Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers: Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie 9783787333196, 9783787310449

Diese systematische Darstellung der theoretischen Philosophie Ernst Cassirers empfiehlt sich als Schlüssel für das Verst

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Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers: Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie
 9783787333196, 9783787310449

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THOMAS KNOPPE

Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie

F EL I X M EI N E R V E R L AG H A M BU RG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprüng lichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1044-9 ISBN eBook: 978-3-7873-3319-6

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1992. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung. Die Philosophie Ernst Cassirers : Rezeption und Rezeptionsbedingungen ......................................

1

Erstes Kapitel . Substanz und Funktion. Die erkenntniskritische Grundlegung ................................................

7

Zweites Kapitel. Gegenständliches Denken. Die Dynamik empirischer Urteile ..........................................

27

Drittes Kapitel. Philosophie und Philosophiegeschichte ............

49

Viertes Kapitel. Die Auseinandersetzung um die transzendentale Psychologie .................................................

63

Fünftes Kapitel. Die Frage nach einer Logik der Kultur . . . . . . . . . . . .

81

Sechstes Kapitel. Der Mythos und die Stufen symbolischer Formung

101

Siebentes Kapitel. Mytisch-magische Indifferenzen . ...............

109

Achtes Kapitel. Heilig - Profan: Die religiöse Ur-Teilung . .........

127

Neuntes Kapitel. Ausdruck - Darstellung - Bedeutung . ...........

151

Zehntes Kapitel. Zur Restituierung der Ursprungsfrage ............

173

Siglenverzeichnis ...............................................

187

Literaturverzeichnis ............................................

189

E I N L E I TUNG

DIE PHILOSOPHIE ERNST CAssiRERS:

Rezeption und Rezeptionsbedingungen Die alte Welt der Probleme ist nicht abgestorben, sondern nur verschüttet, und es gilt sie zu neuem Leben auszugraben. Hermann Cohen

Kants Verdienst um die Philosophie wird nicht zuletzt in der Forderung gesehen, unter Bezugnahme auf Begriffe wie Wahrheit oder Erkenntnis apriori von der Wissenschaft immer auch Aufklärung über sich selbst zu verlangen . Seit dem ersten Weltkrieg aber hat sich der Horizont dieses Selbst­ verständnisses philosophischen Denkens verschoben . Noch zur Jahrhun­ dertwende beherrscht der Versuch, die sachliche Autorität der Kantischen Lehre unter veränderten Bedingungen zu erneuern, die philosophischen De­ batten in Deutschland; - im gegenwärtigen philosophischen Diskurs ist die Philosophie des sog. Neukantianismus hingegen ohne Stimme. Das >neue< Philosophieren findet die ihm eigene Form im Antikritizismus; >Fortschritt­ lichkeit< scheint eine Frage des Abstandhaltens . Von allen möglichen Stand­ punkten werden tatsächliche und vermeintliche Einseitigkeiten dieses Denk­ stils kritisiert, und am Ende sieht es für den rückblickenden Betrachter so aus , »als habe die kritizistische Philosophie nur aus einer Summe solcher Einseitigkeiten bestanden . « 1 I n der Tat ist die Aktualität Ernst Cassirers »seine Repräsentanz für gegen­ wärtig Schwindendes . «2 Wenn jedoch heute die Beschäftigung mit Grund­ problemen der Erkenntniskritik als das letzte Verfallsstadium von Philoso­ phie überhaupt geradezu verschrieen ist, so scheint es wenig ratsam, dem systematischen Recht dieser Disziplin nachzufragen. Doch gewiß läßt sich die Relevanz philosophischer Gedanken nicht danach bemessen, ob sie sich haben durchsetzen können oder nicht. Vielmehr setzt eine kompetente Be­ stimmung der Bedeutung philosophischer Theorien die Bereitschaft voraus, ihre Leistung entsprechend ihres Anspruchs, aber zugleich immer auch nach den in ihnen oftmals nur verdeckt enthaltenen Möglichkeiten zu beurteilen . Daß diese Bereitschaft niemals interessefrei ist, bedarf keiner gesonderten 1 M. Brelage, Studien zur Transzendentalphilosophie, S. 8 1 . 2 H. Lübbe, Cassirer und die Mythen des 20. Jahrhunderts, S . 277.

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Einleitung

Erwähnung; auch genuin philosophische Interessen hängen nicht im luftlee­ ren Raum . Sie sind empirisch-faktischer Natur und infolgedessen durch Analyse der empirisch-faktischen Konstellationen, in denen sie entstehen und mit dem Ausschluß anderer institutionell geschützt sind, erklärbar. So mag das >Ende< des Neukantianismus beschworen werden; - welche Be­ wandnis es mit diesem >Ende< hat, erschließt sich jedoch nur, wenn es mit der Geschichte des Antisemitismus und seinen katastrophalen Konsequenzen in diesem Jahrhundert in Zusammenhang gebracht wird .3 In der Bestimmung dessen, was Philosophie zu leisten hat, weiß sich der Marburger Neukantianismus mit Hegel weitgehend einig. Philosophie soll nicht nur die Gedanken ihrer Zeit formulieren, sondern auch beurteilen, was diese Zeit ist und was sie bestimmt. Und tatsächlich: - wenn ein mitentschei­ dendes Kriterium für die Bedeutung eines Philosophen seine Fähigkeit ist, möglichst viele Aspekte zeitgenössischen Denkens zu synthetisieren und als systematischen Ausdruck einer in sich bestimmten Problemkonstellation mit der Tradition dessen, was unter Philosophie verstanden worden ist, zu ver­ mitteln, dann bedarf es eines besonderen Nachweises der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Denken Ernst Cassirers nicht. Dann nämlich zählt sein Werk ganz ohne Zweifel zu den wenigen wirklich beeindruckenden Monumenten philosophischen Denkens in unserem Jahrhundert. Immerhin umfaßt es eine auf die seit Beginn dieses Jahrhunderts schwelende und immer wieder beschworene Grundlagenkrise der exakten Wissenschaften aufbau­ ende transzendentale Logik und Theorie der Erfahrung, unzählige, zum Teil umfangreiche Spezialuntersuchungen zu Problemen der Philosophie- und Geistesgeschichte, eine Theorie des mythischen Bewußtseins, Untersuchun­ gen sowohl zur Sprachphilosophie wie zur Wahrnehmung und schließlich eine Fülle kulturkritischer Arbeiten, an deren Spitze der My thus des Staates steht. Alle diese Aspekte fassen sich unter dem hochkomplexen Oberbegriff einer als Kulturtheorie auftretenden Philosophie der symbolischen Formen zusammen - einem Oberbegriff, mit dem sich der Anspruch verbindet, die Besonderheit der in ihn eingegangen Momente so darzustellen, daß sie so­ wohl in ihrer jeweiligen Besonderheit als auch in ihrem spezifischen Zusam­ menhang sichtbar werden. In der Verfolgung dieser Absicht ist nicht zu übersehen, daß sich Cassirer nicht nur auf Kant, sondern immer wieder auch auf Goethe bezieht. Dessen Grundhaltung, die Geheimnisse des Lebens auf sich beruhen zu lassen und sich stattdessen an seiner unendlich reichen Oberfläche zu erfreuen, deren Beschreibung durch Symbole völlig ausreicht\ wird mehrfach ausdrücklich 3 Vgl. W. Marx, Idealität als dialektisch konstruierbare Totalität und als Hypothese der Fundierung wissenschaftlicher Geltung, S. 5 1 6 . 4 Vgl. E . Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, S. 79 f. : »Das ist und blieb die Stimmung Goe­ thes . Das Geheimnis des Lebens wollte er nicht enträtseln; er erfreute sich an dem unendlich­ reichen Bilde des Lebens . So war es ihm genug, das Leben in Symbolen zu beschreiben. «

Die Philosophie Ernst Cassirers

3

gelobt. Solches Lob wäre unverdächtig, beschränkte es sich darauf, Fragen abzuwehren, auf die allein die klassische Metaphysik Antworten weiß . Pro­ blematisch wird es allerdings dort, wo es den Verzicht nach sich zieht, die systematischen Grundlagen allen Erkennens nicht nur in ihrem Zusammen­ hang herauszustellen, sondern vor allem auch als Grundlegungen zu recht­ fertigen. Die Feststellung dieses Verzichts gehört heute zu den Allgemein­ plätzen in der Cassirer-Forschung. Sicherlich eignet Cassirers Texten die »Anmutungsqualität leichter Verständlichkeit und lnterpretationsunbedürf­ tigkeit«5; doch allzu bereitwillig, wenn auch angesichts des Umfangs des Cassirerschen Gesamtwerks und der Fülle der in ihm behandelten Themen durchaus verständlich, scheint man sich mit Erklärungen wie jener von Susan Langer formulierten abgefunden zu haben, Cassirers Leidenschaft für die Lösung bestimmter Fragen sei zu groß gewesen, als daß er seine Zeit an der erkenntnistheoretischen Begründung seiner Methode hätte verschwenden wollen. oder können .6 Die von Gawronsky überlieferte und im Nachhinein durch die Lebenser­ innerungen Toni Cassirers fast schon verklärte Anekdote, derzufolge Cassi­ rer 1917 beim Einstieg in die Straßenbahn, die ihn von seiner Arbeit im Kriegspresseamt nach Hause bringen sollte, der Plan der Philosophie der symbolischen Formen »aufleuchtete«7, hat ein übriges getan, dem Problem des systematischen Zusammenhangs in der Philosophie Ernst Cassirers seine Schärfe zu nehmen. Dabei hätte die Datierung dieses Ereignisses - nach dem Erscheinen von Freiheit und Form (1916 ), vermutlich während der Druckle­ gung von Kants Leben und Lehre (1918) und inmitten der Vorbereitungen zum dritten Band des Erkenntnisproblems (1919) - ausreichend Gründe für die Vermutung an die Hand geben müssen, daß sich Cassirers Kulturphilo­ sophie nicht gänzlich unabhängig von seiner Erkenntnistheorie entwickelt haben kann. Zumindest aber hätte sich die Frage stellen müssen, ob Cassirer für den Verzicht, diesen Zusammenhang an geeigneter Stelle explizit zu ent­ wickeln, nicht auch sachliche Gründe gehabt haben, ja ob durch ihn nicht gar ein Grundproblem philosophischer Theoriebildung überhaupt angezeigt sein könnte, zu dessen sachlichem Verständnis auf eine detaillierte Anlayse seines Werks selbst dort nicht verzichtet werden kann, wo es zu seiner Auf­ lösung möglicherweise nichts mehr beiträgt. Heute jedenfalls vermag allein die Rekonstruktion dieser Gründe Ord­ nung in das sonst heillose Durcheinander zu bringen, das im Zusammenhang der Frage, was Cassirers eigene Position gewesen ist, aufgrund einer in der Regel selektiven Lektüre seiner Arbeiten stets von neuem entsteht. Wie auch s H.

Lübbe, Cassirer und die Mythen des 20. Jahrhunderts, S. 279. Vgl. S. Langer, Cassirers Philosophie der Sprache und des Mythos, S. 264; D. P. Verene, lntroduction, S. 6 f. 7 D. Gawronsky, Ernst Cassirer: Leben und Werk, S. 1 8 ; vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 1 1 8 f. 6

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Einleitung

immer diese Position bezeichnet worden ist, als Bewußtseinsphilosophie8, transzendentale Semiotik im Sinne von Ch. S . Peirce9, Hermeneutik10 oder auch Neuleibnizianismus1 1 , - keine dieser Charakterisierungen blieb unwi­ dersprochen. Ja selbst der andere Allgemeinplatz der Forschung, daß Cassi­ rer sich mit der Philosophie der symbolischen Formen von dem erkenntnis­ theoretischen Ansatz des Neukantianismus Marburger Prägung abgewendet habe und seine Philosophie dessen Selbstauflösung am eindrucksvollsten be­ legt, ist nicht unumstritten . 12 Allerdings wird nicht nur nicht diskutiert, worin denn das Spezifische dieses Ansatzes besteht - nein: es heißt gar, Cassirer sei mehr Kantianer als Neukantianer und, offensichtlich um sich die Diskussion der Frage der Kant-Rezeption Cassirers zu ersparen, eher noch der Begründer einer eigenständigen Philosophie des Symbols . 13 Daß Cassirer schließlich der sicherlich wohlgemeinte, jedoch mystifizie­ rende Ehrentitel eines Propheten des Rationalismus14 zugebilligt worden ist, ist angesichts dieser desolaten Lage ebenso symptomatisch wie konsequent. Dabei soll durchaus nicht bestritten werden, daß die Ausblendung der Frage des Verhältnisses Cassirers zu seinen Lehrern Cohen und Natorp sinnvoll ist, um Cassirers philosophische Entwicklung von einer Theorie über die logi­ schen Grundlagen der wissenschaftlichen Begriffsbildung über eine Kultur­ theorie bis zu einem Philosophie-Begriff, demzufolge die Philosophie in Anlehnung an ein Wort Husserls als »Funktionär der Menschheit«15 anzuse­ hen ist, nachvollziehbar beschreiben zu können. 16 Doch so wichtig und vielfach erhellend die hierbei erzielten Resultate in Einzelfragen sind, so wenig tragen sie dazu bei, diese Entwicklung entsprechend ihrer inneren Logik verständlich zu machen. Die hiermit vorgelegte Abhandlung behauptet nicht, diesen Mangel restlos behoben zu haben; wenn es ihr gelungen sein sollte, ihn spürbar zu lindern, 8 Vgl. K. Neumann, Das Symbol, S. 1 04; K. 0. Apel, Szientismus oder transzendentale Hermeneutik, S. 1 8 8 f. ; dagegen J. M. Krois, Einleitung S. XXIV, XXVIII. 9 Vgl. H . Paetzhold, Sprache als symbolische Form, S . 3 1 2 ff. 1 0 Vgl. J. M. Krois, Einleitung S. XXVIII ff. ; dagegen E. W. Orth, Zur Konzeption der sym­ bolischen Formen, S. 1 65, 1 84 . 1 1 Vgl. F. E. Meyer, Ernst Cassirer, S . 1 3 ; M . Ferrari, Leibnizische Quellen der •Philosophie der symbolischen FormenNeukantianismus< der Marburger Schule. 12 Gegenpositionen hierzu behaupten außer W. Marx (vgl. Anm . 3), D. Gawronsky, Cassi­ rer's Contribution to the Epistemology of Physics, S. 222; und H. Holzhey, Die Marburger Schule des Neukantianismus, S. 30. 1 3 Vgl. D . P. Verene, lntroduction, S . 6. 1 4 Vgl. D . Bidney, Ernst Cassirers Stellung in der Geschichte der philosophischen Anthropo­ logie, S. 400 . 1 5 E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phäno­ menologie, S. 1 5 ; vgl. a. a. 0. S. 336. 16 So geschehen bei D. P. Verene, Symbolic Form and Creativity; sowie seinem Schüler J. M . Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, der derzeit umfassendsten Monographie zu Cassirer. Der Ansatz dieser Arbeit liegt jedoch ausdrücklich nicht im Neukantianismus; vgl . ders . , Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer, S. 1 99, 203 .

Die Philosophie Ernst Cassirers

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hat sie ihr Ziel erreicht. Denn je länger die Auseinandersetzung mit dem Werk Cassirers währte, desto schwerer wogen die Bedenken, die Goethe Gesamtdarstellungen gegenüber in seiner Einleitung zur Geschichte Farben­ lehre formuliert: »Ist der Referent umständlich, so erregt er Ungeduld und lange Weile; will er sich zusammenfassen, so kommt er in Gefahr, seine Ansicht für die fremde zu geben; vermeidet er zu urteilen, so weiß der Leser nicht, woran er ist; richtet er nach gewissen Maximen, so werden seine Dar­ stellungen einseitig und erregen Widerspruch, und die Geschichte macht selbst wieder Geschichten. «17 Die Einbeziehung vornehmlich der Schriften Hermann Cohens und in geringerem Umfang auch derjenigen Paul Natorps soll die Geschichten, die die Geschichte hier macht, auf das Feld der theoretischen Voraussetzungen begrenzen helfen, mit denen Cassirer sich - wenn auch selten explizit - von Beginn seiner philosophischen Entwicklung an auseinandersetzt. Sie sind der Leitfaden, der den hier vorgelegten Analysen zugrunde liegt. Entspre­ chend wird zunächst Cassirers Theorie des Begriffs auf ihre transzendental­ logischen Prämissen im sog. reinen Denken zurückgeführt, um hieraus unter Bezugnahme auf die These Cohens, daß das Denken der Logik immer das Denken der Wissenschaft ist, Cassirers Programm einer allgemeinen Invari­ antentheorie der Erfahrung zu entwickeln (Kap . I, II) . Hierbei läßt sich ein Minimalbestand an Gesichtspunkten isolieren, der der Ausweitung und der ihr korrespondierenden Entwicklung des Cassirerschen Denkens gegenüber stabil bleibt und gerade deshalb den theoretischen Rahmen aufspannt, durch den Cassirers Erkenntnis- und Kulturkritik unter Wahrung ihrer program­ matischen wie strukturellen Differenzen als Varianten der Bearbeitung des­ selben philosophischen Problems darstellbar werden . So repräsentiert dieses methodische Minimum die Idee einer philosophia perennis, deren Aufgabe es ist, die historischen Erscheinungsformen philosophischer Reflexion ihrer rein sachlichen Bedeutung entsprechend zu ordnen und zu beurteilen (Kap . III). Die exklusive Beziehung dieser Idee auf das Faktum der exakten Wissen­ schaften wird indessen durch das Aufkommen der sog. Geisteswissenschaf­ ten in Frage gestellt. Der Versuch, das Verhältnis beider Wissensformen zueinander zu bestimmen, wirft das Problem der Einheit des Bewußtseins als Einheit der Kultur auf, das Cassirer zufolge nur dann verständlich gelöst werden kann, wenn sich die Frage nach der Objektivität des Daseins in die nach der Objektivität der Bedeutung überführen läßt. Die Funktion, die das Gesetz im Zusammenhang der Grundfragen der Erkenntniskritik hat, geht auf das Symbol bzw. die Gestalt über; das Faktum Wissenschaft wird durch das Faktum Sprache ersetzt (Kap . IV, V) . Schließlich dienen die an der Sprache unterscheidbaren Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der Bedeutung Cassirer nicht nur dazu, My17 J. W. Goethe, Geschichte der Farbenlehre, S. 8 .

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Einleitung

thos, Religion, Kunst und Wissenschaft als aufeinander nicht reduzierbare Symbolsysteme verständlich zu machen, sondern auch dazu, ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen (Kap . VI - IX) . Daß hierbei die einzelnen Mo­ mente der Symbolfunktion von Cassirer nicht immer in ihrer synthetischen Einheit, sondern zugleich immer auch als einzelne Stufen kultureller Ent­ wicklung überhaupt diskutiert werden, legt es nahe, die erreichten Analy­ seergebnisse auf Cohens Modell rationaler Letztbegründung zurückzube­ ziehen und an ihm zu überprüfen (Kap . X) . Was für Cassirers Auseinander­ setzung mit dem kritischen Idealismus gilt, bleibt auch für die Auseinander­ setzung mit Cassirer Maßstab : Wenn »die Grundfragen mit Sicherheit und Gründlichkeit erfasst, wenn ihre Verzweigungen in die besonderen Gebiete des Wissens mit voller Sachkunde verfolgt werden, so liegt, wie immer man über das schliessliche Ergebnis urteilen mag, schon in dieser Art der For­ schung ein dauernder Gewinn . « 18

18

E. Cassirer, Kant und die moderne Mathematik, S. 1 .

ERSTE S KAP I T E L

SuBsTANZ UND FuNKTION

Die erkenntniskritische Grundlegung Zu begründen, was Wissen ist und mit dieser Begründung zugleich die Be­ dingungen für ein der Wirklichkeit entsprechendes Wissen zu klären, be­ zeichnet die traditionellen Aufgaben philosophischer Erkenntnis . Erst wenn die Welt des unmittelbaren Daseins nicht mehr als einfaches Datum hinge­ nommen, sondern nach Gründen für sie verlangt wird, d. h. wenn ein Prinzip gesucht wird, das die Erkenntnis befähigen können soll, Sein von Schein und Wahrheit von Irrtum sicher zu unterscheiden, ist der erste Schritt in das Gebiet philosophischer Reflexion getan. Es reicht nicht, lediglich eine >Theorie< der Welt zu geben; gefordert ist zusätzlich ein Begriff der Theorie, ein Wissen von der Erkenntnis selbst. Die Forderung, Rechenschaft abzulegen, wird an die Philosophie keines­ wegs von außen herangetragen, sondern ist Ausdruck ihres ureigensten Wesens . Sie ist nur dadurch, »daß sie auf jeder Stufe ihrer Entwicklung immer wieder von neuem nach sich selbst, nach ihrem Rechts- und Wahrheitsgrund, nach ihrer eigenen inneren Möglichkeit fragt. « 1 Entsprechend eng ist das Interesse an den Prinzipien logischer Rechtfertigung mit der Klärung der Funktion der Begriffe im historischen Wandel ihrer Bedeutungen verbunden : Begriffe sind nicht nur konstitutive Elemente von Aussagen überhaupt, son­ dern immer auch Bedingungen dafür, daß sich feststellen läßt, ob bestimmte Aussagen wahr oder falsch sind . Ohne Begriffe gäbe es Erkenntnis nicht; ohne sie läßt sich weder ein beliebiges Etwas als etwas Bestimmtes identifi­ zieren noch das Identifizierte zu einem explizierbaren und überprüfbaren Ganzen systematisieren . Die herkömmliche, Aristotelische Logik zieht aus dieser Einsicht den Schluß, daß »die Auffassung vom Wesen und von der Gliederung des Seins [ . . . ] die Auffassung der Grundformen des Denkens«2 vollständig bedingt. Gegen diesen Schluß ist zunächst kaum etwas einzuwenden: Denn wenn weiter nichts vorausgesetzt werden braucht als eine Mannigfaltigkeit indivi­ dueller Existenzen und die Fähigkeit des Denkens, aus dieser Mannigfaltig­ keit »diejenigen Momente herauszuheben, die einer Mehrheit von ihnen gemeinsam zugehören«3, so bleibt die Unmittelbarkeit des natürlichen Welt­ bildes grundsätzlich erhalten. Das Denken vermag die Einheit und Einfach1

E. Cassirer, Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs, S. 1 7. SFB , S. 4 . 3 SFB , S . 5 . 2

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Erstes Kapitel

heit dieses Weltbildes weder zu stören noch zu gefährden, weil der die Be­ stimmtheit der Dinge abbildende Begiff Teil dessen ist, was er abbildet. 4 Zu Recht ist Cassirer vorgeworfen worden, seine Darstellung der Grund­ züge des Aristotelischen Logikverständnisses sei zu schematisch, als daß sie ein angemessenes Verständnis ihres subtilen Sinns ermöglichen könne. 5 Tat­ sächlich erstaunt, daß Cassirer, in dessen Gesamtwerk die Arbeiten zu Problemen und Gestalten der Philosophiegeschichte die eher systematisch zu nennenden Abhandlungen an Umfang bei weitem übertreffen, weder Ari­ stoteles noch das Aristotelische Mittelalter jemals einer eigenständigen Un' tersuchung unterzogen hat. Der Grund hierfür ist ebenso bezeichnend, wie für Cassirers Verständnis des Myov ötö6vat aufschlußreich: »Die Haupt­ züge dieser Lehre sind bekannt und bedürfen keiner eingehenden Darle­ gung. So schlicht und klar sind ihre Voraussetzungen, so sehr stimmen sie mit den Grundannahmen überein, die die gewöhnliche Weltsicht durchge­ hend braucht und bestätigt, daß sich für eine kritische Nachprüfung hier kaum irgendeine Handhabe darzubieten scheint. «6 Weder Cassirer, noch Cohen oder Natorp bestreiten der Aristotelischen Logik, der sachlich angemessene Ausdruck dessen zu sein, was in Substanz­ begriff und Funktionsbegriff die gewöhnliche Weitsicht, in der Philosophie der symbolischen Formen der natürliche Weltbegriff bzw. die Welt der natür­ lichen Einstellung genannt wird. Wogegen sich ihre Kritik richtet, ist der jeg­ lichen Erkenntnisfortschritt hemmende, geradezu reaktionäre Glaube/ die unentbehrlichen, im allgemeinen jedoch ungeprüften Voraussetzungen unse­ res Denkens seien gerechtfertigt, sofern sie sich nur nicht widersprechen und »entweder von allen Menschen akzeptiert oder von den meisten von ihnen oder von den Philosophen akzeptiert sind. Und unter diesen letzteren von der größten Zahl oder den bekanntesten und berühmtesten. «8 Nicht diese oder jene Gestalt dessen, was unter Logik verstanden wird, dient zum Aus­ gangspunkt ihrer Kritik, sondern die die Theorie des Begriffs zentral betref­ fende Frage, »mit welchem Recht irgendein Inhalt des Denkens als gegeben angenommen werde.«9 Denn wenn das Gegebene als der Ort und die Wirk­ lichkeit des Erkennens verstanden werden soll, dann muß es möglich sein, es in seinem Gegebensein zu erfassen und zu verstehen. Allein das Erwägen einer solchen Möglichkeit aber bedeutet, die Naivität des bloß instinktiven Schaffens zu durchbrechen : »Das Denken geht in sich, zieht sich selbst zur Rechenschaft. « 10 Vgl. SFB , S. 6. 5 Vgl. G . Heymanns, Zur Cassirerschen Reform der Begriffslehre, S . 100. 6 SFB , S. 5 (Hervorheb. d . Verf. ). 7 Vgl. E . Cassirer, Kant und die moderne Mathematik, 6 f. 8 Aristoteles, Topik 1 00b 2 1 -23. 9 E. Cassirer, Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, S . 219. to H . Cohen, LrE, S. 20.

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Substanz und Funktion

9

Ist das Erkenntnisproblem in dieser Weise präzisiert, verblaßt die Bedeu­ tung des seine Geschichte dominierenden Streits über die metaphysische Wirklichkeit der Begriffe; - ob sie eine wie auch immer vollständige oder unvollständige Vorstellung des Seienden bedeuten oder nicht. Wenn die >Sa­ che selbst< bzw. der >Gegenstand< nicht als das Theoretische, sondern als Dokument der Insuffizienz des Begriffs gesetzt wird, muß sich für das Wis­ sen das Verhältnis seines theoretischen Selbstverständnisses zu der ihm eigen­ tümlichen, aber problematischen Sachangemessenheit allen Versuchen ent­ ziehen, es in seiner eigenen Bedeutung zu fixieren. Die Sache selbst bleibt für die Theorie bedeutungslos und auf ewig sich selbst überlassen; die Theorie dieser Theorie muß sich damit zufrieden geben, eine Macht zu bestaunen, die keine ist. Sie bezeugt nichts als die Ohnmacht des Denkens in bezug auf seine Inhalte . An dieser Ohnmacht ändert sich nichts, solange die Prämisse an sich gege­ bener Substanzen im Sinne des Aristotelischen Ü7tOXEiJ.lSVOV, »von dem das übrige ausgesagt wird, das selbst aber nicht wieder von einem anderen ausge­ sagt wird«,1 1 in Funktion bleibt. Als Spiegelung der Selbstentfaltung absolu­ ter Substanzen in ihre besonderen Seinsweisen interpretiert, so als folge die Dynamik des Wissens dem immanenten Zweck seiner Gegenstände, »der ihnen durch ihre Natur gesetzt ist und den sie fortschreitend zu erfüllen streben«,12 ist die Frage nach der Bedeutung irgendeiner Veränderung des Wissens von vornherein und für alle Zeiten gegenstandslos . Doch allein dadurch, daß die Philosophie die Absicht, Gewißheit des voll­ endeten Seins zu erlangen, preisgibt und sich stattdessen mit der Einsicht in die Gewißheit ewigen Fortschreitens begnügt, »welche die leidige Gewiß­ heit, nicht am Ziele zu sein noch je dahin gelangen zu können, einschließt«13, wird das Problem der Bestimmung des Verhältnisses von theoretischem Selbstverständnis und Sachangemessenheit des Wissens keiner Lösung näher gebracht. Die skeptische Einsicht in den Wandel der die ersten Prinzipien fundierenden Überzeugungen hat sich ihrerseits mit einem denkbar schwa­ chen Wissensbegriff zu bescheiden: Das Wissen kann sich nicht als eine abgeschlossene, in sich feste, sondern nur als eine unvollständige, hypotheti­ sche, jederzeit ersetzbare Größe verstehen. Da sie sich aus letzten Gründen logisch nicht zu rechtfertigen weiß, 14 kann sie sich keine endgültige Gestalt geben. Die Ausgangssituation scheint einigermaßen verfahren : Der tiefgreifende Wandel sowohl der Inhalte als auch der Formen des Wissens setzt die tradi­ tionelle Form philosophischer Reflexion auf Unwandelbares zur Unwesent­ lichkeit herab, während ein konsequenter Verzicht auf Letztbegründung 11 12 13 14

Aristoteles, Metaphysik 1 028 b 36 f. SFB , S. 1 78 . P . Natorp, Philosophie . Ihr Problem und ihre Probleme, S . 1 4 . Vgl. H . Cohen, KTE, S . 96 f.

Erstes Kapitel

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intendierende Reflexionen den Eindruck allgemeiner Belanglosigkeit nur­ noch verstärkt. Die Bestimmung dessen, was Philosophie ist und worin ihre Aufgaben bestehen, droht beliebig zu werden . 1 5 Doch diese Konsequenzen bedeuten keineswegs das grundsätzliche Scheitern von Philosophie, sondern sollen die Einsicht vorbereiten helfen, daß Relevanz und Irrelevanz philoso­ phischer Reflexion nur »als Bestimmtheit ihres Verhältnisses zu Gehalten und Formen eines Wissens artikuliert werden kann, das die Grenze der Legi­ timität einer Entwicklung von Wissen als Entfaltung des Gehaltes sog. >genuinNatur der Dinge< gerechtfertigten Kanons zu einer solchen, die ihr ausschließlich als Organon den Platz einzuräumen bereit ist, der ihr traditio­ nell vindiziert wird, ist von Hermann Cohen zuerst vollzogen worden . Indem er den Akzent von den Bedingungen des Erkennens auf die Vorausset­ zungen der Erkenntnis verschiebt, etabliert er einen neuartigen Typus philo­ sophischer Letztbegründung: Nicht Tatsachen, sondern Geltungsvorausset­ zungen bilden die logischen Grundlagen der Erkenntnis, deren Begründung von einzelwissenschaftlicher Forschung deutlich unterschieden ist. Denn als reine Denkfunktionen transzendieren die Kategorien die Ebene, auf der al­ lein sinnvoll von gegebenen Tatsachen gesprochen werden kann; sie konstitu­ ieren und liegen in einer anderen, ganz anders gearteten Dimension. Mit der Bekräftigung des »ewigen Grundgedanken[ s] der wissenschaftlichen Ver­ nunft«, 19 daß das Denken die Grundlagen des Seins erschafft, ist die philoso­ phische Erkenntnis aus der Reihe bestimmter Wissensgebiete herausgetre­ ten. Der oberste Grundsatz, auf dem die Möglichkeit der Erfahrung als Wissenschaft beruhen soll, hat keine weitere, >höhere< Bedingung, die ihn wiederum nach seiner Möglichkeit erklären würde. Er dient lediglich dazu, auszudrücken, »daß für die Wissenschaft Notwendigkeit zu fordern ist und daß die Anerkennung dieser Forderung die letzte rational erschließbare Quelle darstellt, aus der die Gesetzesgültigkeit wissenschaftlicher Erkennt­ nis abzuleiten ist. «2o Das Verfahren der Kritik hat sein eigenes Apriori, dessen Möglichkeiten zu begründen, mit zu den ihm gestellten Aufgaben zählt. Darin liegt das Problem, und nur das Kriterium der Selbstbegründung, das sich als Selbster­ zeugung denken können lassen muß, vermag seine Lösung zu gewährleisten. Als Theorie der Prinzipien, auf denen die Gültigkeit aller Erkenntnis beruht, muß die Kritik immer auch die logischen Voraussetzungen ihrer eigenen Urteile legitimieren. Für sie fallen Erzeugung und Erzeugnis zusammen : »Die Erzeugung selbst ist das Erzeugnis. Es gilt beim Denken nicht sowohl den Gedanken zu schaffen, sofern derselbe als ein fertiges, aus dem Denken 1 8 Vgl. G. Edel, Kantianismus oder Platonismus, S. 1 9 H. Cohen, LrE, S. 20; vgl . a. a. 0 . , S. 8 1 . 20 G. Edel, Einleitung, S . 33; vgl. H . Cohen, KTE,

6 f. S . 1 85 , 330.

Erstes Kapitel

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herausgesetztes Ding betrachtet wird, sondern das Denken selbst ist das Ziel und der Gegenstand seiner Tätigkeit. Diese Tätigkeit geht nicht in ein Ding über; sie kommt nicht außerhalb ihrer selbst. [ . . . ] Sie selbst ist der Gedanke, und er Gedanke ist nichts außer dem Denken . «21 Vor diesem Hintergrund erschließt sich, warum Cassirer die Auseinander­ setzung mit der Aristotelischen Logik und Metaphysik auf nur einen Aspekt konzentriert: Dadurch, daß das Denken aus einer Fülle individueller Exi­ stenzen die ihnen gemeinsamen Merkmale heraushebt, zu Klassen vereinigt und dieses Verfahren fortschreitend auf höheren Stufen wiederholt, soll sich je nach dem Grad der sachlichen Ähnlichkeit allmählich eine immer festere Ordnung und Gliederung des Seins ergeben. Doch wenn das Denken seinen Ausgang von den einzelnen Gegenständen der Anschauung nimmt, um sie in ihren begrifflichen Merkmalen abzubilden, so muß für jeden noch so allge­ meinen Begriff eine konkrete Entsprechung gefordert werden, so daß jeder Gedanke, der sich nicht als unmittelbares Abbild unmittelbar gegebener Ge­ genstände beglaubigen kann, hinfällig wird. Je umfangreicher allerdings die Ähnlichkeitskreise werden, je mehr Elemente sie umschließen, desto unbe­ stimmter werden sie, da ihre Bestimmtheit aus fortgesetzten Akten der Negation resultiert, die aber ihrerseits Ausdruck einer durchaus positiven Leistung sein sollen . Denn »was zurückbleibt, soll nicht nur ein beliebig herausgegriffener Teil, sondern ein >wesentliches< Moment sein, durch das das Ganze bestimmt wird . Der höhere Begriff will den niederen verständlich machen, indem er den Grund seiner besonderen Gestaltung aufdeckt und für sich hinstellt. «22 Wenn jedoch der von der Besonderheit der Elemente in seinem Fortgang von der differentia specifica zum genus proximum zuneh­ mend stärker abstrahierende Gedankengang sich schließlich in der Vorstel­ lung des >Etwas< vollendet, »die eben in ihrem allumfassenden Sein, kraft dessen jeglicher beliebige Denkinhalt unter sie fällt, zugleich von jeder spezi­ fischen Bedeutung gänzlich entleert ist«23, so sind die in dieses Modell gesetzten Hoffnungen zuletzt unbegründet. Die logische Bearbeitung der Anschauung dient keineswegs ihrem besseren Verständnis, sondern allenfalls dazu, »sie uns mehr und mehr zu entfremden. «24 Statt einer tieferen Erfas­ sung ihres Gehaltes gelangt die Erkenntnis auf diesem Wege im günstigsten Falle zu einem oberflächlichen Schema. Da jedoch das Ziel, »auf welches die Methode der Begriffsbildung schließlich hinausführt, gänzlich ins Leere fällt: so müssen sich auch gegen den gesamten Weg [ . . . ] Bedenken erhe­ ben. «25 Denn wenn sich der Begriff in ein Aggregat einzelner Urteile auflöst und dem Gedanken keine andere Leistung bleibt, als Resultate, die auf ande2 1 H . Cohen, 22 SFB, S . 8 . 23 SFB, S . 7. 24 SFB , S . 24 . 25

SFB , S. 7.

LrE, S. 29.

Substanz und Funktion

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rer Grundlage gewonnen wurden, zusammenzustellen und durch die Einheit eines Namens äußerlich zu verbinden, so verliert vor allem die Einzelbeob­ achtung, deren besondere Bedeutung sichergestellt werden sollte, Halt und Bedeutung. Was sich aus ihr ergibt, bleibt ein in sich beziehungsloses Gan­ zes, das durch jede neue Tatsache entwertet und aufgehoben werden kann. Cassirer liegt daran, die Gründe zu entwickeln, die für eine Peripetie des traditionellen Denkens über die Logik sprechen . Wenn Aristoteles Elemente der Erkenntnis bestimmt hatte, so gilt es nun, zu diesen Elementen das Prinzip zu entdecken; wenn dieser von ursprünglichen Eigenschaften des Seins ausgeht, so geht Cassirer auf das Urteil als auf die Einheit der logischen Handlung zurück. Nicht soll einfach ein Konzept durch irgendein anderes ersetzt, sondern durch den Vollzug der Peripetie die Schöpferkraft des Den­ kens offengelegt werden : An dem kritisierten Modell sind die Momente aufzuzeigen, die die Behauptung eines Alternativmodells sinnvoll werden lassen. Der Aufgabenbereich der Erkenntniskritik hat sich damit erweitert: Das neue soll nicht mehr nur auf das alte Modell zurückgeführt und aus dessen immanenten Problemen heraus erklärt, sondern zugleich die neuen Gedan­ ken als Vermittlungen begreiflich gemacht werden, kraft deren die eigent­ liche Bedeutung des Alten erst erfaßt und in einer zuvor nicht erreichbaren Allgemeinheit erkannt wird. 26 Nicht einfach Bekämpfung, sondern kritische Aufnahme tragender Gedanken der Aristotelischen Logik und Metaphysik ist also gefordert, um sie - wie es in Leibniz' System heißt - in sich aufzuklä­ ren und umzubilden .27 Gelingt dies, so ist der Nachweis der Möglichkeit immanenter Kritik als Nachweis der Möglichkeit einer kontinuierlichen Wei­ terentwicklung logischer Systeme geführt. Die erste und maßgebliche Voraussetzung des Aristotelischen Substanti­ alismus verhindert indessen die Konfrontation logischer Systeme mit der Frage nach ihren Prämissen: »Der Gegenstand, als gegeben gedacht, kann strenge Notwendigkeit nicht aus sich erkennen lassen . «28 Die Abstraktions­ theorie des Begriffs, die aus einer Reihe von Einzelheiten das Gemeinsame herausheben und das Verschiedene fallen lassen muß, muß nicht nur zu­ nächst diese Einzelheiten vor sich hinstellen, sondern darüber hinaus diese in ihrer sinnlichen bzw. anschaulichen Bestimmtheit immer schon >habenistnicht istLeere< bestimmen und die Äußerlichkeit der In­ halte als dem Wesen des reinen Denkens unmittelbar komplementär zum integralen Moment machen. Damit aber verschiebt sich die Frage nach dem reflexionslosen Etwas in das Problem der Formen möglicher Erfahrung. Die Leere des reinen Denkens als Selbstbezogenheit begründet hier die Unmittel­ barkeit seines Umschiagens in die Offenheit der Form. 7 Entsprechend erfor­ dert der >Beweis< ihrer Objektivität nicht mehr als den Nachweis, daß sie zu bestimmten Urteilen führen, denen der Wert der Notwendigkeit und Allge­ meinheit zuerkannt werden muß. Weil sich die Beziehung auf Gegenstände nur über die reinen Denkfunktionen vermittelt denken läßt, erscheint der >Gegenstand selbst< als Grenze des Denkmöglichen. Und genau dies unter­ streicht die These von der Einheit der reinen mit der augewandten Mathema­ tik: Die Annahme, die Natur sei an sich immer schon da und vorhanden, ist Dogmatismus . Die Marburger beziehen die entgegengesetzte Position; in der Formulierung Cassirers : »Das Mathematische besitzt [ . . . ] keine schlechthin abgelöste logische Dignität mehr; sondern seine Bedeutung, sein >quid juris< tritt vollständig erst in dem hervor, was es für den Aufbau der empirischen Erkenntnis leistet. «8 Mit der Anwendung der Mathematik wird die Natur überhaupt erst als Inhalt und Gegenstand der Erkenntnis entdeckt und erzeugt. Gleichwohl ist der konkrete Gegenstand durch das System der idealen Bedingungen des Denkens niemals vollständig bestimmt, sondern von ihnen lediglich mitbestimmt zu denken. Das reine Denken fungiert ausschließlich als Funktion des Wissen, das den Gegenstand in der Erscheinung aufbaut; es ist »eine Stufe und Abstraction des erkennenden Bewusstseins«9, wie es bei Hermann Cohen heißt. Infolgedessen kann es sich für die Erkenntniskritik niemals darum handeln, Wissen aus Nicht-Wissen zu erklären. Umgekehrt gilt es, aufzuzeigen, wie und nach welchen Gesetzen Bewußtseinsinhalte sich auf etwas beziehen können, in dessen Begriff sowohl vom empirischen Er­ kenntnisvorgang als auch von der kontingenten, für den Menschen spezifi­ schen Organisation des kognitiven Apparates abstrahiert ist. Denn bedeutete das unbekannte X lediglich das, was nur mit Rücksicht auf bestimmte Para­ meter, d. h. zumindest als Größe gedacht wird, und nicht zugleich immer auch etwas, »welches den Ursprung und den Wurzelpunkt für alle diese Maßstäbe nicht zwar wie eine Sache aufdecken, aber als ein Begriff bezeich­ nen und bedeuten soll«1 0 , so wäre es um den Wahrheitswert der exakten Wissenschaften ein für allemal geschehen . Wer den Wissenschaftscharakter beispielsweise der Physik nicht in Frage ziehen will, der kommt - so Cassi7 Vgl. W. Marx, Reflexionstopologie, S. 1 3 8 .

8

PsF I I I , S . 423 ; vgl. GEP I, S . 347 f.

9 H . Cohen, PIM, S. 127. 1o H . Cohen, Jubiläumsbetrachtungen,

S. 4 1 4 .

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Zweites Kapitel

rer - nicht umhin, irgendein fundamenturn in re zu verlangen . Auf die >Deckung< der physikalischen Begriffe und Urteile überhaupt zu verzichten, ist unmöglich; fraglich aber ist, »an welcher Stelle wir sie zu suchen ha­ ben . « 1 1 I n der Exposition des Apriori als Hebel der Erkenntnis12 ist Cohen sowohl gegenüber Kant als auch gegenüber Natorp der konsequentere Verfechter des transzendentalkritischen Gedankens . Vor das Problem gestellt, »mit welcher Befugnis die Vernunft im logischen Gebrauche verlangen [kann], die Man­ nigfaltigkeit der Kräfte, welche uns die Natur zu erkennen gibt, als eine bloß versteckte Einheit zu behandeln, und sie aus irgend einer Grundkraft, so viel an ihr ist, abzuleiten, wenn es ihr freistände zuzugeben, daß es eben so wohl möglich sei, alle Kräfte seien ungleichartig, und die systematische Einheit ihrer Ableitung der Natur nicht gemäß«, entschließt sich Kant, dem logi­ schen Prinzip der Vernunfteinheit der Regeln ein transzendentales vorauszu­ setzen, »durch welches eine solche systematische Einheit, als den Objekten selbst anhängend, a priori als notwendig angenommen wird. «13 Für die Er­ kenntnis wird eine quasi-synthetisierende Wurzel beansprucht, die so, wie sie von Kant eingeführt wird, sich allen Versuchen entzieht, sie logisch zu erschließen: In sich ist sie ebenso unvermittelbar wie die reinen Formimpli­ kate des Gedankens Bestimmtheit überhaupt mit den empirischen Mannig­ faltigkeiten. Kaum anders, wenn auch mit einer etwas anderen Akzentverteilung, ver­ fährt Natorp, wenn er in seiner Logik von 1910 seinen Standpunkt dahinge­ hend zusammenfaßt, »daß eben die allseitige Determination, welche die Erkenntnis sich zum Ziele setzt, im Gegebenen an sich vorauszusetzen sei . «14 Mit Cohen - doch im Gegensatz zu Kant - stellt N atorp sich die Aufgabe, in einer einzigen Deduktion die logischen Grundfunktionen der Erkenntnis herzuleiten und ihre objektive Gültigkeit zu beweisen . Aber mit Kant - und im Gegensatz zu Cohen, der das Apriori lediglich als das bisher erkannte System der Grundlagen empirischer Erkenntnis gelten läßt, das stets von neuem auf die in ihm gelegenen Möglichkeiten abgeschätzt werden muß, »neu gestellten Aufgaben bei entsprechender Abwandlung seiner Elemente gerecht werden zu können«15 - hält er dadurch, daß er das geforderte refle­ xionslose Moment in der Erkenntnis als ein statisches »J.lll öv der Ratio, ihr Nichtsein im Sinne des korrelativen Grundbegriffs«16 bestimmt, an der in der Kamischen Setzung einer gemeinsamen, aber begriffslosen Wurzel der II

D I , s. 264 . Vgl. H. Cohen, KTE, S. 220, 5 1 8 . KrV, B 678 f. (Hervorheb . d . Verf. ). P. Natorp, Logik 1910, S . 8 (Hervorheb . d . Verf. ) . W . Marx, Aufgabe und Struktur von theoretischer Philosophie i m Rahmen d e s transzen­ dentalen Idealismus, S. 85. 16 P. Natorp, Kant und die Marburger Schule, S. 207. 12 13 14 15

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Stämme unseres Erkenntnisvermögens implizierten Idee eines geschlossenen Apriorismus fest. Die Einsicht Cohens, »daß eine Kategorienlehre die Tatsa­ che zu beachten und in der Struktur ihrer Explikation zu berücksichtigen hat, daß die niemals sinnlose Annahme der Begreiflichkeit des Wirklichen nicht >identisch< ist mit der Annahme der Möglichkeit begrifflicher Artikula­ tion in wissenschaftlichen Theorien als der Bedingung der Verständlichkeit und Kontrollierbarkeit von Rationalität«17, ist damit preisgegeben. Wenn Cassirer in Leibniz' System Substanz als immanentes Gesetz der Phänomene1 8 deutet, so mögen in dieser Deutung Natorpsche Motive wirk­ sam sein . Daß sich jedoch Cassirers systematisches Interesse »in der Spur der Erkenntnislogik Natorps«19 formiere, läßt sich nur behaupten, wenn gezeigt werden kann, daß diese Interpretation nicht ausschließlich den Leibnizi­ schen Substanzbegriff betrifft, sondern als Cassirers letztes Wort zu dem mit ihm gestellten Problem anzusehen ist. Ein solcher Nachweis ist nicht mög­ lich . Zwar scheint die These aus Substanzbegriff und Funktionsbegriff »Das einzelne empirische Urteil enthält als unentwickelte Forderung bereits den Gedanken der durchgängigen Bestimmtheit des Naturgeschehens, der im vollendeten System der Erfahrung als abgeschlossenes Ergebnis vor­ liegt«20; - zunächst insofern dem Natorpschen Konzept des Apriori ähnlich, weil sich auch hier die Logik auf einer Vorwegnahme gründet, die in keiner Letztbegründung eingeholt werden kann, da bereits jede Frage in diese Rich­ tung in das fieri des Erkennens fällt und damit das es bestimmende Prinzip der synthetischen Einheit voraussetzt.21 Doch im Gegensatz zu Natorp ver­ zichtet Cassirer auf alle Ansichbestimmtheiten . Nur zu genau weiß er, daß selbst eine immer und überall gelungene, dem Kontinuitätsgesetz verpflich­ tete Erkenntnispraxis nicht als Beweis der These angeführt werden kann, Kontinuität sei die Grundstruktur bzw. das wahre Innere des Realen.22 Statt methodische Grundlagen zu ontologisieren, liegt ihm daran, die Idee durch­ gängiger Bestimmung als das System der reinen Erfahrungsgrundlagen von dem jeweils vorliegenden Erfahrungszusammenhang im Sinne Cohens als den Leitstern des Gesetzes abzuheben; »dass ein Gesetz walten solle in dem Gebiete der Erfahrung«23, erfordert eine Applikation des Zusammenhangs der Grundfunktionen des Denkens, in der die Ordnung des Materials als transzendental-disponierend immer schon mitgedacht ist. »Wenn Erfahrung Wissenschaft sein soll, so muß sie Einheit sein, welche die verschiedenen 1 7 W.

Marx, Idealität als dialektisch konstruierbare Totalitätund als Hypothese der Fundie­ rung wissenschaftlicher Geltung, S. 5 1 6 . 18 Vgl. Leibniz' System i n seinen wissenschaftlichen Grundlagen, S. 380. 1 9 H . Holzhey, Die Leibniz-Rezeption im >Neukantianismus< der Marburger Schule, s. 299. 20 SFB , S. 329. 2 1 Vgl. H . Holzhey, Die Marburger Schule des Neukantianismus, S. 28. 2 2 Vgl . Dl, S . 227. 23 H. Cohen, KTE, S. 1 8 5 .

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Zweites Kapitel

Inhalte unter Gesetze und Regeln bringt, die ihrerseits einem obersten Grundsatz entspringen müssen . Was daher als ein a p rio ri der Erfahrung gelten will, muss die Mannichfaltigkeit der Dinge zur Einheit des Gesetzes zu zwingen vermögen, muss an seinem Teile die Einheit der Erfahrung stif­ ten . «24 Wie sehr Cassirer sich von dieser Grundposition Cohens leiten läßt, doku­ mentiert sein im Kam-Kapitel des Erkenntnisproblems entwickelter Er­ kenntnisbegriff: »>Erkennen< heißt für uns >bedingen< : es heißt ein Mannig­ faltiges unter die synthetische Einheit des Verstandes zu fassen. «25 Ihm gegenüber erweist sich die Hoffnung, in der Empfindung bzw. unmittelba­ ren Wahrnehmung, deren Bestand dem Gedanken undurchdringlich zu sein scheint, weil er ihn nicht aus irgendwelchen einfachen Anfängen ableiten, sondern als solchen nur konstatieren kann, einen Realitätsbezug zu haben, der a priori auf methodisch gesicherte Verständlichkeit verzichten kann, nicht nur als unbegründet, sondern als Verfehlung dessen, was mit dem Ter­ minus Erkenntnisproblem gemeint ist. Denn wenn alle Bestimmtheit und Besonderung des Wissens der Empfindung bzw. der Wahrnehmung zuge­ schrieben wird, so bleibt dem Denken nur die Aufgabe, »das so Bestimmte in seine einzelnen Teilelemente zu zerlegen und diese Teile selbst in mannigfa­ chen willkürlichen Kombinationen wieder zusammenzusetzen . «26 Daß in einem solchen Fall keine neuen Bestimmtheiten geschaffen werden, sondern sich allenfalls bereits feststehende aufweisen lassen, ist der eigentliche Stein des Anstoßes : Ließe sich nämlich das Verhältnis von Wahrnehmung und Begriff tatsächlich als äußerliche Korrespondenz begründen, so reduzierte sich Wissenschaft auf die Anstrengung, die reinen Empfindungsdaten so zu beschreiben, daß zwischen dem Wahrgenommenen und seinem es repräsen­ tierenden Begriff nicht länger unterschieden werden kann; jede Veranlas­ sung, nach den Ermöglichungsbedingungen empirischer Erkenntnis auch nur zu fragen, fiele fort. Das Ideal unmittelbarer und eindeutiger Beschrei­ bung bedürfte weder der Wissenschaft noch ihrer Kritik: Das, was beide zu entdecken hätten, wäre immer schon mit der Empfindung resp . der unmit­ telbaren Wahrnehmung gegeben und in ihr enthalten . Wenn sich der Gedanke einer ebenso unmittelbaren wie eindeutigen Be­ schreibung zur Norm und zum Regulativ der Forschung erklärt, so ist für ihn allerdings ein Recht in Anspruch genommen, zu dessen Legitimierung er selbst nichts beiträgt. In einem >Zustand< völligen Verhaftetseins an Sinne und Eindrücke ist das Denken an die »impressionierenden Dinge«27 preisgege­ ben, ohne daß diese ihm in irgendeiner angehbaren Weise begreiflich werden könnten . Und wenn Empfindung an sich noch kein Gegenstand ist, »son24 A . a. O . , S . 1 8 7. 2s GEP li, S. 738 . 2 6 E . Cassirer, Erkenntnistheorie 2 7 H . Cohen, KTE, S. 1 0 1 .

nebst den Grenzfragen der Logik, S . 25.

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dern nur eine Art der Beziehung des Bewusstseins auf seinen Inhalt, zum Behufe der Bestimmung dieses Inhalts als Gegenstand«28, so bedarf das Ideal unmittelbarer Beschreibung immerhin noch eines Kriteriums , mit Hilfe des­ sen beurteilbar ist, unter welchen Bedingungen eine Beschreibung eindeutig ist und überhaupt sein kann. Das Prestige des Empirismus, die »reine Erfah­ rung gegen das Eindringen der Metaphysik«29 zu schützen, zehrt mithin davon, daß er die quaestio facti von der quaestio juris nicht zu unterscheiden weiß . Hartnäckig auf den sog. Tatsachen der Anschauung zu insistieren, ist nur sinnvoll, um von ihnen aus zu den Prinzipien zurückzudringen, die die volle Rechenschaft über diese Tatsachen ablegen und damit eine Wissenschaft von ihnen ermöglichen. Denn nicht das, was in den exakten Wissenschaften bisher geschehen ist und noch geschieht, bedeutet das philosophische Pro­ blem der Erkenntnis, sondern das, »was in ihr nach den Regeln der Logik geschehen sollte. «3o Die erste hieraus zu ziehende Konsequenz lautet: Worin auch immer das Besondere der Analyse vorgegebener Elemente gesetzt sein mag, es selbst ist auf einen theoretischen Rahmen bezogen, durch den allein sich sowohl die analysierten Gegenstände als auch das auf sie angewandte Analyseverfahren bestimmen lassen . »Die Auswahl und Sichtung des Materials steht unter der Leitung einer aktiven Urteilsnorm. «3 1 Die Ordnung des Materials ist nur durch kategoriale Operationen möglich, niemals jedoch mit ihnen identisch oder durch sie erreichbar. Nachdrücklich weist Cassirer daher darauf hin, daß die Besonderung der empirischen Wissensinhalte niemals als Beweis für die Abhängigkeit der Gegenstandserkenntnis von einem schlechthin tran­ szendenten Bestimmungsgrund angeführt werden kann. 32 Die im experi­ mentum crucis geforderte vollständige Trennung zwischen der Dimension reiner Fakten und der Theorie ist künstlich und zerschneidet den >Organis­ mus< der Erkenntnis; Erfahrung läßt sich nicht in abstrakte Theorie einerseits und das Beobachtungsmaterial, wie es sich an und für sich begriffslos dar­ stellt, andererseits auseinanderlegen . Niemals hat der wissenschaftliche Ver­ such das unbearbeitete Material der sinnlichen Wahrnehmung, sondern immer nur ein Ganzes von Bedingungen zu seinem Gegenstand. »Wir kön­ nen den Begriffen, die es zu prüfen gilt, die Erfahrungsdaten niemals als nackte >Fakta< entgegenstellen: sondern es ist zuletzt stets ein bestimmtes logisches System der Verknüpfung des Empirischen, das an einem anderen derartigen System gemessen und von ihm aus beurteilt wird. «33 2 s A . a. 0., S. 553. 29 SFB , S. 1 8 1 . 3 0 E . Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, S . 45; vgl . SFB , s. 1 5 5 . 3 1 SFB, S . 344 . 3 2 Vgl. SFB , S. 4 1 3 . 3 3 SFB , S . 1 4 1 f. ; vgl. E. Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, S . 3 8 ; PsF I l l , S . 477; sowie H . Cohen, KTE, S . 276.

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Tatsachen, die nicht im Hinblick auf bestimmte begriffliche Voraussetzun­ gen und mit ihrer Hilfe feststellbare sind, sind der wissenschaftlichen For­ schung unbekannt. Die Anstrengungen, die Unmittelbarkeit der Empfin­ dung und Wahrnehmung zu restituieren, laufen ins Leere; keine noch so perfekte Beschreibung vermag jemals ihre sie strukturierenden Vorausset­ zungen zu erreichen und bleibt daher ihrer Form nach an die Synthesisfunk­ tionen des reinen Denkens gebunden . - Hermann Cohen hatte die Kritik des Sensualismus zur »disziplinarischen Aufgabe«34 der Transzendentalphiloso­ phie erklärt; ihr systematisches Ergebnis präzisiert sich jetzt in der Feststel­ lung, daß die Frage nach der Geltung der Urteile, in welche die empirischen Begriffe eingehen, sich allein durch logische Analyse, niemals aber durch Abstammungsnachweise gleich welcher Art entscheiden läßt. Gegenüber dem >>profanen Verdacht, als ob das Reine leer, des Inhalts entledigt wäre«, hatte Cohen unmißverständlich klargestellt, daß nur der »unreine Inhalt, der kein wahrhafter Inhalt ist«, als Gegensatz zum Reinen fungieren kann; »aber auch nur in dem Sinne, daß das Reine auf den unreinen Inhalt erstreckt werde, um ihn in reinen Inhalt zu verwandeln . «35 Das Apriori ist nur in der Form begreiflich, die Form nur an der Erscheinung. Indem jedoch am Faktum als Erscheinung die Materie als das Bestimmbare überhaupt von der Form als Bestimmung unterschieden wird36, wird nicht allein der Relativität des Gegenstandes in Beziehung auf das Denken Rech­ nung getragen, sondern zugleich die Fähigkeit des Denkens betont, sich von dem zu distanzieren, was es in Begriffen bestimmt vor sich hinstellt. Es verschiebt das Faktum in die Position möglicher Bestimmtheit, deren Kontu­ ren ausschließlich auf der Grundlage seiner reinen Formen für es zu gewin­ nen sind . Das durch diese Verschiebung erreichte äußerliche Verhältnis des Denkens zu sich in sich selbst ist der Grund dafür, daß sich die unendliche Intensität des Denkens nicht auf den Zusammenhang der reinen Denkfunk­ tionen beschränkt, sondern sich immer auch auf das erstreckt, was ihm allein mittelbar angehört . Die Distanz zwischen der idealen Ordnung als der Vor­ aussetzung kategorialer Applikation überhaupt und den Kategorien als der Prämisse möglicher Bestimmtheit dieser Ordnung erneuert sich in jedem Erkenntnisresultat. Die in die Erkenntnis gesetzte Korrelation von Form und Stoff läßt sich nicht erkennen; aber sie läßt sich denken als die für alle Erkenntnis konstitutive Distanz zwischen den Kategorien und der unter­ stellten Ordnung des kategorial Bestimmten . Die frühe Formulierung Cassi­ rers, daß >Erkennen< nur >Bedingen< heißen kann, bringt diese programmati­ sche Festlegung Cohens auf den Punkt. Ihre logische Umkehrung fordert dazu auf, den Fortgang von der Unmittelbarkeit der Sinne zur Mittelbarkeit 34 Vgl. H. Cohen, KTE, 35 H . Cohen, LrE, S. 5 . 36

S. 330.

Vgl. H . Cohen, KTE, S . 228 .

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des Grundes zu vollziehen : >Erkennen< heißt, »das einfache Dasein der sinn­ lichen Eindrücke in Schichten von >Gründen< und >Folgen< auseinanderle­ gen. «37 Auf was auch immer sich das reine Denken als Erkenntnis bezieht, es bezieht sich auf es niemals unmittelbar, sondern immer durch den Zusam­ menhang seiner Gedanken bzw. Begriffe hindurch; das, worauf es sich bezieht, erfaßt es allein als den Gedanken von ihm . »Der Gegenstand ist daher genau so wahr und notwendig, wie die logische Einheit der Erfah­ rungserkenntnis; aber freilich auch um nichts wahrer und notwendiger. So wenig diese Einheit jemals fertig vorliegt, so sehr sie vielmehr stets >projek­ tierte Einheit< ist und bleibt, so ist doch ihr Begriff nicht minder eindeutig bestimmt. «38 Die untergründige Skepsis der im weitesten Sinne abbildtheoretisch in­ strumentierten Erfahrungslehren gegenüber dem von allen Idealisten be­ haupteten schöpferischen Potential des Denkens ist gegenstandslos : Erfah­ rung bedeutet einen Weg von Erfüllung zu Erfüllung, auf dem das unbekannte X immer deutlicher in die Stellung eines selbstgeschaffenen Ge­ genentwurfes rückt. Das Faktum ist niemals im Sinne eines definitiven Abschlusses einer Reihe intellektueller Operationen gegeben, »sondern ver­ tritt stets nur die Aufgabe, der weiteren Bestimmung.39 [ . . . ] Der Inbegriff des empirisch Bekannten verdichtet sich gleichsam in einem einzigen Punkt, und von diesem Punkt gehen nun all die verschiedenen Richtlinien aus, nach denen unsere Erkenntnis ins Unbekannte weiterschreitet. Gegenüber den neu zu entdeckenden Mannigfaltigkeiten fungieren die bereits gefundenen und gesetzlich fixierten als eine feste logische Einheit: und diese Einheit des prinzipiellen Anknüpfungspunktes ist es, die die Setzung eines letzten identi­ schen Subjekts für die Allheit der möglichen Eigenschaften erklärt und ermöglicht. «40 Der Ursprung der Bestimmtheit empirischer Urteile und Be­ griffe läßt sich folglich niemals anders als durch einzelne Bestimmtheiten, Gesetze, Beweise und Forschungsmethoden repräsentiert denken, die für sich beliebig perfektionierbar sind . Die unbedingte Bedeutung des Urteils wird nicht als solche Begriff, sondern ist in Begriffen vom gegebenen Be­ stimmten eingesetzt und aus diesem Begreifen. heraus faktisch bestimmt. »Wir erkennen somit nicht >die Gegenstände< - als wären sie schon zuvor und unabhängig als Gegenstände bestimmt und gegeben -, sondern wir erkennen gegenständlich«41 heißt es in Substanzbegriff und Funktionsbegriff kurz und prägnant. >Beschreiben< heißt nicht >Abbildenspezifizieren< - wie diese letzteren umgekehrt, rein indem sie sich aneinanderreihen und sich gegenseitig beleuchten, die allgemeinen Zusammenhänge, in welchen sie stehen, hervortreten lassen müssen.44 [ ] Auf diese Weise verliert das sinnlich Mannigfaltige immer mehr seinen >zufälligen< anthropomorphen Charakter und nimmt das Ge­ präge des Gedankens, das Gepräge der systematischen Formeinheit an . «45 Diese Aprioritätsbegründung, die im Gegensatz zum Kamischen Modell auf jegliche Bindung des Kategorienbegriffs an den des Bewußtseins verzich­ tet und ihn stattdessen aus der Funktion der Kategorien für die Konstruktion der Erfahrung ableitet, läßt an die Stelle der Möglichkeit des Apriori das Problem der Erfahrung als Wissenschaft und damit die Frage nach dem Gel­ tungsgrund wissenschaftlicher Erkenntnis treten: »Das a p rio ri bedeutet im transzendentalen Sinne nur den Erkenntniswert. Dieser aber vollzieht und •





42 SFB , S. 349 . 43 H. Cohen, KTE, S. 24. 44 KLL, S . 3 1 2 . 4 5 Re! . , S . 8 0 ; vgl . SFB , S .

1 69 f. , 320 f.

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betätigt sich in einem wissenschaftlichen Verfahren . «46 Realität besitzen Be­ griffe nicht, weil sie sich durch Empfindungen beglaubigen lassen, sondern weil sie für die Gesamtheit des wissenschaftlichen Weltverständnisses unent­ behrlich sind. Für ein unbestimmtes, gleichsam naturwüchsiges Verlangen nach einer dinglichen Wirklichkeit gibt es keinen Platz; es ist ersetzt durch das Problem der konkreten Bestimmung des Systems der synthetischen Ur­ teile a priori, aus dem das unbekannte X, das unter der Bezeichnung Realität gesucht wird, als ein eindeutig bestimmter Wert hervorgehen soll. Der Be­ weisgrund trägt somit apriorischen Charakter; »er folgert nicht aus der >zufälligenan sich< als ein voraus-gegebenes, völlig indifferentes Material der Erkenntnis, sondern es geht immer schon als kategoriales Moment in den Prozeß der Erkenntnis ein. «48 Erst wenn einge­ sehen ist, daß sich eine Rechtfertigung des Daseins von Dingen an sich sinnvoll nicht verlangen läßt; wenn verstanden ist, daß der Begriff eines dem Denken äußerlichen und fremden Gegenstands die Objektivität allen Wis­ sens vernichtet, läßt sich die Aufgabe einer kritischen Erfahrungslehre prä­ zise formulieren: Was sich vom Standpunkt des Willens als bloßer Stoff ansehen und behandeln läßt, muß sich im Rahmen der Grundfragen der Erkenntniskritik als Form, »als selbständige, einem eigenen Gesetz unterste­ hende Gestalt«49 auffassen lassen. Cassirers Versuch, die Funktion zu bestimmen, die der Erfahrung auch im Zusammenhang einer Theorie ihrer logischen Grundlagen zukommt, sieht sich damit einer zweifachen Schwierigkeit gegenüber: Einerseits kann Erfah­ rung ohne die sie strukturierenden Prinzipien nicht gedacht werden, ande­ rerseits läßt sich nicht ausschließen, daß sie ihrerseits als ein Grund von realitätserschließenden Strukturen fungieren kann und dementsprechend be­ griffen werden muß . Denn wenn das reflexionslose Etwas nicht als bloßes Hemmnis gedacht werden darf, sondern als Funktion der Begrenzung jenes Gebietes verstanden werden muß, in dem allein sich unser Denken und Er46 H. Cohen, KTE, S. 743 ; vgl. G. Edel, Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik, s. 53 - 59. 47 KLL, S . 63 f. ; vgl. P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 4 1 f. • s PsF III, S. 508 f. 49 IG, S. 125.

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kennen erfüllen kann, so bedeutet Erfahrung, daß alles Setzen von Gegen­ ständen zugleich eine Selbstinterpretation der diese Gegenstände setzenden Instanz impliziert, ohne daß diese Instanz ihre Interpretationsschemata aus­ schließlich aus sich, sondern auch Erfahrungen entnommen hat, die sie nun der Bewährung aussetzt. »Denn das Material, das hier der intellektuellen Bearbeitung unterbreitet wird, liegt selbst niemals fertig als ein in sich voll­ endeter Schatz von >Tatsachen< vor, sondern gestaltet sich erst im Prozeß des Fortschritts und gewinnt in ihm immer neue Formen. «5 0 Die Tatsachen der Erfahrung werden schließlich nicht nur registriert, sondern immer auch in­ terpretiert: >>In dieser ständigen Ozillation beweist und bewährt sich die Eigenart der >beweglichen Form< einer Form, die den Stoff nicht einfach passiv empfängt und in sich aufnimmt, sondern die ihn sucht und ihn kraft dieses Suchens gestaltet und organisiert. «51 Erfahrung als kontinuierliche Ersetzung des relativ Zufälligen durch rela­ tiv Notwendiges schließt aus, sich auf sie mit dem Ziele zu beziehen, in ihr letzte Elemente des Wirklichen nachzuweisen, in denen das Denken sich beruhigen könnte . Jedes Glied einer Reihe verweist auf ein ihm voraufgehen­ des bzw. auf ein ihm folgendes; und auch dann, wenn die Reihe in ihrer erzeugenden Grundrelation als Einheit gefaßt wird, ergibt sich, sobald ihre Zuordnung zu und ihre Abhängigkeit von anderen Reihen bezeichnet wer­ den soll, ein Komplex immer neuer funktionaler Zusammenhänge, der ins unbestimmbar Weite hinausführt. Erfahrung also ist der unendliche Prozeß sich fortschreitend differenzierender Methoden, kraft derer eine allgemein­ gültige und notwendige Verknüpfung der Phänomene erreicht wird, »die wir ihre Wahrheit nennen . «52 Worin sich Erfahrung erfüllen könnte, läßt sich nur als Grenzidee auffassen; als die Setzung eines Bestimmungslosen, die weitere Setzungen und Bestimmungen nach sich zieht: »In dem Gewirr und dem steten Fluß der Erscheinungen scheint der Verstand zunächst fast willkürlich gewisse feste Punkte zu fixieren und herauszuheben, um kraft ihrer ein be­ stimmtes Gesetz der Veränderung zu erkennen - aber alles , was er in diesem Sinne als bestimmt und gültig ansieht, erweist sich ihm im eigenen weiteren Fortschritt alsbald als bloßer Näherungswert. Die erste Setzung muß durch eine zweite, diese durch eine dritte usf. auf der einen Seite logisch einge­ schränkt, auf der anderen Seite eben damit zugleich logisch näher determi­ niert werden. So verschiebt sich immer aufs neue der jeweilig gewählte theoretische Mittelpunkt des Denkens; aber erst in diesem Fortgang wird auch der Umkreis des Seins der gegenständlichen Erkenntnis mehr und mehr mit dem Gedanken erfüllt. «53 Indem das Denken Wandelbares als Darstellung für etwas Beharrliches -

SFB , S. 425 . Dl, S. 2 1 2 f. (Hervorheb . d. Verf. ) . KLL, S. 2 1 6 . 53 Re! . , S . 2 0 ; vgl . a. a. 0 . 96 f. ; sowie PsF I I I , S. 557.

50 5t 52

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nimmt, setzt es in den Prozeß der Erfahrung Halt- und Ruhepunkte : Die bloße Zuordnung unterschiedlicher Inhalte zu verschiedenen Zeitmomenten reicht zur Bildung des Gedankens Veränderung jedoch nicht aus . Darüber hinaus ist in den Erscheinungen selbst etwas Beharrliches und sich selbst Gleichbleibendes gefordert, mit Beziehung auf das ein Wechsel in gewissen anderen Bestimmungen überhaupt erst feststellbar wird . Es ist daher not­ wendig, die Beziehung, die sich uns zunächst nur für einen einzigen, unteil­ baren Moment kundtut, über ihre anfängliche Sphäre hinaus auszudehnen, bis sie schließlich die Gesamtheit der künftigen Zeitpunkte in irgendeiner angehbaren Weise determiniert . Von daher schließt jedes Einzelurteil ein Mo­ ment der Unendlichkeit in sich, »sofern der Inhalt, der in ihm gesetzt ist, sich auf die Totalität der Zeiten überträgt und gleichsam in beständiger identi­ scher Neuerzeugung durch diese Totalität hin sich fortsetzt. «54 Für die Bestimmung der Substanzkategorie folgt hieraus, daß sie nicht die Fortdauer von Dingen und dinglichen Beschaffenheiten, sondern den Gedanken der »relative[n] Selbständigkeit bestimmter Glieder eines funktionalen Zusam­ menhangs [repräsentiert], die sich im Vergleich zu anderen als unabhängige Momente erweisen. « ss Die Unterscheidung eines relativ Konstanten im Verhältnis zu etwas relativ Wandelbarem impliziert neben dem Begriff der Einheit der Zeit als Gedanken der Dauer im Wechsel die Forderung, alle gesetzten festen Dingeinheiten immer auch als räumliche Einheiten zu denken; die Sukzession der Ein­ drücke muß gewissermaßen angehalten, ihr Nacheinander in ein Zumal umgeformt werden. 56 Denn der Nachweis, daß ein Ding eben dieses eine bestimmte ist und als dieses beharrt, läßt sich nur durch die Bestimmung der Stelle führen, die es im Ganzen der Anschauung einnimmt . Daß sich Begriffe auf räumliche Anschauungen beziehen, bedeutet insofern lediglich, daß jede Objekterkenntnis durch geometrische Konstruktionen vermittelt sein muß, was wiederum nichts anderes heißt, als daß die Geometrie, sofern sie von bestimmten Gestalten im Raum handelt, diese allein durch die Synthesis­ funktionen des Denkens hervorzubringen vermag. In dieser Funktion, das sinnlich Mannigfaltige zu ordnen und zu gliedern, bedeuten Cassirer daher konsequenterweise Begriffund Gestalt Synonyma57, so daß die geometrische Gestalt gleichermaßen zum Ausdruck wie zur Bewährung des logischen Ty­ pus dient. Der besondere Gegenstand ist - wie es in der Philosophie der symbolischen Formen heißt - ein »räumliches Individuum«, das eine »eigene >Sphäre< besitzt, in der es ist, und in der es sich gegenüber allem anderen Sein behauptet. «58 S4

SFB , s. 327. SFB, S . 1 1 9; vgl. KLL, S . 1 99. S6 Vgl. PsF III, S . 1 79. s7 Vgl. SFB, S. 89; GEP II, S . 695 f. s s PsF III, S. 166. ss

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Zweites Kapitel

Für die naive Weltsicht mögen die Dinge und mit ihnen ihre raum-zeitliche Ordnung als eine ihnen anhaftende Eigenschaft gegeben scheinen; für Cassi­ rer zählt allein, daß die Wissenschaften Raum und Zeit nicht nach der Analogie mit der Wahrnehmung, sondern nach der Analogie mit dem Urteil bilden. Indem die Forschung Raum und Zeit nicht als Ding- , sondern als Maßbegriffe nimmt, hört für sie der Ort auf, etwas Reales zu bedeuten. Die Frage nach dem Grund des Ortes eines Körpers entfällt damit ebenso wie die nach dem Grund seines Verbarrens in ein und demselben Ort . Dadurch jedoch, daß der Akzent vom Ort auf die Ortsveränderung verschoben wird, läßt sich Bewegung als bestimmte Größe denken. Identität und Dauer, tradi­ tionell den Orten vorbehalten, gehen auf die Bewegung über, für die nun­ mehr numerische Konstanz gefordert werden kann, die im Trägheitsgesetz schließlich ihren wissenschaftlichen Ausdruck findet. 59 Als Inbegriffe reiner Erkenntnisfunktionen ergänzen sich Raum und Zeit zur Einheit empirischer Bestimmtheit; das Raurn-Zeitkontinuum ersetzt die Substanz vollständig, insofern es die Voraussetzung ihrer Bestimmtheit ist. Seine Funktion ist »niemals ein einzelnes Resultat der Messung, sondern ihre Voraussetzung und Bedingung. «60 Als Bedingungen für Gesetze aber sind Raum und Zeit nicht selbst wiederum Gesetze, sondern Formen. »Sie be­ zeichnen« - wie Cohen formuliert - »Arten der Bestimmtheit des Bewusst­ seins durch seinen Inhalt; aber diese Arten, verschieden, wie sie sind, müssen sich erst verbinden, um Gesetze zu verfassen. «61 In völliger Übereinstim­ mung hiermit hatte Cassirer bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff die physikalischen Maßbegriffe als die »eigentlichen und notwendigen Ap­ perzeptionsbegriffe«62 bezeichnet. Als Anschauungen gelten ihm Raum und Zeit nur noch, insofern sie die » ersten und fundamentalen Ordnungen sind, in die jeder empirische Inhalt gefaßt werden muß . «63 Der Raum bedeutet so wenig Räumlichkeit, wie die Zeit Zeitlichkeit: »Der Raum a priori ist nicht der physikalische, auch nicht einmal, genau betrachtet, der geometrische, sondern nur das Erzeugen und Gestalten des Letzteren . «64 Der Gedanke notwendiger Beziehungen zwischen den heterogenen Gebieten der sinn­ lichen Wahrnehmung fordert Gebilde, die sich außerhalb der Sonderbe­ stimmtheit und qualitativen Gegensätzlichkeit dessen halten, was sie in Beziehung setzen . Allein der »Leitgedanke der Messung«65 verleiht dem Em­ pirischen feste Gestalt und Prägung. In der Theorie des physikalischen Feldes, in der dieses Motiv seinen bislang prägnantesten logischen Ausdruck 59 Vgl. Rel . , S. 1 6 . 60 E . Cassirer, Philosophische Probleme 6 t H . Cohen, KTE, S. 2 1 2 . 62 SFB , S. 198. 63 GEP II, S. 699; vgl. a. a. 0 . , S. 86 f. 64 H. Cohen, KTE, S. 743 . 6 5 SFB , S. 198.

der Relativitätstheorie, S. 1 3 5 1 .

Gegenständliches Denken

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gefunden hat, fungiert das qualitativ nicht charakterisierte Dies nicht mehr als verborgener Träger bestimmter Eigenschaften, sondern nur noch als das Hier-Jetzt der einzelnen Raumzeitstelle.66 Kein Punkt dieses Kontinuums wird auf ein starres Bezugssystem außer ihm, sondern gewissermaßen nur auf sich selbst und die unendlich benachbarten Punkte bezogen, so daß ver­ glichen mit den starren Geraden der Euklidischen Geometrie nicht nur alle Maße unendlich flüssig werden, sondern zugleich der physikalische Gegen­ stand als Inbegriff einfacher Lagebestimmungen nur relativ zum Feld als eine ausgezeichnete Stelle in ihm >existierterklärenBe­ zugsmollusken< [ . . . ] ; aber der gedachte Inbegriff aller dieser >Mollusken< genügt [ . . . ] erst wahrhaft der Forderung einer eindeutigen Beschreibung des Naturgeschehens . Denn das allgemeine Relativitätsprinzip fordert, daß alle diese Systeme mit gleichem Rechte und gleichem Erfolge bei der Formulie­ rung der allgemeinen Naturgesetze als Bezugskörper verwendet werden können: die Form der Gesetze soll von der Wahl der Mollusken gänzlich unabhängig sein. «68 Die Annahme irgendeiner sich außerhalb des elektromagnetischen Feldes bewegenden Substanz ist damit funktionslos geworden . Der vielleicht höch­ ste Triumph, den der reine Substanz-Gedanke über die Substanz- Vorstellung davonträgt, besteht für Cassirer in der Krise der Anschauung. 69 Die moderne Physik dementiert die Möglichkeit sinnvollen Redens über eine zu verschie­ denen Zeiten identische Materie. Was auch immer als das letzte physisch Reale auftritt, hat den Schein der Dinghaftigkeit eingebüßt, ohne daß durch

diesen Verzicht auf Dinglichkeit die Objektivität der Physik erschüttert wor66 67

Vgl. Rel . , S. 54 ff. ; PsF III, S. 544 f. ; sowie Dl, S. 278, 333 . DI, S. 249 . 68 Rel . , S . 66. 69 Vgl. Dl, S. 3 1 5 .

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Zweites Kapitel

den wäre . Allein der Charakter des Gegenstands ist ein anderer geworden: Er bedeutet nicht länger ein schematisierbares , in der Anschauung realisierbares Etwas mit bestimmten räumlichen und zeitlichen Bestimmungen, sondern fungiert nur noch als ein »rein gedanklich zu erfassender Einheitspunkt. «70 Als bloßes X, mit Bezug auf das die Vorstellungen synthetische Einheit ha­ ben, bezeichnet er das gedankliche Schema, in dem die gesetzlichen Abhän­ gigkeiten der Erscheinungen und ihre wechselseitigen funktionalen Zuord­ nungen ihren systematischen Ausdruck gefunden haben . Statt den reinen Stoff repräsentiert er die Form und den Modus des Begreifens selbst : »Was zunächst isoliert schien, tritt jetzt zusammen und weist wechselweise aufein­ ander hin; was zuvor als einfach galt, das offenbart jetzt eine innere Fülle und Mannigfaltigkeit, sofern sich zeigt, daß sich von ihm aus in kontinuierlichem Fortschritt und nach völlig bestimmten Regeln zu anderen und wieder ande­ ren Daten der Erfahrung gelangen läßt. Indem wir die Einzelinhalte auf diese Art gleichsam mit immer neuen Fäden aneinanderknüpfen, geben wir ihnen damit jene Festigkeit, die das auszeichnende Merkmal der empirischen Ge­ genständlichkeit ausmacht. «71 Damit ist die Dingform der endlichen und starren Bezugskörper endgültig verlassen und der Weg zur Systemform der Natur gebahnt: Was die her­ kömmliche Metaphysik den Dingen an und für sich als Eigenschaft vindi­ ziert, muß sich nunmehr im Prozeß der Objektivierung als notwendiges Moment erweisen lassen. Das jedoch wäre unmöglich, wäre nicht der Über­ gang vom Hier-So der Maßaussagen zum Wenn-So der Gesetzesaussagen fließend . Zwar beschränken sich Maßaussagen darauf, bestimmten Raum­ Zeitstellen zugehörige und in ihnen lokalisierte Einzelgrößen zu verknüpfen, während in den Gesetzesaussagen nicht etwa mehr oder weniger umfangrei­ che Register von Einzelfällen vorgestellt, sondern Größenklassen verknüpft gedacht werden, die im allgemeinen aus unendlich vielen Elementen beste­ hen . Der qualitative Sprung zwischen beiden Aussageformen berechtigt jedoch keineswegs zu der Annahme, sie auch unabhängig voneinander ins Werk setzen zu können . Die Art und Weise, wie Cassirer den meistenteils leichtfertig famulierten Satz, die exklusive Funktion des wissenschaftlichen Experiments sei es, em­ pirische Wirklichkeit zu bezeugen, hinsichtlich seiner logischen Prämissen diskutiert, läßt hieran keinen Zweifel. Denn auch Maßverhältnisse lassen sich nur aufgrund von Naturgesetzen ermitteln und feststellen; »indem wir von der dynamischen Abhängigkeit der Erscheinungen untereinander ausgehen und kraft dieser Abhängigkeit die Erscheinungen sich selbst wechselseitig ihre Stellen in der Raum- und Zeit-Mannigfaltigkeit bestimmen lassen . «72 70 71 72

PsF III, S. 554 (Hervorheb . d. Verf. ); vgl. Dl, S. 283, 301 . SFB , S. 373; vgl. a. a. 0 . , S. 404 . Rel . , S. 1 0 1 .

Gegenständliches Denken

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Um ein Wahrnehmungsganzes in seine einzelnen es konstituierenden Ele­ mente zu zerlegen, bedarf es wohl des Experiments . Die Bestimmung der Form jedoch, kraft deren sich die experimentell isolierten Elemente zu einer rational beherrschbaren Einheit zusammenfassen lassen, fällt in den Aufga­ benbereich der Mathematik. Und wenn weiterhin das in der Mathematik vor aller Erfahrung entwickelte System möglicher Relationssynthesen als Grundschema der Verknüpfung fungiert, die der »Gedanke am Stoff des Wirklichen«73 versucht, so folgt hieraus umgekehrt, daß das Experiment in seinem Ergebnis nur dann eine sichere Antwort auf die Frage geben kann, welcher der denkbaren Beziehungszusammenhänge in der Erfahrung tat­ sächlich verwirklicht ist, wenn zuvor das Problem eindeutig formuliert worden ist. Der Erkenntniswert des Experiments bestimmt sich daher nie­ mals ausschließlich danach, wie oft es sich mit gleichem Erfolg wiederholen läßt, sondern entscheidet sich an der Frage, ob es gelungen ist, in ihm alle fremden Nebenumstände auszuschalten und nur die wesentlichen Grundbe­ dingungen erfaßt und selbständig exponiert zu haben . »Ist diese Aufgabe gelöst, so ist der Punkt erreicht, wo dem Naturforscher >ein Fall für tausend giltExistenz< noch »Einzigkeit der Bestimmung«87 und »vollständige, in keiner Hinsicht unvollendete Bestimmtheit des Seins [ . . . ] in Bezug auf Zeit und Raum. �88 Mit der Relativitätstheorie, vor allem aber 82 8} 84

SFB , S. 328; vgl. H. Cohen, LrE, S. 371 . Vgl. Dl, S. 1 73 . Vgl. L K , S . 3 2 »Denn die echte Idealität [ . . . ] muß Neues finden, statt Altes unter einer anderen Form zu wiederholen. « 8 5 SFB , S . 327. 86 Vgl. DI, S. 304. 8 7 P. Natorp, LGeW, S . 302 . 8 8 P. Natorp, LGeW, S . 3 3 5 ; vgl. ders . , Philosophie. I h r Problem und ihre Probleme, s. 69.

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Zweites Kapitel

durch den Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenmechanik ist diese Vor­ stellung einer ens omnimodo determinatum für weite Bereiche der Physik funktionslos geworden . Zwar hält auch die moderne Physik an der Gesetz­ lichkeitsforderung fest, doch das Postulat der Einförmigkeit und Gleichför­ migkeit des Naturgeschehens ist von ihr aufgegeben worden. Sie sieht sich »in die Notwendigkeit versetzt, verschiedene Begriffssysteme nebeneinan­ der anzuwenden, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen. Aber die Einheit der Naturerkenntnis verlangt keine derartige Einerleiheit. «89 Durch Einführung des Begriffs symbolischer Bezug trägt Cassirer dieser Entwicklung Rechnung; in ihm findet das Bohrsehe Komplementaritäts­ prinzip wie die Unbestimmtheitsrelationen Reisenbergs ihren adäquaten philosophischen Ausdruck. Denn auch ihm entsprechen nicht Aussagen über das objektiv Wirkliche, sondern modale Aussagen über das empirisch Mögliche; er setzt nicht bestimmte Objekte voraus, um von ihnen festzustel­ len, daß sie unserer Erkenntnis niemals vollständig zugänglich sind, sondern enthält »eine neue Festsetzung über die Objektbegriffe, die wir mit Fug und Recht bilden dürfen, sofern wir uns streng in den Grenzen des Beobachtba­ ren«90 , d. h. des Meßbaren halten . Symbolischer Bezug aber ist ein Synonym für Cohens Begriff der Ordnung, der schärfer als der der Verknüpfung die den Gegenstand konstituierende Geltung des ihn erschließenden Urteilszu­ sammenhangs ausdrückt: »In der Ordnung des Verhältnisses besteht schlechthin der Gegenstand, und er kann darin mit aller Objektivität beste­ hen. «91 Als Integral aller konstanten Beschaffenheiten, von denen die Expe­ rimente berichten bzw. berichten werden, ist er Idee; die Erkenntnis macht ihn zu der Bestimmtheit, die ihr als Orientierungspunkt vorausliegt und so bestimmend wirkt. Denn nicht was ist, lehren die Ideen, sondern was unter bestimmten Voraussetzungen notwendig und allgemein gültig aus ihnen

folgt. Der wissenschaftliche Maßstab für die Bewertung von Hypothesen ist somit nicht ihre Anschaulichkeit, sondern ihre Leistungsfähigkeit. Wenn sich Ideen zuletzt empirisch und d. h. immer auch anschaulich erfüllen müs­ sen, so ist diese Erfüllung niemals direkt möglich, sondern kann sich allein so vollziehen, daß aus der Annahme ihrer Geltung sich mittels hypothetischer Deduktion andere Sätze ergeben, die dem System der physikalischen Grund­ begriffe nicht widersprechen .92 Für diesen logischen Fortgang begründet die Idee die Sachheit; »aber freilich nur als Sachlichkeit und Notwendigkeit des Urteils; der Begriff wird zum >Grunde< des >GegenstandesObjektivierung< der Phänomene, gerecht werden . «94 Kausalität repräsentiert die Idee des Gesetzes als »symbolische Einheit«95 aller Reihen­ terme . Die Analyse des wissenschaftlichen Gegenstandsbegriffs kommt somit zu dem Ergebnis, daß alle Objektivität auf dieser Bindung an das Kausalitäts­ prinzip beruht und ohne diese Bindung nicht gedacht werden kann. Gerade deshalb aber ist ausgeschlossen, daß es jemals zu inhaltlich neuen Einsichten führen kann; seine Funktion ist es stattdessen, neuen Methoden den Weg zu bahnen. Denn in inhaltlicher Hinsicht geht der Kausalsatz über das bereits Gewonnene niemals hinaus, sondern drückt ihm gewissermaßen nur »er­ kenntniskritisch das Siegel auf«96, indem er als Postulat des empirischen Denkens einen inneren, seinerseits methodisch bestimmbaren Zusammen­ hang der Gesetzesaussagen fordert. Auf dieser neuen Stufe der Betrachtung bezieht sich die Synthesis nicht mehr nur auf einzelne Tatsachen bzw. be­ stimmte Tatsachenklassen, sondern umfaßt die einzelnen Teilgebiete der wissenschaftlichen Disziplinen, um sie als gegeneinander unterschiedene aus einer sie alle gleichermaßen übergreifenden Einheit zu erklären. Wenn allerdings Kausalität nicht als Behauptung eines erreichbaren Ab­ schlusses des Umsetzungsprozesses der Beobachtungsdaten in exakte Maß­ aussagen, der Zusammenfassung der Meßresultate in Funktionsgleichungen und der systematischen Vereinigung dieser Gleichungen kraft allgemeiner Ideen verstanden werden kann, sondern lediglich besagen will, daß sich alle diese Momente so aufeinander beziehen und miteinander verknüpfen lassen, daß aus dieser Verknüpfung ein System der Erkenntnis und eben kein Aggre­ gat von Einzelergebnissen resultiert97, so besteht seine Funktion nicht so sehr in der Verbreiterung der allgemeinen Basis des Wissens, als vielmehr in der Tieferlegung seiner Fundamente. In ihr erblickt Cassirer mit Hilbert die »ei­ gentliche Aufgabe jeder Wissenschaft. «98 Der Satz »>Erkennen< heißt für uns >bedingenMerkmal< es ist, mit den wenigst möglichen Bestimmungsstücken einen möglichst weiten Umkreis von Phänomenen zu umfassen und durch sie exakt zu beschreiben: »Die Möglichkeit dieser Bestimmung ist und bleibt ein Problem; aber im Kausalsatz wird dieses Problem zum Postulat erho­ ben . « 1 0 1

99 Re! . , S. 28. 1 00 DI, S . 206 . 1 0 1 DI, S. 209.

DRITTE S KAP IT E L

PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHIEGESCHICHTE

Cassirers Arbeiten zur Wissenschaftstheorie verstehen sich als Beiträge zu einer Theorie des Apriori als »allgemeine Invariantentheorie der Erfah­ rung. « 1 Die Eigentümlichkeiten des Macburger Ansatzes, die Erkenntnis als eine Sphäre von Urteilen zu betrachten, die hinsichtlich ihrer zeitlosen, näm­ lich rein logischen Bezogenheit auf Gegenstände überhaupt gedacht werden sollen, sind in diesem Arbeitstitel schlagwortartig zusammengezogen . Doch die Einprägsamkeit dieses Titels verleitet zu Mißverständnissen, die dazu geeignet sind, die fundamentalen Differenzen zwischen einem rein formalen und einem transzendentalen Logikverständnis wieder zu verwischen . Und zweifelsohne begünstigt Cassirer diese Mißverständnisse, wenn er den Titel des Apriori nur für »jene letzten logischen Invarianten« reserviert wissen will, »die jeder Bestimmung naturgesetzlicher Zusammenhänge überhaupt zugrunde liegen . «2 Gewiß impliziert die Entdeckung, daß sich in der Refle­ xion von Urteil und Urteilsgegenstand eine Dimension eröffnet, die allein das Denken in seiner Reinheit begreiflich werden läßt, die Aufgabe, die Re­ lation, durch die sich Urteile auf Gegenstände beziehen und durch die in einem Urteil ein Gegenstand gedacht wird, nicht als eine zeitliche, sondern als eine im strengsten Sinne unzeitliehe zu entfalten; und genau dies ist ja auch der präzise Sinn der Rede Cohens von der Konstitution des Denkens als Denken der bzw. in der reinen Erkenntnis. Wenn Cassirer jedoch eine Er­ kenntnis a priori nennt, »nicht als ob sie in irgend einem Sinne vor der Erfahrung läge, sondern weil und sofern sie in jedem gültigen Urteil über Tatsachen als notwendige Prämisse enthalten ist«3, so ist durch diese Festle­ gung im Gegenzug zur Logik der reinen Erkenntnis der Funktionsanalyse der Begriffe der Vorzug vor der Formulierung einer transzendentalen Logik als eigenständiger Disziplin gegeben : Cassirer bedeutet das Apriori die Idee jenes Minimums, das nötig ist, um die Wissenschaft in ihrer Prozessualität als geregelt begreifen zu können. Um die Angreifbarkeit dieser Entscheidung hat Cassirer gewußt. Denn um den Verdacht, dieses Konzept schließe eine unbegründbare, den wissen­ schaftlichen Prozeß unverständlich machende oder lassende Immunisierung der konstitutiven Grundfunktionen gegen die ihnen inhärente, vom Funk­ tionshereich auf sie zwangsläufig zukommende Dynamik zumindest nicht SFB , S. 356. SFB , S. 357 (Hervorheb . d . Verf. ) . 3 SFB , S. 357. t 2

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Drittes Kapitel

aus\ expressis verbis durch den Nachweis des Zusammenhangs des Kausali­ tätsprinzips mit dem Einfachheitspostulat zu entkräften, stellt er im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen klar, daß es nicht möglich ist, jemals bis zu jenen letzten Invarianten der Erfahrung vorzudringen, die an die Stelle des unveränderlichen Bestandes der >Dinge< getreten sind . »Viel­ mehr muß immer die Möglichkeit offengehalten werden, daß eine neue Synthesis einsetzt, durch die die universellen Konstanten, in welchen wir die >Natur< bestimmter großer Gegenstandsgebiete bezeichnet haben, selbst wieder enger aneinanderrücken und sich als Sonderfälle einer übergreifenden Gesetzlichkeit erweisen. «5 Daß aber in diesem hartnäckigen Insistieren auf der Möglichkeit zu immer neuen Synthesen der Ansatz zu einer spekulativen Logik gelegt ist, die das Apriori als eigenbedeutsame und so theoriefähige Dimension des Denkens exponiert, ist Cassirer trotz seines ausgeprägten Gespürs für Argumente seiner Kritiker, wie auch im krassen Gegensatz zu seiner Einsicht, daß wenn die allgemeine Struktur der Erfahrung notwendi­ gerweise beweglich zu denken ist, das Apriori, »das jetzt noch gesucht und an welchem allein festgehalten werden kann, dieser Bildsamkeit gerecht wer­ den«6 muß, verborgen geblieben . Es ist zu vermuten, daß dieser blinde Fleck in der Reflexion der eigenen theoretischen Grundlagen daher rührt, daß Cassirer wohl die Feststellung �ohens nachhaltig bekräftigt, daß das »eigenartigste Schicksal des Denkens« der »rastlose Fortschritt«7 in ihm sei, jedoch zugleich zu einem explizit kan­ tischen Verständnis des Terminus >rein< neigt, das diesen Begriff an eine bestimmte Form der Naturerkenntnis bindet. 8 Indem Cassirer diese kanti­ schen Restriktionen aufgibt, gelten ihm alle Erklärungen darüber, was unter einem allgemeinen Naturgesetz bzw. einer Invariante der Erfahrung verstan­ den werden soll, als analytische Behauptungen; das Prädikat synthetisch soll ausschließlich der Forderung vorbehalten bleiben, »daß es solche letzten Invarianten geben müsse . «9 Gerade dies aber macht historische Betrachtungen unumgänglich . Sie fun­ gieren als Leitfäden der systematischen Untersuchungen . Der immer noch anzutreffende Brauch, »die eigenen Gedanken sozusagen in den leeren Raum hineinzustellen, ohne nach ihrer Beziehung und Verknüpfung mit der Ge­ samtarbeit der wissenschaftlichen Philosophie zu fragen«1 0 , muß Cassirer daher als wenig förderlich und unfruchtbar ablehnen. In der nicht unberech­ tigten Befürchtung, daß derjenige, der das systematisch Allgemeine gegenVgl. W. Marx, Cassirers Philosophie - ein Abschied von kantiansierender Letzbegründung ?, S. 84. s PsF III, S . 557; vgl. PsF li, S . 4 1 f. 6 Dl, s. 2 1 2 . 7 H . Cohen, LrE, S . 40 1 . s Vgl. Dl, S . 2 1 1 . 9 Re! . , S . 39. 1 0 PsF I I I , S. 9. 4

Philosophie und Philosophiegeschichte

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über dem historisch Besonderen isoliert, es letztlich an dieses historisch Besondere verlieren muß, verzichtet er darauf, die transzendentalen Voraus­ setzungen für einen Fortschritt der reinen Erkenntnisse grundzulegen. Statt­ dessen begnügt er sich damit, die Geltungsansprüche wissenschaftlicher Theorien auf der Grundlage faktischer Entwicklungen zu rekonstruieren : Cassirer historisiert den Wissenschafts- und über ihn den Philosophie begriff; statt einer Logik der reinen Erkenntnis schreibt er die Geschichte des Er­ kenntnisproblems, deren Anspruch es ist, »in der Entwicklung der philoso­ phischen Doktrinen und Systeme zugleich eine >Phänomenologie des philo­ sophischen Geistes< zu geben ( . . . ]; sie will die Klärung und Vertiefung verfolgen, die dieser Geist, in seiner Arbeit an den rein-objektiven Proble­ men, von sich selbst, von seinem Wesen und von seiner Bestimmung, von seinem Grundcharakter und seiner Mission gewinnt. « 11 Die Einsicht, daß das Wesen philosophischer Reflexion durch eine Viel­ zahl höchst unterschiedlicher, zum Teil sich widersprechender Philoso­ pheme bestimmt wird, bedeutet für den Philosophiehistoriker Cassirer, alle Anstrengungen, richtige von falscher Philosophie zu unterscheiden, solange zu suspendieren, bis die vielen Philosophien sowohl in ihrer Vielheit, als auch in ihrer Einheit verständlich geworden sind . Inmitten ihres Widerstreits gilt es, das Gesetz einer einheitlichen Gedankenbewegung zu erkennen und aufzuweisen. »Mag diese Bewegung durch noch so verschiedenartige intel­ lektuelle Antriebe bestimmt sein, und mag sie, von ihrer Peripherie aus gesehen, an jedem Punkte eine andere Richtung einzuschlagen scheinen, dies schließt nicht aus, daß es nicht doch ein latentes Zentrum gibt, um das sie kreist und auf welches hin sie orientiert ist . « 12 Nur dann bleibt der Versuch, das , was Philosophie >istSätzenEntwürfe< dem durch die Empfindung Gegebenen entgegen. Jene Scheidung von Form und Inhalt, wie sie die tran­ szendentale Methode vollzieht, widerspricht nicht nur [ . . . ] den psychologi­ schen Tatbeständen, sie widerspricht auch [ . . . ] der Geschichte der Wissen17 E. Cassirer, Sprache und Mythos, S . 98 f. 1 8 H. Cohen, LrE, S. 36. 19 M . Scheler, Die transzendentale und die psychologische Methode, S . 262 .

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Drittes Kapitel

schaft. >Aller möglichen Erfahrung< wird hier die Form zur unduldsamen Tyrannin, aller besonderen Erfahrung gegenüber zu einem schattenhaft un­ wirksamen Gebilde. «20 Damit ist ausgesprochen, was als Szientismus-Kritik seit der Jahrhundertwende eine geradezu atemberaubende Karriere gehabt hat; daß wir uns und die Welt verlieren, wenn wir die Idee des Menschen als eines Vernunftwesens in den Grundstrukturen wissenschaftlicher Rationali­ tät verorten . Die einseitige Orientierung am Faktum Wissenschaft habe die eigentliche Erfahrung des Suchens und Findens immer schon hinter sich und laufe daher Gefahr, über den sog. Resultaten die Erfahrung des Denkens zu vergessen . Damit aber verfehle sie ihr eigentliches Ziel: In der unmittelbaren, als authentisch verklärten Erfahrung eine die eigene konkrete Subjektivität priviligierende Instanz zu erkennen, durch die allein jene Vernunft wiederge­ funden werden könnte, die sich anders und umfassender behauptet als der auf Begriffe angewiesene Verstand, jener im Unterscheiden und Trennen so überaus geschickte Logos, dem die Erinnerung an eine in sich bedeutsame Totalität geschwunden ist. Die Reduzierung der transzendentalen Methode auf ein pünktliches Befol­ gen durch Konventionen sanktionierter, dem denkenden Individuum von außen vorgegebener Vorschriften hat aus der Philosophie jenes sich selbst bewundernde Unternehmen werden lassen, in dem der Zeitgenosse sich nicht ohne Einfalt im Dialog mit sich abkapselt und vor sich in ekstatische Verzückung gerät. Hier ist die äußerste Konsequenz aus dem Diktum Dil­ theys gezogen, daß das historische Bewußtsein wesentlich ein Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung und daher gegenüber allen Anstrengungen, mit dem methodischen Instrumentarium des Rationa­ lismus den einen inneren objektiven Zusammenhang der Wirklichkeit zu erweisen, resistent ist. 21 Ihm zufolge steht das Erkennen der geschichtlichen Welt vollständig unter den Bedingungen seines >GegenstandesSachen< nicht verzichtet werden . Ohne ihn zu erheben, d. h . ohne sachliche Kontinuität, ist es nicht einmal möglich, wech­ selnde Perspektiven, Einstellungen etc . als solche auch nur wahrzunehmen, geschweige denn zu verstehen . Die Identitätspräsentationsfunktion29 von Geschichtsschreibung und der Anspruch von Philosophie, letztbegründend zu sein, lassen sich miteinander in Einklang nur dann bringen, wenn philo­ sophische Selbsterkenntnis nicht als das dumpfe Gewahren einer wie auch immer bestimmenden Grundlagenkonstellation, sondern als die Aufgabe verstanden wird, das Denken des Denkens , insofern es sich unter möglichen, spezifisch bedingenden Faktoren realisiert, zu dimensionieren und differen­ Zieren . So ist auch hier das >Reine< Cohens, das die Ursprünglichkeit der Methode ebenso wie die Eigenständigkeit der Probleme vertritt3 0 , als konstruktiver 26 27 28 29

A. a. 0 . , S. 10; vgl. E. Cassirer, Eidos und Eidolon, S. 1 4 . GEP I, S. 1 4 . Vgl. stellvertretend G . Picht, Kunst und Mythos, S . 1 1 7. Zu diesem Begriff vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, 1 5 ff. , 201 ff. lO Vgl. H. Cohen, Einleitung mit kritischem Nachtrag zur »Geschichte des Materialismus« von F.A. Lange, S. 44.

Philosophie und Philosophiegeschichte

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Leitstern philosophiehistorischer Darstellungen und Analysen einzusetzen. Wie exakte Wissenschaft nur dadurch möglich ist, daß das reine Denken Kategorien zur Bestimmung von Gegenständen überhaupt entwickelt, so sind für eine wissenschaftliche Behandlung der Philosophiegeschichte Grundlagen gefordert, die ihren systematischen Ort ebenfalls im reinen Denken haben und somit nicht dem historischen Denken selbst entstammen können . Vom Werden als solchem kann es keine wissenschaftliche Erkennt­ nis geben . Um in es einzudringen und um es zu überblicken, muß sich das Denken zuvor bestimmter Halt- und Stützpunkte versichern, >>damit die historischen Erscheinungen, die für sich allein stumm sind, zu einer lebendi­ gen und sinnvollen Einheit werden . Wenn irgendwo, so wird es in der Geistesgeschichte deutlich, daß ihr Inhalt und Zusammenhang nicht gege­ ben, sondern von uns auf Grund der Einzeltatsachen erst zu erschaffen ist: sie ist nur, was wir kraft gedanklicher Synthesen aus ihr machen. «31 Auch die Geschichte des Denkens bedarf der »Leitung des Systems«, und es ist völlig ausgeschlossen, »dieses aus der Geschichte ursprünglich zu schöpfen oder durch sie zu rechtfertigen. «32 Philosophiegeschichte ist kein System, sondern wird zum System durch eine Art Rationalisierung zweiten Grades : Unabhängig von dem histori­ schen Kontext, innerhalb dessen es entstanden ist, wird jedes der historisch vorliegenden Systeme als Antwort auf die Frage gelesen, Was ist Denken ? Damit ist nicht nur das Denken zum »Ziel und [ . . . ] Gegenstand seiner Tä­ tigkeit«33, sondern zugleich die Bestimmung dessen, was Philosophie >istForm< und des >Wesens< und legt dieselbe zugrunde . «34 Doch selbst wenn sich aus dieser Form die Bedingungen ableiten ließen, die erfüllt sein müssen, um die Philo­ sophiegeschichtsschreibung als einen gleichermaßen integralen wie integrie­ renden Faktor philosophischer Grundpositionen und Stile zu behaupten, so ist damit nichts über die Art und Weise gesagt, wie auf diese Form zu reflek­ tieren ist. Offensichtlich ist es nicht möglich, die Frage nach dem >Wesen< von Philosophie in die nach der philosophischen Form restlos zu überführen. Der Begriff der prima philosophia ist und bleibt unterbestimmt; die Lehre von der Methode kann selbst diese konkrete Methode nicht sein .35 In der Konsequenz, die er in seinen ersten Arbeiten zur Geschichte der Philosophie hieraus zieht, zeigt sich Cassirer der Forderung Cohens ver­ pflichtet, Geschichte als einen Oberbegriff zu denken, der die Philosophie 31 GEP I, S. 1 5 . 3 2 P . Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 27. 33 H. Cohen, LrE, S. 29. 34 LK, S . 59.

35 Vgl . P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S . 153; sowie H. Holzhey, Cohen und Natorp I, S. 289.

Drittes Kapitel

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und die Wissenschaft gleichermaßen umschließt.36 In der Überzeugung, nur in dem Maße in der »geschichtlichen Arbeitswelt der Kultur« heimisch wer­ den zu können, wie es ihm gelingt, sich mit dem »sachlichen Interesse an den Prinzipien gegenwärtiger Forschung«37 zu erfüllen, bezieht er die jeweiligen philosophischen Systeme auf die Wissenschaftsgeschichte als eine Folge sy­ stemimmanenter Abläufe, deren Geschichte sich gleichsam von selber schreibt. In dieser Weise zur Sicherung der »>objektiven< Bedeutung des Kan­ tischen Idealismus«38 aufgerufen, hört Philosophiegeschichte auf, eine dis­ krete Mannigfaltigkeit vereinzelter Philosophien zu bedeuten, die nur durch jeweils bestimmte Traditionsverhältnisse der Aneignung oder des Wider­ spruchs untereinander verbunden sind . Die Unterscheidung des historischen vom systematischen Kant, wie sie innerhalb der Marburger Schule seit dem ersten Kant-Buch Cohens immer wieder unternommen worden ist, führt in Cassirers Geschichte des Erkenntnisproblems zu einer Konstruktion, deren auffälligstes Merkmal es ist, daß die objektive Bedeutung des Kamischen Idealismus, die die Auseinandersetzung mit Philosophiegeschichte erweisen soll, und die Orientierung der philosophiegeschichtlichen Methode am als notwendig unterstellten Gang der Entwicklung der Naturerkenntnis sich gegenseitig stützen. Wie fruchtbar ein solcher Ansatz ist, belegt nicht zuletzt der enorme, nach wie vor anhaltende Erfolg der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems. Gerade aber dieser Erfolg lenkt von dem eigentlichen Problem, nämlich der Frage ab, ob sich der Gedanke einer » Geschichte der wissenschaftlichen Ver­ nunft [ . . . ] als das Ideal aller Erkenntnis«39 mit der Idee eines offenen Apriorismus ohne weiteres in Einklang bringen läßt. Für Cassirer selbst er­ geben sich hier zunächst keine ernstzunehmenden Schwierigkeiten, zumal ihm die Geschichte der wissenschaftlichen Vernunft in erster Linie eine Pro­ blemgeschichte bedeutet: »Wer die Gesamtentwicklung des Denkens ver­ folgt, dem muß deutlich werden, daß es sich in ihm um einen langsamen stetigen Fortschritt derselben großen Probleme handelt. Die Lösungen wechseln, doch die Grundfragen behaupten ihren Bestand . «40 Eine apriorische Konstruktion des Geschichtsverlaufs, wie sie Hegel zu Recht vorgeworfen wird, lehnt Cassirer zwar strikt ab . 41 Doch offensichtlich hebt er sich von der Konzeption Hegels, derzufolge die Aufgabe des Philo­ sophiehistorikers darin besteht, »in dem Scheine des Zeitlichen und Vorüber­ gehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, was gegenwärtig ist, 36 37

Vgl. H. Cohen, KTE, S . 9. GEP I, S. 1 6 . 38 E . Cassirer, Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, S . 257. 39 H. Cohen, KTE, S. 1 0 . 40 E . Cassirer, D e r kritische Idealismus und d i e Philosophie d e s gesunden Menschenverstan­ des, S. 3 4 . 4t GEP I, S. 1 7; vgl . H . Cohen, KTE, S. S f.

Philosophie und Philosophiegeschichte

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zu erkennen«42, zunächst lediglich dadurch ab, daß er statt von der endlichen Substanz der philosophischen Idee von den identischen Problemen der Phi­ losophie spricht. 43 Tatsächlich aber ist mit dieser oberflächlich betrachtet lediglich terminologischen Verschiebung der Hegeische Kontext verlassen und der Platonische erneuert. Denn daß die Ideen Platons Urbilder sind, impliziert nicht, daß sie es sind, weil es von ihnen Abbilder gibt; im Gegen­ teil : Urbilder sind sie unabhängig davon, ob Abbilder von ihnen genommen worden sind . Entscheidend ist, daß sie an sich selbst die Nachahmung nicht als schlichte Wiederholung, sondern als Erfüllung der Verbindlichkeit der >Sache selbst< fordern . So kommt es denn auch Cassirer darauf an, die Ge­ schichte der Philosophie so zu behandeln, als seien über sie hinweg Fragen gestellt und Antworten auf sie versucht worden, deren Unzulänglichkeit sie der Verdrängung durch andere Antworten auf dieselben Fragen ausliefert. Innerhalb dieses Prozesses sind Dogmatismen so unumgänglich wie auf Dauer haltlos : Der Versuch, diesen Verdrängungsvorgang abzuwehren, läßt zwar die Idee aus dem Stadium einer weitgehend unbestimmten Vermutung heraustreten und sie eine in sich bestimmte Gestalt annehmen . Doch wenn >Substanzerhaltung< ein Prinzip der Geschichtslosigkeit ist, so darf die Sub­ stanz, was auch immer sonst sie ist, nie mehr als wiederum nur einen Punkt auf der Linie des progredierenden Denkens bedeuten. Die Wahrheit liegt in der Frage und ist auch immer schon dort gesucht worden; die gegebenen Antworten können niemals wahr, sondern immer nur die jeweils richtigen sem . Unterlegt man der Attacke, die Scheler gegen den Anspruch einer vollstän­ digen Ableitung des Apriorischen mit dem Hinweis führt, daß schlicht unvorhersehbar sei, wie weit noch »apriorische Lebensmächte in die Erfah­ rung der Menschheit eintreten werden«44, den Sinn, auf die Sinnlosigkeit hinzuweisen, wie Kant die Kategorien sowohl der Zahl als auch ihrem Inhalt nach als fertige Stammbegriffe des Verstandes zu behandeln, so braucht sich Cassirer von ihr in der Tat nicht betroffen zu fühlen . Als Urteils- bzw. Begriffsformen bedeuten sie ihm lediglich »einheitliche und lebendige Mo­ tive des Denkens, die durch alle Mannigfaltigkeit seiner besonderen Gestal­ tungen hindurch gehen und sich in der Erschaffung und Formulierung immer neuer Kategorien betätigen. «45 Von dem stetigen Fortschritt in der Behandlung derselben Grundprobleme, wie er in der Streitschrift gegen Le42 G.W.F. Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 25; vgl. ders . , Vorlesungen

über die Geschichte der Philosophie, S. 49. 43 Cassirer spricht an anderer Stelle vom »Zwang der sachlichen Probleme« (Erkenntnistheo­ rie nebst den Grenzfragen der Logik, S. 43), Cohen von »ewigen Problemen« (Rede bei der Gedenkfeier der Universität Marburg zur hundertsten Wiederkehr des Todestages von lmma­ nuel Kant gehalten am 14. Februar 1 904, S. 1 5) und Natorp von »ewigen Fragen« (Kant und die Marburger Schule, S. 1 94). 44 M . Scheler, Die transzendentale und die psychologische Methode, S. 262 . 45 GEP I, S. 1 8 .

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Drittes Kapitel

onard Nelson und die Friessehe Schule behauptet wird, rückt Cassirer noch im gleichen Jahr, mit der Einleitung zum ersten Band des Erkenntnispro­ blems ab . Offensichtlich spürt er, daß die Cohensche Idee einer Geschichte der wissenschaftlichen Vernunft gegen den Vorwurf, in ihr bestimme ein historisches Vorurteil, welches Faktum sich Philosophie voraussetzt, nichts oder doch nur wenig vorzubringen hat. Strenge Kontinuität in der geschicht­ lichen Entfaltung einer Wissenschaft kann es nur dort und soweit geben, als sich ihre Aufgabe in der Bestimmung von Gegenständen innerhalb eines durch die hypothetische Setzung ihrer Grundverfassung homogenen Hori­ zontes vollzieht. Aber erst in seiner Hamburger Rektoratsrede und schließlich in seiner Göteborger Antrittsvorlesung befaßt Cassirer sich mit den Konsequenzen der Einsicht, daß die geschichtliche Vorfindlichkeit des Bezugsfaktums ebenso wie seine besondere Bedeutung als eine bestimmte Dimension des Denkens neben möglicherweise unbestimmt vielen anderen als Momente der Transzendentalität von Philosophie zur Geltung gebracht werden müssen: Die eigentümliche Voraussetzungslosigkeit philosophischen Denkens, d . h. der Umstand, daß Philosophie im Sinne der Einzelwissenschaften keinen eigenen Gegenstand >hatEr­ kenntnisapparates< abgeleitet werden. Auch in Fragen die Einheit des Be­ wußtseins betreffend ist strikt zwischen dem psychologisch Früheren und dem erkenntniskritisch Ursprünglichen zu unterscheiden. Allerdings rückt damit die Frage, wie sich die Vielfalt der Inhalte und Richtungen geistiger Tätigkeit innerhalb der Kultur gegeneinander abgrenzen und miteinander verknüpfen, aus dem thematischen Zusammenhang der Logik der reinen. Erkenntnis heraus . 1 9 Die Frage nach der Einheit des Bewußtseins als Frage nach der Einheit des Kulturbewußtseins ist nicht darauf aus , das philosophi­ sche System grundzulegen, sondern abzuschließen. Der Geist, von dem die Geisteswissenschaften handeln, fungiert daher auch nicht als ein selbstver­ ständlich verwendbarer Grundbegriff, sondern als ein Zielbegriff, mit dem sich eine Erklärungsaufgabe verbindet: »Denn darauf kommt es für die Ein­ heit des Kulturbewußtseins an, daß die verschiedenen Arten der Gesetze und der Inhalte nicht in ihrer Verschiedenheit ausgelöscht und in eine neue Art von Gesetz und Inhalt verwandelt sind, sondern daß ihre Verschiedenheit gegeneinander frei und kraftvoll sich behaupte; und daß dennoch diese Ver­ schiedenheit in einer neuen, der eigentlichen Einheit zur Vereinigung ge­ lange . [ . . ] Denn diese Einheit erst bringt die Einheit des Menschen, und somit den Begriff des Menschen zur Erzeugung. [ . . ] Die Einheit des Men-

16 17 18

GEP I, S. 1 3 . GEP I, S . 1 1 . GEP II, S . 706 (Hervorheb . d. Verf. ) . 1 9 GEP II, S . 76 1 .

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sehen hat die Logik zu ihrer ersten methodischen Grundlage; die Psycholo­ gie aber bildet das Ideal ihrer Vollendung . «2 0 Kant hatte es verstanden, die objektive Natursphäre und die subjektive Erkenntnissphäre nicht durch eine Identitätsphilosophie etwa im Sinne Schellings miteinander zu verschmelzen, sondern die sie trennende Kluft durch Analyse der Bedingungen der Möglichkeit eines Kulturerzeugnisses, der Naturwissenschaft, zu überbrücken. Der hierin enthaltene Ansatz zu einer Philosophie der Kultur läßt sich indessen nicht vollständig entwickeln, wenn umstandslos an die Stelle der Kulturerzeugnisse jeweils die Wissen­ schaften von ihnen zu den Objekten der Möglichkeitsfrage erklärt werden . So geht denn auch bei Cohen auf dem Gebiet des Bewußtseins die Bedeu­ tung, welche sonst der Reinheit zukommt, auf den Begriff der systema­ tischen Einheit als den Leitbegriff der systematischen Entwicklung über; wiederum tritt für das begehrte Faktum »die Fiktion, für den Grund und den Urquell die Grundlegung«21 ein . Damit liegt der Kultur als einem System unterschiedlichster, jedoch gleichberechtigter Werte und Normen das transzendentalkritische Apriori der Erkenntnisaufgabe selbst dann voraus, wenn es innerhalb des Systems als Faktum Wissenschaft wiederkehrt. Weil aber das, was beurteilt wird, nicht selbst als das Apriori des Urteils angesehen werden kann, ist die Einheit der Bestimmung, welche das Gesetz und den Gegenstand konstituiert, als Ein­ heit für das Bewußtsein zu setzen . Und weil sich weiterhin kein bestimmtes Bewußtsein ohne diese Einheit der Bestimmung denken läßt, muß hinsicht­ lich der Erkenntnis Bewußtsein immer bestimmtes Bewußtsein und d. h . Objektbewußtsein bedeuten .22 I n den Mittelpunkt theoretischer Bemühun­ gen rückt das Subjekt der Erkenntnis immer erst dann, wenn vom denkbaren Etwas überhaupt zur tatsächlichen Objekterkenntnis übergegangen wird; erst dann wird es der vom erkenntnistheoretischen Subjekt erfaßte >Gegen­ stand< der Erkenntnis . Die transzendentale Psychologie richtet sich daher niemals unmittelbar auf das erlebende Ich; sie kann es immer nur an den Inhalten, die sich auf es ebenso beziehen, wie das Ich sich auf sie bezieht, zur Darstellung bringen und durch diese symbolisieren . Von Bewußtseinsidealismus bzw. Bewußtseinsphiloso­ phie kann hier wirklich keine Rede sein. Nichts wäre verfehlter als die Vermutung, das Ich könne sich selbst als Ü7tOXElJ.leVOV begreifen und sich als das absolute Subjekt seines Denkens selbst erscheinen. Und auch die Ansicht, Cassirer trachte danach, »allein aus der Lehre von der Grundkonstitution des 2o 21

H . Cohen, LrE, S . 609 f. ; vgl. SFB , S . 309. H . Cohen, LrE, S . 6 1 1 ; vgl. ders . , KTE, S . 647 ff. Von einem »Rückgängigmachen der logischen Grundlagen der kritischen Philosophie«, das S . Marck (Die Lehre vom erkennenden Subjekt in der Marburger Schule, S. 385) erkennen will, kann keine Rede sein . 22 Vgl. KLL, S. 263 ; sowie E. Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, S. 5 f. ; und P. Natorp, EP, S. 1 1 8 f. ; AP, S. 8 1 .

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Viertes Kapitel

Subjekts [ . . ] eine Theorie von der Grundkonstitution des Objekts zu gewin­ nen«23 widerspricht sowohl dem Textbefund als auch den kantischen Quel­ len, die Cassirer nie aus den Augen verliert. Zwar läßt sich die Möglichkeit stets neu sich auf bestimmten Gedanken aufbauender Gedanken zu einer Vollzu­ gseinheit zusammenfassen, die das Bewußtsein vertritt und zu seinem Zen­ trum das Ich als die seine Einheit gewährleistende Identitätsform hat. Wäre es jedoch möglich, diesen Mittelpunkt und die mit ihm gegebene Gestalt des Erlebens isoliert zu betrachten, dann allerdings wäre er nicht das, was er sein soll; der relle Grund für die Zusammenfassung aller nur möglichen Gedanken zu einer Einheit des Wissens : »Das Denken, für sich genommen, ist bloß die logische Funktion, mithin lauter Spontaneität der Verbindung des Mannigfal­ tigen einer bloß möglichen Anschauung, und stellet das Subjekt des Bewußt­ seins keineswegs als Erscheinung dar, bloß darum, weil es gar keine Rücksicht auf die Art der Anschauung nimmt, ob sie sinnlich oder intellektuell sei. Dadurch stelle ich mich mir selbst, weder wie ich bin, noch wie ich mir erscheine, vor, sondern ich denke mich nur wie ein jedes Objekt überhaupt, von dessen Art der Anschauung ich abstrahiere. «24 Es ist unproblematisch, für das unmittelbare Erleben ein Selbstbewußtsein anzunehmen . Ein Erleben dieses Erlebniszentrums aber, in dem alle Gedan­ ken ihren Ursprung haben sollen, ist notwendig auszuschließen. Denn hierzu müßte entweder sich das Ich verdoppeln, um dem Ich erscheinen zu können; - damit gäbe es seine Identität preis . Oder aber das Ich müßte sich unmittelbar auf sich selbst beziehen; - doch wäre dann weder ein bewußtes Erleben noch der Gedanke >Nicht-Ich< möglich . Das erlebende Ich geht in das Erlebte selbst nicht ein; als gemeinsamer Bezugspunkt aller Bewußtseins­ inhalte ist es selbst kein besonderer Inhalt. Mit welcher konkreten Bedeu­ tung auch immer das Ich, das niemals selbst ein Begriff ist, »sondern ein blosses Bewusstsein, das alle Begriffe begleitet«25, belegt ist, nie kann sie mehr als den allgemeinsten logischen Ausdruck zur Bezeichnung der Klam­ mer bedeuten, die sich bildet, wenn die gesamte Gegenstandsphäre noch einmal »Unter den Gesichtspunkt des Wissens und seiner obersten Nor­ men«26 gestellt wird. Nicht also die abstrakte Identität des Ich bezeichnet das Problem der tran­ szendentalen Psychologie, sondern die Homogeneität, die vorauszusetzen ist, damit die einzelnen Wissensgebiete bei allem Abstand, den sie zueinander haben und gegeneinander dadurch behaupten, daß sie ihr jeweiliges Potential eigenständig entfalten, als Teile eines umfassenden Zusammenhangs in ihrer 2J

G. Wolandt, Cassirers Symbolbegriff und die Grundlegungsproblematik der Geisteswissenschaften, S. 6 1 6 . 24 KrV, B 428 f. ; vgl. Pro!. §§ 46 f. 2s KrV, B 404 . 26 E. Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, S. 58; vgl . ders . , Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 6 f.

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Bestimmtheit zu Geltung gebracht werden können. Damit aber eignet der transzendentalpsychologischen Methode der Subjektivierung, weil sie die Grundbegriffe der Erkenntniskritik stillschweigend und uneingeschränkt voraussetzt, keine Selbständigkeit. Sie kann nie mehr als »den Ansatz der Probleme [bedeuten] , die ihre fortschreitende Lösung in der Logik und in ihrer Anwendung auf die Wissenschaft zu suchen haben . «27 Wie schon für Cohen, so bildet auch für Cassirer die Logik die erste methodische Grundlage zur Erzeugung des Begriffs des Menschen . Und auch Natorp hält hieran, bei allem Bemühen, die systematische Differenz der Begriffe Einheit und Reinheit zu nivellieren, fest: »Das Gesetz in der Er­ kenntnis hat [ . . ] eine Funktion analog der des Gesetzes in der Gemeinschaft: indem es die Leistung der unter dem Gesetz verbundenen Glieder einem gemeinsamen Plane des Zusammenwirkens unterwirft, will es gerade jedem Einzelnen sein Eigenrecht sichern; sein Recht, freilich auch seine Pflicht. «28 Ausgeschlossen ist, das Gesetz der Gemeinschaft, als das Prinzip, kraft des­ sen die jeweiligen Wissensgebiete in dem Sinne auseinander hervorgehen, wie sie sich wechselseitig fordern, durch irgendeine bestimmte, einem speziellen Gegenstandsbereich angehörige Einzelrelation verdeutlichen, geschweige denn begründen zu können. Allen denkbaren Sondergesetzen gegenüber behauptet es seine unbedingte Ursprünglichkeit.29 Indem Natorp in ihm die für jede Erscheinung mögliche und zugleich notwendige Verknüpfung der objektivierenden und der subjektivierenden Betrachtungsart - »ihre noth­ wendige Zugehörigkeit zum >Bewußtsein< einerseits, zum >Gegenstand< an­ drerseits«3 0 - über alle zuletzt kontingente, niemals endgültige Sonderung hinaus festgehalten denkt, hat das Gesetz der Gemeinschaft den Sinn eines »gegenseitigen Grenzbezugs, in und aus dem alle besondere, in ihrer Beson­ derheit nur bedingte Realität sich allein begründet. «31 Diesem letzten Grenz­ bezug selbst kommt freilich als dem Grund aller Realität keine besondere Realität zu . So geht - wie Cassirer diesen Gedanken Natorps präzisiert - der konkrete Sinn aller objektiven Urteile auf ein letztes Urverhältnis zurück, das in Begriffspaaren wie z. B. Form und Inhalt, Allgemeines und Besonde­ res etc . seinen begrifflich-abstrakten Ausdruck hat. Dieser läßt sich zwar durch die beiden in dieses Urverhältnis eingehenden gegensätzlichen Mo­ mente bezeichnen, nicht aber aus ihnen aufbauen, so als sei jedes für sich ein selbständiges, für sich vorhandenes Bestandstück. »Die Einheit der gegensei­ tigen Bestimmung bildet vielmehr hier das erste Datum, hinter das nicht weiter zurückgegangen werden kann, und das sich erst für die künstlich 2 7 SFB , S. 459. 2 s P. Natorp, AP, S . 73 . 29 Vgl. a. a. 0 . , S. 1 98 f. 3o P. Natorp, EP, S. 52 . 31 P. Natorp, Philosophie . Ihr Problem und ihre Probleme, S. 140; vgl. E. Cassirer, Erkennt­ nistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 86.

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Viertes Kapitel

isolierende Abstraktion in die Doppelheit zwe1er Gesichtspunkte zer­ legt . «32 Hätte es hiermit sein Bewenden, so wäre der überreale Grund aller Realität im Sinne Natorps vom Ursprung Cohens kaum zu unterscheiden. Der Inten­ tion Natorps, nach außen den Eindruck eines weitgehend einheitlichen Schulzusammenhangs zu vermitteln, käme dies zweifelsohne entgegen. Doch während der >Ursprung< die Grundlegung der jederzeit nur hypothe­ tischen Einheit der reinen Denkfunktionen und -urteile repräsentiert, soll das Gesetz der Gemeinschaft als die »schlechthin konkrete Einheit« aller Bewußtseinsrichtungen, »in welcher nichts vom Anderen abgetrennt«, son­ dern »alle auf Abstraktion beruhenden Scheidungen in die urprüngliche Konkretion, in die letzte Ursprünglichkeit des >Bewußtseins< zurückgenom­ men«33 ist, gedacht werden. Ganz offensichtlich begreift Natorp das Be­ wußtsein als ein llvu7tÜÖEtov, das als das »Gesetz der Einheit des Mannigfal­ tigen und zwar Unendlichen« sich nur demjenigen zu erkennen gibt, der von »den Ideen zu der Idee, von den Grundlegungen zu der schlechthin voraus­ setzungslosen Grundlegung; von den reinen Denksetzungen (A.oyot) zu der reinen Denksetzung ( au t o c; 6 Myoc;)« zurückgeht, »um in ihr jene alle radi­ kal zu begründen und [ . . ] zu sichern. «34 Doch schon die Forderung eines solchen fundamenturn certurn et inconcussum hat Cohen als Folge philoso­ phischer Illusionen kritisiert. Für ihn kann die Reflexion auf die Vorausset­ zungen, von denen das Denken seinen Ausgang nimmt, niemals auf einen solchen absoluten Anfang führen. Ebensowenig aber kann es bei einem letzten bzw. höchsten metaphysischen Prinzip enden, das, wie bei Platon die Idee des Guten, »einmal erfaßt, vollständige und abschließende Erkenntnis aller von ihm abhängigen Dinge, mithin buchstäblich allen Seins ge­ währte . «35 Es läßt sich feststellen, daß Cassirer, obwohl sich sein Verständnis des Apriori bzw. der Idee eher an den Vorgaben Cohens als Natorps orientiert, diese fundamentale Differenz zwischen seinen Lehrern eigenartigerweise nie ganz deutlich geworden ist.36 Um dies erklären zu können, wird man auf Kants Beschluß der Auflösung des psychologischen Paralogisms zurückgreifen müssen, aufgrund dessen die von Natorp behauptete letzte Ursprünglichkeit des Bewußtseins ihrerseits eine Hypothese und also in ihrer Funktion vom Ursprung Cohens nicht zu unterscheiden ist. So bedeuten für Cassirer >Ur­ sprung< und >letzte Ursprünglichkeit des Bewußtseins< lediglich die extremen 32 E. Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, S. 14 (Hervorheb . d. Verf. ) . 3 3 P . Natorp, AP, S. 20f. 34 P. Natorp, Zu Cohens Logik, S. 1 2 . '35 G. Edel, Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik, S . 242 f. ; vgl. ders . , Kantianismus oder Platonismus, S. 1 2 - 1 5 . 3 6 Vgl. Cassirers Brief an Natorp vom 2 8 . 6. 1 906, abgedruckt i n H . Holzhey, Cohen und Natorp II, S. 349 ff.

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Bezugspunkte ein und derselben Reflexion, für die sich dadurch, daß sich in ihr diese Bezugspunkte »wechselseitig bestimmen und ineinander reflektie­ ren, die Eine ungebrochene Wahrheit des Seins dar(stellt) . «37 Damit aber beschreitet er eigene Wege, die ihn in der spätestens mit Dilthey beginnenden Debatte um die Abgrenzung der Natur- von den Geisteswissenschaften eine Vermittlerrolle zwischen dem Lager der Logozentristen und dem der Herme­ neuten einnehmen lassen: Von der Denkweise der modernen Mathematik und mathematischen Physik unterscheidet er die des Kulturtheoretikers da­ hingehend, daß dieser »das Ganze der Welt nicht einfach in seine Elemente zerlegen, sondern daß er es als ein geformtes Ganzes, als Komplex reiner Gestalten anschauen will. «38 Doch diese Anschauung erfordert die Unter­ stellung eines Kategorienzusammenhangs , der, weil er weder trivial noch neutral ist, das Problem seiner Interpretation aufwirft, das von dem des theoretischen Erlassens abgetrennt nicht lösbar ist. Der sich damit abzeich­ nenden Gefahr, möglicherweise auf den sachlichen Ertrag erkenntniskriti­ scher Fragestellungen im Zusammenhang kulturphilosophischer Erwägun­ gen verzichten zu müssen, kann indessen nur dadurch begegnet werden, daß die Einheit des Bewußtseins nicht als eine gegebene metaphysische Tatsache ansehen wird, sondern als »logisches Requisit«39 zu ermitteln ist. Cassirers Entscheidung, die Einheit des Bewußtseins als logisches Requisit im Bereich der ewigen Aufgaben anzusiedeln, hat den Vorteil für sich, sich nicht auf eine Konzeption festzulegen, derzufolge sich die verschiedenen Erfahrungsgehalte so auffassen lassen müssen, als ließen sie sich mit einer, wenngleich unter Umständen erst noch zu findenden Methode in einen be­ friedigenden theoretischen Zusammenhang bringen. Und gegenüber der Möglichkeit, die verschiedenen Bereiche der Erfahrung in ihrer Verschieden­ artigkeit in allenfalls miteinander verwandten Strukturen des Geistes grund­ zulegen, die sich nur noch hinsichtlich dessen, daß sie Produkte des sich in und an Erfahrungen entwickelnden Geistes sind, verhält sie sich neutral . Aber gerade dadurch, daß für sie alle Richtungen geistiger Tätigkeit »inhalts­ volle Gesichtspunkte der Verknüpfung«40 darstellen, auf die sich das kon­ kret-geschichtliche Individuum beziehen muß, um überhaupt zu irgendeiner Form des Verständnisses seiner selbst zu kommen, fällt die Einsicht Diltheys ins Gewicht, daß wenn die Peripetie des Gedankens von der Einheit der äußeren Natur auf die Einheit des Menschen als letzte Konsequenz der er­ kenntniskritischen Fragestellung zu verstehen ist, diese Einheit der Humani­ tät durch die analytischen Abstraktionen des erkenntniskritischen Verfah­ rens nicht zu erreichen ist. Denn »augenscheinlich können die geistigen Tatsachen [ . . . ] nicht ohne den Hintergrund irgendeiner Vorstellung des see37 38 39 40

IG, S. 58 E. Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 42 (Hervorheb. d. Verf. ) . GEP I I , S . 732 . SFB , S. 3 1 0 .

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Viertes Kapitel

lischen Zusammenhangs miteinander verbunden werden . Kein Zauberwort einer transzendentalen Methode kann dies in sich Unmögliche möglich ma­ chen. Kein Zauberwort aus der Schule Kants kann hier helfen. Der Schein, dies leisten zu können, beruht schließlich darauf, daß der Erkenntnistheore­ tiker in seinem eigenen lebendigen Bewußtsein diesen Zusammenhang be­ sitzt und aus ihm denselben in seine Theorie überträgt. Er setzt ihn voraus . Er bedient sich seiner. Aber er kontrolliert ihn nicht. «41 Pointierter als Dilthey dies tut, lassen sich die Einwände, die sich gegen­ über den Dispositionen geltend machen, mit deren Hilfe Cohen das Problem der Einheit des Bewußtseins zu bewältigen versucht, wahrscheinlich nicht zusammenfassen. Und wenngleich die Analyse ihres sie fundierenden argu­ mentativen Hintergrundes auf eine Reihe methodischer Unklarheiten und Fehlgriffe stößt, auf die zurückgegangen werden muß, um zu erklären, warum Dilthey sich immer wieder in den Irrtümern des Psychologismus verstrickt42 - dadurch, daß hier alle aus dem Schulzusammenhang resultie­ renden Rücksichtsnahmen fortfallen, die den Versuchen Cassirers anzumer­ ken sind, Cohen davon zu überzeugen, daß die Fragen der Einheit des Bewußtseins nicht systematisch-konstruktiv, sondern systematisch-deskrip­ tiv zu erörtern sind, tritt das sachliche Argument für eine eingreifende Umorientierung umso klarer hervor: »Der Zusammenhang, in welchem das Denken selber wirksam ist und von dem es ausgeht und abhängt, ist für uns die unaufhebbare Voraussetzung. Das Denken kann nicht hinter seine eigene Wirklichkeit, hinter die Wirklichkeit in welcher es entsteht, zurückgehen. «43 Schelers Kritik an dem durch Cohen repräsentierten Typus von Transzen­ dentalphilosophie zieht hieraus nur noch die Konsequenz: Das energische Betonen des Reinen erfülle weniger die Funktion, das Ideal theoretischer Sachlichkeit zu befestigen, sondern sei der Versuch, die organische Einwur­ zelung des Denkens in einer »positiv-geschichtlichen oder doch universalen Lebensmacht«44 zu leugnen, um so, um den Preis, daß »die Festigung der Vernunft durch ihre Arbeit zugleich eine Befestigung an ihrer Arbeit und damit ein Hindernis des Fortschritts zu neuer Arbeit«45 wird, die eigenen, unvermeidbaren weltanschaulichen Prämissen unkenntlich und unangreifbar zu machen. Daß dieser Verdacht auf dem Mißverständnis beruht, das von Cohen ent­ wickelte System lasse auf der Seite seiner Grundsätze und Grundbegriffe keine Erweiterungen zu, ist mehrfach erschöpfend dargelegt worden.46 Be­ reits Natorp aber weist darauf hin, daß die Disposition der Logik der reinen 41 W. Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 1 94. 42 Vgl. P. Natorp, AP, S. 292; zuletzt: H . Ineichen, Diltheys Kant-Kritik, S . 5 1 - 64 . 4 3 W . Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S . 1 94. 44 M. Scheler, Die transzendentale und die psychologische Methode, S. 212. 45 A. a. 0 . , S . 247. 46 Vgl. zuletzt: G. Edel, Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik, S. 287f.

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Erkenntnis den Eindruck begünstigt, Erfahrung lasse sich überhaupt nur grundlegen, wenn die Relation selbst ontologisiert, d. h. »solange sie nur als Beziehung unter festen Denkpunkten verstanden wird; oder solange ihre Veränderlichkeit nicht mehr besagt, als die erschöpfende Erwägung der All­ heit der möglichen, als möglich gegebenen (dabei also immer nur seienden, nicht werdenden, ruhenden, nicht wandernden) Beziehungen . «47 An den Nachweis, daß es ausschließlich die reinen Gedanken sind, die die Mannig­ faltigkeit des Werdens durch das Setzen bestimmter Grenzen bestimmbar werden lassen, mag sich der anschließen lassen, daß das Gesetz des Seins »ohne Zweifel auch das des Denkens und zwar unseres (menschlichen) Den­ kens ist . « Aber gerade dadurch, daß die Erkenntniskritik sich »rein dem Gedachten, dem Denkinhalt«48 als solchem widme, laufe sie Gefahr, zu ih­ rem eigenen Tun jegliche kritische Distanz zu verlieren, aus der allein heraus ihr begreiflich zu machen ist, daß die starren Formen und Merkmale, die sie sich schafft, das Werden selbst weder ausmessen noch erschöpfen können. Die Erkenntniskritik kann immer nur in sich ruhende Bilder aneinanderrei­ hen, nicht aber deren Folge aus- und aufeinander aus ihnen gewinnen. Indem sie diese daher ihnen von außen verleihen muß, schneidet sie deren Bezie­ hung auf das Leben ab, in dessen Begriff alle Beziehungen, welche »die Wissenschaft in abstrakter Form mühsam herausarbeitet, ursprünglich aktu­ ell wirkend und bewußt«49 gedacht werden. Erkenntniskritische Analysen vermögen immer nur Gesetze, nicht jedoch das »letzte Einzelne« zu erken­ nen zu geben, so daß sich schließlich der Eindruck verfestigt, daß das, was auf diese Weise erkannt wird, nicht das ist, was erkannt werden sollte; »das Wirkliche in seiner vollen Lebenswahrheit, sondern immer nur ein mehr oder weniger erstarrtes, also totes Bild desselben. «5 0 In der Logik der reinen Erkenntnis verwahrt sich Cohen hingegen nach­ drücklich gegen den Eindruck, allein das Bild mache den Begriff konkret, lebendig und regsam; genau das Gegenteil sei der Fall: »Im Bilde hört das Leben des Begriffs auf « 51 Die Art und Weise, wie Natorp sich auf die lebens­ philosophisch inspirierte Kritik am Panmethodismus der Marburger Schule bezieht, zeigt deutlich, daß auch er diese Prioritätsverteilung zwischen Bild und Begriff nicht in Frage zu stellen gedenkt. Auch für ihn unterliegen die Lebensphilosophen den Reizen des Psychologismus, der den Begriff zur Vorstellung und somit zu einem ihn verdinglichenden Vorstellungsgebilde macht. Doch wenn Cohen an gleicher Stelle fortfährt, daß der Begriff das P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 86. A. a. 0., 49 f. P. Natorp, AP, S. 224 . 5 0 P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 1 5 1 ; eine erste Auseinander­ setzung mit dieser Kritik findet sich bereits 1 888 in Natorps Einleitung i n die Psychologie, EP, s. 34, 46. 51 H . Cohen, LrE, S. 378. 47 48 49

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Leben nur dann bedeute, wenn er das » Offenbleiben der Probleme« sowie die »immanente Arbeit an deren Behandlung«52 repräsentiert, wenn also - wie es bei Cassirer heißt - die Formen zur begrifflichen Durchdringung des Lebens nicht als Hemmung, sondern als »Vehikel seiner Selbstbewegung und Selbst­ entfaltung«53 fungieren, so bringt dies Natorp in Konflikte mit seinem Konzept eines statischen Apriori, als dessen Folge die Exposition des Bewußt­ seins als eine in sich geschlossene Einheit54 unschwer wiederzuerkennen ist. Ein Ausgleich zwischen beiden Positionen ist nicht möglich . Daß Cassirer dennoch beide miteinander kombiniert, hat seinen Grund darin, daß die transzendentale Psychologie Natorps sich in gewisser Weise durchaus als Reformulierung der Probleme der Ursprungslogik Cohens lesen läßt. Auch sie will den Mittelpunkt des Werdens besetzen und aus ihm heraus die For­ merzeugung und Formwandlung, wenn auch nicht des Begriffs, so doch des Lebens verständlich machen. Daß sich dieses Programm indessen der Gefahr aussetzt, die zur »Sichtigkeit«55 des Lebens unerläßliche Ebenendifferenz zwischen dem ausschließlich als methodische Größe zu denkenden Ur­ sprung und dem qua Ursprung Grundgelegten zu negieren, ist Cassirer nicht verborgen geblieben. Zwar kritisiert er mit Natorp den konstruktiven Zug der Versuche Cohens, die Einheit des Bewußtseins als Kulturbewußtsein logisch grundzulegen, doch wendet er sich mit Cohen gegen Natorps »Ein­ heitsfuror«56, der das Bewußtsein als eine alles dominierende Instanz meint beglaubigen zu müssen, in der alle Verschiedenheit der Gesetze und Inhalte geistiger Tätigkeit ausgelöscht ist. Nachdrücklich weist er darauf hin, daß in dem Maße, wie der Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften den Begriff eines Ganzen der Erfahrung »als eine unvollziehbare Forderung«57 erweist, das Recht der Einsicht unabweisbarer wird, daß das Faktum der Mehrdimen­ sionalität geistiger Welten alle Versuche, einen Ausgleich zwischen der Er­ kenntniskritik und der transzendentalen Psychologie zu finden, zum Schei­ tern verurteilt, denen sich der Gang der objektivierenden und der subjekti­ vierenden Betrachtung im Bild einer geraden Linie darstellt, so als ließe sich dessen zweifacher Sinn an deren Plus- oder Minus-Richtung ablesen . >>Der Unterschied der geistigen Sinngebiete ist ein spezifischer, kein quantitativer Unterschied - und eben diese spezifische Differenz wird verwischt, sobald man versucht, sie als Differenz des bloßen >Mehr< oder >WenigerErscheinung< (cpatVOJ.lEVov) weder das Erlebnis, daß mir etwas erscheint (das cpaivecrB-at), [ . . ] noch das Objekt, welches erscheint, an sich aber und abgesehen von dieser Erscheinung >sein< und dasein soll; sondern genau das, als was das Objekt sich dem jedesmaligen Subjekt darstellt, den Erscheinungsinhalt, die Erscheinung des Gegenstan­ des gerade im Unterschied von seinem gedachten Ansichsein . «65 Sie liegt der objektivierenden und subjektivierenden Gedankenrichtung als deren Bedin­ gung voraus und kann weder durch die eine noch die andere aufgelöst oder zunichte gemacht werden . In jeglicher Hinsicht bedeutet sie das umfassend­ ste aller Probleme, das sich dem philosophischen Denken überhaupt stellen kann; sie repräsentiert die »Totalität des E rlebten «66 und bedeutet die höchste Konzentration aller Bewußtseinstätigkeiten über alles Begriffliche hinaus in ihrem letzten Sachgrund.67 Dieser jedoch läßt sich »nur noch aufweisen, 64 6s 66 67

FF, S. 247. P. Natorp, AP, S. 109. A. a. 0 . , AP, S . 20. A. a. 0., AP, S . 39.

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nicht aber, gemäß den kategorialen Formen der Dingerkenntnis, insbeson­ dere nach der Kategorie der Substantialität und Kausalität >erklärenBewußtsein-von< und seine Tendenzen in seinen transzendentalen Funktionen zu begreifen . In diesem Sinne bedeu­ tet auch das Erlebnis als das Faktum, »daß es Phänomene gibt, die sich auf ein Ich beziehen und sich diesem darstellen«69, ein Urphänomen, dem gegen­ über die Frage, ob der unmittelbare sinnliche Eindruck in sich gegliedert ist oder aber die Ordnung des Wahrgenommenen nur durch Mitwirkung geisti­ ger Funktionen zustande kommt, an Bedeutung verliert. Das Erlebnis weist in seiner rein phänomenalen Gegebenheit in sich keine derartige Trennung auf; »sie wird erst durch die nachträgliche psychologische oder erkenntnis­ kritische Analyse in dasselbe hineingetragen. «70 Die phänomenologische Analyse schreitet nicht mehr wie beim kausalen Bestimmen von den Erschei­ nungen zu deren Bedingungen fort, die selbst nicht mehr erscheinen, son­ dern führt zu jenem »Anfangszustand der >OrganisationGeist< und >Leben< - zur Kritik der Philosophie der Gegenwart; zit. nach : J.M. Werle, Ernst Cassirers nachgelassene Aufzeichnun­ gen [ . . . ], S. 276 f. 71 KLL, S. 368. 72 E . Cassirer, Eidos und Eidolon, S . 5; vgl. FF, S . 231 f.

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Viertes Kapitel

lebendig und gegenwärtig sein : »Sie ist eine Anweisung im Endlichen zu verharren und es dennoch zum Unendlichen zu erweitern, indem wir es mit ihrer Hilfe sicher nach allen Seiten durchschreiten . «73 Was immer als Urphänomen auftritt, sein Begriff darf sich dem Interesse für die Besonderung der Glieder, deren Einheit er bilden soll, nicht entzie­ hen . Diese Glieder aber sind Glieder der Wechselwirkung; »sie werden zwar vom System bedingt; nicht minder aber auch bedingen sie selbst das System; wohl verstanden, nicht nur als Glieder, sondern in ihrem besonderen Werte bedingen sie das System . «74 Die Reflexion, die diesem Wechselverhältnis Rechnung trägt, läßt sich nicht als ein Denken >über< gegebene Anschau­ ungsgehalte begreifen . Vielmehr ist sie es, die die Gestalt dieser Inhalte konstituiert und mitbestimmt. Hier reicht es nicht, aus einem gegebenen, noch undifferenzierten Ganzen einer Erscheinung bestimmte Elemente her­ auszugreifen, denen sich das Bewußtsein in einem jeweils besonderen Akt der Aufmerksamkeit zuwendet. Entscheidend ist vielmehr, »daß aus diesem Ganzen nicht nur ein Moment abstraktiv herausgelöst, sondern daß es zu­ gleich als Vertreter, als >Repräsentant< des Ganzen genommen wird . [ . . . ] Jetzt erst fungiert er als >Merkmal< im eigentlichen Sinne : er ist zum Zeichen geworden, das uns in den Stand setzt, ihn, wenn er erneut vor uns hintritt, wiederzuerkennen. «75 Wenn Cassirer daher ganz im Sinne Cohens, aber mit Goethe »das Moment der durchgängigen Verschiedenheit in die fertige Ge­ stalt, das Moment der Einheit [aber] in das Prinzip der Bildung verlegt«76, so bedeutet das Urphänomen die Instanz, in der sich Idee und Erscheinung vermitteln. Es vertritt die allgemeine Form der Zweckmäßigkeit, der jedoch keinerlei konstitutive, sondern eine ausschließlich regulative Bedeutung zu­ kommt. Als Idee eines in sich gegliederten Zusammenhangs, der den Grund seiner Bestimmtheit in sich selbst trägt, drückt sich in ihr ein ursprüngliches Zusammenstimmen der Erscheinungen mit den Forderungen unseres Ver­ standes aus - nicht als neues Moment an den Erscheinungen, sondern als Zeichen der unaufhebbaren Bedingtheit aller Erkenntnis, sofern sich unser Denken der Phänomene von dem ursprünglichen Dualismus logischer und anschaulicher Bedingungen nicht freimachen kann, ohne sich selbst damit aufzugeben. 77 Damit muß, wie schon der Gedanke Eigenbestimmtheit, so auch das Ur­ phänomen an sich selbst unbestimmt sein, um die »ganze Kraft eines >subjek­ tiven< Forschungsprinzips«78 zu entwickeln . Das heißt allerdings nicht, daß 73 IG, S. 49; vgl. J. Cohn, Goethes Denkweise, S. 34. 74 H . Cohen, LrE, S. 3 79. 75 PsF III, S . 1 3 3 . 76 FF, S . 2 1 8 ; vgl. H . Cohen, LrE, S . 358; sowie ]. Cohn, Goethes Denkweise, S . 32 f. 77 Vgl. KLL, S. 376 f. ; sowie E. Cassirer, Aristoteles und Kant, S. 446; und P. Natorp, AP, s. 198 f. 78 FF, S. 222 .

Transzendentale Psychologie

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der Zweck seinerseits eine eigenständige Forschungsmethode ist; er bedeutet stets nur die »Richtung auf die Methoden der Forschungsarbeit [ . . . ], eine Ansammlung von Fragezeichen und allenfalls von Anweisungen. «79 Als »Ver­ kündiger und Träger eines neuen Problems«80 erfüllt das Urphänomen ledig­ lich heuristische Funktionen. Gleichsam als »Ausfluß des ursprünglichen und reinen Formwillens«81, der sich immer nur im »Schaffen und Umschaf­ fen der Wirklichkeit«82 verifizieren und bewähren kann, finde es daher nicht nur im Zusammenhang biologischer Fragestellungen Anwendung, auf die Cohen die Zweckidee einzugrenzen trachtete, sondern vor allem auch dort, wo die Gegenstände einer bestimmten einzelwissenschaftlichen Disziplin gegenüber dem umfassenden Begriff Gegenstand überhaupt zu spezifizieren sind: Sie ist die »Fiktion des Systems, also einer einheitlichen Gesamtheit und Allgemeinheit«83 im Sinne jener »Voraussetzung und Forderung, die unsere Reflektion sich genötigt sah, an die Objekte heranzubringen, die aber nicht unmittelbar in die Gestaltung dieser Objekte selbst einging und mit ihr un­ trennbar verschmolz . «84

79 H. Cohen, LrE, S. 369, 371 .

80 81 82 83 84

A. a. 0 . , S. 365. IG, S . 23. IG, S . 26. H . Cohen, LrE, S . 374 . KLL, S . 3 5 8 ; vgl. a. a. 0 . , S . 376 ff.

FÜNFTES KAPITE L

DIE FRAGE NACH

EINER Lo GIK DER

KuLTUR

Cassirers Reflexion auf den erreichten status quaestionis steht unter der Fas­ zination, die Goethe auf ihn ausübt. Es steht zu vermuten, daß die These von der notwendigen Transformation der Vernunftkritik in eine Kritik der Kul­ tur, mit der er die Philosophie der symbolischen Formen eröffnet, von seinen vielfältigen Versuchen, diese Faszinationskraft zu objektivieren, wesentlich beeinflußt ist . 1 Dabei allerdings ist vorausgesetzt, daß es der Sinn dieser These ist, hervorzuheben, »daß die theoretische wie alle anderen Leistungen des menschlichen Geistes nicht ihre eigene, von ihm ablösbare Geschichte haben, sondern auch und vor allem dies , daß die spezifische Struktur der Leistungen des Geistes nur dann verständlich werden kann, wenn sie in den kulturellen Horizont zurückgestellt wird, aus dem sie sich entwickelt hat. «2 Denn mit Goethe weiß sich Cassirer in der Ablehnung jeder Philosophie einig, die für sich meint reklamieren zu dürfen, »das Ganze der Welt in einer Formel darstellen zu können, die abgelöst von aller Lebenswirklichkeit [ . . . ] ihre Geltung haben will. « Und seine ohnehin ausgeprägte Sympathie für den »größten Bildner«, den die deutsche klassische Kulturepoche hervorge­ bracht hat und der ihre innere Einheit bezeichnet, vertieft sich noch durch die Einsicht, daß diesem ein »abgesondertes >metaphysisches< Bedürfnis, das ihn zwänge, über die Stellung hinauszutreten, die er sich als praktisch Wirken­ der, als Dichter und Forscher zur Wirklichkeit errungen hat«3, vollkommen fremd ist. Es ist denn auch wenig erstaunlich, daß Cassirer Goethe, an dem er immer wieder hervorhebt, wie wenig er »Zur Erkenntnistheorie gestimmt«4 ist, mit Platon und Kant auf eine Stufe stellt. Das geht so weit, daß ihm die Autorität Goethes die außerordentliche Bedeutung Kants5 verbürgt. Von Goethe gilt, was Cassirer an Kant besonderer Beachtung wert befindet, daß seine »eigent­ liche und wahrhafte Individualität [ . . . ] nur in jenen Grundzügen seiner Geistesart und seines Charakters« faßbar wird, »auf denen seine sachliche, 1 Vgl. PsF I, S . 1; vgl . M. Frischeisen-Köhler, Die Philosophie der Gegenwart, S . 585; sowie D. Gawronski, Ernst Cassirer, Leben und Werk, S. 1 7. 2 W. Marx, Cassirers Symboltheorie als Entwicklung und Kritik der Neukantianischen Grundlagen einer Theorie des Denkens und Erkennens, S. 304 . 3 FF, S . 250; vgl. a. a. 0 . , S . 252, 2 6 5 ; E. Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, S . 7 8 ff. ; sowie T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, bes. S. 83 ff. 4 FF, S. 237. 5 Vgl. KLL, S. t f. ; zum allgemeinen Hintergrund dieser Wertschätzung vgl . E. Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, S. 96 f.

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Fünftes Kapitel

seine philosophisch-schöpferische Originalität beruht. «6 Das, was Cassirer als die entscheidende Leistung echter geistiger Ausdrucksformen erachtet, daß sich in ihnen die Grenzen zwischen dem Subjektiven und dem Objekti­ ven verflüssigt, so daß hier nicht zwei Bereiche isoliert als jeweils eigene abgesonderte Größen nebeneinander stehen, sondern beide sich ineinander reflektieren und in dieser wechselseitigen Spiegelung ihren eigenen Gehalt erst erschließen, sieht er sowohl in der Person Kants als auch in der Person Goethes paradigmatisch verwirklicht: Bei beiden spiegeln sich Lehr- und Lebensform derart intensiv ineinander, daß die jeweilige Individualität »im­ mer fester mit ihrem Werk verschmilzt und sich scheinbar ganz in ihm verliert. « Gerade deshalb aber bleibt sie in ihren Grundzügen im Werk erhal­ ten und gelangt »erst durch dasselbe zur Klarheit und Sichtbarkeit. «7 Daß Kant und Goethe zu den Orientierungspunkten werden, an denen Cassierer seine philosophische Entwicklung immer wieder überprüft, hat somit wenig Verblüffendes an sich . Da beide jedoch diesen Rang nur deshalb behaupten, weil sie Schöpfer neuer Probleme sind, »die bis unmittelbar in unsere philo­ sophische Gegenwart hineinreichen«8, muß über den engen Rahmen bloß historischer Darstellungen hinausgegriffen und in deren systematische Erör­ terung eingetreten werden . Es wird also zu berücksichtigen sein, daß einerseits faktisch jede Entste­ hung und Veränderung von Theorien immer auch an Faktoren zurückgebun­ den sein wird, die dem konkreten Leben in der umfassenden Fülle seiner Interessen und Gegensätze angehören; daß auf der anderen Seite dies aber keineswegs ein Argument gegen den von Theorien erhobenen Geltungsan­ spruch ist. Diesen Anspruch unter den genannten Bedingungen zu legitimie­ ren, bedeutet, den Bedeutungswandel theoretischer Begriffe resp . faktischer Konstellationen so aufzuklären, daß diesem selbst noch reine Strukturen zugrundeliegen, welche Veränderungen oder Wandel aus theoretischen oder logischen Gründen gestatten. Was von Cassirer zunächst als Charakterisie­ rung des Philosophieverständnisses Goethes gemeint schien, erschließt sich damit in seiner programmatischen Bedeutung: »Was die Philosophie leisten kann, ist, daß sie dem Menschen die Totalität seiner Äußerungen deutet, nicht daß sie ihn über sie hinaushebt: aber auch diese Deutung muß, wenn sie für das Individuum wahrhaft fruchtbar werden soll, stets an die besonderen Bedingungen anknüpfen, in denen es steht. Denn der Mensch ist nicht beru­ fen, die Rätsel des absoluten Seins betrachtend und grübelnd zu lösen, sondern er kann nur versuchen, sein eigenes Sein nach all den Richtungen, in 6 KLL, S. VI 7 KLL, S. 2; vgl. FF, S. 1 71 ,.Goethes Leben kann sich in Goethes Dichtung rein und voll­ ständig widerspiegeln. « Vgl. ebenfalls PsF I, S. 10, PsF II, S. 123, sowie MS, S. 71 ; ähnliches sagt Cassirer auch von Rousseau : vgl. E. Cassirer, Das Problem Jean Jaques Rousseau, S. 5 . 8 GEP I, S . 14; vgl . KLL, S. 446; GgW, S. 9 9 ; sowie E . Cassirer, Goethes Idee d e r Bildung und Erziehung, 340 f.

Logik der Kultur

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denen es ihm vergönnt ist, frei zu entfalten . Indem er hierbei das Gesetz und die Notwendigkeit seines Tuns entdeckt, wird ihm die Summe seines Wir­ kens zur Summe der Welt. «9 Von anderer Seite bestätigt sich, was sich als Verschiebung des Interesses von der Objektivität zur Subjektivität im Rahmen der Auseinandersetzung Cassirers mit den Grundlegungsproblemen von Philosophie- und Geistesge­ schichte sowie den eigentümlichen Fragestellungen transzendentaler Psy­ chologie abzeichnete: Nicht länger auf die Herausarbeitung und Fixierung der allgemeinen Grundfragen der Erkenntniskritik, sondern auf diejenigen Bedingungen, die erfüllt sein müssen, soll die interne Sinnstruktur des not­ wendig vorauszusetzenden Bezugsfaktums als ganze bezeichnet werden, richten sich nunmehr die Bemühungen. Geht es in Substanzbegriff und Funktionsbegriff noch darum, die Setzung des Gedankens immanente Rich­ tigkeit nicht nur als Wahrheitskritierium empirischer Erkenntnis zu begrün­ den und in seine Konsequenzen zu entwickeln, sondern gleichermaßen in seinen transzendentallogischen Voraussetzungen offenzulegen, so hat sich dieser Gedanke nunmehr in die Frage nach dem einheitlichen Sinn dessen, auf das hin >immanente Richtigkeit< kriteriologische Funktion haben soll, transformiert. Die Schwierigkeiten dieser Umbildung liegen in den Voraussetzungen des erkenntniskritischen Ansatzes . Diese unterbinden nicht nur jeden Schluß von einer voraus bestehenden bzw. vorausgesetzten Einheit auf die Einheit der Funktion; sie versagen ebenfalls den durch den Nachweis einer in allem Wechsel der Einzelmotive relativ stabilen inneren Form naheliegenden Rück­ schluß auf eine substantielle Einheit des Geistes . Für den Funktionalismus gilt diese Einheit »nicht als der Grund, sondern nur als ein anderer Ausdruck eben dieser Formbestimmtheit selbst. Diese muß sich, als rein immanente Bestimmtheit, auch in ihrer immanenten Bedeutung erfassen lassen, ohne daß wir hierfür die Frage nach ihren, sei es transzendentalen, sei es empiri­ schen Gründen zu beantworten haben . « 1 0 Im Gefolge dieser Transforma­ tion, durch die der Begriff der symbolischen Form eingeführt wird, weitet sich die Frage nach den logischen Grundlagen des Faktums Wissenschaft als dem System gültiger Theorie zu der nach seiner allgemeinen Kulturbedeu­ tung aus und tritt dadurch, »daß das Problem der Synthesis und der synthe­ tischen Einheit [ . . . ] von dem Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten geistigen Lebens, in der Totalität seiner Äußerungen versetzt wird« 1 1 , in den Umkreis der Probleme ein, die zu lösen Hege! in der Phäno­ menologie des Geistes beansprucht. 12 9 FF, S. 250. 1o PsF 11, S. 1 7 f. ; vgl. a. a. 0 . , S . 226 f. n GEP III, S. 291 . 12 Vgl. G. W. F. Hege!, Phänomenologie des Geistes, S. 7 1 ; sowie E. W. Orth, Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 1 9 . Jahrhundert, S. 1 1 .

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Viertes Kapitel

Um in diesem Zusammenhang von einer Erweiterung und Ergänzung berechtigt sprechen zu können, 13 muß einerseits offengelegt werden, welche Grundbegriffe der Philosophie der symbolischen Formen im thematischen Zusammenhang von Substanzbegriff und Funktionsbegriff - wenn auch möglicherweise ohne ein hinreichend ausgeprägtes Bewußtsein über ihre Grundlegungsfunktion - verwandt werden; zum anderen muß sich zeigen lassen, daß die Ausweitung des Problembestands zugleich zu einer tieferen prinzipiellen Begründung der Fundamente theoretischer Philosophie zwingt. So besehen ist die Frage nach dem systematischen Zusammenhang von Substanzbegriff und Funktionsbegriff und der Philosophie der symboli­ schen Formen weit über Cassirers zu diskutierende Lösung hinaus von Bedeutung: Es geht darum, am Material selbst zu zeigen, daß der »notwen­ dige Gedanke vom Fortschritt der Wissenschaft [ . . . ] zur notwendigen, nicht etwa bloß Begleitung, sondern Voraussetzung den Gedanken vom Fortschritt der reinen Erkenntnisse«14 hat. Nicht der zur sinnentleerten Attitude er­ starrte finstere Blick auf die Aufklärung und den wissenschaftlichen Fort­ schritt ist hier gefragt, sondern die Anstrengung, »das Gehege der Vernunft so weit zu machen, daß es nicht mehr als Käfig der Kultur gesehen werden muß . « 15 Es geht - mit Cassirers Worten - um den »einzig möglichen Weg, der uns vom Gebiet der >abstrakten< Subjektivität in das der >konkreten< Subjek­ tivität hinleiten und den Durchbruch von der >Denkform< zur Lebensform vollziehen kann . « t 6 Am deutlichsten dokumentiert sich die Erweiterung der philosophischen Fragestellung Cassirers darin, daß er künftig das »Erkenntnisproblem und das Wahrheitsproblem als Sonderfälle des allgemeinen Bedeutungsprob­ lems«17 verständlich zu machen bestrebt ist. Allein daß Cassirer nicht mehr vom Erkenntnisproblem, sondern von einem allgemeinen Bedeutungsprob­ lem spricht, gibt zu erkennen, daß der Schritt über Cohens Identifizierung der reinen Verstandesbegriffe mit den Grundformen des wissenschaftlichen Denkens hinaus getan ist. Durch diese >>intellektualistische Verengung«18 konnte der Erfahrungsbegriff im Gegensatz zu Kant19 außerhalb wissen­ schaftlicher Kontexte keinen vernünftigen Sinn mehr haben, sondern nur noch die kontingente Tätigkeit eines Subjekts bedeuten, die als solche nicht 13 Vgl. E. W. Orth, Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen For­ men, S. 1 73 f. Zum Teil begreift Cassirer diese Erweiterung und Ergänzung seinerseits als Neuanfang; vgl . z. B . E. Cassirer, Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 34; ders . , Zur Theorie des Begriffs, S. 129. 14 H . Cohen, LrE, S . 396. 15 E . Nordhofen, Reden ist nicht alles, S . L 1 5 . 1 6 PsF III. S. 60 (Hervorheb . d. Verf. ). 17 E . Cassirer, Erkennmistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S . 34. 1 8 H . Holzhey, Die Marburger Schule des Neukantianismus, S. 19. 19 Vgl. G. Edel, Von der Vernunftkritik zur Erkenntnislogik, 56 f. ; sowie H . Holzhey, Kants Erfahrungsbegriff, S. 1 99 ff. , 2 1 1 f.

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nur uninteressant, sondern auch vollkommen ungeeignet ist, den Boden für eine triftige Analyse überindividuell geltender Formen abzugeben .2 0 Zwar hält Cassirer - wie gezeigt - an der Zurückweisung des Selbstbewußtseins als eines möglichen Deduktionsprinzips für die Kategorien gegenständlichen Denkens fest, gibt aber zu bedenken, daß ein solches Vorgehen bewußt dar­ auf verzichtet, das System der Wissenschaften als eine eigentümliche Ganz­ heit mit einem es spezifisch auszeichnenden einheitlichen Sinn auch nur zu exponieren, geschweige denn transparent zu machen . Denn die Beschrän­ kung auf eine bestimmte theoretische Einstellung kann über die sie ermög­ lichenden Bedingungen nicht hinausgehen . Nur in einem übergreifenden Ganzen ist hier ein Ausgleich möglich, - in einem Ganzen, das »jeder einzel­ nen Methode ihr >Verhältnis zu sich selbst und zur Außenwelt< bestimmt und ihr damit den Umkreis ihrer >Wahrheit< anweist.21 [ ] Die Kategorien des Logischen werden in ihrer Eigenart erst dann völlig durchsichtig, wenn wir uns nicht damit begnügen, sie in ihrem eigenen Gebiet aufzusuchen und zu betrachten, sondern wenn wir ihnen die Kategorien anderer Denkgebiete und Denkmodalitäten [ . . . ] gegenüberstellen . «22 Diese Theorie des übergreifenden Ganzen, durch die der Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaft, der die Wissenschaftslehre seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts zu zerreißen droht, geschlichtet werden soll, hat sich allerdings von Beginn an mit der Schwierigkeit auseinanderzusetzen, nicht nur als Philosophie der symbolischen Formen eine Typologie allgemeiner Denkformen erstellen, sondern zugleich auch eine Phänomenologie der Er­ kenntnis bedeuten zu wollen . Als Typologie muß sie im Gegenzug zu dem der Ausrichtung am Faktum Wissenschaft geschuldeten Logozentrismus die Welt der sinnlichen Anschauung und Wahrnehmung mit Blick auf denkform­ spezifische Grundbegriffe objektiven Wissens untersuchen, um mit jener Wendung Ernst zu machen, die Cassirer in terminologisch lockerer Anknüp•

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Vgl. H. Cohen, KTE, S. 52 1 ; sowie W. Marx, Cassirers Symboltheorie als Entwicklung und Kritik der Neukantianischen Grundlagen einer Theorie des Denkens und Erkennens, s . 1 95 f. 21 IG, S . 80. 22 E. Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, S . 1 1 . Göllers Kritik (Ernst Cassi­ rers kritische Sprachphilosophie, S. 1 1 0), Cassirer stelle die » Geltungsfrage in einem einge­ schränkteren Verstande als Kant«, für den die »Geltungsfrage grundsätzlich an jede Aussage zu richten [ist], die Anspruch auf Geltung erhebt«, trifft nicht Cassirer, sondern Cohen. Aber hier wie dort drückt sie sich in ihrem ersten Teil um die Diskussion des Problems herum, ob die systematische Anlage der Kritik der reinen Vernunft selbst diesem Anspruch genügt und setzt sich mit Cassirers Kant-Kritik, die bezeichnenderweise mit Göllers Cassirer-Kritik weitgehend identisch ist (vgl. PsF III, S. 1 4 - 1 8), nicht auseinander. Was den zweiten Teil der Göllersehen Kritik anbelangt, erledigt er sich mit Hinweis auf PsF 111, S. 12 »Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist keineswegs ausschließlich auf die Logik des wissenschaftlichen Denkens bezo­ gen und auf sie eingeschränkt. Sie ist nicht nur die Bedingung für dieses Denken und für die Setzung und Bestimmung seines Gegenstandes, sondern die Bedingung auch jeder möglichen Wahrnehmung. « Vgl. ebenfalls PsF 111, S. 226 f. ; sowie A. Poma, Ernst Cassirer: Von der Kul­ turphilosophie zur Phänomenologie der Erkenntnis, S. 92 f.

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fung an Kant als Capemikanische Drehung bezeichnet: »Statt den Gehalt, den Sinn, die Wahrheit der geistigen Formen an etwas anderem zu messen, das sich in ihnen mittelbar abspiegelt, müssen wir in diesen Formen selber den Maßstab und das Kriterium ihrer Wahrheit, ihrer inneren Bedeutsamkeit entdecken. «23 Die sich hieraus ableitende Aufgabe, jede der symbolischen Formen mit Beziehung auf ihr jeweiliges Konstitutionsprinzip als ein in sich geschlossenes System herauszustellen, bedeutet zusammen mit der Einsicht in die Unmög­ lichkeit, sie alle auf eine einzige, verbindliche Form der Erfahrung zu redu­ zieren, die alle anderen als ihre Vorstufen relativiert und in sich einschließt, den Verzicht auf die Annahme einer einzigen Wirklichkeit. Zwangsläufig müßten deshalb die Konturen des Erfahrungsbegriffs verschwimmen, es sei denn, Cassirer gelänge es, die Darstellung der inneren Beziehung dieser spontanen Erzeugungsregeln zueinander von einem allgemeinen Prinzip symbolischer Formung überhaupt abhängig zu machen. Denn eine Kultur­ philosophie muß nach seinen Worten »von der Voraussetzung ausgehen, daß die menschliche Kultur keine bloße Ansammlung unzusammenhängender Tatsachen und Sachverhalte ist; sie will vielmehr diese Tatsachen als ein Sy­ stem, als organischen Zusammenhang verstehen. Einer empirisch gerichte­ ten oder historischen Kulturforschung würde eine Sammlung der Gegeben­ heiten menschlicher Kultur genügen. Sie will dem Pulsschlag des mensch­ lichen Lebens , der aus allen Kulturerscheinungen vernehmbar ist, nachspü­ ren und sich in das Studium der kulturellen Erscheinungen vertiefen, in ihre Fülle, ihren Formenreichtum, die Ausdruck der Vielfarbigkeit und Vielstim­ migkeit des menschlichen Lebens sind . Eine philosophische Kulturbetrach­ tung setzt sich aber ein ganz anderes Ziel . Ihr Ausgangspunkt und ihre Arbeitshypothese [ . ] gründen in der Überzeugung, daß gleichsam die ver­ schiedenen divergierenden Strahlen in einem Brennpunkt gesammelt werden müssen. Die Tatsachen müssen einem Prozeß geistiger Formung unterwor­ fen werden, der selbst wieder als eine innere Einheit vorausgesetzt wird . «24 Die Spontaneität vor jeder Differenzierung in verschiedene Denkrichtun­ gen und -stile bezeichnet nicht das Zentrum möglicher Einstellungen auf mythische, religiöse, künstlerische, sprachliche und auch wissenschaftliche Formungsprinzipien, sondern liegt ihnen insgesamt voraus . Denken ist im­ mer ein Denken in symbolische Formen, und jede symbolische Form ist ein Denken in besonderer Form. Soll aber der Begriff des Denkens nicht in eine, durch kein inneres Band mehr zusammengehaltene Vielfalt von Formen aus­ einanderfallen, so muß in der symbolischen Fixierung des dem Denken eigentümlichen Bestimmungspotentials das >Material< des Denkens seiner.

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23 E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 79 (Hervorheb. d. Verf. ); vgl. PsF II, S. 4 1 -43. 2 4 EoM, S. 2 8 1 (Hervorheb . d. Verf. ).

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seits als Modus des Denkens denkbar sein. Allein deshalb ist es sinnvoll, das System der symbolischen Formen und Formungsprinzipien am theore­ tischen Wahrheitswert orientiert zu lassen. Das Verstehen setzt den Begriff des Gegenstandes voraus, an dem es das Regulativ für die Klarheit und Deut­ lichkeit seines Verfahrens hat; die Funktion der Setzung, die die Einheit des Themas stiftet, ist die unaufhebbare Bedingung der Möglichkeit bestimmba­ rer Bedeutung schlechthin : Freiheit und Form sind die »beweglichen und bildsamen Gedankensymbole«25, mit denen allein das geistige Leben sich als ein ewig sich selbst zeugender Prozeß angemessen beschreiben läßt. Nur so läßt sich vermeiden, daß das gesuchte System im Medium subjektiver Willkür verschwebt oder innerhalb seiner selbst zu liegen kommt . An die Stelle einer noch so allgemeinen, zuletzt jedoch nur »anthropologischen Subjektivität« tritt die transzendentale Subjektivität und mit ihr der transzendentale Ein­ heitsbegriff, in dem auch in historischer Perspektive »Verknüpfung und Begrenzung in eine Funktion zusammengefaßt [sind] : so daß eben dieselbe Bestimmung, die den systematischen Zusammenhang zwischen den Grund­ richtungen der geistigen Kultur herstellt, ihnen zugleich ihre Individualität, ihre Selbstgesetzlichkeit und ihre unverbrüchliche Einheit sichert . «26 Auch wenn Cassirer sich an keiner Stelle seiner Erörterungen der ideellen Einheit der Kultur auf den Gedanken einer Disziplin letztbegründender phi­ losophischer Erkenntnis ausdrücklich bezieht, die das Denken vor seiner Festlegung auf die im Begriff der symbolischen Form gedachte bestimmte Gestalt gedanklich zu durchdringen versucht - so ist dieser Gedanke doch überall präsent. Denn offensichtlich ahnt er, daß der Verzicht, ein Prinzip symbolischer Formung überhaupt zu exponieren, auf das hin die relative Selbständigkeit von Formen und Formsystemen gegeneinander verständlich gemacht werden kann, darauf hinausläuft, den Begriff der symbolischen Form als bloß empirisches Abstraktionsprodukt ansetzen und ihm alle vindi­ zierten transzendentalen Funktionen wieder absprechen zu müssen.27 Das Ausmaß des damit in Kauf genommenen Erkenntnisverzichts wäre nicht un­ erheblich: Sollen deshalb, daß keine Zeit über eine andere zu Gericht sitzen kann, alle Weltsysteme als Eruptionen des schöpferischen Seelengrundes in ihrer metaphysisch unterstellten Gleichberechtigung und methodischen Ge­ schlossenheit respektiert werden, so wäre der Gedanke einer durch alle Kulturen hindurchgehenden Menschheitsentwicklung ebenso wie die Forde­ rung einer alle Kulturen gleichermaßen bindenden Wertordnung preisgege­ ben . Um diesen letzten Schritt über den Fortschritt hinaus nicht tun zu müssen, bekennt sich Cassirer zu einer Phänomenologie Hegeischen Zuschnitts . De25 FF, S. XIII. 26 IG, S. 93; vgl. PsF I, S. 1 6 . 27 Vgl. W . Marx, Cassirers Symboltheorie als Entwicklung und Kritik d e r Neukantianischen Grundlagen einer Theorie des Denkens und Erkennens, S. 3 1 4 .

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ren methodische Eigentümlichkeit, auf das »eigentliche Telos der Erkennt­ nis, auf ihr Ende und ihre Vollendung«28 als den Wendepunkt hinzublicken, an dem der »abstrakte Begriff dialektisch«29 wird, wird nicht verschwiegen, sondern ausdrücklich betont. Denn in diesem Dialektisch-Werden der wis­ senschaftlichen Grundbegriffe soll das wissenschaftliche Denken seine Ein­ heit und seinen Zusammenhang mit seinen keimhaften Anfängen und Vorstufen entdecken können. Das aber wiederum erfordert, den Nachweis der Notwendigkeit, kraft deren ein bestimmtes Element des Wissens aus sich zu einem anderen herausgeht, bis es sich schließlich, indem sich dieser Über­ gang kontinuierlich wiederholt, zum Ganzen des Seins erweitert und inte­ griert hat. Doch in dem Maße, wie dieser als Selbstbewegung zu denkende Prozeß als die Bedingung der Möglichkeit ausgegeben wird, die Einheit und den Zusammenhang, den das reine Denken mit den Vorstufen symbolischer Formgebung hat, überhaupt zu entdecken, erhöht sich der die konzeptio­ nelle Instrumentierung der Philosophie der symbolischen Formen direkt be­ treffende Problemdruck, der von der Frage ausgeht, ob unter Voraussetzun­ gen dieser Art in die Beschreibung der Keime nicht unversehens die Gestaltungen hineingelegt werden, die aus ihnen dereinst erst hervorgehen sollen. Alle Bedenken, die dazu führen, die Selbständigkeit der Systeme symbolischer Formung nicht relativ zu einem einheitlichen Prinzip symboli­ scher Formung überhaupt, sondern als autonome Gebilde zu setzen, finden hier ihren Grund . Denn offensichtlich wäre ohne eine solche Setzung der ganze Prozeß, indem er sich schließlich doch in eine einzelne höchste Spitze zusammenfaßt, um derentwillen die gesamte vorangehende Entwicklung notwendig war und mit deren Erreichung sie ihre eigenständige Bedeutung verloren hätte, schließlich doch wiederum nichts als eine zudem in sich wi­ dersprüchliche metaphysische Fiktion: Was als Vollendung des dynamischen Prozesses anzusehen wäre, das bedeutete geradezu die Aufhebung seines Prozeßcharakters . 3 0 Erst vor diesem Hintergrund wird das Faszinosum Goethe so recht be­ greiflich : »Goethe hat einmal gesagt, er wisse auf die Frage, wie Idee und Erscheinung am besten zu verbinden seien, nur die eine Antwort zu geben : praktisch . In dem Zusammenhang, in dem wir hier stehen, können wir erst ganz erfassen, was diese Mahnung und dieses Losungswort im tieferen Sinne für ihn bedeutete . Es handelt sich nicht um irgendeine äußerliche banale Praxis des bloßen Tuns, sondern um die Praxis des reinen Schaffens . «31 Im Begriff des Praktischen, der den des Poietischen in seinem weitesten Sinne mitumfaßt und für Goethe in innigster Beziehung zur Welt der Poesie steht, ist die Gefahr einer allgemeinen Dichotomie zwischen einer für sich beste28

PsF III, S. 9. 29 PsF III, S . 391 . 3 o Vgl. GEP III, S . 366 ff. ; PsF III, S . 1 7. 31 GgW, S. 1 2 1 .

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benden Form, die sich dem Stoff von außen aufdrängt und aufprägt, und einem Stoff, der sich der Form als einer fertig vorhandenen unterwirft bzw. anbequemt, zu trennen, endgültig überwunden. Die Gestaltung selbst er­ schafft zugleich mit dem Gebilde ihre eigene poetische Form als das ihr entspringende immanente Maß : Poetischer Gehalt aber - so Cassirer - ist nach Goethe »Gehalt des eigenen Lebens . «32 Auf den ersten Blick scheint damit das Ergebnis wiederholt zu sein, zu dem Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit der transzendentalen Psy­ chologie gekommen ist. Welch ungeheure Sprengkraft indessen in diesem Resultat der Marburger Psychologiekritik schlummert, zeigt sich daran, wie Cassirer es zum positiven Quell der Philosophie der symbolischen Formen aufwertet, um es von dem Makel, nur negativ bestimmt zu sein, zu befreien. Denn wenn der innere Prozeß der Gestaltung sowohl den poetischen Gehalt als auch die poetische Form als das ihm immanente Maß erschafft, so ist hier jede Möglichkeit, Bedingung und Bedingtes methodisch auseinanderzuhal­ ten negiert und damit das Fundament rationaler Theoriebildung in die Tautologie, daß »nur das Leben selbst die Form finden und die Form bestim­ men«33 kann, die seinem eigenen Gehalt entspricht, zurückgenommen. Er­ kenntnissubjekt und Erkenntnisgegenstand sollen demselben Leben angehö­ ren, dessen Objektivationen in Taten und Werken nicht von außen an es herangetragen werden und ihm wie Fremdkörper wesensfremd bleiben, son­ dern aus ihm selbst förmlich hervorsprudeln. So wie die Psychologie nicht zur Grundlegung, sondern allenfalls zum Abschluß des Systems tauglich ist, so läßt sich auch hier formulieren : Leben besteht nicht in dem Wissen von sich, sondern vollendet sich in ihm; es realisiert sich, indem es sich weiß . Was diesen Lebensbegriff von der intuitiv-ontologischen Metaphysik Bergsans ebenso wie von der Identitätsspekulation Hegels unterscheidet, das ist sein ausschließlich auf Erfahrung bezogener Sinn: »Denn eben dies bezeichnet hier die Form, daß sie nicht einem > überhimmlischen Ort< angehört, sondern daß sie mitten in der Dynamikdes Lebens , in der Gestaltung und Umgestal­ tung der Natur, im Rauschen der Welle und im Wandel und den sichtbaren Umrissen der Körper hervortritt. Nicht in eine vor dem äußeren und dem inneren Sinn verschwindende Einheit ist sie zurückgedrängt, sondern sie steigt hernieder, um sich im Strom und Rhythmus des Werdens für uns zugleich zu verhüllen und zu enthüllen. [ . . . ] So wird ihm [Goethe] die Gestalt zu einem zugleich Dauernden und Beweglichen, zu einem Identi­ schen und Vielfältigen, zu einem Allgemeinen, das nur in seinen Besonde­ rungen ist und lebt. In der Natur, in der Kunst, im Sittlichen selbst, findet er nun dieses Grundverhältnis wieder. Für ihn verharrt daher nicht die reine Gestalt, jeder Zeitgewalt enthoben, in einem abgelösten und unzugänglichen 32 GgW, S. 50; vgl. 33 GgW, S . 50.

a. a.

0. S. 1 3 f.

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Bereich, sondern sie unterliegt, indem sie ins Zeitliche heraustritt, der Macht und der Schranke des Zeitlichen selbst. Indem sie sich begrenzt, wird sie dem Sinn des Menschen erst faßbar und vernehmlich und spricht in vertrauten Zeichen zu ihm . «H Der ausgeprägte Metapherngehalt dieses Zitates läßt sich vordergründig damit erklären, daß es der Interpretation Cassirers von Goethes Pandora entnommen ist. Sein hiervon unabhängiger Grund liegt dessen ungeachtet jedoch darin, daß hier Cohens >Ursprung< als das >Leben selbst< nicht nur interpretiert, sondern ganz im Sinne der von Dilthey inaugurierten Le­ bensphilosophie mit ihm darü b er hinaus offenbar auch identifiziert wird. Die Stelle, an der die objektivierende und die subjektivierende Metho­ de miteinander verklammert sind, ist das Menschliche, das an sich selbst - wie Dilthey immer wieder betont - »nicht ist, sondern lebt, und sein wahres Leben nur als geschichtliches hat. «35 Zugleich aber bindet Dilthey die Bedin­ gung der Möglichkeit zur Einsicht in den Strukturzusammenhang des Le­ bens an die ästhetische Empfindsamkeit des Betrachters dieses Strukturzu­ sammenhangs . Dadurch aber werden die erkenntniskritischen Analysen durch ein intuitiv-synthetisches Begreifen ersetzt, obwohl sich Kulturbe­ griffe, d. h. Begriffe, durch die sich Kulturepochen und Kulturzusammen­ hänge gegeneinander abgrenzen lassen, nicht wie gemeinsame Merkmale auffassen lassen, die einer Vielzahl von Objekten irgendwie anhaften, son­ dern, um gerechtfertigt zu sein, als ideelle Orientierungen, als »Visierli­ nien«36 kenntlich gemacht werden müßten, in denen sich das Ganze eines Lebenszusammenhangs ausspricht, den wir, um ihn zu verstehen, mit- und nachempfinden müssen Y Der >Gegenstand< der Kultur- bzw. Geisteswissenschaften unterscheidet sich von dem der mathematisch-physikalischen Wissenschaften dadurch, daß sein Sinn nicht in einer beliebig komplexen diskursiven, d. h. hinsichtlich ihrer Komplexität analysierbaren Aussage als dem vorläufigen Abschluß im Prozeß der Vereinheitlichung gegeneinander relativ eindeutig bestimmter Begriffe gedacht werden kann. Völlig zu Recht ist daher betont worden, daß der im Zusammenhang der Cassirerschen Bemühungen um den Begriff der Geisteswissenschaften verwendete Formbegriff der Gestalt mit dem reinen Funktionsbegriff nicht identisch ist, auch wenn dieser wirksam bleibt.38 Denn nicht Dingeinheiten, die dem schöpferischen Prozeß gegenüber- oder gar entgegenstehen, sondern Wirkungseinheiten werden gesucht, deren be­ sonderes Kennzeichen es ist, daß an ihnen zum einen jeder Versuch, die in 34 IG, S. 1 7. 3S G. Misch, Die Idee der Lebensphilosophie in der Theorie der Geisteswissenschaften, s. 543 . 36 PsF III, S. 357. 37 Vgl. LK, S. 43, 57. 38 Vgl. E. W. Orth, Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie, S. 1 8 3 .

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diesem Wirken zusammenstehenden Momente zu trennen und auseinander­ zureißen, abprallt, während in sie andererseits immer wieder neues Leben einströmt, »das sie davor schützt, sich >Zum Starren zu waffnenBildesKern der Natur< ist >Menschen im HerzenBild des Lebens< wenden muß, daß er es in diesem Bilde erst wahrhaft besitzt. «53 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, S . 398; vgl. EoM, S. 2 1 6 . KLL, S . 3 3 3 ; vgl. GgW, S . 122- 124, 139- 141 . 5° KLL, S. 340; vgl. G. Misch, Vorbericht des Herausgebers, S. C. 5I W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, S . 32. 5 2 FF, S. 1 72 . 5 3 GgW, S . 123.

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In dieser wechselseitigen Spiegelung von Ich und Welt, Selbstgefühl und Naturgefühl sieht Cassirer den Wert und das Wesen der ästhetischen Einstel­ lung zutreffend bezeichnet. 54 Wenn jedoch der Kosmos des ästhetischen Bewußtseins »nicht das System der Objektivität, sondern das All der Subjek­ tivität«55 ist, so hat er auch nur so lange Bestand, wie der Versuch, das ästhetische Empfinden in eine selbständige Weise theoretischer Erkenntnis umzudeuten, unterbleibt. Kunst will lediglich geübt, nicht aber begriffen sein; einzig ihre Ausübung kann als der ihr in Wahrheit zukommende Begriff gelten . Ihre an den Bedingungen theoretischer Erkenntnis gemessene Unbe­ stimmtheit ist das »Lebenselement«56 des ästhetischen Bewußtseins. Für dieses Bewußtsein, dem alles Schauen eo ipso schon Gestalten ist, so wie das Gestalten selbst ein reines Schauen verbleibt, liegt das Kriterium zur Beurtei­ lung der Wahrheit seiner Inhalte in ihm selbst. Je schärfer und reiner es die objektive Einzelanschauung erlaßt, um so tiefer prägt sich in ihr >>die Unend­ lichkeit des subjektiven Gefühls, die Lebendigkeit und Bewegtheit des Ich aus . «57 Die theoretische Naturbetrachtung hingegen thematisiert den beson­ deren Gegenstand und das besondere Phänomen nicht in dieser künstleri­ schen Ablösung. Ihr geht es von Anfang an um das Medium, in dem die einzelne Erscheinung steht, sowie um die Regel, durch die sie mit der Ge­ samtheit aller Erscheinungen vermittelt ist. Wo diese Vermittlung nicht unmittelbar hervortritt, muß sie vom Denken, indem es die Beobachtung qua Experiment auf einen stetigen und methodisch sicheren Weg lenkt, her­ gestellt werden . Die ästhetische Einstellung hingegen kann, um zu einem Bild des Ganzen zu kommen, auf das wissenschaftliche Experiment verzich­ ten. Aber der eigentümliche Vorzug, der dem ästhetischen gegenüber dem logischen Urteil oftmals eingeräumt wird, hat seinen Grund ja auch nicht etwa darin, »daß es mehr leistet als dieses , sondern daß es weniger verlangt. Denn indem es jeder falschen Verallgemeinerung widersteht, indem es eine Aussage nicht über die Gegenstände als solche, sondern nur über unser Ver­ hältnis zu ihnen machen will, kann es jene >AllgemeinheitGegenstand< sozusagen eigenverantwortlich bestimmend zugehen, indem wir Kriterien für die Notwendigkeit seiner Be­ stimmtheit setzen und auseinander entwickeln, »Um ihn immer besser ken­ nen zu lernen« , liegt das Kulturobjekt uns - hierzu konträr - »sozusagen im Rücken. «60 Dem Wortlaut nach hat Cassirer schon einmal ähnlich formuliert, - als es darum ging, die geschichtliche Originalität der transzendentalen Dialektik hervorzuheben, - daß sie nicht nur die Widersprüche dogmatischer Meta­ physik aufdeckt, sondern zugleich diese Widersprüche in ihren Ursprung zurückverfolgt, um in ihm eine neue und tiefere Begriffsschicht offenzulegen und diese als den Ursprung aller empirischen Bestimmtheit zu legitimieren . Hier heißt es : »Je weiter wir nach vorwärts den Dingen zustreben, um so deutlicher treten für uns zuletzt die Bedingungen des Wissens zutage, die uns >im Rücken< liegen. «61 Wenn jetzt jedoch nicht die gegenstandskonstitutive Einheit der Denkfunktionen, sondern die Kultur als die objektivierte Einheit des Bewußtseins auf eine Weise angesprochen wird, in der die Lust am meta­ phorischen Ausdruck das Bemühen um eine Klärung des transzendentalen Gehalts leitender Begriffe zu dominieren scheint, so ist dies wesentlich dem Bemühen Cassirers geschuldet, im Zusammenhang der Grundlagen der Phi­ losophie der symbolischen Formen jede Disposition zu vermeiden, die den Kulturbegriff entweder dem theoretischen Naturbegriff oder aber dem prak­ tischen Vernunftbegriff unterstellt. Die Forderung lautet, den reinen Gegen­ wartswert der Kulturphänomene so herauszustellen, wie er sich dem Anschauen erschließt. Für die Anschauung nämlich entfällt jede Zerfällung des Inhalts in korrelative Teile und Gegensätze - gleichgültig ob diese nach dem Schema von Ursache und Wirkung oder aber dem von Mittel und Zweck konstituiert werden : Das Kulturobjekt ist immer schon gestaltetes Sein und erscheint wie das Urphänomen Goethes in jener konkreten Erfüllung und qualitativen Vollendung, die keiner Ergänzung, keines Grundes oder Zieles bedarf und auch keine solche Ergänzung duldet. Vgl. GgW, S . 53 ; vgl . 60 LK, S. 86. 61 GEP ll, S. 756. 59

a. a.

0., S. 1 38 - 1 4 1 .

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Als Gestalt, d. h. als Einheit durchgängig bestimmter Elemente mit schon vorhandenen durchgängig bestimmten Verknüpfungen, untersteht das Kul­ turobjekt der Kategorie der Bedeutung, die Dilthey zufolge alles umfaßt, worauf sich das Leben erstreckt, und es deshalb zur Darstellung bringt. 62 Den systematischen Zusammenhang zwischen Gestalt und Bedeutung aber stiftet der Repräsentationsbegriff, dessen Funktion Cassirer in Substanzbeg­ riff und Funktionsbegriff dahingehend festgelegt hatte, »den Übergang von einem einzelnen Reihenglied, zu der Totalität, der es angehört, und zu der allgemeinen Regel, von der diese Totalität sich beherrscht zeigt«63, zu voll­ ziehen, um schließlich das »Gebiet, dem die besondere Erfahrung als einzel­ ner Ausschnitt angehört, als allseitig bestimmtes Ganzes zu erfassen . «64 Daß sich aber der Repräsentationsbegriff über den Kontext der Abhängigkeits­ verhältnisse zwischen Reihenbegriff und Reihenglied hinaus zur Exposition der die Erfahrung überhaupt charakterisierenden Prinzipien symbolischer Formung verwenden läßt65, liegt daran, daß Cassirer die Operation topalo­ gischer Verschiebung nicht mehr einseitig hinsichtlich ihrer gegenstandskon­ stitutiven Leistung diskutiert, sondern zugleich als Reflexion des Denkens auf sich interpretiert, durch den die fixierten Haltpunkte im Prozeß des Bestimmens verflüssigt und ihm so wieder angeeignet werden. Hier wird die Repräsentation als ausgezeichnete Bedingung der Formeinheit des Bewußt­ seins66 der Reflexion als der ursprünglichen Grundfunktion jeglichen Wis­ sens nicht nur gleichgeordnet, sondern beide Funktionen darüber hinaus einander so weit angenähert, bis die Grenzen ihrer Bestimmtheit gegeneinan­ der unscharf werden und schließlich in dem der Busserlsehen Phänomenolo­ gie entlehnten Begriff der Intentionalität ineinander verschwimmen. Diese Adaption des lntentionalitätsbegriffs birgt allerdings die Gefahr, in die Sackgasse eines erkenntnistheoretischen Solipsismus dadurch hineinzu­ führen, daß das Urteil auf das Erlebnis als psychischer Vorgang und nicht auf den in ihm gesetzten Gegenstand bezogen disponiert wird. In diesem Fall müßte >Intentionalitätals< als Indiz für die Absicht gewertet werden, von allem bloß Repräsentativen und Symbolischen zur metaphysischen Grund­ gewißheit der reinen Intuition zurückzudringen. Doch könnte es tatsächlich gelingen, alle konventionellen Symbole durch unmittelbare Anschauungen zu ersetzen und an die Stelle des sprachlich-diskursiven Denkens das reine, wortlose Schauen treten zu lassen, so würde uns gleichwohl kaum die »Un-

62 Vgl. W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, s. 73 . 63 SFB, S. 376. 64 SFB , S . 377. 65 Vgl. SFB , S . 376, 399; FF, S . 200; sowie E . Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stel­ lung in der Philosophie, 5 f. 66 Vgl. PsF I, S. 4 1 .

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sagbare Fülle des Lebens selbst entgegentreten, sondern [ . . . ] nur wieder die Enge und Dumpfheit des sinnlichen Bewußtseins umfangen. «67 Vor und außerhalb aller Geformtheit kann das Leben niemals Ziel und Sehnsucht des philosophischen Denkens sein. Allein durch die Vermitt­ lungsleistungen der Form hindurch nimmt die Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt des Geistes an. Dessen Substantialität liegt nicht hinter allem Sinnlich-Symbolischen, sondern bekundet sich dort, wo sich das Bewußt­ sein in diesem ihm widerstehenden Medium schöpferisch behauptet. Die Selbstauslegung des Menschen, sofern sie sich bestimmt konturieren will, muß die Bewußtseinssphäre des empirischen Ichs verlassen und auf solches ausgreifen, das dieses Ich ebenso wie alle anderen empirischen Bewußtseine immer schon überschritten hat, obwohl es ihnen entsprungen und also ge­ nuin ist: »Was wir als >Sinn< der Welt erfassen, das tritt uns überall dort entgegen, wo wir uns, statt uns in die eigene Vorstellungswelt zu verschlie­ ßen, auf ein Über-Individuelles, Allgemeines, für alle Gültiges richten . Und nirgends tritt diese Möglichkeit und diese Notwendigkeit der Durchbre­ chung der individuellen Schranke so fraglos und deutlich hervor, wie im Phänomen der Sprache. Das gesprochene Wort geht niemals im bloßen Schall oder Laut auf. Es will etwas bedeuten; es fügt sich zum Ganzen einer >Rede< zusammen, und diese Rede >ist< nur, indem sie von einem Subjekt zum an­ dern hingeht und beide im Wechselgespräch miteinander verknüpft. «68 Mit der Sprache tritt an die Stelle einer Existenz, die im unmittelbaren Eindruck und der Unmittelbarkeit ihrer Bedürfnisse ihre Erfüllung findet, das Leben in der Vielfalt seiner geistigen Bedeutungen . Sie ist »ein erster Ausgangspunkt der Erkenntnis«69 - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Soll dies indessen im Intentionalitätsbegriff zum Tragen kommen, so muß >Inten­ tionalität< in Verbindung mit >Repräsentation< als Inbegriff eines Welt- und Selbstbezugs70 interpretiert werden, in dem nicht nur die Einzelbegriffe des Denkens wie auch jedes Sprachelement von jeder direkten Zuordnung zu Einzelseiendem freigehalten werden, sondern auch zur begründeten Mög­ lichkeit bestimmter Gegenstandsbezogenheit im Rahmen einer unendlichen Welt, deren Grundentwurf in diesem Welt- und Selbstbezug selbst liegt, die­ nen: Nur wenn Sprache nicht eine »tote Seinsform«, sondern im eminenten Sinne »Lebensform«71 ist, läßt sich von ihrem Organismus zu Recht sagen, er sei das eigentliche »Spiegelbild des Geistes . «72 Als Spiegelbild des Geistes hat die Sprache ihren Grund nicht außer sich, 6 7 E. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, s . 199. 68 LK, S. 13; vgl. PsF I, S . 1 00 f. 69 PsF I, S. 64 . 70 Vgl. PsF I, S. 3 7. 7 1 E . Cassirer, Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, s . 120. 72 PsF I, S . 149; vgl . a. a. 0., S . 1 14 .

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sondern ist im Gegenteil dieser Weltentwurf des Geistes selbst; in ihm hat er seine Konkretion. Offensichtlich verdächtigt Cassirer mit Goethe jene »große und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst«, nichts als eine »List geheim verbündeter Priester zu seinSubjektivität< der Sprache, d. h. der Umstand, daß sich ihr bei der Bezeichnung des reinen Seins »immer die Bezeichnung eines anderen, einer zufälligen >Beschaffenheit< des Gegenstandes beimischt«77, braucht damit nicht länger als die Schranke gefürchtet zu werden, die ein objektives Erfas­ sen dessen, was ist, erschwert oder gar verhindert. Auch hier wird der metaphysische Gegensatz von Subjekt und Objekt in eine >>reine transzen73 J. W. Goethe, Bedeutende Fördernis durch ein geistreiches Wort, S. 38. 74 E. Cassirer, Structuralism in Modern Linguistics, S . 1 14 (Übersetzung d . Verf. ) . 7 5 E. Cassirer, Die Kantischen Elemente i n Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, s. 1 1 9. 76 A. a. 0 . , S . 1 1 6. 77 PsF I, S . 65; vgl . E. Cassirer, Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 120.

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dentale Korrelation« aufgelöst, wie sich an der These, die Sprache sei vor allem anderen ein »Mittel der Formung, der >Objektivierung< der sinnlichen Eindrücke«78 ablesen läßt. Sinn und Wert der Sprache sind nicht in die Ab­ hängigkeit der Bestimmtheit dessen gesetzt, was sie an sich selbst ihrem metaphysischen Wesen nach ist, sondern bestimmen sich nach der Art ihres geistigen Gebrauchs . 79 Indem somit auch auf dem Gebiet der Sprachbetrachtung der Übergang von der Substanz zur Funktion vollzogen ist, entfällt das seit jeher beklagte Problem der dem Wort unaufhebbar eigentümlichen Vieldeutigkeit. Denn wie sollte es ausgerechnet dem Sprachbegriff möglich sein, einen einzelnen Gegenstand bestimmt und eindeutig zu bedeuten, wenn er als solcher in eindeutiger und vollständiger Bestimmtheit nicht einmal denkbar ist ? Die Vieldeutigkeit des Wortes ist kein schwerwiegender Mangel, sondern Doku­ ment der in der Sprache gelegenen Ausdruckskraft, die zu einem >> Formzeu­ genden [wird] , das freilich zugleich ein Formzerstörendes, Formzerbrechen­ des sein muß . [ . . . ] Alle Trennungen, die die Sprache vollzieht und vollziehen muß, müssen von ihr selbst als vorläufige und relative erkannt werden, die sie selbst wieder zurücknimmt, sofern sie den Gegenstand unter einen neuen Gesichtspunkt der Betrachtung rückt. «8 0 Indem der Gedanke zur Sprache geformt wird, objektiviert er sich und übt über die Reflexion eine ihr fremde Wirkung aus : »Die Sprache ist [ . . . ] objek­ tiv einwirkend und selbständig, als sie subjektiv gewirkt und abhängig ist. Gerade in dem Akt ihrer Erzeugung liegt es, sie wiederum zum Objekt zu machen. «8 1 Wenn aber in der Urfunktion der Sprache die des Urteils be­ schlossen liegt82, so ist sie als Einheit von >Rekognition< und >Repräsenta­ tionBedeutung< durch ein sinnliches >ZeichenFrüher< oder >SpäterentstehtBesonnenheitreiner< Sinn keine Stellvertretung für etwas ausübt und deshalb freier Deutung überlassen bleibt, schwanken die dem Mythos seit den Griechen verliehenen Bedeutungen zwischen den Extremen Tiefsinn und Lüge. Von dieser Alternative weiß sich Cassirers Zugang zum Mythos weitge­ hend unabhängig. Ursprünglich tritt der Mensch der Welt der Dinge in derselben Bestimmtheit, Notwendigkeit und Objektivität gegenüber, wie ihn die Welt der Sprache in dem Augenblick, in dem er zuerst seinen Blick auf sie richtet, umfängt: »Hier wie dort steht vor ihm ein Ganzes, das in sich selbst sein eigenes Wesen und seine eigenen, aller individuellen Willkür ent­ rückten Bedingungen besitzt. « 1 Die Struktur der Sprache bleibt demjenigen, der spricht, bis zur Entstehung einer wissenschaftlichen Grammatik unbe­ kannt. Aber auch grammatische Kenntnisse verhindern nicht, daß die Spra­ che dem Bewußtsein Begriffsrahmen geradezu aufdrängt, die dieses für objektive Inhalte zu nehmen nicht abgeneigt ist. >Schlimmer< noch steht es im Falle des Mythos : Das mythische Bewußtsein vermag nicht, sich seinem Inhalt frei gegenüberzustellen, um ihn bewußt auf andere zu beziehen und mit anderen zu vergleichen. Es wird von ihm vollkommen gebannt und ge­ fangengenommen, so daß auf dieser ersten Betrachtungsstufe der Ausdruck vorrangig als ein Erleiden, mehr als ein » Ergriffenwerden als ein Ergreifen«2 zu verstehen ist. Das mythische Bewußtsein ist von dem Inhalt, auf den hin sich sein Inter­ esse spannt, dermaßen erfüllt, daß neben oder außer ihm nichts Bestand haben kann. »Es >hat< den Gegenstand nur, indem es von ihm überwältigt wird; es besitzt ihn nicht, indem es ihn fortschreitend für sich aufbaut, sonI PsF I, S. 55 f. 2 PsF 111, S. 88; vgl. PsF II, S. 239; MS, S. 66. Vgl. im Gegensatz hierzu PsF I, S. 128 f. «Auf der primitivsten Stufe des Affekts und des Triebes ist alles •Erfassen< des Gegenstandes nur sein unmittelbares sinnliches Ergreifen und ln-Besitz-Nehmen. Das fremde Sein soll in die Gewalt des eigenen gebracht, - soll rein materiell und seiner Stofflichkeit nach in den Kreis des Ich hineingezogen werden. «

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dem es wird schlechthin von ihm besessen. «3 Wie im Fall der ersten sprach­ lichen Äußerungen eines Kindes werden weder Gegenstände benannt, noch Beziehungen zwischen ihnen ausgesagt. Noch bewegen sich alle Äußerungen im engen Kreis der Zuständlichkeiten des Ichs, »die sie in irgend einer Weise nach außen dringen, im Laut sich offenbaren lassen . «4 Von Erkenntnis kann hier keine Rede sein. Der unmittelbare sinnliche Eindruck gilt dem mythi­ schen Bewußtsein als etwas schlechthin Absolutes, das sich durch die einfa­ che Intensität seines Daseins, durch den unwiderstehlichen Zwang, mit dem es sich dem Bewußtsein aufdrängt, bezeugt und bewährt. Nicht von gedank­ lichen Subsumtionsverhältnissen, sondern von einer wirklichen Unterwer­ fung des Besonderen unter seinen generischen Begriff wird zu reden sein: »Hier herrscht nicht der Wille, den Gegenstand zu begreifen, in dem Sinne, daß er denkend umfaßt und einem Komplex von Gründen und Folgen einge­ ordnet wird; sondern hier gibt es nur die schlichte Ergriffenheit durch ihn . «5 Statt einer Erweiterung der Anschauung muß ihre äußerste Verengung, statt ihrer extensiven Verbreiterung muß ihre intensive Zusammendrängung fest­ gestellt werden . Denn gerade in dieser »Spannung aller Kräfte auf einen Punkt liegt die Vorbedingung allen mythischen Denkens und Gestaltens . Wenn das Ich auf der einen Seite ganz einem momentanen Eindruck hingege­ ben und von ihm >besessen< ist, und wenn auf der anderen Seite die höchste Spannung zwischen ihm selbst und der Außenwelt besteht, wenn das äußere Sein nicht einfach betrachtet und angeschaut wird, sondern wenn es den Menschen jählings und unvermittelt, im Affekt der Furcht oder Hoffnung, im Affekt des Schreckens oder des befriedigten und gelösten Wunsches, überfällt, dann springt gewissermaßen der Funke über: die Spannung löst sich, indem die subjektive Erregung sich objektiviert, indem sie als Gott oder Dämon vor den Menschen hintritt. «6 Solchen, keineswegs seltenen Passagen in Cassirers Arbeiten zum Mythos ist der Einfluß Tylors, Frazers, Durkheims, Useners und Levy-Bruhls anzu­ merken, denen gemeinhin das Verdienst zugesprochen wird, »begriffen zu haben, daß die Probleme der Religionsethnologie mit einer Bewußtseinspsy­ chologie zusammenhängen . «7 Um jedoch dem begrifflichen Rahmen der Psychologie der Jahrhundertwende die Strukturen mythischen Denkens ein­ gliedern zu können, hätte man ihn auf andere Grundbegriffe stellen müssen, wozu man sich freilich außer Stande sah. Stattdessen wurde versucht, dieses Denken auf formlose und somit unaussprechliche Gefühle zurückzuführen, voraussetzend, aus konfusen Emotionen würden klare Ideen wie von selbst 3 PsF li, S. 94 .

4 E. Cassirer, Die s PsF li, S. 94 . 6 E. 7 C.

Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, S. 1 3 7.

Cassirer, Sprache und Mythos, S. 103; vgl. MS, S. 64 f. Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, S. 226; Cassirer setzt sich mit diesen Theo­ retikern in MS, S. 7 ff. eingehend auseinander.

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entwachsen können . Was Cassirer bei allem Einfluß, den solche Vorstellun­ gen auf seine Arbeiten zum mythischen Bewußtsein gehabt haben mögen, von Anfang an zu ihnen in ein gewisses Spannungsverhältnis setzt, ist die Einsicht, daß die dem Staunen, mit dem der Mythos ebenso wie die wissen­ schaftliche Erkenntnis anhebt8, entstammende Vorstellung dämonischer und göttlicher Kräfte an sich undenkbar wäre, entspräche dieser Konzentration affektiver Einstellungen nicht ein Prozeß, dessen Resultat ein wortartiges Lautgebilde zur Bezeichnung des jeweiligen Gottes oder Dämon ist. Das heißt nicht, daß die Dämonen- bzw. Gottesvorstellungen und die ihnen entsprechenden Lautgebilde als Erzeugnisse einer Betrachtung erachtet werden dürfen, die bei vorgängig bestimmten Gegenständen verweilt, um sich ihrer bleibenden Merkmale und Wesenszüge zu versichern; in beiden Fällen handelt es sich vielmehr nur um den Ausdruck einer Bewußtseins­ lage, der nicht anzusehen ist, ob und unter welchen Umständen sie wieder­ kehrt. In diesem Zusammenhang erhält der Hinweis Gewicht, der Affekt verliere in dem Maße, »als er es lernt, sich selbst zu äußern und sich in dieser Äuße­ rung zu erblicken, die alles-beherrschende und alles-umstürzende Kraft, die er über das Ich ausübt« und vollziehe damit »jene Wendung zur >ReflexionUrsprung der Sprache< ist unlöslich mit der Frage nach dem >Ursprung des Mythos< verwo­ ben - beide lassen sich, wenn überhaupt, so nur miteinander und in wechsel­ seitiger Beziehung aufeinander stellen. [ . . . ] Mythos und Sprache stehen in ständiger wechselseitiger Berührung - ihre Inhalte tragen und bedingen ein­ ander. « 10 Der systematische Wert dieser Parallelführung von Mythos und Sprache liegt auf der Hand: Ohne die Entladung der Spannung und des vom Augen­ blick abhängigen Affekts im Laut bzw. mythischen Bild, in dem die Erre­ gung als ein bloß subjektiver Zustand hinter den reinen Laut- und Bildgehalt mehr und mehr zurücktritt, um schließlich vollends in ihm zu verlöschen, läßt sich die Peripetie des Geistes nicht denken, die für eine zunehmend umfassendere Erschließung und Objektivierung des Lebens notwendige Voraussetzung ist. »Das Wissen hängt weder von bloß identifizierenden Aks

Vgl. PsF II, S. 99.

9 E. Cassirer, Die Sprache und t o PsF II, S. IX, 53; vgl. EoM,

der Aufbau der Gegenstandswelt, S. 136. S. 140.

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ten, noch reinen Reproduktionsleistungen ab . Es bedeutet Objektivierung ­ und in diesem Begriff der Objektivierung bedeutet die Sprache den ersten Schritt. « 1 1 Es ist falsch, Mythos und Sprache als nicht-kognitive Bedeutungs­ strukturen zu exponieren, die der transzendentale Idealismus als solche seinem Gesichtskreis zu integrieren hat, damit ihm das Erbe vollständig zu­ falle, auf das er vermeintlich ein Anrecht besitzt. Der Versuch, beide Formen aus dem Zusammenhang des Erkenntnisproblems zu entlassen, um sie einem rätselhaften »kosmogonischen Drang« 12 zu unterstellen, bedeutete den Ver­ zicht, sie als spezifische Erscheinungsformen der Rationalität und damit als autonome Bedeutungsganzheiten verstehen zu wollen . Cassirer betont, daß beide, das Lautbild wie das mythische Bild, keineswegs nur zur einfachen Bezeichnung bereits gegebener Unterschiede, sondern dazu dienen, »sie für das Bewußtsein erst zu fixieren, sie als solche erst sichtbar zu machen . « 1 3 So kann die Sprache »ganz als ein Erzeugnis der unmittelbaren Empfindung und zugleich ganz als ein Werk der Reflexion, der Besinnung gefaßt werden: weil eben diese letztere nichts Äußeres ist, was nachträglich zum Inhalte der Emp­ findung hinzutritt, sondern weil sie in ihn als konstitutives Moment eingeht. Erst die >Besinnung< ist es , die die flüchtige sinnliche Regung zu einem in sich Bestimmten und Unterschiedenen und damit erst zu einem eigentlich geisti­ gen >Inhalt< macht . « 14 Die undeutlichen, schwebenden und ineinander ver­ fließenden Wahrnehmungen und die mit ihnen verbundenen dumpfen Ge­ fühle können sich nur konturieren, indem sie benannt werden. Hinsichtlich ihrer Funktion besteht somit zwischen dem mythischen Bild und dem Laut­ bild auf der einen und dem wissenschaftlichen Begriff auf der anderen Seite keine Differenz. Sie schildern zuvor gegebene Unterschiede nicht einfach ab, sondern rufen sie hervor; sie leiten sich nicht von einem Inhalt her, sondern nähern sich ihm immer nur an. Leichtfertig wäre daher der auf diese Rückführung des mythischen Bildes und Lautbildes auf eine Entladung affektiver Spannungen sich berufende Schluß, Cassirer beabsichtige im Gegensatz zu der von ihm konstatierten sachlichen Unmöglichkeit, eine Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Symbolfunktion geben zu können, d . h . eine Theorie über den gemeinsa­ men Ursprung von Mythos und Sprache vorzulegen. Die Philosophie der symbolischen Formen darf die Unterschiede zwischen Mythos und Sprache nicht von vornherein einebnen, um beide in irgendeiner ursprünglichen Ein­ heit aufgehen zu lassen, mag diese auch zum göttlichen Urgrund der Dinge oder gar zur Einheit der Vernunft bestimmt werden. Ihr kritisches Interesse 11

E. Cassirer, The lnfluence of Language upon the Development of Scientific Thought, S. 326 (Übersetzung d. Verf. ) . 12 H . Kuhn, Ernst Cassirers Kulturphilosophie, S . 4 1 5 . 1 3 PsF I I , S . 243; vgl. PsF I, S . 90 f. , 134, 257 ff. 1 4 PsF I, S. 96f; vgl. EoM, S. 1 69; sowie E. Cassirer, »Geist« und "Leben« in der Philosophie der Gegenwart, S. 264.

Der Mythos und die Stufen symbolischer Formung

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gilt keiner derartigen Gemeinsamkeit des Ursprungs, sondern der Struktur; ihre Frage zielt auf eine mögliche Einheit der Funktion von Sprache und Mythos, die sich nirgends anders suchen läßt als in den Grundrichtungen des symbolischen Ausdrucks selbst - in der Regel, nach der er sich entwickelt. Genau dies aber ist der Grund, warum sich Cassirer durchgängig affirmativ auf Useners Theorie über die Entstehung der sog. Augenblicks- und Sonder­ götter beziehen kann : Hervorgehoben werden soll, daß, ganz wie in der theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnis, auch in den Urschichten von Mythos und Sprache es nicht gelingt, absolute Materie und methodische Form als voneinander unabhängige Bestandteile nachzuweisen, die in ihrem und durch ihr Zusammengehen die Vorstellung auf wundersame Art und Weise aus sich hervorgehen lassen . Auch hier läßt sich eine materia nuda, eine nackte Empfindung, zu der irgendeine formgebende Instanz hinzutritt, nir­ gends finden . Faßlich ist allein die »konkrete Bestimmtheit, die lebendige Vielgestaltigkeit einer Wahrnehmungswelt, die von bestimmten Weisen der Formung durch und durch beherrscht und von ihnen völlig durchdrungen ist . « 15 Auch im Falle der kritischen Reflexion auf die Sprache können sowohl das psychologische Experiment als auch die Selbstbeobachtung immer wie­ der nur >Tatsachen< in Erfahrung bringen, die durch die Sprache geformt sind; der Vorgang der Formung selbst bleibt verborgen - ausschließlich der geformte Sachverhalt ist erfahrbar16 : Mythos und Sprache sind Urphäno­ mene, die sich, indem sie einfach erscheinen und sind, ohne daß es an ihnen noch etwas zu erklären gäbe, nur beschreiben lassen. Durch den Primat der Deskription sind Mythos und Sprache von allen sonstigen Modi der Vergegenständlichung geschieden. Mythen lassen sich eben nur im Zusammenhang mit ihresgleichen verstehen. Bedeutsamkeit er­ reichen sie durch ihre einen Erzählraum jenseits von Faktum und Fiktion eröffnende thematische Sinngebung. 17 Wenn jedoch der Vorrang der Gege­ benheit als Abgrenzungskriterium herhalten soll, zugleich aber diese Gege­ benheit völlig entspezifiziert gedacht werden muß, so stellt sich das Problem, wie die Forderung einer von theoretischen - und d. h. mythosfremden Annahmen unverstellten Beschreibung der mythischen Welt mit der metho­ denkritischen Einsicht zu verbinden ist, daß es reine, unmittelbare Beschrei­ bungen nicht geben kann . Dieses Problem wiegt um so schwerer, als Cassirer von der Erkenntnis, der Kunst, der Sitte, dem Recht, der Sprache und der Technik als den Grundformen geistiger Kultur spricht, ihnen aber jedes selb­ ständige Sein und daraus folgend eine klar abgegrenzte Gestalt abspricht, weil seinem Verständnis zufolge jede dieser Formen ein mythisches Vorsta-

15 PsF III, S. 1 8 ; vgl. PsF Il, S. 28 ff. , sowie E. Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie, S. 7 f. und LK, S. 98 - 1 0 1 . 16 Vgl. PsF I, S. 1 2 5 ff. 1 7 Zu diesem Begriff vgl. H. Plessner, Die Einheit der Sinne, 204 -207.

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dium durchlaufen haben muß, ehe sie ihre bestimmte logische Gestalt und Prägung erhält. 1 8 Ihnen gegenüber bedeutet der Mythos für Cassirer die erste umfassende, d. h. alle Ausdifferenzierungen keimhaft enthaltende Anstren­ gung des Menschen, seine Welt zu erkennen . Er ist - wie es in der Forschungsliteratur heißt - »das Ursprungsland aller symbolischen For­ men . « 1 9 Aber auch wenn Cassirer den Mythos sozusagen als das Substrat aller geistigen Objektivationen setzt, bleibt es Aufgabe kritischer Reflexion, statt sich der Vorstellung einer ursprünglichen Einheit hinzugeben, in der sich alle Gegensätze zwischen den Kulturformen auflösen und schließlich ineinander übergehen, eine transzendentale Begriffseinheit ausfindig zu machen, die auf Erhaltung dieser Sonderformen durch deren klare Bestimmung und Begren­ zung abhebt. Was für eine in ihre vielfältigen Dimensionen auseinandergetre­ tene Kultur selbstverständlich ist - nämlich ihnen allen im System der Logik ihren »natürlichen Ürt«2 0 zuzuweisen -, gilt für Cassirer dort, wo es ihm um den Mythos geht, seltsamenweise nicht. Hier soll mit der Analyse des mythi­ schen Bewußtseins ein »Schritt weiter in der Richtung auf das >Unmittel­ bareWahrheit< zuzuer­ kennen, insofern sein Bildgehalt einen an sich rationalen Erkenntnisgehalt umschließt, dessen eigentlichen Kern aufzudecken Aufgabe kritischer Refle­ xion ist26, nicht verfängt. Aufgrund der Verpflichtung kritischer Kulturphi­ losophie auf den mühevollen Weg diskursiven Denkens müssen die Gesetze des reinen Denkens und der reinen Erkenntnis als der exklusive Rahmen gelten, innerhalb dessen sich geistiges Leben überhaupt nur vollziehen kann. Gerade deshalb aber sinkt für eine Phänomenologie des mythischen Bewußt­ seins die Frage, ob mit dem Mythos ein Faktum vorliegt, das in seiner eigentümlichen Bedeutung und Geltungsart vom philosophischen Denken nicht erschaffen, sondern vorgefunden wird, um hinsichtlich der Bedingun­ gen seiner Möglichkeit untersucht zu werden, oder ob es sich mit ihm um das Gebiet jenes Scheins handelt, dem die Philosophie als Wesenslehre äußerlich bleiben muß, zur Bedeutungslosigkeit herab . So oder so überliefert ihr der Mythos die wahre Geschichte, die Geschichte der conditio humana; so oder so bleibt das Symbol Grundlage jeglichen Kulturverständnisses . Sein Begriff verlangt, sowohl am Bild vom Mythos als auch an den mythischen Bildern die Prozesse abzulesen, durch die und in denen sich Ich und Welt auseinan­ dersetzen und gegenüberstellen, um ihre wie auch immer flüchtige Gestalt aneinander auszubilden. Auf das durch das Ergriffenwerden des mythischen Bewußtseins von seinen Inhalten nahegelegte ontologische Wahrheitskrite2s So z. B. F. Gaona, Das Raumproblem in Cassirers Philosophie der Mythologie, S. 11 ff. Neuerdings mehren sich indessen die Stimmen, denen zufolge die Wirklichkeit des Mythos zumindest in der griechischen Welt - untrennbar mit der Bewegung verbunden ist, »die ihn aus einem jeweiligen Bereich verweist und ausstößt, um ihn dem Illusionären, Absurden und Trü­ gerischen anheimzustellen . Er ist der Schatten, den jede Form der wahrhaftigen Rede als Kontrast in dem Augenblick wirft, da das traditionelle on-dit, wie es seit Urzeiten vom Gerücht weitergegeben wird, als Maßstab der Wahrheit nicht mehr genügt und diese vielmehr den Rück­ griff auf Vorgehensweisen anderer Ordnungen erfordert - auf graphische Zeichen und geschrie­ bene Texte, die andere Denkweisen, Beweis- und Intelligibilitätsformen beinhalten . [ . . . ] Um zu erscheinen, bedarf er des Auftretens jener Diskurstypen, die ihm - indem sie ihn negieren einen illusorischen Platz zuweisen und ihm den Anschein von Dasein gewähren« G· P. Vernant, Der reflektierte Mythos, S. 9 f. ) . Vgl. ebenfalls M. Detienne, Mythologie ohne Illusion, S. 1 719. 26 So M. F. A. Montague, Das mythische Denken in der Philosophie der symbolischen For­ men, S. 253 .

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rium der adaequatio rei et intellectus muß die Auseinandersetzung mit diesem Bewußtsein verzichten, obwohl es scheint, als läge für das mythische Bewußtsein in der Sache selbst ebensoviel >Wahrheit< wie in der die Einheit des Gegenstandes stiftenden Funktion der Urteile.27 Feste Ordnungen und Ordnungskriterien helfen hier so wenig weiter wie anderswo; das, was zählt und dem methodisch Rechnung getragen werden muß, ist, daß die »Starre Grenze zwischen dem >Innen< und >AußenSubjektiven< und >Objekti­ ven< nicht als solche bestehen bleibt, sondern daß sie gleichsam flüssig zu werden beginnt. Das Innere steht nicht neben dem Äußeren, das Äußere neben dem lnnern, als je ein eigener abgesonderter Bezirk, sondern beide reflektieren sich ineinander und erschließen erst in dieser wechselseitigen Spiegelung ihren eigenen Gehalt. «28

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Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Mythos, S . 1 1 5 . PsF Il, S . 123; ganz in diesem Sinne heißt es bei C. Levi-Strauss (Das wilde Denken, S. 257), daß den Eigentümlichkeiten und spezifischen Fähigkeiten des mythischen Denkens nur dort Rechnung getragen werden kann, »WO der Mensch und die Welt füreinander Spiegel sind. «

S I E B ENTES KAP IT EL

MYTHISCH-M AGISCHE INDIFFERENZEN

So sehr diese Charakterisierung der symbolischen Form im allgemeinen und des Mythos im besonderen als Manifestationsformen des Geistes an Cassi­ rers Äußerungen über die Eigentümlichkeiten der ästhetischen Einstellung erinnert - nichts wäre verkehrter, als sie mit ihnen zu identifizieren. Denn damit das mythische Bewußtsein als ein kontinuierliches Osszilieren zwi­ schen der objektiven und der subjektiven Weltsicht überhaupt sinnvoll ange­ sprochen werden kann, müßte die Voraussetzung erfüllt sein, daß die beiden Pole der Betrachtung als in sich bestimmte >Größen< bereits vorliegen . Das aber widerspricht nicht nur den Resultaten der Psychologismus-Kritik, son­ dern entspricht vor allem auch nicht der systematischen Stellung, die das mythische Bewußtsein im System der symbolischen Formen einnimmt: »Wo nicht über den Mythos reflektiert wird, sondern wo wahrhaft in ihm gelebt wird, - da gibt es noch keinen Riß zwischen der >eigentlichen< Wahrneh­ mungswirklichkeit und der Welt der mythischen >PhantasieBe­ dürfnis< kennt nur der Logos . Ihm zeigt sich das, was es mit dem Faszinosum >Mythos< auf sich hat, sobald das, was am Mythos begriffen werden soll, nicht der mythische Vorstellungsinhalt als solcher, sondern die Bedeutung, die er für das mythische Bewußtsein hat, und die Macht ist, die er über es 1

PsF III, S. 72 . Vgl. E. Cassirer, The Technique of our Modern Policical Myths, S. 245 . 3 EoM, S. 97. 4 Vgl. EoM, S. 95; sowie E. Cassirer, The Technique of our Modern Policical Myths, s. 247. 2

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ausübt. Für diese Fragestellung nämlich erweist sich der Horizont der Bilder, in und mit denen das mythische Bewußtsein lebt, als undurchdringlich . Es kann - so Cassirer - diese Bilder als Bilder nicht erkennen. 5 In einem Zustand vollständigen Verhaftetseins an Sinne und Eindrücke ist das mythische Be­ wußtsein an die gegenständliche Welt preisgegeben, ohne daß diese ihr in irgendeiner angehbaren Weise durchsichtig wäre . Die mythischen Bildgehalte können immer nur im Spiegel des allgemeinen Lebensgefühls als Furcht und Schrecken, Freude und Glück auslösende Sanktionsinstanzen aufgefaßt werden. 6 Lange bevor die Natur zum Gegen­ stand der Anschauung oder gar Erkenntnis werden kann, sind die Dinge dem Menschen in der Weise ihrer affektiven Wirksamkeit gegeben. Mit dieser, innerhalb der Mythosforschung konventionellen These wendet sich Cassirer gegen die Ansicht, die den Anfang des mythischen Bewußtseins in die Vereh­ rung bestimmter Naturgegenstände und Naturkräfte setzt. Denn deren Vor­ stellung müßte immerhin eine gewisse Bedeutungskonstanz des einzelnen Bildes aufweisen, die als solche erst in einer bereits relativ fortgeschrittenen Objektivierungsphase erreicht wird. »Denn die unzerlegten Inhalte und Ge­ staltungen der [mythischen] Wahrnehmung bieten diesem Denken keinen Halt und Stützpunkt dar. Sie fügen sich keiner durchgehenden und festen Ordnung, sie tragen nirgends den Charakter eindeutiger Bestimmtheit, son­ dern sie stellen [ . . . ] ein schlechthin Fließendes und Flüchtiges dar, das jedem Versuch, an ihm selbst wahrhaft scharfe und genaue >Grenzen< zu unterschei­ den, widerstreitet. «7 Dem Versuch, über den Mythos theoretisch zu sprechen, korrespondiert die Versuchung zu historisierenden Vorstellungen, die unter den von Levi­ Strauss geprägten Begriff des falschen Evolutionismus fallen. Mit ihm werden die Versuche bezeichnet, die trotz eines Bekenntnisses zur Verschiedenheit der Kulturen, diese Verschiedenheit zu einem bloßen Schein dadurch herab­ setzen, daß sie zu Stadien bzw. Etappen einer einzigen Entwicklung erklärt werden, die, vom gleichen Ausgangspunkt ausgehend, auch zum gleichen Ziel führen muß . 8 Um diese Konsequenzen eines kulturgeschichtlichen Sub­ stantialismus' zu vermeiden, bedarf die theoretische Rede über den Mythos besonderer Kontrolle. Diese Kontrolle aber läßt Cassirer bisweilen vermis­ sen : Bevor das Ganze der mythischen Welt sich in ebenso bestimmte wie einheitliche Gestalten auseinanderlegt, gilt es, eine ursprüngliche Phase, in der dieses Ganze nicht anders denn im dumpfen Gefühl für den Menschen da ist, in ihren transzendentalen Bedingungen und spezifischen Eigenarten zu fixieren. Die »dumpfe Fülle des Seins« kontrastiert gegen den »ideellen Pro5 Vgl. EoM, S. 102; sowie J.M. Krois, Der Begriff des Mythos bei Ernst Cassirer, S. 202 . 6 EoM, S. 105; vgl . PsF li, S. 88; MS, S. 37ff.; sowie E. Cassirer, Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 106. 7 PsF li, S. 43. 8 Vgl. C . Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie li, S. 371 .

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zeß der Lichtwerdung. 9 [ ] Wenn e s etwas gibt, das den Mythos charakte­ risiert, so ist es die Tatsache, daß er >ohne Sinn und Verstand< ist . « 1 0 Die zur Kennzeichnung der Anfänge menschlicher Kultur von Cassirer bevorzugte Wortwahl legt jenen Begriff des Primitiven nahe, der entgegen aller wohlverdienten Kritik sich offenbar in Ermangelung eines besseren im Vokabular der Soziologen und Ethnologen durchgesetzt zu haben scheint. Durch ihn werden üblicherweise jene Kulturen bezeichnet, die einerseits (noch) keine Schrift entwickelt haben, so daß sich ihre Gestalt in Ermange­ lung schriftlicher Dokumente den Untersuchungsmöglichkeiten des Histo­ rikers entzieht; und die andererseits erst in jüngster Zeit mit der technischen Zivilisation in Kontakt gekommen sind, so daß ihre Weltvorstellung wie auch ihre soziale Organisation jenen Begriffen weitgehend fremd gegenüber­ stehen, die sich in der Philosophie und beispielsweise in der politischen Ökonomie zur Beurteilung der europäischen Kultur als unverzichtbar er­ wiesen haben . Nimmt man indessen dieses grundsätzliche Fremdsein zum Anlaß, die ursprünglichen Bedingungen von Kultur überhaupt zu bestim­ men, so läßt sich der Ursprung einer Kultur offenbar nur unter der Voraus­ setzung denken, daß in ihm alles Denken, sinnliche Anschauen und Wahr­ nehmen auf einem »ursprünglichen Gefühlsgrund« 1 1 aufruht, in dem und für den Erscheinung und Wesen in dem Sinne eins sind, als das Wesen nicht hinter die Erscheinung zurück-, sondern in ihr erst hervortritt . 12 Das mythi­ sche Symbol repräsentiert nicht etwas anderes, sondern setzt und >behauptet< sich selbst; es ist nicht Wissen von einem Gegenstand, sondern Selbstgege­ benheit; es gehört nicht wie der wissenschaftliche Begriff in den Bereich theoretischer Erkenntnis, sondern in den von Willen und Affektivität. Dadurch, daß im Mythos das, was erscheint, sich nicht auf eine Vielzahl möglicher Darstellungsweisen eines Wesens verteilt, deren jede sozusagen ein Bruchstück von ihm wiedergibt, sondern sich als ungebrochene und un­ zerstörbare Einheit manifestiert, stellt Cassirer das mythische Bewußtsein in einigen entscheidenden Punkten dem Bild gleich, das er sich in Substanzbe­ griff und Funktionsbegriffvom Sensualismus zur Grundlage seiner Kritik an ihm gemacht hatte. Hier wie dort wird der reale Gehalt des Daseins in der Intensität gesucht, mit der die unmittelbaren Eindrücke sich dem Bewußt­ sein mitteilen; hier wie dort kann kein Urteil mehr als die Feststellung eines hier und jetzt gegebenen Bestandes bedeuten wollen; hier wie dort fällt jede Behauptung, die den Kreis sinnlicher Gewißheit durchbricht, dem Gebiet der bloßen Fiktion anheim, das bereits dort beginnt, wo die für irgendein beliebiges Urteil reklamierte Geltung über den Zeitpunkt der Urteilsfällung •





9 E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 143 . 1 0 EoM, S. 93 . 1 1 PsF II, S. 239, 1 1 8 ; vgl. a. a. 0 . , S. 240 .

12 Vgl. PsF 111, S. 79; zu dieser Charakterisierung des »Archaischen« vgl. E. Hoffmann, Die Sprache und die archaische Logik, S. Vll f.

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hinaus in Anspruch genommen wird . 1 3 In jedem Augenblick ist das Wahr­ nehmen in sich vollendet und bedarf keinerlei ergänzender, erweiternder oder integrierender Gesichtspunkte, um es zu sein . Doch die Unmittelbar­ keit der sinnlichen Eindrücke suggeriert nur gegenständliche Präsenz weiter nichts . Wenn nur für das Jetzt des Erlebens das Gegebene Bestand hat, so steht es außerhalb aller Kategorien, denen der Gedanke des Gegebenen untersteht. Das mythische Bewußtsein als ein von Offenbarungen und Intui­ tionen >verführtes< Denken, das fasziniert ist vom Universum unmittelbarer Sinnesgegenwart, deren Zauber wiederum so mächtig ist, daß kein anderer Gewalt über es haben kann, vermag Unterschiede nur zu stammeln : »Es trennt, es unterscheidet, ohne sich jemals wirklich der unterschiedenen und ursprünglichen Intuition zu entreißen. « 14 Hier also findet die erkenntniskritische Frage nach Gesetzlichkeit ihre Grenze . Mit Beziehung darauf, daß in dem Augenblick, wo sich auf einen unmittelbaren Erlebnisinhalt bezogen wird, dieser nicht mehr nur präsent, d. h. unmittelbares Erleben ist, sondern vom Bewußtsein als ihm gegenüber­ stehend, d. h . repräsentativ gegenwärtig gesetzt wird, hatte Natorp für das »wirkliche Bewußtseinsleben« den Unterschied zwischen dem präsentativen und dem repräsentativen Bewußtsein als einen fließenden Übergang expo­ niert: Ständig kann das, was präsent war, zum bloß Repräsentativen, was repräsentiert, wieder zum rein Präsenten werden, so daß schließlich »nicht die Präsentation, sondern die Repräsentation das Ursprüngliche, die Präsen­ tation nur aus dem repräsentativen Bewußtsein, als in ihm eingeschlossenes Moment, abstrahiert ist . « 1 5 Wenn dies allerdings so zu verstehen ist, daß >Bewußtsein< sich mit >Beziehung< deckt und >Beziehung< gleich notwendig Präsentation und Repräsentation umfaßt, so wird nicht nur jegliche Unter­ scheidung zwischen präsentativem und repräsentativem Bewußtsein, son­ dern auch jeder Versuch, zwischen der Bewußtseinstätigkeit und dem Bewußtseinsinhalt zu unterscheiden, hinfällig. Und hier fallen nun die für Natorp entscheidenden Sätze : >>Wenn nun der Materie das präsentative Be­ wußtsein entspricht [ . . . ], so der Form das repräsentative; denn Form heißt Beziehung [ . . . ]; indem wir also das Bewußtsein wesentlich als Verbindung, als Einheit des Mannigfaltigen verstehen, schließen wir das Moment der Be­ ziehung darin ein; wir setzen es , der Sache nach, als Grundmoment des Bewußtseins . Das verbindungslose, unbezogene Mannigfaltige, die immer präsente Materie des Bewußtseins sinkt dann herab zu der Bedeutung einer 13 Vgl. SFB , S. 3 14; PsF li, S. 47 »Der Mythos hält sich ausschließlich in der Gegenwart seines Objekts , - in der Intensität, mit der es in einem bestimmten Augenblick das Bewußtsein ergreift und von ihm Besitz nimmt. Ihm fehlt daher jede Möglichkeit, den Augenblick über sich selbst zu erweitern, über ihn voraus und hinter ihn zurückzuschauen, ihn als einen besonderen auf das Ganze der Wirklichkeitselemente zu beziehen . « Zum >platonischen< Hintergrund dieser Kritik vgl. E. Cassirer, Die Philosophie der Griechen, S. 1 06 ff. 14 M . Detienne, Mythologie ohne Illusion, S. 1 4 . 15 P . Natorp, AP, S . 5 6 .

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bloßen, obschon notwendigen Abstraktion: Inhaltsmomente des Bewußt­ seins lassen sich in Betracht nehmen unter Absehung von der Verbindung, vom Bezug, und damit - vom Bewußtsein; aber sie existieren darum nicht im wirklichen Leben des Bewußtseins (d . h. sind ursprünglich und eigentlich überhaupt nicht bewußt) außer jedem Bezug, sondern nur in ihm, nämlich als Bezugsgrundlagen . [ . . . ] Also ist >Perzeption< überhaupt nicht Bewußt­ sein, sondern nur Bewußtseinsmöglichkeit, d. h. Supposition rekonstru­ ierender Theorie . « 16 Doch während Cassirer noch im Zusammenhang seiner Untersuchungen zum Substanz- und Funktionsbegriff wie Natorp das den Prämissen des Sensualismus entsprechende >Wirkliche< als das schlechthin einfach und unzerlegt vor uns stehende Ganze deutlich als theoretische Kon­ struktion kenntlich macht, die die erkenntniskritische Reflexion sich zum Zwecke der Demonstration geschaffen hat, wie diese »ursprüngliche >Einfalt< der Anschauung [ . . . ] sich erst unter der logisch zergliedernden Arbeit des Begriffs zu einer inneren Vielgestaltigkeit um[wandelt]« 1 7, erhebt er durch die dem mythischen Bewußtsein vindizierte konstitutive Indifferenz von We­ sen und Erscheinung das zu diesem Grenzbegriff in Korrelation stehende »Chaos der sinnlichen Eindrücke« 1 8 völlig unvermittelt zum Faktum . Diese in der Tat überraschende Wendung ist dahingehend interpretiert worden, daß das Denken weder historisch noch sachlich bei den allgemein­ sten Begriffen anfangen könne . Auch für den transzendentalphilosophischen Ansatz sei zu fordern: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu.19 Tatsächlich spielt Cassirer auf den Anfang von Hegels Phänomenologie des Geistes an, der das »Wissen, wie es zuerst ist, oder der unmittelbare Geist [ . . . ] das Geistlose, das sinnliche Bewußtsein ist. «2 0 Daß er allerdings den »Anfang im Unmittelbaren«, den »eigentliche[n] Ausgangspunkt für alles Werden der Wissenschaft«, nicht in die Sphäre des Sinnlichen, sondern in die mythisch-magische Anschauung verlegt,21 ist Folge der Kritik der Ansicht, es gäbe so etwas wie eine rein sinnliche Gewißheit: Das Problem sinnlicher Gewißheit wird durch das der elementaren Ausdrucksbewegung ersetzt. Es bildet insofern eine erste Grenzscheide geistiger Entwicklung, »als sie noch völlig in der Unmittelbarkeit des sinnlichen Lebens steht und doch anderer­ seits über diese bereits hinausgeht. Sie schließt in sich, daß der sinnliche Trieb, statt direkt gegen sein Objekt vorzudringen und sich in ihm zu befrie­ digen und zu verlieren, eine Art Hemmung und Rückwendung erfährt, in der nun eine neue Bewußtheit eben dieses Triebes erwacht. In diesem Sinne 16 17 18

P. Natorp, AP, S. 57. SFB , S. 342; vgl. a. a. 0 . , S. 360 f. ; sowie PsF II, S. 46 f. PsF II, S. 87; vgl . a. a. 0 . , S. 212 die Fomulierung »Chaos des ersten unbestimmten Le­ bensgefühls«; sowie E. Cassirer, Die Antike und die Entstehung der exakten Wissenschaft, S. 19 »Chaos der Sinnenwelt« . 1 9 Vgl. W. Ettelt, Der Mythos als symbolische Form, S. 66. zo G. W. F. Hege!, Phänomenologie des Geistes, S. 3 1 . 2 1 PsF II, S. X; vgl . E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 83 .

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bereitet gerade die Reaktion, die in der Ausdrucksbewegung enthalten ist, eine höhere geistige Stufe der Aktion vor. «22 Demgegenüber negiert der Sen­ sualismus das Leben der Wahrnehmung nach der Seite der Denk- und Erkenntnisprobleme, indem er ihren reinen Bedeutungsgehalt in ihren sinn­ lichen Stoff zurückverlegt und aus ihm vollständig abzuleiten versucht. Die Erhebung des >Chaos sinnlicher Eindrücke< zum Faktum erhellt Cas­ sirers Schwierigkeiten, den Mythos tautegorisch, d. h. von innen heraus und nicht im Kontrast zu anderen Formen des Weltbewußtseins zu verstehen. Der Verdacht liegt nahe, daß sein Begriff archaisch-primitiver Kultur ein Reflex darauf ist, daß sich ihm eine Fülle von Unstimmigkeiten, Widersprü­ chen und Rätseln präsentierte, wo aufgrund der genannten ursprünglichen Einfalt der Anschauung ein konturloser Brei viel eher zu erwarten gewesen wäre. Tatsächlich kann in einem Mythos so ziemlich alles vorkommen; ja häufig entsteht der Eindruck, als sei die Reihenfolge der Ereignisse selbst keiner Regel der Logik oder der Kontinuität unterworfen. Jedes Subjekt scheint ein beliebiges Prädikat haben zu können, jede nur denkbare Bezie­ hung scheint möglich . Die Verwirrung, die eine derartige Entdeckung auszulösen im Stande ist, wäre zumindest verständlich : Denn zweifelsohne ist der Begriff einer Logik, deren Grundstrukturen sich - wenn überhaupt - nur als Abfälle und Bruch­ stücke psychologischer und historischer Vorgänge entziffern zu lassen schei­ nen, paradox; schließlich ist mit >Logik< doch die Produktion notwendiger Beziehungen gemeint - und da stellt sich die Frage, wie sich solche Beziehun­ gen zwischen Begriffen herstellen sollten, die nichts zur Erfüllung dieser Funktion prädestiniert. Immerhin handelt es sich hier um Riten, dämonische Kräfte, göttliche Gestalten, heilige Gegenstände, Kosmologien, geweihte Menschen, Tiere, Pflanzen, Orte usw. - Kategorien, deren jede zusätzlich noch ihre eigene reiche Gestaltenfülle hat.23 So ist also die Gefahr, daß das , was durch das mythische Bewußtsein geformt wird, unverständlich bleibt, durchaus real. Ihr kann solange nicht begegnet werden, solange es nicht möglich ist, die es konstituierenden Ordnungsstrukturen unserem Katego­ riensystem zuzuordnen. Damit aber ist zugleich unterstellt, daß die sowohl hinsichtlich ihres historischen Vorkommens wie auch ihrer konkret-inhalt­ lichen Struktur nach heterogenen Zeugnisse archaischen Denkens einen einheitlichen Sinn haben, d. h. daß der Mythos ganz allgemein dem Sinn einer symbolischen Form entspricht. Systematisch ist diese Unterstellung von tragender Bedeutung. Wäre das mythische Bewußtsein nichts als ein in seinen Momenten diskursiv nicht zu unterscheidender Bestand, so wäre eine Analyse dieser Momente nicht nur sinnlos, weil unnötig, sondern käme geradezu einer Zerstörung dieser Ein22

PsF I, S. 127. 2 3 Vgl. MS, S. 52 f. ; sowie M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 22.

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heit durch das Setzen von Bedeutungsverhältnissen gleich. Daraus wiederum folgt, daß der Sinn des Mythos den isolierten Elementen, die hier in ihrer Zusammensetzung erscheinen, nicht gleichsam anhaften darf, sondern sich an der Art und Weise, in der diese Elemente vom mythischen Denken zur Einheit einer Welt zusammengesetzt werden, erweisen lassen muß : Die my­ thische Welt läßt sich nicht von ihrer gegenständlichen Seite her, sondern nur dann bestimmen, wenn es gelingt eine ihr entsprechende Bewußtseinsform nach ihren Bedingungen begrifflich zu bestimmen .24 Seiner These vom Verhaftetsein des mythischen Bewußtseins an den sinn­ lichen Eindrücken entsprechend führt Cassirer die Mannigfaltigkeit mythi­ scher Zeugnisse auf den spezifischen Fall der reinen Ausdruckswahrnehmung zurück und stellt sie damit in einen Zusammenhang, der ihm von den Grund­ lagen des Sensualismus ausgehend unerreichbar bleiben müßte. Ihr Funda­ ment bilden weder die darstellenden noch die bedeutenden Akte, sondern reine Ausdruckserlebnisse. Das unmittelbare Gefühl und Empfinden, im Wahrgenommenen drücke sich etwas aus, das dem Wahrgenommenen gegen­ über gleichwohl keinerlei Eigenständigkeit hat und somit von ihm auch nicht abstrahierbar ist, haftet hier den Erscheinungen selbst an und muß nicht erst auf dem Umweg einer Setzung sich in ihnen ausdrückender >Subjekte< her­ ausgelesen werden. Cassirer mag sich, um diese These vom Gegründetsein der mythischen Welt in der reinen Ausdruckswahrnehmung zu erhärten, auf Ergebnisse ent­ wicklungspsychologischer Forschungen berufen - die Ungereimtheiten, in die er sich verwickelt, lassen dennoch eine skeptische Distanz dieser seiner These gegenüber angeraten scheinen: So werden Cassirer zufolge z. B. die Phänomene des reinen Ausdrucks verkannt, läßt man sie als Produkte eines sekundären Deutungsakts der Einfühlung entstehen, statt sie als das, was sie sind, - als Urphänomene hinzunehmen . Den Mythos zu leben eben heißt, sich von der »heiligen, erhebenden Kraft der Ereignisse, die man in Erinne­ rung ruft oder reaktualisiert«25, ergreifen zu lassen. Galt zunächst noch die Behauptung, daß die Bedeutung der mythischen Welt für uns sich nur er­ schließen kann, »Wenn wir hinter ihr noch die Dynamik des Lebensgefühls verspüren, aus der sie ursprünglich erwächst«26, so heißt es jetzt, daß die Erklärung der Einfühlung zum Ausgangspunkt der Analyse des mythischen Bewußtseins und der ihm entsprechenden Welt die Ordnung der phänome­ nalen Gegebenheiten umkehre: Die Wahrnehmung werde zunächst ertötet, »um dann diesen toten >Stoff< der Empfindung durch den Einfühlungsakt aufs neue zu beleben . [ . . . ] Die Wahrnehmung besitzt den Charakter der

24 Vgl. E. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaf­ ten, S. 1 73; sowie MS, S. 49 f. 25 M. Eliade, Mythos und Wirklichkeit, S. 27. 26 PsF II, S. 8 8 .

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Lebendigkeit nicht aus eigenem Recht, sondern sie trägt ihn nur einer frem­ den Instanz zu lehen. «27 Daß die sensualistische Grundansicht in ihren Prämissen nicht nur den Anteil der >höheren< geistigen Funktionen am Aufbau der Wahrnehmungs­ welt, sondern nicht minder die »starke und triebkräftige Unterschicht«28 außer Kraft setzt, auf der sie aufruht, braucht nicht mehr eigens betont zu werden. Die Metaphorik, auf die Cassirer zurückgreift, um die mythisch­ magische Sicht der Welt gegen die sinnliche Gewißheit der Phänomenologie des Geistes· abzugrenzen, verdeutlicht ohnedies, daß die entscheidende Dif­ ferenz zwischen beiden nicht in Richtung der ihnen supponierten Unmittel­ barkeit zu suchen ist, sondern darin besteht, daß der Sensualismus eben eine »typisch->symbolblinde< Grundansicht«29 ist, der gegenüber die Ausdrucks­ wahrnehmung und das Ausdruckserlebnis als die konstitutive Grundlagen von Symbolisierung überhaupt zur Geltung zu bringen sind : »Vom Baume der Erkenntnis behält die sensualistische Wahrnehmungslehre gewisserma­ ßen nur den nackten Stamm zurück - sie sieht weder seine Krone, mit der er sich frei in die Luft, in den Äther des reinen Gedankens, erhebt, noch die Wurzeln, durch die er dem Erdreich verhaftet ist und sich in dasselbe hinab­ senkt. Diese Wurzeln [ . . . ] bestehen nicht in den >Elementen< der Sinnesemp­ findung, sondern in ursprünglichen und unmittelbaren Ausdrucks charakte­ ren. Die konkrete Wahrnehmung löst sich von diesen Charakteren auch dort nicht völlig los, wo sie immer entschiedener und bewußter den Weg der reinen Objektivierung beschreitet. Sie geht niemals in einem bloßen Kom­ plex sinnlicher Qualitäten - wie hell oder dunkel, kalt oder warm - auf, sondern ist je auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston ge­ stimmt; sie ist niemals ausschließlich auf das >Was< des Gegenstandes gerich­ tet, sondern erfaßt die Art seiner Gesamterscheinung, - den Charakter des Lockenden und Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänf­ tigenden oder Furchterregenden, der in dieser Erscheinung rein als solcher und unabhängig von ihrer gegenständlichen Deutung, liegt. «30 Während also in kritischer Hinsicht die Sprache Erschließungsfunktionen übernimmt, übernimmt auf der phänomenalen Ebene der Mythos diese Funktion . Der ursprüngliche Sinn der Annahme, daß das mythisch-magi­ sche Bewußtsein die von ihm vorgefundenen Bedingungen seiner Existenz lediglich hinnimmt, wird so zumindest zweifelhaft. Denn liegt die Macht des Inhalts über dieses Bewußtsein im Modus seines Erscheinens beschlossen, so heißt dies vor allem, daß die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt die Rolle von Denkobjekten übernehmen . Es sind nicht die Naturerschei­ nungen, was Mythen verständlich zu machen suchen, sondern die NaturerPsF III, S. 85. PsF III, S. 78 . PsF li, S. 250. 30 PsF III, S . 78 .

27 2s 29

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scheinungen sind Erklärungsfunktionen, durch die Mythen Realitäten zu erklären beabsichtigen, die selbst nicht natürlichen, sondern logischen Ur­ sprungs sind: Logisches Sein und So-Sein läßt sich nicht anders als dadurch aussprechen, »daß es in irgendeine Art des anschaulichen >Daseins< umge­ setzt«31 wird. Es ist für die Umgangssprache, jene Sprache, in der man auch über logi­ sche Strukturen zu reden gewöhnt ist, charakteristisch, diese zu verding­ lichen und damit zu Gegenständen unter Gegenständen, wenn auch zu Gegenständen von besonderer Beschaffenheit zu machen . Die Unmittelbar­ keit des mythischen Bewußtseins, die durch die Formulierung der Umset­ zung des logischen Seins in ein anschauliches Dasein noch unterstrichen wird, erweist sich aber gerade hierin als Produkt der Idealisierung. Die Hoff­ nung auf eine nicht schon logisch-präformierte, die >Gegenstände< also immer auch verstellende Erfahrung ist eitel; für jedes Bewußtsein, auch für das mythische, gilt, daß immer dann, wenn Erfahrung statthat, Begriffe in sie eingegangen sind, die ihren Zusammenhang, die die Unterscheidbarkeit und Vergleichbarkeit von Erfahrungen überhaupt erst ermöglichen und zu­ gleich die gegenständlich-objektive Welt in bestimmter Weise interpretiert haben . Um also an der Rede vom Ergriffenwerden des Bewußtseins durch seine Inhalte festhalten zu können, muß Cassirer eine Reihe weiterer Entdifferen­ zierungen durchführen: In der Unmittelbarkeit der reinen Ausdruckscha­ rakteren gründet eine »merkwürdige Indifferenz zwischen Persönlichem und Unpersönlichem«32, durch die alles mit allem durch unsichtbare Fäden verknüpft ist. Sie macht das mythische Denken unfähig, zwischen dem Wis­ sen von Dingen im Sinne physischer Gegenstände und dem Wissen von >fremden Subjekten< zu trennen. Für es besteht die Welt nicht einfach aus Dingen und Gestalten, sondern ist von Wesen bevölkert, die dem Menschen im wesentlichen gleichen . Das Lebendig-Beseelte ist noch nicht auf das Menschliche beschränkt. Das Individuum differenziert noch nicht zwischen den Erfahrungen, die sich auf seinen Körper, und denen, die sich auf die >äußeren< Dinge beziehen . Schon die bloße Existenz der Welt >will etwas sagenjenseits des Seins< ist, weil es noch mehr als bloß Objekt reiner Erkenntnis, noch mehr als bloß vorbildliches Sein ist, sondern schaffender Urgrund, schöpferischer Wert. «35 So stützt die Verteilung der drei Urfunk­ tionen symbolischer Formung: Ausdruck, Darstellung und Bedeutung auf die Symbolsysteme des Mythos, der Sprache und der Wissenschaft die Hy­ pothese, daß dort, wo sich Cassirer um eine Phänomenologie der allerersten und sozusagen ursprünglichen Phase symbolischer Formung bemüht, es ihm nicht um Objektivierung, sondern darum zu tun ist, den Weg in den lebendi­ gen Mittelpunkt allen Weltgestaltens zurückzufinden . Dieser Interpretation kommt entgegen, daß eine der bei der Analyse des mythischen Bewußtseins auftretenden Schwierigkeiten in der »natürlichen Kompliziertheit der logischen Systeme des Konkreten [liegt] , für die das Vorhandensein einer Verbindung wesentlicher ist als die Beschaffenheit der Verbindung; in formaler Hinsicht ist ihnen, wenn man so sagen darf, jedes Mittel recht. «36 Dadurch allerdings, daß für das mythisch-magische Denken alle Schaffensenergie auf das Geschaffene übergeht, in ihm gebunden bleibt und von ihm nur wie im Reflex zurückstrahlt, soll das mythische Bewußtsein seine schöpferischen Leistungen nicht in ihrem Vollzug erfassen können. Es beschränkt sich auf ein ständiges Hin- und Aufweisen, das auf jede Form der Differenzbildung im Hin- und Aufgewiesenen ebenso wie auf Erklärungen verzichten kann. Die erfahrenen Gegenstände sind an sich selbst bedeutsam. »Aller Anfang des Mythos, insbesondere alle magische Weltauffassung, ist

Vgl. Platon, Kratylos 430 d. E . Hoffmann, Die Sprache und die archaische Logik, S . 63. C . Levi-Strauss, Das wilde Denken, S . 82; vgl. EoM, S . 1 71 ff. Über das Verhältnis Cassi­ rer - Levi-Strauss informiert R. Silverstone, Ernst Cassirer and Claude Levi-Strauss: Two Approaches to the Study of Myth . 34 35 36

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von diesem Glauben an die objektive Wesenheit und an die objektive Kraft des Zeichens durchdrungen. «37 Im Gegensatz zur theoretischen Reflexion, die im Gegebenen den Anteil der Produktivität des Geistes erkennt und hervorhebt, um alle Rezeptivität in Spontaneität aufzuheben, wandelt sich für die mythische Auffassung das Spontane zu einem bloß Rezeptiven. Alles, was Erzeugnis ist, wird als Sub­ stantialität gedeutet. Insofern errichtet der Mythos gegenüber der vom Sen­ sualismus postulierten, von Cassirer jedoch von Beginn an als Fiktion kritisierten Welt des sinnlich-passiven Eindrucks zwar eine Schranke auf, tauscht aber in den Gestalten und Bildern, die er an seine Stelle setzt, nur eine andere Form des Daseins und Gebundenseins ein . Das, was den Geist von den »Fesseln der Dinge«38 zu befreien scheint, wird ihm zu einer neuen, weit wirkungsvolleren Fessel, da die Gewalt, die er erfährt, einer geistigen Macht entstammt. Das Fehlen fundamentaler gedanklicher Unterscheidungen wie zwischen Bild und Sache, Sprache und Sein, Wort und Sinn, Psyche und Physis sichern der Welt des mythischen Bewußtseins eine Stabilität, die we­ der durch theoretische Argumente noch durch irgendwelche Gedankenexpe­ rimente zu erschüttern ist. Hier ist die »einfache Darstellung des Phänomens zugleich seine Auslegung und zwar die einzige, deren es fähig und bedürftig ist. «39 Während die Weltsicht der exakten Wissenschaften den >Gegenstand< bestimmt, indem sie ihn nach rückwärts in seine Bedingungen und nach vorwärts in seinen Wirkungen verfolgt, so daß er das, was er ist, nur als bestimmte Stelle in einem Kausalgefüge, d. h. als Moment einer durchgängi­ gen Gesetzesordnung ist, wird er vom mythischen Bewußtsein in seiner physiognomischen Individualität erlebt: Jedwede Trennung des Augenblicks der Beobachtung von dem der Interpretation ist dem mythischen Denken fremd. »Wo statt der Analyse und der Abstraktion, die die Vorbedingting alles kausalen Begreifens ist, vielmehr die reine >Vision< waltet - da ist es eben das Bild, das die wahre Wesenheit aufschließt und kenntlich macht. «4 0 Will man daher innerhalb mythischer Kontexte überhaupt von Begrün­ dung reden, so muß man sich dessen bewußt bleiben, daß es sich ausschließ­ lich um solche Begründungen handelt, die über das Begründende zugleich vollständig die Bedingungen festlegen, nach denen begründet werden kann und muß . Mit dem streng-methodischen Sinn von >Begründung< hat dies nichts mehr gemein : Denn dadurch, daß dem mythischen Bewußtsein die Kategorie des Ideellen fremd ist41, ist für es auch das Erkenntnisproblem als PsF Il, S. 3 1 ; vgl. B. Liebrucks, Sprache und Mythos, S. 1 1 6 . PsF I l , S . 32. PsF Ill, S . 1 1 0. 40 PsF Ill, S . 81; vgl. C . Levi-Strauss, Das wilde Denken, S . 257. 4 1 Vgl. PsF U, S. 5 1 ; E. Cassirer, Sprache und Mythos, 125 ff. , 153; ders . , Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 1 88; LK, S. S. 2; sowie E. Hoff­ mann, Die Sprache und die archaische Logik, S. 1 5 . J7 Js l9

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solches inexistent. Seine ursprüngliche Vision, d. h. die seine Urteile fundie­ rende letzte Intuition betrifft immer nur die immanente Gliederung des Urteilszusammenhangs, muß aber die eigentlich kritische Frage nach dem Grund seiner Bestimmtheit offen lassen . Konstruktiv trägt Cassirer damit dem Umstand Rechnung, daß der My­ thos nicht auf Fragen antwortet, sondern sich im Gegenteil unbefragbar macht; alles, was die Forderung nach Erklärung nach sich ziehen könnte, verlegt er unter Berufung auf diese seine Vision an eine Stelle, deren Beson­ derheit es ist, gerade die Abweisung derartiger Ansprüche zu legitimieren . Nach dem Wesen oder gar nach der Herkunft des Seins auch nur zu fragen, »würde Frevel an einem namenlosen Göttlichen bedeuten. «42 Gewiß ist auch für das mythische Bewußtsein die Welt aller Erklärung bedürftig; aber was ihren Ursprung erklärt, ist den immanenten Notwendigkeiten allen Fragens und Erklärens entzogen . Die Ordnung des Mythos schließt jeglichen Dialog aus; »man spricht nicht über die Mythen der Gruppe, man verwandelt sie, indem man sie zu wiederholen glaubt. «43 Der Feststellung Hans Blumen­ bergs, der Mythos lasse nicht nur im Dunkeln, was ohnehin im Dunkeln ist, sondern erzeuge und verdichte dieses Dunkel erst44, wäre Cassirers Zustim­ mung sicher. Dem nicht-mythischen Bewußtsein, dem >Wirklichkeit< immer das Resultat einer Realisierung einer sich durchhaltenden, jedoch nie defini­ tiv gesicherten Verlässlichkeit ist, ist die für mythisches Denken typische Behauptung einer erreichbaren bzw. uns erreichenden momentanen Evi­ denz, die sich durch nichts überbieten läßt, nicht nur fremd, sondern unver­ ständlich . Gleichsam aus der Perspektive der wissenschaftlichen Erkenntnis, d . h . unter vertauschten Vorzeichen reproduziert Cassirer so den für archaische Kulturen charakteristischen Gegensatz zwischen dem bewohnten Gebiet und dem unbekannten, unbestimmten Raum, der dieses umgibt. »Ihr Gebiet ist die >Welt< (genauer gesagt: >unsere Weltandere WeltFremde< [ . . . ] hausen. «45 In blin­ der Wiederholung immer gleicher Unterschiede und in einer Zeugenschaft, die den vom Mythos berichteten Ereignissen näher oder ferner steht, er­ wächst so eine umfassende Grundlage, die die Bürgschaft für eine unwandel­ bare Existenz zu sein scheint. Allein dadurch, daß Mythen als wahre Geschichten aus sehr alter Zeit firmieren, bezeugen sie an sich selbst etwas Dauerhaftes , das sie imstande sind, allen menschlichen Verhältnissen einzu­ flößen. »Für das primitive Bewußtsein gibt es nichts Heiligeres und nichts,

42 EoM, S. 284. 43 C . Levi-Strauss, 44 45

Mythologica, IV: Der nackte Mensch, S . 786 f. Vgl. H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 144. M . Eliade, Das Heilige und das Profane, S . 30.

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das mehr Schauer erregt, als die Heiligkeit und die Ehrwürdigkeit des Alters . Das Alter gibt allem Seienden, den Dingen sowohl als auch den menschlichen Institutionen, ihren Wert, ihre Würde, ihre sittliche Bedeutsamkeit und ihre religiöse Weihe. Um die mythische Hypostase, die die Dinge und mensch­ lichen Einrichtungen erfahren, in ihrer Wirksamkeit zu erhalten, hat der Mensch die Pflicht, die festgefügte Ordnung des Lebens ständig in ihrer wandellosen Gestalt zu bewahren . Ein Bruch der Kontinuität wäre gleichbe­ deutend mit einer Auflösung des substantiellen Gehalts des mythischen und des religiösen Lebens . Für das primitive Denken hat die geringfügigste Än­ derung an der bestehenden Ordnung der Welt unheilvolle Wirkungen. «46 Die in sich geschlossene Anschaulichkeit der mythischen Welt widerstrebt einem Wirklichkeitsbewußtsein offener Horizonte, innerhalb derer von wei­ terer Erfahrung eine Korrektur der gegenwärtigen weit eher als die Bestäti­ gung einer sich wiederholenden Typik zu erwarten ist. In Ermangelung des Ideellen aber fehlen dem mythischen Bewußtsein sämtliche Möglichkeiten, diejenigen Trennungs- und Demarkationslinien zu ziehen, die für ein ausge­ bildetes Erfahrungsbewußtsein die verschiedenen Objekte und Objektkreise voneinander scheiden . »Während die Denkform der empirischen Kausalität daher wesentlich darauf gerichtet ist, eine eindeutige Beziehung zwischen bestimmten >Ursachen< und bestimmten >Wirkungen< herzustellen, stehen dem mythischen Denken auch dort, wo es die Ursprungsfrage als solche stellt, die >Ursachen< selbst noch in völlig freier Auswahl zu Gebote. Hier kann noch alles aus allem werden, weil alles mit allem sich zeitlich und räum­ lich berühren kann. «47 Während das empirisch-kausale Denken von Verän­ derung spricht und darunter eine allgemeine Regel versteht, die es dem Geschehen als funktionale Beziehungen und Bestimmungen zugrunde legt, die sie unabhängig von dem bloßen Hier und Jetzt als allgemein gültig postu­ liert, kennt das mythische Denken nur einfache Metamorphosen, d. h. Be­ richte, in denen erzählt wird, wie der Fort- und Übergang eines einzelnen sinnlich-gegebenen Dinges in ein anderes vonstatten geht. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erklärung geht es hier nicht darum, chaotische Zustände und die ihnen entsprechenden Emotionen mit einer bestimmten Ursache in Zusammenhang zu bringen, sondern sie in der Form eines Ganzen zu glie­ dern, das solange seinen Wert behält, wie es eine Gliederung dieser diffusen Zustände ermöglicht. Diese Möglichkeit aber wird dem mythischen Be­ wußtsein durch eine ursprüngliche Vision beglaubigt, die sich jeder Erfas­ sung von außen entzieht. Hinsichtlich der reinen Ausdruckserlebnisse und Ausdruckswahrnehmungen hat dies zur Konsequenz, daß keinem dieser Zu­ stände ein Bewußtsein noch ein bestimmtes Verhalten des Ich ihnen gegen­ über entspricht. Das, was sie repräsentieren, ist das reine Gegebensein als 46 47

EoM, S. 284 f. PsF II, S. 61 .

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solches, das Bereitliegen eines mannigfachen Inhalts für das apperzipierende Bewußtsein. Wenn aber Apperzeption das Bewußtsein des Inhalts nach der bestimmten Seite bezeichnet, daß es eine Einheit dieses Mannigfaltigen darstellt, so tritt damit, daß von dieser Einheit des Bewußtseins nicht gesagt werden kann, daß sie erscheine, die innere Widersprüchlichkeit dieser Mythos-Konstruk­ tion zutage. Sofern der Mythos nämlich nur >objektiv< ist, »sofern auch er als einer der bestimmenden Faktoren erkannt wird, kraft deren das Bewußtsein sich von der passiven Befangenheit im sinnlichen Eindruck löst und zur Schaffung einer eigenen, nach einem geistigen Prinzip gestalteten >Welt< fort­ schreitet«48, so verliert sich sein Ursprung ins Übergeschichtliche und verrät immer nur das, was in seiner Aufhebung erst möglich wird. Dem Mythos­ Forscher ergeht es nicht anders als dem, der im Mythos lebt. Im Unterschied zum Physiker ist auch der Ethnologe solange sowohl über die Bestimmung der Objekte, die für ihn beispielsweise einem Magneten oder dem Eisen entsprechen, als auch über die Bedingungen, überhaupt Objekte identifizie­ ren zu können, die oberflächlich wie Magnete oder aber Eisenstücke erschei­ nen, im ungewissen, bis ihm eine »detaillierte Geschichte« über alle mög­ lichen Zweifel hinweghilft. 49 Aber auch hier scheitern alle Versuche, eine Vergangenheit wiederherzu­ stellen, deren Geschichte man zu erreichen unmöglich in der Lage ist. Die >ursprüngliche SituationprägenNotwendigkeit< der Wissenschaften von der des Mythos unterscheidet, ist, daß sie von innen, nicht von außen stammt. 53 Wenn aber unter Berufung auf transzendente Größen, die hierdurch zu Schicksalsmächten im eigentlichen Sinne werden, erzählend alles aus allem werden und hergeleitet werden kann und es lediglich darauf ankommt, so­ lange binäre Gegensätze zu bilden, bis sich neue Gegensätze nicht mehr finden lassen, dann braucht nichts erklärt, noch überhaupt nach Erklärungen verlangt zu werden . Mißerfolge kann es dann im Grunde nicht geben . So ist es grundsätzlich verfehlt, die mythischen Erzählungen als >primitive< Versu­ che wissenschaftlicher Theoriebildung anzusehen. Ein Interesse, die Natur zu erklären, hat das mythische Bewußtsein nicht, weil es den B egriff Natur nicht kennt. Für den Primitiven ist >Natur< weder ein »bloßes Erkenntnisob­ jekt, noch Mittel zur Befriedigung unmittelbarer praktischer Bedürfnisse.

51

C . Levi-Strauss, Das wilde Denken, S . 266; vgl . M. Eliade, Mythos und Wirklichkeit,

s. 30.

5 2 Vgl. E. Cassirer, Logos, Dike, Kosmos, 1 7 ff. ; EoM, S. 284 f. ; sowie F. Schupp, Mythos und Religion, S. 73 . 5J Vgl. J. Pouillon, Die mythische Funktion, S. 72 .

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[ . . . ] Seine Naturansicht und seine Stellung zur Natur sind weder rein theo­ retisch noch rein praktisch, sondern einfühlend . «54 Strikt bleibt die mythische Erzählung von der wissenschaftlichen Erklä­ rung unterschieden. Wissenschaftliche Aussagen können widerlegt werden und repräsentieren, sind sie denn widerlegt, nichts als Irrtümer. Ein Mythos hingegen wird nicht widerlegt - er wird angenommen oder abgelehnt. Aber selbst als abgelehnter bleibt er das, was er ist: eine Geschichte mit ihren Themen, die darin verwoben sind und zugleich die Erzählung weben, um sie zu rechtfertigen, indem sie sich wechselseitig rechtfertigen. Geschichten brauchen nicht nur, sie können auch nicht ans Letzte vorstoßen. »Sie stehen nur unter der einen Anforderung: sie dürfen nicht ausgehen. «55 Jene Momente der Sprache, die einerseits zur Hypostatsierung, d . h . Sub­ stantialisierung der Ideen führen, sie dadurch aber andererseits erst zu einem tauglichen Instrument des Ausdrucks machen, sind es, die den Gebrauch der Sprachbegriffe in den exakten Wissenschaften so verdächtig macht: Der >Feh­ ler< liegt in der Subreption der Funktionen als Gegenstände . 56 Für Cassirer ist daher der Mythos völlig zu Recht immer beides, - sowohl als Inbegriff bild­ hafter Verstelltheit des nicht länger mehr anschaulichen Sinnes von Wirk­ lichkeit ein Mittel der Konfrontation, als auch eine notwendige Funktion anthropomorpher Weltaneignung durch imaginative Ausschweifungen. So bleibt schließlich als letzte der mythischen Indifferenzen die von Terror und Poesie zu nennen übrig: Weil das mythischen Bewußtsein sich nicht dadurch verstehen, durchschauen und kritisieren läßt, indem der >Gegenstand< aufge­ wiesen wird, an dem ursprünglich seine bildnerische Kraft sich entzündet, läßt sich von ihm sagen, daß ihm jede Tendenz »Zur ständigen Selbstreini­ gung, zum Bußritual der Abweichungen, zum Abstoßen des Unzugehörigen als dem Triumph der Reinheit, zur Judikatur der Geister« fremd sein muß . »Der Mythos hat keine Außenseiter, die die dogmatische Einstellung benö­ tigt, um sich unter Definitionsdruck zu halten. «57 Worauf es ankommt ist, die für das mythische Denken konstitutive Maß­ losigkeit zu erkennen und den Mythos als das zu nehmen, was er ist: ein Werkzeug, das auf höchst provisorische Weise dazu dient, eine Wirklichkeit zu denken, die durch die Vielzahl der Mythen selbst mehrdeutig wird und somit viel weniger Sinn hat, als viele es sich wünschen würden. Das mythi­ sche Bewußtsein lebt mit den Dingen nur, weil und sofern es in seinen Gestalten lebt; es erschließt die Wirklichkeit sich selbst und sich der Wirk54 EoM, S. 1 06; vgl. J.M. Krois, Der Begriff des Mythos bei Ernst 55 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 143; vgl. C. Levi-Strauss,

Cassirer, S. 206 f. Strukturale Anthropolo­

gie II, S. 287 ff. 56 Vgl. E. Cassirer, Die Geschichte der antiken Philosophie, S. 61 f. 57 H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 264; vgl. ders . , Wirklichkeitsgriff und Wirklich­ keitspotential des Mythos , 13 f. ; J. -P. Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, S. 1 8 8 ; sowie PsF II, S. 3, 20; und EoM, S. 102.

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lichkeit nur, indem es beides in sich nicht nur berühren, sondern miteinander durchdringen läßt. Das Sein kann daher den scharf bestimmten Sinn des Problems hier ebensowenig haben, wie das Denken den Sinn und Wert des Prinzips: Noch geht es lediglich neben dem Sein einher und beschränkt sich darauf, >über< es zu reflektieren. 58

58

Vgl. PsF I, S. 4 .

AC HTES KAPITE L

- PROFAN : Die religiöse Ur-Teilung HEILIG

Der Mythos als ein Geschehen, das seine Dimensionen bildet, indem und innerhalb derer es geschieht, beläßt der philosophischen Reflexion auf es nur die Flucht in Chiasmen wie: »Die Dimension des Mythos ist der Mythos als Dimension«1 - oder aber in Metaphern, die, wie im Falle Cassirers, dem Bildvorrat des mythischen Bewußtseins selbst entstammen .2 Hierin doku­ mentiert sich die Begriffsnot, in die sich verstrickt, wer zu Gunsten einer Phänomenologie des mythischen Bewußtseins auf eine Logik des Ursprungs im Sinne Cohens verzichtet, so daß diese Phänomenologie geradezu zwangs­ läufig als ein »Element der Dekonstruktion klassischer philosophischer Fun­ dierungsansprüche«3 erscheinen muß : Der Sinn dessen, was sich dem Denken als reines Ausdrucksphänomen gibt, soll sich gerade nicht über den Umweg einer einzelnen Geltungssphäre beglaubigen lassen, sondern liegt, »als eine wahrhaft allgemeine und gewissermaßen weltumspannende Funk­ tion, der Differenzierung in die verschiedenen Sinngebiete, dem Auseinan­ dertreten von Mythos und Theorie, von logischer Betrachtung und ästhe­ tischer Anschauung [voraus] . Ihre Sicherheit und ihre >Wahrheit< ist sozusagen eine noch vor-mythische, vor-logische und vor-ästhetische . «4 Doch wenn auf den ersten Blick damit lediglich die von neueren Forschun­ gen5 in Zweifel gezogene Grundthese bekräftigt zu sein scheint, daß jede Grundform geistiger Kultur ein mythisch-magisches Vorstadium durchlau­ fen haben muß, bevor sie mit ihrer klar abgegrenzten Gestalt auch ihr selbständiges Sein erhält, so zeigt sich bei näherer Betrachtung, wie wenig das, was als bloße Wiederholung gedacht war, die Einführung einer vor­ mythischen Sphäre zu rechtfertigen vermag. Das Urphänomen >Mythos< t

K . Kerenyi, Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos, S . 242 . Zur Charakterisierung des mythischen Denkens als ein »Denken ohne Worte« (PsF III, S . 386) sind dies Formulierungen wie »Wallen und Wogen« (a. a. 0., S . 125); ,.flutende Bewe­ gung des Innern« (a. a. 0 . , S. 126); »seltsam schwebend verschwebendes Licht«, »schwebender Traum der Bilder« (a. a. 0 . , S. 391 f./PsF I, S. 96), von dem zu erwachen das erste Merkmal philosophischer Besinnung ist (PsF Ill, S. 134); »Heraklitischer Fluß des Werdens« (a. a. 0 . , S . 134); »Strömende Bewegtheit« (a. a. 0 . , S . 165); die ,.fließend immer gleiche Reihe« (a. a. 0 . , S . 499); »schillernde Unbeständigkeit« (EoM, S. 98); vgl. E . Cassirer, Sprache und Mythos, S. 142 f. Zur Bedeutung der Wasser-Symbolik vgl. M. Eliade, Das Heilige und das Profane, s. 1 14. 3 H . Holzhey, Cassirers Kritik des mythischen Bewußtseins, S . 202 . • PsF III, S. 95. 5 Vgl . z. B . M. Eliade, Die Religionen und das Heilige, 47f. 2

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mag auf die Spontaneität des Bildens zurückweisen - zugleich aber prägt es allem Ausdruckshaften den Charakter eines Mysteriums auf, in dessen Tiefen das >Senkblei der Vernunft< nicht herabzureichen vermag. Dem unergründlich Tiefen soll nicht dieses oder jenes Gestalthafte, son­ dern das allgemeinste Konkrete, die konkrete Mannigfaltigkeit der sinn­ lichen Anschauung entsteigen, in dem bzw. in der das Dingmoment und das Bedeutungsmoment »in eine unmittelbare Einheit zusammengewachsen, >konkresziert< sind. «6 Nach einem Prinzip für dieses Zusammenwachsen kann und darf nicht gefragt werden. Das Konkreszieren entzieht sich aller Beobachtung. Es läßt sich Cassirer zufolge jedoch begreiflich machen, »wenn man das Ziel ins Auge faßt, dem alle gegenständliche Vorstellung zustrebt und auf das sie gerichtet ist. Dieses Ziel ist kein anderes als das der geistigen Einheitsbildung. « 7 Was in diesem Zusammenhang als Prinzip auf­ tritt, ist als halbmythischer >AnfangMythos< des Mythos . »Denn das macht allgemein die Weise des My­ thos aus, daß er alles, worauf er sich richtet, in die Form des zeitlichen Werdens, des Früher oder Später umgießen muß . Jedes logische Verhältnis des Grundes oder jedes teleologische Gestaltungsverhältnis wird sofort my­ thisch, sobald wir, statt nach seinem reinen Bestand, nach seiner Entstehung fragen. « 8 I m Mythos des reinen Ausdrucks ist indessen das Moment seiner Überwin­ dung vorgedacht. Der Sache nach hätte es der späteren Distanzierung Cassi­ rers von der These Frazers, »daß die Menschheitsgeschichte in einem Zeitalter der Magie begonnen habe, auf das ein Zeitalter der Religion folgte und es ablöste«9, durchaus nicht bedurft. Denn auch im unmittelbaren Zu­ sammenhang der Arbeiten zur Philosophie der symbolischen Formen und in dieser selbst soll durch ihre Adaption lediglich verdeutlicht werden, daß der Differenzierungsprozeß der an sich eindimensionalen mythischen Wirklich­ keit in eine Kultur zu nennende Pluralität gleichberechtigter symbolischer Formen und Formprinzipien nur in Gang kommt, weil er aufhebt, was an sich selbst bestand- und belanglos ist: »Eine Determination, die ausschließ­ lich in der Sphäre des Gefühls verbliebe, vermöchte für sich allein keine neue objektive Bestimmung zu schaffen. Denn irgendwelche gefühlsmäßige Asso­ ziationen können schließlich zwischen allen, auch den heterogensten Inhal­ ten des Bewußtseins bestehen, so daß sich von hier aus kein Weg zu jener Art 6

PsF II, S. 32. E. Cassirer, Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, S. 130. E . Cassirer, Die Philosophie der Griechen, S. 1 32 f. ; die Frage, »ob nicht Cassirers psycho­ logische Deutung des Mythos und der Magie eine Art Mythos ist«, stellt zuerst D. Bidney (Ernst Cassirers Stellung in der Geschichte der philosophischen Anthropologie, S. 372), ohne jedoch zu einer schlüssigen Antwort zu kommen. 9 EoM, S. 133; vgl. a. a. 0 . , S. 1 2 1 . 7 s

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der >Homogenität< finden läßt, die im logischen und sprachlichen Begriff hergestellt oder zum mindesten gefordert wird. Das Gefühl kann noch alles mit allem verbinden; es enthält daher keine ausreichende Erklärung dafür, daß bestimmte Inhalte sich zu bestimmten Inhalten verknüpfen. « 10 Gleichwohl macht der Mythos vom reinen Ausdruck guten Sinn, unterlegt man ihm anthropologische Intentionen. Die Aufhebung des Nichtigen als erste Station des Prozesses der Befreiung vom mythischen Ergriffenwerden und Ergriffensein meint dann das Heraustreten des Gattungswesen >Mensch< aus der Regelhaftigkeit einer Umweltdetermination, dem ein Versagen der Indikatoren und Determinanten für sein Verhalten parallel läuft: »Das Leben tritt aus der Sphäre des bloß naturgegebenen Daseins heraus : es bleibt eben­ sowenig ein Stück dieses Daseins, wie ein bloß biologischer Prozeß, sondern es wandelt sich und vollendet sich zur Form des >GeistesErklärung< jedoch steht er auf der Seite der Kultur. Die »erste traumhafte Dämmerung des Menschen«13 ist Cassirers Hilfskon­ struktion, um einen Übergang zu denken, der sich jeglicher Bestimmung entzieht. So ergibt sich folgende Ausgangslage: Offenbar weiß, zumindest aber ahnt das mythische Bewußtsein, daß es gegen den Schwund strikter Bedeutungen Bedeutsamkeiten setzen muß . Rein aus sich heraus, als frei dahinströmendes Leben, kann das Leben keine Form erzeugen, kann es sich 10

PsF I, S. 268. PsF I, S. 5 1 ; E. Cassirer, Form und Technik, S. 74; vgl. ders . , Sprache und Mythos, S. 88; Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, S. 127; PsF 111, S. 397 f. ; MS, S . 24, 228 . 1 2 C . Levi-Strauss, Mythologica IV, S. 798 ; dort auch das entsprechende BelegmateriaL 1 3 E. Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, s. 1 2 . 11

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weder objektivieren, noch im Medium seiner Objektivationen anschauen und reflektieren. »Es muß sich zusammenfassen und sich gewissermaßen in einem bestimmten Punkt zusammennehmen, um der Form teilhaftig zu wer­ den. «14 Das Chaos unmittelbarer Eindrücke erhellt und gliedert sich durch Benen­ nung. Es erhält dadurch, daß eine neue Artikulationsform gefunden wird, einen völlig neuartigen Bestand . Die Sprache wird »ZU einem der geistigen Grundmittel, vermöge dessen sich für uns der Fortschritt von der bloßen Empfindungswelt zur Welt der Anschauung und Vorstellung vollzieht. «15 Sie erlaubt nicht nur die Unterscheidung und Sonderung der unmittelbaren Ein­ drücke, sondern auch und vor allem eine Fixierung gewisser Inhaltsmomente an ihnen . »Indem der bloß tierische Schrecken zum Staunen wird, [ . . . ] in­ dem auf diese Weise die sinnliche Erregung zum ersten Mal einen Ausweg und Ausdruck sucht, steht der Mensch an der Schwelle einer neuen Geistig­ keit. Diese seine Geistigkeit ist es, die sich ihm nun im Gedanken des >Heiligen< gewissermaßen reflektiert darstellt. Denn das Heilige erscheint immer zugleich als das Ferne und Nahe, als das Vertraute und Schützende, wie als das schlechthin Unzugängliche, als das >mysterium tremendum> und das >mysterium fascinosumGefühl< vorbegrifflicher und überbegrifflicher, gleichwohl erkennender Objektbezogenheit. « 1 7 Im Gegensatz zu kritischem Denken, das die Diskursivität seiner Urteile an der Dichotomie von Wahrheit und Irrtum, Sein und Schein gewinnt, teilt das religiöse Bewußtsein alles nach dem affektiven Gegensatz heilig/profan ein. Bevor das Bewußtsein >Tat­ sachen< erkennen und begrifflich fixieren kann, erfährt er affektiv die Dinge als Werte : »Die Eigenschaften der Dinge, von denen der Mythos spricht, [sind] keine objektiven, sondern physiognomische Charakteristika. [ . . . ] Hier können wir nicht von den Dingen als etwas Totem und Gleichgültigem sprechen. Alle Dinge sind dem Menschen entweder wohlgesinnt oder ihm feindlich, vertraut oder unheimlich, verlockend und bezaubernd, abstoßend und drohend . « 1 8 Anders als seine auf den Logozentrismus der Marburger Schule abheben­ den Kritiker behaupten, ist sich Cassirer der Bedeutung des affektiven 14

E. Cassirer, Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, S. 22; vgl . ders . , »Geist« und »Leben« in der Philososophie der Gegenwart, S . 254 ff. 1 5 PsF I, S. 20; vgl. a. a. 0 . , S. 43. 16 PsF li, S. 99 . 1 7 R. Otto, Das Heilige, S. 1 3 , 14. 1 s EoM, S. 99; vgl . MS, S. 66 ff.

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Lebens durchaus bewußt. Schließlich soll es ihm nicht nur einen Zugang zur Welt des Mythos bedeuten, sondern zugleich der Grund dafür sein, daß der Mythos auch im Zeitalter der exakten Wissenschaften fortbestehen kann . 1 9 Die geradezu unglaubliche intellektuelle Distanz, mit der Cassirer die My­ then des Nationalsozialismus und deren, weder sein noch das Leben seiner Familie verschonenden verheerenden Folgen analysiert, dokumentiert über­ deutlich, wie sehr er sich jedoch der Zumutung verweigert, vor jenem »Durcheinander gewalttätigster Emotionen« {tummoil of the most violent emotionsj2° zurückzutreten, um jenem Irrationalismus zu huldigen, der den intuitiven, sich aller sprachlichen Artikulation entziehenden Charakter mo­ ralischer und ästhetischer Gefühle proklamiert und schließlich behauptet, daß sie das Bewußtsein von allem Wissen unabhängig und gegen alles Wissen zu erleuchten vermögen . An kaum einer anderen Stelle wird deutlicher, wie wenig der Mythos ein Qualitätszeugnis, geschweige denn eine Garantie für irgendeine bestimmte Moral sein kann. Für Denker wie Cassirer, für die Kultur nicht Entfremdung des Lebens von seiner Ursprünglichkeit, sondern die ihm eigentümliche Erfüllung meint, reduziert sich der Sinn des Mythi­ schen gegenüber der oft nur notdürftig verschleierten Hoffnung, hinter ihm möge sich ein verborgener Sinn offenbaren, der alle möglichen konfusen und nostalgischen Sehnsüchte zu entschuldigen, wenn nicht gar zu rechtfertigen vermag, darauf, Modelle zu präsentieren, die der Welt und dem mensch­ lichen Dasein in ihr überhaupt erst eine bestimmte Bedeutung verleihen. Ihm bedeutet der Mythos nichts als ein geistiges System, in welchem das Leben und Schicksal des Menschen für ihn anschaulich zur Geltung kommt. ;; In der Entwicklung des mythisch-magischen zum mythisch-religiösen Be­ wußtsein entsteht nicht nur eine Weltanschauung, sondern zugleich immer auch eine pragmatische Ontologie : Mit Beziehung auf die in der Religion offenbarten >Wahrheiten< versucht sich der Mensch in die Realität einzufügen und so vor dem Rückfall in das gestaltlose Chaos zu retten. Denn eine reli­ giöse Grundeinstellung zu haben meint mehr, als mehr oder minder anhal­ tend von einer ungewöhnlichen Erscheinung überwältigt zu sein . Sie bindet sich vielmehr an eine kontinuierliche, wenngleich als fremd erfahrene Ener­ gie, die dem Menschen das Bewußtsein seiner Kraft vermittelt und sich durch die Dinge hindurch fortpflanzt. Hier werden die Grundzüge eines Erfah­ rungssystems sichtbar, die ihre von Cassirer analysierten Prototypen in dem melanesischen mana und dem wakan und orenda der nordamerikanischen Indianervölker hat.21 Das entscheidende Argument für die sich hier abzeichnende Erweiterung der Erkenntniskritik zur Kulturanthropologie bezieht Cassirer aus seiner 19

20 21

Vgl. EoM, S. 99 f. E. Cassirer, Judaism and the Modern Political Myths, S. 238. Vgl . u. a. PsF II, S. 75 f. , 96 ff. , 1 89, 22 1 , 266 .

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Sprachtheorie; hier läßt er der Stufe mythisch-magischer Indifferenzen eine Sprache ohne Begriffe entsprechen, in der das mythische Denken zwar Mit­ tel- und Brennpunkte seines Interesses fixiert, diese Zentren aber unverbun­ den für sich stehen läßt, so daß sie kein einheitliches und homogenes Ganzes bilden. 22 Wie schon das mythisch-magische Weltbewußtsein ist auch die ihm entsprechende Sprachstufe des mimischen Ausdrucks in erster Linie nicht ihrem prinzipiellen Bestand nach, sondern wesentlich danach bestimmt, was ihr fehlt. Wiederum avanciert die allgemeine >Fluidität< zum entscheidenden Merkmal: »Die früheren Phasen der sprachlichen Entwicklung sind gegen­ über den späteren dadurch charakterisiert, daß in ihnen nicht nur kein Mangel, sondern eine Überfülle differenzierender Ausdrücke besteht, daß aber nichtsdestoweniger die Differenzen nicht als solche bewußt und als sol­ che bezeichnet sind, weil es an dem allgemeinen Begriff und somit an dem allgemeinen Prinzip mangelt, aus dem sie als Besonderungen einer übergrei­ fenden Einheit bestimmt werden könnten. Erst indem die logische Kraft der Analyse erstarkt, und indem sie die Bildung der Sprache mehr und mehr durchdringt, wird dieses Prinzip gefunden und gefestigt. «23 Wenn aber die Sprache als konkrete Lebensform verstanden werden und zugleich die erste gemeinsame Welt sein soll, in der das Anschauen Klarheit und Bestimmtheit erlangt24, so muß auch sie den Forderungen nach Kon­ stanz und Eindeutigkeit, wie sie sonst nur dem Begriff gegenüber erhoben werden, unterstellt gedacht werden; zwischen >Zeichen< und >Bedeutung< muß eine eindeutige Zuordnung zumindest angestrebt werden, die sich ge­ genüber der Gesamtheit der Denkinhalte und Denksetzungen durchgängig bewährt und in ihrer Geltung an sie gebunden bleibt. Die besonderen Denk­ inhalte treten so in eine feste Ordnung; der Inbegriff der Zeichen spezifiziert und gliedert sich sukzessiv. »Wie ein Denkinhalt durch einen anderen be­ dingt erscheint, wie er in ihm >sich gründetExaktheit< genügt, wo er einer >Definition< fähig ist, die ihn nach allen Seiten hin umgrenzt und be­ stimmt. «25 Dieses Verfahren einer doppelten Grenzbetrachtung, durch das vom Standpunkt der mathematisch-exakten Wissenschaften via negationis die ur­ sprüngliche Schicht mythischen Denkens bestimmt wird, weist erneut auf den Zusammenhalt von Mythos und Sprache hin, der sich schließlich so eng Vgl. PsF 111, S. 304, 392; zum >Platonischen< Hintergrund dieser Auffassung vgl. E. Hoff­ mann, Die Sprache und die archaische Logik, S. 25. 2 3 E . Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, s. 198. 24 Vgl. PsF III, S . 60; sowie LK, S . 1 5 . 2 s PsF III, S. 393 f. 22

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gestaltet, daß Cassirer den lebendigen Redefluß zum gleichsam objektiven Vorbild für die Fluidität des mythischen Bewußtseins erklärt26: Immer ist es die »Rede, die den Übergang vom gestaltlosen Urgrund zur Form des Seins, zu seiner inneren Gliederung vollzieht. «27 Weil Cassirer aber in aller Regel die Rede, offenbar um ihr gestalterisches Potential um so nachdrücklicher unterstreichen zu können, letzten Endes einseitig aus der Sicht des Sprechers faßt und dem in Anschluß an Humboldts Abhandlung über den Dualis ent­ wickelten Sprachmodell als einem auf der Reziprozität von Sprecherperspek­ tiven fußendes und von daher auf ein gewisses Maß an Bestimmtheit der kommunizierten Inhalte angewiesenes Interaktionsgeschehen zumindest skeptisch, wenn nicht gar ablehnend gegenübersteht28, muß er das Faktum einer allgemeinen Sprachentwicklung voraussetzen und darauf verzichten, es in seinen transzendentalen Bedingungen offenzulegen . Cassirer beläßt es bei vagen Vermutungen, die in den Hinweis zurückgenommen werden, daß hier »eine schlechthin einfache apriorische Entscheidung nicht möglich sein wird . «29 Gewiß entspricht diese Vorsicht der kritischen Einsicht, daß Philosophie nur um den Preis eines mehr oder weniger weitreichenden Wirklichkeitsver­ lustes den Ergebnissen künftiger Forschung in den Wissenschaftsdisziplinen vorzugreifen vermag. Dennoch muß gefragt werden, ob Cassirers vornehme Zurückhaltung nicht auch Folge der theoretisch nicht zu rechtfertigenden Absicht ist, die Ausdrucksfunktion unabhängig von der Darstellungsfunk­ tion und diese wiederum von der reinen Bedeutungsfunktion abgetrennt untersuchen zu wollen . Dabei heißt es doch in der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen, daß bereits der Mythos als eine »freie Bildwelt«, d. h. als eine Welt anzusehen ist, die zwar ihrer unmit­ telbaren Beschaffenheit nach »noch ganz die Farbe des Sinnlichen an sich trägt, die aber eine bereits geformte und somit eine geistig beherrschte Sinn26 Vgl. PsF III, S. 393 »Die Sprache gleitet nicht in einem zuvor bestimmten Strombett ruhig dahin, sondern sie muß sich in jedem Punkte ihr Ben immer wieder neu graben - sie ist das lebendige Strömen selbst, das immer neue geistige Gestalten aus sich heraustreibt. « 2 7 E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 1 43 . 28 Vgl. PsF I, S . 207, 258 ff. ; wo dieser Ansatz »spekulativ« genannt und als »endgültig ge­ scheitert« dargestellt wird . Allerdings fällt Cassirers Urteil auch schon mal anders aus . Zu nennen wären folgende Stellen: PsF 111, S. 1 76 f. , wo das durch Sprache ermöglichte Verhältnis von Ich und Du zwar eine »neue Phase der Weltbetrachtung« genannt, sogleich aber wieder in das Verhältnis von Ich und Welt aufgehoben wird; sowie EoM, S. 266, wo die teleologische Funktion der Namen als Vorstufe der Darstellungsfunktion gedeutet wird . Für das Gesamtwerk ebenso einzigartig wie folgenlos heißt es hingegen in der Abhandlung über Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, S. 142: »Das Werk der Sprache entsteht erst in dieser gleichmäßi­ gen Mitwirkung aller - und es wird damit zum stärksten Band zwischen denen, die es gemeinsam erschaffen und die es sich miteinander und füreinander erarbeiten. [ . . . ] Denn die Frage, die eine Antwort verlangt und erwartet, ist vielleicht die feinste Form des >sozialen< Zusammenhangs, als eines nicht bloß praktischen, sondern als eines geistig-seelischen Zusammenhangs. « In diesem Zusammenhang vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein I, S. 368. 29 PsF I, S . 237.

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lichkeit darstellt. «3 0 Die Möglichkeit einer geistigen Beherrschung der Sinn­ lichkeit aber ist als erster notwendiger Schritt für die Gewinnung objektiver Erkenntnis an die Ausbildung des sprachlichen Zeichens gebunden. Mit ihm tritt das Leben aus der Sphäre von Aktion und Reaktion heraus und geht in die »Form der Darstellung, und damit in die primäre Form des Wissens«31 über. Das Zeichen bildet für das Bewußtsein »das erste Stadium und den ersten Beleg der Objektivität, weil durch dasselbe zuerst dem stetigen Wan­ del der Bewußtseinsinhalte Halt geboten, weil in ihm ein Bleibendes be­ stimmt und herausgehoben wird . «32 So wird man unter Berufung auf die Argumente der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen allen anders lautenden Verlautbarungen Cassirers zum Trotz von einem ursprünglich synthetischen In- und Miteinander dieser drei Grund­ funktionen reden müssen. Zugleich aber ist damit die Vorstellung eines genetischen Entwicklungszusammenhangs zwischen diesen drei Grundfor­ men symbolischer Formung ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund versteht sich die These, daß selbst die einfachste mythische Gestalt das Produkt einer »mythisch-religiösen Urprädikation«33 ist, durch die ein bestimmter Eindruck der Sphäre des Profanen entrückt und in den Kreis des Heiligen, an und für sich Bedeutsamen gestellt wird . Ein Gegenstand ist sakral immer nur dann, wenn er etwas anderes als sich selbst verkörpert. Das heißt, »daß eine Hierophanie eine Erwählung voraussetzt, eine klare Abscheidung des hierophanen Objekts in bezug auf den es umge­ benden Rest. Dieser Rest ist immer vorhanden, auch wenn ein unermeßlicher Bereich hierophan geworden ist: zum Beispiel der Himmel, das Ganze der heimatlichen Landschaft, oder >das VaterlandDimension< annimmt: die des Sakra­ len. «34 Tatsächlich läßt sich selbst an den - aus Sicht der Erkenntnis - noch so >primitiven< Äußerungen des Mythos belegen, daß sie nicht einer bloßen Spiegelung des Seins, sondern einer eigentümlichen Bearbeitung und Dar­ stellung dessen ihr Dasein verdanken, was sich ihm scheinbar unmittelbar gibt. Die von Cassirer behauptete anfängliche Spannung zwischen Innen und Außen, Psyche und Physis löst sich, indem zwischen beide >Welten< ein neuer, sich ständig stärker differenzierender mittlerer Bereich tritt . Mit dem Sakralen stellt der Mensch der Sachwelt, die ihn unmittelbar umgibt und beherrscht, eine eigene selbständige Bildwelt entgegen. An ihr müssen sich die Affekte fortan rechtfertigen, von denen sich der Verstand auf der Stufe Jo Jt Jl

PsF I, S. 20. E . Cassirer, Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, S . 128. PsF I, S . 22 [Hervorhebung d. Verf.] . B E . Cassirer, Sprache und Mythos, S . 1 3 0 . J 4 M . Eliade, Die Religionen und das Heilige, S . 37.

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des mythisch-magischen Bewußtseins beherrscht zeigt. Die ausgleichende und ordnende Kraft der religiösen Symbole stellt die Gefühle, Empfindun­ gen und Willensstrebungen in den Dienst des Aufbaus einer sich ihrer Freiheit und Spontaneität zunehmend bewußter werdenden Persönlich­ keit. Daß allerdings die leitenden Prinzipien der Umformung, als deren Resul­ tat die religiösen Symbole anzusehen sind, kritischer Analyse entzogen bleiben, ist für Cassirer kein wirklich ernst zu nehmendes Problem . Er inter­ pretiert diese Umformung als eine echte J.lE'tOffenbarung eines bestimmten, mit sich identischen göttlichen Wesens verVgl. E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 148. E. Cassirer, Die Philosophie der Griechen, S . 18. 37 E . Cassirer, Das Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie, S . 1 2 . 3 8 P s F II, S . 284. 35 36

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standen werden können. Schon auf dieser Grundstufe leistet daher die Spra­ che im Prinzip das Gleiche, was sie in ihrer höchsten logischen Durchbildung leisten wird : sie wird zum Vehikel für die >Rekognition im BegriffEtwas drückt sich ausistÜrten< die ersten bestimmten Relationen des Zwischen und damit räumlicher Ordnung auftre­ ten. 72 Ohne Mitwirkung des Schemas der Zeit wäre diese Umbildung indes­ sen undenkbar. Cassirer neigt zwar dazu, beide Schemata in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis zu setzen . 73 Bei genauer Analyse zeigt sich aller­ dings auch hier, daß er von einer über den für das mythisch-religiöse Bewußtsein grundlegenden Wertgegensatz gebildeten ursprünglichen Korre­ lation ausgeht: »Der erste Schritt, der [ . . . ] vorausgesetzt wird, besteht frei­ lich darin, daß sich die Sonderung, auf der alles mythisch-religiöse Bewußt­ sein überhaupt beruht, daß sich der Gegensatz einer Welt des >Heiligen< gegen die des >Profanen< in seiner Allgemeinheit herausgebildet hat. Aber innerhalb dieser Allgemeinheit, die ihren Ausdruck schon in rein räumlichen Trennungen und Grenzsetzungen findet, kommt es nun zu einer wahrhaften Besonderung, zu einer eigentümlichen Gliederung der mythischen Welt erst dadurch, daß sich mit der Form der Zeit sozusagen die Tiefendimension dieser Welt erschließt. c74 Die mythische Zeit als »erste Urformc75 geistiger Rechtfertigung bloßer Gegebenheit ist immer die heilige Zeit. In ihr nimmt jede Schöpfung und jede Existenz ihren Anfang - selbst die der Götter, insofern sie dem Urgesetz der Zeit, der J.LOipa unterworfen vorgestellt werden. 76 Das mythische Bewußt­ sein kennt den Begriff eines anfangslosen Daseins nicht und braucht sich daher nicht mit den Konsequenzen konfrontiert zu sehen, die aus der Logik des jüdisch-christlichen Gottesbegriffs hervorgehen. Dabei ist von besonde­ rer Bedeutung, daß die mythische Zeit als kosmische Ordnung des Gesche­ hens »kein bloß ideelles Netzwerk für die Ordnung des >Früher< und >Später< [ist] : sondern sie selbst ist es, die das Netz spinnt. «77 Denn damit treten die Gründe ans Licht, warum Schöpfungen üblicherweise am Anbeginn der Zeit liegend vorgestellt werden. »Die Zeit entspringt mit der ersten Erscheinung einer neuen Kategorie von Existierendem. «78 Tatsächlich traut das mythische Denken dem Anfang die Evidenz des Unerfindlichen zu; man mag ihm dies als »metaphysische Leichtfertigkeitc79 vorwerfen, doch wird dabei verkannt, daß gerade hierin die Funktion des Mythos, erzählend die Unzulänglichkeit des Beliebigen und den Entzug von Willkür als eine das Leben festigende Qualität zu produzieren, ihre Wurzeln hat. Erst indem die Erzählung >Exi72

Vgl. PsF III, S. 1 77 f. Vgl. PsF II, S. 132. 7 4 PsF II, S . 1 29 f. 75 PsF II, S. 130. 76 Vgl. PsF II, S . 142 f. n Vgl. PsF III, S. 1 9 1 . 78 M . Eliade, Das Heilige und das Profane, S . 69. 79 Vgl. H . Blumenberg, Arbeit am Mythos, S . 1 78 . n

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stenz< an >Schöpfung< bindet und infolgedessen die Welt nicht als bloßes Sein, sondern als Geschehen erscheinen läßt, gelingt es, über die Besonderheit des Werdens, Tuns und Leidens bestimmte Einzelgestalten von selbständiger und individueller Prägung zu unterscheiden . Die Gegenstände der Natur treten auseinander und sondern sich gegenein­ ander ab, weil jeder als Ausdruck einer eigenen göttlichen Kraft gefaßt wird . Doch indem sich hierbei die Reihe der auf diese Weise entstehenden Einzel­ götter der unbestimmten Erweiterung fähig erweist, wird dem mythischen Bewußtsein das Problem der Einheit des Heiligen mit jedem neuen Gott drückender. Tatsächlich ist hier nur ein Ausweg denkbar: »Alle Vielfältig­ keit, alle Besonderung und Zersplitterung des göttlichen Wirkens hört auf, sobald das mythische Bewußtsein dieses Wirken nicht mehr von der Seite der Objekte, auf die es sich erstreckt, sondern von der Seite des Ursprungs her betrachtet. Die Mannigfaltigkeit des bloßen Wirkens wird jetzt zur Einheit des Schaffens , in der immer bestimmter die Einheit seines schöpferischen Prinzips sichtbar wird . «8 o Die durch das Stellen der Ursprungsfrage eingeleitete und durch die An­ bindung der >Existenz< an >Schöpfung< fortgeführte Peripetie des mythischen Bewußtseins bedeutet gleichwohl keineswegs zwingend den Grund irgend­ einer bestimmten Theologie, noch die Wurzeln einer auf ihr aufbauenden Metaphysik. Für den Mythos ist das >Höchste< in aller Regel nicht als Spitze einer Pyramide, sondern als der Mittelpunkt eines genealogischen Geflechts vorstellbar. Dadurch ist es ihm möglich, diesen Mittelpunkt selbst noch als Teil einer ihn übergreifenden Geschichte aufzufassen : »Höchstes ist, was sich in einer solchen Geschichte zu behaupten vermag. Göttlich ist schon die dem Menschen überlegene Macht, aber sie muß nicht alles , sondern >über alles etwas< vermögen . «81 Wenn aber die Anschauung des Zeitlichen im Mythos Voraussetzung für die Ausbildung einer Vorstellung des Göttlichen ist, so scheint es vor allem konsequent, ihr gegenüber der mythischen Rauman­ schauung, der Orientierung am Göttlichen, den Primat zuzuerkennen . Daß dies von Cassirer getan wird, läßt sich nicht bestreiten. 82 Zu kurz kommt dabei jedoch die Einsicht, daß es sich mit >Schöpfung< und >Existenz< um Begriffe handelt, die ohne aufeinander zu verweisen, sinnleer sind. Schließ­ lich ist die Praxis des Theologen selbst der stärkste >Beweis< dafür, daß sich die Frage, welche der beiden Anschauungsformen der jeweils anderen gegen­ über primär ist, einem Scheinproblem verdankt: Denn der Theologe versucht letztlich nichts anderes als das , was in jeder Hierophanie impliziert ist, in entwickeltere, d. h. begriffliche Formen zu übersetzten; - daß sich das Hei­ lige in einem beliebigen Gegenstand der profanen Sphäre manifestiert . Das 8 ° PsF II, S. 259 f. ; vgl. E. Cassirer, Die Philosophie der Griechen, S. 133 f. 8 t H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirklichkeitspotential des Mythos, 82 Vgl. PsF II, S. 129.

S. 43 .

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dabei sich für ihn stellende Problem ist nicht, daß das Heilige sich in jeder, und sei es in der abwegigsten Form manifestieren kann, sondern die Tatsache, daß es sich überhaupt manifestiert, damit jedoch limitiert und relativiert. Derartige Manifestation mag letztlich Resultat einer Projektion des mensch­ lichen Tuns nach außen und als solche Quellgrund jener Göttergestalten sein, die nicht länger als Naturmächte, sondern als Kulturheroen erscheinen . 83 Der Umstand, daß die Hierophanien als etwas Paradoxes und somit Explika­ tionsbedürftiges empfunden werden, ermöglicht Cassirer, die These zu ver­ treten, daß das »eigentliche >Selbst< des Menschen [ . . . ] sich erst auf dem Umweg über das göttliche Ich findet84 [ . . . ]: die wachsende Selbständigkeit der Götter ist die Bedingung dafür, daß der Mensch in sich selber, gegenüber der auseinanderfließenden Mannigfaltigkeit der einzelnen sinnlichen Triebe, einen festen Mittelpunkt, eine Einheit des Wollens entdeckt. «85 Indem der Mensch sein Handeln an transzendenten Instanzen, nämlich Göttern orientiert, die durch magische Praktiken zunehmend weniger mani­ pulierbar sind und nur noch durch Opfer und Gebete wohlgesonnen ge­ stimmt werden können, setzt er sich Schranken, die er weder überspringen will, noch überspringen kann. Der für das mythisch-magische Bewußtsein typische Zwang, alle Erzeugnisse der Subjektivität als Substantialität zu deu­ ten und die mit diesem Zwang einhergehende Fesselung seines Gestaltungs­ potentials , ist auch hier zu verzeichnen; - doch wird er anders bewertet: Denn wenn jede wahrhafte Freiheit des Wirkens eine innere Bindung im Sinne einer freien Anerkennung bestimmter objektiver Grenzen des Wirkens voraussetzt, so hat sich Cassirer zufolge auf dieser Stufe die Dämonenfurcht zum Götterglauben und zur Götterverehrung erhoben . Erst damit sind die Bedingungen geschaffen, daß die anfänglich nach außen gerichtete Projek­ tion nun auch nach innen wirken kann : »Mit der allmählichen Loslösung von der Besonderheit des Werkes verschwindet daher nicht, sondern mit ihr er­ höht und steigert sich das Gefühl der Bestimmtheit der Persönlichkeit. Das Ich weiß und erfaßt sich jetzt - nicht als ein bloßes Abstraktum, als ein unpersönlich-Allgemeines, das über und hinter all den besonderen Tätigkei­ ten stünde, sondern als konkrete, mit sich identische Einheit, die alle verschiedenen Richtungen des Tuns miteinander verknüpft und zusammen­ hält. «86 Dabei ist allerdings die Grundthese, der Mensch finde sein Selbst über den Umweg des göttlichen Ich, weitgehend unberücksichtigt geblieben. Mit ih­ rer Eingliederung in den hier verhandelten Problemkomplex treten die Gründe, die Cassirer dazu verleiten, der Zeit dem Raum gegenüber den

83 84 85 86

Vgl. PsF II, S. 244 . PsF II, S. 245; vgl. a. a. 0. S. 253, sowie E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 144. PsF II, S . 266. PsF II, S . 246 .

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Vorrang einzuräumen, deutlich hervor: Denn wenn die Einheit des Heiligen nicht länger von der Seite des Objekts aus erfaßt und ausgesprochen werden kann, sondern in das Subjekt zurückgewendet werden muß, so daß der Sinn des Göttlichen statt im Sein der Dinge im Sein und in den Funktionen des Ich zu suchen ist, so hebt sich aus der schier unbegrenzbaren Menge polytheisti­ scher Einzelgötter die Gestalt eines höchsten Schöpfergottes heraus, der dem der jüdisch-christlichen Tradition in allen wesentlichen Punkten entspricht: »In ihm erscheint alle Mannigfaltigkeit des Tuns gleichsam in eine einzige Spitze zusammengefaßt: statt in der Anschauung einer Gesamtheit unbe­ stimmbar vieler schaffender Einzelkräfte steht das mythisch-religiöse Be­ wußtsein jetzt in der Anschauung des reinen Akts selbst, der wie er selbst als einer gefaßt wird, so auch immer nachdrücklicher zu der Auffassung eines einheitlichen Subjekts des Schaffens hindrängt. «87 Die Spezifizierung des Schaffens weist der Gottheit Attribute zu, die sie auf ein bestimmtes Wesen festlegen. Sie wird vertrauenswürdig ausschließ­ lich unter ihren Bedingungen. So wird der Gott dem Gesetz, das er repräsen­ tiert, ähnlicher, denn es schränkt nicht nur seine eigene Macht immer mehr ein, sondern führt darüber hinaus dazu, daß sich seine Identität zuletzt über seine Treue zu denen bestimmt, die sich mit ihm identifizieren. Andere Göt­ ter, in polytheistischen Systemen notwendig, um die Allmacht des Einen einzuschränken, werden so schrittweise entbehrlich. 88 Die diesen Verdrän­ gungsprozeß vorwärtstreibende Form der Ich-Prädikation als die durch ein fortgesetzte >Ich bin . . . < vollzogene Enthüllung der verschiedenen Seiten eines einheitlichen Wesens ist für Cassirer aber erst dort an ihr Ziel gelangt, »WO als der einzige >Name< der Gottheit der Name Ich übrigbleibt. «89 Erst durch diese Umformung der objektiven Existenz in das persönliche Sein wird das Göttliche in die Sphäre des Unbedingten emporgehoben, als deren konstitutives Kriterium die Unmöglichkeit fungiert, sie durch irgendwelche Analogien zu einem Ding oder Dingnamen zu bezeichnen. Entsprechend kann die Uroffenbarung des unvergänglichen Seins des Göttlichen ihr Bild nicht in jenen anschauungsgesättigten Formen der Zeit finden, die dem mythischen Bewußtsein von der Natur im Wandel und in der periodischen Wiederkehr ihrer Erscheinungen angeboten werden. Zwischen der Welt als dem Inbegriff der physisch-materiellen Dinge und der gött­ lichen, im Schöpferwort beschlossenen Kraft können unmittelbare Über­ gänge nicht länger gedacht werden. Die hieraus resultierenden Schwierigkei­ ten werden kompensiert, indem Sprache und Wort als »geistige Momente der Weltschöpfung«90 begriffen werden. Dadurch erhält der Schöpfungsakt eine

8 7 PsF II, S. 247. 88 Vgl. PsF II, S. 135 f. 8 9 E. Cassirer, Sprache 90 PsF II, S . 25 1 .

und Mythos, S. 139.

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ausschließlich spirituelle Bedeutung. Die geistige Kraft, die das Bild im My­ thos besessen hatte, erlischt; alle Bedeutung und Bedeutsamkeit zieht sich in eine rein geistige Sphäre zurück und läßt vom Sein des Bildes nichts als das leere materielle Substrat zurück. 91 Die Konsequenz dieser Entwicklung und zugleich die höchste Form des reinen Monotheismus ist der Gedanke der Schöpfung aus Nichts, durch den das Sein der Dinge aufgehoben und vernichtet wird, »Um zum Sein des reinen Willens und des reinen Tuns zu gelangen.92 [ ] Der göttliche Wille hat sich in der Natur kein Zeichen geschaffen, so daß diese für das rein ethisch­ religiöse Pathos der Propheten indifferent wird. [ . . . ] Und mit der Natur versinkt für das prophetische Bewußtsein nun gleichsam auch das Ganze der kosmischen, der astronomischen Zeit - und an ihrer Stelle erhebt sich eine neue Zeitanschauung, die sich rein auf die Geschichte der Menschheit be­ zieht. Aber auch diese wird nicht als Vergangenheitsgeschichte, sondern als religiöse Zukunftsgeschichte gefaßt. «93 Deutlich dokumentiert sich in den messianischen Glaubensvorstellungen der Wille, der profanen Geschichte, so sie denn nicht unbeachtet gelassen oder gar vernichtet werden kann, ab­ schließend ein Ende zu bereiten. Das Unumstößliche der geschichtlichen Ereignisse und des geschichtlichen Augenblicks soll durch Begrenzung der Geschichte in der Zeit relativiert und endlich aufgehoben werden . Doch indem der Messianismus so eine schleichende, ihrem idealen Ziel nach voll­ ständige Entwertung des Daseins betreibt, hebt er mit der Abhängigkeit seiner Gottesvorstellung von den objektiven Dingen zugleich jedes Prinzip objektiver Gestaltung auf. Wieder dokumentieren sich die Folgen dieser Auflösung der ursprüng­ lichen Korrelation von >Existenz< und >Schöpfung< in dem Verhältnis, das sich die religiöse Spekulation zur Sprache gibt. Zugleich wird deutlich, daß das, was Cassirer die Dialektik des my thischen Bewußtseins bzw. der Reli­ gion nennt, seinen Ursprung in der Sprache hat, deren Medium das »Mittel­ reich zwischen dem >Unbestimmten< und dem >Unendlichenneuen Himmel und eine neue Erde< aufzubauen, immer wieder von neuem der Gewalt, von der er die Menschen befreien will. »Er kann die bestehenden Dogmen nur verwerfen, indem er ihnen eine tiefere Gewißheit vom Göttlichen entgegenstellt . Und um diese Gewißheit auszu­ sprechen, muß er selbst wieder zum Schöpfer neuer religiöser Symbole werden. Sie sind für ihn, solange er noch von der inneren Kraft des Schauens beseelt und erfüllt ist, nichts anderes als Sinnbilder. Aber für diejenigen, an die die Verkündigung ergeht, werden diese Sinnbilder wieder zu Dogmen. Das Wirken jedes großen Religionsstifters lehrt uns, wie er immer wieder unerbittlich in diesen Kreis hineingezogen wird . Was für ihn Leben war, wandelt sich zur Satzung und erstarrt in ihr. «96 War es dem mythischen Bewußtsein nicht möglich, die Reihe der Sonder­ götter zu begrenzen, so ist es andererseits dem religiösen Bewußtsein auf der Stufe eines ausgebildeten Monotheismus verwehrt, die sich unbegrenzt ver­ vielfältigenden Aspekte göttlicher Allmacht in einem einheitlichen Prinzip I zusammenzufassen und als eine bestimmte Gesetzmäßigkeit zu verstehen. Im Gegensatz zum kritisch-diskursiven Denken, das in seiner Entwicklung schließlich an einen Punkt gelangt, »an dem sich ihm der Ausdruck des Seins als Ausdruck einer reinen Beziehung darstellt«, wird das Sein für das my­ thisch-religiöse Bewußtsein »zum Prädikat der Prädikate : zu dem Ausdruck, der alle einzelnen Attribute, alle Eigenschaften. der Gottheit in eine einzige zusammenzufassen erlaubt. Wo immer in der Geschichte des religiösen Den­ kens die Forderung der Einheit des Göttlichen sich erhebt, klammert sie sich an den sprachlichen Ausdruck des Seins und findet an ihm ihre sicherste Stütze . «97 Mythos und Religion erweisen sich hierin derart eng miteinander verzahnt, daß jeder Versuch, »aus dem Glaubensinhalt der Religion die my­ thischen Grundbestandteile herauszulösen und abzuschneiden«, die Reli­ gion mitnichten in ihrer wirklichen, in ihrer objektiv-geschichtlichen Er95 PsF II, S. 298 . % LK, S. 125. 97 E . Cassirer, Sprache und Mythos, S. 138.

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scheinung erlaßt, sondern nur noch ein »Schattenbild von ihr, eine leere Abstraktion«98 zurückläßt. Cassirers Bestreben, die Ausdrucksfunktion von der Darstellungsfunk­ tion zu isolieren, um sie als aufeinander aufbauende Stufen kultureller Ent­ wicklung auszuweisen, bleibt bis zuletzt unverständlich . Ihm muß zwar zugute gehalten werden, daß das im engeren Sinne religiöse Bewußtsein des Monotheismus eine andere Stellung als das magische Bewußtsein zur mythi­ schen Bildwelt einnimmt, doch wird die dem Mythos eigene Eindimensiona­ lität des Bildens und die aus ihr sich ergebende Dialektik davon nicht berührt. Hier mangelt es Cassirer an der nötigen Konsequenz; so eindeutig, wie sich seine Position präsentiert, ist sie keineswegs . So heißt es zum Bei­ spiel: »In dem Heraustreten über die mythische Welt der Bilder und in der unlöslichen Verklammerung und Verhaftung mit eben dieser Welt liegt ein Grundmoment des religiösen Prozesse selbst. Auch die höchste geistige Sub­ limierung [ . . . ] bringt diesen Gegensatz nicht zum Verschwinden: sie dient nur dazu, ihn immer stärker kenntlich zu machen und ihn in seiner imma­ nenten Notwendigkeit zu verstehen. «99 Die Differenz von >Bedeutung< und >Dasein< wird demzufolge nicht erst - wie zunächst behauptet - durch die Religion erschlossen, sondern liegt ihr immer schon als Sonderung des Hei­ ligen vom Profanen zugrunde . Und natürlich muß der Sinn dieser Trennung sich in dem Maße konkretisieren, wie in einem der beiden Bereiche sich das Verlangen artikuliert, seine Gehalte zu systematisieren . Aber die für Mythos und Religion gleichermaßen kdnstitutive Scheidung des Heiligen vom Profa­ nen ließe sich kaum als Konstitutivum beider behaupten, entspräche ihnen nicht ein wie auch immer rudimentäres und entsprechend entwicklungsfähi­ ges, nichtsdestotrotz aber ursprüngliches Wissen darum, daß die sinnlichen Bilder und Zeichen, deren sich beide bedienen, Ausdrucksmittel sind, die hinter dem Sinn dessen, das darzustellen sie berufen sind, stets zurückblei­ ben .

PsF II, S. 285 f. PsF II, S. 30 1 ; vgl. E. Cassirer, Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Gei­ steswissenschaften, S. 1 88 f. 98 99

NEUNTES KAPITEL

AusDRUCK - DARSTELLUNG - BEDEUTUNG

Fraglich bleibt, ob und unter welchen Bedingungen dem Wissen in Mythos und Religion Einsicht in die Gründe seiner überbordenden Bildkraft ver­ gönnt ist. Eine zufriedenstellende Antwort ist scheinbar mühelos zur Hand: Der Geist »schafft unaufhörlich neue Namen und neue Bilder; aber er be­ greift nicht, daß er sich in dieser Schöpfung dem Göttlichen nicht nähert, sondern mehr und mehr von ihm entfernt. « 1 Diese Feststellung Cassirers scheint derart eindeutig, daß jede anderslautende Behauptung befremden muß . Denn schließlich führt die Vollendung des religiösen Bewußtseins in der Mystik, d. h. in dem Versuch, den besonderen Inhalt ebenso wie die spezifische Form der Gottesidee ausschließlich im Kampf gegen den mythi­ schen Bilderdienst zu sistieren, zu einer immer umfassenderen Preisgabe der äußeren und inneren Bindungen der Religion zugunsten einer immer stärker werdenden Macht des Subjektiven und Individuellen. Nichts scheint dage­ gen zu sprechen, daß am Ende dieses Prozesses die Einsicht in die Bedingun­ gen dieses Individuellen und Subjektiven stehen muß, sofern die zum Zwecke einer klaren Exposition der Wechselbeziehung von Ich und Gott unternommene Befreiung vom Bild und seiner Gegenständlichkeit, den Mit­ telpunkt des religiösen Verhältnisses selbst, die Person und ihr Selbstbewußt­ sein unberührt läßt. 2 Doch wenn es die »geheime Sehnsucht aller Mystik [ist] , sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich zu versenken, um in ihm das Wesen Gottes zu finden«3, so muß im Anschluß an die Einsichten der transzenden­ talen Psychologie das, was von der Entwicklung des Begriffs des religiösen >Selbst< gesagt worden ist, auch von der ihm korrespondierenden Gottesvor­ stellung gelten: In dem Moment, wo dem religiösen Bewußtsein die konkrete Fülle der göttlichen Attribute und Namen problematisch wird und es ver­ sucht, in der Einheit des Wortes das ausgezeichnete Mittel in Händen zu halten, kraft dessen es zur Einheit des Gottesbegriffs durchzudringen ver­ sucht, muß es auch über diese Stufe noch bis zu einem Sein hinausdrängen, das allein deshalb, weil es in nichts Einzelnem mehr beschränkt ist, auch mit keinem Namen mehr zu nennen ist. So wie das >IchGott< mehr und mehr aus allen LK, s. 107. Vgl. PsF II, S. 293 . 3 LK, S. 1 07; vgl. E. Cassirer, Die Philosophie der Griechen, 1 34 f.

I 2

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Neuntes Kapitel

Gegensätzen heraus, um deren gemeinsamer Grund sein zu können . So wie Gott ein reines >Nichts< ist, so ist die reine Urform des Ich reine Unform .4 Diese Konsequenz zieht jedenfalls der Buddhismus, der im Gegensatz zur jüdisch-christlichen Tradition, für die sich in dem Maße, wie das bloß Gegen­ ständliche versinkt, die Gestaltung im Willen und in der Tat umso deutlicher hervorhebt, auch über diese letzte Schranke noch hinausstrebt. Ihm ist die Form des >Ich< ebenso kontingent und äußerlich, wie irgendeine bloß-ding­ liche Form . »Nicht nur jenseits der Dinge, sondern vor allem jenseits des Tuns und Begehrens liegt demnach die wahre Befreiung. Wer sie gewonnen hat, für den ist nicht nur der Gegensatz von Ich und Welt, sondern nicht minder der von Ich und Du versunken : - für den bedeutet auch die Persön­ lichkeit nicht mehr den Kern, sondern nur noch die Schale, nur den letzten Rest aus der Sphäre der Endlichkeit und Bildlichkeit. «5 Und so wie für den Buddhismus die Erlösung, die er sucht, »nicht die des individuellen Ich, sondern die vom individuellen Ich ist«6, verliert für ihn schließlich auch das Problem des Daseins der Götter gegenüber diesem seinem Kernproblem immer mehr an Bedeutung. Er ist der Prototyp >atheistischer Religiondas Richtige< sprach­ lich darzustellen, skeptisch beurteilt wird, es unmöglich scheinen, den Sinn des Gesprochenen logisch-rational zu sichern. Denn schließlich ist der Ge­ halt der mystischen Vision nicht einfach untersagt, sondern der Sagbarkeit insgesamt entrückt. »Die Fülle der Bilder bezeichnet nicht, sondern verdeckt und verhüllt das bildlos-Eine, das hinter ihnen steht und auf das sie, wenn­ gleich vergeblich, abzielen . Nur die Aufhebung aller bildliehen Bestimmtheit

FF, S. 1 3 ; vgl. E. Cassirer, Logos, Dike, Kosmos, S. 1 6 f. PsF li, S. 294 . 6 PsF l i , S. 295 . 7 E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 1 3 6 f. 4 s

Ausdruck - Darstellung - Bedeutung

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[ . . . ] kann uns zu dem echten Ur- und Wesensgrund zurückführen. «8 Aber weil gerade für die Sprache der »Zug zum Bildhaften« konstitutiv in dem Sinne ist, daß sie unablässig versucht, »dem Begriff einen Körper zu geben, ihn mit bestimmten leibhaften Zügen zu erfassen«9, dokumentiert sich neben dem Schweigen in solch paradoxen Begriffsbildung wie >das überlichte Dun­ kel< oder das >Nicht-Seiend-Seiende< das Bewußtsein des Mystikers über seine fundamentale Abhängigkeit von den Mitteln und Möglichkeiten sprachlicher Darstellung. 1 0 In der Religion, das zeigt ihre Vollendung in der Mystik, ist jedes Wort mächtig und ohnmächtig zugleich - tief bedeutsam und doch dem Wesen, das es treffen will, inadäquat. Ist indessen die Leistungsfähigkeit des mythischen Denkens mit dem Schweigen zur einen Seite und der paradoxen Begriffsbildung zur anderen Seite hin erschöpft, so kann der qualitative Sprung, den Cassirer innerhalb der Einheit der symbolischen Funktionen fälschlicherweise zwischen Aus­ druck und Darstellung annimmt, nur zwischen der Ebene der sprachlichen und der Ebene der wissenschaftlichen Begriffe liege. Wo sich das Denken ausschließlich in dem Spannungsverhältnis von Ausdruck und Darstellung bewegt, bleibt es an die Zeichen gebunden, die ihm die Sprache, als fertig geprägte, darbietet. Seine Autonomie verwirklicht es erst dort, wo es in eine neue Form, nämlich die Wissenschaft eintritt. Erst hier kann der Gedanke kontrolliert die ihm gemäße Form der Zeichen erschaffen. Die selbstgeschaf­ fenen Begriffszeichen dienen jedoch weder dem Ausdruck, noch der an­ schaulichen Darstellung. Als reine Bedeutungsträger unterscheiden sie sich von den Mitteln der Sprache dadurch, »daß ihnen keinerlei anschaulicher >Nebensinn< mehr anhaftet - daß sie keine sinnliche Farbe, kein individuelles >Kolorit< mehr an sich tragen. [ . . . ] Was in ihnen >gemeint< und intendiert ist, das steht außerhalb des Kreises der wirklichen, ja der möglichen Wahrneh­ mung . « 1 1 Doch während in der Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen hervorgehoben wird, daß die Wissenschaften zwar an die Allgemeinbegriffe der Sprache anknüpfen, in ihnen aber ein » n euer >Logos< [hervortritt], der von einem anderen Prinzip als dem sprachlichen geleitet und beherrscht wird«12, und noch zu Beginn der Phänomenologie der Erkenntnis der Nachweis in Aussicht gestellt wird, »daß die >Darstel­ lungsfunktionBedeutungsfunktionEntwicklung< d. h. die gradlinige Fortsetzung der ersteren ist, sondern daß beide qualitativ verschiedene Arten der Sinngebung in sich schließen«13, hält Cassirer im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen unbeirrbar an seiner These fest: »Von der Sphäre der sinnlichen Empfindung zu der der Anschau­ ung, von der Anschauung zum begrifflichen Denken und von diesem wieder zum logischen Urteil führt für die erkenntniskritische Betrachtung ein steti­ ger Weg. « 14 Ganz so, wie das religiöse Bewußtsein sich der mythischen Bildwelt nicht durch einen Akt einfacher Negation, sondern nur dadurch entreißen konnte, daß es an den mythischen Gestalten festhielt und sie »eben hierdurch mit einem neuen Sinn durchdrang«, so soll nun der Gedanke über die Sphäre des Sprachlichen hinausdrängen, indem er »eine Tendenz auf­ [nimmt], die in ihr selbst ursprünglich beschlossen liegt, und die von Anfang an in ihrer eigenen Entwicklung als lebendiges Motiv wirksam war. Diese Tendenz wird jetzt nur in ihrer vollen Kraft und Reinheit herausgearbeitet, wird gleichsam aus ihrer bloßen Potentialität befreit und in volle Wirksam­ keit umgesetzt. « t s In dem 1940 erschienenen Aufsatz über Mathematische Mystik und ma­ thematische Naturwissenschaft wird der diese Unentschiedenheit Cassirers erhellende Grund greifbar. Hier heißt es, daß es in der Geschichte des Wis- . sens immer wieder Epochen gibt, in denen sich nicht nur der Umfang, sondern vor allem auch der Begriff und der Sinn des Wissens verändern: »An die Stelle des einfachen quantitativen Wachstums scheint plötzlich ein quali­ tativer >Umschlag< zu treten; statt einer Evolution erleben wir eine plötzliche Revolution. Eine solche Revolution ist es, aus der das Ideal der exakten 13

PsF III, S. 67 [Hervorheb. d. Verf.] . PsF I, S . 280. PsF 111, S . 3 84 f. [Hervorheb. d. Verf.] Für Cassirers inkonsistente Bestimmung des Ver­ hältnisses der Darstellungs- zur Bedeutungsfunktion seien zwei Beispiele angeführt - PsF I, S . 185 f. : »Nur durch die Gestaltung der Zahl zum Wortzeichen wird der Weg zur Erfassung ihrer reinen Begriffsnatur frei. So stellen die Zahlenzeichen, die die Sprache erschafft, auf der einen Seite für die Gebilde, die die reine Mathematik als >Zahlen< bestimmt, die unentbehrliche Voraussetzung dar; auf der anderen Seite aber besteht, freilich zwischen den sprachlichen und den rein intellektuellen Symbolen eine unvermeidliche Spannung und ein niemals völlig aufzu­ hebender Gegensatz. Wenn die Sprache den letzteren erst den Weg bereitet, so vermag sie ihrerseits diesen Weg nicht bis zu Ende zu durchmessen. Jene Formen des >beziehentlichen DenkensSprung< des Denkens, ohne eine ent­ scheidend neue Tat der Erkenntnis konnte freilich dieses Ideal nicht erfaßt werden . Aber wenn wir in rein ideeller Hinsicht dieses Neue anzuerkennen haben, so bedeutet dies nicht, dass wir auch in geschichtlicher Hinsicht die Brücken abbrechen können und dürfen. Historisch gesehen kann es für uns niemals ein schlechthin Unvermitteltes geben . Als Geschichtsschreiber des Geistes können wir niemals den Finger auf die Stelle legen, an der ein Altes vergeht, um einen anderen, völlig Neuern Platz zu machen . [ . . . ] Im Sinne des rein zeitlichen Werdens erleben wir niemals einen Abbruch der Kontinui­ tät. Diese Kontinuität ist so augenscheinlich, dass sie dem, der sich in sie versenkt, leicht jeglichen Mut benehmen kann, überhaupt noch irgend wel­ che scharfen Einschnitte zu versuchen . « 16 Vor dem Hintergrund der Feststel­ lung, daß die Veranschaulichung der kontinuierlichen Entwicklung des Wissens eines jeweils verschiedenen Paradigmas bedarf, diese Paradigmen sich jedoch wechselseitig ausschließen, zeigt sich, daß Cassirers Rückgriff auf den aristotelischen Potenzbegriff und die ihm eigentümliche Zweideutigkeit, einmal das Mögliche im Sinne eines rein abstrakten Beziehungsbegriffs zu bezeichnen und immer auch als ein selbständiges Etwas zu erscheinen, das aus sich heraus der eigenen Verwirklichung entgegenstrebt, in der Philoso­ phie der symbolischen Formen keineswegs zufällig erfolgt. Beim Durchmes­ sen des Weges symbolischer Formung soll sich der Erkenntniskritiker stets gegenwärtig halten, »daß die einzelnen Phasen desselben, so scharf sie in der Reflexion voneinander geschieden werden müssen, doch niemals als von ein­ ander unabhängige, losgelöst existierende Gegebenheiten des Bewußtseins anzusehen sind . Vielmehr schließt hier nicht nur jedes komplexere Moment das einfachere, nicht nur jedes >spätere< Moment das >frühere< ein - sondern umgekehrt ist auch jenes in diesem vorbereitet und angelegt. Alle Bestand­ teile, die den Begriff der Erkenntnis konstituieren, sind wechselseitig aufein­ ander und auf das gemeinsame Ziel der Erkenntnis, auf den >Gegenstand< bezogen . « 1 7 Das innere Werden der Begriffe wird nicht durch eine Logik der Entwicklung von Kategorien und kategorialer Verhältnisse begründet, son­ dern durch historische und historisierende Interpretationen wird die »stetige und schwierige Arbeit« dokumentiert, »die der Gedanke zu leisten hatte, um diese Begriffe ans Licht zu heben. « t s Nur vordergründig gleicht die Adaption des Potenzbegriffs diesen Nive­ auverlust aus : Generell soll er den Wechsel von einer symbolischen Form in eine andere als Bewährung der synthetisierenden Kraft des Bewußtseins dar16 E. Cassirer, Mathematische Mystik und moderne Naturwissenschaft, S. 249 [Hervorheb. d. Verf.]; vgl. a. a. O . , S. 253 f. 1 7 PsF I, S. 280. 1 8 E . Cassirer, Logos, Dike, Kosmos, S. 4.

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stellbar machen, insofern diese sich darin äußert, »daß jede Konzentration seines Gehalts, die er erreicht, ihm zugleich zum Antrieb wird, seine bishe­ rigen Grenzen zu erweitern. « Der Feststellung zuwiderlaufend, daß die Dynamik des mythisch-magischen ebenso wie des religiösen Bewußtseins sich in der Mystik vollendet, soll unter Hinweis darauf, daß jeder relative Abschluß » unmittelbar die Aufforderung zum Weiterschreiten enthält [ . . . ] , indem e r seine allgemeine Regel erkennen läßt« 19, der Nachweis geführt werden, daß die für die Sprache konstitutive Scheidung des Darstellenden vom Dargestellten der Keim ist, aus dessen vollständiger Entfaltung die Welt der Wissenschaft hervorgeht. 20 Trotz aller Differenzen, die zwischen dem Wortzeichen der Sprache und dem reinen Begriffzeichen der theoretischen Wissenschaften festgestellt werden müssen, soll zwischen beiden »keine ei­ gentliche J.umißacnc; lhGlauben< an die Kraft des Unpersönlichen bauen . Magie und Wissenschaft unterscheiden sich jedoch hinsichtlich des Verfahrens, durch das sie >Natur< erklären: Während jene mimetischen Techniken vertraut, ist diese in der Stiftung und Analyse kausa­ ler Beziehungen und deren Überprüfung im Experiment beheimatet. Als Ablösung der magischen Stufe ist die Religion gerade deshalb bedeutsam, weil sie nicht nur ein Mittel zur Distanzierung der für das magische Weltver­ ständnis charakteristischen »Unmittelbarkeit des Begehrens« ist, sondern sich zugleich - und hierin noch völlig im Bann des Mythisch-Magischen - um ein gleichsam persönliches Verhältnis zu diesem Distanzierten in Gestalt gleichermaßen übersinnlicher wie übermenschlicher Kräfte bemüht. Sie selbst aber wird wiederum von der wissenschaftlichen Rationalität ihrer in ihrer mystischen Agonie offen hervortretenden Unzulänglichkeiten über­ führt.28 Das zu verhandelnde Problem entspringt demnach dem Bestreben Cassi­ rers, jeder der Symbolfunktionen eine bestimmte Bewußtseinsgestalt und dieser eine bestimmte Kulturepoche zuzuordnen . Die Absicht, sich den dem kritischen Idealismus gegenüber bis heute immer wieder erhobenen Vorwurf des Logozentrismus dadurch zu ersparen, daß er das Wortzeichen und das Begriffszeichen durch ein »geheimes Band« verknüpft, wird hierbei eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben . Denn wenn dieses ominöse geheime Band zwischen Sprache und Wissenschaft tatsächlich nachgewiesen werden könnte, dann wäre zugleich geklärt, daß sich die Wissenschaft in dem Maße, wie sich der wissenschaftliche Begriff über die Sinnenwelt in das Reich des Ideellen und Intelligiblen erhebt, dem Leben zwar zunehmend entfremdet, sich aber dennoch >>zuletzt doch immer wieder in irgendeiner Weise zu jenem >erd- und weltgemäßen< Organ« zurückwenden müßte, das sie »an der Spra­ che besitzt. «29 Der um 1935 von Husserl mit der Krisisabhandlung formu­ lierte Gedanke, daß der Wissenschaftsprozeß nur dann verständlich, somit kontrollierbar und schließlich humanisierbar ist, wenn die ihn gleicherma­ ßen ermöglichenden wie steuernden Grundlagen mit Beziehung auf die Lebenswelt, aus der sie hervorgegangen sind und auf die sie, als Repräsentan­ ten des naiven Weltbewußtseins des Menschen auch wieder zurückweisen, bewußt gemacht werden können, hat hierin sozusagen eine frühe Marburger Variante . Wo die »höchste Entfernung und Entfremdung« der Wissenschaft 27 28 29

Vgl . G . W. F. Hege!, Phänomenologie des Geistes, S. 80. Vgl. E . Cassirer, Form und Technik, S. 55. PsF III, S . 385; vgl . E . Cassirer, The Concept of Philosophy, S . 56.

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von der Sprache erreicht ist, soll der »reflexive Wendepunkt« liegen, an dem das »logische Denken erst sein eigenes Wesen und sogleich seine Einheit mit dem sprachlichen« entdeckt . Und wie - so fährt Cassirer fort - »könnte das Denken diese Einheit entdecken, wenn sie ihm nicht in irgendeiner Weise, wenngleich latent >Zum Grunde läge< ?«3 0 Die Rhetorik dieser Frage ist ein Indiz dafür, daß Cassirer die Argumente dort ausgehen, wo er die Notwendigkeit der Abfolge der jeweiligen Bewußt­ seinsgestalten bzw. symbolischen Formen zu erweisen hätte . Wie läßt sich beispielsweise behaupten, daß der reflexive Wendepunkt einerseits nur jen­ seits der Sprache erreicht werden kann, wenn der andererseits in ihrem Diesseits bereits »erkennbar und in gewissem Sinne vorbereitet und antizi­ piert«31 vorliegt, ohne dazu auf Hegeische Konstruktionen zurückzugreifen, denen zufolge das Bewußtsein deshalb, weil es für sich selbst sein Begriff ist, »unmittelbar auch das Hinausgehen über das Beschränkte und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst«32 ist ? Für Hegel sichert die Überle­ gung, daß das Hinausgehen des Gedankens über die Beschränkungen des Lebens zwar als Tod, dieser Tod jedoch nicht als Unterbrechung, sondern als der eigentliche Motor der allgemeinen Bewußtseinsentwicklung auf sein Ziel hin erachtet werdet muß, an dem es »sich selbst findet, und der Begriff dem Gegenstande, der Gegenstand dem Begriff entspricht. «33 Ähnliches gilt für Cassirer: Sein Versuch, die Kontinuität der Entwicklung vom Mythos zur Wissenschaft zu begründen, erweist sich von der Setzung abhängig, daß das Telos geistiger Entwicklung die in ihr sich erst ausbildende, sie zugleich aber auch in Gang haltende Fähigkeit des Geistes ist, sich seine Welt durch eine ins Grenzenlose fortschreitende Arbeit autonom zu erzeugen und zu gestalten . Daß diese Fähigkeit auf die exakte Wissenschaft begrenzt ist, läßt sich indes nicht behaupten . Denn gerade die Welt des mythischen Bewußtseins ver­ dankt sich der über alle restringierenden Momente des Gedankens an die Eigenbestimmtheit des Faktischen hinausschießenden bildnerischen Kraft des Denkens . Wenn aber die Fähigkeit, ins Grenzenlose fortzuschreiten, dem mythischen wie dem wissenschaftlichen Bewußtsein gleichermaßen eig­ net, so kann sie nicht als das Moment genannt werden, kraft dessen sich die Entwicklung vom Mythos zur Wissenschaft in ihrer immanenten Notwen­ digkeit begreifen läßt. Es ergibt sich die eigenartige Konstellation, daß Cassirers Bestimmung des Zieles geistiger Entwicklung überhaupt eine systematische Entfaltung ihrer rationalen Gründe nachhaltig erschwert. Das reflektierte Bewußtsein der Erkenntnis als unendliche Aufgabe ist von der Anerkennung des Faktums Wissenschaft abhängig und damit dem Mythos wie der Religion gleichermaJo Jt l2

PsF 111, S. 391 ; vgl. E. Cassirer, Form und Technik S. 39-43, 53. PsF III, S. 391 . G .W.F. Hege!, Phänomenologie des Geistes, S. 74 . JJ Ebd.

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ßen wesensfremd. Was als ein organisches Sich-Entwickeln verständlich werden soll, erweist sich als Rekonstruktion des Einmaligen und Unver­ wechselbaren der Erkenntnis in Absetzung von allen anderen ausgebildeten Weisen des Menschen, sich seine Welt zu erschließen. So wie für Cassirer die Sprachkritik integrierender Bestand der Phänomenologie aller vor- bzw. nichtwissenschaftliehen Bewußtseinsgestalten ist34, so gilt ihm das Bewußt­ sein der Notwendigkeit einer Kritik der Sprache als Indiz des vordringenden wissenschaftlichen und im engeren Sinne philosophischen Denkens .35 Aber auch diese Abgrenzung könnte für sich nicht in Anspruch nehmen, die Ein­ heit kultureller Entwicklung zu repräsentieren, beschränkte sie sich darauf, die konstitutiven Prinzipien der Erkenntnis in ihrem immanenten Zusam­ menhang zu exponieren, statt zugleich ihre kulturhistorische Stelle anzuge­ ben . Die Verbindung beider Verfahren führt schließlich dazu, daß allein deshalb, weil die Wissenschaft die bislang letzte Erscheinungsweise des Gei­ stes ist, sie zugleich auch die reflektierteste sein muß . Allen ihr zeitlich vorausliegenden Erscheinungsformen des Geistes weiß sich die Wissenschaft überlegen, weil sie diese als notwendige Vorstufen ihrer selbst weiß . Der für die Philosophie der symbolischen Formen zu konstatierende me­ thodische Primat des Faktums Wissenschaft ist die Folge der These, daß erst in der Wissenschaft sich der Geist »wahrhaft als das (entdeckt), was den Anfang der Bewegung in sich selbst hat. «36 Dort, wo sich der Geist in seinen Werken wiedererkennen kann, ist er am Ziel seiner Reise angelangt: »Es gibt heute keine andere Macht, die mit der des naturwissenschaftlichen Denkens verglichen werden kann. Die Naturwissenschaft gilt als Gipfel und Vollen­ dung aller menschlichen Bestrebungen, als das Schlußkapitel in der Ge­ schichte der Menschheit und das wichtigste Thema der europäischen Philoso­ phie. «37 Mit der Fähigkeit, sich die symbolischen Formen als solche bewußt zu machen, tritt das Leben in der Wissenschaft vollends und endgültig aus der Sphäre des bloß naturgebeneo Daseins heraus. Die bloß verbale Aner­ kennung der prinzipiellen Gleichberechtigung aller symbolischen Formen bestätigt ihre Subordination unter die Prinzipien der Kritik, den Inbegriff selbständigen Denkens . Komparative wie in den Thesen, daß je reicher der Symbolgehalt eines geistigen Aktes ist, dieser in um so höheren Maße als ein menschlicher Akt angesehen werden muß, bzw. je klarer dieser ein Geistiges Vgl. PsF I, S. 252 . Vgl. PsF I, S. VI, 1 3 . 3 6 PsF I I I , S . 398. 37 EoM, S. 263 [Hervorheb . d. Verf.] . Vgl. im Gegensatz hierzu Göllers Bemerkung (Cassi­ rers kritische Sprachphilosophie, S. 145), der Grund dafür, daß die wissenschaftliche Erkennt­ nis als Kritikinstanz gegenüber allen anderen symbolischen Formen auftritt, sei nicht eindeutig zu bestimmen; gänzlich abwegig und ohne jeden Beleg behauptet R. S. Hartman (Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 2 1 0), Cassirer hätte im •Essay< seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, ,.daß einst nicht mehr die Wissenschaft, sondern die Kunst als der Gipfel­ punkt der geistigen Entwicklung der Menschheit erkannt werden wird . « 34 3s

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darstellt, desto deutlicher spiegele er das Ganze der Kultur wider38, sind hier gänzlich fehl am Platze. Dem System der Formen und Formprinzipien liegt das transzendentalkritische Apriori der Erkenntnisaufgabe voraus, auch wenn es innerhalb des Systems als Wissenschaft unverfälscht wiederkehrt. Allerdings wird von Cassirer offensichtlich übersehen, daß das, was beurteilt wird, nicht selbst als Apriori des Urteils fungieren kann, es sei denn, es weist sich als solches aus , was die Wissenschaft jedoch so wenig wie jede andere Form vermag. Ohne großes Aufheben setzt Cassirer die Praxis des wissen­ schaftlichen Experiments, einen gegebenen Fall so zu idealisieren, daß er als Einzelfall eines Allgemeinen erscheint, mit der Konstitution des Denkens als Denken der reinen Erkenntnis gleich. So sollen zwar alle symbolischen For­ men als eigenständige Ausdrücke der Selbsttätigkeit des Geistes verstanden werden. Aber im Falle von Sprache, Mythos und Kunst vollzieht sich im Gegensatz zur Wissenschaft diese Selbsttätigkeit »nicht in der Form der freien Reflexion und bleibt somit sich selbst verborgen . Der Geist erzeugt die Reihe der sprachlichen, der mythischen, der künstlerischen Gestalten, ohne daß er in ihnen sich selbst als schöpferisches Prinzip wiedererkennt. «39 Die Fähigkeit des Geistes, sich in seinen Produkten wiederzuerkennen, als Kriterium zur Unterscheidung der Wissenschaft von allen nichtwissen­ schaftlichen Denkformen zu setzen, eröffnet nicht, sondern verstellt die Möglichkeit, die spezifische Modalität wissenschaftlichen Begreifens ver­ ständlich zu machen . Das das Bemühen um eine Klärung der Grundfragen der Erkenntniskritik in Substanzbegriff und Funktionsbegriff auszeichnende Wissen um die Erklärungsbedürftigkeit jenes merkwürdigen Umstandes, daß in den exakten Wissenschaften Bedeutungen als Prämissen in Anspruch ge­ nommen werden, ohne daß diese als Voraussetzungen direkt thematisch sind, ist damit funktionslos geworden. Ganz offensichtlich begnügt sich Cassirer mit der in ihrem täglichen Funktionieren liegenden Demonstration, daß die Wissenschaften - allerdings auch die Mythen - auch ohne Dauerref­ lexion ihrer kategorialen Grundlagen effektiv arbeiten können . Tatsächlich schließt ja die konkrete Funktion von Grundlagen oder Prinzipien nicht notwendig eine philosophische Reflexion auf sie ein. »Das Bewußtsein kann, muß aber nicht si�h von seinen Erfahrungen oder deren Grundlagen distan­ zieren. «4 0 Es ist genuine Aufgabe transzendentaler Theorie, die Gleichgültigkeit von Kategorien und Prinzipien gegenüber der immer möglichen, sie bestimmen­ den Reflexion auf sie als ein wesentliches Moment ihrer logischen Funktion verständlich zu machen. Geschieht dies nicht, so ist die Rede, als sei die Analyse des Stufengangs symbolischer Formung mit der Ausbildung und 3 8 Vgl. R.S. Hartman, Cassirers Philosophie 39 PsF II, S. 259; vgl. GEP I, S. 7. 40 W. Marx, Reflexionstopologie, S . 4 1 .

der symbolischen Formen, S. 200.

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Durchsetzung der wissenschaftlichen Begriffsbildung zum Abschluß ge­ bracht, unvermeidlich . Während im Mythos ein alle Formen rationaler Aus­ einandersetzung des Menschen mit seiner Welt umfassender Anfang insofern gemacht ist, als hier alles, was als eigenständige symbolische Form im späte­ ren Verlauf dieser Auseinandersetzung auftritt, ihren Ursprung hat, wäre mit der Wissenschaft das Niveau errungen, auf dem sich die Begriffe sowie die Bedingungen ihres Funktions- und Bedeutungswandels bestimmten lassen, kraft deren sich alles, was jemals als symbolische Form aufgetreten ist bzw. noch auftreten wird, methodisch koordinieren läßt. Das bedeutete zunächst vor allem den Nachweis der integralen Funktion des Erkenntnisproblems für eine jede sich auch als Kulturtheorie verstehende Theorie der Kategorien. Wenn aber eine derartige Theorie den Kulturphänomenen gegenüber kein Fremdkörper bleiben, sondern diese mitumfassen soll, so muß sich nachwei­ sen lassen, wie die Grundstrukturen gegenständlicher Erkenntnis im Rah­ men einer allgemeinen Kategorienentwicklung, die durch die Differenzen, die jedem transzendentalen Ansatz eigentümlich sind, nicht mitbedingt ist, verständlich gemacht werden können, ohne dabei die Frage nach den Bedin­ gungen der Möglichkeit der Erkenntnis in die Frage nach der Interpretation eines in sich gestuften Wissens unter dem Gesichtspunkt der Einheit von Wissen und Gewußtern umzuwandeln .41 So sehr Cassirer daher bemüht sein muß, den Mythos als Einheit von Indifferenzen darzulegen, um ihn der die reinen Denkgesetze ihrer Funktion nach konkretisierenden Mannigfaltigkeit überhaupt vergleichbar zu ma­ chen - sein systematischer Zusammenhang mit der die synthetische Einheit des Wissens in seiner Prozeßhaftigkeit als unendliche Aufgabe auf allen Ge­ bieten zum Ausdruck bringenden Wissenschaft bleibt fragwürdig: So soll es einerseits erst die Kunst gewesen sein, die, »indem sie dem Menschen zu seinem eigenen Bilde verhalf, gewissermaßen auch die spezifische Idee des Menschen als solche entdeckt hat«42, den Bannkreis des Mythos überwun­ den hat, während es ein anderes Mal eine gewisse Bedeutungsverschiebung im Seelenbegriff43 und noch ein anderes Mal die griechische Tragödie44 gewe41 42 4J 44

Vgl. W. Marx, Aspekte einer transzendentalen Topik, S. 261 . PsF II, S. 234; vgl . a. a. 0 . , S. 33 f. , 3 1 1 f. Vgl. PsF II, S. 1 98 -206. Vgl. PsF II, S . 237 f. ; sowie E . Cassirer, Logos, Dike, Kosmos, S . 1 4 ff. ; EoM, S. 1 8 6- 1 89; hier allerdings· ist die Interpretation des Katharsis-Begriffs nicht an das mythische Bewußtsein zurückgebunden, weil »die künstlerische Einbildungskraft eine seelisch-geistige Potenz sui generis ist«(a. a. 0 . , S . 1 93 ). Zugleich aber soll die Lyrik »nicht nur in ihren Anfängen in bestimmten magisch-mythischen Motiven« wurzeln, sondern selbst in ihren »höchsten und reinsten Erzeugnissen« den Zusammenhang mit dem Mythos aufrecht halten; vgl. E. Cassirer, Sprache und Mythos, S. 157. Die Überwindung des Mythos durch die Kunst behauptet inner­ halb des Marburger Schulzusammenhangs zuerst H. Cohen, Kants Einfluß auf die deutsche Kultur, S. 369 f. Zur allgemeinen Bestimmung des Anteils der Lyrik, des Dramas und der Tragödie an der Entwicklung vom Mythos zum Logos vgl. B. Snell, Die Entdeckung des Gei­ stes , Kap . IV -VII .

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sen sein soll, die den fraglichen Umschwung herbeigeführt hat. Keine dieser Variationen zum Thema Vom Mythos zur Wissenschaft wird indessen schlüs­ sig begründet. Unbeantwortet bleibt, wie etwas, was selbst seinen Ursprung im Mythos hat, seinerseits zur Überwindung des Mythos beitragen kann. Ja schließlich soll der Mythos selbst zu den »mannigfachen Ansätzen [zählen] , die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Ein­ drücke« eine Fiktion wie die Stufe der mythisch-magischen Indifferen­ zen -, »in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden. «45 Angesichts dieser internen Un­ stimmigkeiten entsteht der Eindruck, als rücke in Anlehnung an Schiller und Hege! innerhalb der Philosophie der symbolischen Formen die Geschichte mehr und mehr in die Funktion des Weltgerichts auf.46 Der Weltbegriff der Philosophie gewinnt die Oberhand gegenüber ihrem Schulbegriff Philosophie soll nicht allein die Formen des kulturellen Lebens beschreiben, sondern diese Formen vor allem mit Beziehung auf die Idee Menschheit beurteilen . Sie ist also nicht nur gleichsam der Beobachter des Prozesses menschlicher Selbstbestimmung, sondern zugleich immer auch diejenige Instanz, die diesen Prozeß deutet. 47 In diesem Sinne ist die Prokla­ mation der Instanz objektiver Geist primär erkenntniskritisch motiviert. Eindeutig überwiegt die Funktion, die Ansprüche des Individuellen so zu begrenzen, daß sie eine philosophische Analyse der Kultur auf wissenschaft-

PsF I, S. 1 2 . Daß die auf der Phänomenebene z u konstatierende ursprüngliche Fremdheit der symboli­ schen Formen gegeneinander in Hegelscher Manier aufgehoben wird, dokumentiert sich u. a. darin, daß Cassirer dort, wo er sich dem Übergang vom Wort- zum Begriffszeichen widmet, nicht aus aus der Perspektive des Sprachbewußtseins, sondern aus Sicht der Wissenschaft und ihrer logischen Voraussetzungen argumentiert: Die Sprache kann den Kreis des Sinnlichen auch dort letztlich nicht durchbrechen und verlassen, »WO sie als Rede, als objektiver >LogosSatzmelodie< gelangt diese innere Anteilnahme des Ich am Inhalt des Gesprochenen zum Ausdruck. Die Rede dieses >Gefühlstons< entkleiden zu wollen, hieße ihren Herzschlag, ihren Puls und Atem vernichten . Aber andererseits gibt es freilich ein Stadium, in dem eben dieses Opfer von ihm gefordert wird . Er muß zu einer reinen Erfassung der Welt fortschreiten, in der alle Besonderheiten, die sich aus der Rücksicht auf den Erfassen­ den selbst ergeben, getilgt sind. Sobald diese Forderung einmal gestellt und sobald sie bewußt in ihrer Notwendigkeit anerkannt ist, müssen die Säulen des Herkules, die die Sprache aufgestellt hat, überschritten werden. Und mit diesem Übergang erst erschließt sich das Gebiet der eigent­ lichen, der strengen Wissenschaft. (PsF III, S. 395 f. ) [ . . . ] Die Erkenntnis sieht sich, wenn ihr die Erscheinungen deutbar bleiben, wenn sie ein verständliches Ganze für sie bilden sollen, zu einer weiteren schweren Umgestaltung gedrängt. Sie muß nicht nur zwischen den Wahrnehmungsin­ halten selbst neue Verknüpfungen stiften, sondern sie muß auch, um die Verknüpfungen auf einen streng begrifflichen Ausdruck zu bringen, die bisherigen Inhalte in ihrer Beschaffenheit verändern . « (PsF III, S. 376; vgl. a. a. 0 . , S. 397) [Hervorheb. d. Verf.] . 4 7 Vgl. D . P . Verene, Symbolic Form and Creativity, S . 27. 45 46

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lichem Niveau nicht - oder doch zumindest nicht entscheidend beeinflussen und letzten Endes gar verhindern können . Wo sie gleichsam in den Obertö­ nen einen zuweilen naturalistischen Klang anzunehmen scheint, verbindet sich mit ihm stets ein moralisches Motiv. In moralischer Hinsicht nämlich fungiert der objektive Geist als Voraussetzung menschlicher Solidarität, so daß der Abriß der Evolution und Hierarchie symbolischer Formen entschei­ dend von Erwägungen mitstrukturiert ist, die das nur in Vergleichen be­ stimmbare Mehr oder Weniger der von der jeweiligen Stufe symbolischer Formung ermöglichten Solidarität zum Thema hat. Der Mensch ist nicht gut aufgrund irgendwelcher geheimnisvoller Sympathiegefühle, sondern allein wegen seines Vermögens zur Selbstbestimmung: »Der Mensch ist >von Natur gut< - sofern eben diese Natur nicht in sinnlichen Trieben aufgeht, sondern sich, von sich aus und ohne äußere Hilfe, zur Idee der Freiheit erhebt. Denn die spezifische Gabe, die den Menschen von allen anderen Naturwesen unter­ scheidet, ist die Gabe der Perfektibilität . Er bleibt nicht bei seinem ursprüng­ lichen Zustand stehen, sondern strebt über ihn hinaus; er begnügt sich nicht mit dem Umfang und der Art der Existenz, die er unmittelbar von der Natur empfangen hat, sondern er läßt nicht ab, ehe er sich nicht eine neue eigene Form der Existenz geschaffen und aufgebaut hat . «48 Hier schlägt sich nieder, was bereits in der Kant-Monographie formuliert worden ist: Von Geschichte kann nur dort die Rede sein, »WO wir eine be­ stimmte Reihe von Ereignissen derart betrachten, daß wir in ihr nicht ledig­ lich die zeitliche Abfolge ihrer einzelnen Momente oder deren kausale Zusammengehörigkeit ins Auge fassen, sondern daß wir sie auf die ideelle Einheit eines immanenten >Zieles< beziehen . «49 Unter den faktischen kultu­ rellen Bedingungen muß sich das Begreifen dahin entwickeln, daß sich in ihnen auch das reine Wesen des Menschen in seinem unbedingten und umfas­ senden Gelten darstellt. Auf diese Entwicklung muß sich das reflektierende Denken besinnen; es muß sie ankündigend vorstellen und auf diese Weise befördern. Nicht das Dasein des Menschen, sondern das intelligible Substrat der Menschheit ist sein wesentliches Ziel. Doch so sehr Cassirer auf die Feststellung Wert legt, daß für Kant die Frage nach dem Zweck der Geschichte einen anderen Klang als für die gewöhnliche Weltbetrachtung und erst recht für die herkömmliche Metaphysik hat, inso­ fern die Voraussetzung eines solchen Zwecks allein die der Geschichte eigene Möglichkeit, ihre spezifische Bedeutung zu begründen vermag, - die tiefe Erschütterung und Enttäuschung der letzten Abschnitte des Mythos des Staa­ tes sind ein Indiz dafür, wie wenig er sich offensichtlich davor zu schüt­ zen gewußt hat, in diese rein methodische Setzung Hoffnungen zu investie48 49

E. Cassirer, Das Problem Jean Jaques Rousseau, S. 54. KLL, S . 241 ; vgl . E. Cassirer, Kant und das Problem der Metaphysik, S . 1 4 f. , 18; sowie ders . , Critical Idealism as a Philosophy of Culture, S. 89 ff.

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ren, deren Sinn davon bestimmt ist, daß das, was methodische Setzung ist, metaphysisch umgedeutet wird. Dabei hätte ihn schon früh, spätestens je­ doch im Zusammenhang seiner Studien zum Problem Jean ]aques Rousseau die Distanz, die Kant in Anlehnung an Rousseau zwischen die Begriffe Kul­ tur und Zivilisation setzt50, darauf hinweisen müssen, daß sich das politische Leben stets »auf vulkanischem Boden«51 abspielt. Gewiß kann von Ge­ schichte nur dort gesprochen werden, wo die Betrachtung nicht mehr in der bloßen Ereignisreihe, sondern wo sie in ihr als einer Reihe von Handlungen steht; und sicherlich haben Handlungen notwendig den Gedanken der Frei­ heit zu ihrer Voraussetzung. Daraus allerdings, daß die »geistig-geschicht­ liche Entwicklung der Menschheit mit dem Fortgang, der immer schärferen Erfassung und mit der fortschreitenden Vertiefung des Freiheitsgedankens« zusammenfallen soll, folgt keineswegs der Zwang, den Fortschritt von der »natürlichen Gebundenheit« im Mythos zum »autonomen Bewußtsein des Geistes von sich selbst und seiner Aufgabe«52 in der Wissenschaft als das im geistigen Sinne einzig wahrhafte Geschehen auszuzeichnen, auch wenn von Kant an anderer Stelle dies durch die Formulierung nahegelegt zu werden scheint: »Die Geschichte muß selbst zur Besserung der Welt den Plan enthal­ ten, und zwar nicht von den Theilen zum Ganzen, sondern umgekehrt. Was nutzt Philosophie, wenn sie nicht die Mittel des Unterrichts der Menschen auf ihr wahres Bestes lenkt ?«53 Die sich nicht nur in diesen Sätzen formulierende Einsicht Kants, daß die Kultur als das »System aller Zwecke, die zugleich Mittel sind, von der Philo­ sophie als der Wissenschaft der Beziehung aller Wissenschaften auf die wesentliche Zwecke der menschlichen Vernunft nur dann gerechtfertigt wer­ den [kann], wenn sich die Subjekte kulturell-geschichtlichen Handeins der praktischen Vernunft unterstellen, d. h . sich als moralische Wesen begreifen, die das ganze System der Mittel und Zwecke nach einem >Endzweck< zu beurteilen und zu gebrauchen verstehen«54, ist für Cassirer zeitlebens Ver5 0 So heißt es bei Kant (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht; ed. Cassirer IV, S. 1 6 1 ) : [ . . . ] und Rousseau hatte so Unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden vorzog, sobald man nämlich diese letzte Stufe, die unsere Gattung noch zu ersteigen hat, wegläßt. Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft kultiviert. Wir sind zivilisiert bis zum Überlästigen zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber uns schon für moralisiert zu halten, daran fehlt doch sehr viel . Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht bloß die Zivilisierung aus . « 5 1 MS, S . 364. 52 KLL, S . 242; vgl. FF, S . XV. 53 I . Kant, Reflexionen zur Anthropologie, Nr. 1438, Akad. XV,2, S . 628; vgl . EoM, S. 92 •Wenn der Ausdruck >Menschheit< überhaupt einen Sinn hat, dann bedeutet er, daß trotz aller Unterschiede und Gegensätze, die zwischen den Kulturformen bestehen, diese Formen doch alle auf ein gemeinsames Ziel gerichtet sind. Im Laufe der Entwicklung der Kultur muß sich ein ausgeprägtes Merkmal, ein allgemeiner Charakterzug finden lassen, in dem diese Gestaltungen alle übereinstimmen und harmonieren. « 5 4 M . Riede!, Geschichtstheologie, Geschichtsideologie, Geschichtsphilosophie, S . 222 . ..

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Neuntes Kapitel

pflichtung auch dann geblieben, wenn er an ihr zu verzweifeln zunehmend mehr Anlaß fand . So lassen sich spätestens mit Beginn der Exilzeit immer wieder Anstrengungen beobachten, die letztlich vom »psychologischen Opti­ mismus«55 des 18. Jahrhunderts getragene Idee geschichtlich-kulturellen Fortschritts zugunsten einer Bildungstheorie zurückzunehmen, die zwar ebenfalls in der Idee Menschheit ihren methodischen Leitstern hat, in ihrem Bemühen jedoch, dieses Ideal inhaltlich zu präzisieren, bescheidener ist: Wenn »Bildung und Umbildung organischer Gestalten« das große Thema aller Morphologie der Natur ist, so ist die »Beleuchtung« der Beziehung zwischen Bewegung und Ruhe, Gestalt und Metamorphose verschieden, je nachdem ob die organische Natur oder aber die menschlichen Kulturgebilde thematisch sind . In der Welt der Natur betrifft der Aufstieg von einer >nie­ deren< zu einer >höheren< Form ausschließlich den Fortgang von einer zur anderen Gattung. »Der genetische Gesichtspunkt ist hier immer und not­ wendig ein generischer Gesichtspunkt. Was die Individuen betrifft, so fallen sie aus dieser Betrachtungsweise notwendig heraus; wir wissen von ihnen nichts und wir brauchen von ihnen nichts zu wissen. Denn die Veränderun­ gen, die sich von ihnen vollziehen, wirken auf die Gattung nicht unmittelbar zurück und gehen in ihr Leben nicht ein . Hier besteht jene Schranke, die die Biologie als die Tatsache der Nicht-Vererbbarkeit bezeichnet. Die Variatio­ nen, die sich im Kreise der Pflanzen- und Tierwelt in einzelnen Exemplaren vollziehen, bleiben biologisch belanglos; sie tauchen auf, um wieder zu ver­ sinken. [ . . . ] In den Kulturphänomenen aber ist diese biologische Schranke beseitigt. Der Mensch hat in den >symbolischen FormenGeist< hat geleistet, was dem >Leben< versagt blieb . Hier ist das Werden und Wirken des einzelnen in ganz anderer, und tiefer eingreifen­ der Weise mit dem Ganzen verknüpft. Was die Individuen fühlen, wollen, denken, bleibt nicht in ihnen selbst verschlossen; es objektiviert sich im Werk. Und diese Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden zu >Monumentendauernder als ErzNaturGegenstand< als Korrelat der synthetischen Einheit des Verstandes rein logisch bestimmt ist und daher nicht alle Objektivität, »son­ dern nur jene Form der objektiven Gesetzlichkeit [bezeichnet], die sich in den Grundbegriffen der Wissenschaft, insbesondere in den Begriffen und Grundsätzen der mathematischen Physik fassen und darstellen läßt«65, be­ deutete für Cassirer die Notwendigkeit, die kantianisierende Vernunftkritik der Marburger Schule zu einer Kritik der Kultur zu erweitern, in der »die Grundthese des Idealismus ihre eigentliche und vollständige Bewährung«66 finden soll. Ihr geht eine sowohl in Freiheit und Form als auch in der Kant­ Monographie intensive Auseinandersetzung mit dem von Herder gegen Kant entwickelten Geschichtsbegriff voraus, die bleibende Spuren hinterläßt: Dort, wo es nicht mehr darum geht, die Lebensäußerungen der Menschheit auf Regeln und Begriffe zu bringen, sondern sie in ihrer unendlichen Vielfalt und Verschiedenheit nachzuempfinden und nachzuerleben, zeigt sich, daß »kein einzelner abstrakter Maßstab, kein einförmiger sittlicher Norm- oder Idealbegriff« diese Vielgestaltigkeit als solche zu erfassen und in ihrem Ge­ halt auszuschöpfen vermag. Ihr gegenüber reduziert sich vielmehr die Idee einer stetig weiterschreitenden intellektuellen und sittlichen Vervollkomm­ nung des Menschengeschlechts auf den Sinn einer allzu hoch angesetzten Fiktion, durch die das jeweils letzte Zeitalter sich berechtigt glaubt, »auf alle früheren, als verlassene und überwundene Bildungsstufen, herabzuse­ hen . «67 Der Anerkennung der ursprünglichen Mehrdimensionalität des Geistes geht der Verzicht auf jegliches Vollkommenheitsideal und jedes sich auf es beziehende Prinzip kultureller Entwicklung voraus . »Statt des >FortschrittsDinge< und ihre ruhenden >Merkmale< angewandt werden; dort, wo sie zur Charakterisierung geschichtlicher Prozesse oder in sich dynamischer Gestalten herhalten sollen, erweisen sie sich als untauglich . Deren spezifischer Gehalt ist von der Besonderheit der Zeitstelle bzw. dem besonderen Bildungsgesetz der jeweils untersuchten symbolischen Form ab­ hängig. In beiden Fällen besteht die Möglichkeit nicht, diesen Gehalt ohne eingreifende Veränderung von einer Stelle in eine andere, von einem Refe­ renzsystem in ein anderes zu übertragen: »Um eine bestimmte Beziehungs­ form in ihrem konkreten Gebrauch und in ihrer konkreten Bedeutung zu charakterisieren, [ist] nicht nur die Angabe ihrer qualitativen Beschaffenheit als solcher, sondern auch die Angabe des Gesamtsystems, in dem sie steht, erforderlich . «70 Cassirer zufolge stellen diese Überlegungen jedoch nicht in Frage, daß es Entwicklungen in der Geschichte gibt, sondern lediglich die Möglichkeit, die Grundform des historischen Werdens als Entwicklung zu explizieren. An ihre Stelle tritt der Gestaltwechsel, jener Begriff der Metamorphose, wie ihn Goethe im Anschluß an die poetische Geschichtsbetrachtung Herders ausge­ bildet hat. Mit ihm ist im Unterschied zur Entwicklung, die sich in einzelne Stadien auseinanderlegt, eine qualitative Veränderung bezeichnet, die zu­ gleich eine Umzentrierung des ganzen Menschen und seiner Kultur ist. Das Moment durchgängiger Verschiedenheit ist in die fertige Gestalt, das Mo­ ment der Einheit hingegen in das Prinzip der Bildung, das Prinzip des >>>Primats< der Funktion vor dem Gegenstand«71 gelegt. Dadurch, daß das bildende Prinzip als funktionale Einheit der symbolischen Formen und Funktionen gesetzt wird, erscheint das, was beispielsweise Hegel als sich aufhebende Differenz zwischen dem natürlichen und dem vollendeten Be­ wußtsein interpretiert, nicht als zwei Momente ein und desselben, sondern als unüberbrückbare Ebenendifferenz . Auf welche symbolische Form auch immer sich also die Kritik bezieht, in ihnen allen findet sich jene >Eine im Vielen< als die »Einheit der Beziehung, kraft deren ein Mannigfaltiges sich als 69

PsF I, S. 29. PsF I, S . 3 1 . 7 1 PsF I, S . 1 1 ; vgl. a. a . 0 . , S. 8 f. 70

Ausdruck - Darstellung - Bedeutung

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innerlich zusammengehörig bestimmt. [ . . . ] Sie wirkt im Kleinsten wie im Größten : sie beherrscht die Gesamtheit des Erkennens vom einfachsten sinn­ lichen Wiederfinden und Wiedererkennen bis hinauf zu jenen höchsten Konzeptionen des Gedankens, in denen er alles Gegebene überschreiter, in denen er, über die bloße >Wirklichkeit< der Dinge hinausgehend, sein freies Reich des >Möglichen< errichtet. «72 Ersichtlich aber ist diese Einheit der Be­ ziehung identisch mit der reinen Bedeutungskategorie, für die Cassirer bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff den Nachweis geführt hat, daß sie notwendig unverständlich bleibt, solange ihr irgendwelche Seinsbe­ stimmungen untergeschoben werden. »Statt auf irgendwelche Eigenschaften gegebener Dinge, statt auf das Bild einer schon vorhandenen Wirklichkeit, muß man [ . . . ] auf die reinen Bedingungen der Setzbarkeit einer >Wirklich­ keit< überhaupt zurückgehen. Weil und sofern der reine Begriff zu diesen Bedingungen gehört, kann sich das Denken in ihm und kraft seiner auf Ob­ jekte beziehen, kann es gegenständliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen. « 73

n

73

PsF III, S. 348 . PsF III, S. 380.

ZEHNTES KAP ITEL

ZuR RESTITUIERUNG DER URSPRUNGSFRAGE

Der Nachweis , daß in jedem Weltbegriff und jeder symbolischen Form >Be­ greifen< und >Beziehen< Korrelatfunktionen sind, ist geführt: Unabhängig davon, ob die >Welt< als Inbegriff sinnlicher oder logischer, realer oder idealer Gegenstände thematisch wird, daß sie überhaupt als Welt thematisch wer­ den kann, hat seinen Grund in den reinen Prinzipien der Gliederung und Gestaltung, jenen logischen Invarianten des Gedankens >synthetische Ein­ heitLeben< und >Geist< - zur Kritik der Philosophie der Gegenwart« . In: H . J. Braun, H . Holzhey, E . W. Orth (Hrsg . ) . Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Frankfurt 1 988, S . 274 -289. Wolandt, Gerd: Cassirers Symbolbegriff und die Grundlegungsproblematik der Gei­ steswissenschaften . In: Zeitschrift für philosophische Forschung XVIII, 1 964, s. 6 1 4 - 626.