassen muß, verliert sein Dichten seinen rein harmonischen, »tänzerischen« Charakter und gewinnt den gedankenlyrischen, sentimentalischen Stilzug, der aus dem Banne bloßer Harmonie befreit. Als würde sich der Tanz, der Kunst innerhalb eines Kunstgebildes versinnbildlicht, seiner Abkapselung und Unfreiheit bewußt, macht sich in ihm das Gefühl der Enge und des Ghettocharakters, der Expansionswunsch des Ästhetischen breit. Einerseits tendiert der Tanz zum Zierlichen und Niedlichen: »(D)er zierliche Bau dieser beweglichen Welt« droht zusammenzustürzen, leicht und leise Hüpft der gelehrige Fuß auf des Takts melodischer Woge, / Säuselndes Saitengetön hebt den ätherischen L e i b . 3 "

3.7

3.8

m

Vgl. unsere S. 198 (Hanser Bd. V, S.425). Hier geht es nicht um den »Tanzmeisterzwang im Gange und in den Stellungen«, eine Künstelei im Bereich des Tanzes, die Schiller als Verstoß gegen die »Naturfreiheit« tadelt (Hanser Bd. V, S. 425), sondern die dem Tanz gerade in seiner Vollendung anhaftende ästhetische Gewaltsamkeit. 27. Brief, S. 218; vgl. S. 214: Im ästhetischen Staat darf der Mensch dem Menschen »nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüber stehen«. A . a . O . , Vers7/8.

474

Andererseits schlägt der nach der Bedeutung des Tanzes fragende Protagonist ihm eine Weiträumigkeit zu, welche die Einbildungskraft nicht recht auszugestalten vermag und mit abstrakt bleibenden, an poetische Klischees grenzenden Nomina zu füllen sucht. 400 Der Tanz wird der Strom dieses erhabnen Gesangs, / . . . der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen, / . . . der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum / Leuchtende Sonnen schwingt in kühn gewundenen Bahnen (?) /

Als Teil der »Harmonien des Weltalls« erinnert der Tanz an das Weltbild der »Theosophie des Julius«. Die von der Imagination aufdeckbare Weltordnung war auch hier in einem eingeschobenen Gedicht mit einem Tanz verglichen worden. 401 Dieses unaufgeklärte kosmologische Weltbild, das gegenüber einer unglücklichen Aufklärung im Briefwechsel zwischen Julius und Raphael jedoch alleine Glückseligkeit und Unsterblichkeit verhieß, läßt Schillers »Der Tanz« insofern aufgeklärt wiedererstehen, als es im Medium der Dichtung keine wissenschaftliche Wahrheit beansprucht. Die schöne Weltordnung der »Götter Griechenlands«, die im Leben untergehen mußte, soll als tänzerisch konzipierte im Gesang weiterleben. 402 Doch die Weiträumigkeit des Tanzes, den das Gedicht als universales Prinzip instaurieren möchte, gerät leer wie der entgötterte Himmel, den Schillers frühe Gedichte — ähnlich wie die Blakes — beklagen. 403 Auch in den Tanz mischen sich Züge jener maschinellen Monotonie des durch Newton geprägten Weltbildes, dessen »entgötterte Natur« Schiller zu einem unbeseelten Räderwerk geworden war. 404 Solcher Maschinerie wird die ewig sich zerstörende und erzeugende »drehende Schöpfung« des Tanzes bedrohlich ähnlich. Als nur in der Phantasie künstlich zum Kosmos expandierter kommt dieser poetischen Nachschöpfung eines Kosmos nur scheinbar die Natürlichkeit zu, deren sie habhaft werden möchte. Ihre Unwahrheit tut sich dar in der Abstraktheit, in der die poetischen Bilder des Tanzes als eines universalen Prinzips erscheinen. Diese sich aus den »Philosophischen Briefen« vordrängende Frage nach dem Verhältnis von ästhetisch-kosmologischem und aufgeklärtem Weltbild, die »Die Götter Griechenlands« einer Lösung zuführte, wendet der Schlußteil von »Der Tanz« in die für Schiller nun zentrale Frage nach dem Verhältnis von Kunst und praktischem Handeln. Dieses thema 400

401 402

403 404

Zum poetischen Klischee bei Schiller vgl. Martin Dyck, a.a.O., S. 11, 7—19 passim, und v.Wiese »Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 571. Vgl. das Gedicht in der »Theosophie des Julius«, Hanser Bd. V, S. 353,2. Strophe. Vgl. die Schlußverse von »Die Götter Griechenlands«, Hanser Bd. I, S. 173, Vers 121 ff. Vgl. unsere S.241f. Vgl. »Die Götter Griechenlands«, a.a.O., S. 172, Vers 112 und ff.

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probandum der »Ästhetischen Briefe« dringt in Form recht prosaischer Fragen und Reflexionen in dieses Gedicht über Dichterisches ein, dessen Schlußteil kaum mehr als die Strenge des klassizistischen Metrums vor einem Hinübergleiten in Prosa bewahren kann. Und dir rauschen umsonst die Harmonien des Weltalls, / Dich ergreift nicht der Strom dieses erhabnen Gesangs, / Nicht der begeisternde Takt, den alle Wesen dir schlagen, / Nicht der wirbelnde Tanz, der durch den ewigen Raum / Leuchtende Sonnen schwingt in kühn gewundenen Bahnen? / Das du im Spiele doch ehrst, fliehst du im Handeln, das Maß.

Eine im abschließenden Pentameter wohlformulierte Antwort auf die Fragen nach der Bedeutung des Tanzes soll das Gedicht abrunden. Solche prägnanten Formeln wurden oft aus Schillers Dichtung herausgelesen und dem »klassischen« deutschen Zitatenschatz einverleibt. Doch löst die Glätte des Gedichtflusses nur äußerlich das Problem, in das »Der Tanz« durch das Fragen des Protagonisten unausweichlich hineingerät. Das abschließende Distichon stellt tänzerisches Spiel und praktisches Handeln nebeneinander und bezieht sie gleichermaßen auf »das Maß«. Vom Inhalt her jedoch drohen die Bereiche von — im Tanz versinnbildlichtem — Poetischem und Praktischem, die in paralleler und chiastischer Antithetik aufeinander bezogen werden, beziehungslos auseinanderzufallen. »(Fliehen« indiziert das Auseinanderfallen der Sphären von Poetischem und Praktischem in völlig beziehungsloses Nebeneinander, wobei »das Maß« nicht einmal mehr als »Flucht«-Punkt des Ideals gelten kann. Diese Beziehungslosigkeit würde dem Spiel des Tanzes seinen Sinn rauben. Von praktischem Handeln gälte dann, was sich der Protagonist beim Anblick des Tanzes als Frage vorlegt und in ihren rhetorischen, durch Voranstellung betonten Verneinungen bereits anklingt: Menschlichem Handeln »rauschen umsonst die Harmonien des Weltalls«, der »Strom dieses erhabnen Gesangs« ergreift es nicht, »Nicht der begeisternde Takt« aller Wesen, »Nicht der wirbelnde Tanz«, den das Gedicht doch zum universalen Prinzip expandieren möchte. Die Beteuerung, »im Spiele« wenigstens werde dem »Maß« des Ästhetischen die Ehre erwiesen, verrät gerade, daß die Wirklichkeit menschlichen Handelns diese Ehrbezeugung versagt und die nur im Bereich des ästhetischen Zirkels erbotene somit ihres Sinnes beraubt. Kunst erweist sich hier selbst die Ehre, die Fatalität ihrer Autonomie demonstrierend. So bleibt der Tanz, der als Paradigma der Kunst »das Maß« vernünftiger Praxis besitzt, ein »unacknowledged legislator«, dessen Nichtanerkennnung als Frage des Protagonisten nach dem Sinn der Kunst und eben dieses Gedichtes in es hineinragt. Diesem Gedicht selbst, das nicht bloß Spiel und tänzerische Harmonie sein kann, entzieht sich das Maß, nach dessen Validität es als gedankenlyrisches fragen muß. Die Dringlichkeit dieser Frage, die das Gedicht als 476

Frage belassen muß, wird vom elegischen Distichon, das das Gedicht mit dem Hauch des Klassischen umgibt und in den Schlußversen einen Abschluß zu erreichen scheint, nur oberflächlich geglättet. Vom Inhalt her fallen die Bereiche, die die Scheinantwort des Gedichtes aufeinander beziehen möchte, das Maß, dem dieses Gedicht huldigt, und der Bereich praktischen Handelns parataktisch auseinander. Diese Parataxis macht das Offene und Unvollendete, das Unklassische des Schillerschen Gedichtes aus und tritt — noch bevor die Fragen und Reflexionen des Protagonisten einsetzen — am Bild des Tanzes selbst zutage. Die Befrachtung dieses Bildes mit Bedeutung versagt Schillers Gedicht, das nicht mehr unbeschwerte, fraglos tänzerische Kunst sein kann und Hymnus wie Elegie auf solche Kunst ist,405 die Geschlossenheit harmonischer Ineinsbildung von Bild und Bedeutung. Solche klassische Einheit, die der naiven »fröhlichen Einbildungskraft« möglich war, 406 zerfällt im Zug zum Abstrakten und Unwirklichen im Bild des Tanzes. Von Beginn an lädt ihn die sentimentalische Einbildungskraft mit Bedeutung auf und extrapoliert diese Abstraktheit aus dem Generischen des Bildes heraus in die Fragen und Reflexionen des Protagonisten, 407 der den Sinn dieses Sinnbildes hervorzukehren sucht und es von vornherein sub specie der später entwickelten Reflexionen anschaut. Dabei vermag die Einbildungskraft — sich auf der Seite der Bedeutung bewegend und im Prozeß des Gedichtes in Reflexion umschlagend — nicht mehr Anschauung und Gedanke im Sinne klassischer Kunstform in Harmonie in-eins zu bilden. Das Gedicht muß in diesen reflexiven Momenten, die es zum gedankenlyrischen machen, abrücken von der Naivität des selbstgenügsam in sich kreisenden Tanzes, in dem sich ein Ungenügen breit zu machen scheint. In den unabwendbaren Fragen des Protagonisten nach dem Sinn des Tanzes als eines Sinnbildes für Kunst und damit nach dem Sinn eben dieses Gedichtes, diesem Ubergewicht des Bildes an Bedeutung, reicht eine Wirklichkeit ins Gedicht hinein, in der »das Maß« der Kunst keine Anerkennung gefunden hat. Deshalb bleibt diesem klassizistischen Gedicht die Realisierung des klassischen Maßes versagt, das der Schlußvers als Gesetzgeber einsetzt, der nicht anerkannt wird. Insofern sich Momente einer unversöhnten Wirklichkeit im Gedicht herausschälen und es zu einem mit sich unversöhnten werden lassen, drückt das Offene und Unvollendete dieses Schillerschen Gedichtes, das um klassisches Maß sich bemüht, die geschichtliche Unmöglichkeit poetischer Vollendung aus und könnte von daher zur »un405

406 407

Zu Schillers Definition der Elegie unsere S. 409f., 413f. »Das hymnische Rühmen«, das v. Wiese an Schillers Gedicht hervorhebt, muß in Verbindung mit diesem elegischen Element gesehen werden. Vgl. v. Wiese, »Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 595. Vgl. unsere S.416. Zum »generischen« Charakter der poetischen Bilder Schillers unsere S.447f. 477

vollendeten Vollendung« dieses Gedichtes werden. Wird ihm eine »ästhetische Synthesis« wie bei Benno von Wiese unterstellt, die Erreichung des Gleichgewichtes von Anschaulichem und Abstraktem, verschwindet die geschichtliche Dimension dieses Gedichtes in der Legende von einer »klassischen Lyrik« Schillers, als deren Beispiel gerade dieses Gedicht oft gilt.408 Der Prozeß der Umwandlung eines — als poetischer Vorwurf dienenden — sinnlichen Eindrucks in Bedeutung läßt sich ebenso an Shelleys »To A Skylark« verfolgen. Auch hier schaffen die die zweite Gedichthälfte bestimmenden Reflexionen über die Bedeutung des Lerchengesanges das Genre des Gedankenlyrischen,409 das sich bereits in der Sättigung des sinnlichen Eindrucks mit Reflexion ankündigte, der sogleich unter dem Begriff einer »unpremeditated art« angeschaut wurde. So führt das Erlebnis der Lerche, die einerseits Naturwesen ist, andererseits vom Protagonisten her nicht als solches belassen wird, diesen in Reflexionen hinein, die ihn seiner Differenz zur Natur inne werden lassen, einer Differenz, auf welche die offenen Fragen nach dem Inhalt des Lerchengesanges hinweisen. »(I)gnorance of pain« wird als weiterer Unterschied zur Situation des Menschen angeführt und der Vergleich »Like an unbodied joy« (aus der dritten Strophe) aufgegriffen. Der Protagonist formuliert, was als tänzerisches Auf- und Niedersteigen, Harmonie von Gesang und Bewegung der Lerche gestaltet wurde, und begreift sie als Inkarnation der Freude: With thy clear keen joyance / Languor cannot be: / Shadow of annoyance / Never came near thee: / Thou lovest — but ne'er knew love's sad satiety.

Die instinktive Freude der Lerche wird zum Hintergrund, vor dem der Unterschied zur Situation des Menschen und ihre Unzulänglichkeiten hervortreten: 410 Our sincerest laughter / With some pain is fraught;

Vom menschlichen Los des Protagonisten, den »mortals« wird die Lerche auch als unsterbliches, ewiges Wesen (Vers 81—85) ähnlich der Nachtigall in Keats' Ode abgerückt.411 Diese »Ewigkeit« kann der Lerche jedoch nur als einem unwissenden, unbewußt dahinlebenden Geschöpf zuteil werden, das ganz im Augenblick zu leben vermag und in ihm Ewigkeit zu besitzen 408

409

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411

Vgl. Benno von Wiese, »Friedrich Schiller«, a.a.O., S. 568, S. 624 über »ästhetische Synthesis« und deren Realisierung in »Der Tanz« S. 578. Unhaltbar dürfte Chernaiks Behauptung sein, Reflexion sei ein Randphänomen in Shelleys Gedicht, a.a.O., S. 126. Diese Unzulänglichkeiten verlieren damit gerade nicht an Relevanz, wie Chernaik meint, ebd., S. 126. Vgl. John Keats: »Ode to a Nightingale«. In: Herring, Meiler, Sühnel, a.a.O., S. 2 0 7 - 2 0 9 .

478

scheint. Die menschliche Situation dagegen wird in den folgenden Versen durch zurück- und vorausblickende, planende Rationalität, die Haltung der Sorge gekennzeichnet: We look before and after, / And pine for what is n o t . . .

Solche, unter dem Zeichen von Naturbeherrschung stehende Planung verlegt Erfüllung und Glück in die Zukunft. So setzt Rationalität den Menschen als Planer seiner Geschichte ein, verweist ihn auf Göttlichkeit und Ewigkeit, wie Shelleys »intellectual philosophy« in derselben Formulierung betonte. 412 Planende Vernunft ist einerseits »godlike reason«,413 Geschenk der Aufklärung, die den Menschen aus dem Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit führen soll, andererseits droht die unter dem Bann planender Naturbeherrschung stehende Rationalität in einer Dialektik der Aufklärung zum »terrible prerogative« zu werden, 414 das den Menschen für immer seiner Natürlichkeit beraubt. Das voraus- und zurückblickende Denken des Protagonisten erkennt diesen Fluch, der zugleich als unabwendbarer Unterschied zur Naivität der Natur begriffen wird. 415 Zwar versucht das Gedicht, in der Anrufung der Lerche, der Anrede an ein Du, diese Trennung zu überwinden und ein dialogisches, nicht auf Naturbeherrschung abzielendes Naturverhältnis zu restituieren. Dieses intendierte »I — Thou« stellt Harold Bloom unter Rekurs auf Martin Buber dem »I — It« Verhältnis entegen,416 der versachlichten Welt der Relationen. Die Historizität des »I — It« Verhältnisses jedoch ergibt sich aus dem Aufklärungsprozeß, der den Menschen in einem antagonistischen Naturverhältnis der Natur als Beherrscher entgegensetzte. Gegenüber dem sich so expandierenden »I — It« der beherrschten Naturdinge hält das »I — Thou« an einer Intimität, Versöhnlichkeit von Mensch und Natur fest, die in diesem Prozeß der Naturbeherrschung verlorengehen mußte, läuft aber auch Gefahr, in primitives, am Anfang dieses Prozesses stehendes Denken zurückzufallen. 417 Der Versuch der Restitution eines »I — 412 413

4,4 415

416

417

Vgl. unsere S.33f. Neville Rogers: »Shelley. Selected Poetry«, Boston 1968, O U P 1969, S.474 (Notes), vergleicht Vers 86 mit Hamlets Monolog (in IV, 4; Vers36—39): »It is Hamlet, in reverse, laughing at himself... Unlike the Prince who is lamenting the abandonment of >godlike reasons Shelley laments that we men do >look before and after< instead of being content with the instinctive gladness of the lark«. Zu dieser Formulierung aus »Queen Mab« unsere S. 155f. Vgl. wieder Keats' »Ode to a Nightingale« und die Klage des Protagonisten über das unglückliche menschliche Denken: »Where but to think is to be full of sorrow...« (Vers27), a.a.O. Harold Bloom: »Shelley's Mythmaking«. New Haven 1959, S. 1 - 1 0 (Introduction: The Mythopoeic Mode). Martin Buber: »I and Thou«, tr. Ronald Gregor Smith, Edinburgh/New York 1937. Uber die Nähe des »I — Thou« zu primitivem Denken s. Bloom, a.a.O., S. 2ff.

479

Thou« wird von der »mythopoeic perception« der Imagination unternommen (Bloom). 418 »I — Thou« und »I — It« wiederholen den Dualismus von Imagination und instrumenteller Vernunft, insofern »imagination« die Integrität des einzelnen Dinges zu wahren sucht, während »reason« die Welt des »I — It«, »the world of relation« schafft. 419 Die geschichtliche Abtrennung des »I — Thou« im unumkehrbaren Aufklärungsprozeß in die es nur zum Schein wiederherstellende »mythopoetische« Dichtung vereitelt auch im Gedicht, das sich vom Bann des Mythischen emanzipiert, den Kommunikationsversuch des »I — Thou«. Der Dialog mit einem Du, die der Odenform eigene Sprachgebärde des »Hail to thee, blithe Spirit!«, die die Lerche in den unaufgeklärten Bereich des Animistischen und Gespensterhaften abzuschieben droht, wird ins Monologische zurückgewendet und drängt zur Frage nach der Möglichkeit der Ode als eines neuzeitlichen Genres. Das in den Selbstreflexionen des Protagonisten entstehende Bewußtsein menschlicher und natürlicher Rationalität, die sich nur planend auf Natur bezieht und von dieser trennt, wird zum unvermeidbaren Unglück. Es mischt sich in die menschlichen Lieder wie »To A Skylark« selbst ein und unterscheidet sie von den vermuteten »sweet thoughts« (Vers 62) der Lerche und »thy happy strain«: »Our sweetest songs are those that tell of saddest thought«. Gerade solche Trauer jedoch fordert den Menschen auf, sich der Freude der Lerche zu nähern. Erst der Mensch, der diese instinktive, unbewußt bleibende Freude verloren hat, hebt deren Möglichkeit ins Bewußtsein. Nur als menschliches Wesen, das Haß, Stolz und Furcht kennt, kann der Mensch eine Annäherung vollziehen: Yet if we could scorn / Hate, and pride, and fear; / If we were things born / N o t to shed a tear, / I know not how thy joy we ever should come near.

Gerade aus der Naturbegegnung heraus entwickelt sich ein gestärktes Bewußtsein der spezifisch menschlichen Situation in diesem »Naturgedicht«. Es verlangt nach Zurückgewinnung von Naivität, doch dies bleibt Forderung eines Bewußtseins, das seiner spezifisch menschlichen, von der Natur trennenden Qualitäten eingedenk ist. Insbesondere soll der Dichter die Beziehung zur naiven »unpremeditated art« wahren, von der ihn seine künstliche Kunst trennt: Better than all measures / O f delightful sound, / Better than all treasures / That in books are found, / Thy skill to poet were, thou scorner of the ground!

418 419

Bloom, ebd., S . 2 . Vgl. Bloom, ebd., S. 1 und zu »reason« unsere S.44.

480

Das Ich des Gedichtes problematisiert schließlich seine dichterischen Intentionen. Die naive »unpremeditated art« der Lerche wird zur Folie, vor der die Andersartigkeit der Dichtung dieses Ichs und dieses Gedichtes hervortritt. 420 Nichts würde dessen Gehalt mehr verfehlen, als die »skylark« als Selbstportrait Shelleys zu deuten. 421 Er ist nicht Dichter unvorherbedachter Dichtung, sondern sentimentalischer Dichter im Stande der Aufklärung, wie er gegen Ende des Gedichtes präsentiert wird und den mit Shelley zu identifizieren erlaubt sein dürfte. Dieser Dichter bekennt sich gerade aus dem Naturerlebnis heraus zu seiner von unglücklicher Reflexion gezeichneten menschlichen Situation und trachtet unter Wahrung ihrer Qualitäten nach Zurückgewinnung des Naiven. Denn diese Beziehung zum Natürlichen bleibt notwendiger Bestandteil der ästhetischen Erziehung zum Poeten, wie sie Shelley im Vorwort zu »The Revolt of Islam« mit autobiographischen Zügen beschrieb. 422 Der Dichter ist seinem Begriffe nach »Bewahrer der Natur«, doch kann er als sentimentalischer nicht Natur sein, sondern nur die verlorene suchen: 423 Er dichtet das Naive, das Gegenstand seines Gedichtes ist; doch kann dieses selbst nicht naiv sein, sondern muß vielmehr von solcher Naivität als einem zu überwindenden Vorbild Abstand nehmen. Teach me half the gladness / That thy brain must know, / Such harmonious madness / From my lips would flow / The world should listen then — as I am listening now.

Das Gedicht bekennt sich zur Unversöhntheit von Natur und aufgeklärtem Bewußtsein. Versöhnung, nach der dieses Bewußtsein sucht, verfiele dem Verdikt einer »harmonious madness«, wäre »Ver-rücktheit« aus der menschlichen, vom Verlust des Naiven geprägten Situation, zu der das Gedicht sich bekennt. Harmonie, wie sie im Naiven gelingt, ist dem Gedicht, das zu den »sweetest songs« »that teil of saddest thought« gehört (Vers 90), nicht gestattet. So wird in der sich selbst problematisierenden poetischen Praxis Shelleys das die »Defence« bestimmende Konzept reiner poetischer Harmo-

420

421

422 423

Vgl. Chernaik, a.a.O., S. 128f.: »In the last part of the poem, the human poet pays tribute to the natural poet. Accounts of the poem which take the bird to be a symbol of joy, or a Platonic ideal, obscure the fact that the bird is from the first a singer. The opening reference to unpremeditated art< suggests the connection with poetry; the first extended simile (>Like a Poet hidden / In the light of thoughtA defence of poetryGedankenfreiheit< und seine Voraussetzungen«. In: P. B.: »Schillers Don Karlos. Edition der ursprünglichen Fassung und entstehungsgeschichtlicher Kommentar«. Stuttgart 1974 (= Veröffentlichungen der Deutschen Schillergesellschaft Bd. 30), S. 508-528. Böhm, Wilhelm: »Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«. Halle/Saale 1927. Böschenstein-Schäfer, R.: »Idylle«. Stuttgart 2. Aufl. 1977. Bowra, C. M.: »The Romantic Imagination«. Cambridge, Mass. 1949 (London 1964). Bradley, A. C.: »Shelley's View of Poetry«. In: »Oxford Lectures On Poetry«. London 1911, S. 151-174. Brown, Marshall: »The Shape of German Romanticism«. Ithaca, London 1979. Buchwald: »Schiller. Leben und Werk«. Wiesbaden 4. Aufl. 1959. 5. Aufl. 1966. Butter, Peter: »Shelley's Idols of the Cave«. Edinburgh 1954. Cameron, Kenneth Neill: »Shelley. The Golden Years«. Cambridge 1974. - : »The Young Shelley«. New York 1950. Carlyle, Thomas: »The Works of Th. Carlyle in Thirty Volumes«. Centenary Edition. (Vol. XXVII: »Critical and Miscellaneous Essays« II.) London 1899. 504

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