Die Verkörperung der Sinnlichkeit 9783495813461, 9783495489154

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Die Verkörperung der Sinnlichkeit
 9783495813461, 9783495489154

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Inhalt
Vorwort
Einleitung
Kapitel 1
1.1 Die räumlich-zeitliche Struktur der Sinnlichkeit
1.2 Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit
1.3 Die Apodiktizität transzendental-ästhetischer Intuitionen
Kapitel 2
2.1 Die Räumlichkeit der Empfindungen
2.2 Die Analogizität der Sinnesstrukturen
2.3 Die Ontologie der Sinnlichkeit
Kapitel 3
3.1 Das Problem der Emergenz in der Sinnlichkeit
3.2 Die Aporien der visuellen Wahrnehmung
(a) Das Netzhautbild
(b) Die visuelle Größenwahrnehmung
(c) Die visuelle Lagewahrnehmung
(d) Die geometrisch-optische Struktur des Sehraumes
(e) Die Perspektivität des Sehens
(f) Die optische Virtualität
(g) Die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes
(h) Die Mondillusion
(i) Die sogenannten »Cues«
3.3 Die Ausdehnung des Gehörsinns
Kapitel 4
4.1 Priorisierung theoretisch-philosophischer Grundlagen: Subjekt und Objekt
4.2 Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit
Literatur
Primärliteratur
Sekundärliteratur

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Babu Thaliath

Die Verkörperung der Sinnlichkeit

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813461

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B

Babu Thaliath Die Verkörperung der Sinnlichkeit

VERLAG KARL ALBER

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https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Babu Thaliath

Die Verkörperung der Sinnlichkeit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Babu Thaliath The Embodiment of Senses We experience our own body and the world around us solely through the senses; our world of experience originates from sensory perceptions. The human subject´s access to an object, which is perceived through the senses and cognized by the mind, is primarily accomplished in this connecting function that necessarily presupposes bodily and extra-bodily extension of senses. The present work is an attempt to re-examine the spatial and temporal structures that are inherent in every form of sensory perception and to show that there exists a fundamental analogicity between the structures of the senses. Since Descartes subsumed the senses under the unextended soul, the res cogitans, and since Kant, with reference to and in continuation of this, conceived the sensory qualities of space and time to be purely a priori, the actual extension of sensation remains an unsolved problem. The aporias of the senses seem to require a restitution of the objective status of the primary qualities in sensation. The spatio-temporal structures form the irreducible skeleton of reality, on which the secondary sensory qualia are extended.

The Author: Babu Thaliath is Professor of Philosophy and German Studies at Jawaharlal Nehru University in New Delhi since 2013. He studied Civil Engineering and German Philology in India and pursued his PhD in Philosophy at the Albert Ludwigs University of Freiburg and at the University of Basel between 1997 and 2003. Subsequently, he completed several post-doctoral research projects in the area of Early Modern Mechanical Philosophy at the Humboldt University of Berlin and at the University of Cambridge (2005-2013). His book Science and Context in the Early Modern Age (Original title: Wissenschaft und Kontext in der frühen Neuzeit) was published by Alber in 2016.

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Babu Thaliath Die Verkörperung der Sinnlichkeit Der Mensch erlebt den eigenen Leib und die Umwelt allein durch die Sinnlichkeit; seine Erfahrungswelt baut ursprünglich auf den Sinneswahrnehmungen auf. Der Zugang des menschlichen Subjekts zum Gegenstand, der sinnlich wahrgenommen und durch den Verstand erkannt wird, vollzieht sich zuerst in dieser verbindenden Funktion, die notwendigerweise die leibliche und außerleibliche Ausdehnung der Sinnlichkeit voraussetzt. Die vorliegende Abhandlung ist ein Versuch, die primären räumlich-zeitlichen Strukturen, die jeder Form der Sinneswahrnehmung innewohnen, erneut zu untersuchen und dabei eine grundlegende Analogizität zwischen den Sinnesstrukturen aufzuweisen. Seitdem Descartes die Sinnlichkeit ausschließlich unter einer unausgedehnten Seele, der res cogitans, subsumierte, und Kant sich – daran anschließend und erweiternd – die primären Sinnesqualia Raum und Zeit rein apriorisch vorstellte, bleibt die wirkliche Ausdehnung der Sinnlichkeit ein ungelöstes Problem. Die Aporie der Sinnlichkeit scheint eine Wiederherstellung des objektiven Status der primären Sinnesqualia zu bedingen. Die räumlich-zeitlichen Sinnesstrukturen bilden dabei das unreduzierbare Skelett der Wirklichkeit, auf dem sich die sekundären Sinnesqualia ausdehnen.

Der Autor: Babu Thaliath ist seit 2013 Professor für Philosophie und Germanistik an der Jawaharlal Nehru Universität Neu Delhi. Er studierte zunächst Bauwesen und Germanistik in Indien und promovierte zwischen 1997 und 2003 im Hauptfach Philosophie an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg und an der Universität Basel. Anschließend absolvierte er mehrere postdoktorale Forschungsprojekte im Fachgebiet Frühneuzeitliche Mechanische Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin und der University of Cambridge (2005– 2013). 2016 erschien bei Alber sein Buch Wissenschaft und Kontext in der frühen Neuzeit.

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Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: Aus dem Werk Traité de l’homme von René Descartes Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48915-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81346-1

https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

dem Andenken an

Olappamanna Damodaran Namboodiripad

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Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Kapitel 1: Der transzendentale Status der Sinnlichkeit . . . . . .

28

1.1: Die räumlich-zeitliche Struktur der Sinnlichkeit . . . . .

28

1.2: Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit . . . . . . .

34

1.3: Die Apodiktizität transzendental-ästhetischer Intuitionen

46

Kapitel 2: Die Analogizität der Sinnlichkeit . . . . . . . . . . .

52

. . . . . . . . . . 2.2: Die Analogizität der Sinnesstrukturen . . . . . . . . . . 2.3: Die Ontologie der Sinnlichkeit . . . . . . . . . . . . . .

52

Kapitel 3: Die Ausdehnung der Sinnlichkeit . . . . . . . . . . .

85

3.1: Das Problem der Emergenz in der Sinnlichkeit . . . . . .

85

2.1: Die Räumlichkeit der Empfindungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 70

3.2: Die Aporien der visuellen Wahrnehmung . . . . . . . (a): Das Netzhautbild . . . . . . . . . . . . . . . . . (b): Die visuelle Größenwahrnehmung . . . . . . . . (c): Die visuelle Lagewahrnehmung . . . . . . . . . (d): Die geometrisch-optische Struktur des Sehraumes (e): Die Perspektivität des Sehens . . . . . . . . . . . (f): Die optische Virtualität . . . . . . . . . . . . . . (g): Die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes . . . . (h): Die Mondillusion . . . . . . . . . . . . . . . . . (i): Die sogenannten »Cues« . . . . . . . . . . . . .

94 94 97 104 109 113 122 130 134 157

3.3: Die Ausdehnung des Gehörsinns

161

9 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Inhalt

Kapitel 4: Vom Subjekt zum Objekt . . . . . . . . . . . . . . .

168

4.1: Priorisierung theoretisch-philosophischer Grundlagen: Subjekt und Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168

4.2: Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit . . . . . . .

174

Literatur

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10 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vorwort

Die vorliegende Abhandlung ist die Fortsetzung und der angestrebte Abschluss einer Untersuchung im Rahmen der Wahrnehmungstheorie, die ich in meiner bereits mehr als ein Jahrzehnt zurückliegenden Promotionsarbeit einführte und während meiner postdoktoralen Forschungen in Berlin und Cambridge weiter verfolgte. Es handelt sich um die räumliche bzw. leibliche und außerleibliche Ausdehnung der Sinneswahrnehmungen im Allgemeinen und des Gesichtssinns im Besonderen. Die Untersuchung erstreckte sich auf einen Zeitraum von drei Jahren; die Arbeit verfasste ich während meiner postdoktoralen Forschung zwischen 2010 und 2012 am Department of History and Philosophy of Science der Universität Cambridge. Die räumliche Ausdehnung der Sinnlichkeit bleibt bis heute ein ungelöstes Problem in der Geschichte der modernen Philosophie und Wissenschaft. Die tradierten Aporien der Sinnlichkeit in Bezug auf die leibliche und außerleibliche Ausdehnung der Sinneswahrnehmungen – besonders die außerleibliche Ausdehnung des Gesichtsund Gehörsinns – lassen sich erneut im historiographischen und wissenschaftsphilosophischen Rahmen untersuchen. Methodologisch setzt die Untersuchung die Analogisierung zwischen der leiblichen und der außerleiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit voraus, die des Weiteren auf eine sich daran anschließende Komplementarität zwischen den philosophisch-wahrnehmungstheoretischen und den naturwissenschaftlichen Grundlagen der Sinnlichkeit verweist. Die Analogizität der Sinnlichkeit beschränkt sich auf die räumlich-zeitlichen Strukturen der Sinneswahrnehmungen, dargestellt durch ihre leibliche und außerleibliche Lokalisation und ihre zeitliche Simultaneität, wobei sie die ontologische Ausdifferenzierung zwischen den Sinnesqualia – zwischen Farben, Ton, Schmerz- oder Kälteempfindung – aufrechterhält. Ebenso betrifft die Komplementarität zwischen den wahrnehmungstheoretischen und naturwissenschaftlichen 11 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vorwort

Grundlagen der Sinnlichkeit vornehmlich die räumlich-zeitlichen Strukturen, die allen leiblichen und außerleiblichen Sinneswahrnehmungen zugrunde liegen. Das Faktum der Komplementarität soll den Forschungshorizont wesentlich erweitern, indem die physiologische bzw. neuronale Basis der leiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit nun im Rahmen einer philosophischen Wahrnehmungstheorie mitberücksichtigt und gar mit einbezogen wird. Anhand von einigen, bereits in der frühneuzeitlichen Geschichte der Optik und Dioptrik erörterten Beispielen wird dargelegt, wie die Analogizität der Sinnlichkeit auf der Komplementarität zwischen den wahrnehmungstheoretischen und naturwissenschaftlichen Grundlagen der Sinnlichkeit aufbaut. Indem diese Komplementarität der Analogizität der Sinneswahrnehmungen als Basis dient, erweitert sie die Möglichkeit der wissenschaftlich-methodologischen Analogisierung über die leibliche Sinnlichkeit hinaus auf die außerleibliche Ausdehnung des Gesichts- und Gehörsinns. Eine derartige Erweiterung bedingt in erster Linie die Analogisierung zwischen der leiblichen und der außerleiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit, wobei das Tasten, das die räumlich-zeitlichen Strukturen der Sinnlichkeit am ehesten bestimmt und gewährleistet, einen deutlichen Vorrang vor allen anderen Formen der Sinnlichkeit erlangt. Diese Vorrangigkeit des Tastens, das den anderen Sinneswahrnehmungen jenen taktilen Grundzug verleiht, stellt sich vor allem als das optische oder auditive Tasten der Gegenstände dar. Auf der Basis einer methodologischen Analogizität zwischen den leiblichen und den außerleiblichen Sinneswahrnehmungen lassen sich viele tradierte Aporien der räumlich-zeitlichen Ausdehnung des Gesichts- und Gehörsinns erneut untersuchen und bewältigen. Ferner bedingen die Aporien der Sinnlichkeit notwendigerweise einen Paradigmenwechsel im Hinblick auf die wahrnehmungstheoretische Vorgehensweise; bei der Emergenz der vorlogischen und rein ästhetischen Erkenntnisse in der Sinnlichkeit – vornehmlich im Gesichtssinn – scheint der referenzielle Ansatzpunkt nicht mehr in einem transzendentalen Subjekt, sondern im wirklichen Gegenstand selbst zu liegen. Wenn eine derartige Umkehrung der epistemologischen bzw. wahrnehmungstheoretischen Referenzialität auf die wissenschaftliche Methodik übertragen wird, kann dies die tradierten Aporien der Sinnlichkeit lösen und dabei fruchtbare wissenschaftliche Erkenntnisse hervorbringen. Untersucht werden im Hinblick darauf die Aporien der visuellen Wahrnehmung, und zwar u. a. die 12 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vorwort

visuelle Größen-, Distanz- und Lagewahrnehmung, die Perspektivität des Sehens, die optische Virtualität, die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes sowie die Aporie der gegenständlichen Lokalisation des Gehörsinns. Die Aporien der visuellen Raumwahrnehmung, wie die von Condillac betonte Aporie des object-size-constancy in Bezug auf die visuelle Größenwahrnehmung, suggerieren eindeutig eine Umkehrung der vorherrschenden transzendental-wahrnehmungstheoretischen Referenzialiät und eine darauffolgende Annahme einer unmittelbaren Beteiligung der Gegenstände und ihrer Referenzen an allen sinnlichen Wahrnehmungen. Die Umkehrung der wahrnehmungstheoretischen Referenzialität und die sich daran anschließende Akzentuierung und Anerkennung der gegenständlichen Referenzialität haben zur Folge, dass sich die räumlich-zeitlichen Strukturen der Sinnlichkeit von den transzendentalen Rahmenbedingungen loslösen und den Status der – von Philosophen der Scholastik angedeuteten und von Locke u. a. in der Frühmoderne axiomatisch vorgestellten – primären Qualia wiedergewinnen. Die räumlich-zeitlichen Strukturen der leiblichen und außerleiblichen Sinnlichkeit bilden dadurch das transzendental irreduzible und als solche unzerstörbare Skelett der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit. Die rein subjektiven sekundären Qualia der Sinnlichkeit dehnen sich auf diesem Skelett wie Fleisch aus, woraus jene Form der wirklichen Verkörperung der Sinnlichkeit zustande kommt. Die Untersuchung hat ihre Ursprünge in meiner Promotionsarbeit über Erwin Panofskys wegweisende Abhandlung Perspektive als Symbolische Form. Auf die Idee einer Forschung über die Genese der Renaissanceperspektive und – des Weiteren – über die perspektivische Struktur des Gesichtssinns kam ich damals durch einige besondere und glückliche Anlässe: nämlich ein kunsthistorisches Proseminar über Giotto bei Prof. Dr. Wilhelm Schlink an der Kunsthistorischen Fakultät der Universität Freiburg, ein philosophisches Blockseminar über »Symbolica investigatio« – Philosophieren in Bildern bei Cusanus, das ich im Sommersemester 1998 bei Prof. Dr. Klaus Jacobi in Freiburg besuchte, und die Postgraduiertenkolloquien mit dem Rahmenthema Bild und Bildlichkeit bei Prof. Dr. Gottfried Boehm an der Kunsthistorischen Fakultät der Universität Basel, an denen ich (seit dem Wintersemester 1998/99) für mehrere Jahre teilnahm. Prof. Dr. Wilhelm Schlink bin ich für die Einführung in die Entwicklungsgeschichte der Renaissanceperspektive und für seine weitere Unterstützung meiner Promotionsarbeit sehr dankbar. Ein 13 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vorwort

reges Interesse an der Untersuchung der Sinnlichkeit – insbesondere des Gesichtssinns –, das ich während meiner Promotion zwischen 1998 und 2003 in Freiburg entwickelte, verdanke ich vor allem meiner langjährigen Bekanntschaft mit Prof. Dr. Gottfried Boehm am Kunsthistorischen Seminar der Universität Basel. Prof. Dr. Klaus Jacobi und Prof. Dr. Gottfried Boehm, den Betreuern meiner Promotion in Freiburg und Basel, bin ich für ihre anfänglichen Anregungen und für die großzügige Förderung meiner Forschungen zu innigstem Dank verpflichtet. Ebenso gilt mein Dank Prof. Dr. Dominik Perler, Lehrstuhlinhaber für Theoretische Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, für sein beständiges Interesse an meinen Forschungsvorhaben und für die Betreuung meiner postdoktoralen Forschungen im Bereich der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie während eines relativ langen Zeitraums zwischen 2005 und 2013. Eine dauerhafte Beschäftigung mit diesem wissenschaftlichen Sujet verdanke ich auch meiner langjährigen Bekanntschaft mit Prof. Dr. Martin Kemp, dem ich im Jahr 2000 an der Kunsthistorischen Fakultät der Universität Oxford begegnete, sowie der seitherigen Vertrautheit mit seiner Grundvorstellung von structural intuition. Eine Vorarbeit dieser Abhandlung – mit dem Titel: Die Räumlichkeit der Empfindung – habe ich bereits im Jahr 2007 während eines einmonatigen Forschungsaufenthaltes am Department of History and Philosophy of Science der Universität Cambridge verfasst und im Jahr 2008 beim Freiburger Dokumentenserver (FreiDok) der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Vorabdruck veröffentlicht. Dieser kurze Forschungsaufenthalt, währenddessen ich am Magdalene College in Cambridge wohnte, wurde damals von Prof. Dr. Martin Kusch betreut. Ich bedanke mich bei Prof. Kusch und dem Master und den Fellows des Magdalene Colleges für ihre freundliche Unterstützung meiner Forschung in Cambridge. Die gegenwärtige Forschung erweitert die theoretischen Grundlagen, die ich zum Teil in der oben genannten Vorarbeit erörterte, und weitet zugleich ihre Anwendbarkeit über den Gesichtssinn hinaus auf den Gesamtbereich der leiblichen und außerleiblichen Sinneswahrnehmungen aus. Die Abhandlung konnte ich während meines Forschungsaufenthaltes am HPS Cambridge als Visiting Scholar zwischen 2010 und 2012 konzipieren und neben meiner Hauptarbeit – einem Forschungsprojekt über die Kontextualität der frühneuzeitlichen Wissenschaften – vollständig verfassen und bearbeiten. Sehr dankend erinnere ich mich an Prof. Dr. John Forrester, der meine Forschung in Cambridge in ihrer 14 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vorwort

ersten Phase betreute. Prof. Dr. Hasok Chang übernahm die Betreuung in der zweiten Phase und unterstützt bis heute meine bisherige Forschung sowie meine zukünftigen Forschungsvorhaben im Bereich der frühneuzeitlichen Geschichte und Philosophie der Wissenschaften. Sehr herzlich danke ich Prof. Chang und seinen Kollegen und Mitarbeitern am HPS Cambridge für ihre fortwährende Unterstützung meiner Forschung. Durch den Forschungsaufenthalt in Cambridge gewann ich zudem viele Freunde unter den dortigen Fellows, Forschern, Lehrenden sowie Studierenden, die mich bei meiner Forschung unterstützten und mich auch im Alltag in Cambridge begleiteten. Prof. Tim Crane, Fellow am Peterhouse in Cambridge, danke ich für die fruchtbaren philosophischen Gespräche. Ebenso danke ich allen meinen Freunden aus dem Programm University of Cambridge Newcomers and Visiting Scholars (NVS) und der Studentenvereinigung Cambridge University India Society (CUIS) sowie allen Freunden seitens der Gemeinschaft Postdocs of Cambridge. Michael O’Sullivan und seiner Frau Moira danke ich herzlich für ihre anhaltende und sehr freundliche Unterstützung während meines mehrjährigen Forschungsaufenthalts in Cambridge. Zum Dank verpflichtet bin ich dem Master und den Fellows des St. Edmund’s College Cambridge für ihre Bereitschaft, mich als Visiting Scholar anzunehmen. Zudem gilt mein Dank Dr. Anna Gannon FSA, Fellow am St. Edmund’s College und John Gannon, Fellow am St. John’s College, für ihre Unterstützung während meiner Zeit als Visiting Scholar am St. Edmund’s College Cambridge. Ferner möchte ich Dr. Robert Crellin, David Binns, Jenny Hunter, Dr. Jennifer Rampling und Jonathan Rogers für die andauernde Freundschaft und Unterstützung bei verschiedenen akademischen und außerakademischen Anlässen in Cambridge meinen Dank aussprechen. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich der Gerda Henkel Stiftung Düsseldorf, die meine Forschung in Cambridge und Berlin in verschiedenen Phasen und deren Verlängerungen mit einem Forschungsstipendium unterstützte. Ohne ihre großzügige Förderung wären die Durchführung meiner Forschung und die Verfassung der vorliegenden Forschungsarbeit kaum möglich gewesen. Nicht weniger Dank schulde ich meinen Lehrern und Freunden aus Indien und Europa für ihr stetes Interesse an meinen postdoktoralen Forschungen und für alle Ratschläge und kritischen Hinweise: Prof. Wilhelm Schlink, Prof. Anil Bhatti, Helge Naatz, Dr. Amol Kahlon, Dr. Petra Stefanie Vogler, Philipp von Leonhardi, Dr. Sanam 15 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vorwort

Dossal, Vasudevan Alasingachar, Prof. Sundar Sarukkai, John Kottayil, Dr. Silvia De Bianchi, Saurabh Pal, Dr. Inge Anders und Peter Bartke. Dr. Julia Afifi und Julia Engel danke ich für das sorgfältige Korrektorat meiner Arbeit. Die Vollendung und die druckfähige Bearbeitung dieser Abhandlung wäre ohne die sehr liebevolle Unterstützung seitens meiner Frau, Jean Mary, nicht denkbar, dafür spreche ich ihr meinen herzlichen Dank aus. Schließlich bedanke ich mich bei der Gerda Henkel Stiftung Düsseldorf für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, die die Veröffentlichung der vorliegenden Arbeit ermöglichte. Cambridge, im Juni 2012

Babu Thaliath

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Einleitung

Allein die Sinnlichkeit verbindet den Menschen mit seiner Umwelt. Der Zugang des Menschen zu seinem eigenen Leib und zur außerleiblichen Welt vollzieht sich in verschiedenen subjektiven Akten – wie Empfinden, Wahrnehmen, Erkennen, Urteilen – die allesamt ihre Basis in der Sinnlichkeit haben. Wie von Kant im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie nachdrücklich betont, werden die Gegenstände lediglich in der Sinnlichkeit gegeben; vom Verstand werden sie erkannt. Die Sinnlichkeit überbrückt demnach die Sphäre des Subjekts mit der des Objekts, indem sie zwischen diesen verschiedenen Existenzmodi einen besonderen ontologischen Zug annimmt. Gegenüber einem logischen Subjekt, das über das sprachlich-begriffliche Erkenntnisvermögen verfügt, bildet die Sinnlichkeit eine vorlogische und rein ästhetische Domäne des Subjekts, die allein die Gegenstände erreichen und sie epistemologisch beherbergen kann. Wie nie zuvor in der Philosophiegeschichte problematisierte Kant den epistemologischen Zugang zu Gegenständen, die erkannt werden. Der Zugang des begrifflich erkennenden Subjekts zum Gegenstand bedingt demnach notwendigerweise die verbindende Funktion bzw. die Medialität der Sinnlichkeit, die als solche zwischen der begrifflichen Erkenntnis und dem erkannten Gegenstand einen besonderen transzendentalen Status gewinnt. Im kantischen Philosophiesystem verweist das Transzendentale auf eine epistemologische Richtungsbestimmung oder Referenzialität vom Subjekt zum Objekt, was Kant bekanntlich als die kopernikanische Wende in der Philosophiegeschichte bezeichnete. Im Rahmen der Transzendentalphilosophie sollen sich die Gegenstände im Erkenntnisprozess nach uns bzw. dem erkennenden Subjekt richten. Die begriffliche Erkenntnis entsteht aus jener transzendentalen Synthese, die offensichtlich zu der Sphäre eines logischen Subjekts gehört. Allerdings soll der Transzendentalen Logik eine Transzendentale Ästhetik vorausgehen, denn die Anschauung, in der allein die Gegenstände gegeben werden, dient der 17 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Einleitung

begrifflichen Synthese als notwendige Basis. Daher beginnt Kant seine Kritik der reinen Vernunft mit der Transzendentalen Ästhetik, die als Lehre der Sinnlichkeit die grundlegenden Richtlinien des Transzendentalismus bestimmen sollte. D. h. das Transzendentale an der Sinnlichkeit soll das System der Transzendentalphilosophie propädeutisch festlegen. Zu diesem Zweck verwendet Kant bereits am Anfang seines Hauptwerkes Kritik der reinen Vernunft – bzw. bei seiner Untersuchung der Sinnlichkeit im Rahmen einer Transzendentalen Ästhetik – die Methode der epistemologischen Negation und Absonderung der subjektiv-sinnlichen Attribute und Qualia aus dem Gegenstand. 1 Das Verfahren der Negation und Absonderung der Sinnesqualia charakterisiert die neuzeitlichen Epistemologien. Descartes führte die Methode der systematischen Negation in seinen Hauptwerken, insbesondere in Meditationen, ein, um die existenzielle Autonomie des bloß denkenden Subjekts und dessen vollkommene Getrenntheit vom menschlichen Leib und den außerleiblichen Gegenständen zu demonstrieren. Aus der kartesischen Methode der epistemologischen Negation bleibt die rein räumliche Ausdehnung – die res extensa – als das einzige Residuum jedoch objektiv bzw. im Objekt übrig. Von John Locke wurde diese nicht zu negierende residuale Entität auf mehrere primäre Qualia im Gegenstand, nämlich u. a. auf Raum, Zeit, Bewegung, Zahl und Materialität, erweitert. Die vom Subjekt autonome gegenständliche Basis der primären Qualia blieb dabei mehr oder weniger eine allgemein anerkannte Annahme. Die von Kant verwendete Methode der Negation, dargestellt in seiner Transzendentalen Elementarlehre, übertraf gerade diese tradierte neuzeitliche Annahme der gegenständlichen Basis von primären Qualia. Im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik werden Raum und Zeit nicht mehr als primäre gegenständliche Qualia betrachtet, sondern als bloße Vorstellungen a priori dem transzendentalen Subjekt unterworfen. Als rein apriorische Vorstellungen werden Raum und Zeit laut Kant nicht aus den empirischen Erfahrungen (aposteriorisch) abgeleitet, sondern sie sind dem Subjekt – und zwar dem transzendentalen Subjekt – angeboren. Im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik kann demnach der Gegenstand seine eigene bzw. die vom transzendentalen Subjekt vollkommen autonome Räumlichkeit und Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Hamburg 1990, S. 64.

1

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Einleitung

Zeitlichkeit – als die zwei wesentlich existenziellen Grundlagen – kaum beanspruchen. Denn die Apriorität des Raumes und der Zeit bezieht sich sowohl auf die subjektive Anschauung als auch auf die Erscheinung, die als solche im strengen Rahmen des Transzendentalismus konzipiert wird. Der Beleg dafür ist die kantische Vorstellung vom Ding an sich, das laut Kant eine vom Subjekt vollkommen autonome Domäne ausmacht und das demnach weder im Raum noch in der Zeit existiert. Durch die Sinnlichkeit hat das Subjekt Zugang nur bis zur Erscheinung, nicht aber zum Ding an sich. Die Apriorität des Raumes und der Zeit ist daher das notwendige Ergebnis der transzendentalen Reduktion auf der Ebene der Sinnlichkeit. In der kantischen Methode der epistemologischen Negation bleiben Raum und Zeit als apriorische Formen der reinen Anschauung übrig, die sich zudem als bloße Strukturen der Sinnlichkeit a priori vorstellen lassen. Die räumliche und zeitliche Ausdehnung macht die Struktur oder das Skelett der Sinnlichkeit aus. Wenn wir von dieser residualen Deutung ausgehen, kehren wir die kantische Methode der Negation (aller Sinnesqualia) um, indem die Sinnlichkeit auf einem räumlich-zeitlichen Gerüst durch die Hinzufügung oder das Füllen der sekundären Qualia aufbaut. Das räumlich-zeitliche Skelett wohnt dem Bau der Sinnlichkeit inne. Als Belege für die Apriorität des Raumes in der Sinnlichkeit gibt Kant ausschließlich Beispiele aus der euklidischen Geometrie, wie z. B. das Axiom der Gerade oder das der Dreidimensionalität des Raumes. Der theoretisch-geometrische Raum ist offensichtlich eine Raumvorstellung a priori. Daher scheint die Grundvorstellung von der Apriorität des Raumes im Rahmen der kantischen Transzendentalen Ästhetik eine gewisse Tautologie in sich einzuschließen. Die empirische bzw. sinnliche Raumwahrnehmung baut in Wirklichkeit auf den natürlichen Raumstrukturen, die den einzelnen Formen der Sinnlichkeit zugrunde liegen, auf. Zum Beispiel: Der perspektivischen Innenstruktur des Gesichtssinns, die im Unterschied zu den geometrisch-axiomatischen Intuitionen nicht einheitlich oder konstant ist – bzw. die sich stets gemäß dem Standpunkt des Betrachters ändert –, lässt sich eine mit der rein geometrischen Intuition vergleichbare Apriorität kaum zuschreiben. Vielmehr scheint die perspektivische Struktur oder die Perspektivität des Sehens, die grundsätzlich durch die von den Sehobjekten reflektierten und auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen eher im Rahmen einer natürlichen Geometrie zustande kommt, empirisch gegeben zu wer19 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Einleitung

den. Ebenso scheint die Apriorität der natürlichen leiblichen und außerleiblichen Ausdehnung und Lokalisation der anderen Sinnesempfindungen fragwürdig; ihre Räumlichkeit erweist sich – gemäß den unterschiedlichen Formen der Sinnlichkeit und besonders gegenüber dem perspektivisch-strukturierten Sehen – als durchaus heterogen. Die ursprüngliche Heterogenität der verschiedenen Sinnesempfindungen – des Sehens, Hörens, Tastens, Schmeckens, Riechens und der leiblichen Empfindungen wie Schmerz oder Kälte – und ihre räumlichen Strukturen wurden im Rahmen der kantischen Transzendentalen Ästhetik strategisch unter dem allgemeinen Begriff Anschauung subsumiert. Eine derartige Subsumierung der Sinnlichkeit unter einem scheinbar meta-empirischen Begriff wie der Anschauung ermöglichte Kant, Raum und Zeit als einheitliche apriorische Formen der Sinnlichkeit zu erfassen. Wenn dagegen die grundlegende Heterogenität der einzelnen Sinneswahrnehmungen und ihrer räumlich-zeitlichen Strukturen mit berücksichtigt wird, könnte das die von Kant im Allgemeinen vorgestellte Apriorität des Raumes und der Zeit als reine Formen der Sinnlichkeit ins Schwanken bringen, sie sogar invalidieren. Wenn Kant im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik feststellt, dass Raum und Zeit gegenüber allen Sinnesqualia in der Anschauung subjektiv nicht negiert und demnach aus der Sinnlichkeit nicht abgesondert oder ausgeräumt werden können, scheint er dem Raum und der Zeit als Formen der Sinnlichkeit stillschweigend einen der lockeschen Vorstellung analogen Status der primären Qualia zuzuschreiben. Denn die transzendental-ästhetische Irreduzibilität und die daraus folgende Residualität des Raumes und der Zeit leitet Kant zweifelsohne aus der tradierten neuzeitlichen Vorstellung von den primären Qualia und ihrer objektiv-existenziellen Autonomie gegenüber allen sekundären Qualia ab. Dennoch schreibt Kant diesen primären Qualia und deren Ursprung in der Sinnlichkeit keinen objektiv-gegenständlichen Status zu; sie werden im strengen Rahmen des Transzendentalismus als rein apriorische Vorstellungen bestimmt. Durch eine derartige Apriorisierung von Raum und Zeit erlangt Kant jedoch keine vollkommen transzendentale Reduktion von Raum und Zeit. Der ontologische Status des Raumes und der Zeit als primäre Qualia bleibt somit bei der transzendental-ästhetischen Reduktion erhalten. Sind Raum und Zeit bloß apriorische Vorstellungen, wie Kant sie im strengen Rahmen seiner Transzendentalphilosophie erfasst? Die 20 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Einleitung

Persistenz des Raumes und der Zeit als primäre Qualia erweckt den Verdacht, dass Raum und Zeit ihre ontologische Irreduzibilität ursprünglich aus einer vom transzendentalen Subjekt autonomen objektiven Domäne gewinnen. Da die Sinnlichkeit die alleinige Verbindung zwischen den Menschen und der Welt – in Erkenntnis- und Wahrnehmungsprozessen – bilden kann, lassen sich derartige Fragestellungen bereits im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik erweitern: Ob Raum und Zeit das unzerstörbare Skelett der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit ausmachen und ob sie als solche – und zwar mit notwendiger Modulierung – in der subjektiven Sinnlichkeit übernommen werden. Diese Vorzugsstellung von Raum und Zeit in der Transzendentalen Ästhetik ist das Ergebnis der transzendental-ästhetischen Irreduzibilität dieser Formen der Sinnlichkeit, was Kant selbst in seiner Methode der epistemologischen Negation zeigt. Die Irreduzibilität des Raumes und der Zeit verweist auch auf ihre strukturelle Einheit und Finalität, die den verschiedenen Formen der Sinnlichkeit als gemeinsame Basis dienen. Die leibliche Ausdehnung zeitlicher Simultaneität von verschiedenen Sinnesempfindungen, wie das Schmecken, Tasten, Schmerz und Kälte, belegen die einheitlichen, allgemeinen und irreduziblen räumlich-zeitlichen Strukturen in der leiblichen Sinnlichkeit. Dies gilt ebenso für die außerleiblichen Sinnesempfindungen wie Sehen und Hören. Diese Einheit und Allgemeinheit der räumlichen und zeitlichen Strukturen gewährleisten die Analogizität zwischen den verschiedenen Formen der leiblichen und außerleiblichen Sinnlichkeit. In der räumlichen bzw. leiblichen Ausdehnung und zeitlichen Simultaneität erweisen sich die leiblichen Sinnesempfindungen als zueinander analog. Verschiedene leibliche Sinnesempfindungen, wie Schmerz, Kälte, Weichheit und Geschmack, zeigen in ihrer leiblichen Lokalisation, Ausdehnung sowie in ihrer zeitlichen Simultaneität deutlich analoge räumlich-zeitliche Strukturen, die allen Formen der leiblichen Sinnlichkeit innewohnen. Allerdings entsteht eine derartige Analogizität zwischen den leiblichen Sinnesempfindungen notwendigerweise auch aus einer materiellen Phänomenalität, die sie miteinander teilen, nämlich die neuronale Ursächlichkeit der leiblichen Sinnlichkeit. Sowohl die Sinnesqualia als auch deren leibliche Lokalisation, Ausdehnung und Simultaneität verdanken dem neuronalen Netzwerk, das im ganzen Leib ausgebreitet ist und vom Gehirn aus gesteuert wird, ihre Entstehung und Wirkungsdauer. Diese rein naturwissenschaftliche Basis der räumlichen und zeitlichen Struktur der leiblichen Sinn21 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Einleitung

lichkeit scheint den tradierten transzendental-philosophischen Anspruch auf die Apriorität von Raum und Zeit in der Domäne der Sinnlichkeit von vornherein zu widerlegen. Jedoch erweisen sich die rein subjektive und die rein leibliche Entstehung der Sinnesempfindungen bei näherer Betrachtung nicht als kontradiktorisch, sondern unbedingt als komplementär. Was uns jedoch von einer möglichen Vorstellung von der Komplementarität zwischen dem subjektiven und dem materiell-leiblichen Ursprung der Sinnlichkeit abhält, ist jene Tendenz zum Prioritätsdenken, an das wir uns lange sowohl im Rahmen der Philosophie als auch im Rahmen der Naturwissenschaften gewöhnt haben. Nun lässt sich untersuchen, ob sich die oben erörterte Analogizität zwischen leiblichen Sinnesempfindungen über den Leib hinaus auf die außerleibliche Sinnlichkeit erstreckt. Hierbei stehen wir vor der Herausforderung, zwischen der leiblichen und der außerleiblichen Sinnlichkeit Analogien aufzuweisen. Die räumliche und zeitliche Ausdehnung der außerleiblichen Sinnlichkeit – abgesehen von der Eigenart und Andersheit der perspektivischen Raumstruktur im Gesichtssinn – scheint die Analogizität zwischen der leiblichen und der außerleiblichen Sinnlichkeit zu gewährleisten. Die naturwissenschaftliche Basis einer derartigen Analogizität – demnach der außerleiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit im Allgemeinen – scheint dagegen eine klare Herausforderung zu bilden. Um diese Herausforderung zu meistern, müssen wir uns auf die oben erwähnte Komplementarität zwischen den subjektiven und den rein objektiven Betrachtungen der Sinnlichkeit stützen. Das rein Subjektive an der leiblichen und außerleiblichen Sinnlichkeit bezieht sich auf die Emergenz der Sinnesqualia, wie z. B. die Farbigkeit oder Helligkeit der Objekte beim Sehen, die verschiedenen Stimmen oder Geräusche beim Hören, die auf der Zunge lokalisierten Geschmäcke und die leiblichen Tastempfindungen wie Wärme oder Kälte. Diese Sinnesqualia sind allesamt sekundäre Qualitäten. Wie zuvor erörtert wurde, verweisen dagegen die räumliche Ausdehnung und Lokalisation dieser Sinnesqualia sowie ihre zeitliche Simultaneität auf die primären Qualitäten der Sinnlichkeit. Nun lässt sich fragen, ob sich das Subjekt an der Emergenz der primären Sinnesqualia beteiligt. Aus der rein naturwissenschaftlichen Sicht betrachtet, wird uns klar, dass allein der materielle Leib bzw. die neuronale Wirkung in dem im ganzen Leib ausgebreiteten Nervensystem die leibliche Lokalisation, Ausdehnung und Simultaneität aller leiblichen Sinnes22 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Einleitung

empfindungen gewährleistet. Das heißt, es ist der objektive Leib, der sich – gegenüber der allein subjektiven Entstehung aller sekundären Sinnesqualia – an der räumlichen Lokalisation, Ausdehnung sowie an der zeitlichen Simultaneität der leiblichen Sinnesempfindungen unmittelbar beteiligt. Während uns eine derartige Beteiligung des objektiven Leibes an den leiblichen Sinnesempfindungen schlüssig erscheint, bereitet uns die Suche nach einer analogen Beteiligung der objektiv-materiellen Phänomene an der Räumlichkeit und Zeitlichkeit der außerleiblichen Sinneswahrnehmungen große Schwierigkeiten. Die Emergenz der sekundären Sinnesqualia weist im Allgemeinen eine Aporie auf – unabhängig davon, ob das Phänomen der Sinnlichkeit im Rahmen der Naturwissenschaft oder im Rahmen der philosophischen Epistemologie untersucht wird. Diese Aporie der Sinnlichkeit entsteht aus der durchaus rätselhaften Kausalverbindung zwischen einer rein mentalen Wirkung und ihrer rein materiellen Ursächlichkeit. Die verschiedenen Sinnesqualia sind in Gänze auftretende Mentalphänomene, deren rein physiologische bzw. neuronale Ursächlichkeit sich auf die Sphäre der Materie beschränkt und folglich ihre ontologische Grenze nicht überschreitet. Die Emergenz der subjektiven Sinnesqualia ist demnach ausschließlich ein ontologischer Sprung von einer ursächlichen materiellen Sphäre zu einer wirklichen immateriell-mentalen Sphäre, was sich unserer wissenschaftlich-rationalen Vorstellungskraft entzieht. Der kausale Sprung von einer materiellen Ursächlichkeit zu einer mentalen Wirklichkeit, dargestellt am ehesten während der Emergenz der Sinnesqualia, deutet auf ein Kausalprinzip, das in erster Linie ontologisch bestimmt ist. Die Emergenz der Sinnesqualia ist demnach die Folge einer ontologischen Kausalität, in der die elementaren Seinsmodi einen komplexeren, aber einheitlichen Seinsmodus stets erwirken. Die Aporie der Emergenz von Sinnesqualia lässt sich letztendlich auf die jeder phänomenalen und mentalen Emergenz zugrunde liegende ontologische Kausalität zurückführen. Im Falle der materiellen Ursächlichkeit der mentalen Phänomene zeigt sich die Aporie der Emergenz in voller Pracht und Deutlichkeit. Die Entstehung der sekundären Sinnesqualia verweist zwar auf die unmittelbare Beteiligung der objektiven Phänomene – insbesondere aller neuronalen Zustände und Prozesse – an der Emergenz dieser Qualia. Jedoch wird das Aporetische an dieser Emergenz durch die leicht nachweisbare Beteiligung der objektiven Phänomene nicht be23 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Einleitung

wältigt; stattdessen verleiht eine derartige Beteiligung – auf einer materiell-objektiven Ursachenebene – der mentalen Emergenz der Sinnesqualia den klaren Status einer unlösbaren Aporie. Die Annahme einer unmittelbaren Beteiligung der objektiven Phänomene an sinnlichen Wahrnehmungsprozessen löst dagegen alle Aporien bezüglich der Entstehung der primären Qualia der Sinnlichkeit, dargestellt sowohl in den leiblichen als auch in den außerleiblichen Sinneswahrnehmungen. Alle bis heute tradierten Aporien im Gesichtssinn – wie die visuelle Größen-, Distanz-, und Lagewahrnehmung, die visuelle Virtualität in den dioptrischen Phänomenen wie Reflexion und Refraktion oder die Entstehung der perspektivischen Struktur des Sehens – scheinen dabei die unmittelbare Beteiligung der objektiven Phänomene an der subjektiven Sinnlichkeit zu suggerieren. Diese Notwendigkeit, dass das Faktum des Objekts – sowohl aus der philosophischen als auch aus der rein naturwissenschaftlichen Sicht – in die subjektive Sinnlichkeit mit einbezogen werden soll, wurde bereits in der Vorzugsstellung des Tastsinns im Rahmen der mittelalterlich-scholastischen Philosophie angedeutet. Unter allen Formen der Sinneswahrnehmungen ist es das Tasten, welches das wahrnehmende Subjekt am engsten mit dem wahrgenommenen Objekt verbindet. Während das Sehen notwendigerweise eine Distanz von den gesehenen Gegenständen voraussetzt, bedingt das leibliche Antasten, das viele leibliche Sinnesempfindungen wie Schmerz, Wärme oder Kälte, aber auch Geschmack mit einbezieht, gerade die Überwindung dieser Distanz. Die Frage nach der Zweiteilung gegenständlicher Existenz – nämlich danach, wie die Dinge zugleich real und mental existieren –, über die in der spätmittelalterlichen Scholastik und der darauf folgenden Frühneuzeit eingehend debattiert wurde, 2 bezieht sich vornehmlich auf den Gesichtssinn. Beim unmittelbaren Sehen entstehen Bilder von Gegenständen, die gegenüber den realen Gegenständen keine Materialität haben. Eine derartige Sinnesempfindung ist im Falle des unmittelbaren Tastens kaum möglich. Denn das Tasten erfordert in erster Linie die Materialität des angetasteten Objekts. Ebenso bedingt der leibliche Geschmackssinn, der in seiner Wirkungsart dem Tastsinn sehr nahe kommt (da die Zunge die Objekte des Geschmacks zunächst unmittelbar tasten soll), die MateriaVgl. dazu Perler, Dominik: Inside and Outside the Mind – Cartesian Representations Reconsidered, in: Perception and Reality. From Descartes to the Present, hrsg. von Ralph Schumacher, Mentis Verlag, Paderborn 2004, S. 76–77.

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Einleitung

lität der geschmeckten Gegenstände. Demnach entsteht ein mentales Objekt eher beim Sehen; ein mentales Objekt zu kauen oder zu schlucken scheint hingegen nicht schlüssig. In ihrem Hauptwerk Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie erörtert Anneliese Maier die Vorzugsstellung des Tastsinns gegenüber allen anderen Formen der Sinnesempfindungen in der mittelalterlich-scholastischen Philosophie und die Umkehrung dieser Hierarchie der Sinne in der kartesischen Frühmoderne. 3 Bei der mittelalterlich-scholastischen Vorzugsstellung des Tastsinns wurde jede andere Form der Sinnlichkeit als ein sinnliches Tasten interpretiert. Die Farben sind zwar rein subjektive Wahrnehmungen, aber sie werden laut der spätmittelalterlich-scholastischen Philosophie im Objekt wahrgenommen. Die unmittelbare Beteiligung des Objekts an der sinnlichen Wahrnehmung impliziert die existenzielle Abhängigkeit der sekundären Qualia von den primären (hier: von der freiräumlichen Entfernung und gegenständlichen Ausdehnung), wie Anneliese Maier es beobachtet: »Wie die Qualitäten im einzelnen von den primären abhängen sollen, wird, besonders wenn es sich auch um die nicht-taktilen handelt, in der älteren Philosophie nur sehr undeutlich gewusst und gesagt. Die Argumentation geht häufig über die Vorzugsstellung des Tastsinns, denn der ist zwar nicht der vornehmste, aber der notwendigste Sinn, der von allen vorausgesetzt wird, selbst aber keinen voraussetzt.« 4

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit im Allgemeinen und die außerleibliche Ausdehnung des Gesichts- und Gehörsinns im Besonderen lassen sich daher kaum allein transzendental auf die Apriorität der Anschauungsformen Raum und Zeit reduzieren. Die bereits im Rahmen der mittelalterlich-scholastischen Philosophie betrachtete und später von Locke in der Frühmoderne erneut festgestellte Differenzierung zwischen den objektiv-primären und den subjektiv-sekundären Sinnesqualia scheint weiterhin für die Entstehung und Existenz aller Formen der Sinnlichkeit zu gelten. Die transzendentale Irreduzibilität und die sich daran anschließende Vorrangstellung der primären Sinnesqualia, die sich nun als vom sinnlich wahrnehmenden Subjekt unabhängig bzw. unabhängig existent vorstellen lassen, sollen demnach die Räumlichkeit und die Zeitlichkeit der Sinneswahrnehmungen als Vgl. Maier, Anneliese: Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie, Rom 1968, S. 18. Siehe Anmerkung 24. 4 Ebd. 3

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Einleitung

ein Skelett der gegebenen Wirklichkeit etablieren und gewährleisten. Die sekundären Sinnesqualia dehnen sich auf diesem Skelett aus wie Fleisch, woraus sich jene Form der wirklichen Verkörperung der Sinnlichkeit zustande kommt. Die außerleibliche Ausdehnung des Gesichts- und Gehörsinns konstruiert hier die wichtigsten Aporien, deren historische Persistenz sich auf ihre Unlösbarkeit – bzw. auf die vergeblichen Lösungsversuche von einem tradierten transzendental-subjektiven Standpunkt aus – zurückführen lässt. Unter diesen übergeordneten Aporien können mehrere einzelne Aporien der visuellen Raum-, Zeit-, und Bewegungswahrnehmungen subsumiert werden. Neben den vorher erwähnten Aporien der außerleiblichen Ausdehnung des Gesichtsund Gehörsinns lassen sich in diesem Rahmen einige historisch bekannte und seit der Antike tradierte Aporien, wie die Mondillusion, erneut untersuchen. Die Aporizität dieser bis heute ungelösten wahrnehmungstheoretischen Probleme scheint eine ebenso wahrnehmungstheoretische Umkehrung des Untersuchungsstandpunktes zu benötigen. Folglich könnte das konventionelle, gewohnheitsmäßige Verharren auf einem rein subjektiven Standpunkt aufgegeben und durch eine vom Objekt ausgehende Betrachtungsweise abgelöst werden. Dies würde die vorher erörterte unweigerliche Komplementarität zwischen den philosophischen und den naturwissenschaftlichen Untersuchungen legitimieren. Jede philosophisch bzw. wahrnehmungstheoretisch festgestellte Aporie soll demnach notwendigerweise ein objektives Faktum spekulativ suggerieren, was die Untersuchung dieses Faktums im Rahmen einer naturwissenschaftlichen Forschung bedingt. Kurzum: Die unlösbare Aporizität der oben kurz skizzierten wahrnehmungstheoretischen Probleme soll methodologisch zur Apodiktizität einiger momentan rein spekulativ vorgestellten, aber objektiv-naturwissenschaftlich nachweisbaren Phänomene führen. Wenn die Aporien der Sinnlichkeit durch die wahrnehmungstheoretischen Hürden entstehen, verweist diese Ausweglosigkeit im Denken prinzipiell auf eine subjektive Unmöglichkeit. Dieser subjektive Zustand setzt sodann eine notwendige Suche nach der Problemlage und ihrer Lösung im Objekt voraus (worauf Aristoteles im Aporienbuch seiner Metaphysik ganz propädeutisch hindeutet 5). Daraus Vgl. dazu Jacobi, Klaus: Kann die Erste Philosophie wissenschaftlich betrieben werden? Untersuchungen zum Aporienbuch der aristotelischen »Metaphysik«, in Meta-

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Einleitung

könnte sich jene spekulative – und zwar naturwissenschaftlich-spekulative – Lösung ergeben, der sich die wissenschaftliche Forschung stellen muss. Eine derartige methodologische Verschiebung impliziert zwar einen Paradigmenwechsel in der Forschung, was die grundlegende Komplementarität zwischen der philosophischen und der naturwissenschaftlichen Untersuchung jedoch nicht widerlegt, sondern sie stattdessen unterstützt. Demnach soll der Fall einer Aporie im subjektiv-philosophischen Forschungsgang die naturwissenschaftliche Spekulation eines objektiven Faktums als unabdingbare Lösung voraussetzen. Der Versuch, dieses objektive Faktum experimentell zu beweisen, würde die wissenschaftliche Grundlagenforschung voranbringen und maßgeblich bereichern.

physisches Fragen. Colloquium über die Grundform des Philosophierens, hrsg. von Paulus Engelhardt und Claudius Strube, Böhlau Verlag, Collegium Hermeneuticum, Bd. 12, Köln – Weimar – Wien 2008, S. 31 ff.

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Kapitel 1 Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

1.1 Die räumlich-zeitliche Struktur der Sinnlichkeit Das Erkennen baut bekanntlich auf einer Verbindung zwischen einem erkennenden Subjekt und dem erkannten Gegenstand auf. Als epistemologischer Nexus schließt jede Erkenntnis diese beiden wesentlich verschiedenen Existenz- oder Seinsmodi in sich ein. Demnach bildet der Modus der Erkenntnis in erster Linie ein subjektives Konstrukt – in Formen sprachlicher Begriffe und Ausdrücke oder außersprachlicher Zeichen –, das wie ein Schleier die rein phänomenale Wirklichkeit verkleidet. Das erkennende Subjekt ist als solches vornehmlich ein logisches Subjekt, das die Erkenntnis im logisch-synthetischen Nexus mit den Gegenständen hervorbringt. Der Modus der epistemologischen Verbindung zwischen Subjekt und Gegenstand lässt sich kaum als eine Komposition bestimmen, denn durch die logischen Abstraktions- und Synthetisierungsprozesse entsteht jene modale und formale Trennung zwischen der Erkenntnis und dem Gegenstand, der erkannt wird. Streng genommen gehören alle Erkenntnisse – als Konstrukt eines logischen Subjekts – zu einer außer-phänomenalen Domäne des Subjekts. Zwar setzt jede Erkenntnis die direkte oder indirekte Präsenz des Erkenntnisgegenstands voraus, aber der gegenständliche Inhalt der Erkenntnis scheint eher in einem metaphorischen Sinne vorgestellt zu werden. Gegenüber dem logisch-synthetischen Erkennen wird die Sinnlichkeit, in der allein die Gegenstände gegeben werden, als die notwendige Vorstufe des Erkenntnisprozesses betrachtet. Besonders im kantischen Transzendentalsystem der Epistemologie wird die Domäne der subjektiven Sinnlichkeit einem eher logischen Subjekt, das die in der Sinnlichkeit gegebenen Gegenstände zu begrifflichen Erkenntnissen synthetisiert, mehr oder weniger hierarchisch untergeordnet. Die kantische Vorstellung von Anschauung bezieht sich im Prinzip auf alle Modi der Sinnlichkeit – auf das Sehen, Hören, Tasten, Rie28 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die räumlich-zeitliche Struktur der Sinnlichkeit

chen und Schmecken –, deren räumliche und zeitliche Ausdehnung allerdings nicht bloß phänomenal, sondern subjektiv-apriorisch bestimmt wird. Die Gegebenheit der ebenso räumlich und zeitlich ausgedehnten Gegenstände in der sinnlichen Anschauung scheint demnach im Modus einer Einverleibung zu entstehen, deren kompositorische Einheit auf der irreduziblen Faktizität des Raumes und der Zeit, die die grundlegende Existenzweise der angeschauten Gegenstände, aber auch der sinnlichen Anschauung selbst ausmacht, basiert. Abgesehen von dieser kompositorischen Einheit, die die räumliche und zeitliche Ausdehnung der subjektiven Sinnlichkeit und der phänomenalen Gegenstände in sich vereint, besteht die Sinnlichkeit qualitativ aus verschiedenen Modi des Empfindungsnexus zwischen Subjekt und Gegenstand, wie z. B. Farbigkeit, Klang, Wärme, Weichheit, Geruch, Geschmack etc. Diese und ähnliche Gegenstände der reinen Sinneswahrnehmung gehören zu einer vorlogischen Domäne des Subjekts, die wir mit Grund die Domäne eines ästhetischen Subjekts nennen. Im Vergleich zu den sprachlich-begrifflichen Erkenntnissen ist im Reich der Sinnlichkeit allein von einem vorlogischen bzw. rein ästhetisch-synthetischen Nexus zwischen Subjekt und Gegenstand die Rede. Die begriffliche Synthese oder das begrifflich-synthetische Urteilen ist – im kantischen Transzendentalsystem – offensichtlich eine Funktion des logischen Subjekts und bildet als solches den Hauptgegenstand einer Transzendentalen Logik. Der transzendentalen Logik sollte notwendigerweise eine Transzendentale Ästhetik vorausgehen, die hauptsächlich die formale Struktur der Sinnlichkeit untersucht. Die Anschauung ist der Schlüsselbegriff, den Kant in der propädeutischen Lehre der Transzendentalen Ästhetik einführt und eingehend erörtert. Der Anschauung schreibt Kant eher eine mediale Funktion zu; allein durch sie wird der Verstand, der begrifflich erkennt, mit den mittels der Sinnlichkeit gegebenen Gegenständen verbunden. Die epistemologische Mediation der Anschauung allein ermöglicht dem erkennenden Subjekt seinen Bezug auf den Gegenstand: »Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstände beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere. Die Fähigkeit

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Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

(Rezeptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns die Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauungen; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe. Alles Denken aber muß sich, es sei geradezu (directe), oder im Umschweife (indirecte), vermittelst gewisser Merkmale, zuletzt auf Anschauungen, mithin, bei uns, auf Sinnlichkeit beziehen, weil uns auf andere Weise kein Gegenstand gegeben werden kann.« 6

Die Mediation der Anschauung erweist sich als ein stufenweiser Prozess, der einer epistemologischen Ordnung unterworfen ist. Demgemäß sind die verschiedenen gegenständlichen und subjektiven Entitäten, auf denen die Anschauung aufbaut, definiert und in den Anschauungsprozess integriert. Im Unterschied zum Verstand und seiner apriorisch-begrifflichen Synthese beginnt der Anschauungsprozess nicht mit seiner apriorisch-formalen Struktur des Raumes und der Zeit, sondern mit dem Gegenstand und seiner Gegebenheit mittels der Sinnlichkeit. Zunächst affiziert der Gegenstand das (subjektive) Gemüt. Das rezeptive Vermögen des Subjekts, von Gegenständen affiziert zu werden, bildet sodann die Sinnlichkeit, wobei die gegenständliche Wirkung selbst eine sinnliche Empfindung ausmacht. Durch die Empfindung bezieht sich die empirische Anschauung auf den Gegenstand. Den in der empirischen Anschauung gegebenen Gegenstand definiert Kant als Erscheinung. 7 Der Anschauungsprozess ereignet sich in dieser Weise in einer stufenweisen Progression, nämlich in einer Progression vom (1) Gegenstand, (2) dessen Affizieren des Gemüts in der Form einer Empfindung und der (3) Rezeption dieser gegenständlichen Wirkung im subjektiven Vermögen der Sinnlichkeit bis hin zur (4) Integration der mittels der Sinnlichkeit gegebenen Gegenstände (als Erscheinungen in einer empirischen Anschauung) in einer apriorisch-formalen Struktur des Raumes und der Zeit. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass Kant bereits in einer Vorstufe dieses Anschauungsprozesses die (apriorische) Beteiligung

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, hrsg. von Raymund Schmidt, Meiner Verlag, Hamburg 1990, S. 63. 7 Ebd.: »Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, so fern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Erscheinung.« 6

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Die räumlich-zeitliche Struktur der Sinnlichkeit

des Subjekts von der (aposteriorischen) Beteiligung des Gegenstands differenziert. In der empirischen Anschauung wird der Gegenstand nicht lediglich gegeben; der (begrifflich) unbestimmte Gegenstand der empirischen Anschauung ist eine Erscheinung, die aus Materie (a posteriori) und Form (a priori) zusammengesetzt ist. Die Materie der Erscheinung korrespondiert der Empfindung und soll demnach erst gegeben werden, wogegen die Form der Erscheinung, in der das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, »im Gemüte a priori bereitliegen muß«. 8 Ebenso wird die Anschauung, vermittelst derer der Verstand die Gegenstände begrifflich erkennt, nicht einheitlich, sondern eher kompositorisch konzipiert. Kant stellt eine reine Anschauung vor, die die reine Form der Sinnlichkeit ist, und unterscheidet sie von der empirischen Anschauung, die die sinnlichen Empfindungen bzw. die Materie der gegebenen Erscheinungen beinhaltet. Erst durch eine vollkommene Beseitigung aller Verstandes- und Empfindungsattribute aus der Anschauung lässt sich die reine Anschauung isolieren und ihre zwei rein apriorischen Formen, nämlich Raum und Zeit, identifizieren. Um die reinen Formen der Sinnlichkeit a priori vollkommen zu extrahieren, verwendet Kant die Methode der systematischen Negation und Absonderung – eine Methode, die sich im Rahmen der neuzeitlichen Epistemologie auf die kartesische Methode des Zweifelns zurückführen lässt. Die reine Anschauung besteht aus den zwei apriorischen Formen der Sinnlichkeit, nämlich aus Raum und Zeit. Die methodische Isolierung der reinen Formen der Sinnlichkeit a priori entspricht zugleich dem Abbau der synthetischen Verbundenheit zwischen einem sinnlich empfindenden und begrifflich erkennenden Subjekt und dem empfundenen und erkannten Gegenstand. Zunächst wird die logische Synthese in der gegenständlichen Erkenntnis abgebaut, damit die Sinnlichkeit übrig bleibt. Danach werden alle Bestandteile der Empfindung isoliert, damit Raum und Zeit als zwei reine Formen der sinnlichen Anschauung und zugleich der Erscheinung übrigbleiben. Diese zweite Absonderung erlangt eine epistemologische Finalität, indem Raum und Zeit als irreduzible residuale Entitäten auftreten. Allerdings basiert die epistemologische Irreduzibilität und Finalität dieser residualen Entitäten letztendlich auf ihrer ontologischen Irreduzibilität und Finalität – eine Tatsache, die

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Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

sich sowohl aus der kartesischen als auch aus der kantischen Methode der systematischen Absonderung ableiten lässt. 9 Wenn wir diese systematische Absonderung der reinen Formen der Sinnlichkeit umdrehen (indem wir zunächst die Finalität der reinen Formen, nämlich Raum und Zeit, und deren Funktion in dem Prozess der Empfindung, Wahrnehmung und des Erkennens in Betracht ziehen) oder, mit anderen Worten, wenn wir von diesen residualen und als solche irreduziblen Entitäten, die die irreduziblen Grundlagen der Anschauung bilden, ausgehen und zu dem synthetischen Aufbau unserer Sinnlichkeit voranschreiten, erkennen wir diese Formen als notwendige Strukturen unserer Sinnlichkeit. Alle Modi unserer Sinnlichkeit entstehen notwendigerweise in räumlicher und zeitlicher Formhaftigkeit und Strukturalität, denen Kant lediglich einen apriorischen Status zuschreibt. Im Aufbau der Sinnlichkeit liefern die Empfindungen, von Gegenständen initiiert, den Rohstoff, während Raum und Zeit als reine Formen a priori den sinnlichen Bau strukturell entwerfen. Die Apriorität dieser Formen ist dabei nach Kant eine Notwendigkeit, worauf mehrmals im Rahmen einer ausführlichen Behandlung des Raumes und der Zeit in der Transzendentalen Ästhetik verwiesen wird. Sie wird am ehesten in allen axiomatischen geometrischen Erkenntnissen demonstriert. Um die Apriorität des Raumes zu belegen, führt Kant wiederholt einige Beispiele aus der euklidischen Geometrie an, nämlich u. a. das Axiom der Geraden oder das der Dreidimensionalität des euklidischen Raumes. Dass der Raum drei Abmessungen hat, ist notwendig eine Erkenntnis a priori. Darauf basieren auch die apodiktische Gewissheit dieses geometrischen Grundsatzes und die Möglichkeit seiner Konstruktion a priori. 10 Diese axiomatische Erkenntnis deutet auf die Struktur des euklidischen Raumes, der den Hintergrund aller geometrischen Formen und Gesetze bildet. In der Transzendentalen Äs»In der transzendentalen Ästhetik also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, daß wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei denkt, damit nichts als empirische Anschauung übrigbleibe. Zweitens werden wir von dieser noch alles, was zur Empfindung gehört, abtrennen, damit nichts als reine Anschauung und die bloße Form der Erscheinungen übrigbleibe, welches das einzige ist, das die Sinnlichkeit a priori liefern kann. Bei dieser Untersuchung wird sich finden, daß es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung, als Prinzipien der Erkenntnis a priori gebe, nämlich Raum und Zeit, mit deren Erwägung wir uns jetzt beschäftigen werden.« Ebd., S. 65. 10 Ebd., S. 67. 9

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Die räumlich-zeitliche Struktur der Sinnlichkeit

thetik stammen Beispiele für die Apriorität des Raumes allesamt aus der euklidischen Geometrie. Der euklidisch-geometrische Raum und seine Struktur, dargestellt vor allem in seiner Dreidimensionalität, entspricht zwar der Wirklichkeit unseres Lebensraumes und des newtonschen absoluten Raumes des Kosmos, aber er ist eine Raumvorstellung a priori, d. h. ein theoretischer Raum, den wir in unserer produktiven Einbildungskraft entstehen lassen. Dagegen erweist sich der Raum der Sinnlichkeit als kaum einheitlich. Die Raumwahrnehmung wird uns hauptsächlich durch visuelle, haptische und auditive Wahrnehmung vermittelt. Darunter bildet die visuelle Raumwahrnehmung zum großen Teil sowohl unsere unmittelbare Erfahrung eines ästhetischen Raumes als auch unsere (apriorische) Vorstellung der geometrischen Formen und Strukturen. Aber der visuelle Raum, also der Sehraum – unabhängig davon, ob er unmittelbar beim Sehen erfahren wird oder man sich diesen in der produktiven Einbildung lediglich vorstellt – ist notwendigerweise ein perspektivischer Raum. Mit anderen Worten: Dem unmittelbaren Sehraum (a posteriori) und dem apriorischen Vorstellungsraum liegt undifferenziert die Struktur der Perspektive zugrunde. Das oben erwähnte geometrische Axiom benötigt zusätzlich zu seiner wirklichen ästhetischen Erfahrbarkeit oder apriorischen Vorstellbarkeit eine gewisse logische Synthese; die reine Visualität der Dreidimensionalität des euklidischen Raumes erweist sich sowohl in der unmittelbaren Seherfahrung als auch in der apriorischen Vorstellung als modal einheitlich, d. h., sie ist der irreduziblen Struktur der Perspektivität unterworfen. Wenn wir die Dreidimensionalität des Raumes in der Form von Raumkoordinaten wirklich darstellen oder uns diese lediglich (apriorisch) vorstellen, vermögen wir sie nur in einer perspektivischen Raumstruktur wahrzunehmen (indem einige Winkel am Origo – dem Nullpunkt –, die in Wirklichkeit rechte Winkel sind, perspektivisch verzerrt – als spitze und stumpfe Winkel – gesehen werden). Die Struktur der Vision – sowohl in der aposteriorischen Seherfahrung als auch in der apriorischen Einbildung – entspricht demnach eher einem perspektivischen Raum; der geometrische Raum sowie die geometrischen Formen und Strukturen scheinen aus diesem ursprünglichen ästhetischen Raum abstrahiert zu werden. Im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik und insbesondere im Rahmen der Untersuchung der Apriorität der Raumvorstellung unternimmt Kant nicht den Versuch, sich einen ästhetischen Raum – als Raum der Sinnlichkeit – vorzustellen und ihn von dem eher theoretischen 33 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

Raum der Geometrie zu trennen. Dies wird besonders dann deutlich, wenn wir darauf achten, dass alle geometrisch-axiomatischen Vorstellungen (a priori) notwendigerweise die Visualisierungen voraussetzen, die einer perspektivischen Raumstruktur unterworfen sind und bleiben. Um die wirkliche perspektivische Raumstruktur der unmittelbaren Seherfahrung und der apriorischen Einbildung isoliert zu betrachten und zu behandeln, muss man das Sehen von den anderen Modi der Sinnlichkeit isolieren. Bei Kant sind dagegen alle einzelnen Modi der Sinnlichkeit – im strengen Rahmen einer transzendentalen Ästhetik – unter einer annähernd axiomatischen Grundvorstellung von Anschauung subsumiert. Allerdings verweist der Begriff der Anschauung an erster Stelle auf einen Sehraum, also auf das Sehen.

1.2 Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit »Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zugrunde liegt.« 11 Wie definiert Kant die äußeren Anschauungen? Sie beziehen sich unbedingt auf die Sinnlichkeit, durch die allein wir die Ausdehnung unseres Leibes und des außerleiblichen Raumes, in dem sich die äußeren Gegenstände befinden, wahrnehmen können: »Vermittelst des äußeren Sinnes, (einer Eigenschaft unseres Gemüts), stellen wir uns Gegenstände als außer uns, und diese insgesamt im Raume vor. Darinnen ist ihre Gestalt, Größe und Verhältnis gegen einander bestimmt, oder bestimmbar. Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüt sich selbst, oder seinen inneren Zustand anschauet, gibt zwar keine Anschauung von der Seele selbst, als einem Objekt; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist, so, daß alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird.« 12

Was das Subjekt mit dem wirklichen bzw. in der Wirklichkeit anwesenden Leib und den außerleiblichen Gegenständen verbindet, ist allein die Sinnlichkeit. Als äußere Anschauungen sind alle Modi unserer Sinnlichkeit räumlich ausgedehnt. Die Räumlichkeit, die unserer äußeren bzw. leiblichen und außerleiblichen Sinnlichkeit zugrunde liegt, ist nach Kant eine notwendige Vorstellung a priori. Wie bereits 11 12

Kant, a. a. O., S. 67. Ebd., S. 66.

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Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit

an früherer Stelle dargelegt wurde, führt Kant als Beispiele für die Apriorität der Raumvorstellung in der Transzendentalen Ästhetik zum großen Teil die euklidisch-geometrischen Axiome an. Nach Kant basiert die apodiktische Gewissheit der geometrischen Axiome auf der notwendigen Apriorität des Raumes. Dies scheint im Rahmen seiner Lehre der transzendentalen Ästhetik eine besondere Strategie zu sein. Der Raum der Geometrie ist primär ein Vorstellungsraum, den wir – wie Kant in »Axiomen der Anschauung« eingehend erörtert – erst in unserer produktiven Einbildungskraft entstehen lassen. Als solcher ist er offensichtlich eine Raumvorstellung a priori. Dagegen ist der Raum, der unseren sinnlichen Wahrnehmungen – insbesondere der Vision – sowie den sinnlich wahrgenommenen äußeren Gegenständen zugrunde liegt, notwendigerweise ein ästhetischer Raum, der sich von dem apriorischen Vorstellungsraum unterscheidet. Nun stellt sich die Frage, ob die Räumlichkeit unserer unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen sowie der sinnlich wahrgenommenen Gegenstände eine bloß apriorische Vorstellung oder primär eine aposteriorische Gegebenheit ist? Raum und Zeit fasst Kant im strengen Rahmen seines transzendentalen Philosophiesystems auf. Die Transzendentale Ästhetik, die als erster Teil der Transzendentalen Elementarlehre eine Propädeutik zu seiner Transzendentalphilosophie bildet, richtet sich von vornherein auf die Begründung der Apriorität des Raumes und der Zeit. Die streng transzendentale Betrachtungsweise scheint den Zug einer Kontextualisierung – und zwar einer philosophisch-historischen Kontextualisierung – anzunehmen. Raum und Zeit werden dabei – als rein apriorische Formen der Sinnlichkeit – eher einem anschauenden Subjekt als der angeschauten phänomenalen Wirklichkeit zugeschrieben. Zwar negiert Kant die räumliche und zeitliche Existenz der gegenständlichen Welt nicht, aber darüber wird in der Transzendentalen Ästhetik strategisch geschwiegen. Wenn die Welt der Gegenstände (zu der unsere bloß leibliche Existenz gehört) wahrhaft unabhängig von dem sinnlich wahrnehmenden und begrifflich erkennenden Subjekt existiert, könnten wir, ergänzend zu Kant, nur feststellen, dass Raum und Zeit innerhalb des Kontexts der Transzendentalphilosophie notwendige Vorstellungen a priori sind. Allerdings stellt Kant bereits am Anfang der Transzendentalen Ästhetik die Frage nach der wahren Bestimmung des Raumes und der Zeit zwischen ihrer bloßen Apriorität bzw. apriorischen Vorstellung und ihrer aposteriorischen Gegebenheit: 35 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

»Was sind nun Raum und Zeit? Sind es wirkliche Wesen? Sind es zwar nur Bestimmungen, oder auch Verhältnisse der Dinge, aber doch solche, welche ihnen auch an sich zukommen würden, wenn sie auch nicht angeschaut würden, oder sind sie solche, die nur an der Form der Anschauung allein haften, und mithin an der subjektiven Beschaffenheit unseres Gemüts, ohne welche diese Prädikate gar keinem Dinge beigelegt werden können?« 13

Die kantischen Antworten, worauf seine Transzendentale Ästhetik und des Weiteren seine Transzendentalphilosophie überhaupt gründen, sind offensichtlich ein Ja zu der ersten und ein Nein zu der letzten Frage. Aber bei dieser Fragestellung und deren Erörterungen in der Transzendentalen Ästhetik wird stillschweigend die Kontextualität der Transzendentalphilosophie vorausgesetzt. Das Problem der sinnlichen – besonders visuellen – Raumwahrnehmung hat eine vor-kantische Entwicklungsgeschichte in der neuzeitlichen Philosophie. In Die Welt untersucht Descartes die Entstehung der visuellen Raumwahrnehmung bzw. der visuellen Größen-, Distanz- und Lagewahrnehmung der Gegenstände. Die kartesische Untersuchung der visuellen Raumwahrnehmung basiert auf dem Zusammenhang zwischen Seh- und Tastempfindung. 14 Ob die bloße Tastempfindung visuelle Raumwahrnehmung suggerieren kann, wurde in der bekannten Molyneux-Frage im 17. Jahrhundert problematisiert. Die Fragestellung von William Molyneux veranlasste John Locke und weiterhin George Berkeley, dieses scheinbar ungelöste Problem in der visuellen Raumwahrnehmung eingehend zu untersuchen. Berkeleys »An Essay towards a New Theory on Vision« behandelte ausschließlich das Phänomen des Sehens, indem zum großen Teil die Ausdehnung des Sehraumes, dargestellt in der visuellen Größen-, Lage- und Distanzwahrnehmung, sowie die wahrnehmungstheoretische Kluft zwischen Seh- und Tastempfindung untersucht wurden. Die Molyneux-Frage und ihre Erörterung von Locke Ebd. Im Teil Der Mensch in seinem Hauptwerk Die Welt untersucht Descartes die Beteiligung des Tastsinns an dem Gesichtssinn bzw. an der vornehmlich visuellen Wahrnehmung der Lage, Gestalt, Entfernung, Größe usw.: »Ich muß Ihnen aber noch sagen, was der Seele ermöglichen wird, Lage, Gestalt, Abstand, Größe und andere Qualitäten zu empfinden, die sich nicht auf einen Sinn im besonderen beziehen wie die, über die ich bislang gesprochen habe, sondern dem Tastsinn und dem Sehvermögen gemeinsam sind und in gewisser Weise sogar den anderen Sinnen.« Vgl. Descartes, René: Die Welt, übers. und hrsg. von Christian Wohlers, Felix Meiner Verlag, Hamburg 2015, S. 241. Anschließend erläutert Descartes die Beteiligung des Tastsinns an dem Gesichtssinn anhand verschiedener Demonstrationen, wie der folgenden:

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Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit

und Berkeley fanden erhebliche Resonanz in Frankreich – bei Diderot, Condillac und Voltaire. Erwähnenswert ist in diesem Bezug die Untersuchung Condillacs, nämlich Traité des Sensations (1754), in der deutlich ausgeführt wird, inwiefern die visuelle Größen- und Distanzwahrnehmung trotz aller Lösungsversuche ein ungelöstes Problem bleibt. 15 Neben diesen philosophisch-epistemologischen Untersuchungen erfolgte in der Frühneuzeit die Entwicklung der geometrischen Optik zu einem autonomen Wissenschaftsbereich. Des Weiteren prägten diese Zeit die Entdeckung der Zentralperspektive (von Filippo Brunelleschi) und ihre Etablierung in der Malkunst der Renaissance sowie ihr Einfluss auf die frühneuzeitlichen Theorien des Sehens. Die neuzeitliche geometrische Optik und Zentralperspektive bezogen sich auf die Struktur des Sehraumes, die der wirklichen Ausdehnung der visuellen Raumwahrnehmung zugrunde liegt. Berkeley setzte sich in seiner Abhandlung mit den geometrisch-optischen Ansätzen in der

Figur 1 Ebd., S. 287. 15 Der renommierte Psychologe Michael J. Morgan veröffentlichte im Jahr 1977 eine Abhandlung über die Molyneux-Frage und deren Rezeption in der Neuzeit von Locke, Berkeley, Diderot, Condillac, Voltaire u. a. sowie über die Aktualität dieser Problemstellung in der gegenwärtigen Forschung der visuellen Raumwahrnehmung. Morgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge 1977.

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Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

wissenschaftlichen Erklärung der visuellen Raumwahrnehmung eingehend auseinander, indem er auf die Irrealität bzw. auf die bloße Idealität der geometrischen Linien, die die realen Lichtstrahlen lediglich darstellen, verwies. 16 Dabei neigte Berkeley zu einem psychophysiologischen Erklärungsmodell der visuellen Größen-, Lage- und Distanzwahrnehmung. Johannes Kepler verwies auf die Falschheit der Theorien der Inferenz, die davon ausgehen, dass die visuelle Größen-, Lage- und Distanzwahrnehmung der Gegenstände durch die Inferenzen aus ihren Netzhautabbildungen entstehen. »Kepler (1604) leaves to the natural philosopher the question of whether the retinal image ›is made to appear before the soul or tribunal of the faculty of vision by a spirit within the cerebral cavities, or the faculty of vision, like a magistrate sent by the soul, goes out from the council chamber of the brain to meet this image in the optic nerves and retina, as if it were descending to a lower court.‹« 17

Da wir das Netzhautbild nicht sehen, kann hier von einer Inferenz (zwischen Abbildungs- und Sehgröße der Gegenstände) nicht die Rede sein. Als Kant gegen Ende des 18. Jahrhunderts erklärte, dass Raum eine ausschließlich apriorische Form der sinnlichen Wahrnehmung und der – in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen – Erscheinungen ist, schien er in gewisser Hinsicht die oben kurz skizzierte Vorgeschichte der Untersuchung der visuellen Raumwahrnehmung maßgeblich zu verschleiern oder sogar zu unterdrücken. Wie zuvor erörtert wurde, beziehen sich die kantischen Begriffe Anschauung und Erscheinung primär auf die visuelle Wahrnehmung, durch die uns – den wahrnehmenden und erkennenden Subjekten – die äußeren Gegenstände zumeist gegeben werden. Daher ist es notwendig, gerade im Hinblick auf die Erörterung der Räumlichkeit der Anschauung und der Erscheinung, die sich auf die räumliche Ausgedehntheit der visuellen Raumwahrnehmung beziehen, die Vorgeschichte der Sehtheorien und die damit verbundenen Wissenschaften der geometrischen Optik, Perspektivität usw. hinreichend zu betrachten. Kant versucht nämlich die Raumproblematik in der Sinneswahrnehmung kontextual – auf den Rahmen einer Transzendentalen Ästhetik – zu reduzieren. Der Raum als eine notwendige subjektiv-apriorische VorBerkeley, George: An Essay towards a New Theory on Vision. Philosophical Works, ed. Michael R. Ayers, London 2009, S. 9–10. 17 Braunstein, Myron L.: Depth Perception Through Motion, New York 1976, S. 5. 16

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stellung erweist sich zwar als eine wahre Aussage, aber hinter dieser Vorstellung verbergen sich viele tradierte und immer noch aktuelle Problemstellungen in Bezug auf die Erklärung der räumlichen Ausdehnung der Sinnlichkeit – insbesondere der räumlichen Ausdehnung der Vision. Insofern ist festzustellen, dass die programmatische Apriorisierung des Raumes im Kontext einer Transzendentalen Ästhetik einen annähernd dogmatischen Status erlangt. Gemäß den transzendentalphilosophischen Rahmenbedingungen im kantischen System scheinen die rein empirischen Begriffe subtile Metamorphosen zu erfahren. Zwar wird der Gegenstand – oder der Körper – in der Transzendentalen Ästhetik mit einbezogen, aber er wird in erster Linie durch seine Wirkung auf das Subjekt im Modus eines Affizierens, was eine Empfindung zustande bringt, nachvollzogen. »Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung heißt Empfindung.« 18 Bei genauer Betrachtung liegt das Gewicht im kantischen transzendentalphilosophischen System nicht auf dem Gegenstand – als eine Entität, die eine vom Subjekt gänzlich abgetrennte Existenzweise hat –, sondern auf der »Erscheinung«, die in der empirischen Anschauung gegeben ist. Denn im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie neigt Kant von vornherein dazu, der vom Subjekt losgelösten Existenzweise des Gegenstands eher den Status eines Ding an sich, das sich dem subjektiven Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen entzieht, zuzuschreiben. Demnach ist der Gegenstand, der das menschliche Gemüt auf irgendeine Weise affiziert, kein bloßer Gegenstand, sondern ein Ding an sich, also ein unbekanntes »X«. Der Gegenstand existiert entweder für das Subjekt als Erscheinung oder an sich – als Ding an sich. Von diesem philosophisch-metaphysischen Standpunkt Kants machten die postkantischen Philosophien – insbesondere von Hegel und Schopenhauer – bekanntlich Gebrauch; in ihnen kam er viel deutlicher zum Ausdruck. Ebenso wie die Erscheinung ist die Anschauung bei Kant ein eher transzendentalphilosophischer Begriff, unter dem die Sinnlichkeit – ein tradierter empirischer Begriff – subsumiert zu werden scheint. Es genügt durchaus zu sagen, dass die Gegenstände in der Sinnlichkeit (die sich als rein empirische Entität auf alle Modi des menschlichen Sinnesvermögens bezieht) gegeben und durch den Verstand begrifflich erkannt werden. Ebenso wie der empirischen An18

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Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

schauung liegen der Sinnlichkeit nach Kant Raum und Zeit als reine Formen (sinnlicher Anschauung) zugrunde. Durch die Einführung des Begriffs Anschauung – zwischen Sinnlichkeit und Verstand – zielt Kant offensichtlich auf eine klare Definition der reinen Anschauung, deren apriorische Formen Raum und Zeit sind, und auf die saubere Trennung der reinen Anschauung von der empirischen. Die Vorstellung von der reinen Anschauung soll sodann die Apriorität des Raumes und der Zeit, die nach Kant keine empirischen Begriffe sind, philosophisch gewährleisten. Der rein transzendentale Status, den Kant dem Raum und der Zeit im Kontext seiner Transzendentalen Ästhetik zuschreibt, baut eindeutig auf seiner Vorstellung von Anschauung bzw. auf seiner Vorstellung von der Zweiteilung der Anschauung als »rein« und »empirisch« auf. Kann eine reine Anschauung – auch als eine residuale Entität – ohne einen empirischen Inhalt lediglich existieren? Ist es überhaupt vorstellbar, dass eine reine Anschauung die unmittelbare sinnliche Erfahrung des Raumes und der Zeit – genauer gesagt der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit der Gegenstände – vollkommen ausschließt? Gegenüber der »Sinnlichkeit« scheint die »Anschauung« bei Kant den Status eines meta-empirischen Begriffs zu erlangen (was anscheinend durch die programmatische transzendentale Metamorphose der empirischen Begriffe vorausgesetzt wird). Zwischen der kartesischen und der kantischen Methode der systematischen Absonderung oder Negation der Verstandesattribute und Sinnesqualitäten am Gegenstand lassen sich zwar Analogien aufweisen; in beiden Fällen werden die subjektiven Attribute der gegenständlichen Qualia, die allein durch die Sinnlichkeit vermittelt werden, methodisch negiert und vom Gegenstand abgesondert. Die entscheidende Differenz zwischen der kartesischen und der kantischen Methode der Negation liegt in der ontologischen Bestimmung der residualen Entität des Raumes bzw. der Räumlichkeit des Gegenstands. Während von der kartesischen Methode der Negation eine von der res cogitans gänzlich losgelöste rein gegenständliche Ausdehnung – als res extensa – übrig bleibt, stellt sich Kant die Räumlichkeit oder die räumliche Ausdehnung der empfundenen Gegenstände – als irreduzible residuale Entität – nicht rein gegenständlich, sondern transzendental-apriorisch, d. h. im transzendentalen Subjekt, vor. In der kantischen methodischen Negation bleiben aus der empirischen Anschauung noch die Ausdehnung und die Gestalt des empfundenen Körpers übrig; sie »gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als 40 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit

eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.« 19 Während bei Descartes die residuale und als solche finale Entität der räumlichen Ausdehnung des Körpers als res extensa wahrnehmungstheoretisch veräußert wird, wird sie bei Kant im Modus einer reinen Form der sinnlichen Anschauung in einem transzendentalen Subjekt verinnerlicht. Zwischen der kartesischen res extensa und der kantischen Vorstellung von der Apriorität des Raumes lässt sich in gewisser Hinsicht eine historisch-epistemologische Apriorisierung des Raumes aufweisen. Die Versöhnung zwischen dem neuzeitlichen Rationalismus und Empirismus in einem transzendentalphilosophischen System zählt bekanntlich zu der größten Leistung Kants. Die Divergenz zwischen dem kartesischen Rationalismus und dem sogenannten britischen Empirismus basierte letztendlich auf der Streitfrage nach dem Ursprung der Ideen, der Erkenntnis im Erkenntnisprozess. Der von Descartes initiierte und später von Leibniz verstärkt vertretene Apriorismus ging von der Vorstellung aus, dass die Ideen bereits im Subjekt, und zwar apriorisch, vorhanden sind. Dagegen sahen die Empiristen wie Locke die anfänglichen Wurzeln sowie die Initiation der Ideen in der aposteriorischen bzw. sinnlich gegebenen Erfahrung. In einem transzendentalphilosophischen System versuchte Kant diese tradierte Divergenz zwischen Rationalismus und Empirismus aufzuheben; eine Philosophie der Synthese sollte den apriorischen Ansatz des Rationalismus mit dem eher aposteriorischen Ansatz des Empirismus verbinden. In dem transzendentalphilosophischen System beginnt der Erkenntnisprozess aposteriorisch, d. h. mit der Erfahrung, aber sowohl die reinen Anschauungsformen, nämlich Raum und Zeit, als auch die Verstandesbegriffe, die die Erkenntnisse bilden, sind apriorisch vorhanden. Die transzendentalphilosophische Synthese bildet demnach bei Kant eine gewisse Anwendung der apriorisch vorhandenen reinen Anschauungsformen und der Verstandesbegriffe auf die aposteriorisch gegebenen Gegenstände. Die theoretische Grundlegung der epistemologischen Synthese oder der verbindlichen Erkenntnis, dargelegt anhand der Grundfrage, »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?«, schien bei Kant gerade in Bezug auf seine programmatische Versöhnung zwischen Rationalismus und Empirismus durch ein strategisches Anwendungsverfahren bestimmt zu werden. Die epistemologische Synthese 19

Ebd.

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Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

bzw. Verknüpfung zwischen der aposteriorischen Gegebenheit der Gegenstände und den apriorisch vorhandenen Anschauungsformen und Verstandesbegriffen im kantischen System der Transzendentalphilosophie zeichnet sich durch keine prioritätsneutrale Versöhnung aus, sondern eindeutig durch eine Bevorzugung der Apriorität der reinen Anschauung und der begrifflichen Erkenntnisse gegenüber der aposteriorischen Gegebenheit der Gegenstände. Die von Kant skizzierte epistemologische Synthese – im Modus einer Anwendung der apriorischen reinen Formen der Anschauung und Verstandesbegriffe auf die Phänomene – verweist auf eine ursprüngliche Richtung des Erkenntnisprozesses vom Subjekt zum Objekt, was offenkundig die Bevorzugung des apriorischen Vorhandenseins der Anschauungsformen und Verstandesbegriffe gegenüber den empirischen bzw. sinnlichen Erfahrungen und des Weiteren der aposteriorischen Gegebenheit der Gegenstände voraussetzt. Diese Bevorzugung, aufgrund derer Kant trotz seiner transzendentalphilosophischen Versöhnung zwischen Rationalismus und Empirismus letztendlich für einen wichtigen Vertreter des Rationalismus gehalten wird, scheint im Rahmen seiner Philosophie der Synthese zum großen Teil legitim zu sein. Wir können nur im Rahmen einer Transzendentalen Logik von einer transzendentalen Anwendung der Verstandesbegriffe auf die in der empirischen Anschauung gegebenen Gegenstände ausgehen. Denn die Verstandesbegriffe, die allesamt sprachliche Begriffe sind, können als Gegenstände in der Natur und in unserer empirischen Anschauung nicht gegeben werden; sie werden vom Subjekt allein und zwar apriorisch konstruiert (unabhängig davon, ob sie bereits als Konstrukte a priori vorhanden sind oder ihre Erzeugung im Subjekt erst durch die Erfahrung veranlasst wird – ein Argument, worauf sich Locke in seiner Epistemologie zu beziehen scheint). Als solche werden sie notwendigerweise auf die aposteriorisch gegebenen Gegenstände angewandt. Der »Baum« als reiner Verstandesbegriff ist weder in der Natur noch in unserer sinnlichen Erfahrung gegeben; er soll apriorisch im Verstand konstruiert und im Erkenntnisprozess auf die aposteriorisch gegebene bloße Erscheinung dieses Objekts, die »der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung ist«, 20 angewandt werden. Die Apriorität aller Verstandesbegriffe und -kategorien tritt in einer unauflösbaren ontologischen Differenz – also in einer Differenz ihrer 20

Ebd.

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Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit

Existenzweise – gegenüber der aposteriorischen Gegebenheit der phänomenalen Gegenstände auf und setzt demnach notwendigerweise eine vom Subjekt initiierte Anwendung im Prozess einer epistemologischen Synthese voraus. Die transzendentale Anwendung der reinen Anschauungsformen a priori, nämlich Raum und Zeit, in der empirischen Anschauung – bzw. auf die in der empirischen Anschauung gegebenen gegenständlichen Erscheinungen – scheint sich als problematisch zu erweisen. Denn die von Kant vorgestellte Apriorität des Raumes und der Zeit – bzw. das apriorische Vorhandensein der reinen Formen der Sinnlichkeit im Subjekt – bezieht sich im Rahmen einer Transzendentalen Ästhetik streng genommen nicht auf die Begrifflichkeit, sondern allein auf die apriorische Formhaftigkeit des Raumes und der Zeit. Aber eine derartige Formhaftigkeit – besonders des Raumes – bezieht sich notwendigerweise auf eine vorbegriffliche Gegenständlichkeit. Der Raum als Form setzt unbedingt eine räumliche Ausdehnung, dargestellt als gegenständliche oder lediglich freiräumliche Ausdehnung, voraus. Gerade in der irreduziblen Formhaftigkeit und Gegenständlichkeit des Raumes scheint sowohl eine bloße Apriorisierung des Raumes als auch jene Zweiteilung dieser wahrnehmungstheoretischen Entität zwischen dem apriorischen Vorhandensein und der aposteriorischen Gegebenheit problematisch zu sein. Zuvor haben wir im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik einen theoretischen Vorstellungsraum a priori, der die Basis aller geometrischen, aber auch mechanischen und optischen Kognitionen bildet, von einem ästhetischen Raum der unmittelbaren Sinnlichkeit zu differenzieren versucht. Die vollkommene Zugehörigkeit der Sinnesqualitäten – der Farbe, Klänge oder Geräusche, Tastempfindungen usw. – zu dem Subjekt ist nicht zu bezweifeln. Ebenso wie die sprachlichen Begriffe entstammen alle Sinnesqualitäten des Körpers, die Locke als sekundäre Qualitäten bezeichnete, allein dem Subjekt und sind als solche Vorstellungen a priori. Dagegen identifiziert Locke – in Anlehnung an Descartes – die räumliche Ausdehnung des Körpers und die anderen Attribute, die sich darauf beziehen, wie Zahl, Bewegung usw., als primäre Qualitäten; vom Subjekt losgelöst, gehören sie allein dem Körper an. Die Sinnesqualitäten entstehen in der unmittelbaren Sinnlichkeit selbst; sie können aber als bloße Qualia (a priori) nicht zustande kommen, denn sie sind mit der räumlichen Ausdehnung des empfundenen Körpers im Modus eines synthetischen Nexus verbunden. D. h. die Räumlichkeit der Sinnesqualitäten 43 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

wird erst durch ihre leibliche und außerleibliche bzw. freiräumliche und gegenständliche Ausdehnung, die nach Descartes und Locke eine reale räumliche Ausdehnung (dargestellt als res extensa oder eine primäre Qualität) aufweist, bestimmt. Daraus lässt sich folgern, dass sowohl bei Descartes als auch in der post-kartesischen Philosophie Lockes eine real gegenständliche Ausdehnung der Sinnlichkeit vorausgesetzt wird. Allerdings neigt Descartes zu einer grundsätzlich modalen Ausdifferenzierung zwischen der rein sinnlich empfundenen Ausdehnung des Gegenstands und seiner realen Ausdehnung; das reale und das bloß mentale Objekt bilden nach Descartes zwei verschiedene Modi der gegenständlichen Existenz. 21 Die Apriorisierung des Raumes – als rein apriorische Form der Sinnlichkeit – ist daher eine notwendige Strategie Kants, um den vollkommen transzendentalen Zug der Lehre der Ästhetik, die die Propädeutik zu der gesamten Transzendentalphilosophie bildet, programmatisch zu verfestigen. Die räumliche Ausdehnung der Sinnlichkeit ist nach Kant notwendig eine Vorstellung a priori. Aber zugleich wird der Raum im Rahmen der kantischen transzendentalen Ästhetik als eine irreduzible ontologische Entität, die nach der systematischen Absonderung aller Verstandesattribute und Sinnesqualitäten aus dem Gegenstand als finales Residuum übrig bleibt, anerkannt. Die subjektive Unmöglichkeit, dass die in der Sinnlichkeit gegebene räumliche Ausdehnung des Gegenstands – gegenüber allen Sinnesqualitäten – nicht ausgeräumt werden kann, verweist zwar auf eine epistemologische bzw. wahrnehmungstheoretische Grenze, aber sie wurzelt viel tiefer in einer ontologischen Finalität, nämlich in der Vgl. Perler, Dominik: Inside and Outside the Mind – Cartesian Representations Reconsidered, in: Perception and Reality. From Descartes to the Present, hrsg. von Ralph Schumacher, Mentis Verlag, Paderborn 2004, S. 76–77. »There can be two modes of existence for one and the same thing because the form (or structure) of a thing can be present in two different places: in a piece of matter or in the mind. What makes an idea a representation of something is the very fact that the structure of that thing is in the mind. In light of this explanation it does not come as a surprise that Descartes also speaks about the essence of a thing, which is nothing but its basic structure. That it is the same structure that is inside and outside the mind becomes clear from a statement Descartes makes in a letter written in 1645 or 1646: »… by essence we understand a thing as it is objectively in the intellect, and by existence the same thing as it is outside the intellect …« Here again, it is clear that we are not dealing with two distinct things, but with the same thing that has two kinds of existence. Such a double existence is possible because the essence of a thing can be instantiated both in a piece of matter and in a mind or even in several minds.«

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Die Apriorisierung des Raumes und der Zeit

ontologischen Irreduzibilität und Finalität des Raumes selbst – unabhängig davon, ob der Raum bloß apriorisch vorgestellt wird oder in Wirklichkeit existiert. Darüber hinaus bezieht sich die räumliche Ausdehnung der Sinnlichkeit nicht nur auf die gegenständliche Ausdehnung, sondern auch auf den Freiraum, dargestellt insbesondere in der visuellen und auditiven Wahrnehmung der außerleiblichen Gegenstände. Der Freiraum – als ein rein ausgedehntes Nichts – lässt sich modal zwischen seiner apriorischen Vorstellbarkeit und seiner aposteriorischen Gegebenheit nicht differenzieren. Diese Undifferenzierbarkeit basiert deutlich auf der ontologischen Irreduzibilität und Finalität des Freiraumes bzw. seiner Existenzweise. Während Kant in seiner Feststellung der Apriorität des Raumes allein den transzendental-subjektiven Ursprung der Raumvorstellung anzuerkennen scheint, wird gerade in seiner Vorstellung von der Apodiktizität der geometrischen Grundsätze die notwendige Existenz des realen Raumes vorausgesetzt. Denn besonders im Rahmen der Transzendentalen Ästhetik basiert die Apodiktizität der räumlichen und zeitlichen Strukturen – vornehmlich im Bereich der Geometrie, aber auch in anderen mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereichen wie der Mechanik und Optik – auf der vollkommenen Übereinstimmung zwischen ihrer apriorischen Vorstellbarkeit und ihrer realen Gegebenheit oder – genauer gesagt – zwischen ihrer apriorischen und rein objektiven Konstruierbarkeit: »Auf die Notwendigkeit a priori (dass der Raum eine Vorstellung a priori ist, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zugrunde liegt; A. d. Verf.) gründet sich die apodiktische Gewissheit aller geometrischen Grundsätze, und die Möglichkeit ihrer Konstruktion a priori.« 22 Kant führt mit Grund die apodiktische Gewissheit aller geometrischen Grundsätze auf ihre bloß apriorische Vorstellbarkeit zurück, erläutert aber nicht, wie dieses fundamentale Verhältnis zwischen der Apriorität und Apodiktizität der geometrischen Grundsätze zustande kommt. Die apriorische Vorstellung der geometrischen Grundformen und -strukturen sind nach Kant Konstruktionen a priori in unserer produktiven Einbildungskraft, wie er in den »Axiomen der Anschauung« eingehend erörtert. Aber die apriorischen Konstruktionen der geometrischen Formen und Strukturen, aus denen die geometrischen Grundsätze (wie das Axiom der Geraden oder das der Dreidimensionalität des euklidischen Raumes) abgeleitet 22

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Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

und erkannt werden, setzen notwendig einen freiräumlichen Hintergrund voraus. Denn alle geometrischen Formen und Strukturen sind freiräumliche Formen und Strukturen. Ebenso setzt die wirkliche Gegebenheit oder Konstruierbarkeit der geometrischen Formen und Strukturen die Existenz des wirklichen Freiraumes voraus. Zwischen dem rein apriorisch vorgestellten und dem wirklich existierenden Freiraum besteht aber keine modale Differenz. Demnach beruhen die Konstruktion der geometrischen Formen und Strukturen in der apriorischen Vorstellung (oder Einbildung) und die Konstruktion im realen Raum mehr oder weniger auf demselben Verfahren. Die modale Undifferenzierbarkeit des Freiraumes zwischen seiner apriorischen Vorstellbarkeit und seiner realen Existenz basiert letztendlich auf der ontologischen Irreduzibilität des (euklidischen) Freiraumes, der – als ein rein ausgedehntes Nichts – eine ontische Finalität aufweist. Es ist unschwer zu erkennen, dass die apodiktische Gewissheit der rein apriorisch vorgestellten geometrischen Formen und Grundsätze tiefer in dieser modalen Undifferenzierbarkeit des Freiraumes gründet. Die modale Identität des Freiraumes gewährleistet, dass die Möglichkeit der apriorischen Konstruktionen der geometrischen Formen und Strukturen mit der Möglichkeit ihrer realen Konstruktion (oder Entstehung) identisch ist.

1.3 Die Apodiktizität transzendental-ästhetischer Intuitionen Diese ontologische Basis der geometrischen Intuitionen und ihrer Apodiktizität wurde in den himmelsmechanischen und optischen Intuitionen, insbesondere in der frühneuzeitlichen Astronomie und der geometrischen Optik, hinreichend demonstriert. Besonders bei den himmelsmechanischen Intuitionen sollte man sich die dynamischen Strukturen im All, die die Astronomen von ihrer irdischen Existenz aus kaum unmittelbar bzw. empirisch wahrnehmen können, unbedingt apriorisch vorstellen. Ein Grundgesetz der Himmelsmechanik wie das Trägheitsprinzip oder, genauer, das Prinzip der Trägheitsbewegung, das zunächst von Descartes vorgestellt und später von Newton axiomatisiert wurde und sich demnach zu einer der wichtigsten Prämissen für die Beweisführung der anderen newtonschen Gesetze wie der Elliptizität der Planetenbahnen und des Flächensatzes der Planetenbewegung entfaltete, lässt sich in einer geometrisch-dynamischen Intuition zwar apriorisch vorstellen – jedoch ohne dass wir 46 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Apodiktizität transzendental-ästhetischer Intuitionen

sie unter den idealen Bedingungen im All unmittelbar erfahren dürften. Sowohl Descartes als auch Newton stellten sich die idealen geometrisch-dynamischen Strukturen der Trägheitsbewegung anscheinend rein apriorisch vor. Allerdings bezieht sich die apodiktische Gewissheit dieser apriorischen Vorstellung nicht allein auf ihre Anwendbarkeit im realen All, sondern letztendlich auf die modale Identität zwischen dem vorgestellten und dem realen Freiraum (im All), der sowohl der Konstruktion dieser dynamischen Strukturen in der produktiven Einbildung als auch ihrer Entstehung als reale Phänomene im All zugrunde liegt. Von der freiräumlichen Basis aller geometrischen und mechanischen Grundsätze und ihrer Konstruktion ausgehend, lässt sich die kantische Vorstellung von der Apodiktizität geometrischer und mechanischer Grundsätze, die die Anwendung apriorisch vorgestellter Grundsätze auf die objektive Wirklichkeit voraussetzt, gewissermaßen umdrehen: Die apriorische Vorstellbarkeit der geometrischen Grundsätze und ihre Apodiktizität basieren darauf, dass sie im Freiraum – unabhängig von ihrem ontischen Status als lediglich vorgestelltem oder objektiv-phänomenalem Freiraum – nicht anders konstruiert werden oder entstehen können. Mit anderen Worten: Die Apodiktizität der geometrischen Grundsätze basiert tiefer auf ihrer wirklichen Entstehungsweise und Realisierbarkeit in einem wirklichen Freiraum – als auf ihrer rein apriorischen Vorstellbarkeit. D. h.: Es ist letztendlich die modal undifferenzierbare Phänomenalität und Gesetzmäßigkeit der geometrischen Formen und Strukturen, die die Apriorität und Apodiktizität ihrer axiomatischen Intuitionen voraussetzen und gewährleisten. Bei geometrischen und mechanischen Intuitionen werden nur scheinbar die sich apriorisch vorgestellten Formen und Strukturen sowie ihre Gesetze auf die phänomenale Wirklichkeit angewandt; tatsächlich wird bei diesen Intuitionen ursprünglich im Freiraum (wie im Falle der reinen Geometrie) und mit den Gegenständen im Freiraum (wie im Falle der Himmelsmechanik) gedacht bzw. intuitiv visualisiert. Dies besagt, dass die räumlichen Intuitionen in der Geometrie, der Mechanik und der Optik methodisch keiner rein apriorischen Vorstellung bzw. Erzeugung der statischen und dynamischen Strukturen und ihrer Anwendung auf die phänomenale Wirklichkeit folgen, sondern einer apriorischen Mitgestaltung wirklicher Raumstrukturen, die in einem modal einheitlichen Freiraum zustande kommen. Vielmehr handelt es sich hier um eine Resonanz zwischen den apriorisch erzeugten und den phänomenalen Strukturen, worauf 47 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

die apodiktische Gewissheit der geometrischen, mechanischen und optischen Strukturen zurückzuführen ist. 23 Besonders liegt den räumlichen und räumlich-zeitlichen Intuitionen in den Wissenschaften der Geometrie, Mechanik und Optik eine derartige Resonanz zugrunde. Diese epistemologische Resonanz ereignet sich vornehmlich im Prozess einer Visualisierung, die als Modus der Sinnlichkeit sowohl die apriorische Vorstellung als auch die aposteriorische Gegebenheit der phänomenalen Strukturen charakterisiert. Die apriorische Visualisierung der geometrischen, mechanischen und optischen Strukturen in Resonanz mit ihrer Phänomenalität verweist auch methodisch auf eine epistemologische Analogisierung zwischen der Domäne der apriorischen Vorstellung und der der aposteriorisch-phänomenalen Gegebenheit dieser Strukturen und ihrer Gesetzmäßigkeit. Die bloße Vorstellung der Trägheitsbewegung im All, aber auch – im weiteren Sinne – die geometrischen Deduktionen der keplerschen Gesetze wie die der Elliptizität und die des Flächensatzes der Planetenbewegung, bilden analoge Miniaturen zu den wirklichen Phänomenen im All (deren tatsächliche Ausdehnung sich Dieses Prinzip, das sich auf die statischen und die dynamischen Phänomene in der Wissenschaft, aber auch in der Kunst sowie in vielen Tätigkeiten des Alltags (wie Sport) bezieht, erläutert Martin Kemp im Rahmen seiner Grundvorstellung von struktureller Intuition. Nach Kemp liegen hinsichtlich der strukturellen Intuitionen dieselben Strukturen zugleich den internen intuitiven als auch den äußeren Phänomenen, deren – sichtbare und unsichtbare – Strukturen intuitiv visualisiert werden, zugrunde: »… the ›structures‹ are both those of inner intuitive processes themselves and those of external features whose structures are being intuited.« (Kemp, Martin: Visualizations. The nature book of art and science, Oxford 2000, S. 1). Demnach setzt die intuitive Visualisierung der phänomenalen Strukturen der Außenwelt keine bloß apriorische Erzeugung oder Konstruktion und deren Anwendung auf die Realität voraus, sondern sie unterstellt vielmehr eine prozessuale Resonanz zwischen internen intuitiven und externen phänomenalen Strukturen: »The structures of the external world within which we need to operate […] are those with which the internal structure of intuition has been designed to resonate, continuously reinforcing and retuning themselves in a ceaseless dialogue of matching and making.« (Ebd., S. 1–2). Gerade in der Vorstellung von struktureller Intuition scheint die epistemologische Zweiteilung zwischen der rein apriorischen Vorstellbarkeit und der aposteriorischen Gegebenheit der phänomenalen Strukturen – dargestellt in Wissenschaften wie der Mechanik und der Optik, in der plastischen Kunst sowie in vielen Alltagsereignissen – aufgehoben zu werden. Die von Kemp vorgestellte Resonanz zwischen intuitiven und phänomenalen Strukturen lässt sich weiterhin auf die – oben erörterte – modale Undifferenzierbarkeit des Freiraumes, in dem die Strukturen unabhängig von ihrem apriorischen und aposteriorischen Status entstehen oder konstruiert werden, und auch auf ihre undifferenzierbare Idealität als Raumstrukturen zurückführen.

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Die Apodiktizität transzendental-ästhetischer Intuitionen

unserer Vorstellungskraft entzieht). Das Prinzip dieser und ähnlicher epistemologischer Analogien basiert nicht nur auf einer notwendigen wahrnehmungstheoretischen Übereinstimmung zwischen der apriorischen Vorstellung und Deduktion und der aposteriorischen Gegebenheit der (geometrischen, mechanischen und optischen) Strukturen und ihrer Gesetzmäßigkeit, sondern vielmehr auf einer ontologischen Analogizität, dargestellt durch die oben erörterte modale Undifferenzierbarkeit dieser Strukturen und ihres freiräumlichen Hintergrunds. Dieses Prinzip der Analogie, worauf die oben beschriebene epistemologische Resonanz in den strukturellen Intuitionen in der Geometrie, der Mechanik und der Optik zurückzuführen ist, veranlasst allerdings keine reine Anwendung der apriorischen Vorstellung auf die Phänomene, sondern sie ermöglicht dem Subjekt, jene Übereinstimmung zwischen der apriorischen Vorstellung und der aposteriorischen Gegebenheit oder Wirklichkeit der phänomenalen Strukturen zu erkennen – sie sogar zu diktieren. Offensichtlich verdankt die transzendental-ästhetische Intuition – hinsichtlich ihrer räumlichen und räumlich-zeitlichen Strukturen – diesem Prinzip der epistemologischen Analogie, das sich auf die oben erörterte Resonanz zwischen intuitiven und phänomenalen Strukturen bezieht, ihre apodiktische Gewissheit. Aber die Intuition ist im Grunde ein Prozess; die Prozessualität der Intuition deutet in ihrer Apodiktizität auf eine ebenso apodiktische Vergewisserung, die vor allem in der Geschichte der Himmelsmechanik in verschiedenen Zügen – als vollkommene Überzeugung, als Vorhersagen, aber auch als Aporetik – zutage tritt. Die apriorische Vorstellung der Trägheitsbewegung und der zentripetalen gravitationellen Anziehung der Sonne und aller Himmelskörper und die aus diesen und anderen Prämissen deduzierten (newtonschen) Gesetze wie die Elliptizität und der Flächensatz der Planetenbewegung usw. entstehen nicht allein als Erkenntnisse (a priori); ihr epistemischer Status ist unweigerlich mit der Überzeugung verflochten, dass diese in Analogien vorgestellten himmelsmechanischen Strukturen mit den wirklichen, unermesslich ausgedehnten dynamischen Strukturen im All übereinstimmen sollen. Die dreidimensionalen Modelle der himmelsmechanischen Strukturen, die apriorisch vorgestellt werden, und deren zeichnerische Darstellungen sind im Grunde Miniaturen, die den realen dynamischen Strukturen im All entsprechen und uns somit ermöglichen, ihre Gesetzmäßigkeit in unserer irdischen Intuition und Deduktion zu entdecken. Die Basis dieses Verfahrens, auf der die Wahrhaftigkeit 49 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Der transzendentale Status der Sinnlichkeit

und Apodiktizität der apriorischen himmelsmechanischen Erkenntnisse aufbauen, war offensichtlich die modale Identität und Undifferenzierbarkeit der geometrisch-mechanischen Formen und Strukturen und des Freiraumes, in dem sie entstehen, wie vorher erörtert worden ist. Diese modale Identität, die das Prinzip der epistemologischen Analogie zwischen der Vorstellung oder deduktiven Darstellung und der Wirklichkeit der himmelsmechanischen Strukturen ausmacht, lässt sich letztendlich auf die ontologische Irreduzibilität und Finalität dieser Strukturen und des Freiraumes – sowohl in ihrer Vorstellung als auch in ihrer phänomenalen Existenz – zurückführen. Wenn das Verstehen eines Phänomens auf eine Grenze stößt, entsteht eine Aporie – der Zustand der Ausweglosigkeit im Denkund Erkenntnisprozess. Die Aporie im Denken und Erkennen führt gewöhnlich zu subjektiven Spekulationen der phänomenalen Wirklichkeit, deren doxastischer Grundzug seine Legitimität letztendlich der Unbeweisbarkeit des Phänomens verdankt. Aus der Geschichte der Philosophie und Naturwissenschaft sind zahlreiche Beispiele für phänomenale und subjektive Aporien nachzuweisen, wie z. B. die Existenz der Infinitesimalen, die Ursächlichkeit oder die mechanische Wirkungsart der Gravitation, leibliche und außerleibliche Ausdehnung der Sinnlichkeit – insbesondere die Entstehung der visuellen Raumwahrnehmung –, die Existenzweise des Raumes, die Teilbarkeit des Körpers usw. Die von Philosophen und Wissenschaftlern vertretene Fiktion des Äthers im Freiraum bildet im Grunde eine Spekulation, die die Aporie einiger Naturphänomene – wie z. B. die materielle Medialität bzw. die mechanische Ursächlichkeit der Gravitation oder die Ausbreitung des Lichtes im Freiraum – voraussetzte. Dazu zählen auch die Vorstellungen von Korpuskeln und Atomen als irreduzible und als solche finale Bestandteile der Materie und den ihnen zugeschriebenen Formen, die die materiellen und subjektiv-sinnlichen Qualitäten des Phänomens verursachen. Die phänomenale Aporie scheint in dieser Weise eine Vielfalt von doxastischen Spekulationen zu veranlassen, über deren Gewissheit und Wahrhaftigkeit wir uns nicht im Klaren sind. Allerdings kann die phänomenale Aporie zur erkenntnistheoretischen Apodiktizität der phänomenalen Wirklichkeit führen, indem die subjektive Ausweglosigkeit im Erkenntnisprozess eine ausweglose Annahme der Phänomenalität voraussetzt. D. h. die phänomenale Aporie würde das Subjekt dazu veranlassen, eine unerkannte phänomenale Ursächlichkeit nicht doxastisch, sondern apodiktisch anzunehmen. Die Aporie führt in dieser Weise zur 50 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Apodiktizität transzendental-ästhetischer Intuitionen

Apodiktizität der Erkenntnisse, deren Objektivität noch zu beweisen ist. Die Analogizität der Intuition zwischen der apriorischen Vorstellung und der aposteriorisch-phänomenalen Gegebenheit ermöglicht der Intuition, die objektive Phänomenalität lediglich apriorisch abzusichern. Auch wenn die Intuition in diesem Prozess auf jene Aporie stößt, kann sie sich dadurch zu jener apodiktischen Gewissheit entwickeln und demnach in jene Überzeugung hineinwachsen, dass ein unerforschtes oder unentdecktes Phänomen in der Wirklichkeit vorhanden ist, das diese Aporie bewältigen kann und zu dem die empirischen und experimentellen Wissenschaften einen Beweis liefern sollen. Die Aporie kann in der synthetischen Einheit der Intuition zur apodiktischen Gewissheit der Erkenntnis führen, die wir uns zwar nicht sofort aneignen, sie jedoch erahnen und uns zugleich ihrer Wahrhaftigkeit bewusst werden. Demnach kann die synthetische Einheit der sinnlichen bzw. transzendental-ästhetischen Intuition jener Aporetik ermöglichen, sich zu einer Apodiktik zu entwickeln. Die Untersuchung der Sinnlichkeit hat zwei wichtige Gegenstände, nämlich die Sinnesqualitäten, die rein subjektiv empfunden werden, und die räumlichen und zeitlichen Strukturen, in denen sich die Sinnlichkeit ausdehnt. Die intuitive Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Sinnlichkeit bildet demzufolge eine strukturelle Intuition der Sinnlichkeit. Zwar verhindert die absolute (ontische) Verschiedenheit der Sinnesqualitäten jene wissenschaftliche Vorstellung von ihren gegenseitigen Inferenzen oder Suggestionen, aber die ontische Einheit des Raumes und der Zeit und die modale Undifferenzierbarkeit zwischen der Apriorität und der aposteriorischen Gegebenheit dieser Formen der Sinnlichkeit ermöglichen uns, zwischen den Ausdehnungen bzw. zwischen den räumlichen und zeitlichen Verkörperungen der Sinnesqualitäten Analogien aufzuweisen. Die Untersuchung wird demnach von der Fragestellung ausgehen, ob der unmittelbar zu erfahrenden Ausdehnung der Sinnlichkeit eine reale bzw. phänomenal gegebene räumlich-zeitliche Struktur zugrunde liegt. Die Sinnlichkeit wird dabei von der tradierten Vorstellung von ihrer bloß subjektiven Apriorität losgelöst, indem der Versuch unternommen wird, die objektive Beteiligung daran, bzw. wie und inwieweit sich die empfundenen Gegenstände an der Sinnlichkeit beteiligen, festzustellen.

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Kapitel 2 Die Analogizität der Sinnlichkeit

2.1 Die Räumlichkeit der Empfindungen Unsere Sinneswahrnehmungen, in denen wir besonders die räumliche Ausdehnung und Lokalisation der verschiedenen Sinnesempfindungen unmittelbar erfahren, sind zwar nicht identisch, aber zueinander analog. Während die haptischen und geschmacklichen Empfindungen leiblich ausgedehnt und als solche leiblich lokalisiert zustande kommen, ereignen sich unsere visuellen und auditiven Empfindungen in außerleiblicher Ausdehnung und Lokalisation. Der Geruchssinn wird zum großen Teil leiblich bzw. in der Nase lokalisiert, aber sie ermöglicht uns eine vage Wahrnehmung seiner außerleiblichen Lokalisation an Gegenständen. Da die Sinneswahrnehmungen sich in ihren Modalitäten als vollkommen verschieden erweisen, basiert ihre Analogizität – neben ihrem subjektiven Ursprung – auf ihrer Räumlichkeit bzw. auf ihrer räumlichen Ausdehnung und Lokalisation. Nur durch unsere Sinnlichkeit vermögen wir die Ausgedehntheit unseres eigenen Leibes und die der Welt, in der wir uns als Lebewesen unter allen anderen Gegenständen befinden, zur Kenntnis zu nehmen. Alle leiblichen und außerleiblichen Sinnesempfindungen machen die Erfahrbarkeit der räumlichen Ausdehnung des Leibes und der umgebenden Welt aus. Obwohl wir uns über die Ausgedehntheit unseres Leibes und der Welt im Klaren sind (indem wir unseren Sinnen, die uns diese elementare Erkenntnis vermitteln, vertrauen), sind wir tendenziell zögerlich, der Sinnlichkeit selbst die reale oder primäre Eigenschaft der räumlichen Ausdehnung zuzubilligen. Denn wir neigen dazu – zwar im streng kartesischen Geiste – die Existenz der subjektiven Sinneswahrnehmungen der Existenz des rein objektiven Leibes und der Gegenstände in der Welt nicht nur ontologisch, sondern auch modal entgegenzusetzen. Demnach wird der scheinbaren Ausdehnung aller leiblichen und außerleiblichen 52 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Räumlichkeit der Empfindungen

Sinneswahrnehmungen ein anderer ontischer Status – also ein nicht physikalischer Seinsmodus – zugesprochen. Die Subjektivierung oder die subjektive Apriorisierung der Sinnesqualitäten erweist sich im Rahmen der neuzeitlichen Philosophie als historisch. Der vollkommenen Reduktion der Sinnesqualitäten auf rein mentale Phänomene im kartesischen System geht allerdings eine Vor-, genauer, eine Übergangsphase zwischen dem Spätmittelalter und der Frühneuzeit voraus. In der spätmittelalterlichen Scholastik wurde der geistige Ursprungsmodus der Sinnesqualitäten anerkannt, aber ihre gegenständliche Ausgedehntheit wurde dabei nicht negiert. Farben sind zwar subjektive Empfindungen, aber sie werden im Objekt bzw. in der realen objektiven Ausdehnung wahrgenommen. 24 Dieser ursprünglich ästhetische Nexus – zwischen einem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen Gegenstand – besagt eindeutig eine unmittelbare Beteiligung des Gegenstands an der Sinneswahrnehmung. Das Reale an dieser gegenständlichen Beteiligung wird offensichtlich durch die Räumlichkeit der Sinneswahrnehmung – also durch ein primäres Quale – konstruiert und gewährleistet. Bei außerleiblichen visuellen und auditiven Wahrnehmungen zeigt sich diese Räumlichkeit bzw. die räumliche Basisstruktur der Sinnlichkeit nicht nur in gegenständlicher, sondern auch in freiräumlicher Entfernung, Ausdehnung und Ordnung. Dem unmittelbaren Sehen liegt eine perspektivische Raumstruktur zugrunde, die die freiräumliche und gegenständliche Ausdehnung in sich einschließt. Während die spätmittelalterliche Scholastik die Leiblichkeit und die außerleibliche Gegenständlichkeit der Sinnlichkeit epistemoloIn ihrem Hauptwerk Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie verweist Anneliese Maier auf die von der spätmittelalterlichen Scholastik vertretene reale Ausdehnung der Sinnesqualia, die in der kartesischen Moderne systematisch negiert wurde: »für die Scholastik entstehen die qualitates secundae aus den primae im Objekt und nicht erst, wie für die späteren, im wahrnehmenden Subjekt. Ihre Realität wurde darum in der traditionellen Philosophie nie in Zweifel gezogen, und ebenso wenig die Abbildlichkeit der Qualitätsempfindungen. […] Wie die Qualitäten im einzelnen von den primären abhängen sollen, wird, besonders wenn es sich auch um die nicht-taktilen handelt, in der älteren Philosophie nur sehr undeutlich gewusst und gesagt. Die Argumentation geht häufig über die Vorzugsstellung des Tastsinns, denn der ist zwar nicht der vornehmste, aber der notwendigste Sinn, der von allen vorausgesetzt wird, selbst aber keinen voraussetzt. Die Betrachtung wird damit auf ein Gebiet hinübergespielt, das vielleicht die stärkste Problematik und die meisten Ansatzmöglichkeiten für die Weiterentwicklung enthielt.« Vgl. Maier, Anneliese: Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie, Rom 1968, S. 18.

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

gisch anzuerkennen schien, plädierte Descartes, der den historischen Übergang vom Mittelalter in die Moderne philosophisch initiierte, für eine vollkommene Abtrennung der Sinnesqualitäten und ihrer Realität von der phänomenalen Welt des Leibes und der außerleiblichen Gegenstände. Dazu entwickelte Descartes eine bestimmte philosophische Methode, nämlich die systematische Negation und Absonderung aller Verstandesattribute und Sinnesqualitäten aus dem Gegenstand, deren reale Existenz sich in Zweifel ziehen lässt. 25 Was nach der kartesischen Methode des Zweifelns und der systematischen Absonderung übrig bleibt, sind zwei absolut finale und irreduzible Entitäten, nämlich die res cogitans, der alle am Gegenstand negierten und von ihm abgesonderten Verstandesattribute und Sinnesqualitäten zugeschrieben wurden, und die res extensa, also die rein räumliche Ausdehnung, die als der alleinige gegenständliche Existenzmodus, der sich nicht negieren lässt, anerkannt wurde. Die räumliche Ausdehnung der Gegenstände (dazu gehört auch die leibliche Ausdehnung) ist nach Descartes das alleinige Faktum der phänomenalen Wirklichkeit, das dem denkenden Subjekt nicht unterworfen ist und demnach einen von der res cogitans vollkommen autonomen ontologischen Status hat. Allerdings veranlasste die kartesische Methode der Negation eine entscheidende Polemik gegen die kartesische Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa in der zeitgenössischen und postkartesischen Philosophie der Neuzeit. Zum Ausdruck kam diese Polemik z. B. in der Fragestellung von Prinzessin Elisabeth von Böhmen und Pierre Gassendi nach der Ausdehnungslosigkeit und Immaterialität der Seele, die trotzdem leibliche Willensakte verursacht, sowie im lockeschen Plädoyer für die Anerkennung der Solidität des Gegenstands – neben der kartesischen res extensa – als einen subjektiv nicht zu negierenden und abzusondernden Existenzmodus der phänomenalen Wirklichkeit. Bevor wir die Polemik von Prinzessin Elisabeth und Gassendi im Rahmen unserer Untersuchung erörtern, versuchen wir auf die lockesche Position, in der zum großen Teil die kartesische Reduktion weiterhin vertreten aber zugleich von ihr abgewichen wird, einzugehen. Die Solidität ist ein notwendiges Faktum, Die Methode des Zweifelns und der systematischen Absonderung wurde am ehesten in dem berühmten Wachsgleichnis im zweiten Buch der Meditationen eingeführt. Vgl. Descartes, René: Meditationen, übers. von Christian Wohlers, Meiner Verlag, Hamburg 2009, 33–35.

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Die Räumlichkeit der Empfindungen

das den – vom Subjekt gänzlich abgetrennten und autonomen – Existenzmodus des Gegenstands auszeichnet. Ebenso ist die Solidität ein unzertrennlicher Wesenszug der Materialität, die der gegenständlichen Ausdehnung objektive Wirklichkeit verleiht. Wenn die res extensa eine irreduzible und nicht zu negierende materielle Ausdehnung ist, wird diese gegenständliche Materialität nicht nur durch die bloße Räumlichkeit, sondern notwendigerweise durch die materielle Solidität gekennzeichnet und soll als solche zu der bloß räumlichen Ausdehnung, also zu der Kategorie der primären und nicht zu negierenden Qualitäten des Körpers hinzugefügt werden. Die Betonung der Solidität des Körpers als eine primäre Qualität bezieht sich in erster Linie auf die Materialität des Körpers, die allein die räumliche Ausdehnung des Körpers als res extensa definiert, und die demnach der körperlichen Existenz ihre vom Subjekt autonome Existenz verleihen kann. Das Hinzufügen der Solidität zu den primären Qualitäten bei Locke erweitert im Prinzip die kartesische Lehre der Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa. Wenn die rein räumliche Ausdehnung – die res extensa – das alleinige residuale Faktum ist, das von der subjektiven Negation und Absonderung aller Verstandesattribute und Sinnesqualitäten im Gegenstand übrig bleibt, kann der Gegenstand nicht mehr existieren. Denn die rein räumliche Ausdehnung löst sich in den Freiraum, der lediglich ein ausgedehntes Nichts ist, auf. Die räumliche Ausdehnung und Grenzziehung des Gegenstands setzt bei näherer Betrachtung nicht nur eine rein räumliche Ausdehnung – als res extensa –, sondern unbedingt die gegenständliche Solidität voraus. Die absolut leere Räumlichkeit des Gegenstands kann gegenüber dem umgebenden Freiraum keine Grenzen ziehen (und dadurch die Existenz des Gegenstands gewährleisten), dazu benötigt die res extensa die Fülle der Materialität, deren Wesenszug unweigerlich die Solidität ist. Kurzum: Die kartesische res extensa soll notwendigerweise die gegenständliche Solidität behausen, damit die Existenz des Gegenstands – der phänomenalen Wirklichkeit im Allgemeinen – sichergestellt wird. Allerdings scheint die lockesche Erweiterung im Kontext der kartesischen Philosophie eher unbedeutend zu sein. Denn Descartes versteht unter räumlicher Ausdehnung letztendlich eine materielle Ausdehnung, indem der Raum primär durch die Körper definiert wird. Nach Descartes sind Raum und materielle Körper unzertrennliche Entitäten; die res extensa beansprucht ursprünglich die Materialität des ausgedehnten Körpers. Die bloße Leere, also die absolut leere räumliche 55 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Analogizität der Sinnlichkeit

Ausdehnung kann nicht existieren. Dagegen vertritt Locke eine atomistische Lehre, in der die materiellen Atome von leeren Zwischenräumen ontologisch differenziert werden. Darüber hinaus setzt jede Form der subjektiven Sinnlichkeit, in der ein leiblicher oder außerleiblicher Gegenstand wahrgenommen wird, notwendig eine materielle Ursächlichkeit voraus. Wenn wir einen Gegenstand farbig empfinden, wird diese subjektiv-sinnliche Empfindung nicht allein durch die räumliche Ausdehnung, sondern unbedingt auch durch die Materialität des Gegenstands verursacht. Wenn wir – im kartesischen Geiste – unsere subjektive Empfindung negieren und sie vom Gegenstand abzusondern suchen, negieren wir nur die Wirkung des Gegenstands auf uns und nicht die gegenständlich-materielle Ursache dieser Wirkung. Daher setzt jede Negation der Sinnesempfindung, die im Grunde eine gegenständliche Wirkung auf unser Sinnesvermögen ist, ihre nicht zu negierende materielle Ursächlichkeit am Gegenstand voraus. Nun soll eine domaniale Differenz zwischen der bloß mentalen Realität und ihrer materiellen Ursächlichkeit beachtet werden. Die kartesische Negation beschränkt sich streng genommen auf die Domäne des Subjekts, das allein die Realität der Sinnlichkeit konstruieren kann. Die materielle Ursächlichkeit der sinnlichen Realität gehört zu der vom Subjekt vollkommen unterschiedlichen Domäne der Phänomene. Die Methode des Zweifelns und der an sie anschließenden Negation und Absonderung bringen im kartesischen System zwei residuale und absolut irreduzible Existenzweisen der Welt – als res cogitans und res extensa – hervor, aber wenn wir in Anlehnung an Locke die rein materielle Solidität als ein weiteres irreduzibles Faktum zu den kartesischen residualen Entitäten hinzufügen, scheint die kartesische Methode der Reduktion von vornherein einen Rückschlag zu erfahren. D. h. wir können die Materialität der phänomenalen Welt zu den kartesischen residualen Entitäten – dem ausdehnungslosen und immateriellen Geist und der reinen Ausdehnung des Körpers – kaum hinzufügen. Eine derart kritische Hinzufügung würde ein Scheitern der absoluten (kartesischen) Reduktion der körperlichen Existenz auf eine res extensa signalisieren. Denn die Materialität würde der res extensa – der rein räumlichen Ausdehnung des Körpers – erneut Fülle geben und dadurch alle von Descartes stillschweigend vernachlässigten oder sogar negierten materiellen Ursächlichkeiten der sinnlich-subjektiven Realitäten in der Domäne der phänomenalen Welt rehabilitieren. Die irreduzible bzw. vom Subjekt nicht zu negierende Materiali56 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Räumlichkeit der Empfindungen

tät wird sodann nicht nur einer ursprünglichen Kausalität der Sinnlichkeit, sondern auch der Mediation – im Modus einer Kette von materiellen Kausalzusammenhängen – zwischen dem empfundenen Gegenstand inner- und außerhalb des Leibes und dem Gehirn zugrunde liegen. Denn die kausale Basis einer sinnlichen Empfindung beschränkt sich nicht allein auf einen Ursprung in einem Gegenstand, sondern sie erstreckt sich auf die gesamten materiellen und physikalischen Prozesse im und außerhalb des Leibes, die den empfundenen Gegenstand mit dem Gehirn, das den materiellen Empfindungsinhalt bearbeitet und aus ihm eine sinnliche Wahrnehmung entwickelt, verbinden. Eine Schmerz- oder Kälteempfindung, die im Fuß lokalisiert ist, hat zwar eine ursprünglich leibliche oder außerleiblich materielle Ursache – wie die Kälte des Schnees oder eine physiologische Entzündung –, aber die Realität der im Fuß lokalisierten Kälte- oder Schmerzempfindung wird notwendigerweise durch die neuronale Mediation im Nervensystem, das den Empfindungsort im Leib mit dem Gehirn verbindet und zu diesem Zweck über das elektrische Phänomen und seine äußerst simultane Übertragung der Signale verfügt, verursacht. Beim außerleiblichen Sehen und Hören erstreckt sich die materiell-ursächliche Mediation der Sinneswahrnehmung auf außerleibliche Phänomene wie Licht oder Hörwellen. Der empfundenen Farbigkeit eines außerleiblichen Gegenstands liegen neben einer ursprünglichen Ursächlichkeit, nämlich die materielle Eigenschaft seiner Oberfläche, die eine bestimmte Wellenlänge des auf den Gegenstand fallenden Lichtes reflektiert, eine Kette von optischen und anderen physikalischen bzw. photoelektrischen, chemischen sowie neuronalen Ursachen zugrunde. Diese Ursachen gehören allesamt zu der Domäne der Materie, nämlich der geometrisch-optischen Entstehung des Netzhautbildes, der photoelektrischen Prozesse auf der Netzhaut und der neuronalen bzw. elektrochemischen Übertragung des Inputs aus der Netzhaut in die Gehirnzellen, in denen es bearbeitet und zu einer Sehempfindung entwickelt wird. Im Rahmen der Sinnlichkeit lässt sich demnach eine rein räumliche Extension des Gegenstands, aus dem alle Sinnesqualitäten abgesondert werden, kaum vorstellen. Die res extensa als eine absolut residuale Entität ist keine bloße Leere, sondern es hat unbedingt eine materielle Fülle und Solidität. 26 Indem die Materialität der phänomeHier verweist die Eigenschaft der Solidität – wie sie von Locke (als ein primäres Quale) vorgestellt wurde – neben Flüssigkeit oder Gasförmigkeit nicht auf einen bloß

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

nalen Wirklichkeit sowohl die ursprüngliche als auch die mediale Ursächlichkeit der Sinneswahrnehmungen beherrscht bzw. sie erwirkt, scheinen die verschiedenen Modi der Sinneswahrnehmungen einer wirklichen Raumstruktur unterworfen zu sein. Wenn Descartes die res extensa als den absolut finalen und irreduziblen Existenzmodus der Körperwelt anerkennt, der sich subjektiv nicht negieren und absondern lässt, legitimiert er auch die wirkliche bzw. objektive Existenz des Raumes – allerdings nicht als einen Träger des Körpers (gemäß der aristotelischen Vorstellung), sondern als den unzertrennlichen Existenzmodus des Körpers selbst. Eine derartige Objektivität oder Phänomenalität des Raumes wurde in der Transzendentalphilosophie Kants, also in einem späteren System der neuzeitlichen Philosophie, kaum anerkannt. Nach Kant sind Raum und Zeit notwendige Vorstellungen a priori; die Räumlichkeit und Zeitlichkeit bzw. die räumliche und zeitliche Existenz eines sinnlich empfundenen Gegenstands wurde primär durch ein transzendentales Subjekt apriorisch bestimmt. In der kartesischen Methode des Zweifelns und der Negation werden die Sinnesqualitäten als rein apriorische Ideen dem sinnlich empfundenen Gegenstand entzogen, aber die finale und irreduzible Entität, die vom Gegenstand übrig bleibt, ist eine objektiv gegebene Existenzweise des Gegenstands – eine res extensa. Dies besagt, dass Descartes – und noch deutlicher Locke – in ihrem epistemologischen Dualismus von voneinander absolut unterschiedlichen mentalen und phänomenalen Domänen ausgehen. In seiner Lehre der Transzendentalen Ästhetik, die als erster Teil der Transzendentalen Elementarlehre die Propädeutik zu seinem transzendentalphilosophischen System bildet, erprobt Kant mehr oder weniger die in der neuzeitlichen Philosophie tradierte Methode der systematischen Negation. Allerdings geht Kant dabei allein von dem Standpunkt eines transzendentalen Subjekts aus, indem er auch den Formen der Sinnlichkeit, nämlich Raum und Zeit, keine objektive Daseinsweise, sondern eher eine transzendental-subjektive Apriorität zuschreibt: »wenn ich von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt, als Substanz, Kraft, Teilbarkeit usw., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw. absondere,

mechanischen Zustand des materiellen Körpers, sondern sie umfasst alle dieser Modi der materiellen Existenz und kennzeichnet den irreduziblen Wesenszug des materiellen Körpers selbst.

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Die Räumlichkeit der Empfindungen

so bleibt mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüte stattfindet.« 27

Die Apriorität des Raumes und der Zeit – als reine Formen der Sinnlichkeit, die »auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung« im subjektiven Gemüt stattfinden können – bildet im kantischen System eine Grundannahme, die sich allerdings nur im Kontext von Kants Transzendentalphilosophie legitimieren lässt. Von der kartesischen Annahme einer res extensa bis hin zur kantischen Feststellung der vollkommenen Apriorität der Raumvorstellung ist unfehlbar eine historische Apriorisierung des Raumes – im Rahmen der neuzeitlichen Philosophie – zu erkennen. Die objektive bzw. gegenständliche Ausdehnung der Sinnlichkeit wird in der kantischen Transzendentalen Ästhetik von vornherein einem transzendentalen Subjekt zugeschrieben. Raum und Zeit sind zugleich Formen der Anschauung und der Erscheinung, die in der empirischen Anschauung gegeben ist; als reine Formen der Sinnlichkeit sind sie im (subjektiven) Gemüte apriorisch – d. h. vor allen Erfahrungen – vorhanden. Raum und Zeit als reine Formen der sinnlichen Anschauung a priori bilden im kantischen System eine gemeinsame und irreduzible Basis für alle Modi der Sinnlichkeit, die wir mit Grund die apriorische Struktur der Sinnlichkeit nennen können. D. h. die Transzendentale Ästhetik isoliert ganz programmatisch die räumlichen und zeitlichen Strukturen der Sinnlichkeit und erklärt sie als rein apriorische Formen der Anschauung und Erscheinung; diese Strukturen lassen sich weder der empirischen Anschauung noch der Erscheinung entziehen, weil sie irreduzible und finale Daseinsformen sind. Der Einheit des Raumes und der Zeit, die allen Modi der Sinnlichkeit zugrunde liegt, entsprechend, benutzt Kant Begriffe wie Anschauung und Erscheinung, die sich auf die Sinnlichkeit im Allgemeinen beziehen (obwohl beide Begriffe primär – streng semantisch – das Sehen andeuten).

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Kant, a. a. O., S. 64.

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

2.2 Die Analogizität der Sinnesstrukturen Raum und Zeit als rein apriorische Formen oder Strukturen der Sinnlichkeit verweisen in der kantischen Lehre der Transzendentalen Ästhetik offensichtlich auf die räumliche und zeitliche Ausdehnung der Sinnlichkeit, dargestellt zugleich als die Ausdehnung der empirischen Anschauung und die Ausdehnung der in ihr gegebenen gegenständlichen Erscheinung. Durch diese Lehre schafft Kant eine allgemeine (apriorische) Basis für alle Arten der Sinnlichkeit, die sich in ihrer qualitativen Existenz als voneinander vollkommen verschieden erweisen. Als sinnliche Qualitäten allein haben die visuellen, auditiven, taktilen, geschmacklichen und geruchlichen Empfindungen keinerlei Gemeinsamkeiten; sie sind absolut verschiedene Zustände und Prozesse der Sinnlichkeit. Zwischen diesen grundlegenden Modi der Sinnlichkeit bestehen deutliche qualitative Differenzen, die die modale und ontische Differenziertheit und Autonomie der Sinnesempfindungen ausmachen. Demnach lassen sich verschiedene Sinneswahrnehmungen als mental-qualitative Zustände nicht analogisieren. Allerdings haben sie in ihrer apriorischen Formhaftigkeit bzw. in ihrer apriorisch-räumlichen und -zeitlichen Ausdehnung eine gemeinsame Basis. Zwar unterscheidet sich die räumliche Ausdehnung des Sehens modal von der des Tastens und die wiederum von der Ausdehnung anderer Sinneswahrnehmungen, aber die Einheit und Irreduzibilität des Raumes und der Zeit verleihen den verschiedenen Modi der Sinnlichkeit eine analoge Basisstruktur. Gerade auf der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Sinnlichkeit baut die Analogizität der Sinneswahrnehmungen auf. Die räumlichen und zeitlichen Ausdehnungen der verschiedenen Sinneswahrnehmungen sind miteinander nicht identisch, aber zueinander analog. Die visuelle Wahrnehmung dehnt sich in einer perspektivischen Raumstruktur aus, wobei sich die räumliche Ausdehnung der auditiven Wahrnehmung als eine rein lineare Entfernung des gehörten Gegenstands (und nicht als perspektivische Konvergenz, wie es während des Sehens geschieht) zeigt. Im Vergleich zu der außerleiblichen und geometrisch-perspektivischen Struktur des Sehens erweist sich die leibliche Ausdehnung des Tastens oder des Schmeckens nicht als geometrisch. Die Analogizität der Sinnlichkeit bzw. der Ausgedehntheit der Sinneswahrnehmungen ermöglicht demnach keine modale Analogisierung, sondern sie gründet allein auf der ontischen Einheit bzw. der Irreduzibilität und Finalität der Formen der Sinnlich60 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Analogizität der Sinnesstrukturen

keit, nämlich auf Raum und Zeit. Einige Attribute der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung der Sinneswahrnehmungen zeigen in ihrer Modalität eine klare Analogizität, z. B. die räumliche Lokalisation der Sinnlichkeit. Die Sinneswahrnehmungen sind leiblich und außerleiblich-gegenständlich lokalisiert. Ebenso wie der Schmerz im Fuß oder die Süße auf der Zunge wird die Farbe oder der Ton in einem Gegenstand lokalisiert empfunden. Das Subjekt nimmt die Lokalisation verschiedener Sinneswahrnehmungen im Prinzip als bloß räumliche – leibliche und außerleibliche – Entfernungen wahr, die sich in einem solchen einheitlichen Modus der Räumlichkeit analogisieren lassen. Sowohl bei der kartesischen als auch bei der kantischen Methode der systematischen Negation der Sinnesqualitäten am Gegenstand und bei ihrer Apriorisierung wurde allein auf ihre subjektive Realität und nicht auf die dieser Realität zugrunde liegende materielle Kausalität Bezug genommen, wie vorher erörtert wurde. Offensichtlich wird im kartesischen und im kantischen System die Sinnlichkeit von der Domäne der materiellen Gegenstände modal gänzlich differenziert und voneinander getrennt, aber der Realität oder dem ontischen Zustand der Sinnlichkeit liegt unweigerlich eine ontologische materiell-phänomenale Ursächlichkeit zugrunde. Allerdings wurde bei Kant aber auch bei Descartes die Materialität des Körpers – im Rahmen ihrer epistemologischen Methode der Negation und Absonderung – stillschweigend als eine Komposition von allen subjektiven Verstandesattributen und Sinnesqualitäten angesehen und folglich am Gegenstand negiert, damit die bloß räumliche Ausdehnung des Gegenstands, die sich nicht ausräumen lässt, übrig bleibt. 28 Aber wenn wir in Anlehnung an Locke die Materialität des Gegenstands – Die kartesische Vorstellung von »res extensa« deutet zwar auf eine materielle Ausdehnung, aber die Materialität der körperlichen Ausdehnung, die von der Negation und Absonderung aller Verstandesattribute und Sinnesqualitäten am Gegenstand übrig bleibt, wird bei Descartes kaum betont. Im Wachsgleichnis (in den Meditationen) neigt Descartes dazu, den Wesenszug der residualen »res extensa«, nämlich die Flexibilität der Form der Ausdehnung, auf eine einheitliche Vorstellung von räumlicher Extension zu reduzieren. Aber die Flexibilität der Formhaftigkeit (des Wachses, von dem alle Sinnesqualitäten verschwinden) ist eine materielle Flexibilität und setzt als solche eine irreduzible und residuale Materialität voraus. Wenn Locke zu der kartesischen Vorstellung von der materiellen »res extensa« (die sich von der bloß geistigen »res cogitans« unterscheidet) die Eigenschaft der Solidität hinzufügt, scheint er die problematische Reduktion der gegenständlichen Existenz auf eine bloße »res extensa« erkannt zu haben. Denn als materielle Ausdehnung impliziert die kartesische Vor-

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ebenso wie die Räumlichkeit – als einen nicht zu negierenden und als solchen vom Subjekt vollkommen unabhängigen Existenzmodus anerkennen und sie in der kartesischen und kantischen Erörterung der Sinnlichkeit rehabilitieren, ordnen wir der Realität der Sinnlichkeit eine materielle Ursächlichkeit zu, die sich aus den Existenzmodi der Sinnlichkeit weder negieren noch abtrennen lässt. Die epistemologische Rehabilitierung der Materialität und deren Hinzufügung zu den nach der kartesischen und kantischen Methode der Negation übrig gebliebenen residualen Entitäten – vornehmlich der Räumlichkeit – führen in dieser Weise zu einem maßgeblichen Rückschlag dieser Methode, da man sich nun die Realität der Sinnlichkeit nicht in ihrer bloßen Wirkungseinheit und Andersartigkeit (vom materiellen Gegenstand) vorstellt, sondern notwendigerweise in ihrer Fundiertheit auf einer materiellen Kausalbasis – also in einer ontologisch-ätiologischen Vollständigkeit. Die Polemik von Prinzessin Elisabeth von Böhmen und Pierre Gassendi gegen die kartesische Reduktion der Seele auf eine res cogitans, bzw. auf eine ausdehnungslose und immaterielle Substanz, verweist auf die Notwendigkeit der Rehabilitierung der Ausdehnung und Materialität in der Domäne der subjektiven Willensakte und Sinnlichkeit. In ihrem ersten Brief an Descartes stellt Prinzessin Elisabeth von Böhmen die Frage, wie eine immaterielle und unausgedehnte Seele auf einen materiellen und ausgedehnten Leib einwirken und ihn zu Willensakten veranlassen kann. Nach Prinzessin Elisabeth setzen die mechanischen Willensakte, dargestellt vor allem in leiblichen Bewegungen, notwendigerweise die Ausdehnung und Materialität der Seele voraus. Bekanntlich konnte Descartes die Frage der Prinzessin kaum ignorieren und verneinen. In seiner Antwort auf ihre Frage gab Descartes zu, dass er, was die Willensakte und Sinnesempfindungen betrifft, über die unabdingbare Verbundenheit zwischen Leib und Seele zugunsten des Denkens bzw. seiner vollkommenen Andersartigkeit und Abgetrenntheit vom Leib geschwiegen hat: »Es gibt zwei Dinge in der menschlichen Seele, von denen die ganze Kenntnis, die wir von ihrer Natur haben können, abhängt: das eine ist, dass sie denkt, das andere, dass sie, da sie mit einem Körper vereinigt ist, mit diesem handeln und leiden kann. Ich habe fast nichts zu diesem Letzteren gesagt stellung von »res extensa« unweigerlich die Materialität des Gegenstands. Aber diese Implikation bleibt invalid, solange sie nicht betont wird.

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und mich nur bemüht, das Erste gut verständlich zu machen, weil es meine hauptsächlichste Absicht war, den Unterschied zwischen Seele und Körper zu beweisen. Dazu konnte nur dieses dienen und das andere wäre hier schädlich gewesen.« 29

Allerdings stellte Descartes in Meditationen alle Formen der Sinnlichkeit als Modi des Denkens vor. 30 Dies besagt, dass Descartes alle subjektiven Operationen in Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Denkprozessen einem Oberbegriff, genauer gesagt einem oberbegrifflichen Kontext des Denkens, zu subsumieren und ebendiesem Oberbegriff – gegenüber der bloß ausgedehnten Körperwelt – weder Ausdehnung noch Materialität zuzuschreiben suchte. Descartes versuchte die Prinzessin über die mysteriöse Verbundenheit zwischen Leib und Seele, die bei Willensakten und Sinneswahrnehmungen zum Ausdruck kommt, durch eine Analogie hinsichtlich der Verbundenheit zwischen der bloß subjektiv empfundenen Schwerkraft und dem Körper aufzuklären. 31 Die Prinzessin schien jedoch von Descartes’ Erklärungsversuchen kaum zufriedengestellt zu werden; sie blieb wie zuvor bei ihrer Überzeugung von der Ausdehnung und Materialität der Seele: »wie die Seele (die unausgedehnt und immateriell ist) den Körper bewegen kann … Und ich gestehe, daß es mir leichter fallen würde, der Seele eine Materie und eine Ausdehnung zuzuschreiben, als einem immateriellen Wesen die Fähigkeit, einen Körper zu bewegen und von ihm bewegt zu werden. Denn, wenn das Erstere durch Information geschähe, müßten die Lebensgeister, die die Bewegung verursachen, intelligent sein, was Sie aber keinem körperlichen Wesen zubilligen. Und obwohl Sie in Ihren metaphysischen Meditationen die Möglichkeit des Zweiten nachweisen, bleibt es gleichwohl sehr schwer zu verstehen, wie eine Seele, so wie Sie sie beschrieben haben, nachdem sie die Fähigkeit und die Gewohnheit des folgerichtigen Denkens erworben hat, dies alles durch einige Dünste verlieren kann und wie sie, die doch ohne Körper existieren kann und mit ihm nichts gemeinsam hat, dermaßen von ihm beherrscht werden kann.« 32

Vgl. Ebbersmeyer, Sabrina (Hg.): Der Briefwechsel zwischen Elisabeth von der Pfalz und René Descartes, Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2015, S. 29. 30 Descartes, René: Meditationen, übers. und hrsg. von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972, S. 145. 31 Descartes, René: Meditations and Other Metaphysical Writings, trans. Desmond M. Clarke, Penguin Classics, London 2003, S. 150. 32 Lauth, Bernard: Descartes im Rückspiegel, Paderborn 2006, S. 189. 29

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Die Polemik der Prinzessin bezieht sich hauptsächlich auf die Willensakte des Leibes, aber sie gilt ebenso im Hinblick auf die rezeptiven Sinneswahrnehmungen, wie auch den Erwiderungen Descartes’ zu entnehmen ist. Während die räumliche Ausdehnung der Sinnlichkeit unmittelbar erfahren wird, scheint ihre Materialität eine durchaus problematische Annahme zu sein. Denn die Existenzweise der rein mentalen Modi der Sinnlichkeit unterscheidet sich vollkommen von der materiellen Existenzweise der Körper – eine Distinktion, worauf die kartesische Methode der systematischen Negation und Absonderung der Sinnesqualitäten aufbaut. Die Sinnlichkeit ist modal vollkommen andersartig als die gegenständliche Materialität; der Nexus zwischen diesen absolut verschiedenen Domänen ist dem Wesen nach nicht modal, sondern kausal. Der Realität der Sinnlichkeit liegt notwendigerweise eine materielle Kausalität zugrunde. Demnach scheint eine ontische Synthese zwischen der subjektiven Sinnlichkeit und der phänomenalen Wirklichkeit unmöglich zu sein. Denn die ontische Emergenz der Sinnlichkeit aus der phänomenalen Materialität erweist sich als eine vollkommene – d. h. im Vergleich zu der Domäne der materiellen Phänomene als gänzlich andersartige – Emergenz. Von der qualitativen Emergenz der Sinnlichkeit – des Sehens, Tastens, Hörens, Schmeckens, Riechens sowie der anderen leiblichen Empfindungen – bleibt in Wirklichkeit kein Residuum einer phänomenalen Materialität übrig. Die Anerkennung einer vollkommenen Emergenz der Sinnlichkeit schließt aber ihre materiell-phänomenale Kausalbasis nicht aus; stattdessen setzt sie sogar jene immanente ätiologische Struktur voraus, die die Daseinssphäre der Sinnlichkeit mit der der materiellen Phänomenalität kausal verbindet. Die materiell-kausale Basis der Sinnlichkeit bietet demnach – neben der räumlichen Ausdehnung – eine Plattform für die Analogizität der verschiedenen Modi der Sinnlichkeit. Obwohl die verschiedenen Sinneswahrnehmungen aus ebenso verschiedenen physikalisch-materiellen Prozessen entstehen, unterscheiden sich die Kausalprozesse nicht gänzlich voneinander. Es gibt bestimmte Phänomene in diesen physikalisch-materiellen Kausalprozessen, die alle Sinneswahrnehmungen gemein haben und die scheinbar ihre analogen Wesenszüge, wie die räumliche Ausdehnung und Lokalisierung, entstehen lassen. Die neuronalen Prozesse, die letztendlich die verschiedenen Modi der Sinnlichkeit verursachen, erweisen sich zwar modal als voneinander gänzlich verschieden, aber ihnen liegen identische Phänomene zugrunde. Ein treffendes Beispiel 64 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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ist das elektrische Phänomen, das allen Prozessen im Nervensystem, nämlich der Übertragung, Bearbeitung sowie der (leiblichen) Ausbreitung der Sinnesempfindungen, zugrunde liegt. Dazu zählen auch die chemischen und biologischen Prozesse. Diese einheitlichen physikalisch-materiellen Phänomene scheinen einige analoge Wesenszüge der verschiedenen Modi der Sinnlichkeit, nämlich ihre leibliche und außerleibliche Ausdehnung und Lokalisation, zu vollbringen. Die Ausdehnung und Lokalisation unserer leiblichen Empfindungen, wie Schmerz, Kälte, alle Tastempfindungen, Geschmack usw., vermögen wir unmittelbar zu erfahren. Ebenso wie wir uns der räumlich ausgedehnten Existenzweise des eigenen Leibes bewusst sind, erkennen wir die leibliche Ausdehnung und Lokalisation der Empfindungen in ihrer Wirklichkeit bzw. in ihrer realen Existenz. Die Wirklichkeit oder wirkliche Existenz der leiblichen Empfindungen wird hier durch die unmittelbare Beteiligung des Objekts bzw. des Leibes an der Sinnlichkeit abgesichert und gewährleistet; die Abwesenheit des gegenständlichen Leibes und seiner Beteiligung führt zur Virtualität der leiblichen Sinnesempfindungen, dargestellt vor allem im Phänomen des Phantomschmerzes. Die Beteiligung des Leibes, wodurch die Wesenszüge der leiblichen Empfindungen wie Ausdehnung, Lokalisation aber auch die Simultaneität zustande kommen, bezieht sich auf verschiedene materielle bzw. physikalischphysiologische Phänomene und Prozesse. Die Neuronen im Gehirn und im gesamten Nervensystem, die die leiblichen Empfindungen bearbeiten und im Leib ausbreiten bzw. lokalisieren, bauen auf elektrischen und chemischen Prozessen auf. Der Gesichts- und der Gehörsinn dehnen sich außerleiblich im Freiraum und auf den (außerleiblichen) Gegenständen aus. Welche materiell-körperliche Beteiligung würde dann die Wirklichkeit der außerleiblichen Ausdehnung und gegenständlichen Lokalisation des Gesichts- und Gehörsinns herbeiführen und gewährleisten? Wäre es möglich, zwischen der leiblichen und außerleiblichen Ausdehnung, Lokalisation und Simultaneität der Sinnesempfindungen – in Hinblick auf die oben erörterte Allgemeinheit der materiell-körperlichen Beteiligung – Analogien aufzuweisen? Wenn wir in der Wirklichkeit unseres außerleiblichen Gesichts- und Gehörsinns – im Unterschied zu unseren leiblichen Empfindungen – keine außerleiblich-materielle Beteiligung und Mediation eines wirklichen Phänomens anerkennen, reduzieren wir unsere visuellen und auditiven Wahrnehmungen und ihre unmittelbar erfahrbaren Wesenszüge auf bloße Virtualitäten – 65 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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auf Phantombilder und -stimmen oder -geräusche. Unsere Erfahrung widerspricht von vornherein einer derartigen Reduktion; wir empfinden die Farbigkeit und den Ton eines außerleiblichen Gegenstands als am Gegenstand lokalisiert, ebenso wie wir den Schmerz, den Geschmack, die Wärme oder Kälte in unserem Leib ausgedehnt und lokalisiert empfinden. Wenn wir aber die Analogizität zwischen den leiblichen und außerleiblichen Sinnesempfindungen gerade in Bezug auf ihre räumliche Ausdehnung und Lokalisation sowie auf ihre zeitliche Simultaneität anerkennen, nehmen wir stillschweigend an, dass die Leiblichkeit unserer Sinnlichkeit, die wir unmittelbar erfahren können, sich auch außerleiblich – und zwar in unermesslicher Entfernung und Räumlichkeit des Seh- und Hörraumes – wirklich ausdehnt. D. h. ebenso wie wir den Schmerz in unserem Leib lokalisieren können oder ein außerleibliches Objekt leiblich tasten und dadurch eine bestimmte Tastempfindung – wie Kälte, Wärme oder Weichheit – erfahren, tasten wir die außerleiblichen und freiräumlich entfernten Objekte optisch und auditiv und empfinden dabei ihre Farbigkeit und Helligkeit sowie ihren Ton, ihr Geräusch oder ihre Stimme. Eine solche Annahme wird sich der gewöhnlichen menschlichen Vorstellungskraft entziehen. Wie lässt sich zwischen leiblichen und außerleiblichen Sinnesempfindungen eine adäquate Analogie aufweisen? Allein die philosophischen Standpunkte, wie z. B. der transzendentale Reduktionismus Kants in seiner Transzendentalen Ästhetik, scheinen hier unzureichend zu sein; sie tendieren nicht unbedingt zur epistemologischen Finalität, sondern eher zu einer doxastischen Kontextualität. Wenn dagegen allein von der Gegebenheit der Phänomene – unabhängig von den subjektiven Standpunkten, von denen aus sie betrachtet werden – ausgegangen wird, könnte die Analogisierung methodisch – und zwar im Rahmen der Naturwissenschaften – zur Entdeckung notwendiger Phänomene führen, die von einem Betrachtenden nicht nur suggeriert, sondern objektiv und notwendigerweise gegeben werden sollen. Die oben erörterte phänomenal-kausale Basis aller Sinnesempfindungen ist im Leib gegeben. Die neuronalen Prozesse im Leib, die die Sinnesempfindungen verursachen, sind ebenso gegeben und können als solche vom empfindenden Subjekt weder bestimmt noch gesteuert werden. Die leibliche und außerleibliche Ausdehnung, Lokalisation und Simultaneität der Sinnlichkeit sind zwar ihrem Wesen nach mentale Zustände, jedoch liegt ihnen eine objektiv gegebene phänomenal-kausale Struktur zugrunde. Diese Struktur hat einige 66 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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Wesenszüge, die alle Modi der Sinnlichkeit gemeinsam haben, oder die undifferenziert die oben erwähnten Eigenschaften aller Sinnesempfindungen entstehen lassen. Eine davon ist das elektrische Phänomen in neuronalen Prozessen im Nervensystem und im Gehirn, das nicht nur die leibliche Ausdehnung und Lokalisation, sondern auch die Simultaneität der leiblichen Sinnesempfindungen erwirkt. Die Simultaneität der leiblichen Sinnesempfindungen liefert den adäquaten Beleg dafür, dass die leibliche Lokalisation der Sinnesempfindung notwendigerweise durch elektrische Signale im Nervensystem entsteht. Wenn wir ein kaltes oder warmes Objekt mit dem Fuß berühren oder mit der Hand anfassen, empfinden wir alsbald die Wärme oder Kälte im Fuß oder in den Fingerspitzen lokalisiert. Dieser Empfindungsprozess schließt folgende Stufen in sich ein: (1) die leibliche Berührung des Gegenstands, (2) die Übertragung dieses Empfindungsinputs auf das Gehirn durch die Nerven, (3) die neuronale Bearbeitung des übertragenen Inputs in einem bestimmten Teil des Gehirns und (4) schließlich die im Leib bzw. im Fuß oder in den Fingern lokalisierte Sinnesempfindung. Von der ersten Stufe der gegenständlichen Berührung bis zum finalen Ergebnis, nämlich der subjektiven Empfindung, ereignet sich dieser Empfindungsprozess in äußerster Simultaneität. Die Simultanität und leibliche Lokalisation der Empfindung basieren offensichtlich auf der Simultaneität der Übertragung und Bearbeitung der Signale im Nervensystem, die in erster Linie kein rein chemisches oder fluiddynamisches, sondern unbedingt ein elektrisches Phänomen sein soll. Diese Erkenntnisse sollten uns apriorisch vorkommen, auch wenn wir uns der neuronalen Vernetzung in unserem Nervensystem sowie ihren Funktionen – vor allem der Übermittlung des sensorischen, rohen Inputs zum Gehirn und der Sinnesempfindung zurück zu dem Empfindungsort im Leib – im Einzelnen nicht bewusst sind. Denn die Simultaneität unserer leiblichen Empfindungen – z. B. dass wir die Kälte oder Wärme eines Gegenstands sofort bzw. im selben Moment in unseren Fingern empfinden, wenn wir ihn mit der Hand berühren – kann nur durch die Simultaneität des elektrischen Phänomens entstehen. Ein rein chemisches oder fluiddynamisches Phänomen (wie die Blutzirkulation im Leib) kann nie die Schnelligkeit und Simultaneität der elektrischen Signale erreichen, vor allem dann nicht, wenn diese Simultaneität nicht auf einer einseitigen, sondern auf einer beiderseitigen Übermittlung – d. h. von einem Ort im Leib hin zum Gehirn und zurück – aufbaut. Die neurobiologische For67 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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schung hat gezeigt, dass es der Fluss der elektrochemischen Signale zwischen sensorischen Neuronen in unserem Nervensystem ist, der die Simultaneität unserer leiblichen Sinnesempfindungen und aller simultanen Willensakte herbeiführt. Die elektrischen Signale im Nervensystem sorgen auch für die leibliche Ausdehnung und Lokalisation der (leiblichen) Sinnesempfindungen, die im Gehirn bearbeitet werden. Dass wir den Schmerz, alle Tastempfindungen, den Geschmack usw. in bestimmten Orten im Leib lokalisiert und simultan empfinden, verdanken wir dem elektrischen Signalsystem im Leib, das im Gehirn zentriert und durch das Nervensystem im ganzen Leib vorhanden ist. Alle Sinnesempfindungen sind zwar ihrem Wesen nach rein subjektive Empfindungen, aber ihrer leiblichen Ausdehnung, Lokalisation und Simultaneität liegt unfehlbar eine phänomenale Ursächlichkeit der elektrischen und elektrochemischen Prozesse zugrunde. Aber die Elektrizität oder die elektrischen Signale in unserem Nervensystem – unabhängig von ihrer Verursachung verschiedener Sinnesempfindungen und ihrer leiblichen Lokalisation – bilden ein analoges oder sogar einheitliches Phänomen. Dies besagt, dass gerade in diesem Ursachenbereich eine Analogie zwischen den verschiedenen leiblichen Sinnesempfindungen plausibel ist. Eine derartige Analogie bezieht sich offensichtlich auf die leibliche Lokalisation und Simultaneität aller leiblichen Sinnesempfindungen. Nun lässt sich fragen, ob sich diese Analogie über die Domäne der leiblichen Sinnesempfindungen hinaus auf die außerleiblichen Sinnesempfindungen wie den Gesichts- und Gehörsinn erstrecken kann. Ebenso wie wir den Schmerz oder Geschmack in unserem Leib lokalisiert und simultan empfinden, empfinden wir die Farbe oder den Klang eines außerleiblichen Gegenstands am Gegenstand lokalisiert – und zwar in einer durchaus analogen Simultaneität. Allerdings gibt es keine Nerven im Freiraum, die das Gehirn mit dem empfundenen außerleiblichen Gegenstand verbinden. Daher scheint eine Analogie zwischen leiblichen und außerleiblichen Sinnesempfindungen, die sich auf die räumliche Ausdehnung, Lokalisation und auf die zeitliche Simultaneität bezieht (im Vergleich zu den oben erörterten Analogien zwischen leiblichen Empfindungen), von vornherein eine schwierige oder sogar unmögliche Aufgabe zu sein. Aber das Licht, das die außerleiblichen Sehobjekte durch das Auge mit dem neuronalen Netzwerk des Gehirns verbindet, ist dem Wesen nach ein elektromagnetisches Phänomen. Wäre es vorstellbar, dass sich das elektrische Netzwerk in unserem 68 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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leiblichen Nervensystem durch den analogen Elektromagnetismus des Lichtes auch außerleiblich – und zwar in unermesslichen Entfernungen – ausdehnen könnte? Dass im Gehirn und im gesamten Nervensystem das elektrische Phänomen immer präsent ist, scheint auch eine eher spekulative Vorstellung zu legitimieren, dass die elektrischen Signale über die Grenzen des leiblichen Gehirns hinaus in die außerleibliche Umwelt – in der Form der elektromagnetischen Wellen – gesandt werden und folglich auf den außerleiblichen Freiraum und die sich darin befindenden Gegenstände erstreckt werden könnten. Wissenschaftler haben bereits die sogenannten Gehirnwellen (Brain Waves), die sich als Kurzwellen extrem schnell bewegen und auch in großen Entfernungen an ihre Stärke und Intensität nicht verlieren, identifiziert. 33 Es wurde entdeckt, dass diese elektromagnetischen Gehirnwellen viel stärker und intensiver aus offenen Augen ausgestrahlt werden. 34 Wäre es folglich plausibel anzunehmen, dass sich durch diese Ausstrahlung der elektromagnetischen Wellen aus dem Gehirn (deren Ausmaß und Tragweite noch nicht hinreichend erforscht worden sind) unsere rein sinnliche Leiblichkeit über die Grenze unseres Leibes, genauer gesagt über die Grenze unseres Gehirns hinaus in den Freiraum und zu den Gegenständen in unserer Umwelt anhand des Gesichts- und Gehörsinns ausdehnt? Diese bisher kaum hinreichend erforschten Vorstellungen scheinen rein spekulativ zu sein, aber sie werden durch einige scheinbar aporetische Phänomene in der außerleiblichen Sinnlichkeit notwendigerweise vorausgesetzt und legitimiert. Es sind die rätselhaften Wesenszüge des Gesichts- und Gehörsinns, die bisher keine zureichenden wissenschaftlichen Erklärungen gefunden haben, nämlich die visuelle Lage-, Größen- und Distanzwahrnehmung sowie die freiräumlich entfernte gegenständliche Lokalisation der auditiven Wahrnehmungen. Die Funktion des Lichtes stellt man sich bisher tendenziell nur rezeptiv, d. h. in Bezug auf die bloße Konstruktion des Netzhautbildes im Auge, vor. Nun scheint eine erneute Untersuchung notwendig zu sein, ob das Licht in seiner optischen Mediation zwischen den gesehenen Gegenständen und dem leiblichen Auge eine weitere und wesentliche Aufgabe hat: Verbindet das Licht durch seinen Elektromagnetismus das Netzhautbild im Auge, das im GeVgl. Ross, Colin A.: Hypothesis: The Electrophysiological Basis of Evil Eye Belief, in Anthropology of Consciousness, Vol. 21, Issue 1, 2010, S. 47–55. 34 Ebd. 33

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hirn neuronal bearbeitet wird, wirklich mit den gesehenen Gegenständen? Dies ist offensichtlich eine Frage nach der wirklichen Einheit des Auges mit dem Sehraum und im weiteren Sinne nach der Einheit zwischen der physiologischen Optik, die mit dem Eingang des Lichtes und seiner Konstruktion des Netzhautbildes beginnt und sich des Weiteren auf die leiblichen Gehirnprozesse beschränkt, und der rein geometrischen Optik zwischen dem Netzhautbild und den Sehobjekten, die durch das physikalische Phänomen des Lichtes miteinander verbunden sind. Ebenso lässt sich nach einer möglichen Einheit zwischen den inner- und außerleiblichen Prozessen im Gehörsinn suchen. Diese und ähnliche Fragestellungen beziehen sich letztendlich auf ein grundlegendes Faktum, nämlich das wahre Wesen der Sinnlichkeit, die bisher – in der Moderne – tendenziell allein der Domäne des Subjekts zugeschrieben worden ist.

2.3 Die Ontologie der Sinnlichkeit Was ist der wahre Existenzmodus der Sinnlichkeit? Die vorher erörterte epistemologische Funktion der Sinnlichkeit als eine Mediation zwischen dem begrifflich erkennenden Subjekt und dem erkannten Gegenstand verweist primär auf eine verbindende Funktion, also auf einen ästhetischen Nexus zwischen der Domäne des Subjekts und der des Objekts. Wir sind uns über die Zugehörigkeit der Sinnlichkeit zu der Domäne des Subjekts im Klaren; über ihre mögliche Verbundenheit mit den – vom Subjekt unabhängig existierenden – Gegenständen jedoch nicht. Als mentale Phänomene bestehen die Modi der Sinnlichkeit zum einen aus verschiedenen Qualia, wie Farbe, Ton, Geschmack, Schmerz, Geruch usw., die, wie in der neuzeitlichen Epistemologie von Descartes bis Kant betont wurde, allein subjektive Ideen sind und als solche keine objektive Phänomenalität beanspruchen. Zum anderen besteht die Sinnlichkeit aus räumlichen und zeitlichen Strukturen, in denen sich die Sinnesempfindungen ausdehnen. Wenn wir die Räumlichkeit und Zeitlichkeit – bzw. die räumliche und zeitliche Ausdehnung – der Sinnlichkeit lediglich zu einem subjektiven Konstrukt erklären, reduzieren wir die Räumlichkeit und Zeitlichkeit mehr oder weniger auf denselben Status der Sinnesqualitäten und sprechen ihnen jene vom Subjekt unabhängige objektive Existenz ab. Allerdings lassen sich Raum und Zeit als Qualitäten im Rahmen der Sinnlichkeit mit den oben genannten rein subjektiven Sinnesqua70 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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litäten kaum gleichsetzen. Denn sie verweisen auf einen wesentlich andersartigen Existenzmodus. Die Empfindung der Sinnesqualitäten ereignet sich notwendigerweise in räumlicher und zeitlicher Formhaftigkeit und Strukturalität; d. h. die Sinnesempfindungen setzen unbedingt ihre Räumlichkeit und Zeitlichkeit bzw. ihre räumliche und zeitliche Konstruiertheit voraus – aber nicht umgekehrt. Raum und Zeit scheinen unabhängig von sinnlicher Gegenständlichkeit zu existieren und als solche empfunden zu werden. Ein treffendes Beispiel wäre die unmittelbare visuelle Empfindung des Freiraumes. Die freiräumliche Ausdehnung zwischen materiellen Körpern wird unmittelbar wahrgenommen, obwohl sie keine Sinnesqualitäten – Farbe, Helligkeit etc. – hat. Der visuelle Freiraum ist lediglich eine Ausdehnung, also ein bloß ausgedehntes Nichts, das unmittelbar sinnlich bzw. visuell wahrgenommen wird. Die rein subjektive Erzeugung der räumlichen und zeitlichen Formhaftigkeit der Sinnlichkeit scheint hier eine von vornherein problematische Annahme zu sein. In Meditationen differenziert Descartes die Sinnesqualitäten als Modi der rein mentalen Zustände – als Modi des Denkens – deutlich von der gegenständlichen Existenz. Er schien dabei jedoch über den notwendigen Wesenszug der Sinnlichkeit, nämlich den der räumlichen Ausdehnung, zu schweigen. Denn die räumliche Ausgedehntheit schreibt Descartes primär der rein körperlichen Existenz – als res extensa – zu, die unabhängig von der Seele, die eine res cogitans ist, existiert. Offensichtlich hat das begriffliche Denken oder Erkennen weder Materialität noch Ausdehnung (mit anderen Worten: Es macht keinen Sinn, von der Materialität und Ausdehnung des sprachlich-begrifflichen Denkens zu reden). Aber zwischen der Domäne des logischen Subjekts und der Domäne des materiell ausgedehnten Körpers besteht eine Zwischenstufe, nämlich die Domäne der Sinnlichkeit, die zwar weder sprachlich-begrifflich noch materiell ist, die aber zweifelsohne eine räumliche Ausdehnung aufweist. Dies bedingt eine Erweiterung des kartesischen Systems; die Ausgedehntheit – extensa – soll der Sinnlichkeit im Allgemeinen zugeschrieben werden, obwohl sie keine Materialität hat. Daraus würden sich zwei verschiedene Vorstellungen von Räumlichkeit bzw. von räumlichen Existenzweisen ergeben, nämlich die materielle Ausdehnung des realen Gegenstands und die immaterielle Ausdehnung der rein mentalen Sinnlichkeit. Eine derartige Zweiteilung des Existenzmodus des Raumes bezieht sich streng genommen allein auf die Wirklichkeit der objektiven 71 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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Gegenständlichkeit und der subjektiven Sinnlichkeit und nicht auf den Raum an sich, der sich als reine Ausdehnung charakterisieren lässt. Wenn res extensa nach Descartes eine reale bzw. vom Subjekt unabhängige Existenzweise des Körpers ist, verweist die Ausdehnung der Sinnlichkeit – wie Descartes es vorstellen und worauf seine Lehre der doppelten Existenzweise des Gegenstands (als reales und als mentales Objekt) hindeuten würde – auf eine rein subjektive Existenzweise des Raumes. Ist aber die Ausdehnung der bloß mentalen Sinnlichkeit gegenüber der Wirklichkeit der materiellen Ausdehnung des Körpers eine Virtualität? Wir sind uns in unserer mentalen Existenz vieler Modi der Virtualität, nämlich der Träume, Imaginationen, Spiegelungen, des Widerhalls oder sogar des Phantomschmerzes, bewusst. Gehört aber unsere unmittelbare Sinnlichkeit kategorisch zu diesen virtuellen Erscheinungen? Wie unterscheidet sich die Realität der unmittelbaren Sinnlichkeit von sinnlicher Virtualität? Alle Modi der sinnlichen Virtualität haben ein Faktum gemeinsam, das den ontologischen Status der Virtualität ausmacht, nämlich das Fehlen oder die gänzliche Abwesenheit der materiellen Gegenständlichkeit. Einem unmittelbar gegebenen Gegenstand können wir uns leiblich annähern und ihn antasten, aber seinem Spiegelbild, dem die Materialität fehlt, lässt sich weder leiblich annähern noch antasten. Ebenso unterscheidet sich der Phantomschmerz vom realen bzw. vom im Leib lokalisierten Schmerz hinsichtlich seiner real materiellen Ausdehnung im Leib. In dieser Weise schließt die sinnliche Virtualität die Wirklichkeit der Sinnesempfindungen nicht aus. Hier stoßen wir auf ein Problem im Rahmen der Ontologie der Sinnlichkeit: Das Faktum der gegenständlichen Anwesenheit, die der Sinnlichkeit ihre Wirklichkeit verleiht, ist primär durch eine reale materielle Ausdehnung gekennzeichnet. Dies besagt, dass bei den Modi der leiblichen und außerleiblichen Sinnlichkeit eine reale gegenständliche Ausdehnung mit der mentalen Ausdehnung der Sinnlichkeit miteinander – und zwar ontologisch – verflochten ist. Diese Verflechtung der leiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit mit dem materiellen Leib wird bei jeder leiblichen Sinnesempfindung unmittelbar erfahren. Darauf verweist die vorher erörterte Polemik der Prinzessin Elisabeth von Böhmen gegen die kartesische Vorstellung von res cogitans – der immateriellen und unausgedehnten Seele. Die leibliche und außerleibliche Ausdehnung der Sinnlichkeit gehört – wie der Antwort von Descartes auf die Fragestellung der Prinzessin zu entnehmen ist – nicht zu der Domäne eines begrifflich denkenden 72 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ontologie der Sinnlichkeit

logischen Subjekts, sondern zu der Domäne eines vorlogischen und rein ästhetischen Subjekts. 35 Zwar ist dem Wesen der leiblich ausgedehnten Sinnlichkeit die materielle Ausdehnung des Leibes – im streng kartesischen Sinne – ontologisch ein fremdes Faktum, aber gerade in der Analogizität oder sogar Identität ihrer leiblichen Ausdehnung scheint die Sinnlichkeit einen unfehlbaren ästhetisch-subjektiven Nexus mit dem Leib zu haben. Denn die Räumlichkeit des materiellen Leibes und der leiblich ausgedehnten Sinnlichkeit erweist sich ontologisch als ein irreduzibler und finaler Existenzmodus. Als solcher bleibt der Raum ein nicht zu negierendes Residuum, wie die kartesische Methode der systematischen Negation und Absonderung deutlich belegt. In Wirklichkeit ist die kartesische res extensa – im Rahmen des kartesischen Systems selbst – ebenso gültig für die Sinnlichkeit wie für die materielle Körperlichkeit. Es ist die irreduzible und finale Existenzweise des Raumes, die den nicht zu negierenden Nexus zwischen der materiellen Ausdehnung des Leibes und der immateriellen Ausdehnung der (leiblichen) Sinnlichkeit gewährleistet. Das Wesen der Sinnlichkeit ist demnach eher kompositorisch bzw. in einem kompositorischen Nexus zwischen einem primären Quale des Raumes und den sekundären Sinnesqualitäten (wenn wir die lockesche Differenzierung zwischen primären und sekundären Qualitäten mit einbeziehen) zu bestimmen. Die von Descartes unternommene und in der Geschichte der neuzeitlichen Philosophie fortgesetzte ontologische Differenzierung zwischen subjektiven Existenzweisen der Sinnesqualitäten und der objektiv-materiellen Leiblichkeit Diese Abhandlung basiert auf meinen früheren Untersuchungen, die ich im Rahmen meiner Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und meiner laufenden postdoktoralen Forschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der University of Cambridge verfasst und veröffentlicht habe. Da mehrmals auf sie bezogen wird, verwende ich im Text folgende Abkürzungen: PGPVR: Der Prozeß der Geometrisch-Optischen Perspektivierung in der Visuellen Raumwahrnehmung, FreiDok (Freiburger Dokumentenserver), Freiburg i. Br. 2001. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/271 PMS: Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung. Erwin Panofskys Unternehmung zur Ausweitung und Präzisierung des Symbolisierungsprozesses in der Philosophie der Symbolischen Formen von Ernst Cassirer (Dissertation), Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2005. DS: Domänen des Subjekts, FreiDok, Freiburg i. Br. 2006. http://www.freidok.unifreiburg.de/volltexte/2660/ RE: Die Räumlichkeit der Empfindung, FreiDok, Freiburg i. Br. 2008. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/4937/ Vgl. DS, S. 2–4.

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

scheint gerade in Bezug auf die Räumlichkeit, die die Sinnlichkeit und die sinnlich empfundenen Gegenstände gemein haben, fehlzuschlagen. Zwischen den ontologisch äußerst polarisierten Entitäten der immateriellen Sinnlichkeit und der materiellen Leiblichkeit scheint der Raum oder die Räumlichkeit als ein irreduzibles allgemeines Faktum aufzutreten, indem der Raum sich nicht ausräumen lässt bzw. weder am materiellen Leib noch an der immateriellen aber leiblich ausgedehnten Sinnlichkeit negiert werden kann. Descartes definiert die Räumlichkeit bzw. die räumliche Ausdehnung unweigerlich als eine materiell-körperliche Ausdehnung. Bei Descartes wird die Vorstellung vom Raum aus einem primären Existenzmodus des Körpers – als res extensa – abgeleitet. Nach Descartes kann kein leerer Raum – ohne die Fülle der Materie – existieren. Wenn Locke zu der kartesischen res extensa das Attribut der materiellen Solidität hinzufügt, trennt er den Raum von seiner – von Descartes vorgestellten – Abhängigkeit von der Körperlichkeit und schreibt ihm eine vom Körper gänzlich autonome Existenz zu. Im lockeschen Atomismus wird die Existenz der Leere anerkannt. Diese ontologische Differenzierung zwischen Raum und materiellem Körper fand ihren wichtigsten Ausdruck in der newtonschen Mechanik, nämlich in der Vorstellung vom absoluten Raum und seiner vollkommen autonomen Existenzweise. Sowohl der Philosoph Locke als auch der Naturwissenschaftler Newton schienen sich dabei gegenüber der kartesischen Zweiteilung zwischen der immateriellen und unausgedehnten Seele und dem materiell ausgedehnten Körper eine Dreiteilung der Wirklichkeit, nämlich bestehend aus der Seele, dem Körper und dem Raum, vorzustellen. Der Raum wird dabei von seiner kartesischen Reduktion – auf ein bloßes Attribut der körperlichen Existenz – zu einem absolut primären Existenzmodus erhoben. Allerdings beschränkte sich die Raumproblematik in der Frühneuzeit lediglich auf eine objektiv-phänomenale Ebene. Die Räumlichkeit der Seele – der seelischen Zustände und Operationen – war in der Philosophie kaum als ein wichtiger Untersuchungsgegenstand betrachtet worden. Zwar wurde bei einigen bekannten Diskursen wie dem Molyneux-Problem auf die Räumlichkeit der visuellen und haptischen Wahrnehmungen verwiesen, aber sie schienen – in Anlehnung an Descartes – über den Rahmen eines rein mentalen Phänomens kaum hinauszugehen. Berkeleys An Essay towards a New Theory of Vision erörterte die verschiedenen Wesenszüge der visuellen Raumwahrnehmung, dargestellt in der visuellen Lage-, Distanz74 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ontologie der Sinnlichkeit

und Größenwahrnehmung der Gegenstände. Allerdings werden sie nach Berkeley allein vom Geist geleistet. Die reale Ausdehnung der Sinnlichkeit wäre im Rahmen dieser frühneuzeitlichen Philosophien ein vollkommener Widerspruch. Descartes unternahm – im Rahmen seiner naturwissenschaftlichen Studien – eine physiologische Untersuchung der leiblichen und außerleiblichen Sinneswahrnehmungen. Dabei versuchte er zu demonstrieren, wie das Nervensystem, das das Gehirn mit dem ganzen Leib – einschließlich mit den leiblichen Sinnesorganen – verbindet, den Prozess der Sinneswahrnehmungen auf der materiellen bzw. physiologischen Ebene realisiert. Allerdings wollte Descartes dem leiblichen Nervensystem eine wirkliche Ausdehnung der Sinnlichkeit nicht zubilligen; stattdessen versuchte Descartes einen punktuellen Verbindungsort zwischen Seele und Leib im Gehirn zu demonstrieren, 36 wo die gesamten durch die leiblichen Nerven überlieferten materiellen Daten zu rein mentalen Sinneszuständen verarbeitet werden. Den Sitz der Seele im Gehirn versucht Descartes auf eine ausdehnungslose punktuelle Basis zu reduzieren. Obwohl Descartes in seiner Antwort auf die Polemik von Prinzessin Elisabeth die Verbundenheit zwischen der Seele und dem Leib auf einer vorlogischen ästhetischen Ebene bzw. in der Sinnlichkeit bejaht, blieb ihm die Vorstellung einer wirklichen bzw. phänomenal-leiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit eher fremd. Auch durch seine physiologische Untersuchung der Sinnlichkeit versuchte Descartes offenbar eine rein punktuelle Verbundenheit der Seele mit dem Leib festzustellen und dadurch den der Seele ursprünglich zugeschriebenen Status der res cogitans ein Stück weit zu bewahren. Während Descartes die Sinnlichkeit als einen Modus des immateriellen und unausgedehnten Denkens – der res cogitans – betrachtet und demnach dem Denken unterordnet, 37 agiert er streng ontologisch. Bei seiner Methode des systematischen Zweifelns und der Absonderung geht Descartes von der Grundannahme aus, dass die Sinnesqualitäten einen vom materiell ausgedehnten Körper wesentlich unterschiedlichen ontischen Status haben. Obwohl Descartes die materiellen bzw. physikalisch-physiologischen Prozesse, die als Kausalprozesse der subjektiven Sinnlichkeit zugrunde liegen, von vornDescartes, René: Die Leidenschaften der Seele (Französisch-Deutsch), übers. & hrsg. von Klaus Hammacher, Meiner Verlag, Hamburg 1996, S. 57. 37 Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, übers. von Artur Buchenau, Meiner Verlag, Hamburg 1992, S. 11 (§ 32). 36

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

herein anerkennt und sie zum Gegenstand seiner naturwissenschaftlichen Untersuchungen macht, bleibt er unnachgiebig bei seiner Grundvorstellung von der vollkommenen Emergenz der Sinnesqualia aus den materiellen Prozessen und ihrer ontischen Autonomie und Abgetrenntheit von der phänomenalen Welt. Indem die vollkommene Emergenz der Sinnesqualia – wie Farbe, Geschmack, Ton, Wärme usw. – offensichtlich zu der Domäne des Subjekts und nicht zu der materiell-körperlichen Welt gehört, schreibt Descartes der Sinnlichkeit – zwar in einer durchaus problematischen Analogie zu den Zuständen und Operationen eines logischen Subjekts, nämlich dem begrifflichen Denken, Urteilen oder Erkennen, aber auch dem bildlichen Traum und der Imagination – weder den ontischen Status der Materialität noch den der Ausdehnung zu. Kurzum: Das kartesische System des Philosophierens baut auf einer grundlegenden Strategie auf, alle Domänen der Seele – des Verstandes und der Sinnlichkeit – gänzlich von der materiell-phänomenalen Wirklichkeit zu isolieren und sie den Wesenszügen der Körperwelt, nämlich der Materialität und der Ausdehnung, ontologisch entgegenzusetzen. Diese Strategie tritt bei einigen philosophischen Positionen zutage, wie z. B. wenn Descartes nach einigen Demonstrationen anhand seiner Methode des systematischen Zweifelns endgültig feststellt, dass die Seele vom materiell ausgedehnten Leib gänzlich verschieden ist und als solche ohne Leib existieren kann. 38 Die Ontologie der Sinnlichkeit bezieht sich unabdingbar auf die Räumlichkeit bzw. auf die räumliche Ausgedehntheit der Sinnesempfindungen. Sinnesempfindungen ereignen sich in leiblicher und außerleiblicher Ausdehnung. Wir empfinden die Sinnesqualitäten immer räumlich; bei visuellen und auditiven Empfindungen wird auch der Freiraum – als bloße Distanzwahrnehmung beim Hören oder als eine wirkliche dreidimensionale Ausdehnung beim Sehen – sinnlich wahrgenommen. Die Ontologie der Sinnlichkeit basiert demnach auf einer ontologischen Verbundenheit zwischen Raum und Sinnesqualia. Wir sind uns darüber im Klaren, dass die Sinnesqualitäten lediglich subjektive Ideen sind und als solche die materiellphänomenale Gegenständlichkeit nicht beanspruchen können. Ihre Emergenz aus einer physiologisch-physikalischen Kausalbasis ist eine vollkommene Emergenz und erweist sich somit als ontologisch autoDescartes, René: Discourse on Method and Meditations on First Philosophy, trans. Donald A. Cress, Hackett Publishing Company, Indianapolis 1998, S. 19.

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nom von der phänomenalen Wirklichkeit. Aber wie können wir die Emergenz der Räumlichkeit der Sinnesempfindungen nachvollziehen? Falls die Räumlichkeit der Sinnesempfindungen von vornherein ein rein subjektives Konstrukt ist, bildet sie keine Wirklichkeit – an der sich die empfundenen wirklichen Gegenstände und der ebenso empfundene Freiraum beteiligen –, sondern eine Virtualität. Aber die sinnliche Virtualität unterscheidet sich von der Wirklichkeit der Sinnesempfindungen und kann sie nicht ausschließen, wie bereits erörtert wurde. Der wahre Erkenntnismodus der Räumlichkeit der Sinnesempfindungen blieb in der frühneuzeitlich-kartesischen Tradition der Wahrnehmungstheorie ein ungelöstes Problem. Denn die kartesische Vorstellung von res extensa sowie die lockesche Vorstellung von dem Raum oder der räumlichen Ausdehnung des Gegenstands als einer primären Qualität basiert auf der Annahme, dass der Raum ein wirklicher – d. h. ein vom wahrnehmenden und erkennenden Subjekt vollkommen unterschiedlicher – Existenzmodus ist. Aber die Ausdehnung des Leibes, des Freiraumes und der außerleiblichen Gegenstände ist uns – den sinnlich wahrnehmenden Subjekten – allein durch unsere Sinnlichkeit und ihre Ausgedehntheit zugänglich. Wie können wir dann die real-gegenständliche Ausdehnung von der Ausdehnung der subjektiven Sinnlichkeit, in der die Gegenstände gegeben werden, unterscheiden? Descartes versuchte bekanntlich diese Problematik, die sein philosophisches System selbst voraussetzte, in seiner Zweiweltentheorie zu bewältigen. Nach dieser Theorie existieren die Dinge als reale und als mentale Gegenstände. 39 Allerdings sind diese Existenzweisen nur verschiedene Modi ein und desselben Gegenstands. 40 Die Einheit des Gegenstands macht es sehr schwer, eine reale gegenständliche Ausdehnung von ihrer Gegebenheit in der subjektiven Sinnlichkeit zu differenzieren, vor allem wenn wir diese Gegebenheit real – und nicht virtuell – wahrnehmen. Aus diesem Grund schien Descartes auf die Frage der Prinzessin Elisabeth nach der Ausgedehntheit der Seele im Leib keine klare bzw. konkrete Antwort zu geben. Obwohl Descartes die Verbundenheit der Seele mit dem Leib in der Sinnlichkeit bejaht, stellte er sich – wie bereits erörtert wurde – in seinen physiologischen Untersuchungen diese Verbundenheit nicht ganzleiblich, sondern eher punktuell im Gehirn vor. 39 40

Siehe Anmerkung 21. Ebd.

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

Dehnt sich die Sinnlichkeit in einem wirklichen Raum aus? Während Descartes auf diese Frage keine Antwort gibt – auch wenn er die Möglichkeit einer derartigen Ausdehnung des rein ästhetischen Subjekts durch die Anerkennung der wirklichen leiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit andeutet –, scheint sie bei Kant allein kontextual betrachtet zu werden. Für Kant bildet der Raum eine notwendige Form der Sinnlichkeit a priori. Die räumliche und zeitliche Ausdehnung der Sinnlichkeit wird im kantischen System bzw. im Kontext seiner Transzendentalen Ästhetik streng genommen nicht objektiv-gegenständlich, sondern eher subjektiv-transzendental betrachtet. Kant betont das apriorische Vorhandensein des Raumes und der Zeit im transzendentalen Subjekt – als Formen der reinen Anschauung – und verneint dabei ihre aposteriorische Gegebenheit in der Sinnlichkeit. Die empirische Anschauung, in der die zu empfindenden Gegenstände gegeben werden, hat unbedingt eine räumliche und zeitliche Formhaftigkeit. In der kantischen Transzendentalen Ästhetik machen diese Formen eine reine Anschauung aus, die als ein irreduzibles und finales Residuum übrig bleibt, wenn der empirischen Anschauung alle Verstandesattribute und – die ebenso subjektiv erzeugten – Sinnesqualitäten entzogen werden. 41 Es besteht ein hinreichender Grund dafür anzunehmen, dass Kant den Diskurs über Raum und Zeit auf ein transzendentalphilosophisches System kontextual einschränkt, wenn er – bei der transzendentalen Erörterung dieser Formen der Sinnlichkeit – feststellt, dass Raum und Zeit notwendige Formen der empirischen bzw. sinnlichen Anschauung a priori sind. Denn Kant stellt sich eine rein gegenständliche Daseinsform vor, nämlich das Ding an sich, das sich dem transzendental-subjektiven Erkenntnis- und Anschauungsvermögen entzieht. Nach Kant gelten für das Ding an sich die apriorischen Formen der Anschauung – Raum und Zeit – nicht. D. h. das Ding an sich existiert weder im Raum noch in der Zeit, die nach Kant bloß apriorische Formen der reinen Anschauung sind und als solche lediglich durch ihre Zugehörigkeit zu einem transzendentalen Subjekt eine Bedeutung haben. Falls Kant versuchte, auf die Frage von Prinzessin Elisabeth zu antworten (vorausgesetzt, dass diese Frage sich notwendigerweise auf die leibliche Sinnlichkeit bezieht), würde er zwar die räumliche Ausdehnung der Sinnlichkeit anerkennen, aber zugleich betonen, dass sie 41

Kant, a. a. O., S. 64.

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Die Ontologie der Sinnlichkeit

ihre Entstehung und Existenz nicht einer gegenständlichen bzw. materiell-leiblichen oder außerleiblichen Ausdehnung (a posteriori), sondern allein einem transzendental-ästhetischen Subjekt verdankte. D. h. nach Kant wird der Sinnlichkeit ihre räumliche Ausdehnung nicht durch eine materiell-leibliche oder -außerleibliche Ausdehnung verliehen; die phänomenale Welt liefert lediglich Empfindungsinhalte, erst durch ein transzendental-ästhetisches Subjekt werden sie apriorisch bzw. in bereits apriorisch vorhandenen Formen des Raumes und der Zeit angeschaut. Die Anschauung ist demnach ein Prozess der apriorisch-subjektiven Verräumlichung und Verzeitlichung der durch die Empfindungen gegebenen Gegenstände. Dabei scheinen die den Gegenständen eigenen und vom transzendentalen Subjekt unabhängigen oder autonomen räumlichen und zeitlichen Existenzweisen kaum hinreichend berücksichtigt zu werden. Zugleich aber vertritt Kant die Grundansicht, dass die Gegenstände in der empirischen Anschauung gegeben werden. Obwohl bei Kant diese Gegebenheit wieder in einem transzendentalphilosophischen Rahmen als eine Erscheinung behandelt wird, scheint sie ein residuales Faktum der rein objektiven Gegebenheit des Gegenstands vorauszusetzen, worauf die kantische Vorstellung von der Affiziertheit des Subjekts durch den Gegenstand (obwohl Kant den das Subjekt affizierenden Gegenstand als »Ding an sich« bestimmt) und seine programmatische Philosophie der Synthese – als transzendentale Lehre der verbindlichen Erkenntnis, aber auch der perzeptiven Sinneswahrnehmung – verweist. Die Gegebenheit des Gegenstands setzt unausweichlich eine Gegebenheit in objektiver Form des Raumes und der Zeit – d. h. in rein gegenständlicher Räumlichkeit und Zeitlichkeit – voraus. Kant würde eine derartige Schlussfolgerung von Grund aus verneinen, indem er sich die vom Subjekt vollkommen autonome Existenzweise des Gegenstands als ein Ding an sich vorstellt, das unabhängig von den apriorisch vorhandenen Formen des Raumes und der Zeit ist bzw. existiert. Wenn wir aber eine Welt der materiellen Gegenstände, die vom erkennenden und sinnlich wahrnehmenden Subjekt unabhängig existieren, philosophisch annehmen können – ebenso wie wir die Existenz unseres Leibes legitimieren –, würden wir zugleich die Wesenszüge dieser gegenständlichen Existenz als räumlich und zeitlich ausgedehnt erkennen. Demnach schreiben wir der Gegebenheit der Gegenstände in der empirischen Anschauung die Wesenszüge der – vom Subjekt autonomen – Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu. Wenn – 79 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Analogizität der Sinnlichkeit

in Anlehnung an Kant – die empirische Anschauung eine transzendental-ästhetisch-subjektive und als solche apriorische Verräumlichung und Verzeitlichung der in der Sinnlichkeit gegebenen Gegenstände bildet, lässt sie sich in einer erweiterten Betrachtungsweise als eine (subjektiv-sinnliche) Verräumlichung der Räumlichkeit und Verzeitlichung der Zeitlichkeit der rein objektiv gegebenen Gegenstände vorstellen. Allerdings sprengt eine derartige Vorstellung den Rahmen einer (kantischen) Transzendentalen Ästhetik. In der Einleitung zur Transzendentalen Ästhetik erörterte Kant hauptsächlich die apriorischen Formen der Sinnlichkeit, nämlich Raum und Zeit. Die weiteren Betrachtungen über den Raum beziehen sich vornehmlich auf die Geometrie bzw. auf die Apriorität der axiomatischen geometrischen Intuitionen. Die geometrischen Formen sind zwar Gegenstände der sinnlichen bzw. visuellen Wahrnehmung, aber der Raum der Geometrie unterscheidet sich von der unmittelbaren Räumlichkeit der Sinneswahrnehmung – insbesondere des Sehens – in vielerlei Aspekten. Streng genommen bildet der geometrische Raum einen theoretischen Raum, wogegen sich die unmittelbaren Sinneswahrnehmungen in einem ästhetischen Raum ausdehnen. Allerdings bleibt der Freiraum, der ein bloß ausgedehntes Nichts ist, in den geometrischen Intuitionen und in der unmittelbaren Sinnlichkeit unverändert. Bei freiräumlichen geometrischen Formen lässt sich zwischen ihrer intuitiven Vorstellbarkeit und ihrer sinnlichen Wahrnehmung kaum unterscheiden. Eine elementare geometrische Form wie eine Linie oder Fläche erscheint sowohl bei ihrer intuitiven Vorstellung als auch bei der sinnlichen Wahrnehmung (beim Sehen) in ihrer richtigen bzw. axiomatischen Formhaftigkeit. Aber wenn wir uns das Axiom, »der Raum hat drei Abmessungen«, visuell durch drei Koordinaten – nämlich die Abszisse, die Ordinate und die Kote – intuitiv vorstellen oder es architektonisch objektiviert sehen, vermögen wir die richtige axiomatische Struktur der Raumkoordinaten sinnlich bzw. visuell kaum exakt wahrzunehmen. 42 Denn unser Sehen und unsere Einbildung, die sich visuell ereignet, sind perspektivisch bedingt. D. h. unserem unmittelbaren Sehraum und dem ebenso visuellen Einbildungsraum liegt eine perspektivische Raumstruktur zugrunde; sie macht den wichtigsten Wesenszug des ästhetischen Sehraumes, der uns allein durch das Sehen zugänglich Vgl. dazu Thaliath, Babu: Natur und Struktur der Kräfte, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2010, S. 48.

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Die Ontologie der Sinnlichkeit

ist, aus. Aufgrund der perspektivischen Formhaftigkeit vermögen wir die Struktur der Raumkoordinaten in ihrer Ganzheit oder Vollkommenheit – als drei sich in einem Punkt kreuzende Achsen, die miteinander rechte Winkel bilden – weder unmittelbar zu sehen noch vermögen wir uns diese intuitiv-apriorisch vorzustellen. Denn die Struktur der Raumkoordinaten erscheint uns sowohl während des unmittelbaren Sehens als auch in unserer intuitiven Vorstellung bzw. Visualisierung perspektivisch deformiert. Wir können nur wenige Winkel in der Form des rechten Winkels sehen. Die übrigen Winkel um das Origo (Nullpunkt) herum erscheinen uns als spitze und stumpfe Winkel. Dass alle Winkel, die die Raumkoordinaten am Origo konstruieren, rechte Winkel sind, entspricht zwar der Wirklichkeit der Raumkoordinatenstruktur und der oben erwähnten Axiomatizität des euklidischen Raumes, aber diese Erkenntnis – als ein theoretisch-geometrisches Konstrukt – müssen wir aus einer im Grunde perspektivischen Erscheinung ableiten. Dies besagt, dass die intuitivaxiomatische Vorstellung dieses Axioms zusätzlich zu einer unmittelbaren Sichtbarkeit der Raumkoordinaten in einem ästhetisch-perspektivischen Sehraum eine theoretisch-räumliche Konstruktion – als eine notwendige Korrektur – bedingt. 43 Bei Kant scheint die Bevorzugung des geometrisch-theoretischen Raumes im Rahmen einer Transzendentalen Ästhetik eher strategischer Natur zu sein, um die Apriorität des Raumes programmatisch bzw. in einem transzendentalphilosophischen System zu begründen. Denn Kant gebraucht den Kontext einer Transzendentalen Ästhetik in erster Linie zur Demonstration seiner Grundvorstellung (worauf er sein transzendentalphilosophisches System aufbaut), nämlich die Apriorität der synthetischen Urteile, dargestellt vor allem in der Mathematik und in den mathematischen Wissenschaften wie der Mechanik. »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« ist die Grundfrage, die in der Einführung zur Kritik der reinen Vernunft gestellt und erörtert wird. Die Apriorität der Raumvorstellung tritt in geometrisch-axiomatischen Intuitionen sehr deutlich in Erscheinung. Dass Raum und dessen geometrische Eigenschaften, die in der euklidischen Geometrie axiomatisiert werden, im Rahmen einer transzendentalen Ästhetik behandelt werden, scheint dadurch gerechtfertigt zu sein, dass die geometrischen Formen und Strukturen Objekte der Ästhetik bzw. Visualität sind. Aber gerade während 43

PMS, S. 287–288 (siehe Anmerkung 35).

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

des Sehens – in der unmittelbaren visuellen Wahrnehmung, aber auch in der intuitiv-visuellen Vorstellung – entsteht an erster Stelle eine perspektivische Sehraumstruktur, die zwar geometrisch konstruiert ist, aber die im Vergleich zu geometrischen Intuitionen vielmehr phänomenal gegeben zu werden scheint. Denn die Struktur der Perspektive wird durch die – von den Gegenständen reflektiert – auf den Augenpunkt konvergierenden wirklichen Lichtstrahlen bestimmt. Wenn wir im Kontext der Transzendentalen Ästhetik die Räumlichkeit des Sehens – als den wichtigsten Modus der Anschauung – erörtern, müssen wir primär von einer perspektivischen Raumstruktur ausgehen, die sowohl dem unmittelbar erfahrbaren Sehraum als auch der visuellen Einbildung zugrunde liegt. 44 Die Existenzweise der visuellen Wahrnehmung besteht aus einer Komposition der jeweiligen perspektivischen Raumstruktur, die sich auf den Freiraum und die Gegenstände erstreckt, sowie aus den Sinnesqualitäten wie Farbe, Helligkeit usw., in denen die Gegenstände erscheinen. Diese Sinnesqualitäten sind, wie vorher erörtert wurde, offensichtlich rein subjektive Ideen, obwohl sie gegenständlich bzw. physikalisch-physiologisch verursacht werden. Aber sie sind im unmittelbaren Sehen gegenständlich ausgedehnt. Können wir der perspektivischen Raumstruktur des Sehens in Analogie zu den Qualitäten des Gesichtssinns wie Farbe oder Helligkeit eine rein subjektive Existenzweise – also eine Existenzweise, an der die gesehenen Gegenstände nicht unmittelbar teilnehmen – zuschreiben? Die vollkommene ontologische Abtrennung des Sehens von der objektiven Domäne des Leibes und der außerleiblichen Gegenstände würde Die völlige Abwesenheit einer Erörterung des ästhetisch-perspektivischen Sehraumes in der Transzendentalen Ästhetik wäre ein Zufall, aber der Diskurs über die Entstehung der Perspektivität beim Sehen hat eine lange vor-kantische Geschichte. Seitdem Filippo Brunelleschi die geometrische Konstruktion der Zentralperspektive architektonisch entdeckte und sie weiter von Künstlern wie Leonardo da Vinci, Leon Battista Alberti u. a. als eine Technik der Malerei entwickelte, entstanden verschiedene Theorien der Perspektive, die sich prinzipiell auf die wirkliche Struktur des Sehens bezogen. Darüber hinaus wurde die Entstehung der visuellen Raumwahrnehmung zum Gegenstand verschiedener philosophischer Unternehmungen – von Locke und Molyneux, dargestellt in dem berühmten Molyneux’s Problem, von Berkeley in seinem Hauptwerk An Essay towards a New Theory of Vision sowie von den französischen Philosophen Diderot, Condillac und Voltaire. Die Historizität dieses Diskurses schien bei Kant im Kontext seiner Transzendentalen Ästhetik – insbesondere in seiner Feststellung »Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori« – maßgeblich unterdrückt zu werden.

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Die Ontologie der Sinnlichkeit

bedeuten, dass die gesamte visuelle Wahrnehmung – bzw. die gesehenen Qualitäten der Gegenstände und die räumlich-perspektivische Ausdehnung des Sehraumes – ein subjektives Konstrukt ist. Was das Auge mit den gesehenen Gegenständen, aber auch mit dem – unmittelbar nicht angeschauten, aber visuell wahrgenommenen – Freiraum verbindet, sind die Lichtstrahlen, die aus den Gegenständen reflektiert werden und auf den Augenpunkt konvergieren, während sie auf der Netzhaut die Sehobjekte abbilden. Wenn das Subjekt während des Sehvorgangs lediglich die zwei fast identischen Netzhautbilder in beiden Augen als das einzige Input hat, soll es allein durch diese Netzhautbilder die gesamte visuelle Wahrnehmung virtuell entwickeln. Dies bedeutet aber, dass das Subjekt aus einem vergleichsweise sehr kleinen Netzhautbild, in dem die Sehobjekte umgekehrt und – gemäß der Form der Netzhaut – sphäroidisch verzerrt abgebildet werden, einen unermesslich großen perspektivischen Sehraum entwickelt. Wie wir in unserem unmittelbaren Sehen erfahren, erscheinen die nahen Objekte in annähernd richtiger Größe und Entfernung – aber auch die weit entfernten Objekte wie ein Berg oder der Himmel, die sich in einer riesigen Extension und Entfernung befinden –, obwohl ihre Abbildungen auf der Netzhaut relativ klein sind. Darüber hinaus werden die freiräumlichen Entfernungen der Sehobjekte sowie ihre perspektivisch-dimensionale Tiefe auf der zweidimensionalen Netzhaut nicht abgebildet – eine Tatsache, die Berkeley in seiner Abhandlung An Essay towards a New Theory of Vision betont, um die Ungereimtheit der geometrisch-optischen Erklärung der visuellen Distanzwahrnehmung zu demonstrieren. Dass das sinnlich wahrnehmende Subjekt aus einem winzigen Netzhautbild das Sehbild oder -feld mit seiner unermesslichen Größe und Tiefe virtuell, bzw. unabhängig von den gesehenen realen Gegenständen und dem ebenso realen und visuell wahrgenommenen Freiraum, entwickelt, scheint sich unserem logischen Verstand zu entziehen. Aber wenn wir umgekehrt davon ausgehen, dass die visuelle Größen-, Distanz- und Lagewahrnehmung auf der wirklichen Größe, Entfernung und Lage der Sehobjekte und der Wirklichkeit bzw. wirklichen Gegebenheit des Sehraumes basieren, nehmen wir auch an, dass unser Sehen sich auf einen unermesslich großen perspektivischen Sehraum wirklich ausdehnt und dabei alle Sehobjekte und den visuellen Freiraum einverleibt. Offensichtlich entzieht sich eine derartige Vorstellung unserem Verstand. So geraten wir in die schwierige Lage, uns zwischen diesen

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Die Analogizität der Sinnlichkeit

beiden Möglichkeiten entscheiden zu müssen bzw. eine davon als Wahrheit anzunehmen. Die Unglaubwürdigkeit der Vorstellung, dass unsere Sinnlichkeit sich außerleiblich und wirklich ausdehnt, besteht auch darin, dass wir keine Präsenz eines materiellen Mediums zwischen uns und den gesehenen und gehörten Gegenständen wahrnehmen. Wir sind uns der leiblichen Ausdehnung aller Tastempfindungen, wie Kälte, Wärme, Nässe usw., sowie Schmerz oder Geschmack im stärkeren Ausmaß bewusst. Weniger bewusst hingegen sind uns die außerleibliche Ausdehnung der Seh- und Hörempfindungen. Aber die Seh- und Hörempfindungen zeigen uns, dass alle visuellen und auditiven Empfindungen außerleiblich gegenständlich lokalisiert sind. Die außerleiblich-gegenständliche Lokalisation der Seh- und Hörempfindungen sowie die visuelle Empfindung des außerleiblichen Freiraumes bilden hier klare Aporien unserer Sinnlichkeit. Wir neigen dazu, die Lösung dieser Aporien innerhalb des Rahmens des philosophischen Subjekt-Transzendentalismus (wie bei Kant) oder im Rahmen der Naturwissenschaften bzw. der Neurobiologie zu suchen. Die Reduktion der Sinnlichkeit und ihrer Ausdehnung auf ein transzendentales Subjekt oder auf die neuronalen Prozesse im Gehirn, wodurch wir diese Aporien zu bewältigen suchen, schließt die Möglichkeit aus, dass sich unsere Sinnlichkeit leiblich und außerleiblich wirklich ausdehnen kann.

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Kapitel 3 Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

3.1 Das Problem der Emergenz in der Sinnlichkeit Die Aporie der Sinnlichkeit lässt sich hauptsächlich auf ihre Emergenz aus materiellen Phänomenen zurückführen. Die Sinnlichkeit ist ein gänzlich mentales Phänomen, dem eine phänomenale Ursächlichkeit zugrunde liegt; ihre Emergenz aus außerleiblichen und leiblichen phänomenalen Ursachenketten ist keine partielle, sondern eine vollkommene Emergenz. Diese vollkommene Emergenz ist zugleich ein vollkommen ontologischer Sprung – von der Domäne der materiellen Phänomene zu der Domäne der vor-sprachlichen mentalen Zustände. Die materiell-phänomenale Ursächlichkeit, deren Wirkungen die gesamten Modi der Sinnlichkeit ausmachen, erstreckt sich leiblich und außerleiblich. Während das im ganzen Leib ausgebreitete Nervensystem die leibliche Lokalisation der Empfindungen wie Schmerz, Wärme, Geschmack usw. ermöglicht, dehnen sich die visuellen und auditiven Empfindungen außerleiblich aus; ihre zu dem Leib zu analogisierende materielle Medialität erscheint uns allerdings als ein Rätsel. In unserer Sinnlichkeit lässt sich in dieser Weise eine rein materiell-phänomenale Ursachendomäne von einer immateriellmentalen Wirkungsdomäne – oder Wirklichkeit – vollkommen ontologisch differenzieren. Diese ursächliche materielle Phänomenalität der Sinnlichkeit bezieht sich leiblich auf das gesamte – im ganzen Leib ausgebreitete – Nervensystem, das auf neuronalen Zuständen und Prozessen aufbaut und sich außerleiblich auf verschiedene Naturphänomene wie Licht- und Luftwellen, chemische Eigenschaften der gesehenen Oberfläche der Körper, die mechanische Vibration der Körper (die die Luftwellen erzeugen) usw. auszubreiten scheint. Während die materiellen Phänomene bei ihrer Erzeugung der rein mentalen Sinnlichkeit eine vollkommen ontologische Emergenz entstehen lässt, bildet diese Verursachung grundsätzlich eine ontologische Kausalität. Das Prinzip einer derartigen Kausalität ist die 85 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Verursachung eines höheren und komplexeren Phänomens durch die elementaren Phänomene. Im normalen Fall der ontologischen Kausalität schließt das wirkliche bzw. das als Wirklichkeit individuierte Phänomen seine elementare ontologische Ursächlichkeit in sich ein; wie z. B. die Moleküle, deren Wirklichkeit zugleich eine elementarontologische bzw. atomare Ursächlichkeit in sich einschließt, oder die Wirklichkeit der Atome, denen eine subatomare Ursächlichkeit innewohnt. 45 Die vollkommene Emergenz der mentalen Sinnlichkeit erweckt allerdings den Anschein, dass sie eine von allen ursächlichen materiellen Phänomenen – insbesondere von ihrer neuronalen Basis – völlig abgetrennte Existenz und Phänomenalität hat. Die Farbigkeit eines Gegenstands ist ontologisch eine vollkommen andere mentale Existenzweise gegenüber allen materiell-ursächlichen Phänomenen. Ebenso unterscheidet sich der Geschmack oder der Klang eines Objekts von allen physikalischen Phänomenen, die diese mentalen Zustände verursachen. Jedoch beschränkt sich diese ontologische Abgetrenntheit und Autonomie der mentalen Sinnlichkeit auf ihren Empfindungsinhalt, dargestellt in allen Empfindungen der Farbigkeit, des Klangs, Geräusches, Geschmacks, Schmerzes usw. Wie bereits erörtert wurde, entstehen diese Modi der Sinnlichkeit nicht nur als bloße Empfindungsinhalte, sondern auch in bestimmten Formen, deren Formhaftigkeit notwendigerweise durch eine räumliche Struktur zustande kommt. Die ursächlichen materiellen Phänomene, aus denen sich die mentalen Empfindungsinhalte in einer vollkommen ontologischen Abgetrenntheit ergeben, scheinen sich gerade an der Entstehung der räumlichen Formhaftigkeit und Struktur der Sinnlichkeit zu beteiligen. D. h. die leibliche und außerleibliche Ausdehnung der Sinnlichkeit scheint nicht allein mental, sondern vielmehr phänomenal bzw. durch die physikalischen Phänomene, die sie verursachen, zustande zu kommen. Folglich ist der Nexus zwischen der Ausdehnung der verschiedenen Modi der Sinnlichkeit und der Ausdehnung ihrer physikalisch-ursächlichen Phänomene näher zu bestimmen. In Bezug auf die räumliche Ausdehnung erweist sich der Gesichtssinn unter allen Modi der Sinnlichkeit als der rätselhafteste. Denn in der visuellen Raumwahrnehmung entwickelt sich ein sehr deutlicher Unterschied zwischen der Wirklichkeit bzw. der wirklichen Zur ontologischen Kausalität vgl. Thaliath, Babu: The ontological causation, Journal of Dharma 33 (2008), S. 33–56, Bangalore 2009.

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Das Problem der Emergenz in der Sinnlichkeit

Form und Struktur des Sehens und seiner neuronalen Ursächlichkeit. Die uns erfahrbare Struktur des Sehraumes scheint unmittelbar durch die objektiven Phänomene, wie die materiellen Gegenstände und die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen sowie durch den Freiraum, konstruiert zu werden. Besonders die nahen Objekte erscheinen uns in annähernd richtiger Größe, Solidität und räumlicher Entfernung – also mehr oder weniger in derselben Art und Weise, wie sie sind bzw. im Raum existieren. Ebenso entsteht die Perspektivität bzw. die perspektivische Formhaftigkeit in der Visualität der Gegenstände und in der Wahrnehmbarkeit des Freiraumes aus einer wirklichen phänomenalen Struktur, nämlich der Konvergenz der aus allen Gegenständen reflektierenden Lichtstrahlen auf den Augenpunkt. Allerdings würden wir in Anlehnung an den kantischen Transzendentalismus feststellen, dass diese visuelle Raumwahrnehmung grundsätzlich eine subjektive Vorstellung a priori ist, oder – um es mit den Worten der Neurobiologen zu sagen – dass sie allein durch neuronale Prozesse im Gehirn entsteht. Beide Erklärungen sind Kausalerklärungen; die erstere aus der philosophischen Epistemologie und die letztere aus der Neurobiologie. Hier sind einige wesentliche Probleme in der visuellen Raumwahrnehmung zu identifizieren: Worin liegt die allererste Basis oder die ursprüngliche Kausalität der visuellen Raumwahrnehmung bzw. der visuellen Größen-, Distanz- und Lagewahrnehmung sowie der visuellen Wahrnehmung des Freiraumes? Ereignet sich die visuelle Raumwahrnehmung ursprünglich auf der Wirkungsebene bzw. im wirklichen Sehraum selbst, wobei die neuronalen Prozesse mit der visuellen Raumwahrnehmung nicht unbedingt in einem strengen Kausalzusammenhang bzw. nicht als der alleinige Urheber, sondern eher als ein kausales Korrelat – wie ein »Stützsystem« – verbunden sind? Diese Fragestellung baut deutlich auf einer Skepsis auf, ob die wahre Funktion der (im normalen Fall für rein kausal gehaltenen) neuronalen Prozesse eine vollkommene Verursachung oder die bloße Aufrechterhaltung einer bereits auf der Wirkungsebene bzw. im wirklichen außerleiblichen Raum entstandenen visuellen Raumwahrnehmung ist. 46 Wenn Hier ist nicht zu bestreiten, dass die neuronalen Prozesse die ursprüngliche und notwendige Kausalbasis für die visuelle Raumwahrnehmung bilden, aber sie scheinen aufgrund ihrer Beschränkung auf das Gehirn bzw. dessen Materialität eher eine zuzügliche Verursachung zu sein, die – als eine externe Kausalbasis – mit der außerleiblichen Wirkungsebene des unmittelbaren Sehens und seiner geometrisch-optischen Gesetzmäßigkeit korreliert. Eine derartige ursächliche Korrelation ereignet sich not-

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die neuronalen Prozesse beim unmittelbaren Sehen nicht eine einzigkausale, sondern vielmehr eine korrelativ-kausale Funktion haben, bilden sie mit dem wirklichen Sehraum bzw. mit der geometrischoptischen Struktur des Sehens eine gewisse operationale Einheit. Die Aporie der visuellen Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf die visuelle Lage-, Größen- und Distanzwahrnehmung, sondern auch auf die Emergenz der Sehbilder aus neuronalen Prozessen, die als materielle Phänomene gegenüber der rein mentalen Wirklichkeit des Sehens einen gänzlich anderen ontologischen Status haben, wie vorher erörtert wurde. Die vollkommene ontologische Emergenz des Gesichtssinns – der Sinnlichkeit im Allgemeinen – aus den materiellen Phänomenen erschwert jene kausale Erklärung ihrer Existenz bzw. ihrer Existenz in sinnlichen Inhalten wie Farbigkeit und in räumlich-zeitlicher Formhaftigkeit und Struktur. Das Problem einer angemessenen Kausalerklärung des Gesichtssinns lässt sich anhand von ein paar Fragestellungen einführen: 1. Entsteht der Gesichtssinn lediglich neuronal, indem das Gehirn allein das Netzhautbild (bzw. die Netzhautbilder in beiden Augen) als Input hat? 2. Kann sich der Gesichtssinn bei seiner Entstehung durch die neuronalen Prozesse im Gehirn tatsächlich auf einen wirklichen Sehraum erstrecken, der aus den wirklichen Gegenständen und dem Freiraum besteht und der durch die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen perspektivisch strukturiert ist? Sowohl die moderne Philosophie als auch die Neurobiologie und andere verwandte Wissenschaften bejahen die erste Frage und verneinen die zweite. Demnach wird die Entstehung der gesamten Seherfahrung allein auf die neuronale Bearbeitung der beiden fast identischen Netzhautbilder (in beiden Augen) zurückgeführt. Das Sehbild und seine inhaltlichen, formalen und strukturellen Wesenszüge und Qualia – wie die Farbigkeit oder Helligkeit sowie die Wahrnehmung der Größe, Lage, freiräumlichen Distanz und Solidität der gesehenen Gegenstände, die Perspektivität usw. – entstehen allein aus den neuronalen Prozessen. Die in der zweiten Fragestellung angedeutete Möglichkeit der Entfaltung des Gesichtssinns, obgleich sie alle oben wendigerweise in einer Einheit des Sehraumes mit dem Auge auf einer wahrnehmungstheoretisch-operationalen Ebene, die die Einheit bzw. die synthetische Verbundenheit der physiologischen Optik mit der außerleiblichen geometrischen Optik voraussetzt.

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Das Problem der Emergenz in der Sinnlichkeit

erwähnten Aporien der visuellen Raumwahrnehmung löst, scheint sich dem gewöhnlichen Menschenverstand zu entziehen. Denn sie besagt die wirkliche außerleibliche Ausdehnung des Gesichtssinns in unermesslicher Entfernung, Breite und Höhe. Dass sich unser Gesichtssinn wirklich außerleiblich ausdehnt und dabei unser außerordentlich weitreichendes Sehbild – das bis zu dem weit entfernten Horizont, zu der Höhe des Himmels usw. reicht – einverleibt, scheint uns von vornherein unglaubwürdig. Es ist allerdings primär nicht der Mangel an Evidenz, sondern die Unglaubwürdigkeit, die uns davon abhält anzunehmen, dass unser Gesichtssinn solches leisten kann. Allerdings scheint uns die erste, von der modernen Philosophie und Neurobiologie anerkannte Möglichkeit, nämlich dass unser Gesichtssinn und unsere Sinnlichkeit im Allgemeinen allein durch die neuronalen Prozesse im Gehirn entstehen, ebenso fragwürdig. Denn hier verursacht ein materielles Phänomen die rein mentalen Zustände und Prozesse; die gänzlich ontologische Differenz zwischen der Ursachen- und Wirkungsebene verhindert von vornherein eine ontologisch-kausale Reduktion der mentalen Sinnlichkeit auf ihre neuronale Ursächlichkeit. Zu jedwedem vorher erörterten Wesenszug des Gesichtssinns und zu den anderen Modi der Sinnlichkeit könnte jeweils eine bestimmte neuronale Ursache im Gehirn identifiziert werden. Dass diese materiellen Ursachen lediglich mentale Zustände entstehen lassen, belegen unsere unmittelbaren Erfahrungen der sinnlichen Wahrnehmungen. Wir müssen jedoch letztendlich daran glauben, dass sie hinreichende Ursachen unserer mentalen Zustände der Sinnlichkeit sind. Denn diese materiellen Ursachen haben mit ihren mentalen Wirkungen, die die gesamten oben erwähnten Wesenszüge der Sinnlichkeit ausmachen, ontologisch nichts gemeinsam. Eine übergroße Erscheinung wie ein Berg wird durch einen bestimmten neuronalen Zustand im Gehirn unterstützt, aber es ist durchaus nicht schlüssig festzustellen, dass jene riesenhafte Erscheinung allein durch diese neuronale Verursachung zustande kommt. Denn die Wirklichkeit dieser unserer unmittelbaren Seherfahrung scheint sich an erster Stelle auf der Wirkungsebene selbst zu ereignen, vor allem wenn wir ihre unermessliche räumliche Ausdehnung berücksichtigen. Ebenso lässt sich ausschließlich neuronal kaum erklären, dass wir die wahren Objekte in unserem nahen Sehfeld in ihren annähernd richtigen und vollkommen unterschiedlichen Größen und Entfernungen visuell wahrnehmen – ein Problem, mit dem sich viele Philosophen der Neuzeit wie Berkeley, Condillac, Helmholtz u. a. be89 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

schäftigten. Die Größenunterschiede der Netzhautabbildungen bieten hier keinen hinreichenden Grund für die völlig unterschiedlichen visuellen Größenwahrnehmungen der wirklichen Gegenstände; die Distanz der gesehenen Gegenstände und ihre Unterschiede werden auf der Netzhaut nicht abgebildet (eine Tatsache, wovon Berkeley in seiner berühmten und bis heute aktuellen Abhandlung »An Essay towards a New Theory on Vision« ausgeht). Wir wundern uns darüber, wie die relativ kleinen und rein materiellen Zustände im Gehirn eine von diesen wesentlich verschiedene mentale Wirklichkeit unseres immensen Sehbildes und der anderen Modi der Sinnlichkeit verursachen können. Aber das Gehirn produziert die mentale Virtualität, wie Erinnerung, Traum und Imagination, an der sich die wirklichen Gegenstände nicht unmittelbar beteiligen. Die unweigerliche neuronale Ursächlichkeit dieser sinnlichen Virtualität belegt auch das Potenzial des Gehirns, die rein mentalen Zustände allein aus den materiellen Prozessen zu entwickeln. Dies jedoch bewältigt die Aporie der unmittelbaren Sinnlichkeit nicht. Denn die räumlichen und zeitlichen Formen, Dimensionen und Strukturen der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmungen scheinen nicht bloß aus dem Gehirn heraus entwickelt zu werden, sondern primär aus den wirklichen Phänomenen bzw. den wirklich anwesenden Gegenständen der Sinnlichkeit gewonnen zu werden. Die Aporie der Sinnlichkeit kommt uns nachvollziehbarer vor, wenn wir eine Grundfrage nach der wahren Referenz der sinnlichen Wahrnehmung der Ausdehnung, der Distanz aber auch der Solidität der (wahrgenommenen) materiellen Gegenstände sowie der Ausdehnung und Struktur des Freiraumes stellen. Woher weiß das Gehirn von der annähernd richtigen Größe, Distanz, Solidität und Lage der Gegenstände (vor allem der nahen Gegenstände) im Sehfeld, ohne dass das Gehirn eine direkte Referenz zu den gesehenen wirklichen Gegenständen und zum visuell wahrgenommenen leeren Freiraum hat? 47 Eine derart notwendige Referenz – und demnach ein direkter Zugang zu den gesehenen wirklichen Gegenständen – würde sich auf die oben gestellte zweite Frage beziehen, die uns allerdings aus der aporetischen Gesinnung gegenüber der Sinnlichkeit kaum rettet. Wie zuvor erwähnt wurde, lehrt uns die Möglichkeit der sinnlichen Virtualität, dass die Sinnesqualia wie Farbigkeit, Klang, Geschmack oder taktile Empfindungen vom Gehirn (der Neurobiologie 47

PMS, S. 232. (siehe Anmerkung 35)

90 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Das Problem der Emergenz in der Sinnlichkeit

zufolge) oder vom Subjekt (laut philosophischer Epistemologie) entwickelt werden. Diese Qualia bilden allesamt die von Locke bezeichneten sekundären Qualitäten. Obwohl uns die neuronale Verursachung und Entstehung dieser Sinnesqualia rätselhaft vorkommt (aufgrund des gänzlich ontologischen Sprungs von materiellen in die mentalen Phänomene), sind es die primären Qualitäten der Sinnlichkeit, insbesondere die räumlichen, aber auch die zeitlichen Dimensionen, die uns die größten Rätsel aufgeben. Diese primären Qualitäten der Sinnlichkeit enthalten alle Wesenszüge der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung, wie Größe, Distanz, Lage, Simultaneität, Bewegung 48 usw. Allein die bloße Gegebenheit dieser räumlichen und zeitlichen Dimensionen bei der außerleiblichen Sinnlichkeit im Modus eines Netzhautbildes im Sehvorgang und der Vibration der Ohrtrompete beim Hörvorgang ist durchaus inadäquat, dem Subjekt die richtige Ausdehnung der Sinnlichkeit zu ermöglichen. Wenn der Seh-

Die sinnliche – vornehmlich visuelle – Wahrnehmung der Bewegung ist die Wahrnehmung einer räumlich-zeitlichen Ausdehnung eines wirklichen Gegenstands. Die gegenständlichen Bewegungen werden auf der Augennetzhaut geometrisch-optisch kaum angemessen abgebildet.

48

Figur 2 Die der Netzhautebene horizontale Bewegung eines Gegenstands (von A zu B in Figur 2) wird auf der Augennetzhaut in der umgekehrten Richtung und sehr winzig (ab) abgebildet. Wenn sich der Gegenstand in Richtung des Augenpunktes – entlang der Sehachse (PQ) – bewegt, wird seine Bewegung auf der Netzhaut räumlich nicht abgebildet. Die winzige Vergrößerung der Abbildung hier ist keine adäquate Grundlage, die uns zu der richtigen Wahrnehmung der räumlich-zeitlichen Ausdehnung dieser Bewegung veranlassen könnte.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

und Hörvorgang erst mit dem leiblichen Input, nämlich mit dem Netzhautbild und der Vibration der Ohrtrompete, beginnt – d. h. wenn bei der neuronalen Entwicklung des Sehens und des Hörens alle außerleiblichen Fakten, wie die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen, der Freiraum, die wirklichen Gegenstände im Sehfeld, die Luftwellen usw., ausgeschlossen werden –, scheint uns unerklärlich zu bleiben, woher das Gehirn alle Referenzen zu den annähernd richtigen räumlichen und zeitlichen Dimensionen dieser Modi der außerleiblichen Sinnlichkeit gewinnt. Offensichtlich bildet in dieser Weise die visuelle und auditive Wahrnehmung der richtigen räumlichen und zeitlichen Dimensionen der Umwelt eine Aporie. Die Aporie der außerleiblichen Sinnlichkeit ist primär eine phänomenale Aporie, die sich auf die Grenzen der neuronalen Bearbeitung des leiblichen Inputs beim Sehen und beim Hören bezieht. Aporien entstehen zwar subjektiv, genauer gesagt subjektivepistemologisch; sie markieren die Grenzen des subjektiven Verstandes. Aber sie verdanken den objektiven Phänomenen ihren Ursprung. Denn es ist grundsätzlich das Phänomen, das dem subjektiven Verstand Grenzen setzt. Aporien entstehen, wenn der Gegenstand des Verstands dem Subjekt rätselhaft erscheint. 49 Der Ursprung und die Grenze des Raumes sowie der Anfang und das Ende der Zeit bilden Aporien, indem das Aporetische an ihrer Form und Struktur letztendlich auf der Natur und Existenzweise dieser Verstandesgegenstände selbst basiert. Kurzum: Die subjektiven Aporien entstehen ursprünglich durch die Gegenstände; es ist die Aporie der phänoVgl. Thaliath, Babu: Wissenschaft und Kontext in der frühen Neuzeit, Verlag Karl Alber, Freiburg i. Br. 2016, S. 280: »Die ursprünglichen Vorstellungen von Aporie in der Philosophie von Platon und Aristoteles deuten auf jene Grenzerfahrung im Denken, also auf die Ausweglosigkeit im Denkprozess, in dem man vor allem nach einer Lösung sucht. Allerdings weist Aristoteles darauf hin, dass die Ausweglosigkeit im Denken weiterhin auf das Aporetische an der Sache bzw. an dem Objekt des Denkens zurückzuführen ist: »Wer einen guten Weg finden will, für den ist es förderlich, die Ausweglosigkeit gründlich durchgehalten zu haben. Denn der spätere Weg ist die Lösung dessen, worin man zuvor keinen Weg hatte. Man kann nicht lösen, wenn man den Knoten nicht kennt. Wenn man aber im Denken keinen Weg hat, dann zeigt das diesen Knoten in der Sache an.« (Aristoteles, Met. B 1, 995 a24–b4)« Vgl. Jacobi, Klaus: Kann die Erste Philosophie wissenschaftlich betrieben werden? Untersuchungen zum Aporienbuch der aristotelischen »Metaphysik«, in Metaphysisches Fragen. Colloquium über die Grundform des Philosophierens, hrsg. von Paulus Engelhardt und Claudius Strube, Böhlau Verlag, Collegium Hermeneuticum, Bd. 12, Köln – Weimar – Wien 2008, S. 31 ff.

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menalen Individuation, die dem subjektiven Verstand oder Erkenntnisvermögen Grenzen setzt und ihn in jener Aporie arretiert. Allerdings entstehen die Aporien auch aus dem subjektiven Widerwillen, dass das Subjekt die von den Phänomenen diktierenden Erkenntnisse nicht einfach akzeptieren kann, weil sie ihm unglaubwürdig vorkommen. Dass die Zeit keinen Anfang und kein Ende haben kann, ist eine Erkenntnis, die die Natur und Existenzweise der Zeit selbst dem Subjekt diktieren. Ebenso scheint der Raum dem Subjekt seine Grenzenlosigkeit zu diktieren. Aber das Subjekt ist kaum bereit, solche Erkenntnisse lediglich anzunehmen, da sich diese der subjektiven Vorstellungskraft entziehen. Indem sich das Subjekt solche Erkenntnisse nicht vorstellen kann, versucht es sie in Aporien oder Antinomien umzudeuten. Allerdings gibt es – neben der Unmöglichkeit der Vorstellung und der Unglaubwürdigkeit – auch andere Quellen der Aporien; z. B. der subjektive Stolz, der sich zum Egoismus entfalten kann (da das Subjekt die vom Phänomen diktierende Erkenntnis und ihre Aporie nicht bloß annehmen will) oder bestimmte Strategien zur Marginalisierung oder zur paradigmatischen Unterdrückung der objektiv gegebenen Prämissen usw. Bei der Feststellung der Aporien ist daher häufig eine gewisse subjektive Einstellung, nämlich die phänomenale Aporie epistemologisch nicht zu akzeptieren, zu identifizieren. Dagegen könnte die subjektive Akzeptanz der phänomenalen Aporien zu fruchtbaren Erkenntnissen führen und eventuell die Aporien bewältigen. Die Aporien der Sinnlichkeit entstehen auch dann, wenn die Untersuchung bzw. die Suche nach den Kausalerklärungen auf einen bestimmten Wissenschaftsbereich eingeschränkt ist und auf diesen alle Wesenszüge der sinnlichen Wirklichkeit – wie die räumlich-perspektivische Ausdehnung des Sehbildes oder die außerleiblich-gegenständliche Lokalisation auditiver Wahrnehmung – zurückzuführen versucht werden. Die Erweiterung der Kausalbasis auf die Wirklichkeitsebene der Sinnlichkeit würde dann die Erstreckung des Vorgangs der Sinnlichkeit auf andere Wissenschaftsbereiche wie die geometrische Optik implizieren. Diese hat im Vergleich zu Neuronen eine andere phänomenale Basis, nämlich das Lichtphänomen. Eine derartige Erstreckung setzt voraus, dass der wirkliche Sehvorgang sich in einer Einheit der leiblich-physiologischen mit der außerleiblichen geometrischen Optik ereignet. Diese Einheit impliziert deutlich eine Einheit des leiblichen Auges mit dem außerleiblichen Sehraum. Im Folgenden untersuchen wir, wie diese wahrnehmungstheoretische 93 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Einheit der Sinnlichkeit durch die Wesenszüge des wirklichen Sehund Hörvorgangs selbst bedingt wird.

3.2 Die Aporien der visuellen Wahrnehmung (a) Das Netzhautbild Das Netzhautbild im Auge ist die Grenze zwischen zwei Domänen der Augenoptik, nämlich zwischen der rein physiologischen und der außerleiblichen geometrischen Optik. Falls unser Sehbild allein aus neuronalen Prozessen im Gehirn zustande kommt, bildet das Netzhautbild – oder die Netzhautbilder in beiden Augen – den einzigen Input im Sehprozess, der von der außerleiblichen geometrischen Optik geliefert wird. Die Sehnerven übertragen diesen Input zum Gehirn allerdings nicht als Bilder, sondern im Modus elektrischer Signale. D. h. die allererste Übertragung des Netzhautbildes in neuronalen Prozessen des Sehvorgangs im Gehirn ist einer radikalen phänomenalen Umwandlung unterworfen. Dass die auf der Netzhaut konvergierenden Lichtstrahlen auf die lichtempfindliche Oberfläche der Netzhaut wirken und dadurch die fotoelektrischen Signale erzeugen, markiert angeblich den Endprozess des geometrisch-optischen Vorgangs, der allein das Auge mit den wirklichen Gegenständen sowie mit dem Freiraum im Sehfeld verbindet. Allerdings scheint die Rede vom Netzhautbild als einem Bild – oder als einer der Photographie analogen Abbildung – von vornherein problematisch zu sein. Denn das Netzhautbild wird im Sehprozess nicht gesehen. Solange das Netzhautbild im Sehprozess nicht unmittelbar mit bloßen Augen gesehen wird, können ihm viele Wesenszüge eines gewöhnlichen Bildes wie Farbigkeit und Perspektivität nicht zugesprochen werden. D. h. nur das Faktum des subjektiven Sehens vermag die Abbildung auf der Netzhaut in den Status eines richtigen – farbig-perspektivischen – Bildes zu verwandeln. Ohne das subjektive Sehen bleibt das Netzhautbild nur eine belichtete Ebene, auf der die Gegenstände farblos und aperspektivisch erscheinen, Licht- und Schattenzonen sich überlagern und der visuelle Freiraum nicht abgebildet wird. Das reale bzw. phänomenale Netzhautbild ist ein Lichtphänomen und kein Bildphänomen, das das subjektive Sehen voraussetzt. Der Mythos des Netzhautbildes wurde in der Entwicklungs94 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

geschichte der Sehtheorien und der physiologischen Optik von Philosophen und Wissenschaftlern der Optik nachdrücklich betont. In »Dioptrik« bestreitet Descartes die Vorstellung, dass das Netzhautbild im Auge visuell empfunden wird: »Wenn nun auch dieses Bild (bzw. das Netzhautbild; A. d. Verf.), das auf diese Weise ins Innere unseres Kopfes gelangt, immer noch eine Ähnlichkeit mit den Gegenständen behält, von denen es ausgeht, so darf man sich doch, wie ich es Ihnen ja schon verständlich genug gemacht habe, die Sache nicht so vorstellen, als ob wir durch diese Ähnlichkeit eine Empfindung von ihnen bekommen, als ob es noch andere Augen in unserem Gehirn gäbe, durch die wir sie wahrnehmen könnten.« 50

In seinem Werk »Depth Perception Through Motion« zitiert Myron L. Braunstein eine ähnliche Betrachtung von Kepler: »Kepler (1604) leaves to the natural philosopher the question of whether the retinal image »is made to appear before the soul or tribunal of the faculty of vision by a spirit within the cerebral cavities, or the faculty of vision, like a magistrate sent by the soul, goes out from the council chamber of the brain to meet this image in the optic nerves and retina, as if it were descending to a lower court.« 51

Sowohl Kepler als auch Descartes verweisen nachdrücklich auf die Tatsache, dass das Netzhautbild, das nicht gesehen wird, als Input im Sehvorgang einen wesentlich anderen Status hat. Hier ist von einer Ähnlichkeit zwischen unserem wirklichen Sehbild und der Netzhautabbildung nur in einem beschränkten Sinne die Rede. Denn auf der flachen Netzhaut werden die Gegenstände nicht in richtiger Lage und Größe abgebildet. D. h. im geometrisch-optischen Prozess der Abbildung werden die statischen Erscheinungen und die Bewegungen umgedreht und extrem diminutiv abgebildet. Allerdings scheint die visuelle Tiefenwahrnehmung, zu der die Netzhautabbildung keinerlei Inputdaten liefert, die größte Problematik oder Aporie zu bilden: »Das Problem der visuellen Wahrnehmung hat eine lange Geschichte. Jahrhundertelang verspürten Menschen das Verlangen nach einer Erklärung dafür, weshalb denn Dinge gesehen werden. Unter den vielen schwierigen Fragen, die das Problem beinhaltet, ist die älteste und umfassendste vielleicht diese: Wie kann man die Ergiebigkeit des Sehvermögens erklären in Anbetracht der Unzulänglichkeit des Bildes innerhalb des Auges? Das Sehen hängt von diesem Netzhautbild ab. Aber wie unangemessen er50 51

Leisegang, Gertrud: Descartes Dioptrik, Meisenheim am Glan 1954, S. 99. Braunstein, Myron L.: Depth Perception Through Motion, New York 1976, S. 5.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

scheint es im Vergleich zu dem Ergebnis! Die sichtbare Szene hat räumliche Tiefe, Entfernung und Körperlichkeit; das Bild ist flach. Wie kann das Sehen auf den Bildern in den Augen beruhen und doch eine Szene hervorbringen, die sich bis zum Horizont erstreckt? Die physikalische Umwelt hat drei Dimensionen; das Licht projiziert sie auf eine lichtempfindliche zweidimensionale Oberfläche; sie wird dennoch in drei Dimensionen wahrgenommen. Wie kann die verlorene dritte Dimension in der Wahrnehmung zurückgewonnen werden?« 52

Die Philosophen und Psychologen sowie andere Wissenschaftler der Augenoptik mögen auf verschiedene Fakten hindeuten, wie auf die haptisch angelernte Größenwahrnehmung, auf die Bewegung der Pupille und der Gegenstände im Sehraum, auf die Perspektivität, das stereoskopische bzw. beidäugige Sehen usw., aus denen die richtige visuelle Lage-, Größen- und Tiefenwahrnehmung entstehen könnten. Aber alle diese »Cues« können methodisch negiert werden, ohne dass dabei das richtig-räumliche Sehen aufhört zu bestehen. Das Faktum des stereoskopischen Sehens trägt zwar zur Tiefenwahrnehmung bei, aber sie vervollkommnet nur diesen bereits vorhandenen Wesenszug des Sehens. Der Ursprung der visuellen Tiefenwahrnehmung – ebenso wie der Ursprung der richtigen Lage- und Größenwahrnehmung beim Sehen – soll woanders liegen und gesucht werden. Der unmittelbar logische Schluss, der sich aus dem Problem der Unsichtbarkeit des Netzhautbildes im Sehprozess folgern lässt, wäre folgender: Indem die geometrisch-optische Netzhautabbildung im Sehprozess nicht gesehen wird, bildet sie primär eine bloße Verbindung zwischen dem physiologischen Teil und dem (außerleiblichen) geometrisch-optischen Teil der Augenoptik. D. h. das Netzhautbild hat über eine rezeptive Funktion hinaus eine verbindende Funktion. 53 Die Einheit des leiblichen Auges mit dem außerleiblichen Sehraum und somit die Einheit der physiologischen mit der geometrischen Optik im Sehvorgang, der auf dem Netzhautbild und seiner verbindenden Funktion aufzubauen scheint, soll nun in Einzelheiten untersucht werden. Mit bloßen Augen gesehen, ähnelt das Netzhautbild der Abbildung in einer Kamera – abgesehen von der Sphärizität des Netzhautbildes. Aber wenn das Faktum des unmittelbaren Sehens fehlt, ver-

Gibson, James J.: Die Wahrnehmung der visuellen Welt, übers. Vera Schumann, Basel 1973, S. 18. 53 PMS, S. 209 ff. (siehe Anmerkung 35) 52

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

schwinden einige Wesenszüge wie Farbigkeit und Perspektivität, wie vorher erörtert wurde. Allerdings bleiben einige lichtbezogene Eigenschaften, wie Schärfe und Kontrast, übrig. Wenn die Abbildung auf der Netzhaut unscharf wird – wie im Falle der Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit –, erscheint uns auch unser Sehbild unscharf. Ebenso wirkt die zylindrische Krümmung der Netzhaut (Astigmatismus) unmittelbar auf unser Sehbild. Alle diesen augenoptischen Anomalien lassen sich geometrisch-optisch bzw. durch angemessene Brillen korrigieren. Dies besagt, dass die Wesenszüge wie Linienart, Kontrast, Schärfe usw. (die anscheinend die Wesenszüge des Schwarzweißbildes sind) im Netzhautbild übrig bleiben, auch wenn wir es nicht sehen können. Denn diese Wesenszüge werden allein durch das Licht – durch seine Schärfe, seine Intensität bei Helligkeit oder seine Abwesenheit bei Schatten sowie alle dazwischen liegenden gradierenden Zonen – auf der lichtempfindlichen Oberfläche der Augennetzhaut erzeugt. Im Folgenden untersuchen wir, wie sich die auf der Augennetzhaut abgebildete Lage und Größe der Erscheinungen zu den richtigen Erscheinungen bzw. zu der annähernd richtigen Lage und Größe der Gegenstände in unserem unmittelbaren Sehraum verhalten.

(b) Die visuelle Größenwahrnehmung Die Gegenstände und ihre Bewegungen erscheinen auf der Augennetzhaut sehr klein. Sowohl die großen und nahen Erscheinungen, wie ein Hochhaus, die Bäume oder Flüsse, als auch die fernen Erscheinungen eines bis zum Horizont ausgestreckten Meeres und Himmels haben als Abbildungen auf der Augennetzhaut sehr winzige Größen. Ebenso erscheinen auf der Netzhaut die Bewegungen bzw. die räumlich-zeitliche Ausdehnung und Geschwindigkeit der Bewegungen äußerst proportional reduziert. Unser unermesslich ausgedehnter Sehraum soll aus seiner extrem kleinen Abbildung auf der Augennetzhaut (die die Größe der Innenoberfläche einer Halbkugel mit einem Durchmesser von 2,5 cm hat) entwickelt werden. Dies setzt in erster Linie voraus, dass das Gehirn, das den Input des Netzhautbildes neuronal bearbeitet und daraus angeblich den wirklichen Gesichtssinn entwickelt, angemessene Referenzen haben soll – und zwar nicht nur zu den richtigen Größen der wirklichen Erscheinungen im Sehfeld, sondern auch zu der unermesslichen Ausdehnung des Freiraumes im Sehfeld. Das sehr kleine Netzhautbild bietet höchstens eine 97 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

gewisse proportionale Abbildung der Gegenstände – gemäß den Prinzipien der geometrischen Optik –, es bietet jedoch keine Referenzen zu den realen, unmittelbar gesehenen Größen in unserem Sehfeld. Die Ausdehnung des bis zum Horizont und Himmel reichenden Freiraumes wird zudem auf der zweidimensionalen Ebene der Augennetzhaut nicht abgebildet; dort fehlt die Referenz gänzlich. In der Entwicklungsgeschichte der Augenoptik wurden von Philosophen und Wissenschaftlern der Optik und Ophthalmologie verschiedene »Cues« vorgeschlagen, die der richtigen Größenwahrnehmung im Sehprozess als Referenzen dienen könnten. So vermutete man, dass die Gewöhnung an leiblich-taktile Größenwahrnehmungen der Gegenstände während des Sehprozesses die richtige (visuelle) Größenwahrnehmung suggerieren könnte. Diese Annahme ist jedoch von vornherein problematisch, denn unsere leiblich-taktile Größenwahrnehmung beschränkt sich auf die wenigen nahen und relativ kleinen Gegenstände; die großen Erscheinungen wie ein Hochhaus oder ein Baum sowie die gewaltige Ausdehnung des Berges oder Meeres lassen sich haptisch nicht wahrnehmen. 54 Es ist ebenso wenig schlüssig zu behaupten, dass ein taktiles Gefühl der Größe lediglich auf die visuelle Größenwahrnehmung übertragen wird. Seitens der Philosophie wurde behauptet, dass während des Sehprozesses bestimmte apriorisch vorhandene »Ideen« der gegenständlichen Größen als Referenzen zur annähernd richtigen visuellen Größenwahrnehmung dienen könnten. Eine derartige philosophisch-epistemologische Vorstellung würde sich als problematisch erweisen, da es keine einheitliche Idee von gegenständlichen Größen gibt. Die gegenständlichen Gattungen, wie Pflanzen, Steine, Bäume, Flüsse, Gebäude usw., variieren in ihrer Größe – ebenso wie die Idee vom Menschen, die kleinwüchsige bis übergroße Männer und Frauen einschließt. Außerdem ist es vollkommen ungereimt, anzunehmen, dass sich eine abstrakte Idee oder Vorstellung einer Größe während des Sehprozesses in wirkliche Sehgrößen verwandelt. Bei der Suche nach den wahren Referenzen für die richtigen bzw. unmittelbar visuell wahrgenommenen gegenständlichen Größen werden wir sicherlich erkennen, dass die visuelle Größenwahrnehmung eine der angemessensten Belege für die Aporie der visuellen Wahrnehmung ist. Im Falle einer derartigen Aporie würde die Lösung erst von den Gegenständen selbst dem Subjekt diktiert werden: 54

PGPVR, S. 37 f. (siehe Anmerkung 35)

98 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

Die wahre und einzige Referenz zur annähernd richtigen visuellen Größenwahrnehmung des Gegenstands ist der wirkliche Gegenstand selbst, dem der Mensch visuell begegnet. Wir zögern jedoch, eine derartige, vom Gegenstand diktierende Erkenntnis lediglich anzunehmen, obwohl sie alle Aporien bezüglich der visuellen Größenwahrnehmung – der statischen und beweglichen Gegenstände – lösen würde. Denn diese Erkenntnis setzt voraus, dass unser Gesichtssinn sich außerleiblich auf die gesehenen Gegenstände tatsächlich ausdehnt. Die Proportionalität der abgebildeten Größen der Gegenstände bildet in keinerlei Weise eine Referenz zu den wahren Erscheinungsgrößen. Hier können wir nicht lediglich annehmen, dass das Gehirn durch einen bestimmten Vergrößerungsfaktor die richtigen Sehgrößen aus den Abbildungsgrößen auf der Augennetzhaut entwickelt. Denn ein dem Auge nahe getretenes und relativ kleines Objekt wie ein Tisch erscheint auf einer größeren Oberfläche der Augennetzhaut als ein fernes, aber riesiges Objekt wie z. B. ein Berg. Dass es eine unmittelbar augenoptische Verbindung zwischen der Netzhautabbildung und den wirklichen Erscheinungsgrößen der Gegenstände geben soll, scheint das tradierte und immer noch aktuelle Problem des object size constancy in der visuellen Größenwahrnehmung zu belegen. In seinem Werk Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception erörtert Michael M. Morgan, wie Condillac die Aporie des object size constancy und demnach die der visuellen Größenwahrnehmung experimentell zu belegen suchte. Condillac widerspricht der zu seiner Zeit vorherrschenden Lehre der unbewussten Inferenzen, die früher von Philosophen wie Locke und später von Wissenschaftlern der Optik wie Helmholtz vertreten wurde: »Locke’s error, as Condillac clearly points out, was to think that we see the retinal image at all. If we first see the flat image and then later perceive, Locke’s argument (and Helmholtz’s) follows: some process of inference must have go on. But if we never see the image – and Condillac correctly points out that we are never conscious of so doing – then the ›inference‹ is gratuitous. We do not and cannot see the retinal image: we see objects in the outside world. The Lockean and Helmholtzian language of ›unconscious inference‹ is an undesirable relic of the ›camera‹ theory of vision. In some respects Condillac thought more clearly about this problem than many contemporary psychologists. Take the question of ›object constancy‹ for example. Condillac knew that ›If a man four feet away … steps backward to eight feet, the image of him on the retina is halved in size.‹ Because of this it has seemed even to some contemporary theorists to be a problem that objects do not shrink rapidly in size as they go away. Originally, the descriptive term

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

›object size constancy‹ was used to refer to the non-shrinkage phenomenon. Its use in that way is unexceptionable. But some people now use the term ›constancy‹ as if it applied to a process which set to work on the retinal image: they speak of constancy ›scaling things up‹ or ›scaling them down‹. What exactly do they think is being altered in size by constancy? The size of objects? Obviously not. The retinal image? Still less so. The size of an image in the brain? Possibly: but for what purpose? A moment’s thought shows the problems in treating constancy as a magnifying/minifying process. The cause of the fallacy is the belief that we see the retinal image. Condillac disposes of the fallacy. For one thing, he makes the very just remark that ›If perception is an inference involving a link between the idea of a man and a height of about five feet, either I should not see the man at all, or I should see him five feet tall‹ – whereas in fact objects seem to decrease insensibly in size as they move into the middle distance. He ends with the remark ›Nature determines that the sight of these objects should tell me how far the man is away; it is impossible that I should not have this impression every time I see them.‹ In other words, we see things as we do, not because we make inferences, but because we are as we are. As modern jargon would have it, the system is hard-wired.« 55

Figur 3

Das »object size constancy« ist ein augenoptisches Phänomen, das wir im Alltag ständig erfahren. Falls die visuelle Größenwahrnehmung allein auf die Größe der Netzhautabbildung angewiesen wäre, würden sich die nahen Sehobjekte bei ihrer Bewegung oder bei der Bewegung des Betrachters schnell in ihrer Erscheinungsgröße ändern bzw. sich vergrößern oder verkleinern. In dem oben dargestellten Sehmodell (Figur 3) ist die Verkleinerung der Abbildungsgröße gemäß den geometrisch-optischen Prinzipien rapider, wenn sich die Bewegung bzw. das Sichentfernen des Sehobjekts in der nahen Umgebung ereignet, als zu einem späteren Zeitpunkt bzw. wenn das SehMorgan, Michael J.: Molyneux’s Question. Vision, Touch and the Philosophy of Perception, Cambridge 1977, S. 78–79.

55

100 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

objekt vom Auge weit entfernt wird. D. h. bei größeren Entfernungen wird die Verkleinerung der Netzhautabbildung immer geringer und verläuft langsamer; daher ist es verständlich, dass ein Sehobjekt bei größeren Entfernungen klein erscheint, indem die Größe der Netzhautabbildung im Vergleich zu ihrer anfänglichen rapiden Verkleinerung mehr oder weniger konstant und klein bleibt (indem sie sich sehr langsam verkleinert). Allerdings erscheint uns das Phänomen des object size constancy, in dem die Erscheinungsgröße des Objekts trotz der rapiden und erheblichen Verkleinerung der Netzhautabbildung am Anfang (wenn sich das Objekt in naher Umgebung des Betrachters bewegt) unverändert bleibt, sehr rätselhaft. Indem die rapide Verkleinerung der Netzhautabbildung dem visuell wahrzunehmenden object size constancy theoretisch widerspricht, scheint dieses Phänomen eher auf der Größenkonstanz des Objekts selbst zu basieren. Dies unterstützt wesentlich die oben erörterte Objekt-Referenz bei der visuellen Größenwahrnehmung. In dieser Weise begründet das augenoptische Phänomen des object size constancy die Vorstellung, dass die wahre Referenz bei der visuellen Größenwahrnehmung das Sehobjekt selbst ist. In der oben zitierten Betrachtung widerlegt Condillac die durchaus ungereimte Annahme, dass die visuelle Größe der Gegenstände auf ihre Abbildungsgröße auf der Augennetzhaut angewiesen ist, aus den folgenden (bereits dargelegten) Gründen: 1. Man sieht nicht das Netzhautbild, sondern die wirklichen Erscheinungen im Sehraum. 2. Die Erscheinungsgröße der nahen Gegenstände bleibt unabhängig von der rapiden Vergrößerung oder Verkleinerung der Netzhautabbildung fast unverändert. 3. Die sehr kleine Fläche der Netzhautabbildung kann der Entstehung der annähernd richtigen visuellen Größe der Gegenstände nicht als Basis dienen. Diesen Betrachtungspunkten ist zu entnehmen, dass der wirkliche Sehvorgang in einer Einheit von Tiefen- und Größenwahrnehmung zustande kommt, indem der Gesichtssinn manche Wesenszüge des leiblichen Tastsinns annimmt. Sowohl bei der visuellen Größenwahrnehmung der nahen Gegenstände als auch bei der der entfernten Gegenstände erfahren wir unmittelbar, dass die visuelle Größenwahrnehmung in einer natürlichen Verbindung mit der Tiefenwahrnehmung – die durch die sichtbare Perspektivität des Sehbildes oder -feldes am ehesten belegt wird – entsteht, sodass wir die Sehobjekte optisch anzutasten scheinen, ebenso wie wir die kleineren und nahen 101 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Objekte mit den Händen anfassen können. Eine derartige Einheit zwischen der visuellen Tiefen- und Größenwahrnehmung erörtern wir eingehend anhand der kommenden Ansatzpunkte. Hierbei ist noch zu bemerken, dass sich diese unmittelbar zu erfahrende Einheit letztendlich auf die Domäne der externen bzw. außerleiblichen geometrischen Optik zu beschränken scheint. Denn diese geometrischperspektivische Struktur des Sehraumes ist primär keine interne Konstruktion – wie die Imagination –, sondern eine externe bzw. außerleibliche Erfahrung. Nun lässt sich die Frage stellen, ob die unmittelbare Erfahrung der Einheit zwischen Tiefen- und Größenwahrnehmung und alle ihre Wesenszüge wie die annähernd richtigen Größen, Lagen und die Solidität der nahen Erscheinungen, die Perspektivität des Sehbildes, die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes (der auf der Netzhaut nicht abgebildet wird) usw. tatsächlich allein neuronal im Gehirn entwickelt werden oder in der Wirklichkeit des außerleiblichen Sehraumes – und zwar geometrisch-optisch – zustande kommen. Wie vorher erörtert wurde, bildet das Netzhautbild zugleich die Grenze und die Verknüpfung zwischen den zwei Teilen der Augenoptik, nämlich zwischen dem geometrisch-optischen und dem physiologischen Teil bzw. dem Teil des Sehvorgangs von der Erzeugung der photoelektrischen Signale auf der Netzhaut und deren Übertragung in das Gehirn durch Sehnerven bis zu ihrer neuronalen Bearbeitung. Wenn der Sehvorgang sich allein auf den physiologischen Teil beschränkt, sollen alle oben erörterten Charakteristika der visuellen Größenwahrnehmung neuronal erzeugt bzw. verursacht werden. Die neuronalen Prozesse als Ursache des oben erörterten object size constancy könnten experimentell demonstriert werden (obwohl die neuronale Basis der visuellen Größenwahrnehmung aufgrund ihrer ontologischen Differenz durchaus inadäquat ist). D. h. das object size constancy bei der visuellen Größenwahrnehmung könnte durch eine ebenso konsistente neuronale Prozessbasis unterstützt werden, obwohl sich der Input – die Größe der Netzhautabbildung – radikal ändert. Dennoch scheint es ungereimt, anzunehmen, dass das Phänomen des object size constancy allein durch eine neuronale Ursächlichkeit zustande kommt. Vielmehr scheint eben diese Ursächlichkeit durch die wirkliche geometrisch-perspektivische Struktur des Sehraumes und die oben beschriebene Objekt-Referenz in der visuellen Größenwahrnehmung vorausgesetzt zu werden. D. h. die Ursächlichkeit des object size constancy scheint hier primär im externen geo102 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

metrisch-optischen Teil des Sehvorgangs selbst zustande zu kommen und eher sekundär, aber unweigerlich die neuronale Basis zu bedingen. In der Sprache der Logik könnte es folgendermaßen ausgedrückt werden: Für das visuelle Phänomen des object size constancy ist seine neuronale Prozessbasis eine notwendige, aber keine hinreichende Ursache; sie bildet vor allem eine korrelative oder komplementäre Ursächlichkeit. Die saubere Trennung zwischen einer geometrisch-optischen Wirkung und ihrer rein neuronalen Verursachung ist hier eine nicht zu realisierende Unternehmung. Die Ursächlichkeit dieser und ähnlicher Wesenszüge des wirklichen Sehens scheint sich zugleich auf seinen rein physiologischen und außerleiblich geometrisch-optischen Teilvorgang zu erstrecken. Kurzum: Bei der visuellen Größenwahrnehmung lässt sich eine neuronale Ursächlichkeit von einem außerleiblichen und dem Wesen nach geometrisch-optischen Wirkungsbereich kaum trennen; vielmehr scheint die visuelle Größenwahrnehmung auf der operationalen Einheit zwischen dem physiologischneuronalen und außerleiblich geometrisch-optischen Teil des Sehvorgangs zu basieren. Die oben erörterten Aporien der visuellen Größenwahrnehmung lassen sich nur durch eine derartige Einheit lösen. Ebenso wie die statischen Gegenstände werden die gegenständlichen Bewegungen auf der Augennetzhaut umgedreht und sehr diminutiv abgebildet. Wie die Figur 2 darstellt, erscheint die Bewegung eines Objekts von A zu B auf der Netzhaut als die Strecke ab, die im Vergleich zu AB eine sehr winzige Raumstrecke ist. Gemäß dieser Diminution der Raumstrecke wird die abgebildete Geschwindigkeit der Bewegung (von a zu b) im Vergleich mit der gesehenen Geschwindigkeit extrem gering. Wie wird dann mit einem derartigen Input die wirkliche Bewegung in annähernd richtiger räumlich-zeitlicher Ausdehnung, Lage und Geschwindigkeit gesehen? In dem zweiten Fall, in dem sich das Objekt der Sehachse entlang dem Auge nähert, wird auf der Augennetzhaut nur eine bloße Vergrößerung des Objekts und keine räumliche Erstreckung oder Distanz seiner Bewegung abgebildet. Dennoch wird diese Bewegung visuell so wahrgenommen, wie sie sich tatsächlich im wirklichen Raum ereignet. In beiden Fällen sehen wir, wie eine Bewegung, die keine angemessene Abbildung – als Input – auf der Augennetzhaut hinterlässt, allein visuell wahrgenommen wird. Daher scheint die visuelle Wahrnehmung der Bewegung oder der dynamischen Größen – ebenso wie die statischen Gegenstandsgrößen – nicht allein neuronal, sondern durch

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

die oben erörterte Einheit des wirklichen Sehraumes mit dem Auge zu entstehen. Wenn wir als Input der Größenwahrnehmung neben dem Netzhautbild auch die auf die Netzhaut fallenden oder auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen bzw. den Winkel ihrer Konvergenz annehmen, setzen wir stillschweigend voraus, dass unser Gesichtssinn oder unsere visuelle Sinnlichkeit sich auf ein außerleibliches und rein physikalisches Medium wie auf das Licht erstreckt. Aber eine derartige Annahme – als ein sogenanntes »Cue« – kann das Problem der visuellen Größenwahrnehmung kaum lösen. Denn die Konvergenz der Lichtstrahlen kann nur mit der wirklichen Distanz des Sehobjekts die annähernd richtige Größenwahrnehmung geometrisch-optisch erzeugen. Die Distanz des Sehobjekts – wie Berkeley es nachdrücklich betont – kann durch die Lichtstrahlen auf der Augennetzhaut nicht abgebildet werden. Darüber hinaus impliziert die Einbeziehung der Lichtstrahlen im Sehprozess die unermessliche außerleibliche Expansion der visuellen Sinnlichkeit im wirklichen Raum, was dem Anspruch der physiologischen Optik, demzufolge sich die visuelle Raumwahrnehmung lediglich neuronal entwickelt, widerspricht.

(c) Die visuelle Lagewahrnehmung Seit der anatomischen Entdeckung der Netzhaut im Auge bildet die geometrisch-optische Inversion des Netzhautbildes eine Aporie, zu der in der Entwicklungsgeschichte der Augenoptik verschiedene Lösungen vorgeschlagen wurden. Alle statischen Erscheinungen und dynamischen Bewegungen im wirklichen Sehraum werden umgedreht und seitenverkehrt auf der Augennetzhaut abgebildet. Dennoch sehen wir alle Erscheinungen und ihre Bewegungen aufrecht bzw. in richtigen Lagen. Die visuelle Wahrnehmung der Lage ist ein Rätsel, denn die Abbildungen auf der Netzhaut entsprechen nicht unserer leiblichen aufrechten Existenz und nicht den taktilen Wahrnehmungen der Gegenstände. Die Vorstellung, dass die richtige visuelle Lagewahrnehmung durch die aufrechte Haltung des Leibes und durch die taktilen Wahrnehmungen suggeriert wird, scheint hier kaum zutreffend zu sein. 56 Erstens verweisen die optischen und taktilen Wahr56

PGPVR, S. 73 f. (siehe Anmerkung 35)

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

nehmungen der Gegenstände auf vollkommen verschiedene Modi der Sinnlichkeit; zweitens sind unsere leiblich-taktilen Wahrnehmungen auf wenige nahe Gegenstände beschränkt, wie vorher erörtert wurde. Die riesigen und fernen Erscheinungen wie ein Berg lassen sich in ihrer Ganzheit nicht leiblich antasten, sondern nur visuell wahrnehmen. Dass die umgedrehte Netzhautabbildung lediglich neuronal korrigiert wird (wovon die physiologische Optik ausgeht), scheint wiederum ein naiver Glaube zu sein. Zunächst löst es das bereits beschriebene Problem der Referenz nicht. Wie bestimmt das Gehirn allein, dass die auf der Netzhaut abgebildeten Erscheinungen und Bewegungen in Wirklichkeit umgedreht und seitenverkehrt sind? Wiederum sind die wirklichen Gegenstände und ihre wirklichen Bewegungen die wahren, angemessenen und anscheinend die einzigen Referenzen auf die richtige Lagewahrnehmung. Darüber hinaus wird jede rein physiologisch zu entdeckende neuronale Kausalität, die das Problem der visuellen Lagewahrnehmung zu lösen scheint, kaum allein durch das wirkliche Sehen selbst belegt werden. Indem diese Bestätigung nicht auf der neuronalen Ebene, sondern auf einer vollkommen emergenten, außerleiblichen und geometrisch-optischen Wirkungsebene zu finden ist, kann sie der neuronalen Ursächlichkeit zwar die Notwendigkeit, aber keine Angemessenheit verleihen. D. h. die neuronale Ursächlichkeit ist für die richtige visuelle Lagewahrnehmung zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Denn die Bestätigung der richtigen – oder korrigierten – Lagewahrnehmung beschränkt sich auf eine außerleiblich geometrisch-optische Wirkungsebene, die eine vollkommene ontologische Differenz gegenüber den physiologischen Gehirnprozessen aufweist. Daher lässt sich kaum feststellen, ob sich die Ursächlichkeit der richtigen visuellen Lagewahrnehmung allein auf neuronale Prozesse beschränkt oder sich über sie hinaus auf die außerleibliche und geometrisch-optische Wirkungsebene selbst erstreckt. Die Aporie der visuellen Lagewahrnehmung scheint die vorher erörterte Einheit des Sehraumes mit dem Auge, in der sowohl das Problem der ontologischen Differenz zwischen der physiologischen und der außerleiblich geometrisch-optischen Optik als auch das Problem der Referenz aufgehoben wird, zu suggerieren. Wenn die subjektiv-visuelle Wahrnehmung sich tatsächlich auf den außerleiblichen Licht- und Gegenstandsraum ausdehnt, bildet die Netzhautabbildung eine bloße Verbindung zwischen den beiden oben erörter105 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

ten Domänen der Augenoptik. In einer derartigen Verbindung und der sich daraus ergebenden Einheit des Sehraumes mit dem Auge bleibt die Lage der auf der Netzhaut abgebildeten Erscheinungen – bzw. ihre Umdrehung und Seitenverkehrung – in Bezug auf die richtige visuelle Lagewahrnehmung der Gegenstände mehr oder weniger irrelevant. Dass die Gegenstände aufgrund der geometrisch-optischen Funktion des Auges umgedreht auf der Augennetzhaut abgebildet werden, wäre demnach ein von der Natur aus programmiertes Rätsel, um eine ebenso rätselhafte Struktur des Sehens zu verheimlichen. 57 Allerdings scheinen die Philosophen und Wissenschaftler der Augenoptik in der modernen Entwicklungsgeschichte dieser Fachdisziplin bei der Wahl zwischen dem Rätsel der umgedrehten Netzhautabbildung und der Überzeugung von der wahrnehmungstheoretischen Einheit zwischen dem Auge und dem Sehraum das erstere anzunehmen; demnach versuchen sie dieses Rätsel eher im Bereich der physiologischen Optik zu bewältigen. Die Erfindung der Camera Obscura in der Frühneuzeit führte im Rahmen der Augenoptik zur Auge-Kamera-Analogie. In dieser Zeit gab es seitens der Philosophen und Wissenschaftler der Optik verschiedene Einstellungen zu der Inversion des Netzhautbildes und ihrer Funktion im Sehvorgang. Viele von ihnen bezogen sich auf eine unumgängliche Korrektur dieses Problems bzw. der Ungereimtheit zwischen der phänomenalen Wirklichkeit und ihrer retinalen Abbildung. Während einige – in Anlehnung an die Auge-Kamera-Analogie – eine geometrisch-optische Korrektur annahmen, glaubten die anderen, vor allem die Empiristen, an eine empirisch-wahrnehmungstheoretische Entwicklung der richtigen Lagewahrnehmung aus der gegebenen umgedrehten Netzhautabbildung: »For the empiricist philosophers there was another solution to the inverted image problem: experience. As we reach for objects we learn that we must reach upward for those that project images at the bottoms of our eyes and downward for those that project images at the tops of our eyes. This implies that up and down within the eye is initially noticed, and we learn to live with the inversion of the retinal image. Variations of this explanation, by Locke (1694), Berkeley (1709) and others, have greatly influenced experimental psychology. The inverted image issue has given rise to an area of research, perceptual adaptation, that is active and widespread today.« 58 PGPVR, S. 75. (siehe Anmerkung 35) Braunstein, Myron L.: Depth Perception Through Motion, Academy Press, New York 1976, S. 8.

57 58

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

Die wichtige experimentelle Basis, worauf sich die früheren Untersuchungen zur »perceptual adaptation« bezogen, war die Umdrehung der Netzhautabbildung und ihre wahre Funktion im Sehvorgang. Im Jahr 1896 unternahm Stratton zum ersten Mal den Versuch, die visuelle Adaptation mit einer geometrisch-optisch korrigierten bzw. aufrechten Netzhautabbildung experimentell zu untersuchen: »The classic research in perceptual adaptation was reported by Stratton in 1896. Stratton was concerned with evaluating two theories that held the inversion of the retinal image to be necessary for the perception of objects as upright. According to the first theory, objects are projected back into space in the directions in which the rays of light fall upon the retina. The second theory holds that perception of upper or lower in the visual field depends on whether upward or downward eye movements are required to bring objects into focus. According to Stratton, both of these theories require that the retinal image be inverted in order that things be seen in an upright position. In order to test these theories, he developed an optical device that reinverted the image and wore this device for varying periods of time (Stratton, 1896, 1897a, b). He was able to adapt to the »upright« retinal image, at least to a degree. Stratton (1896) used this adaptation as evidence against theories that hold that an inverted retinal image is necessary for the perception of an upright world: ›In Fact, the difficulty of seeing things upright by means of upright retinal images seems to consist solely in the resistance offered by the long-established previous experience. … But a person whose vision had from the very beginning been under the conditions we have in the present experiment artificially produced, could never possibly feel that such visual perceptions were inverted.‹« 59

Nach Stratton wurden analoge Versuche zur visuellen Adaptation von vielen Wissenschaftlern unternommen. Die Ergebnisse dieser Experimente stimmten mehr oder weniger mit den Schlussfolgerungen von Stratton überein. Die experimentellen Evidenzen scheinen die Position der Empiristen gegenüber den Nativisten in Bezug auf die Entwicklung der richtigen visuellen Lagewahrnehmung zu verteidigen. Die zentrale Frage, die sich in Hinsicht auf die experimentelle Evidenz der visuellen Adaptation stellen lässt, lautet: Wie entsteht die visuelle Adaptation unabhängig von dem Modus der Netzhautabbildung? Wir können hier nicht bloß annehmen, dass jene Andersartigkeit in der Netzhautabbildung durch eine ›Adaptation‹ korrigiert wird. Das Verschwimmen der Netzhautabbildung im Fall der Kurz- oder Langsichtigkeit, sowie die zylindrische Verzerrung des 59

Ebd., S. 8–9.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Netzhautbildes beim Astigmatismus, wirken unmittelbar auf das Sehbild und können nur geometrisch-optisch bzw. durch angemessene Brillen korrigiert werden. Allerdings scheint das Auge im Falle der richtigen visuellen Lagewahrnehmung keine Referenz auf das Netzhautbild, sondern auf die Erscheinungen im Sehfeld selbst zu suchen. Die visuelle Adaptation gemäß der empirischen Erklärung, in der die aufrechte Position der Gegenstände als Erscheinungen im unmittelbaren Sehraum ursprünglich durch die gewohnte haptische Wahrnehmung der aufrechten Positionen der Gegenstände subjektivwahrnehmungstheoretisch suggeriert wird, scheint hier ungereimt zu sein. Falls wir eine hypothetische Vorstellung wagen, dass alle uns nahen und fernen Objekte (außer dem Boden), die wir nicht vollständig antasten können, wie Bäume, Berge, Hochhäuser usw., umgedreht werden, werden sie auf der Augennetzhaut aufrecht abgebildet. Wir werden sie jedoch immer so sehen, wie sie tatsächlich existieren. Eine visuelle Adaptation, wie sie in dem Experiment von Stratton zu finden ist, kommt hier nicht in Frage. Dies scheint darauf zu verweisen, dass das Auge bei seiner visuellen Adaptation zu der richtigen Lagewahrnehmung nicht die Netzhautabbildung, sondern die Lage des unmittelbar gesehenen wirklichen Gegenstands selbst als Referenz hat. Kurzum: Die Evidenzen der visuellen Adaptation bei den augenoptischen Experimenten von Stratton und anderen Wissenschaftlern scheinen die vorher erörterte Vorstellung von der Einheit des Auges mit dem unmittelbaren Sehraum, in der die wahren Referenzen zu den richtigen Größen- und Lagewahrnehmungen die wirklichen Gegenstände selbst sind, zu bestätigen. Denn hier adaptiert das Auge an die richtige Erscheinungsweise der Gegenstände unabhängig von ihren Abbildungsweisen auf der Augennetzhaut. D. h. das Netzhautbild hat hier die wesentliche Funktion, den physiologischen Teil der Augenoptik mit ihrem geometrisch-optischen Teil zu verbinden und dadurch die Einheit des Sehraumes mit dem Auge entstehen zu lassen, was demnach durch die geometrisch-optisch umgedrehten oder aufrechten Netzhautabbildungen kaum affiziert wird. Dass das Auge sowohl bei der natürlich umgedrehten als auch bei der geometrischoptisch korrigierten bzw. aufrechten Abbildung auf der Netzhaut an die richtige Lage der Gegenstände visuell adaptieren kann, belegt die Tatsache, dass die Basisreferenz für solche optischen Adaptationen der wirkliche Gegenstand selbst ist, und nicht seine Abbildung auf der Netzhaut. Die empiristische Position, dass diese Adaptation allein 108 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

subjektiv-wahrnehmungstheoretisch, und zwar von der gewohnten haptischen Wahrnehmung der Gegenstände, suggeriert zustande kommt, ist hier nicht haltbar. In dem Experiment Strattons erscheinen die Gegenstände zunächst umgedreht; die allmähliche Aufrichtung der Erscheinungen bei der perzeptiven bzw. visuellen Adaptation ist daher ein rein augenoptisches Phänomen und keine bloß subjektive Suggestion, die auf die unmittelbar visuelle Wahrnehmung übertragen wird.

(d) Die geometrisch-optische Struktur des Sehraumes Die geometrisch-optische Struktur unseres unmittelbaren Sehraumes baut prinzipiell auf der Lichtpyramide auf, die von den Lichtstrahlen, reflektiert aus den Gegenständen und konvergiert auf den Augenpunkt, konstruiert wird. Die optischen und dioptrischen Qualitäten der Lichtstrahlen – wie die Linearität und die geometrische Gesetzmäßigkeit bei den dioptrischen Phänomenen wie Reflexion und Refraktion – verleihen der Struktur des Sehraumes natürlichgeometrische Wesenszüge, dargestellt vor allem in der Perspektivität des unmittelbaren Sehens sowie in der geometrischen Gesetzmäßigkeit der visuellen Virtualität (Reflexion und Refraktion). Wie entwickelt sich die unmittelbar zu erfahrende geometrisch-optische Struktur des Sehens? Der alleinige Input im Auge, der sich geometrisch-optisch aus der Lichtpyramide ergibt, ist das Netzhautbild. Aber indem das Netzhautbild im Auge beim Sehvorgang nicht gesehen wird, können ihm die Wesenszüge der gewöhnlichen Sichtbarkeit eines Bildes wie Farbigkeit und Perspektivität nicht zugesprochen werden. Abgesehen von der Farbigkeit sollte die gesamte dreidimensional-perspektivische Struktur unseres unmittelbaren Sehraumes aus einem flachen und aperspektivischen Netzhautbild entstehen. 60 Laut Gibson bleibt für die Wissenschaftler der Optik die Entwicklung der visuellen Tiefenwahrnehmung aus einem flachen Netzhautbild eines der ungelösten Rätsel der visuellen Raumwahrnehmung. Die Das von Wheatstone entdeckte Faktum des stereoskopischen Sehens kann zwar die visuelle Tiefenwahrnehmung erzeugen (was durch die stereoskopische Virtualität demonstriert wird), aber es kann eine bereits vorhandene Tiefenwahrnehmung – bzw. die einäugige Tiefenwahrnehmung –, deren Ursachen woanders zu suchen sind, nur vervollkommnen. Vgl. PGPVR, S. 80, 103–104. (siehe Anmerkung 35) Wir erörtern dieses im Verlauf unserer Untersuchung.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

visuelle Tiefenwahrnehmung bezieht sich auf einige Wesenszüge des Sehraumes wie seine perspektivische Raumstruktur, die visuelle Wahrnehmung der Entfernung und Solidität der Gegenstände sowie auf den auf der Augennetzhaut nicht abgebildeten Frei- oder Zwischenraum. Das Problem oder die Aporie der visuellen Größen-, Tiefen- und Lagewahrnehmung wurde von George Berkeley in seinem ersten Hauptwerk An Essay towards a New Theory of Vision eingehend erörtert. Berkeley setzt sich im Prinzip mit allen geometrischoptischen Erklärungsversuchen des Sehphänomens – insbesondere mit der visuellen Tiefenwahrnehmung – auseinander. Berkeley betont dabei, dass die Linien und die Winkel, die gemäß den geometrisch-optischen Gesetzen die Tiefenwahrnehmung suggerieren sollten, weder unmittelbar wahrgenommen noch auf der Augennetzhaut abgebildet werden: »1. My design is to shew the manner wherein we perceive by sight the distance, magnitude, and situation of objects. Also to consider the difference there is betwixt the ideas of sight and touch, and whether there be any idea common to both senses. 2. It is, I think, agreed by all that distance, of itself and immediately, cannot be seen. For distance being a line directed end-wise to the eye, it projects only one point in the fund of the eye, which point remains invariably the same, whether the distance be longer or shorter. […] 11. Now from sect. 2 it is plain that distance is in its own nature imperceptible, and yet it is perceived by sight. It remains, therefore, that it be brought into view by means of some other idea that is itself immediately perceived in the act of vision. 12. But those lines and angles, by means whereof some men pretend to explain the perception of distance, are themselves not at all perceived, nor are they in truth ever thought of by those unskillful in optics. I appeal to everyone’s experience whether upon sight of an object he computes its distance by the bigness of the angle made by the meeting of the two optic axes? Or whether he ever thinks of the greater or lesser divergency of the rays, which arrive from any point to his pupil? Everyone is himself the best judge of what he perceives, and what not. In vain shall any man tell me, that I perceive certain lines and angles which introduce into my mind the various ideas of distance, so long as I myself am conscious of no such thing. 13. Since, therefore, those angles and lines are not themselves perceived by sight, it follows from sect. 10 that the mind doth not by them judge of the distance of objects. 14. The truth of this assertion will be yet farther evident to anyone that considers those lines and angles have no real existence in nature, being

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only an hypothesis framed by the mathematicians, and by them introduced into optics, that they might treat of that science in a geometrical way. 15. The last reason I shall give for rejecting that doctrine is, that though we should grant the real existence of those optic angles, etc., and that it was possible for the mind to perceive them, yet these principles would not be found sufficient to explain the phenomena of distance, as shall be shewn hereafter.« 61

Sowohl Berkeley als auch seine Gegner, die die geometrisch-optische Basis der visuellen Wahrnehmung zu verteidigen suchen, beziehen sich hauptsächlich auf denselben Untersuchungsgegenstand, nämlich auf die Lichtstrahlen, die den Sehraum perspektivisch strukturieren und im Auge das Netzhautbild konstruieren. Allerdings gehen die beiden nicht von einer wirklichen bzw. geometrisch-optischen Konstruktion des Sehraumes durch die Lichtstrahlen aus, sondern von seiner rein physiologisch-optischen Entstehung, die durch die Erscheinungen im Sehraum oder durch die geometrisch-optischen Wesenszüge der auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen suggeriert wird. Berkeleys Argumente beziehen sich auf die Unsichtbarkeit der Lichtstrahlen; diese besagen, dass die geometrischoptischen Formen wie die Linien oder Winkel vom Auge nicht wahrgenommen werden. Allerdings liegt unserem wirklichen bzw. unmittelbar zu erfahrenden Sehraum eine natürliche geometrisch-optische Struktur der – von den Gegenständen reflektiert und auf den Augenpunkt konvergierenden – Lichtstrahlen zugrunde. Alle oben erörterten Wesenszüge der visuellen Raumwahrnehmung, nämlich die gesehene Größe, Distanz und Lage der Gegenstände sowie die Ausdehnung des Freiraumes, scheinen in dieser einzigen Struktur der Lichtpyramide einverleibt zu sein. Allem Anschein nach wohnt eine natürliche Geometrie den physikalischen Lichtstrahlen und ihrer Konstruktion oder Strukturierung der Lichtpyramide unserer visuellen Raumwahrnehmung inne; sie verleiht dem Gesichtssinn seine wirklichen Wesenszüge, aber auch seine Virtualität, dargestellt vor allem in den dioptrischen Phänomenen wie der Reflexion und Refraktion. Während sich die Perspektivität des Sehraumes aus dieser Struktur der Lichtstrahlen mehr oder weniger unmittelbar ableiten lässt, ist es noch näher zu untersuchen, wie die oben dargelegten und die weiteren Wesenszüge der visuellen Raumwahrnehmung – Berkeley, George: An Essay towards a New Theory of Vision. Philosophical Works. ed. Michael R. Ayers, London 2009, S. 7–9.

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einschließlich der visuellen Virtualität – ursprünglich auf eine natürliche Geometrie der Lichtstrahlen, die den Sehraum konstruieren und ihm dabei Fülle geben, angewiesen sind. In der Frühneuzeit gab es diverse geometrisch-optische Spekulationen bezüglich der visuellen Raumwahrnehmung – insbesondere der visuellen Tiefenwahrnehmung –, gegen die Berkeley in seiner Abhandlung polemisiert. Die visuelle Distanzwahrnehmung wurde auf den Winkel der Konvergenz der (von Gegenständen reflektierten) Lichtstrahlen oder auf den Winkel, den die Sehachsen der beiden Augen mit dem gesehenen Gegenstand bilden, geometrisch-optisch zurückzuführen versucht. Es gibt keine hinreichenden Gründe, anzunehmen, dass das Auge aus diesen gegebenen geometrisch-optischen Prämissen die visuelle Entfernung des Gegenstands kalkuliert. In ähnlicher Weise scheint die Annahme, dass solche geometrisch-optischen Wesenszüge des Sehens rein physiologisch-optisch die visuelle Distanzwahrnehmung suggerieren, ein Glaube zu sein. Die wahrnehmungstheoretische Unangemessenheit solcher geometrisch-optischen Prämissen in der Untersuchung der visuellen Raumwahrnehmung schließen aber die oben kurz erörterte natürliche Geometrie oder geometrische Optik und ihre Legitimität im Sehvorgang nicht aus. Denn unser Sehraum, der die gegenständlichen Erscheinungen und die freiräumliche Ausdehnung in sich einschließt, ist vorzüglich durch die physikalischen Lichtstrahlen und ihre optischen und dioptrischen Eigenschaften geometrisch-perspektivisch strukturiert. Laut Berkeleys Polemik gegen die geometrisch-optischen Auslegungen des Sehvorgangs werden die geometrischen Linien, Winkel usw. nicht gesehen. Ebenso unsichtbar sind die Lichtstrahlen, die den Sehraum geometrisch-optisch strukturieren; sie werden auf der Augennetzhaut nicht abgebildet – wie Berkeley betont –, obwohl sie allein die wirklichen Erscheinungen im Sehraum mit dem Netzhautbild im Auge verbinden. Falls – in Anlehnung an Berkeley – die geometrischen Grundformen wie Linie und Winkel, die die natürlichgeometrischen Wesenszüge der auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen sind, streng genommen keine Inputs im Sehvorgang sein können, wie entsteht eigentlich die geometrisch-optische Struktur unseres Sehraumes in annähernder Übereinstimmung mit der geometrisch-optischen und perspektivischen Struktur der wirklichen Lichtstrahlen? Hier können wir die geometrisch-optische Struktur unseres unmittelbaren Sehraumes nicht auf die Netzhautabbildung, wenn sie den einzigen Input im Sehvorgang bildet, zu112 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

rückführen. Denn weder die Tiefe des Sehraumes noch seine Perspektivität wird auf der Netzhaut abgebildet. Die unsichtbare flache Abbildung auf der Augennetzhaut hat zwar eine perspektivische Struktur – wie das Bild in einer Kamera –, aber sie kann ohne das Faktum des unmittelbaren räumlichen Sehens keine Perspektivität beanspruchen. Denn die Perspektivität – also die virtuelle Tiefenwahrnehmung auf einem flachen Bild – entsteht erst im unmittelbaren räumlichen Sehen. Wie bereits erörtert wurde, lässt sich die geometrischoptische Struktur unseres Sehraumes an der Perspektivität, der dioptrischen Virtualität oder dem Gerichtetsein des Sehens erkennen.

(e) Die Perspektivität des Sehens Die Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance von Filippo Brunelleschi war bekanntlich ein geometrisches Verfahren, dessen Basis die auf den Augenpunkt konvergierenden Orthogonalen waren. Diese Konvergenz der geometrischen Orthogonalen stellte offensichtlich die wirkliche Konvergenz der Lichtstrahlen auf den Augenpunkt beim wirklichen Sehvorgang dar. Ebenso stellte der einzige Fluchtpunkt 62 in dem geometrisch-perspektivischen Konstrukt den einzigen Augenpunkt dar. D. h. das richtige Verfahren der geometrisch-perspektivischen Konstruktion wurde von dem Bauingenieur Brunelleschi unmittelbar aus der Struktur der Lichtpyramide beim Sehen entwickelt. Dieses tradierte Verfahren der geometrischen Perspektive wird bis heute in der Malerei und vor allem bei architektonischen Zeichnungen verwendet und bildet als solche eine wichtige propädeutische Lehre in diesen Bereichen. In seiner Abhandlung »Perspektive als Symbolische Form« erklärt Erwin Panofsky das geläufige Verfahren der geometrischen Technik der Zentralperspektive:

Die Entdeckung der Zentralperspektive mit einem einzigen Fluchtpunkt hat eine Entwicklungsgeschichte im Mittelalter. Bei den früheren Versuchen der perspektivischen Darstellungen von mittelalterlichen Malern wie Giotto, Duccio und Masaccio konvergierten die Orthogonalen auf mehrere Fluchtpunkte. Die Entdeckung eines einzigen Fluchtpunkts von Brunelleschi führte zu der richtigen, bis heute tradierten geometrischen Methode der Zentralperspektive, angewandt in der Maltechnik und den Ingenieurwissenschaften, insbesondere in der Architektur. Vgl. PMS, S. 201–203, 327 f. (siehe Anmerkung 35).

62

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Figur 4 Moderne, »planperspektivische« Konstruktion eines rechtwinklingen Innenraums (»Raumkastens«). Oben: Grundriß. Mitte: Aufriß. Unten: perspektivisches Bild, gewonnen durch Kombination der auf der »Projektionsgeraden« abgeschnittenen Strecken

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

»Diese ›korrekte‹ geometrische Konstruktion, die in der Renaissance gefunden wurde und später wohl technische Vervollkommnungen und Erleichterungen erfuhr, in ihren Voraussetzungen und Zielen aber bis zu den Tagen Desargues’ unverändert blieb, läßt sich am einfachsten folgendermaßen begreiflich machen: ich stelle mir – im Einklang mit jener Fensterdefinition – das Bild als einen planen Durchschnitt durch die sogenannte ›Sehpyramide‹ vor, die dadurch entsteht, daß ich das Sehzentrum als einen Punkt behandle und diesen mit den einzelnen charakteristischen Punkten des darzustellenden Raumgebildes verbinde. Da nämlich die relative Lage dieser ›Sehstrahlen‹ für die scheinbare Lage der betreffenden Punkte im Sehbilde maßgebend ist, so brauche ich mir das ganze System nur im Grundriß und im Aufriß aufzuzeichnen, um die auf der Schnittfläche erscheinende Figur zu bestimmen: der Grundriß ergibt mir die Breitenwerte, der Aufriß die Höhenwerte, und ich habe diese Werte nur auf einer dritten Zeichnung zusammenzuziehen, um die gesuchte perspektivische Projektion zu erhalten (Abb. 1). 63 Dann gelten in dem so erzeugten Bilde – der ›ebnen durchsichtigen Abschneydung aller der Streymlinien, die auß dem Aug fallen auf die Ding, die es sicht‹ – etwa folgende Gesetze: alle Orthogonalen oder Tiefenlinien treffen sich in dem sogenannten ›Augenpunkt‹, der durch das vom Auge auf die Projektionsebene gefällte Lot bestimmt wird. Parallelen, wie sie auch immer gerichtet sein mögen, haben einen gemeinsamen Fluchtpunkt. Liegen sie in einer Horizontalebene, so liegt dieser Fluchtpunkt stets auf dem sogenannten ›Horizont‹, d. h. auf der durch den Augenpunkt gelegten Waagerechten; und bilden sie außerdem mit der Bildebene einen Winkel von 45º, so ist die Entfernung zwischen ihrem Fluchtpunkt und dem ›Augenpunkt‹ gleich der ›Distanz‹, d. h. gleich dem Abstand des Auges von der Bildebene; endlich vermindern sich gleiche Größen nach hinten zu in einer Progression, so daß – den Ort des Auges als bekannt vorausgesetzt – jedes Stück aus dem vorangehenden oder nachfolgenden berechenbar ist.« 64

Wie Panofsky es beschreibt, wurde das geometrische Verfahren der Zentralperspektive ursprünglich aus der Fensterdefinition des Bildes, die eine vorherrschende Vorstellung in der Renaissance war, entwickelt. Wenn das perspektivische Bild ein Durchschnitt der Sehpyramide ist (dargestellt in der Figur 4), entsteht diese Sehpyramide aus einer wirklichen physikalischen Lichtpyramide. Die Orthogonalen in dem dargestellten geometrischen Verfahren der Zentralperspektive, obwohl sie als »Sehstrahlen« die gesehene Lage und Größe der ErSiehe Figur 4 (PMS., S. 156; siehe Anmerkung 35) Panofsky, Erwin: Die Perspektive als symbolische Form, in: Deutschsprachige Aufsätze II, hrsg. von Karen Michels und Martin Warnke, Akademie Verlag, Berlin 1998, S. 665–666.

63 64

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

scheinungen bestimmen, sind geometrisch-optisch die physikalischen Lichtstrahlen selbst, die von den Gegenständen reflektiert werden und auf den Augenpunkt konvergieren. Dies wird deutlich in der dürerschen Unternehmung, nämlich die Konstruktion der geometrischen Zentralperspektive unmittelbar aus dem empirischen Sehen zu entwickeln (siehe Figur 5), demonstriert:

Figur 5 65

Die Wichtigkeit oder Basis der Orthogonalen in dem geometrischen Verfahren der Zentralperspektive besagt, dass sich dieses Verfahren ursprünglich aus der Struktur des Sehraumes selbst, die die physikalische Lichtpyramide erzeugt, entwickeln lässt. Im wirklichen Sehen bilden die Orthogonalen in Einheit mit den physikalischen Lichtstrahlen den Teil, genauer gesagt den Korpus der geometrischen Optik, die das Netzhautbild im Auge entstehen lässt. Wenn wir in unserer Auslegung der Perspektivität des Sehens auf diesen Korpus der Lichtpyramide verzichten, bleibt nur das Netzhautbild als der einzige Input im Sehvorgang. Nun muss die gesamte Struktur des perspektivischen Sehens allein aus diesem Input im Auge entwickelt werden. Aus den folgenden Gründen scheint eine derartige Annahme von vornherein ungereimt zu sein: 1. Das vorher erörterte Problem, dass wir im Sehvorgang nur die wirklichen Gegenstände im Sehraum und nicht ihre Abbildung auf der Augennetzhaut sehen können, ist hier von großer Bedeutung. Denn die Perspektivität eines zweidimensionalen Bildes setzt in erster Linie das perspektivische Sehen voraus. Das ungesehene Netzhautbild ist, wie bereits dargelegt wurde, ein Mosaik aus verschiedenen Lichtzonen, schattenhaften Grenzlinien usw. und hat demnach keine Perspektivität. Wenn davon ausgegangen wird, dass die unmittelbar visuell zu erfahrende 65

Der Zeichner des liegenden Weibes von Albrecht Dürer.

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

2.

Perspektivität des Sehraumes ursprünglich – in Anlehnung an die Auge-Kamera-Analogie – aus dem Netzhautbild entwickelt wird, schreiben wir dem Netzhautbild stillschweigend Perspektivität und demnach eine gewisse innenäugige Sichtbarkeit zu (wogegen die Philosophen und Wissenschaftler der Optik wie Descartes, Kepler u. a. polemisierten). Indem das Netzhautbild im Sehvorgang nicht gesehen wird, bildet es eine Verbindung zwischen dem physiologischen und dem geometrisch-optischen Teil des Sehvorgangs. Eine derartige Verbindung und die sich daraus ergebende Einheit des Sehraumes mit dem Auge würden auch darauf verweisen, dass diese visuell erfahrbare Perspektivität tatsächlich im wirklichen Sehraum – und zwar geometrischoptisch durch die Lichtstrahlen – zustande kommt. Die Perspektivität des Sehens, auf die sich insbesondere die visuelle Tiefenwahrnehmung bezieht, scheint sich ursprünglich aus einer empirischen Gewöhnung an die wirklichen Orthogonalen, die die Lichtstrahlen im wirklichen Sehraum konstruieren, zu entwickeln. Ohne eine derartige empirische Gewöhnung vermögen wir in einem gegebenen perspektivischen Bild weder die freiräumliche Tiefe der dargestellten Gegenstände noch deren Solidität visuell wahrzunehmen. Diese Tatsache wurde historisch zum ersten Mal durch den Fall des Patienten von Cheselden belegt. Durch eine Katarakt-Chirurgie konnte der Chirurg Cheselden im 17. Jahrhundert einen 14-jährigen Blindgeborenen am St. Thomas Hospital in London zum Sehen befähigen. Cheselden berichtet, wie sein Patient sich an das perspektivische Sehen nur empirisch gewöhnen konnte: »When he first saw, he was so far from making any judgement about distances, that he thought all objects whatever touch’d his eyes (as he expressed it), as what he felt, did his skin; and thought no objects so agreeable as those which were smooth and regular, tho’ he could form no judgement of their shape, or guess what it was in any object that was pleasing to him: he knew not the shape of anything, nor any one thing from another, however different in shape, or magnitude; but upon being told what things were, whose form he before knew from feeling, he would carefully observe, that he might know them again; but having too many objects to learn at once, he forgot many of them; and (as he said) at first he learn’d to know, and again forgot a thousand things in a day. One particular only (tho’ it may appear trifling) I will relate; having often forgot which was the cat, and which the dog, he was asham’d to ask; but catching the cat (which he knew by feeling) he

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

was observ’d to look at her steadfastly, and letting her down again, said, So Puss! I shall know you another time. He was very much surpriz’d, that those things which he had lik’d best, did not appear most agreeable to his eyes, expecting those persons would appear most beautiful that he lov’d most, and such things to be most agreeable to his sight that were so his taste. We thought he soon knew what pictures represented, which were shew’d to him, but we found afterwards we were mistaken; for about two months after he was couch’d, he discovered at once, they represented solid bodies; when to that time he considered them only as partly-colour’d planes, or surfaces diversified with variety of paint; but even then he was no less surpriz’d, expecting the pictures would feel like the things they represented, and was amaz’d when he found those parts, which by their light and shadow appear’d now round and uneven, felt only flat like the rest; and asked which was the lying sense, feeling or seeing?« 66

3.

Die Frage: which was the lying sense, feeling or seeing? erklärt auch die notwendige Entwicklung der perspektivischen Tiefenwahrnehmung im unmittelbaren Sehen, aus dem sich die Fähigkeit des Auges, die virtuelle Perspektivität in einem Bild zu erfahren, ergibt. Diese Gewöhnung an die Perspektive ist offensichtlich eine Gewöhnung an die wirklichen bzw. an die in die Tiefe des Sehraumes durchdringenden Orthogonalen, die die auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen – und zwar in einer strukturellen Einheit – konstruieren. Die Perspektivität unseres unmittelbaren Sehraumes unterscheidet sich von der virtuellen Perspektivität eines Bildes gerade in der Vollkommenheit der Tiefenwahrnehmung, die die Ausdehnung des Freiraumes, die freiräumlichen Entfernungen sowie die Solidität der Gegenstände in sich einschließt. Auch das gänzlich perspektivische Bild kann höchstens eine vollkommene bzw. hochgradige perspektivische Virtualität erwecken, wogegen die Perspektivität des Sehraumes keine Virtualität, sondern eine wirkliche Seherfahrung ist, mit der sich die virtuelle Perspektivität eines Bildes nicht gleichsetzen lässt. 67 Wie entwickelt sich

Morgan, a. a. O., S. 17–21. Hier sehen wir von der Möglichkeit der Stereoskopie, aus einem flachen Bild anhand des Prinzips des beidäugigen Sehens die virtuelle Tiefenwahrnehmung zu erzeugen, ab, da die perspektivische Tiefenwahrnehmung das beidäugige bzw. stereoskopische Sehen nicht unbedingt voraussetzt. Sowohl die virtuelle Perspektivität eines Bildes als auch die wirkliche Perspektivität des Sehraumes lässt sich mit einem Auge – wenn auch wenig vollkommen – wahrnehmen.

66 67

118 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

4.

68

die wirkliche Perspektivität des Sehraumes, auch wenn das flache Netzhautbild nur strukturell einem perspektivischen Bild ähnelt? Falls das wirkliche perspektivische Sehen allein aus dem Netzhautbild bzw. seiner Perspektivität entwickelt wird, sollte ein perspektivisches Bild – eine Malerei oder eine Photographie – eine annähernd vollkommene Virtualität der visuell-perspektivischen Tiefenwahrnehmung erwecken. D. h. wir vermögen ein perspektivisches Bild so anzusehen, als ob wir durch ein Fenster in die Tiefe eines wirklichen Sehraumes schauen. Allerdings kann ein perspektivisch perfektes Bild – eine Renaissance-Malerei, eine Photographie oder ein filmisches Bild – höchstens eine vollkommene perspektivische Virtualität der Tiefen- und Soliditätswahrnehmung erwecken und kein räumliches Sehen gewährleisten. Auch wenn ein solches perspektivisches Bild dasselbe Netzhautbild, das beim unmittelbaren räumlichen Sehen auf der Augennetzhaut entsteht, rekonstruiert, vermag das Auge aus diesem Bild nur eine vollkommen-perspektivischvirtuelle Tiefe und kein wirkliches bzw. räumliches Sehen zu entwickeln. Falls die Perspektivität des wirklichen Sehens allein aus dem Netzhautbild entwickelt wird, sollte auch ein unvollkommenes oder annähernd vollkommenes perspektivisches Bild die Virtualität des wirklichen Sehens – wie in einer Spiegelung – erwecken. Denn das Auge ist, wie im alltäglichen Phänomen der Spiegelung oder in der technisch-fortgeschrittenen Stereoskopie demonstriert wird, jener visuellen Virtualität unterworfen. Dass ein perspektivisches Bild, auch wenn es dasselbe Netzhautbild (wie beim wirklichen Sehen) im Auge entstehen lässt, nur eine perspektivische Virtualität und keine richtige räumliche Seherfahrung erzeugen kann, scheint auch die oben erörterte Erkenntnis zu unterstützen, dass das wirkliche Sehen einen wirklichen Sehraum voraussetzt. 68 Dieser Sehraum soll sich aus den orthogonalen Lichtstrahlen, die von den Gegenständen reflektiert werden und den ebenso wirklichen Freiraum durchdringen und auf den Augenpunkt konvergieren, entwickeln bzw. durch diese strukturiert werden. Die oben beschriebene Größen- und Lagewahrnehmung der gesehenen Gegenstände scheint neben ihrer Tiefen- und Soli-

PGPVR, S. 80–81. (siehe Anmerkung 35)

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

ditätswahrnehmung unmittelbar durch die Perspektivität des Sehens bloß konstruiert zu werden. Bei den geometrisierten Sehobjekten, wie architektonische Bauten, Möbel, mechanische oder elektrische Geräte usw., ist die perspektivische Konstruktion im unmittelbaren Sehen sehr sichtbar. Man sieht unmittelbar, wie die Gegenstände im Sehraum perspektivisch konstruiert erscheinen, indem man den klaren Eindruck hat, dass die Wesenszüge der gegenständlichen Erscheinung wie Größe, Lage, freiräumliche Entfernung und vor allem die perspektivisch deformierte Ausdehnung der Objekte mehr oder weniger geometrisch durch die vom Auge auf die Objekte projizierten Orthogonalen konstruiert sind. Auf der Netzhaut werden die wirklichen Größen und die richtigen Lagen der Gegenstände nicht abgebildet, die freiräumlichen Entfernungen und die Solidität der Gegenstände erscheinen nicht. Es ist nicht schlüssig, anzunehmen, dass die zweidimensionale Struktur des Netzhautbildes das richtige räumliche Sehen – mit einer räumlich-perspektivischen Struktur und annähernd richtiger Größen-, Distanz- und Soliditätswahrnehmung – suggeriert. Vielmehr scheint die wirklich-perspektivische Raumstruktur des Sehens durch wirkliche Orthogonalen konstruiert zu werden. Wenn wir vor vielen relativ nahen geometrischen Gegenständen – wie in einem modernen Wohnviertel – stehen, sehen wir alle Gegenstände geometrisch-perspektivisch strukturiert bzw. deformiert. Stellen wir uns vor, dass die wirkliche perspektivische Struktur unseres Sehraumes mit den auf den Augenpunkt konvergierenden Orthogonalen objektiv bzw. geometrisch-architektonisch konstruiert bzw. skulptiert wird. Eine derartige lebensgroße Darstellung besteht – außer aus den wirklichen Gegenständen – aus den auf den Augenpunkt des Betrachters konvergierenden Orthogonalen, die mit den Lichtstrahlen, die von den Gegenständen reflektiert werden und den Freiraum durchdringen und auf den Augenpunkt konvergieren, identisch sind. An dieser plastischen Darstellung (die der Betrachter von dem Standpunkt des dargestellten Betrachtens selbst anschauen kann) ist zu erkennen, dass der Betrachter die Gegenstände ebenso perspektivisch strukturiert – mit annähernd richtiger perspektivischer Größe, Entfernung, Solidität und Lage – sieht, wie sie tatsächlich durch die Orthogonalen perspektivisch konstruiert sind, und dass die unmittelbar gesehenen perspektivi120 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

schen Deformationen in ihrem richtigen Ausmaß durch die wirkliche pyramidale Struktur der Orthogonalen entstehen. Die Wirklichkeit der Struktur der Orthogonalen im unmittelbaren Sehvorgang setzt voraus, dass sich unser Gesichtssinn entweder durch die orthogonalen Lichtstrahlen oder durch die von dem Auge projektiv ausgestrahlten Sehstrahlen, die mit den konvergierenden Lichtstrahlen eine strukturelle Identität bilden, außerleiblich ausdehnt. In einer derartigen Ausdehnung des Gesichtssinns werden die Gegenstände im unmittelbaren Sehraum optisch angetastet. D. h. der Betrachter erfährt die nahen Gegenstände im Sehraum in annähernd richtiger Größe, Entfernung, Solidität und Lage und in einer gesamt-perspektivischen Struktur durch einen außerleiblichen optischen Tastsinn. Die optischen Orthogonalen im Sehraum scheinen hier die Funktion zweier sich in einem Punkt kreuzender Stücke, anhand derer der Blinde im kartesischen Gleichnis 69 die außerleiblichen Gegenstände haptisch wahrnimmt, anzunehmen. Nun lässt sich die Frage stellen, ob die Wirklichkeit bzw. Materialität der Orthogonalen, die unseren unmittelbaren Sehraum perspektivisch strukturieren, mit der Wirklichkeit der auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen analog oder sogar identisch ist. Die visuelle Virtualität, dargestellt in der Spiegelung und Reflexion, scheint aus den virtuellen Orthogonalen geometrisch-optisch konstruiert zu werden. Die visuelle Virtualität der Spiegelung und Reflexion scheint primae facie die Virtualität bzw. den rein subjektiven Ursprung der Orthogonalen im Gesichtssinn zu belegen, aber in Wirklichkeit unterstützt sie die oben erörterte Wirklichkeit der optischen Orthogonalen, die dem Betrachter das wirkliche Sehen – mit der richtigen Größen-, Distanz-, und Lagewahrnehmung der Gegenstände und ihrer Perspektivität – ermöglichen. Die Unterscheidung zwischen der optischen Wirklichkeit und Virtualität lässt sich auf die Konstellation von struktureller Einheit und ontologischer Differenz zwischen den Lichtstrahlen und den Sehstrahlen zurückführen.

69

Vgl. RE, S. 19–21. (siehe Anmerkung 35)

121 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

(f)

Die optische Virtualität

Die Formen der optischen Virtualität, wie die dioptrischen Phänomene (Reflexion und Refraktion), die perspektivische Tiefenwahrnehmung auf einem Bild oder die rein mentalen Phänomene wie Phantasie oder Träume, erweisen sich ihrer Natur und ihrem Grad der Vollkommenheit nach als unterschiedlich. Unter den verschiedenen Formen der optischen Virtualität bilden die dioptrische Reflexion und Refraktion die klarste und vollkommenste Virtualität, denn sie sind mit dem unmittelbaren Sehen fast identisch. Alle Formen der optischen Virtualität – die sinnliche Virtualität im Allgemeinen – haben einen wichtigen Wesenszug gemeinsam, nämlich das Unbeteiligtsein oder die Abwesenheit der wirklichen Gegenstände. Diese Formen der Virtualität unterscheiden sich vom realen Sehen, indem die gesehenen Gegenstände nicht real, sondern virtuell sind, d. h. sie existieren nicht. Bei den dioptrischen Phänomenen entstehen die virtuellen Erscheinungen allein aus den virtuellen Größen-, Distanz- und Lagewahrnehmungen der Gegenstände, die allerdings bei diesem Sehvorgang präsent sind, wogegen bei Phantasien, bei der perspektivischen Bildwahrnehmung sowie bei Träumen die realen Objekte vollkommen fehlen. Die Formen der optischen Virtualität scheinen die allgemein anerkannte Vorstellung zu unterstützen, dass das Sehen ein rein mentales bzw. sinnlich-subjektives Konstrukt a priori ist. Denn das Subjekt entwickelt die visuelle Virtualität ohne die unmittelbare Beteiligung der wirklichen Gegenstände. Allerdings werden wir beim Bestehen auf einer solchen Annahme unvermeidlich mit einem wahrnehmungstheoretischen Problem konfrontiert, das mehrere Fragen aufwirft: Wie entsteht das wirkliche Sehen, an dem sich die Gegenstände unmittelbar beteiligen, und das sich als solches von der dioptrischen Virtualität wie der Reflexion und Refraktion unterscheiden und durch diese nicht ausschließen lässt? Wie gelangen die wirklichen Gegenstände als visuelle Erscheinungen in den Geist – mit der richtigen Größe, Distanz, Lage und Solidität aber auch mit der richtigen Perspektivität –, die der Geist bei seiner Erzeugung der optischen Virtualität wie z. B. der Phantasie oder des Traumes zur Verfügung hat? Wie entwickelt sich die geometrisch-optische Struktur der dioptrischen Reflexion und Refraktion, in der sich die Größe, Distanz und die Lage der unmittelbar visuell wahrzunehmenden virtuellen Erscheinungen objektiv bzw. geometrisch-optisch berechnen las122 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

sen? usw. Alle diese Problem- oder Fragestellungen verweisen darauf, dass die optische Virtualität jener Art ursprünglich das wirkliche Sehen der Gegenstände voraussetzt. Wir beziehen uns insbesondere auf die dioptrische Virtualität wie die Reflexion und Refraktion (denn sie entstehen im unmittelbaren Sehen, an dem sich die wirklichen Gegenstände beteiligen), so dass wir die optische Virtualität von der optischen Realität sauber trennen und untersuchen können. Die Virtualität der Reflexion manifestiert sich in vielen natürlichen und technischen Phänomenen – wie z. B. bei allen Arten der natürlichen Spiegelung auf glatten Oberflächen, auf der Wasserebene usw. sowie der künstlichen Spiegelungen durch Plan-, Konkav- und Konvexspiegel. Ebenso manifestiert sich die Virtualität der Refraktion bei den Erscheinungen im Wasser oder bei einer Fata Morgana sowie bei allen Formen der Refraktion durch Linsen und Prismen in optischen Geräten – von der einfachen Lupe bis zu komplexeren optischen Geräten wie Kamera, Mikro- und Teleskope. Alle diese natürlichen und technischen Modi der dioptrischen Virtualität haben ein wichtiges Charakteristikum gemeinsam: Sie entstehen in mehr oder weniger exakt geometrisch-optischer Gesetzmäßigkeit, die sich objektiv bestimmen bzw. berechnen lässt. D. h. das Auge sieht die virtuellen Erscheinungen in annähernd exakt geometrisch-optischer Proportionalität der Größe, Entfernung und Lage, und zwar in einer allumfassenden perspektivischen Struktur, wie sie sich objektiv berechnen bzw. geometrisch oder sogar architektonisch konstruieren lassen. Kurzum: Allen Formen der dioptrischen Virtualität liegt die geometrisch-optische Gesetzmäßigkeit zugrunde, was ihre Objektivität am ehesten zu belegen scheint. Folgende Figuren stellen ein paar einfache und elementare Modi der Reflexion und Refraktion dar: Die Figuren 6 und 7 zeigen die Reflexion der Lichtstrahlen durch Plan- und Konkavspiegel, und die Figuren 8 und 9 zeigen ihre Brechung durch Medien wie eine Sammellinse und ein Prisma. 70 Die geraden Linien zeigen die Richtung der Lichtstrahlen, die reflektiert sowie gebrochen werden. Diese rein physikalischen Eigenschaften des Lichtes, nämlich Reflexion und Brechung, folgen den Gesetzen der geometrischen Optik. Die Lichtstrahlen in der Figur 6, die aus einem Die folgenden Darstellungen der Reflexion und Refraktion und ihre Erklärungen sind eine Wiedergabe aus meiner im Jahr 2005 erschienenen Dissertation. Vgl. PMS, S. 205–208. (siehe Anmerkung 35)

70

123 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Objekt im Raum auf einen Planspiegel fallen, bilden bei ihrer Reflexion die gleichen Reflexionswinkel (α und β); die Lichtstrahlen in der Figur 7, die von einem Objekt, das zwischen einem Konkavspiegel und seinem Fokus (dem Mittelpunkt des Krümmungsradius) liegt, auf diesen Konkavspiegel fallen, werden aber gemäß verschiedener geometrisch-optischer Gesetze reflektiert. Die Reflexion des Lichtstrahls (1), der parallel zur Achse XX’ auf den Spiegel fällt, geht durch den Fokus; der Lichtstrahl (2), der geometrisch als eine Extension des Radius (des Spiegels) dargestellt ist, bildet mit dem reflektierten Lichtstrahl eine Einheit. Der Lichtstrahl (3), der, wenn er linear extendiert wird, durch den Fokus geht, wird parallel zur Achse XX’ reflektiert, und der Lichtstrahl (4), der auf das Zentrum des Spiegels fällt, bildet in seiner Reflexion die gleichen Reflexionswinkel.

Figur 6

Figur 8

Figur 7

Figur 9

Alle diese Darstellungen, denen die geometrisch-optische Gesetzmäßigkeit der dioptrischen Phänomene des Lichtes – wie die Reflexion oder Brechung – zugrunde liegt, sind streng genommen Entwürfe eines theoretischen Raumes, die als solche objektiv real sind. D. h. sie beziehen die realen Erscheinungen im Raum und das ebenso reale Licht, das den Raum füllt, mit ein. Wenn aber das Auge bzw. das Faktum des unmittelbaren Sehens in diese realen Entwürfe miteinbezogen wird, entstehen die Virtualitäten, entsteht ein virtueller Raum, der dem Wesen nach ein ästhetischer Raum ist, wie die modifizierten Darstellungen (Figuren 10, 11, 12 und 13) zeigen. Die Figu124 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

ren 10 und 11 zeigen die Spiegelung eines realen Objekts; das virtuelle Spiegelbild erscheint hinter der Spiegelebene. Ebenso zeigt die Sicht durch ein Prisma oder eine Sammellinse die virtuellen Bilder eines realen Objekts. Die Virtualität, die in diesen Darstellungen durch die Einbeziehung des Auges zustande kommt, ereignet sich wiederum im Raum, genauer gesagt im ästhetischen Sehraum; die virtuellen Bilder werden weiterhin geometrisch-optisch konstruiert. Was wäre das Grundprinzip dieser Konstruktion der Virtualität, das allgemein in allen diesen Darstellungen zutage tritt?

Figur 10

Figur 12

Figur 11

Figur 13

Die Wesenszüge der virtuellen Erscheinungen, vor allem die Größenund Distanzwahrnehmungen, bei den oben dargestellten Formen der dioptrischen Virtualität werden geometrisch-optisch bestimmt und scheinen als solche im wirklichen Sehraum selbst zu entstehen. D. h. die strukturelle Ursächlichkeit der dioptrischen Virtualität, die sich geometrisch-optisch annähernd exakt berechnen lässt, scheint die geometrisch-optische Gesetzmäßigkeit des unmittelbaren Sehraumes selbst zu sein. Diese Gesetzmäßigkeit ist auf die natürliche Geometrie der Lichtstrahlen angewiesen und nicht allein auf die neuronale Bearbeitung des winzigen Netzhautbildes im Rahmen der physiologischen Optik. Falls die dioptrische Virtualität nicht im unmittelbaren Sehraum entsteht, soll sie allein durch die neuronalen Prozesse, die 125 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

nur das Netzhautbild als Input haben, konstruiert werden. D. h. das Gehirn soll die geometrisch-optische Gesetzmäßigkeit der Virtualität bestimmen und demgemäß die visuelle Virtualität – neben dem wirklichen Sehen – lediglich geistig entwickeln. Dies scheint sehr unwahrscheinlich zu sein. Denn der Input auf der Augennetzhaut ist durchaus unzureichend, um die oben dargestellten und andere ähnliche Formen der dioptrischen Virtualität in exakt geometrisch-optischer Gesetzmäßigkeit zu konstruieren. Bei der Vergrößerung der (virtuellen) Erscheinung durch die Reflexion auf einem Konkavspiegel sowie durch die Refraktion durch eine Konkavlinse (dargestellt in den Figuren 11 und 13) hat das Auge nur eine vergrößerte Netzhautabbildung des Sehobjekts als Input. Auch wenn wir behaupten, dass die Vergrößerung der virtuellen Erscheinungen in diesen Fällen durch die Vergrößerung der Netzhautabbildung zustande kommt, können wir nur schwerlich erklären, wie die Distanzwahrnehmung bzw. die visuelle Wahrnehmung der exakt-räumlichen Lokalisation der virtuellen Erscheinungen allein von der Netzhautabbildung entwickelt wird. Offensichtlich sollen hierauf die Lichtstrahlen, die, vom Spiegel reflektiert oder durch die Linse abgelenkt, auf das Auge fallen, weiter verfolgt werden, um die geometrisch-optisch konstruierten virtuellen Erscheinungen in annähernd richtiger Größe und Entfernung zu sehen. 71 Dies würde bedeuten, dass sich das wirkliche Sehen über das Der Planspiegel reflektiert das Sehbild wirklichkeitsnah – d. h. ohne Größenänderung und in richtiger Entfernung, wie wir die Objekte mit nackten Augen sehen. Nur die Lagen der Objekte erscheinen gemäß dem geometrisch-optischen Prinzip seitenverkehrt. Die Reflexion auf einem Planspiegel könnte primae facie als ein treffendes Beispiel angenommen werden, wie das Auge aus der Netzhautabbildung ein virtuelles Sehbild entwickelt, das dem wirklichen Sehbild (das die wirklichen Gegenstände in sich einschließt) vollkommen ähnelt. Allerdings sehen wir die Gegenstände in einem Spiegelbild in den richtigen Größen und Entfernungen, wie sie sich geometrisch-optisch i. e. objektiv konstruieren lassen (wie die Figur 10 zeigt). Dass die wirklichen Gegenstände in derselben Größe auf einem Planspiegel virtuell erscheinen, ist vielmehr verständlich. Denn bei der Reflexion von einem Planspiegel wird die Größe der Erscheinungen unverändert – d. h. weder vergrößert noch verkleinert – auf der Augennetzhaut abgebildet. Aber die Entfernungen der Gegenstände (die streng genommen auf der Netzhaut nicht abgebildet werden) und die freiräumliche Ausdehnung auf dem Planspiegel scheinen vom Netzhautbild allein nicht entwickelt, sondern eher im wirklichen Sehraum selbst geometrisch-optisch konstruiert zu werden. Denn wir sehen auf dem Planspiegel die Gegenstände – insbesondere die nahen Gegenstände – in derselben Entfernung, die sich aus einer objektiven bzw. auf den optischen und dioptrischen Eigenschaften der Lichtstrahlen basierenden geometrisch-optischen Konstruktion ergeben. Dies gilt ebenso für die Spiegelung auf einem Konkav- oder Konvexspiegel.

71

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

Netzhautbild hinaus auf die physikalischen Lichtstrahlen und weiter auf gewisse Sehstrahlen, die die geometrisch-optische Struktur der Lichtstrahlen zur Virtualität extendieren, erstreckt. Denn die geometrischen Linien, die die optische Virtualität in den oben dargestellten dioptrischen Sehmodellen gemäß der geometrisch-optischen Gesetzmäßigkeit konstruieren, sind bloß lineare Extensionen der Lichtstrahlen jenseits der Ebene des Spiegels oder der Linse. Indem diese virtuellen Extensionen zusammen mit den realen Lichtstrahlen eine einheitliche perspektivische Struktur des Sehraumes, der die wirklichen und virtuellen Erscheinungen in sich einschließt, bilden, wird der Eindruck erweckt, dass diese geometrischen Linien als Sehstrahlen, die in ihrer geometrisch-optischen Struktur mit den physikalischen Lichtstrahlen eine Einheit bilden und dabei die optische Virtualität konstruieren, ebenso wie die physikalischen Lichtstrahlen eine physikalische bzw. objektiv-materielle Phänomenalität beanspruchen. Sind sie gewisse elektromagnetische Strahlen, die allerdings im Unterschied zu den Lichtstrahlen der Reflexion und Refraktion nicht unterworfen sind und sich demnach bei diesen dioptrischen Phänomenen von den Lichtstrahlen – bzw. von der Einheit mit den Lichtstrahlen – trennen und dadurch jene optische Virtualität in strenger geometrisch-optischer Gesetzmäßigkeit erzeugen? Beim Diskurs über die dioptrische Virtualität (anhand dessen wir ursprünglich die rein physiologisch-optische Entwicklung des Gesichtssinns zu belegen suchen) würde uns in dieser Weise die wirkliche Ausdehnung des Gesichtssinns in den Sehraum als ein notwendiges Faktum vorkommen. Falls wir dieses objektive Faktum verneinen und auf der bloß neuronalen Entwicklung des Gesichtssinns beharren, wird uns das zuvor erörterte Problem der vollkommenen Emergenz der mentalen Zustände große Schwierigkeiten bereiten. Denn hier nehmen wir stillschweigend an, dass das Gehirn allein aus dem Input des Netzhautbildes alle Wesenszüge des wirklichen räumlichen Sehbildes genau berechnet und diese in einer unmittelbaren Seherfahrung anwendet. Eine derartige Annahme scheint von vornherein unplausibel zu sein. Denn erstens handelt es sich hier um einen vollkommen ontologischen Sprung von einem rein materiellen zu einem mentalen Phänomen; die neuronale Ursächlichkeit der mentalen Wirkung, nämlich des wirklichen Sehbildes, schließt keine mit den optischen und geometrisch-optischen Wesenszügen des wirklichen Sehbildes vergleichbaren Eigenschaften in sich ein. Daher ist es beinahe unmöglich, die wahrnehmungstheoreti127 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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sche Realisierung des wirklichen Sehbildes aus nur materiellen und neuronalen Ursachen zu begründen. Zweitens ist es ebenso unangebracht, anzunehmen, dass die geometrisch-optische und perspektivische Struktur des Sehraumes, die bereits objektiv – durch die physikalischen Lichtstrahlen – vorhanden ist, und deren Abbildung auf der Netzhaut durchaus inadäquat ist, erneut bloß neuronal entwickelt und wiederum auf dieselbe bereits existierende Struktur des Sehraumes projiziert wird. Viel plausibler scheint die Vorstellung, dass die geometrisch-optische Größen-, Distanz-, Lage- sowie Soliditätswahrnehmung – sowohl bei wirklichen als auch bei virtuellen Erscheinungen – und die gesamte perspektivische Struktur des Sehraumes aus einer ursprünglichen Einheit des Auges mit einem wirklichen bzw. objektiven Sehraum zustande kommen, wobei die wahre Ursächlichkeit der geometrisch-optischen Struktur des Sehraumes nicht im Gehirn, sondern in erster Linie in der bereits vorhandenen physikalischoptischen Struktur des Sehraumes und seiner geometrisch-optischen sowie dioptrischen Gesetzmäßigkeit selbst festzustellen ist. Berkeleys Polemik gegen die Legitimität der geometrisch-optischen Auslegungen bezüglich der visuellen Größen-, Distanz- und Lagewahrnehmungen lässt sich in Hinsicht auf die oben erörterten Punkte umdrehen. Die Linien und Winkel, die die geometrischen Elemente der perspektivischen Struktur des unmittelbaren Sehraumes bilden, werden weder gesehen noch auf der Augennetzhaut abgebildet. Aber sie entstehen und existieren vornehmlich durch die physikalischen Lichtstrahlen und dem Anschein nach auch durch die Sehstrahlen, die gemeinsam die wirkliche Struktur des Sehraumes bilden. Lichtstrahlen als elementar-strukturelle Komponenten des perspektivischen Sehraumes sind zwar an sich unsichtbar, aber sie lassen sich in allen Wesenszügen des Sehraumes (wie die Größen-, Distanz-, Lage- und Soliditätswahrnehmung der Gegenstände, die optische Wahrnehmung des Freiraumes und der gesamt-perspektivischen Struktur des Sehraumes) erkennen. Die wirkliche Ausdehnung des Sehens und seiner perspektivischen Struktur – die an erster Stelle an der perspektivischen Deformation der wirklichen und virtuellen Erscheinungen zu erkennen ist – sind primär durch die Lichtstrahlen und ihre geometrisch-optischen Eigenschaften konstruiert. Berkeley polemisiert mit Grund gegen die bloß geometrisch-optischen Auslegungen der visuellen Distanz-, Größen- und Lagewahrnehmung, indem er die Annahme, dass der Geist durch die gegebenen geometrischen Linien und Winkel in der Struktur des Sehraumes die Entfer128 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

nung der Objekte, deren Größen usw. kalkuliert, ablehnt. Aber die geometrisch-optische Basis der visuellen Raumwahrnehmung ist durchaus legitim, wenn die ursprüngliche bzw. durch die physikalischen Lichtstrahlen konstruiert vorhandene perspektivische Struktur des Sehraumes, der die wirklichen Gegenstände und den ebenso wirklichen Freiraum in sich einschließt, berücksichtigt wird. Im Falle der oben erörterten optischen Virtualität wird uns diese Tatsache eher plausibel vorkommen. Denn die geometrisch-optische Gesetzmäßigkeit der dioptrischen Virtualität lässt sich primär an der geometrischoptischen Struktur des Sehraumes selbst erkennen und schwerlich aus der durchaus inadäquaten Netzhautabbildung ableiten. Berkeley bestreitet zu Recht die Annahme, dass der Geist mit den geometrischen Formen wie Linien und Winkel – auch wenn sie im Sehvorgang gegeben werden – geometrisch-optisch rechnen und dadurch den Sehraum bloß konstruieren kann. Aber unser Sehraum – sowohl mit wirklichen als auch mit virtuellen Erscheinungen – entsteht mit annähernd exakter geometrisch-optischer Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit des physikalischen Lichtraumes, der das Auge mit den Sehobjekten verbindet. Daraus lässt sich folgern, dass die unmittelbar zu erfahrende geometrisch-optische Struktur des Sehraumes eher vorhanden und als solche gegeben ist und nicht lediglich neuronal entwickelt wird. Die natürliche Geometrie der Lichtstrahlen, die im wirklichen Sehen auf ihre Wesenszüge wie die Linearität und ihre orthogonal-perspektivische Konvergenz zurückzuführen ist, lässt eine derartige Gegebenheit des visuell-perspektivischen Sehraumes entstehen. Bei den (oben erörterten) Formen der dioptrischen Virtualität dürfte uns die wirkliche Gegebenheit des geometrisch-optischen Sehraumes klarer einleuchten, denn diese Formen der Virtualität entstehen als geometrisch-optische Extensionen der gegebenen Lichtstrahlen durch gewisse lineare – bzw. den dioptrischen Phänomenen wie Reflexion und Refraktion nicht unterworfene – Sehstrahlen, wie jedwede Darstellung der Reflexion oder Refraktion zeigt. Bei den dioptrischen Phänomenen scheint es, dass die Sehstrahlen, die mit den Lichtstrahlen eine Einheit bilden und dadurch den wirklichen Sehraum entstehen lassen, im Falle der dioptrischen Virtualität von den – reflektierten oder bei der Refraktion abgelenkten – Lichtstrahlen getrennt werden und dabei die optische Virtualität geometrischoptisch konstruieren. 72 Sowohl beim wirklichen Sehen als auch bei 72

PMS, S. 206–208. (siehe Anmerkung 35)

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virtuellen dioptrischen Phänomenen ist es unangemessen, anzunehmen, dass das Gehirn allein aus dem Netzhautbild und einigen »Cues«, die beim Sehvorgang keine hinreichenden Inputs bilden, die bereits gegebene geometrisch-optische Struktur des Sehraumes erneut berechnet und sie lediglich subjektiv herstellt. Denn die neuronalen Prozesse, die die geometrisch-optischen Wesenszüge des Sehraumes wie die Größen-, Distanz- und Soliditätswahrnehmung sowie die Perspektivität zu unterstützen scheinen, sind in einem wesentlich anderen Seinsmodus der rein materiellen Phänomene; die Ursächlichkeit des geometrisch-optischen Sehraumes (der auf einer Wirkungsebene des Sehens zustande kommt) kann daher auf das Gehirn bzw. auf den bloß physiologischen Teil der Augenoptik schwerlich beschränkt werden, sondern sie erstreckt sich – vor allem in Bezug auf die geometrisch-optisch-perspektivische Struktur des Sehraumes – auf die gegebene Struktur des visuellen Lichtraumes selbst, wie bereits erörtert wurde. Die neuronale Ursächlichkeit des Gesichtssinns ist in diesem Fall nicht vollkommen ursprünglich und als solche vom wirklichen Sehraum gänzlich isoliert, sondern eher korrelativ und synthetisch – in einem synthetischen Nexus – mit der geometrischoptischen Gesetzmäßigkeit eines wirklichen und objektiv gegebenen Lichtraumes vorzustellen. Die Tatsache, dass unser Gesichtssinn sich notwendigerweise auf einen objektiv gegebenen und perspektivisch strukturierten Lichtraum erstrecken soll, scheint auch durch unsere unmittelbar-visuelle Wahrnehmung des zwischenkörperlichen Freiraumes hinreichend belegt zu werden.

(g) Die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes Zunächst greifen wir auf die bereits zitierte propädeutische Betonung Berkeleys in seinem Hauptwerk »An Essay Towards a New Theory of Vision« zurück: »It is, I think, agreed by all that distance, of itself and immediately, cannot be seen. For distance being a line directed end-wise to the eye, it projects only one point in the fund of the eye, which point remains invariably the same, whether the distance be longer or shorter.« 73

73

Berkeley, a. a. O., S. 7–9.

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Obwohl Berkeley es kaum expliziert, bezieht er sich in dieser Betrachtung auf einen wichtigen Bestandteil unseres unmittelbaren Sehraumes, nämlich den zwischenkörperlichen Freiraum, den die von den materiellen Gegenständen reflektierten Lichtstrahlen bei ihrer Konvergenz auf den Augenpunkt durchdringen. Ebenso bezieht sich seine Beobachtung »distance being a line directed end-wise to the eye« auf die Lichtstrahlen, die durch ihre orthogonale Struktur beim Sehvorgang auf der Augennetzhaut nur punktuell abgebildet werden. Beide Fakten bilden beim Sehen strukturell eine Einheit, denn der visuelle Freiraum entsteht durch die an sich unsichtbaren Lichtstrahlen, die ihn durchdringen und ihm dabei Fülle geben. Der visuelle Freiraum unterscheidet sich von Sehobjekten, indem er nicht angeschaut, aber visuell – als ein rein ausgedehntes Nichts – unmittelbar wahrgenommen wird. Ohne diese unmittelbare Wahrnehmung des Freiraumes ist weder die optische Wahrnehmung der Distanz und Solidität des Sehobjekts noch die der gesamt-perspektivischen Struktur des Sehraumes möglich. Denn es ist der Freiraum, in dem die Gegenstände perspektivisch geordnet und strukturiert erscheinen, und der auf diese Weise dem Sehraum Fülle gibt. Die Gegenstände im Sehraum werden auf der Augennetzhaut abgebildet, obwohl diese Abbildung hinsichtlich der wirklichen Größen- und Lagewahrnehmung der Gegenstände sowie der Perspektivität des gesamten Sehraumes als gänzlich unangemessen gelten darf. Allerdings hinterlässt der Freiraum auf der Augennetzhaut im Gegensatz zu den materiellen Gegenständen keinerlei Abbildung. Die vollkommene Abwesenheit des Freiraumes als Abbildung auf der Augennetzhaut kommt uns äußerst rätselhaft vor. Wenn der Input des Freiraumes oder der freiräumlichen Ausdehnung als Abbildung auf der Netzhaut gänzlich fehlt, wie entwickelt sich dann die unmittelbare visuelle Wahrnehmung des Frei- oder Zwischenraumes, der einen wichtigen Bestandteil des unmittelbaren Sehraumes bildet? Eine wichtige Basis dieses Rätsels ist nämlich folgende: Der Freiraum ist im Unterschied zu den Sehobjekten kein materieller Gegenstand, der durch die Lichtstrahlen auf der Augennetzhaut abgebildet werden kann. Der visuelle Freiraum ist auf der Erde ein Luftraum und im All eine Leere, die die Lichtstrahlen durchdringen. Dadurch füllt das Lichtphänomen den Freiraum. Die perspektivische Ausdehnung des visuellen Freiraumes wurde durch die orthogonale Struktur des visuellen Lichtraumes, genauer gesagt, der visuellen Lichtpyramide, etabliert. Der Freiraum als Lichtraum wird weder auf der 131 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Augennetzhaut abgebildet noch angeschaut, aber unmittelbar visuell wahrgenommen, was die Aporie der freiräumlichen Wahrnehmung ausmacht. Wie zuvor erörtert wurde, scheint eine derart phänomenale Aporie, 74 die sich allein seitens des Subjekts kaum bewältigen lässt, dem Subjekt eine gewisse Erkenntnis zu diktieren. Diese Erkenntnis ist nicht anders als die außerleibliche Ausbreitung des Gesichtssinns durch das Medium der Lichtstrahlen, die an sich nicht angeschaut werden, aber die dem visuell wahrzunehmenden Freiraum Fülle geben. Bei einer derartigen außerleiblichen Ausdehnung des Gesichtssinns empfindet das Subjekt unmittelbar den Frei- oder Zwischenraum als ein rein ausgedehntes Nichts, das aber durch unsichtbare und orthogonal-perspektivisch strukturierte Lichtstrahlen gefüllt ist. Die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes, der an sich ein bloß ausgedehntes Nichts ist, ist die unmittelbare Sehempfindung der Leere, was allerdings einer orthogonalen Gradation unterworfen ist. D. h. die Intensität der visuellen Raumwahrnehmung vermindert sich gemäß der Entfernung vom Augenpunkt (oder gemäß der Tiefe des Sehraumes), was die oben erörterte These der außerleiblichen Ausbreitung des Gesichtssinns durch die orthogonal-perspektivisch strukturierten Lichtstrahlen unterstützt. Es ist unsere unmittelbar visuelle Erfahrung, dass sowohl der Freiraum als auch die Gegenstände in unserer nahen Umgebung in annähernd richtiger Größe, Entfernung, Solidität und vor allem präzis wahrgenommen werden. Die visuell präzise Wahrnehmung der frei- oder zwischenräumlichen Ausdehnung, Entfernung sowie der Solidität der Gegenstände usw. schwächt sich in direkter Proportion zu der Entfernung vom Augenpunkt ab. Allerdings kann das Netzhautbild, in dem der Freiraum in keinerlei Weise und die nahen und fernen Gegenstände mehr oder weniger undifferenziert als flache Erscheinungen abgebildet werden, keinen Input zu derartiger Gradation der visuellen Raumwahrnehmung beinhalten. Wir könnten die Eigenschaften unseres SehrauWenn wir am Ufer eines Meeres oder auf einem Berg stehen und auf den Horizont blicken, erfahren wir, wie riesig der visuell wahrzunehmende Freiraum ist, der sich bis zum Horizont und der Himmelsebene ausdehnt. Zwar bildet die visuelle Wahrnehmung des Freiraumes, der auf der Netzhaut nicht abgebildet wird, prima facie eine subjektiv-wahrnehmungstheoretische Aporie. Aber dieser Aporie liegen primär die Existenz des Freiraumes als Lichtraum und das ebenso objektive Faktum, dass dieser Freiraum keine Netzhautabbildung hinterlässt, zugrunde. Daher lässt sich die Aporie der visuellen Wahrnehmung des Freiraumes grundsätzlich als eine phänomenale Aporie bezeichnen.

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mes, die uns die präzise visuelle Wahrnehmung der gegenständlichen Größe, Solidität, Entfernung usw. ermöglichen, als seine Intensität bezeichnen. Diese Intensität des Sehraumes, in dem das Sehen ein optisches Antasten – also eine Synthese vom optischen und haptischen Sinn – ist, gradiert bzw. vermindert sich in direkter Proportion zu der Entfernung vom Auge. 75 Auch in der Virtualität eines perspektivischen Bildes – einer Malerei oder einer Photographie – lässt sich diese Verminderung der Intensität des Sehraumes in der Tiefe, infolgedessen die Präzision der Wahrnehmung der Tiefe, der zwischenräumlichen Ausdehnung sowie der Solidität der Erscheinungen immer weniger wird, wahrnehmen. Allerdings entsteht eine derartige Wahrnehmung aus unserer Gewöhnung an die wirkliche Perspektivität des Sehens selbst. Wir haben bereits erörtert, wie unser wirkliches Sehen in Hinsicht auf seine wirkliche außerleibliche Ausdehnung als ein optisches Antasten zu betrachten ist. Das haptische Ausreichen des Gesichtssinns in die Tiefe des Sehraumes hinein hat offensichtlich seine Grenzen; die Größe, Entfernung, die Solidität der Gegenstände, die freiräumliche Ausdehnung sowie die Perspektivität (bzw. die perspektivische Deformation) werden in der Tiefe des Sehraumes im Vergleich zu unserer nahen Umgebung immer unpräziser und diminutiv wahrgenommen. Eine derartige graduelle Verminderung der Intensität des Sehraumes in direkter Proportion zu seiner Tiefe scheint primär dadurch zustande zu kommen, dass die außerleibliche Ausdehnung des Gesichtssinns in der Tiefe an Stärke und Intensität verliert. 76 Zwar verliert das Lichtphänomen oder ein möglicher elektromagnetischer Zusatz der Sehstrahlen in unermesslichen Entfernungen kaum an Stärke, jedoch könnte der Nexus des subjektiven Gesichtssinns mit diesem physikalischen Phänomen seine Stärke und Intensität unabhängig von der Tiefe des Sehraumes kaum aufrechterhalten. Die graduelle Verminderung der Intensität des Sehraumes in der Tiefe soll eine Grenze – oder Grenzebene – erreichen, über die der Gesichtssinn nicht hinausgeht. Auf dieser Grenzebene, in der die Intensität der Räumlichkeit bzw. die Dreidimensionalität des Sehraumes fast vollständig verschwindet, lassen sich keine Solidität oder Tiefenunterschiede der Gegenstände wahrnehmen, und die SehZur Intensität des Sehraumes und zu ihrer Gradation vgl. PMS, S. 221 ff. (siehe Anmerkung 35) 76 PMS, S. 235–236. 75

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objekte erscheinen extrem diminutiv. Unser unmittelbarer Sehraum stellt deutlich eine derartige Grenzebene des Gesichtssinns dar. Auf der Himmelsebene, die offensichtlich die Grenzebene unseres Sehens ist, erscheinen die Sehobjekte flach und sehr klein; weder ihre riesige dreidimensionale Ausdehnung noch die freiräumlichen Tiefenunterschiede lassen sich visuell wahrnehmen. In einem geringeren Maße erscheinen uns auch die Gegenstände am Horizont flach und sehr klein, ihre Tiefenunterschiede entziehen sich unserem Gesichtssinn. 77 Die Himmelsebene als eine flache Grenzebene des Gesichtssinns lässt sich deutlich bei klarem Nachthimmel – mit den Erscheinungen des Mondes, der Planeten und Sterne (aber auch mit den fernen Wolken, die im Nordlicht farbig belichtet werden) – bemerken.

(h) Die Mondillusion Die Mondillusion ist bekanntlich eine klassische und jahrhundertelang tradierte Aporie in der visuellen Größenwahrnehmung, die bis heute keine hinreichende Erklärung gefunden hat. Der Mond erscheint am Horizont erheblich größer als hoch im Zenit am Himmel. Zwischen diesen Positionen des Mondes lässt sich eine graduelle Verkleinerung der (aufgehenden) Monderscheinung erfahren. Allerdings bezieht sich diese visuelle Illusion nicht nur auf den Mond, sondern – wenn auch im geringeren Maße – auch auf die Sonne sowie auf die Sternenkonstellationen am Himmel: »The apparent horizon enlargement of the moon is usually called the moon illusion, a term which became popular in the twentieth century. It has also sometimes been called the horizon illusion, but this is clearly less appropriate. A similar illusion can be observed for the sun, and it is normally called the sun illusion. This illusion is less well known to most people than the moon illusion, perhaps because the sun is usually too bright to observe with naked eye. However, the sun illusion was more frequently discussed than the moon illusion in the early literature. Although two different celestial bodies are involved, there seem to be no fundamental difference between the two illusions: they are therefore generally considered to be two examples of the same phenomenon. A third example is the apparent enlargement of the constellations and of the distances between the stars near the horizon. In the words of the astronomer Paul Stroobant (1884, p. 719): ›The same 77

PGPVR, S. 27–28, 149; vgl. auch RE, S. 32–33. (siehe Anmerkung 35)

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phenomenon exists for the constellations; thus the Great Bear and Orion, close to the horizon, appear enormous.‹ This form of the illusion is probably the least observed of the three, since fewer people give serious attention to the night sky. The term celestial illusion has been proposed to cover all three examples.« 78

Die obige Ausführung verdeutlicht, dass die in der Mondillusion dargestellte Aporie der visuellen Größenwahrnehmung ein allgemeines Phänomen bei allen Himmelserscheinungen ist. Diese Himmelsillusion ist zwar in erster Linie eine Illusion der visuellen Größenwahrnehmung, aber ihr Ereignis im Himmel erweckt auch eine andere verwandte Illusion, nämlich die der visuellen Distanzwahrnehmung der Himmelserscheinungen. Obwohl der Horizont von einem Beobachtenden auf der Erde im Vergleich zum Zenit, also dem bloß vertikalen Höhepunkt am Himmel, weit entfernt erscheint, erscheinen der Mond, die Sonne oder die Sternenkonstellationen am Horizont beträchtlich größer, was unserer gewöhnlichen Seherfahrung auf der Erde, in der die weit entfernten Gegenstände klein erscheinen, widerspricht. Dieser Illusion der visuellen Distanzwahrnehmung entsprechend, erscheint uns der Himmel flach gewölbt, wie eine flach gewölbte Kuppel, wobei er im Prinzip sphäroidisch gewölbt erscheinen müsste. Die flach gewölbte Erscheinung des Firmaments, durch die die oben erwähnten Himmelsillusionen zustande kommen, bildet die Basis für eine bekannte und durchaus aktuelle Theorie der Mondillusion, nämlich die These des abgeflachten Firmaments von Abu Ali Al-Hassan Ibn al-Haytham (c. 1039 n. Chr.). Dass die Beobachtung der Sonnen- oder Mondillusion und deren Erklärungsversuche eine sehr lange Geschichte haben, besagt, dass sie eine der frühesten tradierten Aporien in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ist. Die ältesten Referenzen der Sonnenillusion sind in verschiedenen orientalischen und okzidentalischen Kulturräumen – im 7. Jahrhundert v. Chr. in Ägypten, im 4. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland sowie im ersten und im zweiten Jahrhundert n. Chr. in China – zu finden. 79 Aristoteles versuchte das Phänomen der SonRoss, Helen E. & Plug, Cornelis: The Mystery of the Moon Illusion. Exploring Size Perception, Oxford University Press, Oxford 2002, S. 1. 79 Vgl. Ross, Helen E. & Plug, Cornelis: Historical Review, The Moon Illusion, ed. Maurice Hershenson, New Jersey 1989, S. 5–7. In ihren einführenden Bemerkungen über die Vorgeschichte der Mondillusion skizzieren Ross und Plug verschiedene Beobachtungen dieses optischen Phänomens – allerdings nicht der Mondillusion, sondern der analogen Sonnenillusion – im Orient und in Griechenland. Erwähnenswert 78

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nenillusion durch seine These der Refraktion zu erklären; aber zugleich vertrat der Philosoph die zu seiner Zeit in der Antike im Allgemeinen anerkannte Theorie der Sehstrahlen. Die aristotelische Theorie der Refraktion fand Resonanz bei den späteren antiken Theorien der Himmelsillusion in Griechenland und in Rom – insbesondere bei Claudius Ptolemäus. Die Renaissance dieser Theorien aus der Antike erfolgte zunächst im arabischen Kulturraum, vor allem durch die Werke von Farghani (9. Jahrhundert), Jabir ibn Aflah (12. Jahrhundert) und Ibn al-Haytham (11. Jahrhundert). 80 Besonders wichtig war Ibn al-Haytham (bekannt als Alhazen), dessen Theorie des abgeflachten Firmaments (flattened dome theory) in seinem Hauptwerk Optics einen großen Einfluss auf die frühneuzeitlichen Untersuchungen der Mondillusion ausübte. Die Renaissance und die Frühneuzeit griffen auf das Problem der Mondillusion zurück, welches seit der Antike und über das arabische und europäische Mittelalter hinaus ungelöst blieb. Verschiedene Lösungsversuche zu dieser Aporie wurden von vielen Philosophen und Wissenschaftlern der Optik in der Frühneuzeit (Descartes, Kepler, Galileo, Gassendi, Hobbes, Berkeley, Molyneux, Euler u. a.), aber auch von Künstlern oder Künstlerphilosophen wie Leonardo da Vinci unternommen. 81 Im 19. Jahrhundert wurde die

sind die Berichte aus China, die mit den antiken Beobachtungen der Himmelsillusionen, insbesondere von Ptolemäus, übereinstimmen: »Another early prescientific reference to the illusion occurs in Chinese manuscript of possibly the 1st or 2nd century AD. The author is claimed to be Lieh Tzu, an imaginary philosopher who supposedly lived during the 4th century BC. The document relates an apocryphal story about the philosopher Confucius, who found two boys arguing about the distance of the sun. One said that the sun was much larger at sunrise than at noon and must therefore be closer to us in the morning. The other answered that the sun is much hotter at noon and must therefore be closer to us in the middle of the day. Confucius was unable to solve the problem (Giles, pp. 68–69). This story indicates that the sun illusion was well known in China at the time of writing, and that the sun’s angular size was thought to be measurably enlarged, due to its being closer. […] The astronomical chapters of the official history of the Chin dynasty (256–420 AD), written in the 7th century under the supervision of emperor T’ai Tsung, contain a discussion by the scholar Ko Hung (283–343 AD) of the theory that the sun cannot be seen at night because it moves a great distance away from the earth. Ko Hung then argues (Ho Peng Yoke, 1966): ›If it is said that the sun can no longer be seen because it has gone a very great distance from us, then when the sun sets, on its way towards the north, its size should diminish. But, on the contrary the sun becomes larger at sunset. This is far from being proof that the sun is moving further away when it sets‹« Ebd. S, 6 und 8. 80 Ebd., S. 9. 81 Ebd., S. 10–15.

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Mondillusion von bekannten Philosophen, Mathematikern und Naturwissenschaftlern wie Carl Friedrich Gauß, Hermann von Helmholtz, Wilhelm Wundt u. a. zu interpretieren versucht. Die Aporie der Mondillusion basiert auf der bereits erörterten Variation der visuellen Größenwahrnehmung unabhängig von der Konstanz des Inputs, nämlich der Größe der Netzhautabbildung. Der groß erscheinende Mond am Horizont und seine relativ kleine Erscheinung hoch am Himmel lassen ein Netzhautbild entstehen, dessen Größe bzw. Durchmesser konstant bleibt. Dies impliziert, dass der visuelle Winkel, den die große Erscheinung des Mondes am Horizont und seine kleine Erscheinung hoch am Himmel mit dem Augenpunkt des Beobachters bilden, unverändert bleibt. Mit der Entwicklung der Photographie gegen Ende des 19. Jahrhunderts konnte diese Problematik unschwer demonstriert werden. »The horizon enlargement of the moon is so compelling that its illusory nature has to be pointed out repeatedly. The constant image size of the sun and moon can be demonstrated by photographs in addition to quoting astronomical measurements. Photographs were mentioned in this connection by Haenel in 1909. These illustrative devices sometimes inspire more confidence than the most accurate measurements. For example, following Luckiesh (1921), Hamilton (1964, p. 490) declared that ›since the invention of the camera, it has been proven that the moon is no larger at the horizon‹. This type of evidence was later published by Solhkhah and Orbach (1969) and by Walker (1978a). It consists of a print from a single negative, on which the rising moon or sun has been repeatedly photographed while keeping the camera in the same position, thus recording a series of (equally sized!) images over a period of time (Fig. 14, a. d. Verf.). 82

Die graduelle Verkleinerung des Mondes auf seinem Weg vom Horizont zum Zenit lässt sich mit bloßem Auge erblicken, aber photographisch nicht belegen. Die Konstanz der Netzhautabbildungsgröße des Mondes (oder der Sonne) verweist hier auf die Konstanz des Inputs im Sehvorgang, der allerdings eine Variation der wirklichen Erscheinungsgröße darstellt. Dies erregt den Verdacht, ob die Variation der visuellen Größenwahrnehmung in der Mondillusion innerlich bzw. Ross & Plug, The Mystery of the Moon Illusion, a. a. O., S. 59–60. Anschließend erklären die Autoren auch die photographische Täuschung in den geläufigen (photographischen) Darstellungen der Mondillusion: »Unfortunately the camera can also lie. Many postcards are on display showing grossly enlarged photographic images of the sun or moon. These pictures are usually taken with a telephoto lens, and show a distant horizon with the moon subtending the same angular size (half a degree) as a

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Figur 14

physiologisch-optisch entwickelt wird oder äußerlich im wirklichen Sehraum entsteht. Die visuell unmittelbar zu erfahrende Größenbuilding on the skyline. The reason the pictures are misleading is that they show no foreground, and therefore appear to represent a close shot of near buildings but with the moon subtending the same angular size as a near building. (…) Alternatively, if a standard lens is used and the foreground is shown to scale, a separate image of the enlarged moon can be superimposed on the horizon scene (Fig. 15, a. d. Verf.).« Ebd., S. 60–61.

Figur 15

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variation des Mondes und deren konstante Netzhautabbildungsgröße sprechen vielmehr für letzteres. Die Mondillusion verdeutlicht wie keine andere Virtualitätswahrnehmung die Zweiteilung zwischen dem innerlich-physiologischen und dem äußerlichen geometrischoptischen Prozess des Sehens. Gemäß dieser Zweiteilung des Sehvorgangs, auf der die Aporie der Mondillusion beruht, gab es in der Geschichte verschiedene Lösungsversuche, die sich entweder auf den innerlichen psycho-physiologischen Teil des Sehvorgangs beschränkten oder sich darüber hinaus auf den äußeren geometrisch-optischen Teil bezogen. Die jahrhundertelang tradierte Theorie der Refraktion von Ptolemäus ist ein treffendes Beispiel für einen Erklärungsversuch innerhalb des äußeren geometrisch-optischen Teils des Sehvorgangs und anhand eines dioptrischen Lichtphänomens. In der Neuzeit aber neigte man in Anlehnung an den kartesischen Subjektivismus eher zu interdisziplinären Erklärungen bzw. zu physiologischen und psychologischen »Cues«, die die Mondillusion als eine optische Virtualität erzeugen würden. Die bereits in der Neuzeit eingeführte und bis heute debattierte These der dazwischenstehenden Objekte erklärt die psychophysiologische Erzeugung der Mondillusion als eine optische Virtualität. Nach dieser These suggerieren die Sehobjekte auf einer horizontalen Ebene zwischen dem Auge und dem Mond am Horizont die optische Illusion der vergrößerten Monderscheinung. Zu dieser Betrachtungsweise gehört auch die allgemein bekannte These der perspektivischen Illusion. Beim Sehen des Mondes hoch am Himmel fehlen diese »Cues«, die angeblich die vergrößerte visuelle Erscheinung des Mondes oder der Sonne am Horizont suggerieren. Allerdings lassen sich die Zwischenobjekte als »Cues« methodisch negieren, ohne dass dabei die Mondillusion am Horizont verschwindet. In seiner Abhandlung An Essay towards a New Theory of Vision beschreibt Berkeley einen derartigen experimentellen Versuch: »Many attempts have been made by learned men to account for this appearance. Gassendus, Descartes, Hobbes, and several others have employed their thoughts on that subject; but how fruitless and unsatisfactory their endeavours have been is sufficiently shewn in The Philosophical Transactions, where you may see their several opinions at large set forth and confuted, not without some surprise at the gross blunders that ingenious men have been forced into by endeavouring to reconcile this appearance with the ordinary Principles of optics. Since the writing of which there hath been published in the Transactions another paper relating to the same affair by the

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celebrated Dr. Wallis, wherein he attempts to account for that phenomenon which, though it seems not to contain anything new or different from what had been said before by others, I shall nevertheless consider in this place. His opinion, in short, is this; we judge not of the magnitude of an object by the visual angle alone, but by the visual angle in conjunction with the distance. Hence, though the angle remain the same, or even become less, yet if withal the distance seem to have been increased, the object shall appear greater. Now one way whereby we estimate the distance of anything is by the number and extent of the intermediate objects: when therefore the moon is seen in the horizon, the variety of fields, houses, etc., together with the large prospect of the wide extended land or sea that lies between the eye and the utmost limb of the horizon, suggest unto the mind the idea of greater distance, and consequently magnify the appearance. And this according to Dr. Wallis, is the true account of the extraordinary largeness attributed by the mind to the horizontal moon at a time when the angle subtended by its diameter is not one jot greater than it used to be. With reference to this opinion, not to repeat what hath been already said concerning distance, I shall only observe, first, that if the prospect of interjacent objects be that which suggests the idea of farther distance, and this idea of farther distance be the cause that brings into the mind the idea of greater magnitude, it should hence follow that if one looked at the horizontal moon from behind a wall, it would appear no bigger than ordinary. For in that case the wall interposing cuts of all that prospect of sea and land, etc. which might otherwise increase the apparent distance, and thereby the apparent magnitude of the moon. Nor will it suffice to say the memory doth even then suggest all that extent of land, etc., which lies within the horizon; which suggestion occasions a sudden judgment of sense that the moon is farther off and larger than usual.« 83

Auch ohne einen solchen experimentellen Versuch lässt sich die Unangemessenheit der wallischen These, gegen die Berkeley polemisiert, nachvollziehen. In einer Stadt oder auf dem Land erscheint der Mond am Horizont hinter mehreren Gegenständen wie Häuser, Straßen, Felder, Bäume, Berge usw. Aber wenn wir am Strand stehen und den Mondaufgang oder Sonnenuntergang am Horizont beobachten, gibt es außer einer flachen horizontalen Ebene des Wassers keine Zwischenobjekte, die die Mond- oder Sonnenillusion (die wir in diesem Fall unmittelbar und deutlich sehen können) suggerieren können. Wichtig ist hier zu bemerken, dass Wallis’ Vorstellung von einem natürlichen Nexus zwischen der visuellen Größenwahrneh83

Berkeley, a. a. O., S. 34–35.

140 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

mung und der wirklichen Distanz des Sehobjekts vom Auge die außerleibliche Ausbreitung des Gesichtssinns deutlich impliziert. »We judge not of the magnitude of an object by the visual angle alone, but by the visual angle in conjunction with the distance. Hence, though the angle remain the same, or even become less, yet if withal the distance seem to have been increased, the object shall appear greater.« Beim gewöhnlichen Sehen erscheint uns die Größe eines weit entfernten Objekts immer kleiner. Die Vorstellung von Wallis entspricht der Erscheinungsweise des Mondes auf einer visuellen Grenzebene. Wenn Wallis beobachtet, dass mit der Entfernung des Monds am Horizont – die eine wirkliche Entfernung ist und als solche von Zwischengegenständen nicht suggeriert zu werden braucht – seine Erscheinung größer wird, auch wenn der Sehwinkel unverändert bleibt oder – im Falle der Mondillusion am Horizont – kleiner wird, stellt er stillschweigend die wirkliche geometrisch-optische Basis der Mondillusion – und zwar deren außerleibliche Existenzweise – fest. Denn sowohl der Sehwinkel als auch die Distanz des Sehobjekts bezieht sich unmittelbar auf die orthogonalen bzw. auf die vom Gegenstand reflektierten und auf den Augenpunkt konvergierenden wirklichen Lichtstrahlen und demnach auf die wirkliche außerleibliche Ausbreitung des Gesichtssinns. Wallis verweist in seiner Bemerkung zwar nicht auf die wirkliche Entfernung des Mondes am Horizont, sondern auf die Suggestion der Entfernung des Sehobjekts durch die Zwischengegenstände. Aber in Wirklichkeit befindet sich der Mond am Horizont in einer größeren Entfernung als seine scheinbare Position am Firmament. Allerdings ist die unmittelbar gesehene Tiefe weit entfernter Gegenstände wie Himmelskörper nicht auf ihre wirklichen Distanzen angewiesen. Dennoch scheint die von Wallis vorgestellte Suggestion der Größe durch die Entfernung des Mondes eine gewisse Präformation oder -existenz der vorher erörterten visuellen Grenzebene vorauszusetzen, die sehr wahrscheinlich durch unsere visuelle Gewöhnung an die uns umgebende Natur zustande kommt. Wenn in Anlehnung an Wallis das Faktum der Distanz der Himmelserscheinungen zu ihrem Sehvorgang – insbesondere zu der visuellen Größenwahrnehmung – hinzugefügt wird, ergibt sich daraus eine gewisse Formhaftigkeit der wirklichen Grenzebene des Sehraumes, die für uns – die Betrachter – zugleich durch die Distanz und durch die Größe der Himmelserscheinungen erkennbar wird. Die bekannteste These zur Mondillusion, die sich unmittelbar auf eine derartige Grenzebene des 141 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Sehens bezieht, stammt von dem arabischen Astronomen Ibn alHaytham (Alhazen) im 11. Jahrhundert, nämlich die These des abgeflachten Firmaments: »One of the most popular theories of the moon illusion relates the horizon enlargement of the celestial bodies to the perceived form of the sky. Many people see the sky as a flattened, dome-shaped surface. If the celestial bodies are seen as moving along this surface, then the sun and moon should appear closer at higher angles of elevation than towards the horizon. But a close object of a given angular size is smaller than a distant object of the same angular size. Therefore the sun and moon should appear smaller overhead than on the horizon.« 84

Dieser Betrachtung ist zu entnehmen, dass die Himmelsebene, auf der sich der Mond und die Sonne bewegen und dabei die Illusion der Größenvariation erzeugen, eine visuelle Grenzebene ist; sie ist allerdings keine wirkliche, sondern eine virtuelle Ebene. Ebenso sind die weit entfernten Erscheinungen des Mondes und anderer Himmelskörper virtuelle Erscheinungen, indem sie von den wirklichen Gegenständen getrennt erscheinen. Die unermessliche Entfernung dieser Himmelskörper lässt sich visuell nicht erfahren, denn das unmittelbare Sehen reicht nur bis zu einer gewissen Grenze; gemäß der Variation dieser Distanz erscheint uns die visuelle Grenzebene als ein flaches Firmament. Die äußerst kleinen Erscheinungen der Himmelskörper (im Vergleich zu ihren beträchtlichen Größen) auf der visuellen Grenzebene lassen sich auf ihre sehr kleine Abbildung auf der Augennetzhaut und auf die relativ geringe Distanz, die das Sehfeld erreichen kann, zurückführen. Nun lautet die Frage, ob unsere visuelle Grenzebene in Form vom abgeflachten Firmament, die scheinbar durch eine geometrisch-optische Gesetzmäßigkeit entsteht, und auf die die Mond- und Sonnenillusion zurückzuführen ist, eine wirkliche oder eine virtuelle Erscheinung ist. Die ursprüngliche Theorie des abgeflachten Firmaments von Alhazen bezieht sich aber auf keine wirkliche, sondern auf die durch die Zwischenobjekte suggerierte visuelle Distanzwahrnehmung des Mondes am Horizont: »The flattened dome theory was first clearly formulated by the Arab scientist Ibn al-Haytham (c. 1039) in his Optics, though it was repeated in very similar terms by the thirteenth-century writers Bacon, Pecham, and Witelo. The part on the moon illusion consists of several pages of repetitive discourse. The passage can be summarized as follows. The size of an object is 84

Ross & Plug, a. a. O., S. 99.

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

judged by combining its visual angle with its known distance. The distance can be properly judged only if the observer can see an uninterrupted sequence of intervening bodies between himself and the object. When looking up at the sky there are no intervening objects – we perceive only an expanse of colour. This appears to us like a blue surface. Because we are familiar with plane surfaces such as walls, the sky is seen as a flat plane extending in all directions. Such a plane must appear closer directly overhead than towards the horizon. The celestial bodies appear to move along this plane and are therefore judged to be further away when on the horizon than when overhead; consequently they are seen as larger on the horizon.« 85

Alhazen und die späteren Vertreter der Theorie des abgeflachten Firmaments gehen davon aus, dass die Zwischenobjekte dem Beobachter beim horizontalen Sehen zugleich die Wahrnehmung größerer Entfernung des Mondes am Horizont und demnach seine größere Erscheinung suggerieren. Zwischen diesen beiden Suggestionen gibt es jedoch einen wesentlichen Unterschied. Die erste Suggestion der Distanz – durch die Zwischenobjekte und durch die Perspektivität des Sehraumes, an der sie sich beteiligen – ist vielmehr ein rein psychologisch-optisches Phänomen, wogegen die zweite Art der Suggestion, bei der die Distanzwahrnehmung das Subjekt zu der entsprechenden Größenwahrnehmung veranlasst, primär eine wirkliche geometrischoptische Konstruktion ist. Denn beim wirklichen bzw. unmittelbaren Sehen suggeriert die Distanz des Sehobjekts die Verkleinerung seiner Erscheinung (wie die Bäume auf einer weit entfernten Anhöhe oder ein Schiff am Horizont). Dies würde bedeuten, dass unser unmittelbarer Sehraum – abgesehen davon, ob er lediglich neuronal konstruiert wird oder sich wirklich außerleiblich ausdehnt – zweierlei gegenständlichen Prinzipien der Optik unterworfen ist. Wenn wir es aber für keine theoretische Unzulässigkeit halten, von der unmittelbaren visuellen Erfahrung der Mond- oder Sonnenillusion auszugehen, wäre daraus zu folgern, dass der geometrisch-optischen Struktur und Gesetzmäßigkeit der Mondillusion – gemäß der Theorie des abgeflachten Firmaments – eine wirkliche außerleibliche Ausdehnung des Gesichtssinns zugrunde liegt. Es ist die wirkliche Formhaftigkeit bzw. Ausdehnung der Grenzebene des Sehens, die die Mond- oder Sonnenillusion bzw. die größere Erscheinung dieser Himmelskörper Ross & Plug, a. a. O., S. 99–100. Vgl. auch Ross & Plug (ed: Hershenson), a. a. O., S. 17. »Ibn al-Haytham, and the medieval authors following him, argued that intervening objects towards the horizon cause the sky appear flattened, which in turn causes the moon and sun to appear further, and therefore larger, on the horizon.«

85

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

am Horizont und ihre graduelle Verkleinerung am Firmament erzeugt. Die Mondillusion bezieht sich nicht nur auf den klaren Größenunterschied zwischen dem Mond am Horizont und dem im Zenit, sondern auch auf die graduelle Verkleinerung der Erscheinungsgröße des Mondes auf seinem Weg vom Horizont zur Höhe des Himmels – entlang einer annähernd elliptischen Bahn auf einer ebenso elliptischen Innenebene der Firmaments (wie in der Figur 17 dargestellt und unmittelbar gesehen wird). Dass dieses gesamte Geschehen der Mondillusion auf der Himmelsebene der geometrischen Formhaftigkeit der Sichtbarkeit dieser Ebene – als eine abgeflachte Kuppel – und, daran anschließend, den visuell unmittelbar zu erfahrenden Distanzvariationen – zwischen dem Auge des Betrachters und der Erscheinung des sich vom Horizont zum Zenit bewegenden Mondes – geometrisch-optisch entspricht, spricht für ein wirkliches bzw. außerleibliches Ereignis der Mondillusion als ein geometrisch-optisches Phänomen. Die beobachtete Form des Himmels scheint unmittelbar gegeben zu sein; sie wird nicht durch die Zwischengegenstände, die nur beim horizontalen Sehen vorkommen, suggeriert. Das Faktum der Zwischenobjekte kann hier leicht negiert werden, ohne dass dabei weder die sichtbare Form des Himmels als eine abgeflachte Kuppel, noch die Mond- oder Sonnenillusion verschwindet. Auch wenn wir die ganze Zeit hinter einer Mauer stehen, die die Sichtbarkeit aller Zwischenobjekte bis zum Horizont blockiert (wie Berkeley es vorgeschlagen hat), und wir den Weg des Mondes vom Horizont bis zum Zenit bei klarem Himmel verfolgen, ist es möglich, die Mondillusion bzw. die graduelle Verkleinerung der Monderscheinung zu erfahren. Im Zentrum einer riesigen Ebene stehend, würde uns der Abendhimmel, in dem die stillen und entfernten Wolken durch das Nordlicht farbig belichtet werden, deutlich in der Form einer abgeflachten Kuppel erscheinen. Ebenso erscheint der klare Nachthimmel ohne die Sichtbarkeit der irdischen Gegenstände zwischen uns und dem Horizont in der Form eines flachen Doms, indem wir die auf einer Himmelsebene ausgebreiteten Erscheinungen der Himmelskörper – des Mondes, der Planeten und Sterne – zusammen erblicken. 86 Wenn wir am Ufer eines Meeres oder im Zentrum einer riesigen Ebene – Felder, Seen oder sogar Spielplätze – stehen, sehen wir den Abend- oder Nachthimmel deutlich als eine abgeflachte Kuppel. Z. B. vom Zentrum einer riesigen Grünfläche wie Parker’s Piece in Cambridge erscheint ein wolkiger Abendhimmel, der durch das

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

Die sichtbare Form des Himmels als eine abgeflachte Kuppel – auch ohne besondere Berücksichtigung der Himmelsillusionen –, in der wir die Himmelserscheinungen am Horizont gegenüber denen hoch im Zenit weit entfernt sehen, würde bedeuten, dass die Ausdehnung der Grenzebene unseres Sehraumes bereits präformiert ist, was im Grunde die Form der sichtbaren Himmelsebene mit zerstreuten Erscheinungen von Himmelskörpern sowie Himmelsillusionen bestimmt oder sogar veranlasst. Die Entwicklung einer derartigen Form der unermesslich ausgedehnten Grenzebene des Sehens ließe sich auf unsere alltägliche Gewöhnung zurückführen. Der Mensch sieht gewöhnlich frontal und meistens horizontal. Wir stehen, laufen und sitzen (allesamt die häufigsten Körperpositionen im Alltag) mit aufrecht gehaltenem Leib und frontal und horizontal gerichteten Augen im Gesicht. Aufgrund der Gravitation stehen wir immer senkrecht; auch sitzen wir mit senkrechtem Oberkörper. Die meisten Erscheinungen auf der Erde sind aufgrund der Gravitation senkrecht – so wachsen die Bäume senkrecht und die Maurer setzen Stein auf Stein, dem Gesetz der Gravitation gemäß, senkrecht aufeinander. Deshalb stehen alle Bäume, alle Naturerscheinungen sowie die von Menschen geschaffenen Bauten senkrecht auf dem Boden und uns, die auch senkrecht auf dem Boden stehen, frontal gegenüber. Im Unterschied zu den meisten Tieren, Fischen und auch Vögeln hat der Mensch einen besonderen Körperbau: Er steht aufrecht auf zwei Füßen, der Kopf wird hoch gehalten, die Augen sind nicht – wie bei den meisten Tiere – nach unten Nordlicht farbig belichtet wird, nicht als eine sphäroidisch gewölbte, sondern als eine abgeflachte bzw. annähernd ellipsoidisch gewölbte Kuppel, indem sich die Wolken am Horizont gegenüber den Wolken hoch am Himmel nur weit entfernt erblicken lassen. Ebenso erscheint ein klarer Nachthimmel (wenn alle dazwischenstehenden Objekte zwischen Horizont und uns unsichtbar sind) mit dem Mond, den Planeten und den Sternen wie eine abgeflachte Kuppel. Wenn wir die überall erscheinenden Himmelskörper mit imaginären Linien verbinden, sehen wir ein Netz von Himmelserscheinungen, die wie auf der Innenebene des abgeflachten Firmaments zerstreut erscheinen. Allerdings erscheint uns auch ein klarer blauer Tageshimmel in der Form einer abgeflachten Kuppel. Am Horizont sehen wir den blauen Himmel weit entfernt, wogegen die blaue Grenzebene des Himmels über unserem Kopf relativ nahe erscheint. Im Prinzip sollte die blaue Grenzebene des Himmels (die durch die Dispersion des Lichts in dem freien Luftraum zustande kommt) uns als eine sphäroidische Wölbung – mit einer konstanten radialen Distanz – erscheinen. Diese unmittelbaren empirischen Beobachtungen scheinen die tradierte These des abgeflachten Firmaments in Bezug auf die Himmelsillusionen unter allen Umständen zu unterstützen.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

zur Erde gerichtet, sondern blicken, der senkrechten Position des Körpers gemäß, horizontal. Darüber hinaus sind beide Augen im Kopf frontal positioniert. Bei Tieren, Fischen und Vögeln befinden sich die Augen meistens nicht frontal, sondern seitlich am Kopf. Die frontale Positionierung der Augen im Kopf ermöglicht dem Menschen die stereoskopische Vision, die die optische Raumwahrnehmung weitgehend vervollkommnet.

Figur 16 87

Wie die Figur 16 zeigt, begegnen wir in unserem Leben meistens senkrechten Erscheinungen, die auch wegen der senkrechten Positionierung unseres Körpers und Kopfes beim Stehen oder Sitzen – sowie bei der Bewegung – und wegen der frontal gerichteten Augen immer im Aufriss, und zwar in perspektivischer Frontalität und Tiefe, angeschaut werden. Wegen der Gravitation und unseres besonderen Körperbaus werden die meisten senkrechten Erscheinungen auf der Erde durch die Augenlinsen, die senkrecht stehen und frontal gerichtet sind, auf der Netzhaut abgebildet. Das Netzhautbild stellt sich demnach in der geometrisch-optischen Struktur des Sehens senkrecht und frontal dar, und die Augenachsen meistens horizontal. Der Mensch, der sich auf der Erde befindet und im Zuge seiner Entwicklung eine frontal-perspektivische Anschauung angewöhnt hat, entwickelt eine andere Raumwahrnehmung als die Vögel, insbesondere die Raub- und Zugvögel, die die Erscheinungen auf der Erde meistens nicht im Aufriss, sondern im Grundriss sehen und bei denen die Augen nicht frontal, sondern seitlich gerichtet sind. Während wir uns 87

PGPVR, S. 124. (siehe Anmerkung 35)

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eine vorwiegend horizontale Distanzwahrnehmung angewöhnt haben, lernen diese Vögel die vertikale Distanz, also die Tiefe der im Grundriss sichtbaren Erscheinungen auf der Erde viel präziser wahrzunehmen, damit sie sich räumlich und zeitlich beim Landen oder beim Schlagen der Beute richtig orientieren können. Der Mensch, der an eine frontal-horizontale Distanzwahrnehmung gewöhnt ist, findet es schwierig, z. B. als Pilot bei der Landung eines Flugzeugs die vertikale Distanz, in dem Fall die Tiefe des Erdbodens, richtig einzuschätzen. James J. Gibson erläutert diesen besonderen Fall, der vor allem im zweiten Weltkrieg verschiedene psychologische Forschungsprogramme veranlasste und schließlich zur Bodentheorie des visuellen Raumes führte: »Zu Beginn des zweiten Weltkrieges wurde plötzlich ein besseres Verständnis der Raum- und Distanzwahrnehmung dringend erforderlich, weil es für das Flugwesen von Bedeutung war. Besonders die gefährliche Aufgabe des Piloten, bei der Landung eines Flugzeugs Entfernungen vom Erdboden zu schätzen, war von Wichtigkeit. Auf der Basis dessen, was den Psychologen bereits von den großen Experimenten des 19. Jahrhunderts her bekannt war, wurden Forschungsprogramme eingeleitet und in vergrößertem Umfang Studien zur Raumwahrnehmung betrieben. Aus den früheren Experimenten hatte sich eine Aufstellung von Daten oder Kriterien für die Distanzwahrnehmung eines Objekts ergeben, die man übernahm. Die Kriterien wurden als monokular oder binokular klassifiziert, je nachdem, ob sie vom Gebrauch eines oder zweier Augen abhingen.« 88

Der Pilot im Flugzeug, der langsam landet, kann die intervenierenden Objekte auf der Erde zwischen seinem Auge und der Landebahn nicht derart horizontal sehen, wie er auf dem Erdboden den Horizont durch alle Zwischenobjekte hindurch und zwar horizontal zu erblicken vermag. Beim Landen des Flugzeugs sieht er die Objekte auf der Erde zwar in einer schrägen Perspektive, er sieht sie aber vornehmlich im Grundriss; der wichtigste Gegenstand zwischen dem Auge und der Landebahn ist daher der Freiraum, der – als ein rein ausgedehntes Nichts – im Unterschied zu materiellen Objekten keine zuzügliche Tiefenwahrnehmung suggerieren kann. Demnach ist der Pilot im Flugzeug kaum imstande, die schräge, aber vielmehr vertikale Entfernung zum Erdboden einzuschätzen – im Vergleich zu seiner weit entfernten horizontalen Tiefenwahrnehmung beim Sehen auf der Erde.

88

Gibson, a. a. O., S. 23–25.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Alle diese Betrachtungen veranschaulichen, dass die lange Gewöhnung an das horizontale und frontale Sehen auf der Erde das menschliche Auge dazu veranlasst, eine besondere Form seines Sehraumes bzw. seiner visuellen Grenzebene zu konstruieren, bei der sich die horizontale Tiefenwahrnehmung gegenüber den lediglich vertikalen und dazwischen liegenden schrägen Tiefenwahrnehmungen weit entwickelt. Der Grund dafür wäre die vorher erörterte Intensivierung des Sehraumes; bei der natürlichen Gewöhnung an das horizontale Sehen könnte sich eine weitreichende Intensität des Sehraumes entwickeln, was die höchste Tiefe der visuellen Grenzebene auf einer horizontalen visuellen Ebene erzeugt. Dagegen scheint das mühsame und seltene bzw. nicht gewohnte vertikale Sehen sehr eingeschränkt zu sein bzw. an Intensität der Tiefenwahrnehmung zu verlieren. Folglich kann die visuelle Grenzebene keine große Tiefe erlangen. Die Gradation der visuellen Tiefenwahrnehmung von der horizontalen zur vertikalen Ebene des Sehens bildet sodann die gesamte, eher präfigurierte Ausdehnung des Sehraumes und der visuellen Grenzebene, belegt am ehesten durch die unveränderte sichtbare Form des Himmels als eine abgeflachte Kuppel. Zwar tragen die dazwischen stehenden Objekte und das stereoskopische Sehen zu der visuellen Tiefenwahrnehmung bei, aber sie bilden höchstens die sogenannten »Cues«, die das wesentliche Faktum, nämlich die visuelle Tiefenwahrnehmung, ursprünglich nicht erzeugen, sondern nur eine bereits vorhandene Tiefenwahrnehmung modifizieren. Wenn wir den unmittelbaren Umgang unseres Sehraumes, in dem alle Sehobjekte mit annähernd richtiger Größe, Solidität und Entfernung sowie die Ausdehnung des Freiraumes sehr präzise wahrgenommen werden, mit der wirklichen visuellen Grenzebene, auf der die Himmelskörper erscheinen, vergleichen, erkennen wir, dass die oben erörterte Intensität des Sehraumes, die sich orthogonal in der Tiefe des Sehraumes vermindert, auf der visuellen Grenzebene vollkommen verschwindet. Aus einem derartigen Limes der stetigen Verminderung der Intensität des Sehraumes soll dann die unmittelbare visuelle Grenzebene, auf der sich weder die Solidität noch die Distanzunterschiede der Sehobjekte (bzw. der Himmelskörper) wahrnehmen lässt und über die hinaus sich der Sehraum nicht ausdehnt, wirklich entstehen. Was wäre die Wirklichkeit bzw. wirkliche Phänomenalität einer derartigen orthogonalen Verminderung der Intensität des Sehraumes und ihres vollkommenen Verschwindens, woraus sich die unmittelbare visuelle Raumwahrnehmung und die visuelle 148 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

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Grenzebene ergeben? Dies kann offensichtlich nicht durch die wirklichen Lichtstrahlen, die unermessliche Entfernungen erreichen können, sondern offenbar eher durch die Sehstrahlen, die beim Sehen mit den Lichtstrahlen eine strukturelle Einheit bilden (wie bereits erörtert wurde), zustande kommen. Denn es ist plausibel anzunehmen, dass die projektiven Sehstrahlen – abgesehen von ihrem wahren Existenzmodus als ein rein subjektives oder physikalisch-materielles Phänomen –, die den Sehraum orthogonal durchdringen, in größeren Entfernungen an Stärke und Intensität verlieren und folglich eine visuelle Grenzebene konstruieren. Die Existenz der Sehstrahlen war eine allgemein anerkannte Grundvorstellung in der antiken Optik. Die Aussendung der Sehstrahlen vom Auge und ihre strukturelle Einheit mit den physikalischen Lichtstrahlen, aus dem sich der Sehvorgang entwickelt, wurden von Platon im Timaeus vorgestellt und erörtert. 89 Die vor- und nachplatonischen Theorien des Sehens (von Pythagoras, Aristoteles, Euklid, Ptolemäus u. a.), obwohl sie sich in ihrer Feststellung der Rezeptivität (vom Objekt zum Auge) oder der Projektion (vom Auge zum Objekt) unterscheiden, implizieren die Existenz einer medialen Verbindung zwischen dem Auge und den Sehobjekten. Bei Euklid, Aristoteles und Ptolemäus wird versucht, die Himmelsillusion – insbesondere die Sonnenillusion – auf die Produktion und Projektion der Sehstrahlen zurückzuführen. Die Grundthese lautet: Die Anstrengung des Auges beim Blick nach oben zum Himmel erschwert den unbehinderten Fluss der Sehstrahlen aus dem Auge; folglich vermögen die Sehstrahlen im Vergleich zu dem Fall, in dem wir mühelos horizontal aufblicken, nicht weit zu reichen. Das Ergebnis dieser augenoptischen Anstrengung ist die kleinere und relativ nähere Erscheinung der Sonne oder des Mondes hoch am Himmel, was offensichtlich der einfachen geometrisch-optischen Struktur des Sehraumes unterworfen ist: »Ptolemy has been credited also with a completely different explanation of the moon illusion. This appears in a book entitled the Optics (Ptolemy, 2nd cent. AD), which exists only as a 12th-century translation by Eugene of Sicily into medieval Latin, from an Arabic translation of what was presumably a Greek original. It is not clear how much of the contents were written by Ptolemy and how much is later additions. Plato: Timaeus, trans. Donald J. Zeyl, in: Plato. Complete Works, ed. John M. Cooper, Hackett Publishing Company, Indianapolis 1997, S. 1248 (45 b-e).

89

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

The passage relating to the moon illusion states (Ross & Plug, 1976): ›For since it is a universal law that, when the visual ray strikes objects of sight in unnatural and unusual conditions, it has a reduced sensation of all their characteristics, similarly it will have a reduced sensation of the distance which it covers. This would seem to be why, amongst objects in the sky which subtend equal angles between the visual rays, those near the point above our head seem smaller, whereas those which are near the horizon are seen differently and under normal conditions. But objects high in the sky seem small because of the unusual conditions and the difficulty of the action. (p. 379).‹ There are substantial difficulties in interpreting this passage (Ross & Plug, 1976). In terms of the visual ray theory of vision it might mean the following. When looking upwards, and in other unusual viewing conditions, it is more difficult to push one’s visual rays out to the object being observed. This is in line with Aristotle’s claim (ca. 322 BC/1962, p. 478) that illness makes it more difficult to push one’s visual rays out. Because of this difficulty, all visual sensations, including those of size and distance, are reduced (for a reason that is not stated). An object overhead, when compared to another of the same angular size seen in a horizontal direction, will therefore appear nearer and smaller.« 90

Figur 17 91

90 91

Ross & Plug, The Moon Illusion (ed. Hershenson), a. a. O., S. 8–9. Ross & Plug, The Mystery of the Moon Illusion, a. a. O., S. 100.

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In ihrem Kommentar zu dieser erstaunlichen Betrachtung von Ptolemäus weisen Ross und Plug darauf hin, dass die ptolemäische Erklärung keine genaue Erklärung für die reduzierte Größen- und Distanzwahrnehmung der Himmelskörper hoch am Himmel gibt (»for a reason that is not stated«). Aber der Grund für die Größenund Distanzreduktion der Himmelserscheinungen ist in der ptolemäischen Erklärung sehr deutlich impliziert. In dem unnatürlichen Zustand des Sehens, bzw. beim mühsamen Sehen nach oben, vermögen die vom Auge projizierten Sehstrahlen – aufgrund der körperlichen bzw. äugigen Anstrengung – im Vergleich zu dem normalen und mühelosen Blicken zum Horizont nicht weit zu reichen; folglich bilden die Sehstrahlen geometrisch-optisch nähere und kleinere Himmelserscheinungen hoch am Himmel. Die der ptolemäischen Erklärung zugrunde liegende geometrisch-optische Formhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit unseres außerleiblichen Sehraumes stimmt im Grunde mit der geometrisch-optischen Darstellung der Theorie des abgeflachten Firmaments (Figur 17) überein, indem die Sehstrahlen, die vom Horizont zur Höhe des Himmels stets kürzer werden, durch ihre unterschiedlichen Distanzen der Durchdringung im Himmelsraum sowohl die Gradation der Verkleinerung der Himmelserscheinungen – vom Horizont zur Himmelshöhe – als auch (dementsprechend) die abgeflachte Form des Himmels bzw. der Grenzebene des Himmels erzeugen. Viele experimentelle Sehübungen, die seit der Frühmoderne bis zu unserer Gegenwart durchgeführt worden sind, berichten vom Verschwinden der Mondillusion bei der Anstrengung des Sehens. In vielen geläufigen und populären Berichten über die Mondillusion wird darauf verwiesen, dass die Illusion verschwindet, wenn man den Mond in einer ungewöhnlichen Position des Kopfs bzw. umgekehrt durch die eigenen Beine sieht: »It has often been noticed that inverting the head makes objects look smaller and reduces the horizon enlargement of the moon. Some authors have put this down to proprioceptive effects, and others to changes in the visual scene when inverted. Sanford (1898, pp. 211–12) commented that colours appear distorted, and that distances may appear either enhanced or reduced. Some authors have commented on the resulting size-distance paradox. For example, Angell (1932) remarked: ›More pronounced is the effect of gazing with head inverted; objects appear decidedly smaller and likewise farther away, the latter probably a »secondary illusion« which connects smaller size with greater distance.‹ The effect was also reported by Meili (1960), who

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

noted that the perceived enlargement of distant hills was much less when tilting the head or looking through one’s legs: he argued that this was because size constancy depended on the presence of a good gestalt, or wellstructured visual scene, and tilting the head somehow changed this. Coren (1992) made a rather similar point: he argued that an inverted pictorial scene reduces the ›salience‹ of depth cues, and depth cues rather than proprioceptive factors were the cause of the moon illusion. Explanations involving an inverted visual scene have even crept into modern popular literature, as in a novel by Atkinson (1997). Boring (1943) also commented that the horizon moon was much diminished when viewed through one’s legs, and ascribed this to changes in the angle of regard or the vestibular system. […] The effect of various bodily postures was first investigated by Gauss (1880). Gauss found that when his body was tilted backwards so that the elevated moon shone in his face, the moon appeared larger than when he looked up by tilting his head and turning his eyes up. Thus movements of the head and eyes seem to be implicated, though Gauss’s limited observations cannot be conclusive. Later investigators have repeated Gauss’s experiment rather more formally, with several observers. Reimann (1902b, 1904) made numerous estimates of the sizes of the sun and moon from various bodily positions, but neither he nor any of his observers found any effects of posture. However, Zoth (1902), using 50 observers, confirmed Gauss’s results.« 92

Ein anderes häufig versuchtes Experiment in der Frühmoderne war das Anschauen des Mondes am Horizont durch ein Rohr. Bei dieser Sehübung wurde wahrgenommen, dass die Mondillusion am Horizont verschwindet: »During the seventeenth century authors began to speculate about the outcome of ›tube‹ experiments: what would happen to the perceived size of the horizon sun or moon if the surrounding objects were blocked from view? The idea for a tube experiment may have come from a statement about atmospheric effects by the Greek astronomer Cleomedes, around the third century AD: ›It is also said that where it is possible to view the sun from deep wells, its appearance is much larger since it is seen through the humid air of the well.‹ Riccioli’s contribution (1651) is of interest, because he seems to have been one of the first to suggest an experiment. He disbelieved in the importance of intervening objects. He noted: »If you observe the rising or setting sun in your bedroom or garden in such a way that a hedge or wall or lower edge of the window prevents all view of the intermediate space up to the horizon, and that you see nothing else but the sun, you will however see it as immensely greater than when far from the horizon.« 92

Ebd., S. 171–172.

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Other authors suggested looking through a tube to remove the effect of intervening or surrounding objects. The contributions of Molyneux (1687) and Goüye (1700) were mentioned in Chapter 7: Molyneux asserted that the illusion remained, Goüye that it disappeared. […] The outcome of a genuine tube experiment is important for theories of the illusion. If the illusion is eliminated when the horizon moon is viewed through a tube, the enlargement must be due to intervening or surrounding objects – that is, to perceived distance or to relative size, or to luminance or colour contrast. If the illusion remains at full strength, it must be due to one or more other factors. If it occurs, but at reduced strength, it must be due to a combination of factors that includes the visual surrounds. Despite the importance of the experiment, there was no agreement among early authors on its outcome. […] The effects reported are, of course, generally in line with the authors’ main explanation for the illusion. On the whole, those observations that are apparently genuine suggest that the illusion is eliminated or much reduced when the horizon moon is viewed through a reduction tube.« 93

Bei diesen visuellen Experimenten war die Funktion des Rohres, durch das der Mond am Horizont angeschaut wurde, die effektive Eliminierung der intervenierenden Objekte zwischen dem Horizont und dessen Betrachter. Aber die intervenierenden Objekte beim Anblicken des Mondes am Horizont lassen sich beim natürlichen Sehen eliminieren, ohne dass dabei die Mondillusion verschwindet – wie das oben erörterte Experiment von Berkeley zeigt. 94 Darüber hinaus erweist sich die Mondillusion als ein kontinuierlicher Prozess bzw. als eine graduelle Verkleinerung des Mondes auf seinem Weg vom Horizont zur Himmelshöhe. Beobachten wir die graduelle Verkleinerung des Mondes am Himmel von einem Meeresufer aus, sehen wir die vollkommene Mondillusion am Horizont und ihr graduelles Verschwinden, wenn der Mond im Himmel aufgeht, nicht durch die dazwischenstehenden Gegenstände. Daher scheint dem Verschwinden der Mondillusion beim Blick durch ein Rohr ein anderes augenoptisches Faktum zugrunde zu liegen. Dieses Faktum wäre der zu den vorher erörterten Fällen analoge Verlust der Sehstrahlen an Stärke und Intensität, wenn sie – im Gegensatz zu ihrer freien Ausstrahlung in einem durchaus offenen Sehraum im normalen Sehen – durch das Rohr räumlich eingeengt werden. Beim unmittelbaren Sehen ermöglicht die freie und unermessliche Ausdehnung des Sehraumes dem 93 94

Ebd., S. 118–119. Siehe Anmerkung 83.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Auge ein ebenso freies Erblicken der Sehobjekte mit aller Stärke und Intensität des Sehraumes; die Einengung des Sehraumes beim Blick durch das Rohr verursacht dann den Verlust dieser Intensität des Sehraumes und folglich die reduzierte Größenwahrnehmung des Mondes am Horizont (indem die an Stärke und Intensität reduzierten Sehstrahlen nicht weit reichen). Ebenso könnte die Anstrengung des Auges beim Blick durch das Rohr, was zu den oben dargelegten anderen Arten der experimentellen Anstrengung des Auges analog ist, zum Verschwinden bzw. zur Korrektur der Mondillusion führen. Die normale Anstrengung des Auges, die mit der unmittelbaren Wirklichkeit der Mondillusion, nämlich der graduellen Verkleinerung des Mondes auf seinem Weg vom Horizont zum Himmel auf einer abgeflachten Innenebene des Firmaments, am ehesten übereinstimmt, ist die Anstrengung durch die Drehung nach oben. Die Ergebnisse vieler Experimente in der Geschichte belegen, wie die Mondillusion bei der Normalisierung dieser natürlichen Art der Anstrengung wieder auftaucht. Bei einem derartigen natürlichen Experiment stieg man auf einen Berg, um den aufsteigenden Mond, der von der Land- oder Meeresebene aus kleiner erscheint, erneut horizontal anzuschauen (wie der Mond am Horizont angeblickt wird). Das Ergebnis war die Wiederkehr der Mondillusion: »A more convincing field experiment to prove that the proximity of the moon to the visible horizon is the determining factor in the illusion was performed by Lohmann (1920). He first observed the enlarged rising moon while standing with his back to a hill. When the moon had risen some distance, the illusion disappeared. Lohmann thereupon climbed over the top of the hill to view the moon from the other side, above a new and higher horizon. In this position the illusion reasserted itself.« 95

Die Wichtigkeit dieser experimentellen Evidenz liegt darin, dass sie mit der alltäglichen Wirklichkeit der Himmelsillusionen und – daran anschließend – mit der konstanten Erscheinung des Himmels als eine Ross & Plug (ed. Hershenson), a. a. O., S. 19. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang eine experimentelle Beobachtung von Karl Friedrich Gauss: »When I view the elevated full moon from a backwards reclining bodily position, in which the head is in the usual position with respect to the body, so that the moon shines more or less perpendicularly on the face, then I see it much larger; and conversely I see the full moon on the horizon noticeably smaller with the head inclined forwards.« Ebd., S. 16. Vgl. auch Gauss, Karl F.: Briefwechsel zwischen Gauss und Bessel (herausgegeben auf Veranlassung der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften). Leipzig 1880, S. 498–499 (trans. Ross & Plug).

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154 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

abgeflachte Kuppel übereinstimmen. Es ist unsere Alltagserfahrung, dass der Himmel – abgesehen von seiner Art der Erscheinung als klarer blauer Tageshimmel, wolkiger Himmel im Zwielicht am Abend oder als Sternenhimmel der Nacht – am Horizont viel weiter erscheint als der Himmel über dem Kopf. Die unmittelbar und stets visuell zu erfahrende Form des Himmels als eine abgeflachte Kuppel stimmt mehr oder weniger mit der Alltagserfahrung der Himmelsillusionen, bzw. der graduellen Verkleinerung des Mondes oder der Sonne auf ihrem Weg vom Horizont zum Zenit, überein und scheint demnach die tradierte These des abgeflachten Firmaments in ihrer geometrisch-optischen Gesetzmäßigkeit zu belegen. Nun verweist die Wirklichkeit der Himmelsillusion auf der Himmelsebene auf die Wirklichkeit bzw. auf die wirkliche Phänomenalität der außerleiblichen Ausdehnung des Gesichtssinns – bis zur Himmelsebene –, was die ebenso phänomenale Wirklichkeit der materiellen Mediation im Sehraum zwischen dem Auge und der visuellen Grenzebene des Himmels voraussetzt. Ein anderes Merkmal der Mondillusion ist die variierende Größenwahrnehmung des Mondes am Horizont. Viele Beobachter berichten, dass die vergrößerte Erscheinung des Mondes am Horizont keine konstante Größe hat. Es gibt Tage, an denen der Mond am Horizont größer erscheint als an anderen Tagen; an manchen Tagen kann man eine übergroße Erscheinung des Mondes am Horizont beobachten. Derartige Größenveränderung der Mondillusion lässt sich psycho-physiologisch kaum erklären. Denn es ist ungereimt, anzunehmen, dass der einzelne Beobachter an verschiedenen Tagen unterschiedliche psycho-physiologische Disposition des Sinnesvermögens hat, so dass er den Mond an demselben Horizont an verschiedenen Tagen in unterschiedlichen Erscheinungsgrößen wahrnimmt, obwohl der augenoptische Input, nämlich das Netzhautbild, unverändert bleibt. Noch schwieriger nachzuvollziehen ist der Fall, wenn mehrere Beobachter an verschiedenen Tagen dieselbe Erfahrung der Größenvariation der Mondillusion haben. Dass die Größenvariation der Monderscheinung am Horizont von mehreren Beobachtern gleichzeitig wahrgenommen wird, besagt deutlich, dass sich dieses Phänomen nicht aus internen bzw. psycho-physiologischen, sondern aus externen Umständen oder Fakten ergibt. Diese externen Umstände könnten atmosphärische Variationen sein, durch die unsere gewohnte Grenzebene des Sehraumes, die sich bis zum Horizont erstreckt, nach hinten geschoben wird, infolgedessen die Erscheinung des Mondes 155 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

am Horizont – aber auch am Himmel – größer wird. Die Vergrößerung der Monderscheinung am Horizont würde eine virtuelle Nähe des Sehobjekts suggerieren, so dass dem Beobachter der Mond am Horizont näher erscheint, obwohl er sich auf einer tieferen visuellen Grenzebene befindet. Die konstante Formhaftigkeit des Himmels als eine abgeflachte Kuppel – die Grundlage der tradierten These von Alhazen – scheint hier das wichtigste Faktum zu sein, das das Mysterium der Mondillusion und der Himmelsillusion im Allgemeinen entschlüsseln könnte. Denn der Modus der Mondillusion, nämlich die graduelle Verkleinerung der Monderscheinung vom Horizont zur Himmelshöhe, belegt diese These empirisch. Nun ist die scheinbar präformierte Ausdehnung des Himmels als unsere visuelle Grenzebene und die unermessliche Ausdehnung unseres Sehraumes für wirklich bzw. phänomenal-objektiv und nicht allein für eine psycho-physiologische Suggestion zu halten. Die Abflachung der Erscheinung des Himmels, der uns im Prinzip als eine sphäroidische Wölbung erscheinen sollte, lässt sich auf die Variation der Intensität 96 unseres Sehraumes zuIn meiner im Jahr 2003 abgeschlossenen Dissertation (Titel: Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung. Erwin Panofskys Unternehmung zur Ausweitung und Präzisierung des Symbolisierungsprozesses in der Philosophie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer) habe ich versucht, im Rahmen einer Theorie der Perspektivierung die Intensitätsvariation unseres unmittelbaren Sehraumes geometrisch-optisch zu demonstrieren. Dabei ging ich von Panofskys bahnbrechender Abhandlung Perspektive als Symbolische Form aus. Ich versuchte zu beweisen, dass die von Panofsky betrachtete Geometrisierung der perspectiva naturalis zur malerisch-architektonischen perspectiva artificialis im Grunde als eine geometrisch-optische Perspektivierung im Sehvorgang, die die Intensivierung des ästhetischen Sehraumes zur Folge hat, zu deuten ist. Die Basis einer derartigen Perspektivierung ist die geometrisch-optische Verflachung des ursprünglich sphäroidisch verzerrten Netzhautbildes zu einem plan-frontalen Bild, woraus sich die Intensivierung des Sehraumes durch die sich in analoger Weise begradigenden Sehstrahlen ergibt. Im Prozess der geometrisch-optischen Perspektivierung, aus der sich unser Sehraum ergibt, entsteht die Gradation der Intensität des Sehraumes. Demnach gradiert die Intensität des Sehraumes orthogonal bzw. in der Tiefe des Sehraumes und frontal, d. h. auf der zur Sehachse senkrechten Ebene. Diese Eigenschaft der geometrisch-optischen Perspektivierung in der visuellen Raumwahrnehmung trägt unmittelbar zu der oben erörterten höheren Intensität der gewohnten horizontalen Tiefenwahrnehmung bei. Denn gemäß der geometrisch-optischen Perspektivierung gewinnt der Sehraum in der Mitte bzw. entlang der Sehachse an höherer Intensität als an der Peripherie des Sehraumes. Daher vermögen wir den Sehraum auf einer horizontalen Ebene und entlang der gewohnten Position der Sehachse viel tiefer durchzublicken als auf einer vertikalen Ebene. Dies scheint die Präformation der Ausdehnung des Himmels als unsere visu-

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Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

rückführen, was wiederum darauf zu beruhen scheint, dass wir es gewohnt sind, unsere Umwelt frontal-horizontal zu sehen. Die Himmelsebene scheint ebenso wie die vorher erörterte visuelle Größenwahrnehmung die wirkliche außerleibliche Ausdehnung des Gesichtssinns – ein Faktum, das in der Antike Anerkennung fand, aber in der kartesischen Neuzeit zugunsten der Apriorität der Raumanschauung unterdrückt oder sogar vollkommen abgelehnt wurde – theoretisch zu belegen.

(i)

Die sogenannten »Cues«

In der Geschichte der Augenoptik wurde auf verschiedene »Cues« verwiesen, die insbesondere die visuelle Tiefenwahrnehmung suggerieren. Die Ophthalmologen, Psychologen sowie andere Wissenschaftler der Augenoptik arbeiten bis heute an diesen Cues, die zum großen Teil die leiblichen und außerleiblichen Fakten wie die Bewegung des Auges und der Gegenstände, der Stereoskopie, der Perspektivität usw. bilden, und glauben dabei anhand dieser Cues das rätselhafte Phänomen der visuellen Tiefenwahrnehmung hinreichend erklärt zu haben. Wie Gibson es richtig betrachtete, bleibt die visuelle Tiefenwahrnehmung trotz aller Erklärungsversuche in der Geschichte ein ungelöstes Rätsel, also eine Aporie, die sich unserem Erkenntnisvermögen entzieht. Das bekannteste unter allen Cues, die aus einem einfachen Input wie dem flachen Netzhautbild die Dreidimensionalität und die unermessliche Tiefe der visuellen Raumwahrnehmung suggerieren, ist die Stereoskopie bzw. das beidäugige Sehen. Das Faktum der Stereoskopie in der visuellen Tiefenwahrnehmung wird vor allem durch die allgemein bekannte stereoskopische Virtualität unterstützt, in der wir durch eine optische Technik auf einer flachen Bildebene die Solidität und Tiefe der dargestellten Gegenstände viel vollkommener als ein perspektivisches Bild wahrnehmen können. Diese Cues können zwar die visuelle Tiefen- und Soliditätswahrnehmung vervollkommnen, aber es wäre durchaus nicht schlüssig elle Grenzebene in der Form einer abgeflachten Kuppel zu begründen. Zum Prozess der geometrisch-optischen Perspektivierung in der visuellen Raumwahrnehmung vgl. PMS, S. 213 ff., und zu ihrer geometrisch-optischen Demonstration, vgl. PMS, S. 351–367. (siehe Anmerkung 35)

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

anzunehmen, dass sie allein die visuelle Tiefenwahrnehmung suggerieren bzw. erzeugen. Denn sie können systematisch negiert werden, ohne dass dabei die visuelle Tiefenwahrnehmung verloren geht. Allem Anschein nach improvisieren die Cues ein bereits vorhandenes Vermögen der visuellen Raumwahrnehmung, das hier ein Basisphänomen bildet und dessen Grundlagen noch zu entdecken sind. Die Wissenschaftler der Optik neigen dazu, sich in ihrer Forschung der visuellen Tiefenwahrnehmung auf diese Cues zu beziehen. Denn sie sind vielfältig und bilden keine hinreichenden Ursachen der visuellen Tiefenwahrnehmung. Daher bieten sie der Wissenschaft keine endgültigen Lösungen und veranlassen dadurch die Wissenschaftler, ihre Forschung in diesem Bereich mit einer relativ großen Auswahl der Forschungsgegenstände unendlich fortzusetzen. Wenn die Wissenschaft nach jener fundamentalen Ursache einer wissenschaftlichen Aporie sucht – was der Wesenszug der fundamentalen Forschung ist –, dürfen die Cues als keine endgültigen oder finalen Forschungsgegenstände gelten. Die Bevorzugung eines dieser Nebenfakten als Forschungsgegenstand blockiert letztendlich den Forschungsgang und verhindert die Entdeckung jenes fundamentalen Prinzips, das die wissenschaftliche und phänomenale Aporie in Gänze erklären würde. In der Forschung soll daher die Suche eines fundamentalen Prinzips den Vorrang gegenüber der Vielfalt der Cues – der Nebenfakten, die allerdings den Anschein erwecken, allein der Schlüssel zu dem wissenschaftlichen Rätsel zu sein – haben. Der Prozess der wissenschaftlichen Ergründung der Phänomene im Forschungsgang sollte demnach auf ein fundamentales Erklärungsprinzip abzielen, bevor er sich auf die Fakten, die auf diesem Grundprinzip aufbauen, bezieht. Wenn der Forschungsgang sich zunächst auf eins der Nebenfakten richtet, bleibt dabei das fundamentale Erklärungsprinzip – also die primäre, tiefere und ursprüngliche Ursache – sehr wahrscheinlich ungeklärt. In der fundamentalen Forschung wird dieses notwendige Außerachtlassen aller Nebenfakten, damit sie das fundamentale und als solches irreduzible Erklärungsprinzip zu bestimmen vermag, durch die Methode der systematischen Negation vollzogen, was in der Geschichte der modernen Philosophie und Wissenschaft bekanntlich durch die kartesische Methode des Zweifelns und der Negation durchgeführt wurde. Im Grunde genommen verursachen die oben erwähnten »Cues« die ursprüngliche visuelle Tiefenwahrnehmung nicht. Indem sie aber die visuelle Tiefenwahrnehmung weitgehend improvisieren oder so158 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Aporien der visuellen Wahrnehmung

gar vervollkommnen, lassen sie sich als gewisse sekundäre Ursachen betrachten. Diese sekundären Ursachen müssen zunächst systematisch negiert werden, um eine primäre Ursache als das fundamentale Erklärungsprinzip dieser wahrnehmungstheoretischen Aporie zu vereinzeln. Nun untersuchen wir, wie dieser notwendige empirische Forschungsvorgang in die Praxis umgesetzt werden kann. Die als Forschungsgegenstände anerkannten und in der Forschung der visuellen Tiefenwahrnehmung durchaus aktuellen Cues sind: 1. Stereoskopie 2. Bewegung der Augen, der Pupille 3. Bewegung der Gegenstände 4. Perspektivität Alle diese sogenannten Cues, anhand derer die Wissenschaftler das Phänomenon der visuellen Tiefenwahrnehmung zu erklären versuchen, lassen sich methodisch negieren. Man sieht mit einem unbewegten Auge die stillen Gegenstände im Sehraum räumlich bzw. in der freiräumlichen Entfernung und Solidität. Wir schauen einäugig durch eine Kamera, ein Teleskop oder durch ein Mikroskop Gegenstände an und nehmen sie – unabhängig davon, ob sie still stehen oder sich bewegen – räumlich wahr. Zwar ist ein derartiges einäugiges Sehen im Vergleich zum stereoskopischen Sehen unvollkommen, aber es ist ursprünglich ein räumliches Sehen. Dies besagt, dass das Faktum des räumlichen Sehens seinen Ursprung nicht in diesem Cue, sondern in einer ihm vorausgehenden Eigenschaft des Sehvorgangs hat. Ebenso erweist sich die Perspektivität des Sehraumes als keine unbedingt notwendige Voraussetzung für das räumliche Sehen. Bei der gewöhnlichen bzw. alltäglichen Seherfahrung erscheinen uns die Gegenstände zwar in einer perspektivischen Raumstruktur bzw. in perspektivischer Tiefe, Lage, Größe und Ausdehnung, aber allein deswegen können wir der Perspektivität unseres Sehens einen Status der Urheberschaft für die visuelle Raumwahrnehmung nicht zuschreiben. Außerdem entsteht die Perspektivität aus der orthogonalen Konvergenz der Lichtstrahlen, d. h. bereits aus einer physikalischen Dimension der Tiefe, die als solche einen wahrnehmungstheoretischen Vorrang vor der Perspektivität hat. Ebenso wie die oben erwähnten anderen Cues der visuellen Raumwahrnehmung lässt sich die Perspektivität des Sehens methodisch negieren. Ich sitze beispielsweise mitternachts in meinem Zimmer und schaue zum Fenster hinaus. Draußen ist es vollkommen dunkel – außer einer winzigen Lampe, die irgendwo weit entfernt leuchtet. In einer derartigen Alltagssitua159 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

tion sehe ich durch das Fenster nur eine punktuelle Belichtung in einer bestimmten Lage und Entfernung und keine anderen Gegenstände, die eine perspektivische Sehraumstruktur bilden und dabei dem Sehraum eine perspektivische Tiefe verleihen können. Hier habe ich die unmittelbare Seherfahrung, dass ein Lichtstrahl – oder ein sehr dünnes Bündel von Lichtstrahlen – von einem entfernten Punkt in der vollkommenen Dunkelheit ausgeht und durch meinen Augenpunkt auf die Netzhaut gelangt. Ich sehe die punktuelle Quelle des Lichts in einem sehr großen und vollkommen dunklen Raum in der richtigen Lage und annähernd richtigen Entfernung. Zu dieser alltäglichen Seherfahrung, bei der ich auf die Perspektivität meines Sehraumes verzichte, kann ich die oben erörterte Negation anderer Cues der visuellen Raumwahrnehmung hinzufügen. Besonders wenn ich auf das Faktum der Stereoskopie verzichte, wird meine visuelle Tiefenwahrnehmung unvollkommen, aber sie verschwindet dadurch nicht. In der oben beschriebenen Seherfahrung der Tiefe, in der auf alle geläufigen Cues der visuellen Raumwahrnehmung verzichtet wird, habe ich den unmittelbaren Eindruck, dass sich mein Gesichtssinn außerleiblich und linear bzw. entlang eines Lichtstrahls bis zu der punktuellen Quelle des Lichtes in einem vollkommen dunklen Raum erstreckt. Ähnliche Seherfahrungen haben wir, wenn wir in einer sehr dunklen Nacht an einem riesigen Feld stehen und eine oder mehrere winzige und punktuelle Lichtquellen weit entfernt sehen, oder wenn wir von einem Schiff aus eine punktuelle Lichtquelle an einem weit entfernten Ufer sehen. Indem wir in einer derart dunklen Umgebung mit einem unbewegten Auge eine winzige, punktuelle und unbewegte Lichtquelle weit entfernt sehen, kann unsere visuelle Tiefenwahrnehmung, die nun alle anerkannten optischen Cues ausschließt, nur durch die unmittelbare Mediation der Lichtstrahlen zustande kommen. Denn auf der Netzhaut erscheint in diesem Fall nur ein belichteter Punkt, der allein keine freiräumliche Entfernung suggerieren kann. Unter diesen Umständen können wir mehrere punktuelle Lichtquellen, die sich in unterschiedlichen Lagen und Entfernungen befinden, in annähernd richtigen Lagen und Entfernungen sehen, obwohl diese Erscheinungen keine perspektivische Sehraumstruktur bilden. Alle diese Betrachtungen verdeutlichen, dass ein fundamentales Prinzip der unmittelbaren außerleiblichen Ausdehnung des Gesichtssinns jeglichen sogenannten leiblichen und außerleiblichen Cues – anhand derer die Wissenschaftler die visuelle Tiefenwahrnehmung zu erklären versuchen – vorausgeht. 160 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung des Gehörsinns

3.3 Die Ausdehnung des Gehörsinns Neben dem Gesichtssinn erweist sich der Gehörsinn zum großen Teil als außerleiblich ausgedehnt. Wir hören Stimmen, Klänge oder Geräusche räumlich ausgedehnt bzw. in Gegenständen lokalisiert, deren mechanische Vibration sie ursprünglich verursachen. Das Ticken einer Wanduhr oder die Stimme eines Redners hören wir – unabhängig von unserer Position im Raum – in den Gegenständen bzw. in der Uhr an der Wand und im Mund des Redners lokalisiert. Dies zeigt, dass die Ausdehnung bzw. räumliche Lokalisation des Gehörsinns von den Gegenständen selbst, die gehört werden, bestimmt wird und nicht allein vom Hörenden subjektiv-apriorisch abhängt. Zwischen den Strukturen des außerleiblichen Sinnesvermögens (bzw. zwischen den Strukturen des Gesichts- und Gehörsinns) lassen sich Analogien aufweisen. Während die Lichtstrahlen oder -wellen auf der Augennetzhaut die Gegenstände im Sehraum abbilden, übertragen die Luftwellen während des Hörvorgangs die Vibration der Gegenstände auf die Ohrtrompete. Sowohl die Abbildung auf der Netzhaut durch die Lichtstrahlen als auch die Vibration der Ohrtrompete durch die Luftwellen haben streng genommen keine freiräumliche Distanz des (gesehenen und gehörten) Gegenstands als Input. Ebenso wie das Netzhautbild bildet die Vibration der Ohrtrompete den einzigen leiblichen Input beim Hörvorgang. Wie das stereoskopische Sehen vervollkommnet das Hören durch beide Ohren den Gehörsinn und seine außerleiblich-gegenständliche Lokalisation. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Seh- und Gehörgang ist die Natur der Mediation der Lichtstrahlen und der Luftwellen selbst. Während die Lichtstrahlen oder -wellen ein elektromagnetisches Phänomen sind, haben die Luftwellen, die durch die gegenständliche Vibration in der Luft produziert werden, eine rein mechanische Natur. Wie kann die rein mechanische Vibration der Ohrtrompete die genaue außerleibliche Richtung und gegenständliche Lokalisation des Gehörsinns suggerieren? Die Luftwellen aus verschiedenen Gegenständen treffen aus unterschiedlichen Richtungen auf die Ohrtrompete. Auch wenn wir die Richtungswahrnehmung im Gehörsinn auf diesen mechanischen Kontakt zwischen den Luftwellen und der Ohrtrompete zurückzuführen suchen, nehmen wir stillschweigend eine außerleibliche Ausdehnung des Gehörsinns durch die Luftwellen an. Aber die auditive Wahrnehmung der Richtung kann die Distanz des gehörten Gegenstands im Raum – die Distanz der Quelle der 161 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Stimme oder des Geräusches – nicht suggerieren. Das Faktum des Hörens durch beide Ohren – ebenso wie das stereoskopische Sehen – kann zwar die Räumlichkeit bzw. gegenständliche Lokalisation des Gehörsinns vervollkommnen, aber es kann sie ursprünglich nicht erzeugen. Viele Wissenschaftler behaupten (und versuchen zu beweisen), dass die gegenständliche Lokalisation des Gehörsinns durch den winzigen Zeitunterschied zwischen den Vibrationen der beiden Ohrtrompeten suggeriert wird. Allerdings können wir dieses Faktum durch eine angemessene Positionierung des Gesichts gegenüber dem gehörten Gegenstand negieren. Auch ist es möglich mit nur einem Ohr zu hören, ohne dass dabei die räumlich-gegenständliche Lokalisation des Gehörsinns verschwindet. Ebenso wie wir mit einem Auge die Entfernungen der Gegenstände visuell wahrnehmen können, vermögen wir durch ein Ohr – wenn auch unvollkommen – die Stimmen, Klänge und Geräusche gegenständlich lokalisiert wahrzunehmen. Bei den leiblichen bzw. haptischen oder geschmacklichen Empfindungen wird ihre gegenständliche Lokalisation im Leib selbst wahrgenommen. Ebenso wie bei der Tastempfindung von Kälte und Wärme sowie bei der im Fuß lokalisierten Schmerzempfindung oder bei den in der Zunge lokalisierten Geschmacksempfindungen bildet das mechanische Vibrieren der Ohrtrompete ursprünglich ein leibliches Phänomen, aus dem der Gehörsinn entsteht. Aber wir hören die Stimmen, Geräusche oder Klänge nicht im Leib bzw. in den Ohren, sondern in den außerleiblichen Gegenständen lokalisiert. Falls allein das Vibrieren der Ohrtrompete ohne die Luftwellen, die das Vibrieren verursachen, der einzige leibliche Input im Hörvorgang ist, sehe ich keinen Grund dafür, warum ich die Stimme eines anderen nicht in meinem Ohr, sondern in seinem Mund lokalisiert höre. Hier werden wir – wie im Falle des vorher erörterten Gesichtssinns – mit einer Aporie des Gehörsinns konfrontiert: Wie kommt die außerleiblich-gegenständliche Lokalisation des Gehörsinns zustande, wenn der einzige leibliche Input im Hörvorgang, nämlich die Vibration der Ohrtrompete, nur ein mechanisches Phänomen ist, das keine räumliche Entfernung des gehörten Gegenstands beinhaltet? Wenn wir davon ausgehen, dass die außerleibliche Räumlichkeit des Gehörsinns ebenso wie die des Gesichtssinns allein durch neuronale Prozesse im Gehirn entsteht, stehen wir wiederum vor dem Problem der vollkommenen ontologischen Emergenz der Sinnlichkeit. Es gibt zwar ursächliche neuronale Zustände und Prozesse im Gehirn, 162 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung des Gehörsinns

die für die außerleibliche Lokalisation der Hörempfindungen notwendig sind und die gemäß den unterschiedlichen Entfernungen der Lokalisation der Hörempfindungen variieren. Aber sie können mit der wirklichen Hörerfahrung, nämlich der außerleiblich-räumlichen Ausdehnung des Gehörsinns, lediglich korrespondieren bzw. nur eine ursächliche Korrelation bilden. D. h. sie allein können das Faktum der außerleiblich-gegenständlichen Lokalisation des Gehörsinns nicht gewährleisten. Mit anderen Worten: Die neuronale Ursächlichkeit ist für die Wirklichkeit der außerleiblichen Ausdehnung des Gehörsinns notwendig, aber nicht hinreichend. Denn bereits im Ausgang dieses Gehirnprozesses, nämlich in der bloß mechanischen Vibration der Ohrtrompeten durch die Luftwellen, wird kein Input gegeben, der die räumliche Lokalisation des Gehörsinns suggerieren könnte. 97 Die räumliche Struktur des außerleiblichen Gehörsinns hat eine wesentlich andere Realität bzw. Phänomenalität im Kontrast zu den physiologisch-neuronalen Prozessen, auf denen der Gehörsinn beruht. Wie im oben erörterten Fall des Gesichtssinns scheint sich hier die Domäne der Ursächlichkeit über die ontologische Grenze der neuronalen Ursächlichkeit hinaus auf die außerleibliche Wirklichkeit zu erstrecken. Dies bedeutet, dass die primäre Ursache der außerleiblichen Ausdehnung und Lokalisation des Gehörsinns nicht innerhalb der Domäne der neuronalen Prozesse, die dem Gehörsinn als physiologisch-ursächliche Basis dienen, sondern in der Wirklichkeit des außerleiblichen Gehörsinns selbst bzw. in einem physikalischen Phänomen im wirklichen außerleiblichen Luftraum zu suchen ist. Wie im Falle des Gesichtssinns würden die Wissenschaftler hier auch an vielen Cues im Hörvorgang arbeiten – mit der Hoffnung, dass sie die Räumlichkeit des Gehörsinns auf diese Cues zurückführen könnten. Diese Cues wären der oben erörterte winzige Zeitunterschied zwischen den Vibrationen der Ohrtrompeten (also das Faktum des Hörens durch beide Ohren), die unterschiedlichen Intensitäten der Vibrationen (durch die Luftwellen, die aus unterschiedlich lokalisierten Quellen kommen) usw. Aber alle diese Cues könnten methodisch negiert werden, ohne dass wir dabei aufhören, räumlich zu hören. Unabhängig von der Intensität der Vibration werden die Quellen der Klänge, der Stimmen, der Geräusche usw. in der nahen Umgebung viel präziser als die in größerer Entfernung wahrgenommen. Eine sehr laute Explosion in der Ferne kann im Vergleich zu dem leisen Ticken der Wanduhr in der nahen Umgebung eine intensivere Vibration auf der Ohrtrompete veranlassen, aber die räumliche Lokalisation der Quelle der Explosion wird unpräziser wahrgenommen als die Lokalisation des Tickens in der Uhr. Daraus lässt sich folgern, dass die wirklichen Entfernungen der Hörobjekte für die Lokalisation des Gehörsinns maßgeblich sind und nicht bloß die Unterschiede der Intensität der Vibrationen in der Luft und folglich auf der Ohrtrompete.

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Die Hörobjekte in unserem Umfeld sind mit unseren Ohren durch die Luftwellen verbunden. Die Luftwellen sind jedoch im Vergleich zu den Lichtstrahlen kein elektromagnetisches, sondern ein rein mechanisches Phänomen. Daher können wir – wie zuvor beschrieben – nur schwerlich annehmen, dass die Luftwellen im Hörvorgang eine außerleibliche Extension des elektrischen Phänomens, auf dem alle neuronalen Prozesse im Gehirn basieren, bilden und demzufolge die außerleibliche Lokalisation des Gehörsinns – in Analogie zu der leiblichen Lokalisation des Tast- oder Geschmackssinns – gewährleisten können. Dies unterstützt die vorher erörterte Spekulation einer zweiten Möglichkeit, nämlich dass die auf die Ohrtrompete fallenden Luftwellen gewisse elektromagnetische Wellen entstehen lassen, die dann, vom Leib ausgesandt und mit den Luftwellen verschmolzen, simultan die Hörobjekte erreichen und dadurch – wie ein Sensor – dem wahrnehmenden Subjekt die außerleibliche Lokalisation der Hörobjekte suggerieren. Die Aporie der außerleiblichen Ausdehnung des Gehörsinns setzt – ebenso wie die des Gesichtssinns – die notwendige Existenz einer derartigen phänomenalen Mediation, in der sich die Sinnlichkeit außerleiblich ausdehnt, voraus. Die Wirklichkeit unseres Gehörsinns impliziert in dieser Weise, dass das Hören eines außerleiblichen und freiräumlich entfernten Objekts zugleich ein auditives Tasten ist, woraus sich die Räumlichkeit unseres Gehörsinns ergibt. Im Rahmen der Räumlichkeit des Gesichtssinns haben wir einen ihrer Wesenszüge, nämlich die Reduktion der Intensität des Sehraumes in der Tiefe, erörtert. Derselbe Wesenszug gilt auch für den Gehörsinn bzw. für die außerleibliche Ausdehnung des Hörraumes. Die Lokalisation des Gehörsinns bei nahen Hörobjekten (Stimmen, Geräuschen oder Klängen) ist viel präziser als bei fernen Hörobjekten. Bei weit entfernten Hörobjekten verliert der Gehörsinn maßgeblich an Präzision und Distanzwahrnehmung. Im Vergleich zum Gesichtssinn gradieren bzw. reduzieren sich die Intensität und Präzision des Gehörsinns viel rapider, so dass wir bei weit entfernten Hörobjekten nur eine vage Wahrnehmung ihrer Entfernung haben, auch wenn sie auf unseren Ohrtrompeten stärkere oder intensivere Vibrationen – wie im Falle einer Explosion – erzeugen. Diese außerleibliche Gradation der Intensität des Hörraumes lässt sich daher allein auf ein leibliches Faktum der Vibration der Ohrtrompeten, die der einzige Input im Hörvorgang ist, kaum zurückführen. Vielmehr scheint dieser Eigenschaft des Gehörsinns – ebenso wie im Falle des Gesichtssinns – 164 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Die Ausdehnung des Gehörsinns

ein objektives Phänomen zugrunde zu liegen, durch das sich die auditive Sinnlichkeit außerleiblich ausdehnt. Auch bei nahen Hörobjekten wird die Lokalisation des Gehörsinns unpräziser, wenn unsere Augen nicht auf diese – sichtbaren oder versteckten – Objekte gerichtet sind. Wenn jemand hinter mir steht und redet, kann ich seine Stimme zwar räumlich lokalisiert bzw. in einer räumlichen Entfernung auditiv wahrnehmen. Wenn ich mich umdrehe und sein Gesicht sehe, wird meine auditive Wahrnehmung der Lokalisation seiner Stimme viel präziser. D. h. in diesem Fall empfinde ich seine Stimme viel deutlicher in seinem Mund lokalisiert. Ebenso höre ich das Geräusch eines Brunnens in einer räumlichen Entfernung, auch wenn ich ihn nicht sehe (wenn er hinter mir oder in einem Busch versteckt ist). Wenn ich den Brunnen jedoch unmittelbar sehe, höre ich seine Geräusche genau und lokalisiere diese exakt dort auf der Wasserebene, wo das nach oben gespritzte Wasser zurückfällt. Durch diese und ähnliche Alltagserfahrungen habe ich den unmittelbaren Eindruck, dass ich die außerleiblich-gegenständliche Lokalisation meines Gehörsinns nicht nur auditiv, sondern in einer zusammengesetzten Sinnlichkeit bzw. auditiv-optisch, und zwar in größerer Präzision, wahrnehme. Dieses wahrnehmungstheoretische Faktum wird im Alltag gewöhnlich für eine Selbstverständlichkeit gehalten, indem wir davon ausgehen, dass der Gesichtssinn zu der Wahrnehmung der gegenständlichen Lokalisation des Gehörsinns beiträgt bzw. sie präzisiert. Allerdings unterscheidet sich die gesehene Entfernung wesentlich von der gehörten Entfernung, so dass eine rein subjektive Suggestion der auditiven Distanzwahrnehmung durch den Gesichtssinn kaum möglich ist. Vielmehr scheinen sich hier die oben erörterte wirkliche und außerleibliche Ausdehnung des Gesichts- und die des Gehörsinns an demselben Objekt dieser Sinneswahrnehmungen zu kreuzen und dadurch dem Subjekt eine präzisere Wahrnehmung der gegenständlichen Lokalisation des Gehörsinns zu ermöglichen. 98 Wenn diese Ausdehnung der außerleiblichen Sinnlichkeit – wie zuvor spekuliert wurde – durch die vom Leib bzw. von Augen und Ohren ausgesandten Sehstrahlen und Hörwellen entsteht, kreuzen sie sich in einem Gegenstand, der zugleich gehört und gesehen wird. Die erhöhte Präzision der gegenständlichen Lokalisation des Gehörsinns würde sich demnach durch diese Kreuzung entwickeln, was im Grunde einen mechanischen Charakter hat. 98

Vgl. RE, S. 39. (siehe Anmerkung 35)

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Die Ausdehnung der Sinnlichkeit

Insoweit bildet eine derartige Kreuzung von Gesichts- und Gehörsinn im Wahrnehmungsgegenstand ein simultanes optisches und auditives Tasten dieses Gegenstands und verweist auf eine wirkliche außerleibliche Ausdehnung der Sinnlichkeit. Diese Spekulation kann durch einen anderen Aspekt des Gehörsinns erneut bestätigt werden. Zur präziseren Wahrnehmung der gegenständlichen Lokalisation des Gehörsinns müssen wir nicht unbedingt das Hörobjekt während seiner mechanischen Vibration unmittelbar sehen, sondern es reicht aus, unseren Blick lediglich auf die Quelle des Klangs, der Stimme oder des Geräusches zu richten. In einem Radio mit einem metallenen Gerüst sehen wir den versteckten Lautsprecher und die Vibration seiner Membrane nicht, aber wir vermögen auditiv alle ausgesandten Gesänge, Reden usw. an dem Ort in dem Gerät, wo der Lautsprecher versteckt ist, zu lokalisieren. Beim Spaziergang hören wir zunächst hinter uns die Klänge der Kirchenglocken und nehmen ihre Lokalisation ungefähr wahr. Wir drehen uns um und richten sodann unseren Blick auf die Stelle, wo die Kirche, versteckt hinter vielen Bäumen, situiert ist. Hier sehen wir weder die Kirche noch die Glocken, die im Kirchturm versteckt sind, aber wir vermögen allein durch ein solches Richten unseres Blicks die Quelle bzw. die Lokalisation der Klänge viel präziser wahrzunehmen. 99 Hier sehen wir, wie der Gehörsinn in vielen Eigenschaften seiner außerleiblichen Ausdehnung zu denen des Gesichtssinns analog ist. Durch die beiden Formen der Sinneswahrnehmung dehnt sich unsere Sinnlichkeit außerleiblich aus. Eine derartige Ausdehnung oder Verkörperung der Sinnlichkeit scheint eher objektiv bzw. durch eine leibAuch wenn wir annehmen, dass der Gesichtssinn lediglich subjektiv-apriorisch – und nicht auf einer phänomenalen Basis – die Präzision des Gehörsinns suggeriert, können wir das primäre sinnliche Phänomen, nämlich die auditive Wahrnehmung der Lokalisation eines unmittelbaren Hörobjekts, kaum im Rahmen eines transzendentalen Subjekts und des rein apriorischen Status des Raumes – als Form der Sinnlichkeit – erklären. Im Alltag erfahren wir die räumliche Lokalisierung des Gehörsinns zum großen Teil in unsichtbaren Hörobjekten, was auch bedeutet, dass sich unsere auditive Wahrnehmung des Hörobjekts und seine räumliche Lokalisation zunächst ereignen, bevor wir uns ihm bzw. seiner Existenz bewusst werden. Die primäre auditive Wahrnehmung der Lokalisierung der Hörobjekte oder -quellen wird hier demnach eher vom Objekt selbst bestimmt. Ebenso wie die vorher erörterte unmittelbare Referenz zum Objekt im Falle der visuellen Größenwahrnehmung scheint hier das Subjekt vor dem Bewusstsein – oder vor einem Bewusstseinsakt – eine unmittelbare außerleibliche und als solche rein objektive Referenz der Distanz und der räumlichen Lokalisation des Hörobjekts zu haben.

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Die Ausdehnung des Gehörsinns

liche und außerleibliche Phänomenalität zu entstehen. Weniger ist davon auszugehen, dass sich ein transzendentales Subjekt eine derartige Ausdehnung oder Verkörperung der Sinnlichkeit lediglich vorstellt. D. h. es ist das Faktum des Objekts und nicht das des Subjekts, das primär die leibliche und außerleibliche Ausdehnung der Sinnlichkeit mitbestimmt. Wenn das Objekt, das vom Subjekt vollkommen unabhängig existiert, in den Bereich der Sinnlichkeit einbezogen wird, würde es den tradierten Status der Sinnlichkeit im Rahmen der (kantischen und nachkantischen) transzendentalen Philosophie von Grund aus ändern. Es handelt sich dabei um keinen Vorrang des Objekts vor dem Subjekt, sondern vielmehr um eine gewisse Gleichsetzung dieser grundlegenden Fakten, die zusammen – im Rahmen einer möglichen Epistemologie – unsere ästhetische Erfahrungswelt ausmachen.

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Kapitel 4 Vom Subjekt zum Objekt

4.1 Priorisierung theoretisch-philosophischer Grundlagen: Subjekt und Objekt Das »Subjekt« und das »Objekt« – oder der Gegenstand – bilden die zwei elementaren Domänen der Philosophie. Die Wissenschaft der Philosophie sollte sich gleichermaßen auf das Subjekt, das sinnlich wahrnimmt und begrifflich erkennt, und auf das Objekt, das wahrgenommen und erkannt wird, beziehen. Im Prinzip sollten diese zwei elementaren Domänen beim Philosophieren gleichermaßen oder gleichberechtigt berücksichtigt werden. Allerdings erweisen sich die Philosophietraditionen in verschiedenen Kulturräumen als eine Geschichte der wechselnden Priorisierung dieser Domänen in der Philosophie. Die anfänglichen philosophischen Spekulationen bezogen sich tendenziell auf das Objekt; die vorsokratischen Philosophien suchten prinzipiell nach dem Grundstoff, auf dem die große Vielfalt der phänomenalen Welt aufbaut. D. h. die Philosophie begann historisch mit einer fundamentalen ontologischen Frage: Was ist das wesentliche, einheitliche und objektive Faktum, worauf die Vielfalt der Phänomene ontologisch reduziert werden kann? Aus dieser Grundfrage entstanden die ersten philosophischen Spekulationen als Naturphilosophien, wie es in der griechischen Philosophie erfolgte. Die Vorsokratiker waren Naturphilosophen, bei denen der allgemeine Gegenstand ihrer philosophischen Spekulationen das Objekt bzw. die Vielfalt der Naturphänomene war. Während die vorsokratischen Philosophien die oben erwähnte ontologische Grundfragestellung als gemeinsamen Ausgangspunkt hatten, spekulierten sie unterschiedlich über elementare und einheitliche Grundstoffe der phänomenalen Wirklichkeit, nämlich Wasser (Thales), Luft (Anaximenes), Atome

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Priorisierung theoretisch-philosophischer Grundlagen: Subjekt und Objekt

(Demokrit) oder die vier Elemente: Erde, Wasser, Luft und Feuer (Empedokles). 100 Die historische Kontinuität der vorsokratischen Naturphilosophien wurde im sokratischen System deutlich unterbrochen. Bei Sokrates entfaltete sich eine entscheidende Wende in der Geschichte der griechischen Philosophie, inauguriert vor allem durch seine Grundfrage nach der menschlichen Erkenntnis. Die sokratische Wende in der griechischen Philosophie war insofern eine epistemologische Wende und vollzog als solche einen klaren historischen Übergang von der vorsokratischen philosophischen Priorisierung der Natur zur Untersuchung des menschlichen Geistes. Das erkennende Subjekt wurde dabei zum Hauptgegenstand des Philosophierens, das nach Sokrates in erster Linie eine Hebammenkunst ist, in der jene im menschlichen Geist angeborene und versteckte wahre Erkenntnis durch ein dialektisches Verfahren hervorgebracht wird. Diese epistemologische Wende im sokratischen System prägte nachdrücklich alle nachsokratischen Philosophien, insbesondere die Philosophie von Platon, dem bekanntesten Schüler Sokrates’. Platon versuchte bekanntlich eine Synthese des sokratischen Systems und seiner Methodik der Dialektik mit einigen führenden vorsokratischen Philosophien, nämlich von Pythagoras, Parmenides, Heraklit, Demokrit u. a. zu entwickeln. 101 Durch diese Synthese vermag Platon im Rahmen seiner Ideenlehre die Seinsfrage – also die Frage nach der dinglichen Existenz – erneut zu stellen. Demnach scheint Platon in seiner Ontologie einerseits durch eine klare metaphysische Neigung (anhand seiEin analoger Anfang der philosophischen Spekulation ist zu einem gewissen Grad auch im indischen Kulturraum nachzuweisen. Bei den ältesten philosophischen Spekulationen, dargestellt in den Upanishaden, Vedas, Samhitas, Brahmanas und Aranyakas, tauchte vornehmlich die Frage nach der objektiven Existenz des Menschen und der Natur (zu der er gehört) auf. Die philosophischen Grundfragen in den Upanishaden beziehen sich deutlich auf eine objektive Existenz, also auf eine absolut fundamentale ontologische Existenzweise der Menschen und der Natur. Die Spekulation über die fünf Grundelemente, nämlich die Pancabhutas (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Äther), aus denen die gesamte Vielfalt der Natur entstand, kommt den oben erörterten Spekulationen der Vorsokratiker erstaunlich nahe. 101 Wegen dieser strategischen Synthese wurde Platon von Nietzsche, der die Vorsokratiker gegenüber Sokrates und der nachsokratischen griechischen Philosophie hochschätzte, als »Mischcharakter« betrachtet, bzw. als einen Philosophen, der seine Philosophie aus einer Mischung von vorsokratischen und sokratischen Philosophien entwickelte. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, hrsg. von Manfred Riedel, Reclam Verlag, Stuttgart 1994, S. 13–14. 100

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Vom Subjekt zum Objekt

ner Vorstellung von Urbildern im Ideenhimmel) und andererseits durch eine vorherrschende epistemologische Methodik, die er offenkundig von Sokrates übernahm, angetrieben zu sein. Bei Platon ist die Basis der Hierarchisierung des Seins – von irrealen Schatten der Existenz hin zu Ideen – offensichtlich seine Erkennbarkeit, wie es am ehesten im Höhlengleichnis zum Ausdruck kommt. Die Gefangenen in der Höhle verwechseln die Schatten künstlicher Objekte mit realen Gegenständen, weil sie sie unter Umständen nicht klar und deutlich erkennen können. Die Befreiung eines Gefangenen und sein Gang von der Schau der Schatten zu dem der Naturobjekte auf der Erde bis zur Schau der Ideen bildet im platonischen Höhlengleichnis charakteristisch einen epistemologischen Befreiungsgang – also einen Gang, in dem ein Unwissender von der täuschenden zur wahren Erkenntnis, also zur Erkenntnis des wahrhaft Seienden fortschreitet. Ideen bilden die wahrhaft Seienden, indem – und nur wenn – sie als solche erkannt werden. Die von Sokrates geerbte epistemologische Basis ist in der platonischen Ideenlehre unverkennbar. In der Geschichte der europäischen Philosophie – vom Mittelalter bis hin zur kartesischen Moderne – lässt sich ein mit dieser griechischen Tradition vergleichbarer Übergang kaum nachweisen. Aber die kartesische Philosophie bzw. die kartesische Methode des Zweifels und folglich die Gründung der philosophischen Moderne etablierte eine epistemologische Wende – und zwar eine Wende hin zum philosophischen Subjektivismus. Dieser Übergang bzw. diese Wende ist nicht nur durch den Aufgang der Philosophie des Geistes, sondern auch durch die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie, zu deren Gründer auch Descartes zählt, gekennzeichnet. Descartes’ Les Príncipes de la Philosophie initiierte die deutliche Trennung zwischen der Philosophie des Geistes und der Philosophie der Natur, die sich in der Frühmoderne als Mechanische Philosophie etablierte. Die modernen Naturwissenschaften, insbesondere die Klassische Mechanik, Optik und Chemie, entstanden aus der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie. In Les Principes de la Philosophie versucht Descartes die Wissenschaft der Mechanik philosophisch zu fundieren. Allerdings verweist seine Methodik auf ein vom Subjekt abgetrenntes Hineindenken ins Objekt, was später zu dem Basisverfahren der experimentellen Wissenschaft im Kontext der frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie wurde (durchgeführt vor allem in den Untersuchungen von Robert Hooke). Demnach zeichnete sich der historische Übergang der mittel170 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Priorisierung theoretisch-philosophischer Grundlagen: Subjekt und Objekt

alterlichen philosophia naturalis zur frühneuzeitlichen Mechanischen Philosophie durch eine klare Tendenz der Subjektivierung bzw. der subjektiven Apriorisierung der phänomenalen Wirklichkeit aus. In ihrem Hauptwerk Zwei Untersuchungen zur nachscholastischen Philosophie erörtert Anneliese Maier ein treffendes Beispiel dafür: Die Farben der Gegenstände wurden in der scholastischen Tradition zwar als eine subjektive Wahrnehmung betrachtet, aber der farbig erscheinende Gegenstand wurde von der Wirklichkeit der Farbe nicht ausgeschlossen. 102 Erst mit Descartes bzw. mit der kartesischen Methode des systematischen Zweifels und der Negation erfolgte tendenziell eine vollkommene Trennung des Faktums des Objekts von der Wirklichkeit dieser und anderer Qualia. Die subjektive Apriorisierung der Sinnesqualitäten war ein Hauptanliegen der kartesischen Methode des Zweifels und der Absonderung, durch die Descartes die vollkommene existenzielle Autonomie des Subjekts von den Phänomenen, die sinnlich wahrgenommen und durch den Verstand erkannt werden, zu etablieren suchte. Die Apriorität der Sinnesqualitäten belegt nach Descartes hinreichend die vollkommene modale und ontologische Getrenntheit der Seele vom Körper. Demnach lassen sich alle subjektiven Sinnesqualitäten vom Körper absondern. Was dem Körper bleibt – als seine rein objektive Eigenschaft –, ist sodann für Descartes eine reine Extension, also die res extensa. Die kartesische Methode des systematischen Zweifels an allen Sinnesqualia und -attributen am Objekt richtet sich demzufolge strategisch auf die Isolierung des Subjekts von seiner Verbundenheit mit der phänomenalen Welt und dadurch auf seine vollkommene Autonomisierung als eine primäre Existenzweise, der die Welt der Phänomene untergeordnet zu sein scheint. In vielen Beispielen der Methode des systematischen Zweifels kommt diese eher epistemologische Strategie deutlich zum Vorschein. In Mediationen unternimmt Descartes zunächst den Versuch, die leiblichen Sinnesqualitäten vom Leib methodisch abzusondern und sie dadurch allein der sinnlich empfindenden Seele zuzuschreiben. 103 Dieser Schritt führt programmatisch zu dem propädeutischen Siehe Anmerkung 24. In Meditationen bezieht sich die kartesische Methode des Zweifels auf die Negation und Absonderung der Sinnesqualitäten aus dem Leib und den außerleiblichen Gegenständen. Am Anfang des Werkes erörtert Descartes das methodische Zweifeln der leiblichen Empfindungen (wie Schmerz); dabei wird auf den grundlegenden propädeutischen Lehrsatz, »ego cogito, ergo sum«, in dem die absolute ontologische

102 103

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Vom Subjekt zum Objekt

Grundsatz: »ego cogito, ergo sum«. Der Schmerz wird in einem Teil des Leibes – Hand, Bauch oder Fuß – empfunden, aber es ist nicht dieser Körperteil, der den Schmerz empfindet. Durch das Nervensystem sind alle Teile meines Leibes mit meinem Gehirn verbunden. Demnach werden alle leiblichen Empfindungen im Gehirn verarbeitet und anhand des Nervensystems, das im ganzen Leib ausgebreitet ist, leiblich lokalisiert wahrgenommen. Dennoch kann ich kaum feststellen, dass es mein Gehirn ist, das leiblich empfindet. Descartes verwendet seine Methode des Zweifels, um den Status des »Ich«, des Subjekts, als Urheber aller Sinnesempfindungen zu beweisen. Die schrittweise Absonderung der Beteiligung des Leibes an der Sinnlichkeit führt zur vollkommenen Isolierung der Seele vom Leib: »Es bleiben noch die Wahrnehmungen, die Affekte und die Gefühle, die man zwar auch klar erfassen kann, wenn man sich genau vorsieht und gerade nur das über sie aussagt, was in unserem Vorstellen darüber enthalten ist, und dessen wir uns unmittelbar bewußt sind. Indes ist es sehr schwer, dies innezuhalten, wenigstens in Bezug auf unsere Empfindungen, weil wir alle von Kindheit auf angenommen haben, daß alle die Dinge, die wir empfinden, eine Existenz außerhalb unseres Bewußtseins hätten, und daß sie den Empfindungen oder Ideen, die wir von ihnen bei Gelegenheit ihrer Wahrnehmung hatten, ganz ähnlich seien. Wenn wir z. B. eine Farbe sahen, meinten wir eine außer uns befindliche und eine der Idee dieser von uns wahrgenommenen Farbe ganz ähnliche Sache zu sehen, und infolge der Gewohnheit, so zu urteilen, glaubten wir diese Sache so klar und deutlich zu sehen, daß sie uns für gewiß und zweifellos galt. Ganz ebenso verhält es sich mit allem übrigen Wahrgenommenen, auch mit der Lust und dem Schmerze. Denn wenn auch diese letzten nicht außerhalb unsrer selbst verlegt werden, so werden sie doch nicht in den Geist oder in unsere Vorstellung allein gesetzt, sondern in die Hand oder in den Fuß oder in einen anderen Teil unseres Körpers. Es ist aber durchaus nicht sicherer, daß der z. B. in dem Fuße gefühlte Schmerz etwas außerhalb unseres Geistes ist und in dem Fuße sich befindet, als daß das in der Sonne gesehene Licht auch in der Sonne sich befindet; vielmehr sind beides Vorurteile aus unserer Kindheit.« 104

Trennung der Seele vom Leib bestimmt wird, abgezielt. Die weiteren Beispiele beziehen sich ebenso auf die außerleiblichen Gegenstände, aus denen die Sinnesqualitäten abgesondert werden. Das bekannteste davon ist das Wachsgleichnis in der zweiten Meditation. Vgl. Descartes, Meditationen (übers. von Christian Wohlers), a. a. O., S. 33–35. 104 Descartes, René: Die Prinzipien der Philosophie, übersetzt und erläutert von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1965, S. 24–25.

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Priorisierung theoretisch-philosophischer Grundlagen: Subjekt und Objekt

Der Lehrsatz ego cogito, ergo sum ist das Endergebnis, das nach diesem und ähnlichen Verfahren der Methode des Zweifels übrig bleibt. Wenn Descartes das Primat der Existenzweise des »Ich« – des denkenden Subjekts – betont und die These aufstellt, dass es auch ohne Leib existieren kann, 105 erkennen wir deutlich, wie die kartesische Methode des Zweifels eine angemessene Propädeutik zu einer Philosophie des Subjekts bildete, die die kartesisch-neuzeitlichen Philosophien maßgeblich beeinflusste und prägte. Der menschliche Verstand rückte ins Zentrum des Philosophierens. Der kartesische Rationalismus fand sogleich eine kritische Resonanz im britischen Empirismus, vertreten durch Locke, Hobbes, Berkeley, Hume u. a. Allerdings wurde bei diesen nachkartesischen Philosophen der menschliche Verstand als der Hauptgegenstand der philosophischen Untersuchung anerkannt. Daher entstanden fast alle Hauptwerke der führenden nachkartesischen Philosophen im Zuge einer Untersuchung des menschlichen Verstands und des Erkenntnisapparats – in Form einer Reihe von Abhandlungen über den menschlichen Verstand von Locke, Berkeley, Hume u. a. – einschließlich der Kritik der reinen Vernunft von Kant. Bis heute gilt die Neuzeit als von den Philosophien des Subjekts beherrscht. Zuvor haben wir erörtert, wie die Polemik der Prinzessin Elisabeth von Böhmen gegen die kartesische Vorstellung von der Ausdehnungslosigkeit und Immaterialität der Seele bei Descartes auf Resonanz stieß, und wie er in seiner Antwort die Verbundenheit der Seele mit dem Leib bei Willensakten und Sinneswahrnehmungen zugab. 106 Dieses Geständnis von Descartes hat historische Bedeutung: Sie signalisierte den historischen Übergang zu einer philosophischen Tendenz der Neuzeit, nämlich die Priorisierung oder sogar die Favorisierung des Subjekts gegenüber dem materiellen Objekt, zu dem der Leib gehört. Die von Prinzessin Elisabeth betonte und von Descartes zugegebene Verbundenheit zwischen Leib und Seele bezieht sich deutlich auf die Domäne der Sinnlichkeit, insbesondere auf die leibliche Sinnlichkeit. Im kartesischen System wurden die verschiedenen Formen der Sinnlichkeit im Grunde als Modi des Denkens bestimmt und demnach einem denkenden Subjekt untergeordnet. 107 Denn die Descartes, Meditationen, a. a. O., S. 85. Siehe Anmerkung 29. 107 Descartes, René: Meditationen, übers. und hrsg. von Artur Buchenau, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1972, S. 145. 105 106

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Vom Subjekt zum Objekt

ontologische Differenz der Seele vom Leib wird beim Denken – also in der Domäne eines rein logischen Subjekts – viel deutlicher als bei leiblichen und außerleiblichen Sinnesempfindungen. Das sprachlichbegriffliche Denken erweist sich offensichtlich als ein vom materiellen Leib und Gehirn vollkommen verschiedener Seinsmodus. Der kartesische Subjektivismus hatte einen großen Einfluss auf die frühneuzeitliche Naturphilosophie; er schien stillschweigend die Wissenschaftsbereiche zu priorisieren, die vorwiegend auf dem Faktum des Subjekts bzw. dem subjektiven Apriorismus aufbauten, d. h. an denen sich die subjektive Vorstellung unmittelbar beteiligt und demnach einen klaren Vorrang vor den Phänomenen erlangt. In dieser Hinsicht war es kein Zufall, dass der historische Fortschritt der Naturwissenschaften in der Frühneuzeit im Zuge mathematischer Wissenschaften zustande kam und sich aus der Mechanischen Philosophie entwickelte. Die ursprünglichen Wissenschaften in der Frühneuzeit waren die Klassische Mechanik und die Geometrische Optik – zwei wichtige mathematische Wissenschaften. Beide Wissenschaften besitzen die leicht zu mathematisierenden Untersuchungsgegenstände wie den Freiraum, die statischen und dynamischen Strukturen der Körper, die linearen Lichtstrahlen (die den mathematisch-optischen bzw. -dioptrischen Phänomenen wie der Reflexion und Refraktion unterworfen sind) usw. Diese mathematisch-apriorischen Wissenschaften, obwohl sie sich auf die Naturphänomene bezogen, basierten offensichtlich auf dem Vorrang der Domäne des Subjekts vor der des Objekts, vor allem in den mathematischen Methoden ihrer Axiomatisierung. Die Apodiktizität ihrer Grundsätze wurde demnach auf ihre Apriorität zurückgeführt. Auch wenn die Mechanische Philosophie von ihrer ursprünglichen mathematischen zur materiellen Basis zu wechseln begann, konnte sie sich von dem subjektiven Apriorismus kaum lösen. Der relativ späte Aufstieg der Chemie als materielle Wissenschaft wurde ursprünglich durch die apriorischen Spekulationen über die Grundphänomene wie die Atome und Korpuskel (von Locke, Hobbes, Gassendi, Boyle u. a.) veranlasst.

4.2 Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit Wie lässt sich in der Philosophie ein gerechtes Gleichgewicht zwischen dem Faktum des Subjekts und dem des Objekts schaffen? Der 174 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit

kartesische Rationalismus differenzierte die Philosophie als Philosophie des Subjekts von den Naturwissenschaften, die im Vergleich zur Philosophie einen anderen Wahrheitsanspruch auf die Naturphänomene entwickelten. Die frühneuzeitliche Mechanische Philosophie, die das angestrebte Gleichgewicht zwischen Philosophie und Naturwissenschaften und demnach zwischen ihren Gegenständen – also zwischen Geist und Materie – historisch etablieren sollte, ist in ihrer Entwicklungsgeschichte nie ohne eine strategische Priorisierung einer dieser beiden Domänen ausgekommen. Die am Anfang überwiegend mathematisch konzipierte Mechanische Philosophie ging in die materiellen Wissenschaften über, die sich in ihrer Entwicklungsgeschichte immer mehr von der Philosophie – ihrer Methode, ihren Wahrheitsansprüchen und ihrer Legitimation – entfremdete. Die Naturphänomene sollten als Gegenstand der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie in ihrer Einheit bewahrt werden; sie lassen sich den rein subjektiven Perspektiven kaum unterwerfen. Vor allem beim menschlichen Leib als Naturphänomen, bei dem das Faktum des Objekts mit dem des Subjekts miteinander verflochten zu sein scheint, gewinnt die oben erörterte gleichgewichtige oder -berechtigte Behandlung dieser Fakten an Bedeutung. Die propädeutische Methode des Zweifels bei Descartes zeigt deutlich eine stark subjektive Betrachtungsweise oder Perspektive auf; d. h. der Untersuchungsgegenstand, also die leiblich lokalisierte Schmerzempfindung, wird hier eher von der Seite des Subjekts und zugunsten seiner Autonomisierung (gegenüber dem Leib) betrachtet. Im Rahmen der Naturwissenschaften, genauer gesagt der Physiologie, lässt sich diese Betrachtungsweise gewissermaßen umkehren, indem wir zunächst alle leiblichen bzw. neuronalen Prozesse, die im Gehirn und im ganzen Nervensystem stattfinden, berücksichtigen und dazu das Faktum des Subjekts, das letztendlich empfindet, hinzufügen. Eine derartige Etablierung eines Gleichgewichts zwischen Subjekt und dem objektiven Leib in Bezug auf sinnliche Empfindungen hat zur Folge, dass dadurch die leibliche Lokalisation und Simultaneität der sinnlichen Empfindungen besser und angemessener erklärt werden können. Wir haben bereits dargelegt, wie die Wesenszüge der leiblichen Sinnlichkeit, wie Simultaneität und leibliche Lokalisation, eher objektiv – vom Leib bzw. vom ganzleiblichen Nervensystem – bestimmt werden. Wenn ich meinen Fuß bewege, bewegt sich auch meine leibliche bzw. in meinem Fuß lokalisierte Schmerzempfindung. D. h. die statischen und die dynamischen Zustände der leiblichen Lokalisation mei175 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vom Subjekt zum Objekt

ner Schmerzempfindung werden in erster Linie durch meinen Fuß bestimmt und nicht lediglich im Gehirn erzeugt. Descartes versucht, seine Vorstellung von dem allein subjektiven Ursprung der Schmerzempfindung einschließlich ihrer leiblichen Lokalisation anhand der Beispiele des Phantomschmerzes – der virtuellen Schmerzempfindung, die ein ebenso virtuelles Gefühl erweckt, leiblich lokalisiert zu sein – zu bestätigen. 108 Die räumliche Lokalisation des Phantomschmerzes wird zwar allein vom Gehirn erzeugt; d. h. sie ist eine Schmerzempfindung, an der der Leib bzw. die Hand oder die Beine nicht beteiligt sind. Aber der Phantomschmerz als sinnliche Virtualität schließt die ursprüngliche sinnliche Realität der leiblichen Schmerzempfindung, an der sich der objektive Leib unmittelbar beteiligt, nicht aus. Denn es ist die ursprüngliche leibliche Gewöhnung an die leiblich lokalisierte Schmerzempfindung, die später – nachdem der Körperteil amputiert wurde – den Phantomschmerz lediglich suggeriert. Wenn wir auf die philosophische Reduktion der leiblichen Empfindungen, wie es bei Descartes und in der post-kartesischen Tradition unternommen wurde, zeitweilig verzichten und nur die naturwissenschaftliche Basis dieser Phänomene berücksichtigen, erkennen wir, dass es die vollleibliche Ausbreitung des Nervensystems ist, die die leibliche Lokalisation aller leiblichen Empfindungen und ihre Simultaneität gewährleistet. Wie vorher erörtert wurde, verleiht das elektrische Phänomen im neuronalen System unseren haptischen, geschmacklichen und geruchlichen Empfindungen sowie allen Formen des Schmerzes und Wohlfühlens leibliche Ausdehnung und Lokalisation sowie Simultaneität. Wenn wir nun das Faktum des Subjekts zu dieser rein wissenschaftlichen Basis der leiblichen Sinnlichkeit hinzufügen bzw. dem Subjekt und seiner Domäne alle Empfindungsinhalte zuschreiben, sehen wir, dass die Räumlichkeit und zeitliche Spontanität der subjektiven Empfindung durch den Leib bzw. durch das im ganzen Leib ausgebreitete Nervensystem und das elektrische Phänomen, worauf es basiert, objektiv bestimmt werden. Dies besagt, dass die notwendige Hinzufügung des Faktums des Subjekts zum naturwissenschaftlichen Mechanismus der Sinnlichkeit keine einseitige bzw. nur subjektive Erzeugung der Sinnlichkeit und Apriorität ihrer Räumlichkeit und Zeitlichkeit, sondern unweigerlich eine – dieser Hinzufügung übrigbleibende – leibliche Basis oder eine 108

Descartes, Meditationen (übers. von Christian Wohlers), a. a. O., S. 84.

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Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit

wirkliche räumliche Verkörperung der Sinnlichkeit zur Folge hat. Mit anderen Worten: Die Einheit der subjektiven Empfindung mit ihrer objektiven bzw. leiblichen Ausdehnung und Simultanität macht die Wirklichkeit unserer leiblichen Sinnlichkeit aus. Diese Einheit ist ihrer Natur nach ein synthetischer Nexus, also eine Verknüpfung zwischen der Domäne des Subjekts und der des Leibes, die nur die Räumlichkeit als gemeinsame Basis haben. D. h. die leibliche Ausgedehntheit der Sinnlichkeit ergibt sich aus einem synthetischen Nexus zwischen der Ausdehnung des Leibes und der Ausdehnung eines rein ästhetischen bzw. rein sinnlich empfindenden Subjekts. Der Seinsmodus des Subjekts und der des Leibes sind zwar ontologisch nicht einheitlich, aber synthetisch miteinander verknüpft. 109 In dem synthetischen Nexus zwischen dem Subjekt und dem Leib, der das Einzelsubjekt beherbergt, erlangen diese ontologisch voneinander absolut differenten Seinsmodi ein wahrnehmungstheoretisches Gleichgewicht. Kurzum: Die Wirklichkeit unserer leiblichen Sinnlichkeit ist zwar subjektiv, aber sie ist im Leib ebenso wirklich ausgedehnt. Demnach bildet der Leib einen synthetischen Nexus zwischen zweierlei Modi der Verkörperung, nämlich der Verkörperung eines rein physiologisch-materiellen Phänomens und der Verkörperung der subjektiven Sinnlichkeit. Die Verkörperung der Sinnlichkeit, die wir bei allen unseren leiblichen Sinneswahrnehmungen sehr deutlich erkennen, erweitert sich nun auf die Sphäre der außerleiblichen Sinnlichkeit, also auf den wirklichen Seh- und Hörraum. Ebenso wie der gegenständliche Leib, der notwendigerweise an der leiblichen Ausdehnung und Lokalisation der leiblichen Sinnesempfindungen beteiligt ist, baut die Ausdehnung des Gesichts- und Gehörsinns auf einer außerleiblich ausgedehnten objektiven Phänomenalität auf. 110 Im zweiten Kapitel Den synthetischen Nexus zwischen dem rein ästhetischen Subjekt und dem Leib – dem Gegenstand der sinnlichen Wahrnehmung im Allgemeinen – habe ich in einer vorigen Abhandlung – Titel: Domänen des Subjekts – untersucht: Vgl. DS, S. 13 ff. (siehe Anmerkung 35) 110 Die Wirklichkeit dieser außerleiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit, dargestellt im Gesichts- und Gehörsinn, baut zugleich auf dem rein mentalen Ursprung der sekundären Sinnesqualitäten, wie Farbe oder Ton, und ihrer außerleiblichen Ausdehnung auf eine räumlich-zeitliche Struktur des Seh- und Hörraumes auf. Die räumlich-zeitliche Struktur des Seh- und Hörraumes hat hier eindeutig den Status der primären – vom wahrnehmenden Subjekt unabhängigen – Qualität und Existenz bzw. die existenzielle Autonomie vom Subjekt. Eine derartige Phänomenalität der außerleiblichen Sinnlichkeit kann wie folgt anhand eines Beispiels erklärt werden: Während 109

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Vom Subjekt zum Objekt

haben wir diese notwendige Analogizität zwischen der leiblichen und der außerleiblichen Sinnlichkeit erörtert; sie setzt ein zum neuronalen Prozess im Nervensystem bzw. zur äußerst schnellen Transmission der elektrischen Signale analoges Phänomen als gewisse Extension des Nervensystems außerhalb des Leibes voraus. Hier werden die Räumlichkeit der außerleiblichen Sinnesgegenstände bzw. ihre optisch wahrzunehmende Lage, Größe, Solidität, Distanz usw. sowie ihre auditiv wahrzunehmende Lokalisation nicht subjektiv-apriorisch bestimmt, sondern sie sind vielmehr objektiv gegeben. Diese Analogizität führt zur Aporie der außerleiblichen Sinnlichkeit. Wie entsteht die Räumlichkeit des Gesichts- und Gehörsinns außerleiblich, d. h. ohne die unmittelbare Beteiligung des physikalischen Leibes und seines Nervensystems? Wenn die außerleibliche Lokalisation der farbigen Erscheinung eines Gegenstands sowie einer Stimme oder eines Geräusches zur leiblichen Lokalisation der Schmerz- oder Wärmeempfindung analog zu sehen ist, sollen diese außerleiblichen Sinnesempfindungen durch eine analoge Phänomenalität – wie die des Nervensystems – unterstützt werden, wie vorher erörtert wurde. Aber diese Bedingung bildet eine phänomenale Aporie, die von uns jene spekulative Lösung und eventuell ihren objektivexperimentellen Beweis verlangt. Eine derartige Bedingung legitimiert den Vorrang der philosophischen Spekulation vor der wissenschaftlichen Entdeckung, indem die Philosophie aus einer logischen Notwendigkeit die Wissenschaft dazu auffordert, ein Phänomen, das unbedingt vorhanden ist, aber noch unentdeckt blieb, zu erfinden. Diese philosophisch begründete Apodiktizität wird hier zum Beweggrund wissenschaftlicher Entdeckung. Von allen bisherigen Erörterungen reicht eigentlich allein das Problem der visuellen Größenwahrnehmung aus, um die allgemeine Aporie der außerleiblichen Sinnlichkeit zu belegen. Denn bei der visuellen Größenwahrnehmung tritt das Referenzproblem am deutlichsten zutage. Zur Lösung dieses Problems können wir uns auf keine Cues – wie die Stereoskopie, die die optische Wahrnehmung freiräumlicher Tiefe und der gegenständlichen Solidität annähernd wir die Gegenstände beim unmittelbaren Sehen farbig wahrnehmen, werden diese wirklichen Gegenstände in einem ebenso wirklichen Sehraum tatsächlich durch unsere Augen bemalt bzw. gefärbt. Die Phänomenalität dieser visuellen Wahrnehmung basiert im Prinzip auf einem realen Nexus zwischen einer bloß mentalen Qualität, nämlich den Farben, und den wirklichen – vom Subjekt unabhängig existierenden – Gegenständen im Sehraum.

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Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit

suggerieren kann – stützen; darüber hinaus wird dieses Problem durch das optische Phänomen der Object-Size-Constancy, anhand dessen Condillac gegen die tradierte lockesche Vorstellung von der unbewussten Inferenz in der optischen Größenwahrnehmung zu polemisieren sucht, erneut bestätigt. Das Phänomen des Object-SizeConstancy widerlegt auch die Annahme, dass das überaus kleine Netzhautbild bei der visuellen Größenwahrnehmung physiologischoptisch durch einen bestimmten Faktor lediglich vergrößert wird. Wie die Größe der einzelnen Gegenstände erscheint auch ihre Bewegungsgröße – die Geschwindigkeit und Distanz der Bewegung – auf der Augennetzhaut sehr diminutiv. Aber beim wirklichen Sehen nehmen wir die gegenständlichen Bewegungen in unserer nahen Umgebung in annähernd richtigen Bewegungsgrößen bzw. Geschwindigkeiten und Raumstrukturen, die die Gegenstände bahnen, wahr. Hier ist wichtig zu erwähnen, dass die außerleibliche Ausdehnung des Gesichtssinns, die die unmittelbare Referenz bei der optischen Wahrnehmung der statischen und der dynamischen Größen bilden kann, die einfachste und treffendste Erklärung für die visuelle Wahrnehmung aller Bewegungen bietet (indem weder die extrem diminutive Abbildung noch ihre geometrisch-optische Umdrehung auf der Netzhaut zu einem Problem wird). Um diese Aporie zu lösen, haben wir zuvor angenommen, dass es zwischen dem Leib und dem umgebenden Freiraum und den Gegenständen eine Mediation des elektromagnetischen Phänomens geben könnte, was die außerleibliche Ausdehnung des Gesichts- und Gehörsinns erklären würde. In Bezug auf die Notwendigkeit, die diese Aporie der außerleiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit voraussetzt, erachten wir es für möglich, dass das Licht als elektromagnetisches Phänomen bei der Entstehung dieser Mediation zwischen dem Auge und seinem Sehraum eine über die Netzhautabbildung hinausgehende Funktion haben könnte. Allerdings ist eine derartige Annahme im Falle des Gehörsinns nicht möglich, denn die Luftwellen sind im Vergleich zu Lichtstrahlen kein elektromagnetisches Phänomen. Daher scheint die Annahme der Ausstrahlung der elektromagnetischen Wellen aus dem Leib, die eine strukturelle Einheit mit den auf den Augenpunkt konvergierenden Lichtstrahlen beim Sehen und mit den Luftwellen beim Hören bilden, plausibler zu sein. Die spekulative Vorstellung von der strukturellen Vereinheitlichung zwischen den projektiven Sehstrahlen und den rezeptiven Lichtstrahlen folgt der antiken platonischen These des Sehens; im Falle des Gehörsinns wird 179 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vom Subjekt zum Objekt

diese Analogie erweitert. Die Basis dieser philosophischen Spekulation, die uns apodiktisch vorkommt, ist einerseits die Notwendigkeit, die die oben erörterte Aporie der außerleiblichen Sinnlichkeit voraussetzt, und andererseits die Möglichkeit, dass sich das elektrische Phänomen im Nervensystem, welches die leibliche Lokalisation des Tast-, Geschmacks- und Geruchssinns, des Schmerzes usw. deutlich ermöglicht, außerleiblich – in den wirklichen Seh- und Hörraum – ausbreitet. Denn das elektrische Phänomen hat die Eigenschaft, sich über den soliden Gegenstand hinaus im freien Raum wellenförmig und im Rahmen eines Feldes auszubreiten. Indem das elektrische Phänomen im leiblichen Nervensystem der leiblichen Sinnlichkeit, insbesondere ihrer leiblichen Ausdehnung und Lokalisation sowie Simultanität, zugrunde liegt, wäre es durchaus plausibel, anzunehmen, dass dasselbe Phänomen in analoger Weise der subjektiven Sinnlichkeit ermöglicht, sich beim Sehen und Hören außerleiblich auszudehnen. Eine derartige Möglichkeit ist bisher eine Spekulation, denn sie ist experimentell nicht bewiesen worden. 111 Aber sie ist in Bezug auf Die Existenz des elektromagnetischen Feldes, das sich aus dem Leib auf den umgebenden Freiraum ausdehnt, ist bereits experimentell belegt worden. Der Psychiater Colin A. Ross hat in mehreren Experimenten die Ausstrahlung der Gehirnwellen aus dem offenen Augen demonstriert. Als Kurzwellen vermögen sie simultan große Distanzen zu erreichen. Allerdings wurden die experimentellen Evidenzen von Dr. Ross hauptsächlich – seltsamerweise – zur Untersuchung der elektrophysiologischen Basis von dem sogenannten »Evil Eye Belief« oder einer Alltagserfahrung von »sense of being stared at« gebraucht. Vgl. Ross, Colin A.: Hypothesis: The Electrophysiological Basis of Evil Eye Belief, in Anthropology of Consciousness, Vol. 21, Issue 1, 2010, S. 47–57; zitiert aus dem Abstrakt: »The sense of being stared at is the basis of evil eye beliefs, which are regarded as superstitions because the emission of any form of energy from the human eye has been rejected by Western science. However, brainwaves in the 1–40 Hertz, 1–10 microvolt range emitted through the eye can be detected using a high-impedance electrode housed inside electromagnetically insulated goggles. This signal, which the author calls »human ocular extramission,« is physiologically active and has distinct electrophysiological properties from simultaneous brainwave recordings over the forehead.« Vgl. auch Ross, Colin A.: Traditional Beliefs and Electromagnetic Fields, Revista de Antropologia Iberoamericana, Vol. 6,3, Madrid 2011, S. 274–275: »It is an established scientific fact, then, that EM emissions from the brain and heart travel out into space and can interact with objects in the outside world, such as electrodes. These emissions contain physiologically meaningful information that can be used to make diagnoses and plan treatment in cardiology and neurology. One might think that brain waves and other human EM signals do not travel very far in external space due to the inverse square law, according to which the intensity of an EM signal drops off with the square of the distance. However, the inverse square law does not apply to very low frequency signals in the 1–60 Hertz

111

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Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit

die Aporie der außerleiblichen Sinnlichkeit notwendig. Wir sind uns zwar über die wahre Natur bzw. Phänomenalität der außerleiblichobjektiven Mediation beim Sehen und beim Hören (die die notwendige Referenz auf die wirklichen Gegenstände etabliert) nicht im Klaren, aber wir können mit Gewissheit davon ausgehen, dass es etwas Außerleibliches geben muss, was in einer Mediation die Räumlichkeit und Zeitlichkeit der außerleiblichen Sinnlichkeit gewährleistet. Dass die außerleiblich-phänomenale Mediation beim Gesichts- und Gehörsinn nicht entdeckt worden ist, liegt auch daran, dass die Wissenschaft der Augenoptik und die der auditiven Wahrnehmungen daran nicht zu glauben geneigt sind. Denn diese Wissenschaften sind im Rahmen der bis heute vorherrschenden kartesisch-modernen Wahrnehmungstheorie zu sehr auf die Apriorität der Sinneswahrnehmungen fixiert, an der sich weder der Leib noch die außerleiblichen Gegenstände unmittelbar beteiligen können. D. h. die Wissenschaft neigt aufgrund der tradierten und weit etablierten Überzeugung vom allein subjektiven Ursprung der Sinnlichkeit kaum dazu, eine außerleiblich-phänomenale Mediation als Basis der außerleiblichen Ausdehnung der Sinnlichkeit zu suchen. Aber die Philosophie darf eine deutliche Aporie, die letztendlich eine phänomenale Aporie ist, nicht ignorieren. Denn sie ist, wie Edmund Husserl betonte, eine strenge Wissenschaft. Als solche neigt sie immer wieder im Lauf der Geschichte dazu, erneut nach den ersten Prinzipien der phänomenalen Wirklichkeit zu suchen und dabei die lange für sicher gehaltenen axiomatischen Grundlagen der Wissenschaften in Frage zu stellen. Demnach würde das bereits von Platon aufgestellte Leitmotiv der Philosophie darin liegen, das Doxastische in der Wissenschaft bzw. in ihrer Erklärung der Phänomene abzubauen und dafür die Episteme wieder oder neu zu etablieren. Der erste Schritt dieses Abbaus der doxastischen Fundamente wäre range, which is the frequency level at which brain waves are measured (Barr, Jones, & Rodger, 2000). At these frequencies there is negligible drop-off in the signal at 1.000 kilometers. Brain waves emitted through the eye can be detected by high-impedance electrodes that make no contact with the body. How far away this signal can be detected depends on the sensitivity of the electrodes and the necessary software development. Human ocular extramission has greater amplitude or intensity than the general field emitted through the skull because it does not have to pass through the skull. For this reason, and perhaps due to conscious focusing, the geometry of the skull, and the presence of the optic nerve terminal in the retina, the signal emerging through the eyes has greater amplitude and a beam-like distribution in space.«

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Vom Subjekt zum Objekt

dann eine plausible philosophische Spekulation. In Wahrheit würde die oben erörterte außerleibliche Ausdehnung des Gesichts- und Gehörsinns durch eine wirkliche bzw. phänomenale Mediation alle tradierten und kaum hinreichend bewältigten Probleme der außerleiblichen Sinnlichkeit auf einmal lösen; sie sind, um die bisherigen Erörterungen zusammenzufassen, die folgenden: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Visuelle Größenwahrnehmung Visuelle Tiefenwahrnehmung, Wahrnehmung der Solidität der Gegenstände Visuelle Wahrnehmung des Frei- oder Zwischenraumes Visuelle Lagewahrnehmung (Wahrnehmung aufrechter Position der Erscheinungen) Perspektivische Struktur des Sehraumes Visuelle Virtualität – der Reflexion und Refraktion – und ihre geometrisch-optische Gesetzmäßigkeit Visuelle Wahrnehmung der Bewegung bzw. der Bewegungsgrößen und -lagen Die außerleiblich-gegenständliche Lokalisation des Gehörsinns

Aber wenn die Wissenschaftler allein die Netzhautabbildung beim Sehen und die Vibration der Ohrtrompete beim Hören als Input im Seh- und Hörvorgang annehmen und die Wirklichkeit des Gesichtsund Gehörsinns auf die neuronale Bearbeitung dieses Inputs im Gehirn sowie auf einige damit zusammenhängende leibliche und außerleibliche Cues gänzlich zurückzuführen suchen, bleiben alle diese Probleme ungelöst – oder nicht hinreichend untersucht. Wenn eine Grundannahme, auch wenn sie zeitweilig eine unbewiesene Spekulation ist, alle identifizierten Aporien eines Phänomens löst – und dies in äußerster Einfachheit und Klarheit –, ist diese Annahme imstande, sich wissenschaftlich als eine wahrhafte Tatsache zu erweisen. Doch was die Wissenschaftler daran hindert, diese spekulative Annahme zu beweisen und dadurch wissenschaftlich zu legitimieren, ist grundsätzlich ein Problem des Glaubens, denn sie neigen dazu, diese Spekulation als unglaubhaft anzusehen. Allerdings stützen sich die Wissenschaftler durch ihre Überzeugung, dass der Gesichts- und Gehörsinn und alle ihre Eigenschaften allein durch neuronale Prozesse verursacht werden, stillschweigend auf einen Glauben. Denn zum einen ist die rein neuronale Ursächlichkeit aufgrund ihrer (zuvor erörterten) ontologischen Differenz von der Wirklichkeit des Sehens 182 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit

und des Hörens unzureichend, und zum anderen vermag sie die oben erörterten Aporien kaum vollständig zu klären. Wenn die leibliche und außerleibliche Sinnlichkeit in Bezug auf ihre räumliche Ausdehnung eine einheitliche Basis hat, bildet sie eine unermesslich große Verkörperung. Wir sind uns leiblich der Verkörperung unserer leiblichen Sinnlichkeit bewusst; beim Sehen und beim Hören extendiert unsere Sinnlichkeit in große Weiten bzw. Tiefen und Breiten. Die Verkörperung unserer Sinnlichkeit dehnt sich demnach in einem riesigen Seh- und Hörraum aus bzw. füllt den unermesslich ausgedehnten optischen und auditiven Freiraum und schließt die größten und weitesten Gegenstände – Berge, Seen, Wälder, Täler bis zum Himmel und zum Horizont – ein. Indem diese Verkörperung meiner Sinnlichkeit in der Ausdehnung meiner ästhetischen Subjektivität besteht, lässt sich feststellen, dass »ich« mich durch meinen Gesichts- und Gehörsinn in meinem ganzen Seh- und Hörraum ausdehne. Eine derartige Vorstellung kommt uns, den Erben der kartesischen Moderne, wie ein Wunder und eher unglaubwürdig vor. Aber sie wäre eines der Geheimnisse der Natur und des Kosmos, an die wir jahrtausendelang nicht glauben konnten. In der Verkörperung der Sinnlichkeit wird die kartesische Isolierung des Subjekts vom Leib umgedreht und das subjektiv-sinnliche Empfinden über die Grenzen des Leibes hinaus auf die riesige Ausdehnung des Seh- und Hörraumes, der nun diese Modi der Sinnlichkeit einverleibt, erweitert. Wenn Descartes in seiner Antwort auf die Frage der Prinzessin Elisabeth zugibt, dass in der Domäne der Sinnlichkeit die Seele mit dem Leib verbunden ist (und dass er diese Tatsache zugunsten des reinen Denkens strategisch unterdrückt hat), bildet diese Zugabe den Ausgangspunkt dieser Umdrehung, was aber letztendlich eine unglaubliche Konsequenz hat, nämlich die Annahme eines allumfassenden – anstatt eines vom Leib und von außerleiblichen Phänomenen völlig isolierten – ästhetischen Subjekts. Allerdings betrifft diese epistemologische Umdrehung nicht nur die kartesische Philosophie, sondern auch die nachkartesischen Philosophien, insbesondere die Lehre der Transzendentalen Ästhetik von Kant, in der die von Descartes initiierte Apriorisierung der Sinnlichkeit zur Blüte kam. In Bezug auf die von Kant selbst festgestellte Äußerlichkeit des Raumes (gegenüber der Innerlichkeit der Zeit) sollte sich die Lehre der Transzendentalen Ästhetik in erster Linie auf den unmittelbaren Seh- und Hörraum beziehen. Kant bevorzugt jedoch zugunsten seiner Grundvorstellung von der Apriorität des Rau183 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Vom Subjekt zum Objekt

mes (als reine Form der Sinnlichkeit) keinen ästhetischen, sondern einen theoretischen Raum – also den Raum der Geometrie, der offensichtlich eine apriorisierte Raumvorstellung ist. Auf die natürliche Geometrie des Sehraumes, dargestellt durch seine Perspektivität und – noch deutlicher – durch seine geometrisch-optische bzw. dioptrische Gesetzmäßigkeit in den Phänomenen der Reflexion und Refraktion, wird dabei nicht eingegangen. Ein derartiges Übersehen scheint kein reiner Zufall, sondern eine Strategie zu sein, denn auf der vollkommenen Apriorität des Raumes und der Zeit baut Kant das tiefste Fundament eines transzendentalen Subjekts und demnach seine Lehre der Transzendentalen Philosophie auf. Streng genommen basiert das transzendental-philosophische System Kants auf einem logischen und weniger auf einem vorlogischen und rein ästhetischen Subjekt. Wenn sich dieses System auf die Domäne der Ästhetik (Lehre der Sinnlichkeit) erstreckt, beschränkt es sich auf die Apriorität eines theoretischen Raumes, die der Geometrie und den geometrischen Wissenschaften wie Mechanik und Optik als Basis dient. Dagegen erweist sich die Räumlichkeit der unmittelbaren Sinneswahrnehmungen nicht als eine bloß apriorische Vorstellung, sondern als gegeben und demnach als aposteriorisch erfahrbar. In der Transzendentalen Logik wird die epistemologische Trennung zwischen der Gegebenheit der Gegenstände in der empirischen Anschauung und ihrer begrifflichen Erkenntnis a priori, die allerdings im Modus einer synthetischen Einheit der Apperzeption aufgefasst wird, sehr deutlich. Dementsprechend hat das gegebene Faktum des Objekts im Rahmen der Transzendentalen Logik eine wesentlich andere Legitimität gegenüber den Gegenständen der Sinnlichkeit, die innerhalb der Lehre einer Transzendentalen Ästhetik zu behandeln ist. An sich gehört die Sinnlichkeit nicht zu jener Begrifflichkeit (der Erkenntnis); daher ist es unangemessen, das Faktum der subjektiv-begrifflichen Erkenntnis als einen Untersuchungsgegenstand in die Lehre einer Transzendentalen Ästhetik, die der Lehre der Transzendentalen Logik vorausgeht und demnach allein die Sinnlichkeit untersucht, einzubeziehen. Wenn es sich im Rahmen der Lehre der Transzendentalen Ästhetik um geometrische oder mechanische Erkenntnisse handelt, kommen sie grundsätzlich im rein visuellen Modus – als visuelle Erkenntnisse – zustande. Das Faktum des Objekts – bzw. des Leibes und der außerleiblichen Gegenstände –, das unmittelbar an der Sinnlichkeit beteiligt ist, verleiht den Sinneswahrnehmungen eine wirkliche und keine lediglich apriorisch vor184 https://doi.org/10.5771/9783495813461 .

Das Faktum des Objekts in der Sinnlichkeit

gestellte Räumlichkeit. Allerdings gilt das auch für die Zeitlichkeit der Sinneswahrnehmungen, die vom Objekt aus, sowohl im Modus der Dauer seiner Statik als auch in seiner dynamischen Bewegung, gegeben zu sein scheint. Wenn wir von der unleugbaren Zeitlichkeit bzw. von dem zeitlichen Befinden der Phänomene ausgehen, wäre die apriorische Vorstellung der Zeit – auch im Rahmen eines transzendentalphilosophischen Systems – eine subjektive Verzeitlichung der objektiv gegebenen gegenständlichen Zeitlichkeit. 112 Eine eingehende Diskussion über die rein gegenständliche und als solche von einem transzendentalen Subjekt vollkommen autonome Zeit könnte zum Gegenstand einer sich an diese Untersuchung anschließenden Abhandlung werden.

Die apriorisch-subjektive Verzeitlichung gegenständlicher Zeitlichkeit habe ich vorher in einer Abhandlung Der Prozess der geometrisch-optischen Perspektivierung in der visuellen Raumwahrnehmung – jedoch im Rahmen der Filmästhetik von Andrej Tarkowskij – erörtert. Vgl. dazu PGPVR, S. 210 ff. (siehe Anmerkung 35)

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