Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten [1 ed.] 9783428455539, 9783428055531

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Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten [1 ed.]
 9783428455539, 9783428055531

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Beiträge zum Parlamentsrecht

Band 8

Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten Von

Dr. Jörg Kürschner

Duncker & Humblot · Berlin

JÖRG KüRSCHNER

Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten

Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Norbert Achterberg

Band 8

Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten

Von

Dr. Jörg Kürschner

DUNCKER &

HUMBLOT I BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kürschner, Jörg: Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten / von Jörg Kürschner. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Beiträge zum Parlamentsrecht; Bd.8) ISBN 3-428-05553-5 NE:GT

D6 Alle Rechte vorbehalten @ 1984 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 8·428-05553-5

Meiner Mutter

Geleitwort Die vorliegende Untersuchung hat in dem Verfasser, der als wissenschaftlicher Assistent eines Bundestagsabgeordneten praktische parlamentarische Kenntnisse erwerben konnte, einen kompetenten Bearbeiter gefunden. Ihre Aktualität gewinnt sie daraus, daß es in nahezu allen Legislaturperioden fraktionslose Abgeordnete gibt, die aufgrund der zwar nicht verfassungsrechtlich, wohl aber geschäftsordnungsrechtlich vorgesehenen Gliederung des Parlaments in Fraktionen Ausnahmecharakter besitzen und notwendigerweise auch haben müssen. Dieser Atypizität entspricht die verminderte Rechtsstellung des fraktionslosen Abgeordneten, die um der mandatsnotwendigen Handlungseffizienz auch eines solchen Mitglieds des Parlaments willen indessen Grenzen haben muß. Daß sich hieraus mancherlei Probleme ergeben, die nicht zuletzt aus der Vorbereitung der Plenarentscheidungen durch die Ausschußarbeit folgen, liegt nahe. Dem Verfasser ist es zu danken, daß er ihnen unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung mit Sorgfalt nachgegangen ist und sachgerechte Lösungsvorschläge unterbreitet hat.

Norbert Achterberg

Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist Thema einer Dissertation, die Anfang 1983 fertiggestellt wurde. Rechtsprechung und Literatur sind bis dahin berücksichtigt worden. Außerordentlichen Dank für die wissenschaftliche Begleitung der Arbeit schulde ich meinem Betreuer, Herrn Prof. Dr. Friedrich E. Schnapp. Zum Gelingen der Arbeit trug darüber hinaus durch wertvolle Anregungen aus der Praxis Herr Dr. Hans-Achim Roll, Regierungsdirektor im Fachbereich Parlamentsrecht der Bundestagsverwaltung, bei. Bei der Materialsuche war die wohlwollende Unterstützung durch die Verwaltung des Deutschen Bundestages äußerst hilfreich. Dieses Buch habe ich meiner Mutter gewidmet. Ohne ihre Unterstützung hätte die Untersuchung nicht abgeschlossen werden können. Bonn, im Juni 1983 Jörg Kürschner

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung ........................................................

21

11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten ... . . . ........

23

1. Die parlamentarische Entwicklung in der Frankfurter National-

versammlung .................................................. 23 a) Die Notwendigkeit einer Geschäftsordnung in der Frankfurter Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23 b) Der Besetzungsmodus der Ausschüsse ........................

24

c) Bildung und Einfluß der Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

25

d) Die Stellung des fraktionslosen Abgeordneten ................ 27 2. Die parlamentarische Entwicklung in Preußen ..................

27

a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen ...... 27 b) Die Bildung der Fraktionen ..................................

27

c) Der Machtzuwachs der Fraktionen und die Entmachtung des

fraktionslosen Abgeordneten ................................ 29

d) Das Problem des Minoritätenschutzes ........................ 30 3. Die parlamentarische Entwicklung im Reichstag des Norddeut-

schen Bundes und im Reichstag der Kaiserzeit .................. 31 a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen ......

31

b) Die wachsende Bedeutung der Fraktionen....................

32

c) Voraussetzungen der Geschäftsordnung an die Fraktionsbil-

dung ....................................................... 33 aal Die Monopolisierung der Kommissionsbesetzung durch die Fraktionen .............................................

34

bb) Die Bedeutung des Seniorenkonvents für die Besetzung der Kommissionen ...................................... 35 d) Die Entmachtung des fraktionslosen Abgeordneten. . . . . . . . . ..

37

12

Inhaltsverzeichnis 4. Die parlamentarische Entwicklung in der Weimarer Zeit ........

39

a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen ...... 39 b) Die Anerkennung der Fraktionen durch die Geschäftsordnung 40 c) Die Stärkung der Fraktionen durch die Geschäftsordnung .... 41 d) Die Entmachtung des fraktionslosen Abgeordneten . . . . . . . . . ..

43

e) Der Einfluß von Parteien und Fraktionen auf das Parlament ..

45

5. Die parlamentarische Entwicklung im Deutschen Bundestag ....

45

a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen ...... 45 b) Der Zwang in die Fraktion .................................. 46 aa) Das Problem der Fraktionsmindeststärke bei 15 Abgeordneten ................................................... 48 bb) Das Problem der Fraktionsmindeststärke bei 26 Abgeordneten . .................................................. 49 ce) Die Versagung des Fraktionsstatus im Bayerischen Landtag 1974 ................................................

50

dd) Das Erfordernis der gleichen Parteizugehörigkeit bei Bildung einer Fraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

52

c) Die Vertretung in den Ausschüssen ..........................

53

d) Die Auswirkungen der Geschäftsordnung auf das politische Kräfteverhältnis im Deutschen Bundestag (1. WP) ............ 55 e) Die Entwicklung zum Drei-Parteien-System im Deutschen Bundestag (2. WP) .......................................... 56 f) Die Etablierung des Drei-Parteien-Systems im Deutschen Bun-

destag (3. WP) bis zur Gegenwart ............................ 57

g) Die fraktionslosen Abgeordneten des Deutschen Bundestages ohne Ausschußsitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

58

h) Die Bedeutung der Geschäftsordnungsreform 1951 für die Repräsentanz in den Ausschüssen ..............................

59

i) Die Entwicklung des Deutschen Bundestages zum Fraktionenparlament ..................................................

60

IH. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten .... 62 1. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Frankfurter Reichs-

verfassung von 1849 ............................................

62

Inhaltsverzeichnis

13

2. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Preußischen Verfassung von 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

63

3. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 ....................................

64

a) Die politischen Parteien in der Gesetzgebung des Deutschen Reiches .....................................................

64

b) Das freie Mandat in der Deutschen Reichsverfassung . . . . . . . ..

65

c) Das freie Mandat in der Verfassungswirklichkeit . . . . . . . . . . . ..

66

4. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Weimarer Reichsverfassung von 1919 ............................................

67

a) Die politischen Parteien in der Gesetzgebung des Weimarer Reiches .....................................................

67

b) Das freie Mandat in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . ..

68

c) Das freie Mandat in der Verfassungswirklichkeit . . . . . . . . . . . ..

69

5. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz von 1949 ...........................................................

70

a) Das Spannungsverhältnis zwischen Art. 38 GG und Art. 21 GG

70

b) Mandatsverlust bei Parteiausschluß/-austritt . . . . . . . . . . . . . . . ..

72

aa) Der Vorrang des Art. 38 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

72

bb) Der Vorrang des Art.21 GG ............................

72

ce) Art. 38 GG und Art. 21 GG als Gegensatz ................

73

dd) Art. 38 GG als lex specialis zu Art. 21 GG ................

74

c) Der fraktionslose Abgeordnete in diesem Spannungsverhältnis

74

aa) Der fraktionslose Abgeordnete und das imperative Mandat

74

bb) Die Unterscheidung von ,Listenabgeordneten' und ,Wahlkreisabgeordneten' ......................................

76

ce) Der fraktionslose Abgeordnete und der Vorrang des Art. 38

GG ................. , ...................................

76

dd) Der fraktionslose Abgeordnete im Lichte der herrschenden Meinung ................................................

77

d) Das Grundgesetz als Träger der Verfassungswirklichkeit . . . ..

78

e) Der fraktionslose Abgeordnete als Träger des ,freien Mandats'

78

f) Die Notwendigkeit einer Neudefinition des ,freien Mandats' ..

79

14

Inhaltsverzeichnis

IV. Prüfung einer Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten .................................................... 80 1. Der Freiheitsraum des Abgeordneten unter Berücksichtigung der

Geschäftsordnungsautonomie ................................... 80 a) Die Geschäftsordnungsautonomie in parlamentshistorischer Kontinuität ................................................. 80 b) Das Selbstorganisationsrecht als Ausfluß der Geschäftsordnungsautonomie ............................................ 81 aal Art. 38 GG als Grenze der Geschäftsordnungsautonomie .. 81 bb) Das Grundgesetz als Grenze der Geschäftsordnungsautonomie .................................................. 82

2. Die Rechte der Fraktionen aus § 57 Abs.2 GOBT ................ 82 a) Das Benennungsrecht der Fraktionen nach der GOBT ........ 82 b) Die verfassungsrechtliche Anerkennung der Fraktionen ...... 83 c) Das Benennungsrecht gemäß § 57 Abs. 2 GOBT in der Praxis .. 83 d) Das (angebliche) Abberufungsrecht der Fraktionen . . . . . . . . . .. 84 e) Das (angebliche) Abberufungsrecht in seinen Alternativen .... 85 f) Das (angebliche) Abberufungsrecht im Verhältnis zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG .............................................. 86 aal Der Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 87 bb) Der Meinungsstand in der Rechtsprechung. . . .. . .. . . . . ...

91

g) Das (angebliche) Abberufungsrecht im Lichte des ,Kernbereichs' des Abgeordnetenmandats ............................ 92 3. Die Rechte des fraktionslosen Abgeordneten nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages ............................ 93 a) Die Tätigkeit im Ausschuß .................................. 93 aal Das Zutrittsrecht des fraktionslosen Abgeordneten zu den Ausschüssen ............................................ 93 bb) Das Antragsrecht des fraktionslosen Abgeordneten in den Ausschüssen ............................................ 94 cc) Ergebnis

............................................... 94

b) Das Antragsrecht im Plenum ................................ 95 aal Das Recht des fraktionslosen Abgeordneten, Abänderungsanträge zu stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 95

Inhaltsverzeichnis

15

bb) Die Konkretisierung dieses Rechts ........... , . . . . . . . . . ..

96

ce) Ergebnis

...............................................

97

c) Das Fragerecht .............................................

97

aa) Die Konkretisierung dieses Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

97

bb) Ergebnis

...............................................

98

d) Das Rederecht im Plenum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

99

aa) Die Konkretisierung dieses Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

99

bb) Die Funktion des Bundestagspräsidenten bei der Wahrnehmung dieses Rechts ..................................... 100 ce) Weitere Artikulationsmöglichkeiten des fraktionslosen Abgeordneten nach der GOBT .............................. 101 dd) Ergebnis ............................................... 102 e) Sonstige Rechte nach der Geschäftsordnung des Bundestages 103 Exkurs: Die finanzielle Ausstattung von Fraktionen und frak-

tionslosen Abgeordneten ....................................... 104 aa) Die Zuschüsse der Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 104 bb) Die finanzielle Ausstattung des fraktionslosen Abgeordneten ................................................... 105 ce) Ergebnis

............................................... 105

f) Resümee .................................................... 106

4. Die Bedeutung der Ausschüsse im Deutschen Bundestag . . . . . . . .. 107 a) Die Bildung der Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 107 b) Die Aufgaben der Ausschüsse ................................ 108 c) Die Aufgabenverlagerung vom Plenum in die Ausschüsse ..... 110 d) Der Machtzuwachs der Ausschüsse in früheren deutschen Parlrunenten ................................................... 112 e) Der Machtzuwachs der Ausschüsse im Deutschen Bundestag

112

5. Die repräsentative Funktion des Abgeordneten .................. 114 a) Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . .. 114 b) Die Beschränkung der Repräsentativfunktion des fraktionslosen Abgeordneten ......................................... 115 c) Ergebnis

................................................... 116

d) Die Pflicht des Abgeordneten zur Mitarbeit (§ 13 Abs. 1 GOBT) 116

16

Inhal tsverzeichnis aal Sanktionsmöglichkeiten der GOBT bei fehlender Mitarbeit des Abgeordneten (§ 13 Abs.2 GOBT) .................... 117 bb) Ergebnis

............................................... 117

6. Die Funktion der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages 118 a) Die Sicherung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments .......... 118 b) Der Schutz parlamentarischer Minderheiten .................. 119 aal Der Begriff der parlamentarischen Minderheit ........... 120 bb) Die Gefahr der Obstruktion durch parlamentarische Minderheiten ............................................... 120 c) Der fraktionslose Abgeordnete im Spannungsfeld von Minderheitenschutz und Sicherung der Arbeitsfähigkeit ............. 122 d) Fraktionslose Abgeordnete in Ausschüssen des Deutschen Bundestages .................................................... 123 aal Minderheitenschutz im Landtag von Schleswig-Holstein

124

bb) Fraktionslose Abgeordnete im Europäischen Parlament

124

e) Die Rechte des fraktionslosen Abgeordneten in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages .............................. 126 f)

Verstoß des § 57 Abs.2 GOBT gegen den parlamentarischen Minderheitenschutz ......................................... 127

7. Der Anspruch des (fraktionslosen) Abgeordneten auf Ermöglichung sinnvoller Betätigung (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) . . . . . . . . . . . .. 129 a) Realisierung des Anspruchs durch Mitarbeit des Abgeordneten im Ausschuß ................................................ 129 b) Verfassungswidrigkeit des § 57 Abs.2 GOBT wegen Verstoßes gegen Art. 38 Abs. 1 S.2 GG ................................. 131 8. Der Kernbereich des Abgeordnetenmandats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 132 a) Die Tätigkeit des fraktionslosen Abgeordneten im Ausschuß als Kernbereichsrecht ....................................... 132 b) Die Forderung nach Erweiterung der ,traditionellen' Kernbereichsrechte ............................................ .. 132 aal Die Chance auf den Fraktionsstatus (BVerfG - 2 BvR 802175 -) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 134 bb) Schlußfolgerungen für den fraktionslosen Abgeordneten .. 134 c) Die Neudefinition des ,Kernbereichs' des Abgeordnetenmandats ........................................................ 135

Inhaltsverzeichnis

17

d) Verfassungswidrigkeit des § 57 Abs.2 GOBT wegen Verstoßes gegen Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136 e) Verfassungswidrigkeit des § 57 Abs. 2 GOBT wegen Verletzung des Kernbereichs des Abgeordnetenmandats aus Art. 38 Abs. 1 S.2 GG ..................................................... 137 V. Eigene Lösungsvorschläge ......................................... 139 l. Die Ausschußmitgliedschaft des fraktionslosen Abgeordneten in

der parlamentarischen Praxis .................................. 139 a) Berechnungsverfahren für die Zusammensetzung der Ausschüsse ..................................................... 139 b) Die Praktikabilität der ordentlichen Mitgliedschaft des fraktionslosen Abgeordneten im Ausschuß ....................... 140 c) Die Bestimmung des Ausschusses für den fraktionslosen Abgeordneten ................................................. 143

2. Vorschläge für eine Neudefinition des Mandats im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG .......................................... 144 a) Das ,freie Mandat' angesichts der Verfassungswirklichkeit .... 144 b) Das ,freie Mandat' des fraktionslosen Abgeordneten .......... 146 c) Die Bedeutung der Fraktionsgeschäftsordnung für den Abgeordneten ................................................... 146 d) Der Lösungsversuch Achterbergs ............................ 148 e) Die Neudefinition des Abgeordnetenmandats im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S.2 GG ....................................... 149

Schrifttum

........................................................... 151

Materialien ........................................................... 160 Sachverzeichnis ....................................................... 161

Abkürzungsverzeichnis A a.A. abgedr. AbgG Abs. Anm. AöR Art. Aufl.

BayVBl BayVGH Bd. bearb. BGBI BP BT-Drs. BV BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerwGE BWG bzw.

= Ausschuß = andere Auffassung = abgedruckt

= Abgeordnetengesetz

Absatz Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage

Bayerisches Verwaltungsblatt Bayerischer Verfassungs gerichtshof Band bearbeitet Bundesgesetzblatt = Bayernpartei Bundestagsdrucksache Bayerische Verfassung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundeswahlgesetz = beziehungsweise

CDU CH.E. CSU

Christlich Demokratische Union Entwurf von Chiemsee Christlich-Soziale Union

DDP ders. d.h. Diss. DÖV DP DPB DP/DPB DRP DRV 1871 DVBI DZP

Deutsche Demokratische Partei derselbe das heißt Dissertation Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Partei Deutsche Partei Bayern Deutsche Partei / Deutsche Partei Bayern Deutsche Reichspartei (ab 1950, 1949 zunächst Deutsche Rechtspartei) Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zentrumspartei

EP

Europäisches Parlament

f.

folgend Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei

FAZ F.D.P.

=

Abkürzungsverzeichnis

19

ff.

folgende Fußnote Frankfurter Nationalversammlung Frankfurter Reichsverfassung von 1849 Föderalistische Union Freie Volkspartei

GB/BHE

GORT 1868 GORT 1922 GOVermA GVBI

Gesamtdeutscher Block / Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten Gesetzblatt (der DDR) Grundgesetz von 1949 Geschäftsordnung des bayerischen Landtages Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von 1951 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von 1970 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von 1980 Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments Geschäftsordnung für die Frankfurter Nationalversammlung von 1848 Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß Geschäftsordnung für das Preußische Abgeordnetenhaus von 1849 Geschäftsordnung für das Preußische Abgeordnetenhaus von 1876 Geschäftsordnung für den Reichstag von 1868 Geschäftsordnung für den Reichstag von 1922 Geschäftsordnung für den Vermittlungs ausschuß Gesetz- und Verordnungsblatt (von Bayern)

HdbDStR Hess.StGH hrsg.

Handbuch des Deutschen Staatsrechts Hessischer Staatsgerichtshof herausgegeben

FN FrNV FRV 1849 FU FVP

GBI GG 1949 GObayLT GOBT 1951 GOBT 1970 GOBT 1980 GOEP GOFrNV GOGA GOPrAH 1849 GOPrAH 1876

=

i. V.m.

in Verbindung mit

JÖR JUS

Jahrbuch des Öffentlichen Rechts Juristische Schulung

KJ Konst.RT/ Norddt.Bund KPD

Kritische Justiz

Leg.Per.

Legislaturperiode

MdR m.w.N.

Mitglied des Reichstages mit weiteren Nachweisen

NDP NF NJW NLA NPD NR Nr. NSDAP

Nationaldemokratische Partei (ab 1949) Neue Folge Neue Juristische Wochenschrift Nationalliberale Aktion Nationaldemokratische Partei Deutschlands (ab 1966) Nationale Rechte Nummer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

o.J.

ohne Jahresangabe

Konstituierender Reichstag des Norddeutschen Bundes Kommunistische Partei Deutschlands

20

Abkürzungsverzeichnis

Pl.Pr. PrAH PrV 1850

Plenarprotokoll Preußisches Abgeordnetenhaus Preußische Verfassung von 1850

Reg.Bl. RGBI RN RT-Drs. RT Dtsch. NV RuP

Regierungsblatt Reichsgesetzblatt Randnummer Reichstagsdrucksache Reichstag der Deutschen Nationalversammlung Recht und Politik

S.

Sp. SPD SRP SSW Sten.Ber. StGB StGH StPO

Seite Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sozialistische Reichspartei Südschleswigscher Wählerverband Stenographische Berichte Strafgesetzbuch Staatsgerichtshof == Strafprozeßordnung

u.a. Urt.

und andere Urteil

VG v.H. Vorbem. vorl. GOBT 1949

Verwaltungs gericht von Hundert Vorbemerkung vorläufige Geschäftsordnung des Deutschen· Bundestages von 1949 Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

VVDStRL WAV WP WPG WRV 1919 Württ.StGH

Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung Wahlperiode Wahlprüfungsgesetz Weimarer Reichsverfassung von 1919 Württembergischer Staatsgerichtshof

Z ZParl ZPO ZRP ZStW

Zentrum Zeitschrift für Parlamentsfragen Zivilprozeßordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

I. Einleitung Aus dem Jahre 1907 stammt die Äußerung des Parlamentariers HeZlmuth von Gerlach1 "Nulla salus nisi in fractione", die einen Hinweis auf

die beschränkte parlamentarische Aktionsfähigkeit des fraktionslosen Abgeordneten gibt. Diese Einschätzung von Gerlachs zieht sich indes wie ein roter Faden durch den deutschen Parlamentarismus. Robert von Mohl2, der große Parlamentarier und ParlamentsrechtIer der Frankfurter Nationalversammlung von 1848, hielt bereits damals die Haltung der ,Wilden' für einen Fehler, für sittlich tadelnswert. Zwar werden fraktionslose Parlamentarier der Gegenwart nicht mehr als ,Wilde', ,Strandläufer', ,Finken', ,Kamele', ,Einzelgänger', ,Stehgreifritter'3 diskriminiert, doch das Gefühl, ein ,Fremdkörper' im Parlament zu sein, ist bis heute geblieben. Dies verwundert nicht, denn der Parlamentsalltag des fraktionslosen Abgeordneten wird geprägt durch die Einschnürung in ein sehr enges Geschäftsordnungskorsett, durch die ,Verbannung' in die hintersten Reihen des Plenarsaales sowie durch geringschätziges Verhalten der übrigen fraktionsgebundenen Kollegen4 • Die eingangs zitierte Feststellung von Gerlachs gilt noch heute, daraus ergibt sich die Notwendigkeit der vorliegenden Arbeit. Die bisher erschienenen Bearbeitungen des Parlamentsrechts sparen den parlamentarischen Status des fraktionslosen Abgeordneten aus. In der parlamentsrechtlichen Diskussion wird zwar ausnahmslos seine parlamentarische Bedeutungslosigkeit konstatiert, die sich daraus ergebenden Rechtsfragen werden jedoch nicht unter Berücksichtigung der maßgeblichen Verfassungsvorschriften beantwortet, sondern an Hand politischer Zweckmäßigkeitsentscheidungen. Die jüngste parlamentarische Entwicklung im BundS wie in den Ländern gibt Anlaß zu der Annahme, daß dem Status des fraktionslosen Parlamentariers künftig größere 1 Gerlach, Hellmuth von: Das Parlament, in: Die Gesellschaft, Bd.17, Frankfurt/M. 1907, S.31. 2 Mahl, Robert von: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, 2. Bd., Tübingen 1862 (Neudruck 1962), S.33. 3 Kramer, Helmut: Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819-1849, in: Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd.7, Berlin 1968, S.202, FN 1. 4 Exemplarisch die mit Zwischenrufen kommentierte Rede des fraktionslosen Abgeordneten (}ruhl in Pl.Pr. 8 WP/221. Sitzung/13. 6. 1980/S. 17846 B. S Berücksichtigt bis 29. 2. 1984.

22

I. Einleitung

Aufmerksamkeit zuteil werden wird als bisher. In diesem Zusammenhang wird die Frage nach der Innovationsfähigkeit der Parlamente neu gestellt werden müssen, einzelne Bestimmungen ihrer Geschäftsordnungen werden kritischer Erörterung ausgesetzt sein, nicht zuletzt unter dem Hintergrund, daß "Geschäftsordnungsfragen Machtfragen sind"6. Mit dieser Arbeit soll das Problembewußtsein für parlamentarische Minderheiten unter besonderer Berücksichtigung der Verfassung und der Verfassungswirklichkeit geschärft werden; entsprechend dieser Prämisse mögen die aufgezeignen Lösungswege in die parlamentsrechtliche Diskussion Eingang finden.

6 So der Präsident des Deutschen Bundestages, StückIen, bei der Debatte über die Geschäftsordnungsreform 1980 in Pl.Pr. 8 WP/225. Sitzung/25. 6.1980/ S. 18287 B.

11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten Mit dem Zusammentritt der Frankfurter Nationalversammlung am 18. 5. 1848 nahm das parlamentarische Leben in Deutschland auf Reichsebene seinen Anfang. Können wir uns in der Gegenwart nur noch den partei- und fraktionsgebundenen Abgeordneten vorstellen, der fraktionslose Mandatstriiger wird dementsprechend als "verfassungssoziologische Rarität"! angesehen, zeigt ein Rückblick in die Parlamentsgeschichte, daß sich Fraktionen erst allmählich herausbildeten, ihre rechtliche Anerkennung durch Parlamentsgeschäftsordnungen und Verfassungen noch lange auf sich warten ließ. Fraktionslose Abgeordnete waren also in früheren deutschen Parlamenten keine Seltenheit; die Kleinparlamente des Frühkonstitutionalismus sollen - wenn sich auch damals schon Ansätze zu Fraktionsbildungen nachweisen lassen außer acht bleiben, da sich in ihnen allenfalls unverbindliche "lose Gesinnungsgemeinschaften"2 bildeten. Gegenstand der Untersuchung bildet daher die parlamentarische Stellung des fraktionslosen Abgeordneten auf gesamtstaatIicher Ebene.

1. Die parlamentarische Entwicklung in der Frankfurter Nationalversammlung a) Die Notwendigkeit einer Geschäftsordnung in der Frankfurter Nationalversammlung

Die Frankfurter Nationalversammlung, die am 18. 5. 1948 in der Paulskirche in Frankfurt am Main zusammentrat, bestand aus unabhängigen Persönlichkeiten, die in erster Linie aufgrund ihres Ansehens gewählt worden waren und weniger politische Erfahrung hatten. Da politische Parteien bei der Wahl von 1848 überhaupt keine Rolle spielten3 , wird diese Versammlung als das klassische Honoratiorenparlament ! Ritzel, Heinrich, G. / Bücker, Joseph: Handbuch für die parlamentarische Praxis mit Kommentar zur Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, Frankfurt 1981, Vorbem. § 10 III 1. 2 KrameT, Helmut: Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819-1849, S.263. 3 Hauenschild, Wolf-Dieter: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, Berlin 1968, S. 23.

24

11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

beschrieben, in dem politische Individualisten und parlamentarische Grandseigneurs saßen4 • Doch schon in der Eröffnungssitzung zeigte sich, daß eine erfolgreiche parlamentarische Arbeit ohne Bildung von einheitlich auftretenden Gruppen unmöglich warS. Immer wieder versuchten Abgeordnete gleichzeitig zu sprechen; und auch nachdem eine Geschäftsordnung als Verhandlungsmaßstab diente6 , glaubten viele Abgeordnete, zu fast jedem Gegenstand ihre Meinung vortragen zu müssen, so daß die Rednerliste zu einem einzigen Punkt der Tagesordnung manmal über 100 Namen umfaßte und an einem Tag 30 bis 40 Anträge eingebracht wurden. Aufgrund des turbulenten Verlaufs der Eröffnungssitzung wurde am 29. 5. 1848 eine Geschäftsordnung angenommen. Wesentlichen Einfluß auf die Gestaltung dieser Verfahrensordnung hatten die "Vorschläge zu einer Geschäftsordnung des verfassungsgebenden Reichstages" , die Robert von Mohr wenige Tage vor deren Zusammentreten herausbrachte. Diese GeschäftsordnungS war nach heutigen Begriffen sehr großzügig9 • Zum Beispiel hatte jeder auf der Rednerliste eingetragene Abgeordnete eine Redezeit von einer halben Stunde. War die Rednerliste erschöpft, konnten weitere Meldungen angenommen werden, für die keine Begrenzung der Redezeit mehr galt. Des weiteren konnte jeder Abgeordnete Anträge einreichen; erst später wurde eine Zusatzbestimmung in die Geschäftsordnung aufgenommen, nach der die Anträge von 20 Abgeordneten unterzeichnet sein mußten10 •

b) Der Besetzungsmodus der Ausschüsse Das Parlament selbst gliedert sich in Abteilungen, die durch das Los zustande kamen. Fraktionen kannte die Geschäftsordnung nicht. Das 4 Bergsträsser, Ludwig: Die Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland, in: Schriftenreihe "Geschichte und Politik", Heft 13, Laupheim 1954, S.9; ders., Die Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 11. Aufl., München 1965, S. 16. S Siehe auch Tormin, Walter: Geschichte der deutschen Parteien seit 1848, Hamburg 1966, S. 26. 6 Ebenda. 7 Mahl, Robert von: Vorschläge zu einer Geschäftsordnung des verfassungsgebenden Reichstages, Heidelberg 1848; siehe auch Dechamps, Bruno: Macht und Arbeit der Ausschüsse, Der Wandel der parlamentarischen WiIlensbiIdung, Meisenheim 1954, S. 56. 8 Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung vom 29. 5. 1848, abgedr. in Sten.Ber. über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hrsg. von Franz Wigard, Frankfurt am Main 1848, 1. Bd., Nr. 10, 29.5. 1848, S. 163 ff. 9 Siehe Tormin, Walter: Das Parlament in der Paulskirche, in: M. Schwarz: MdR, Biographisches Handbuch der Reichstage, Hannover 1965, S.5 ff. 10 So § 29 GQFrNV 1848; vgI. auch Tormin: Parlament in der Paulskirche, S.20.

1. Die Entwicklung in der Frankfurter Nationalversammlung

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Plenum bildete außerdem 16 größtenteils permanente Ausschüsse, von denen der Verfassungs ausschuß der wichtigste war. Die 16 Abteilungen, denen die Abgeordneten nach französischem Vorbild durch das Los zugeteilt worden waren, sollten aus ihrer Mitte die Ausschußmitglieder wählen (§ 20 GOFrNV 1848). Nach dem ursprünglichen Sinn der Geschäftsordnung sollten die Ausschüsse nach reinen Fachgesichtspunkten arbeiten und nicht die Fraktionsgruppierungen des Parlaments wiederspiegeln; eine Mitwirkung politischer Gruppen bei der Ausschußbesetzung war nicht vorgesehen 11 • Nach einigen Monaten an fachlichen Kriterien orientierter Ausschußarbeit wurde der politische Einfluß der verschiedenen Gruppierungen immer stärker. Das führte dazu, daß die Ausschüsse von beratenden Fachgremien zu interfraktionellen Zusammenkünften wurden, die sich annähernd paritätisch aus den Beauftragten der politischen Gruppen zusammensetztenl2 • Somit bleibt festzustellen, daß die politischen Gruppierungen bereits im ersten deutschen gesamtstaatIichen Parlament die Besetzungsweise der Ausschüsse entscheidend bestimmten, eine Form der politischen Einflußnahme, die noch Anlaß ausgiebiger Erörterungen sein wird 13 • c) Bildung und Einfluß der Fraktionen

Angesichts der Bedeutung und der Fülle der Aufgaben, angesichts der Unerfahrenheit der Abgeordneten und ihrer mangelnden politischen Strukturierung war es die wichtigste Aufgabe, das Parlament überhaupt arbeitsfähig zu machen. Aufgrund dieser Notwendigkeit fanden sich in Sachfragen politische Gleichgesinnte zusammen, die sich berieten, Kompromisse schlossen und das gemeinsame weitere Vorgehen im Plenum besprachenl4 • In dieser Zeit taucht erstmals neben dem Begriff "Klubbs" der der "Fraktionen" auf, die sich häufig nach den Gaststätten bezeichneten, in denen sie tagten1S • Im Plenum forderten die Abgeordneten Blum, von Gagern und Lichnowski sehr bald zur Parteibzw. Fraktionsbildung im Parlament auf l6 ; die auf altIiberalen Grundsätzen beruhende Vorstellung des Abgeordneten von Mahl, der Parteien 11 Kramer, Helmut: Fraktionsbindungen in deutschen Volksvertretungen 1819--1849,S.195. 12 Kramer, Helmut: Fraktionsbindungen in deutschen Volksvertretungen 1819--1849, S. 196. 13 Siehe dazu unter IV 2. 14 Kremer, Klemens: Der Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, 2. Auf!. München 1956, S. 15. 15 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.24. 16 Sten.Ber. FrNV 1. Bd., Nr.9, 27. 5. 1848, S.122; Sten.Ber. FrNV 1. Bd., Nr.22, 22. 6. 1848, S.468.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

als einen Beweis von unfertiger staatlicher Erziehung ansah17 , setzte sich nicht durch. Damit wurde eine Entwicklung eingeleitet, die die Abgeordneten zu der Erkenntnis führte, daß politisch effizientes Handeln nur in der Gemeinschaft möglich ist. Zwar war die Fluktuation zwischen denen sich erstmals in der deutschen Geschichte bildenden Fraktionen noch sehr groß, es zeigte sich jedoch schon bald, daß sie die eigentlichen Kräfte in der Paulskirchenversammlung waren l8 • Dementsprechend stimmten die meisten Abgeordneten im Plenum gemäß dem vorher in der Fraktionssitzung ge faßten Beschluß ab. Es gelang also selbst in der Versammlung der Paulskirche nur sehr selten einmal einem Redner, die Abgeordneten derartig zu fesseln, daß sie gegen die Abmachung in der Fraktion stimmtenl9 . Die Einheitlichkeit der Abstimmung durch die Fraktionen bezog sich dabei nicht nur auf materielle Fragen, sondern auch auf Fragen der Geschäftsordnung20. Diese sich schon in den Anfängen des deutschen Parlamentarismus abzeichnende "Fraktionsdisziplin" bedeutete, daß bereits in der Frankfurter Nationalversammlung ein fraktionsloser Abgeordneter fast zur Bedeutungslosigkeit verurteilt war. So sahen sich die fraktionslosen Abgeordneten durch die praktische Handhabung des parlamentarischen Geschäftsverfahrens bei der Worterteilung und der Berücksichtigung von Anträgen sowie bei der Ausschußarbeit zurückgesetzt, wie zahlreiche Beschwerden aus ihren Reihen bezeugen21 • Dementsprechend klagte der Abgeordnete Wuttke, "daß ... nach dem vom Hohen Hause beschlossenen Geschäftsgange denjenigen Abgeordneten, welche keinem der zehn Klubbs (oder wie der Euphemismus lautet: "Fraktionen") sich angeschlossen haben, der Ausdruck ihrer Meinung außerordentlich erschwert wird"22. Angesichts dieser Entwicklung verdient Beachtung, daß es immerhin 150 Abgeordnete von insgesamt 58523 ablehnten, sich einer Fraktion anzuschließen24 • Die Entwicklung vom Honoratiorenparlament Zitiert nach Tormin: Geschichte der deutschen Parteien, S. 27. Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.24; die Abteilungen, die vor allem die Bildung von Fraktionen verhindern sollten, büßten ihre Bedeutung als Stätte der vorbereitenden Aussprache im kleinen Kreis ein, so Ziebura, Gilbert: Anfänge des deutschen Parlamentarismus. Geschäftsverfahren und Entscheidungsprozeß in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848/49, in: Festgabe für Ernst Fraenkel, Berlin 1963, S. 185 ff. (196). 19 So Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.24. 20 Ebenda. 21 So Kramer, Helmut: Fraktionsbindungen in deutschen Volksvertretungen 1819-1849, S.203. 22 Sten.Ber. FrNV 6. Bd., Nr. 143, 22. 12. 1848, S.4375. 23 Zahlenangabe bei Tormin: Parlament in der Paulskirche, S. 7. 24 Tormin: Geschichte der deutschen Parteien, S.27. 17

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Hauenschild:

2. Die Entwicklung in Preußen

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der Einzelpersönlichkeiten hin zum Fraktions- bzw. Parteienparlament war dadurch freilich nicht mehr aufzuhalten. d) Die Stellung des fraktionslosen Abgeordneten

Wenn hier die Möglichkeiten des Abgeordneten als unabhängiges Einzelwesen, das sich bei Abstimmungen in erster Linie von Sachfragen leiten läßt, untersucht werden, so soll von vornherein klargestellt werden, daß eine bestimmte organisatorische Eingliederung des einzelnen Abgeordneten im parlamentarischen Alltag als unverzichtbar erscheint, da die oben beschriebenen Zustände politisches Handeln überhaupt unmöglich machen würden. Die Bedeutung und der Einfluß von Fraktion und Geschäftsordnung auf die Stellung des fraktions losen Abgeordneten, die hier in ihrer politischen und rechtlichen Brisanz erstmals ansatzweise sichtbar werden, können jedoch ein Spannungsfeld erzeugen, das - wie noch darzulegen ist - in der weiteren parlamentarischen Entwicklung erheblich stärkere Konturen annehmen und dementsprechend konfliktbezogen sein wird. 2. Die parlamentarische Entwicklung in Preußen a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen

Die Geschichte der heutigen Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages geht zurück auf die Geschäftsordnung der Zweiten Kammer des Preußischen Landtages vom 28. 3. 184g25. Im Gegensatz zum Herrenhaus, der Ersten Kammer, war die Mitgliedschaft in der Zweiten Kammer des Preußischen Landtages nicht von geburts- oder besitzständischen Bedingungen abhängig. Die inzwischen in Preußisches Abgeordnetenhaus umbenannte Zweite Kammer revidierte diese Geschäftsordnung durch Beschluß vom 6. 5. 186226 • Sie blieb bis zum Jahre 1868 unverändert, die danach vom Abgeordnetenhaus vorgenommenen Änderungen können außer acht bleiben, da sie die vorliegend zu erörternde Problematik nicht berühren.

b) Die Bildung der Fraktionen Wie sich bereits in der Zeit der Frankfurter Nationalversammlung abzeichnete, kam es gleich zu Beginn der ersten Legislaturperiode der Sten.Ber. PrAH 1. Leg.Per. 1849, S. XXV ff. Siehe dazu Rönne, Ludwig von: Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, 1. Bd., 4. AufI. Leipzig 1881, S. 325 ff. 25

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

Preußischen Zweiten Kammer zu mannigfaltigen FraktionsbildungenZ7 • Wenn auch die Angaben über die Fraktionslisten als nicht völlig gesichert gelten können28 , zählt man in der ersten Legislaturperiode 1849 bereits sieben Fraktionen (einschließlich der Polen), in der vierten Legislaturperiode registrierte man die Höchstzahl von neun Fraktionen29 • Allen Gesetzgebungsperioden des Preußischen Abgeordnetenhauses gemeinsam ist die hohe Zahl von fraktionslosen Parlamentariern, die allerdings von Wahlperiode zu Wahlperiode sank. Während in der zweiten Legislaturperiode noch 69 von 352 Parlamentariern keiner Fraktion angehörten, waren es in der 20. Gesetzgebungsperiode 1908 nur noch fünf von insgesamt 433 Abgeordneten, wobei Hospitantenverhältnisse parteiloser Abgeordneter nicht mitberücksichtigt wurden30 • Der relativ niedrige Organisationsgrad dieser Fraktionen, die noch Mitte des 19. Jahrhunderts eher den Charakter lockerer zwangloser innerparlamentarischer Verbindungen trugen und erst nach und nach fester und geschlossener wurden3!, sagte aber nichts über ihre tatsächliche Macht aus. Zwar herrschte noch die Vorstellung, daß im Parlament ungebundene und nur ihrem Gewissen verantwortliche Repräsentanten des ganzen Volkes zusammenkämen, und daß jeder Abgeordnete eigentlich eine Partei darstelle32 , jedoch wäre es ein Fehlschluß anzunehmen, diese lockeren Gruppierungen, die sich noch bis zum Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts entweder nach ihren Führern (Graf Schlieffen, von Arnim). oder nach ihren Versammlungsorten ("bei Tietz", "bei Karl") nannten33 , würden dadurch die politischen Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten erhöhen. Häufig veröffentlichten die Kandidaten im Wahlkampf ein Wahlprogramm, das Vorbehalte oder besondere Akzentuierungen gegenüber dem Programm ihrer Fraktion enthielf4, doch wurden bereits zu Beginn des "Zeitalters der Fraktionen" zahlenmäßig durchaus bedeutende Minderheiten durch Bestimmungen der Geschäftsordnung und durch die parlamentarische Praxis in der Durchsetzung ihrer Abgeordnetenrechte beschnitten.

Z7 Plate, August: Handbuch für das Preußischen Abgeordnetenhaus, 20. Legislaturperiode, Berlin 1904 ff., S. 189; Fischer, Ferdinand: Geschichte der Preussischen Kammern vom 27. IV. 49, Berlin 1849, S. 239 ff. 28 Plate: Handbuch Preußisches Abgeordnetenhaus, S. 189. 29 Ebenda, S. 190 f. 30 Siehe Plate: Handbuch Preußisches Abgeordnetenhaus, S. 190 ff. sowie den 2. Nachtrag S. 122; Tormin: Geschichte der deutschen Parteien, S.47. 31 Naumann, Friedrich: Die Politischen Parteien, Berlin 1910, S.8. 32 Siehe Tormin: Geschichte der deutschen Parteien, S.47. 33 Naumann: Politische Parteien, S. 8. 34 Tormin: Geschichte der deutschen Parteien, S.47.

2. Die Entwicklung in Preußen

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c) Der Machtzuwachs der Fraktionen und die Entmachtung des jraktionslosen Abgeordneten So wurden gemäß § 19 CIS. 2 der Geschäftsordnung für die Zweite Kammer vom 28. 3. 1849 die Kommissionsmitglieder durch die Abteilungen gewählt. Darüber hinaus war es Aufgabe der Abteilungen, die Vorlagen vorzuberaten sowie die Wahlprüfung vorzunehmen35 • In die Abteilungen, die nach französischem und belgischem Muster in die Geschäftsordnung von 1849 eingeführt worden waren, wurden die Parlamentarier ohne Rücksicht auf ihre politischen Ansichten in der Weise "hineingelost"36, daß etwa sieben Abteilungen mit annähernd gleicher Mitgliederzahl entstanden. Die Abteilungen waren aufgrund der Heterogenität ihrer Zusammensetzung sowie ihrer umständlichen Arbeitsweise seit ihrer Entstehung umstritten, und es gab zahlreiche Bestrebungen, sie abzuschaffen37 • Viel entscheidender hingegen waren die Vorberatungen in den Fraktionen, in denen die eigentliche Information der Abgeordneten stattfand38 • Entsprechend ihrer wachsenden Bedeutung bestimmten die Fraktionen auch bald die Mitglieder der Kommissionen39 , den Vorläufern der heutigen Ausschüsse, in denen die Entscheidungen des Plenums durch Fachberatungen vorbereitet wurden. Dies bedeutete, daß fraktionslose Abgeordnete, die damals einen recht hohen Anteil im Parlament stellten4O , von der Kommissionsarbeit ausgeschlossen waren. Die Entmachtung des einzelnen Abgeordneten aber ging noch weiter. Nicht nur fraktionslosen Abgeordneten blieb die Wahl in die Kommission versperrt, selbst die Minderheitsparteien, also eine Gruppe von mehreren Abgeordneten, haben sich häufiger darüber beklagt, daß sie bei den Kommissionswahlen nicht oder nicht genügend berücksichtigt wurden41 • Die zunehmende Macht der Fraktionen bzw. die zunehmende Entmachtung der einzelnen Abgeordneten wurde auch 35 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.32.

36 § 2 GOPrAH 1849. 37 Siehe dazu Flate, August: Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, ihre Geschichte und ihre Anwendung unter Berücksichtigung der Geschäftsordnung und der Gewohnheiten des Deutschen Reichstages, 2. Aufl., Berlin 1904, S. 85 ff. mit weiteren Hinweisen sowie später unter II 3 b. 38 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.32. 39 Flate:

Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 94 f.; der Kommentar zur Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 16. 5. 1876 kann hier durchaus herangezogen werden, da § 26 GOPrAH 1876 und § 19 CIS. 2 GOPrAH 1849 von redaktionellen Änderungen abgesehen, identisch sind. 40 Siehe bereits unter II 1 C. 41 So ausdrücklich Flate: Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 94.

11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

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bei der Gestaltung der Redeordnung im Parlament deutlich. Während bisher die Rednerliste durch Verlosung gebildet wurde, richtete sich jetzt die Reihenfolge der Redner nach der Stärke der Fraktionen; es wird "nach Möglichkeit" dafür gesorgt, daß sämtliche Fraktionen zu Wort kommen42 • Die parlamentarische Praxis gestand demnach ausdrücklich den größeren Fraktionen die optimalere rednerische Darstellung zu, kleinere Fraktionen werden nach Möglichkeit berücksichtigt, das Rederecht der fraktionslosen Abgeordneten wurde erst gar nicht erwähnt. Eine ähnliche Entwicklung deutete sich auch in der Einrichtung des Seniorenkonvents, über den die Geschäftsordnung nichts aussagte, an. Er setzte sich aus Vertretern aller Fraktionen zusammen und diente zu deren innerparlamentarischer Verständigung. Zu seinen Aufgaben gehörten die Vorbereitung der Besetzung der Ämter des Hauses (Präsidenten, Schriftführer, Quästoren, Abteilungsvorsitzende, Kommissionsmitglieder und -vorsitzende)43. Angesichts der bereits aufgezeigten Entwicklung verwundert es nicht, daß fraktionslose Abgeordnete, damals bezeichnenderweise "Wilde" genannt, zu Sitzungen des Seniorenkonvents keinen Zugang hatten44 • Dementsprechend blieben sie auch bei der Verteilung der Ämter, die der Seniorenkonvent maßgeblich beeinflußte, unberücksichtigt45 • d) Das Problem des Minoritätenschutzes

Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses sowie die parlamentarische Praxis wurde einem ausgewogenen Minoritätenschutz somit nicht gerecht. Wenn Plate40 etwa meint, daß der Seniorenkonvent seine Entstehung dem Bedürfnis verdankt, der Minderheit des Hauses bei der Besetzung der Kommissionen gerecht zu werden, kann dazu nur angemerkt werden, daß der Seniorenkonvent diese ursprünglich ihm zugedachte Funktion nicht erfüllte. Die Minderheitenrechte wurzeln im verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten, in seiner Stellung als einem zu freier Gewissensentscheidung verpflichteten Repräsentanten des ganzen Volkes. Die parlamentarische Praxis im Preußischen Abgeordnetenhaus und auch die Geschäftsordnung erfüllen diesen Anspruch nicht. Bereits in den Anfängen des deutschen Parlamentarismus zeigt sich also die Tendenz, den Abgeordneten als unabhängige Einzelperson Ebenda, S. 148. Die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses, S. 230. 44 Ebenda. 4S Ebenda. 40 Ebenda, S.229, P. war Bureau-Direktor des Preußischen Abgeordnetenhauses und damit ein Kenner der Materie. 42

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Plate:

3. Die Entwicklung im Norddeutschen Bund und in der Kaiserzeit

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zu Gunsten eines auf Einheitlichkeit der. verschiedenen Meinungsblöcke und reibungslosen organisatorischen Ablauf des Parlamentsbetriebes bedachten Parlamentarismus in den Hintergrund zu drängen. Es ist daher zu untersuchen, ob eine Zunahme dieser mehr auf parlamentarische Effizienz als auf parlamentarische Auseinandersetzung gerichteten Bestrebungen in zukünftigen deutschen Parlamenten den verfassungsrechtlichen und tatsächlichen Status des einzelnen Abgeordneten beeinträchtigen bzw. sogar zunichte machen kann.

3. Die parlamentarische Entwicklung im Reichstag des Norddeutschen Bundes und im Reichstag der Kaiserzeit a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen

Als der verfassungsberatende Reichstag des Norddeutschen Bundes am 25. 2. 1867 zusammentrat, fehlte es völlig an Rechtsnormen, nach welchen er seine Verhandlungen hätte leiten können. Aufgrund seiner Verfahrensautonomie trat er unter Anwendung der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses in seine Verhandlungen ein47 • Bei Vornahme einiger unbedeutender Änderungen48 wurde diese provisorische Geschäftsordnung nach dem ergebnislosen Versuch, eine eigene Verfahrensordnung zu schaffen49 , in der Sitzung vom 6. 3. 1867 als eigene angenommenso. Auch der Reichstag des Norddeutschen Bundes machte diese GeschäftsordnungS! in seiner konstituierenden Sitzung am 10. 9. 1867 zur Grundlage seiner Arbeit52 , die ihrerseits wiederum in den Grundzügen derjenigen der Frankfurter Nationalversammlung nachgebildet warSl. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes beschloß am 12. 6. 1868 eine neue Geschäftsordnung, die vom Reichstag des Kaiserreiches, als dieser an Stelle des Norddeutschen Bundes trat, zu Beginn seiner ersten Legislaturperiode am 21. 3. 1871 übernommen wurde54. Sie galt dann mit vie47 Siehe Perels, Kurt: Das autonome Reichstagsrecht, Berlin 1903, S.I; Konst.RT/Norddt.Bund, Sten.Ber., 1. Sitzung 25. 2. 1867, S. 2 ff. 48 Ebenda. 49 Konst.RT /Norddt.Bund, Sten.Ber., 6. Sitzung 4. 3. 1867, S. 42 ff. so Konst.RT/Norddt.Bund, Sten.Ber., 7. Sitzung 6. 3. 1867, S.66. 5! Die Ermächtigung zum Erlaß einer Geschäftsordnung ergab sich jetzt aus Art. 27 S.2 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 17. 4. 1867. 52 Perels: Autonomes Reichstagsrecht, S.l; RT/Norddt.Bund 1/1867, Sten.Ber., 1. Sitzung 10. 9. 1867, S.3. 53 Dechamps: Macht und Arbeit der Ausschüsse, S. 57; Hatschek, Julius: Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, Berlin 1915, S. 64. 54 Siehe RT 1/1871, Sten.Ber. 1. Sitzung 21. 3. 1871, S. 5; vgl. darüber hinaus ausführlich bei Jungheim, B.: Die Geschäftsordnung für den Reichstag mit

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

len erfolgten Änderungen bis zum Ende des Kaiserreichs. Bis zur fünften Legislaturperiode wurde diese Geschäftsordnung jeweils zu Beginn als maßgebliche Verfahrensordnung bestätigt55 , ab der sechsten Legislaturperiode ist ein derartiger Annahmebeschluß nicht mehr gefaßt worden, vielmehr ist ohne Widerspruch die Geschäftsordnung des vorhergehenden Reichstages ohne weiteres auf die Geschäfte des neuen Reichstages angewandt worden56 • b) Die wachsende Bedeutung der Fraktionen

Diese während der Zeit des Reichstages des Deutschen Reichs geltende Geschäftsordnung kannte den Begriff der Fraktion nicht. Man könnte daher meinen, daß die individuellen Statusrechte der Abgeordneten dementsprechend zahlreich und bedeutend waren. Da aber bei den Wahlen zum Reichstag die Parteien bereits die tragenden Organisationen waren, kam es aus den gleichen Gründen und nach dem gleichen Muster wie in der Frankfurter Nationalversammlung und in den preußischen Parlamenten sowohl im konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes und auch später im Reichstag des Bismarckschen Reiches sofort zu Bildungen von Fraktionen57 , die nunmehr als Vertreter ihrer Partei im Parlament galten. Vorläufer dieser Fraktionen waren, wie bereits dargelegt wurdeS8 , die Abteilungen. Gemäß § 2 GORT 1868 wurde der Reichstag durch das Los in sieben Abteilungen von möglichst gleicher Mitgliederzahl gleich zu Beginn jeder neuen Legislaturperiode und zu Beginn einer neuen Session eingeteilt. Die beiden wesentlichen Funktionen der Abteilungen, nämlich die Bildung der Kommissionen (§ 26 GORT 1868) und die Beteiligung an der Wahlprüfung (§ 5, 6 GORT 1868) wurden ihnen jedoch nach und nach entzogen. So ist zu bemerken, daß die Abteilungen schon mit Beginn des Preußischen Abgeordnetenhauses zur Bedeutungslosigkeit herabsanken und an ihre Stelle weitestgehend Fraktionen und Seniorenkonvent (einem Vorläufer des heutigen Ältestenrates) traten, wenngleich auch von der Bildung von Abteilungen erst 1914 abgesehen Anmerkungen, Berlin 1916, S. 1 f. und Perels: Autonomes Reichstagsrecht, S.2. 55 Siehe die Nachweise bei Perels: Autonomes Reichstagsrecht, S.2. 56 Siehe Perels: Autonomes Reichstagsrecht, S. 2. . 57 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.28; Grotewold, ehr.: Die Parteien des Deutschen Reichstages,Leipzig 1908, S.57, speziell zu den Parteigruppierungen im konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes, siehe HaITis, James: Parteigruppierungen im konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes von 1867, in: Konrad Jarausch, Quantifizierung in der Geschichtswissenschaft, Probleme und Möglichkeiten, Düsseldorf 1976, S. 168 ff. 58 Siehe unter 11 2 c.

3. Die Entwicklung im Norddeutschen Bund und in der Kaiserzeit

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wurdes9 • Wahrscheinlich schon 186760, bestimmt aber seit 1875 wurden die Kommissionssitze durch eine Vereinbarung im Seniorenkonvent auf die Fraktionen entsprechend ihrer Stärke verteilfi1• Spätestens seit 1876 entschied der Seniorenkonvent über die Größe der Kommissionen62 und seit 1881 über die Besetzung der Ehrenämter des Hauses, besonders über die SchriftführersteIlen und die Vorsitzenden der Kommissionen63 • Aus den Jahren 1871 und 1874 schließlich kann belegt werden64 , daß die Fraktionen auch Einfluß auf die Gestaltung der Rednerliste nahmen. Zu konstatieren ist somit, daß die - geschäftsordnungsmäßig überhaupt nicht anerkannten - Fraktionen Verfahren entwickelten, die sie in den Stand setzten, maßgeblichen Einfluß auf die Organisation und den Geschäftsgang des Parlaments zu nehmen. So kamen damals die Fraktionsvorsitzenden in den Seniorenkonventen zusammen, um sich über wichtige Verfahrens fragen, wie etwa die Tagesordnung der Plenarsitzungen und die Benennung der Mitglieder der Kommissionen zu verständigen6S • Die Fraktionen wurden so mehr und mehr die bestim": menden Kräfte des Geschäftsverfahrens. c) Voraussetzungen der Geschäftsordnung

an die Fraktionsbildung

Um die parlamentarische Arbeit zu rationalisieren und zu konzentrieren, ein später wieder auftretender Gesichtspunkt, wurde einige Jahre nach Konstituierung des Kaiserlichen Reichstages für die Mitarbeit in bestimmten parlamentarischen Gremien - insbesondere im Seniorenkonvent und in den Kommissionen - eine Mindeststärke der Fraktionen festgelegfi6. Diese Praxis bekräftigte der Reichstag, als er in einem RT 13/1914, Sten.Ber. 1. Sitzung 4. 8. 1914, S. 4 A. RT/Norddt.Bund 1/1867, Sten.Ber., 9. Sitzung 27. 9. 1867, S.128. 61 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.35; Mahl, Robert von: Kritische Erörterungen über Ordnung und Gewohnheiten des deutschen Reiches, 2. Art.: Die Verhandlungen im Reichstag, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (ZStW) 1875, Heft 31, S. 31 ff. (39 ff., 57). 62 Hatschek: Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 188; Dechamps: Macht und Arbeit der Ausschüsse, S. 132. 63 Hatschek: Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 191. 64 Ebenda, S. 190. 6S Wollmann, Helmut: Fraktion, in: Röhring / Sontheimer, Handbuch des Deutschen Parlamentarismus. Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland in 270 Stichworten, München 1970, S. 139 ff. 66 Ritzel / Bücker: Handbuch für die parlamentarische Praxis, Vorbem. § 10 I 2; ferner Lösche, Peter: ,Reichstag' in: Handbuch des Deutschen Parlamentarismus, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland in 270 Stichworten, hrsg. von Hans-Helmut Röhring und Kurt Sontheimer, München 1970, S. 422 ff. (424). S9 60

3 Kürschner

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

Beschluß vom 8. 5. 191267 dem Antrag der. verstärkten Geschäftsordnungskommission stattgab, der vorsah, daß als Fraktion nur eine Mitgliedervereinigung von mindestens 15 Mitgliedern (Vollmitglieder und Hospitanten) anzuerkennen ist68. Aus der diesem Beschluß vorangegangenen Debatte im Plenum und den gleichzeitig abgelehnten Änderungsanträgen69 geht hervor, daß es sich um Abgeordnete der gleichen Partei handeln mußte70 • Angesichts der faktischen Anerkennung der Fraktionen als notwendige Einrichtungen des Parlamentsbetriebes wäre es nur konsequent gewesen, wenn diese nunmehr auch in der Geschäftsordnung selbst ihre Erwähnung gefunden hätten. Im Jahre 1912 wurde zum erstenmal im Plenum beraten, ob man Fraktion und Seniorenkonvent in die Geschäftsordnung aufnehmen sollte71 • Trotz der tatsächlichen Bedeutung der Fraktionen lehnte der Reichstag die geschäftsordnungsmäßige "Legitimation" der Fraktionen ab; sie blieben im parlamentarischen "Untergrund" und die parlamentarische Praxis stand der Geschäftsordnung weiterhin entgegen72 • aal In der damaligen Debatte über die Frage der Mindeststärke der Fraktionen, die im Seniorenkonvent vertreten sein sollten, wurde erstmalig seit den Anfängen des deutschen Parlamentarismus die Frage der Vertretung der Abgeordneten in den Kommissionen aufgeworfen. Bereits zu Zeiten des Kaiserlichen Reichstages wurde also die politische Bedeutung der Arbeit in den Kommissionen anerkannt13• In diese Richtung zielt auch die Feststellung Hauenschilds74, daß sich die Hospitanten den Fraktionen anschlossen, um besser an der parlamentarischen Arbeit teilnehmen zu können und um von der Fraktion in eine Kommission geschickt zu werden. Das verwundert nicht, da nach den Worten von Mohls7s "selten eine Fraction die Selbstentsagung übt, einen ihr nicht Angehörigen für die Kommissionen zu bezeichnen, die keiner Fraction Angehörigen (die sogenannten Wilden) also wenig Aussicht auf eine Siehe RT 13/1912, Sten.Ber. 56. Sitzung 8. 5. 1912, S. 1750 C. Siehe RT-Drs. 13/341. 69 Siehe RT 13/1912, Sten.Ber., 56. Sitzung 8. 5. 1912, S. 1751 C. 70 Siehe auch Wollmann, Helmut: Die Stellung der Parlamentsminderheiten in England, der Bundesrepublik Deutschland und Italien, Den Haag 1970, 67

68

S.69.

Siehe RT 13/1912, Sten.Ber., 55. Sitzung, 7. 5. 1912, S. 1700 D ff. Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.35. 73 So expressiv verbis Abg. Arendt RT 13/1912, Sten.Ber., 55. Sitzung 7. 5. 1912, S. 1714 B. 74 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.29. 7S Mahl, Robert von: Kritische Erörterungen über Ordnung und Gewohnheiten des deutschen Reiches in: ZStW 1875, Heft 31, S. 31 ff. (39 ff., 59). 71

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3. Die Entwicklung im Norddeutschen Bund und in der Kaiserzeit

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Wahl haben". Wie bereits erörtert wurde76 , wird im Reichstag bei Bildung der Kommissionen der Schutz der Minderheit in der Weise beachtet, daß die Präsentation der Kommissionsmitglieder von den Abteilungen in die Fraktionen verlegt worden ist". Dieses Präsentationsrecht der Parteien wurde auch im Plenum zum Ausdruck gebracht78 , in dem es immer nur hieß79: "Zur ersten Kommission zur Vorberatung des Reichshaushaltsetats sind berufen: von der Fraktion der deutsch-konservativen Partei (folgt der Name der Präsentierten) von der Reichspartei von der wirtschaftlichen Vereinigung usw." während es noch früher nach außen und im Plenum noch immer die Abteilungen waren, welche gemäß der Geschäftsordnung (§ 26 Abs. 3 GORT 1868) die Wahlen vollzogen, wenngleich auch im Auftrag des Seniorenkonvents und der Parteien80• bb) Die neue Form der unverblümten Bestellung der Kommissionen durch die Fraktionen an Stelle der Abteilungen81 hat auch ihren Grund in einem Beschluß des Seniorenkonvents (5. 3. 1909), in welcher Sitzung man sich dahin einigte: "Der Mitgliederwechsel in den Kommissionen ist dem Bureau (lies Bureaudirektor) durch bestimmte Mitglieder der Fraktionen (lies Senioren der Partei) bis zum Schlusse der letzten Ple76 Siehe unter 11 3 b. " Den stenographischen Berichten (RT 2/1875, Sten.Ber., 15. Sitzung 24. 11. 1875, S. 304) kann entnommen werden, "daß die Wahlen in den Abteilungen zu den Kommissionen schon durch den sogennannten Seniorenkonvent im Grunde den Abteilungen entzogen worden ist, was ja gewiß von allen Seiten gebilligt wird. Das hat sich als praktikabel erwiesen. Es ist als selbstverständlich vorausgesetzt, daß die Bildung der Kommission vor sich geht, wie sie bisher vor sich gegangen ist, nämlich durch die Vermittlung des Seniorenkonvents und nach Maßgabe der Stärke der betreffenden Fraktionen"; Perels: Autonomes Reichstagsrecht, S.22 Anm. 110 spricht dabei von einer "geheimnisvollen Bemerkung" des Abgeordneten Aegidi (RT/Norddt.Bund 1/1867, Sten.Ber., 9. Sitzung 27. 9. 1867, S. 128), bei näherem Hinsehen ist diese Bemerkung jedoch gar nicht so geheimnisvoll; es ist als sicher anzunehmen, daß Aegidi mit der "Praxis", die sich "über die Art und Weise der Wahl in die Kommissionen" ... "zu bilden angefangen hat", den vermutlich vom Abgeordnetenhaus übernommenen Brauch meint, die Kommissionssitze vor den Kommissionswahlen durch interfraktionelle Absprachen auf die Fraktion und deren Stärkeverhältnis zu verteilen. 78 Was Hatschek: Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S. 229 als "unverblümt" beschreibt. 79 RT 12/1909, Sten.Ber., 9. Sitzung 11. 12. 1909, S. 229 D. 80 So noch RT 11/1905, Sten.Ber., 127. Sitzung 25. 1. 1905, S. 4058 B. 81 So Hatschek: Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S.229; siehe auch Gebhardt, M.: Verfassung und Verwaltung des Deutschen Reiches, Berlin 1912, S. 113, Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Bd. I, Tübingen 1911, S.353. 3'

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

narsitzung vor der Kommissionssitzung mitzuteilen, der Herr Präsident verfügt die Umschreibung und macht in der nächsten Plenarsitzung davon Mitteilung." Hatschek!2 ist darin zu folgen, daß die durch Beschlüsse des Seniorenkonvents so gewährleistete Minoritätenvertretung in den Kommissionen eine wichtige Schranke insofern hatte, als seit dem Beschluß des Reichstages vom 8. 5.191283 nur eine Vereinigung von 15 Mitgliedern als Fraktion für die Einberufung zum Seniorenkonvent in Betracht kam84 • Nun wurde freilich in der entsprechenden Sitzung des Reichstages hervorgehoben, daß die Notwendigkeit von 15 Mitgliedern des Reichstages nur für die Teilnahme an der Kommissionsbildung maßgebend sei. Da aber die Kommissionsbildung im Seniorenkonvent vereinbart wurde, ergibt sich, daß Mitgliedervereinigungen von weniger als 15 Mitgliedern gewissermaßen nur durch die Gnade des Seniorenkonvents an der Kommissionsbildung beteiligt wurden, nicht kraft eines Vereinbarungsspruchs. Gegen diesen von der verstärkten Geschäftsordnungskommission eingebrachten Antrag wurden in der Plenardebatte des Reichstages erhebliche Einwände vorgebracht. Da durch die geplante Regelung 50 Mitglieder des Reichstages von der Kommissionsberatung ausgeschlossen würden, immerhin ein Achtel des Parlaments, wurde geltend gemacht, daß es zu einem der fundamentalsten Sätze des Parlamentsrechts gehört, daß alle Mitglieder des Parlaments in ihren Rechten und Pflichten gleich sind8S • Es komme einer Entrechtung eines erheblichen Teils des Reichstages gleich, wenn man ihn hindern würde, an den Kommissionsberatungen teilzunehmen, in denen doch der Schwerpunkt der parlamentarischen Arbeit stattfindet. Wenn der Wähler, so der Abgeordnete Arendt weiterB6, dem Mandatsträger den Auftrag gebe, fraktionslos zu bleiben, so habe niemand das Recht, diesen fraktionslosen Abgeordneten in irgendeiner Weise ihr parlamentarisches Recht einzuschränken. Das Plenum des Reichstages ließ sich aber von dieser auf die Individualrechte des Abgeordneten zielenden Argumentation nicht überzeugen und stimmte in seiner Sitzung vom 8. 5. 1912 dem Antrag der verstärkten Geschäftsordnungskommission zu87•

Hatschek: Parlaments recht des Deutschen Reiches, S. 230. Siehe bereits unter 11 3 c. 84 Siehe RT 13/1912, Sten.Ber., 55. Sitzung 7. 5. 1912, S.1723 B. 8S So der Abg. Arendt in RT 13/1912, Sten.Ber., 55. Sitzung 7. 5. 1912, S. 1714 B; siehe auch Wollmann: Stellung der Parlamentsminderheiten, S.74, FN17. B6 Ebenda. 87 Siehe RT 13/1912, Sten.Ber., 56. Sitzung 8. 5. 1912, S.1750 C. 82

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3. Die Entwicklung im Norddeutschen Bund und in der Kaiserzeit

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d) Die Entmachtung des fraktionslosen Abgeordneten

Die Auseinandersetzungen um die Vergabe der Kommissionssitze zeigt damit deutlich, daß bereits in den Anfängen des deutschen Parlamentarismus ein Aufbegehren einer Parlamentsminorität gegenüber der Mehrheit in der Frage, welche Individualrechte der einzelne Abgeordnete geltend machen kann, zu registrieren ist. Dies ist im Fall der Benennung der Kommissionsmitglieder um so mehr verständlich, als die tatsächliche Parlamentspraxis, wie bereits dargelegt wurde88, von den geschäftsordnungsmäßigen Voraussetzungen erheblich abweicht. Durch die zunehmende Macht der Fraktionen, die die Fragen der Geschäftsordnung, der Besetzung der Parlaments ämter untereinander im Seniorenkonvent "regelten", waren bereits im Kaiserlichen Reichstag die fraktionslosen Abgeordneten, die hier noch überaus zahlreich vertreten waren89 , nahezu zur Bedeutungslosigkeit verurteilt; ihre politische Arbeit der nötigen Effizienz beraubt. Einen wirklichkeitsnahen Situationsbericht, der die Machtlosigkeit der fraktionslosen Parlamentarier belegt, liefert Gerlach9O , selbst Mitglied des Reichstages von 1903-1907: "Freilich, er kann ja ,Wilder' bleiben. Aber damit verurteilt er sich von vornherein zur Unfruchtbarkeit. Der Wilde nimmt an den Fraktionssitzungen nicht teil, in denen doch die eigentlichen Entscheidungen fallen. Der Wilde kann in keine Kommission gelangen, ist also von der gesetzgeberischen Einzelarbeit ausgeschlossen. Der Wilde hat die größten Schwierigkeiten, auch nur im Plenum das Wort zu erhalten. Denn die Reihenfolge der Redner richtet sich ja nicht nach der Reihenfolge der Wortmeldungen, sondern nach dem freien Ermessen des Präsidenten. Und im Reichstag ist es nun einmal Usus, die Reihenfolge der Redner abhängig zu machen von dem Schwergewicht der Zahl, das hinter ihnen steht. Die erste Rede hält der Vertreter der größten Fraktion, die zweite der Vert,reter der zweitgrößten und so fort. Sind alle Fraktionen zu Worte gekommen, so beginnt die zweite Serie der Fraktionsvertreter. Sie muß erschöpft, ja es muß vielleicht auch noch die dritte Garnitur dran gekommen sein, bis der Präsident es für gut befindet, auch einmal einen Wilden vorzulassen. Praktisch kommt es dazu aber nur in den seltensten Fällen, da inzwischen die Debatte längst abgebrochen ist. Früher, wo die fast dauernde Beschlußunfähigkeit des Reichstages Anträge auf Schluß der Debatte sehr erschwerte, waren die Chancen der Wilden noch etwas günstiger. Aber selbst damals schon klagte der Abgeordnete Hüpeden, der aus der konservativen Fraktion ausgeschieden und wild geworden war, daß seine ehemaligen Freunde regelmäßig dafür zu sorgen wüßten, daß Vertagung oder Schluß eintrete, ehe er zum Wort gekommen sei. Jetzt, wo die Diäten eine starke Besetzung Siehe bereits unter 11 3 b. Siehe bereits die Ausführungen unter 11 3 c bb sowie Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.30. 90 Gerlach, Hellmuth von: Das Parlament, in: Die Gesellschaft, Bd.17, Frankfurt/Main 1907, S.29. 88

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II. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten des Hausese garantieren, müssen die Wilden ganz resignieren oder sich wenigstens damit begnügen, bei Petitionen oder sonst bei Anlässen dritten Ranges das Wort zu erhalten. Der Deutsche mit seinem starken Individualismus neigt etwas zur Fraktionslosigkeit. Wenn trotzdem die Wilden auch ziffernmäßig bei uns immer nur eine verschwindend geringe Rolle gespielt haben, so beweist das eben, daß die parlamentarischen Notwendigkeiten stärker sind als private Neigungen. Der Durchschnittsmensch ist als Fraktionsmitglied immerhin ein, wenn auch wenig beträchtliches, Etwas, das mit allerlei Funktionen niederen Grades betraut werden kann. Als Wilder ist er einfach eine Null und sieht sich nach kurzer Zeit gezwungen, sich selbst als solche zu erkennen. Aber auch bedeutende Leute werden durch Fraktionslosigkeit zur politischen Einflußlosigkeit verdammt. Stöcker hatte parlamentarischen Einfluß, solange er, der Christlich-Soziale, Mitglied der deutschkonservativen Fraktion war. Er, der Redner von so großen Gaben, wurde zum Prediger in der Wüste, als er wild geworden war. Und er begrüßte es darum mit großer Genugtuung, als ihm die Bildung der Wirtschaftlichen Vereinigung es ermöglichte, wieder im' Rahmen eines Fraktionsverbandes tätig zu sein. Lieber nannte er einen Welfen und Männer wie die bayrischen Bauernbündler, mit denen er sozial und national fast nichts gemein hatte, seine Fraktionsgenossen, als daß er einsam weiter pro nihilo arbeitete."

Hatschek91 ist daher zu widersprechen, der diese Kommissionsbildungsform als Schutz der parlamentarischen Minoritäten ansieht. Angesichts der Tatsache, daß ein Achtel der Parlamentsmitglieder durch diese Regelung von der Kommissionsarbeit ausgeschlossen bleibt, kann kaum von der Möglichkeit einer gleichberechtigten Wahrnehmung der Abgeordnetenrechte aller Mandatsträger gesprochen werden. Dies gilt um so mehr, wenn man die dem einzelnen Abgeordneten noch verbliebenen Rechte betrachtet, der lediglich in der Lage ist, Anfragen an den Reichskanzler zu richten92, im Plenum "nach Maßgabe des Präsidenten" sein Rederecht auszuüben93 • Er hat darüber hinaus die Möglichkeit, "nach freiem Ermessen des Präsidenten" Bemerkungen zur Geschäftsordnung zu machen94 , und bei nicht namentlichen Abstimmungen seine von der Mehrheit abweichende Meinung schriftlich dem Bureau zu übergeben9s • Ferner hat er das Recht, eine Adresse an den Kaiser zu richten96 • Parlamentarisch wirkungsvoll in dem Sinne, daß sie eine politisch effiziente Arbeit des einzelnen Abgeordneten ermöglichen, sind im Grunde nur das Fragerecht sowie das Rederecht, wobei letzteres vom Präsidenten vielfach derart gehandhabt wurde, daß die kleineren Gruppen bei der Führung der Rednerliste offen benachteiligt wurden97 • Hatschek: Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, S.230. Siehe § 31 a GORT 1868. 93 Siehe § 42 GORT 18.68. 94 Siehe § 44 S. 2 GORT 1868. 9S Siehe § 59 GORT 1868. 96 Siehe § 67 GORT 1868. 91

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4. Die parlamentarische Entwicklung in der Weimarer Zeit

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Aufgrund der Macht von Fraktionen und Seniorenkonvent kann also die These gewagt werden, daß eine politisch wirkungsvolle Arbeit eines fraktionslosen Abgeordneten im Kaiserlichen Reichstag, die damals immerhin ein Achtel aller Mitglieder ausmachten, nicht möglich war. Das Fragerecht und ein nur eingeschränkt ausübbares Rederecht kann den Erfordernissen eines wirksamen Minoritätenschutzes nicht gerecht werden98 , bereits im Kaiserlichen Reichstag gab es somit Abgeordnete zweiter und erster Klasse. 4. Die parlamentarische Entwicklung in der Weimarer Zeit a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen

Die bis zum Ende des Reichstages des Kaiserreichs geltende Geschäftsordnung nach dem Stand vom 31.12.1918 wurde von der Weimarer Nationalversammlung in ihrer konstituierenden Sitzung am 6.2.191999 unter Fortfall der Bestimmungen über die Abteilungen als provisorische Verfahrensordnung angenommen. Mit weiteren, die hier zu erörternde Problematik nicht berührenden Änderungen, wurde diese Geschäftsordnung in der ersten Sitzung des republikanischen Reichstages am 24. 6. 1920100 als vorläufige Geschäftsordnung ohne Gegenstimmen übernommen. Diese Geschäftsordnung stimmte in einer Vielzahl ihrer Bestimmungen nicht mehr mit der inzwischen in Kraft getretenen Weimarer Reichsverfassung überein, die erstmals das parlamentarische Regierungssystem eingeführt hatte. Da Geschäftsordnung und Verfassung also nicht in dem Maße ineinandergriffenlO1 , wie dies wünschenswert gewesen wäre, wurde am 21. 1. 1921 der Geschäftsordnungsausschuß mit einer Revision der Geschäftsordnung beauftragtlO2 , deren Ergebnis in einem in dem Bericht vom 26. 5. 1922 dem Reichstag vorgelegten Entwurf zusammengefaßt wurde lO3 • Dieser Entwurf wurde - im wesent'l1 Siehe Abg. Will, RT 13/1912, Sten.Ber., 55. Sitzung 7. 5. 1912, S. 1718 D, der dabei den Vorwurf erhob, die kleineren Gruppen würden durch die parlamentarische Praxis mundtot gemacht. 98 So aber offenbar Hatschek: Parlaments recht des Deutschen Reiches, S.230. 99 Siehe Sten.Ber. RT Dtsch. NV 1919, 1. Sitzung 6. 2. 1919, S. 4 C. 100 Sten.Ber. RT 1 WP 1920, 1. Sitzung 24. 6. 1920, S. 1 B. 101 Siehe auch Morstein Marx, Fritz: Beiträge zum Problem des parlamentarischen Minderheitenschutzes, in: Abhandlungen und Mitteilungen aus dem Seminar für öffentliches Recht, Heft 12, Hamburg 1924, S. 15. 102 Sten.Ber. RT 1. WP 1921, 53. Sitzung 21. 1. 1921, S. 1968 C. 103 RT-Drs. 1/4411.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

lichen unverändert - in der Sitzung vom 12.12.1922 endgültig angenommen lO4 und im Reichsgesetzblatt unter dem 17.2. 1923105 bekannt gegeben. Mit dem Inkrafttreten der neuen Geschäftsordnung am 1. 1. 1923 (§ 122 GORT 1922) hatte das Parlament im Rahmen des Art. 26 S. 2 WRV dem Bedürfnis entsprochen, eine den umgewandelten politischen Verhältnissen und dem verfassungsmäßig erweiterten Aufgabenkeis des Reichstages entsprechende neue Verfahrensordnung zu verabschieden. b) Die Anerkennung der Fraktionen durch die Geschäftsordnung

In dieser neuen Geschäftsordnung wurden die Fraktionen als Einrichtung des Parlaments, obwohl sie faktisch schon lange bestanden, erstmals in §§ 7-9 GORT 1922 erwähnt. Danach sind Fraktionen "Vereinigungen von mindestens fünfzehn Mitgliedern" (§ 7 Abs. I S. 1 GORT 1922)106. "Bei Berechnung der Fraktionsstärke zählen die Gäste (,Hospitanten') mit" (§ 7 Abs. 11 S.l GORT 1922). Nach der Stärke der Fraktionen - erledigte Mitgliedersitze werden bis zur Neubesetzung bei der Fraktion mitgezählt, die sie bisher innehatte - bestimmt sich ihre Reihenfolge und ihr Anteil an den Stellen des Ältestenrats, des Vorstands, der Ausschüsse, der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter (§§ 8, 9 GORT 1922). Für die nach einem bestimmten Schlüssel erfolgende Berechnung dieses Stellenanteils können sich Fraktionen zusammentun und fraktionslose Mitglieder sich einer Fraktion anschließen (§ 7 Abs. 11 S. 2 GORT 1922). Bei den Wahlen im Reichstag (z. B. des Präsidenten und seiner Stellvertreter, der vom Reichstag zu wählenden Beisitzer des Staatsgerichtshofs, der vom Reichstag vorzuschlagenden Mitglieder des Verwaltungsrats der Deutschen Reichspost) und in den Ausschüssen werden die Vorschläge der Fraktionen berücksichtigt (§ 9 GORT 1922). Die Fraktionen waren damit endgültig als Funktionsträger des Parlaments durch die Geschäftsordnung sanktioniert und legitimiert. Kennt die Weimarer Reichsverfassung nur den Abgeordneten als Einzelperson, Art. 21 WRV, nur seinem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden, so zeigen ihn die neu aufgenommenen Bestimmungen nur im Rahmen der Fraktion als handlungsfähig. Die Reichstagsausschüsse, der Ältestenrat, ja auch die Vollversammlung des Reichstages sind weSten.Ber. RT 1 WP 1922, 280. Sitzung 12. 12. 1922, S. 9278 C. RGBI 11 1923 S. 101 Nr.9. 106 Im Geschäftsordnungsausschuß herrschten verschiedene Meinungen darüber, ob das Mindestquorum für eine Fraktion bei 15 oder 21 Abgeordneten liegen sollte. Für eine Erhöhung wurde die Vermehrung der Zahl der Abgeordneten sowie die Effizienz der politischen Arbeit angeführt, die Gegner machten geltend, eine niedrige Zahl sei nötig, um auch gegenüber den oppositionellen Grupen gerecht zu sein, darüber hinaus könne man so einer Parteienzersplitterung nicht entgegenwirken, siehe RT-Drs. 1/4411 Erläuterungen zu2. 104 105

4. Die parlamentarische Entwicklung in der Weimarer Zeit

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niger aus Individuen zusammengesetzt als aus FraktionenlO7 • Auch wo die Geschäftsordnung sich scheut, Rechte ausdrücklich den Fraktionen zuzusprechen, sind doch vielfach ersichtlich diese Fraktionen gemeint lO8 ; so in den zahlreichen Bestimmungen, nach denen es für parlamentarische Aktionen der Beteiligung von 15 Mitgliedern bedarf lO9 • Wenn also Art. 68 WRV bestimmte, daß Gesetzesvorlagen "aus der Mitte des Reichstages eingebracht werden können", so beschränkt und konkretisiert § 49 GORT 1922 diese Bestimmung letzten Endes dahin, daß es eine Fraktion sein muß, die die Gesetzesvorlage einbringt llo • Die Fraktionen wurden deshalb als "organisatorische Gliederungen des Parlaments" bezeichnet111 , die nunmehr in das Staatsrecht aufgenommen worden seien. c) Die Stärkung der Fraktionen durch die Geschäftsordnung

Die Tendenz, entscheidende Rechte des Abgeordneten nur noch in gruppenmäßiger Ausübung zu gewähren, zeigte sich bereits in den Beratungen des Geschäftsordnungsausschusses für eine neue Geschäftsordnung. So sah der Entwurf des Ausschusses ursprünglich vor, daß selbständige Anträge (§ 49 GORT 1922), Kleine Anfragen (§ 60 GORT 1922) nur bei einer Unterstützung von mindestens 30 Abgeordneten gestellt werden durften. Die berechtigte Argumentation der kleineren Fraktionen, insbesondere der Kommunisten, eine solche Regelung sei eine Rechtlosmachung der kleinen Fraktionen, eben eine Vergewaltigung der Minorität ll2 , überzeugte schließlich die Mehrheit des Plenums, so daß das Mindestquorum für selbständige Anträge und Kleine Anfragen auf 15 Abgeordnete herabgesetzt wurde, bei Interpellationen an die Reichsregierung (§ 55 GORT 1922) blieb es allerdings bei der vom Geschäftsordnungsausschuß vorgesehenen Zahl von 30 Mitgliedern. Was das Ausschußwesen angeht, so bestimmte der Reichstag die Mitgliederzahl der einzelnen Ausschüsse ll3 • Die Benennung der Mitglieder (auch die Ersetzung des einen durch den anderen) erfolgte durch die 107 108

Vgl. z. B. §§ 9, 10, 25, 28, 29, 82 GORT 1922. Radbruch, Gustav: Die politischen Parteien im System des deutschen

Verfassungsrechts, in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts (HdbDStR), hrsg. von Gerhard .Anschütz und Richard Thoma, Bd. I, Tübingen 1930, S.292. 109 Vgl. z. B. §§ 41 Abs. 11, 49, 51, 60 GORT 1922. 110 Anschütz, Gerhard: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. 8. 1919, 14. Aufl. Berlin 1933, Art. 68 ff. Anm. 1 b. 111 So Radbruch: Politische Parteien im Verfassungsrecht, in: HdbDStR Bd. I S.292. 112 Siehe Abg. Eichhorn in Sten.Ber. RT 1 WP 1922,266. Sitzung 14. 11. 1922, S. 8977 C. 113 Siehe auch Bernhard, Barbara: Wandlungen des Parlamentsrechts seit der Reichsgründung 1871, Diss. Heidelberg 1954, S. 39 f.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

Fraktionen (§§ 28, 29 GORT 1922) nach Verhältnis ihrer Mitgliederzahl l14, so daß die Mehrheitsverhältnisse in den Ausschüssen annähernd denen im Plenum entsprachen. Als Abweichung hiervon ist festzuhalten, daß die Ausschüsse in besonderen Fällen auch Mitglieder mit beratender Stimme hinzuziehen können llS • Darüber hinaus hat ein Antragsteller im Ausschuß ein Recht auf Teilnahme mit beratender Stimme, wenn es sich um "Initiativanträge" handelt, sofern er nicht Mitglied des Ausschusses ist (§ 31 GORT 1922). In diesem Zusammenhang ist ein Abänderungsantrag der Deutschen Demokratischen Partei interessant, wonach für Mitglieder, die bei Abstimmungen in den Ausschüssen fehlen, die Obmänner der Fraktionen abstimmen können116 • Wäre diesem Antrag stattgegeben worden117 , hätte dies eine weitere Entmachtung des einzelnen Abgeordneten zur Folge gehabt. Wie bereits erörtert wurde, stand nach § 28 S. 2 GORT 1922 den Fraktionen das Entsendungs- bzw. Abberufungsrecht für die Ausschüsse zu. Es liegt auf der Hand, daß damit die Fraktionen die Möglichkeit haben, auf Abgeordnete, die nicht der Fraktionslinie entsprechen, Druck auszuüben, indem sie mit der Abberufung aus dem Ausschuß drohen. Die Fraktionen hätten also die reale Möglichkeit, mißliebige Abgeordnete mundtot zu machen. Die geplanten Obmänner aber hätten eine Situation dergestalt, daß innerhalb einer Fraktion verschiedene Meinungen bestehen können, überhaupt nicht mehr zu berücksichtigen brauchen. Ein dissentierender Abgeordneter wäre leicht durch entsprechenden Druck der Fraktion an der Teilnahme der Ausschußsitzung gehindert worden und die Fraktion hätte - ohne auf die Stimme eines ihrer Abgeordneten zu verzichten - bei unveränderten Mehrheitsverhältnissen eine uniforme Fraktionsmeinung "durchboxen" können. Eine lebhafte, von Parteibindungen unabhängige kontroverse Diskussion wäre im Ausschuß für immer verloren gegangen, wenn ein Obmann bei Abwesenheit seiner Fraktionskollegen deren Stimmen auf sich hätte vereinigen können.

114 Beschluß des Reichstages, siehe Sten.Ber. RT 4 WP 1929,79. Sitzung 7. 6. 1929, S. 2163 B. 115 Bei der Debatte über die Redezeitvereinbarung erhielten die fraktionslosen Parlamentarier einen Sitz mit beratender Stimme im Geschäftsordnungsausschußzugestanden, siehe Sten.Ber. RT 3 WP 1927,294. Sitzung 23.3. 1927, S. 9862 B. 116 Siehe Sten.Ber. RT 1 WP 1922, 269. Sitzung 17. 11. 1922, S.9056 A; RTDrs. 1/5231. 117 Der Antrag der DDP wurde abgelehnt, siehe Sten.Ber. RT 1 WP 1922, 269. Sitzung 17. 11. 1922 S; 9062 C.

4. Die parlamentarische Entwicklung in der Weimarer Zeit

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d) Die Entmachtung des fraktions losen Abgeordneten

Mit der Verabschiedung der neuen Geschäftsordnung vom 12.12.1922 ist somit eine zunehmende Entmachtung des einzelnen Abgeordneten festzustellen. Angesichts der Tatsache, daß die Weimarer Reichsverfassung die politischen Parteien nur einmal, in Art. 130 WRV, erwähnt, und auch dort nur im negierenden Sinne, ist dies als Verschleierung der Tatsache anzusehen, daß allein die politischen Parteien den Willen des Volkes im Wahlkampf und den Willen des Parlaments durch die Fraktionen bilden. Insofern ist die neugefaßte Geschäftsordnung von erstaunlicher Deutlichkeit. Röder1l8 charakterisierte damals die Fraktionen treffend als "die straff organisierte Spitzenvertretung der Partei mit Fraktionsführer und Ausschüssen, die, zu einem Parlament im Parlament geworden, über die entscheidende Macht verfügt" 119. Nach dem Grundsatz "Die Meinungsfreiheit gilt nichts, wo die Organisation gemeinsamen Effekt erfordert" 120, hat der einzelne Abgeordnete die Wahl zwischen reinem Abstimmungsinstrument der Fraktion oder bedeutungslosem. Einzelkämpferdasein. Wie schon dargelegt wurde l21 , werden die einzelnen Parlamentsorgane wie Präsident, Ältestenrat, Ausschüsse, Ausschußvorsitz nach Maßgabe der Größe der Fraktionen besetzt. Hierunter kommt den Ausschüssen besondere Bedeutung zu, da in ihnen der überwiegende Teil der fachlichen Parlamentsarbeit geleistet wird und dort vornehmlich der Platz zum Austragen von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Regierungsparteien und der Opposition ist l22 • So hatte jede Änderung der Fraktionsstärke eine Umbesetzung der Ausschüsse zur Folge, wodurch einzelne Abgeordnete häufig ihren Ausschußsitz verloren l23 • Die tech.;. nische Durchführung des Parlamentsbetriebes wie die Aufstellung der Tagesordnung, Lesungen der Gesetzesentwürfe, Vorlagen, Interpellationen, Kleine Anfragen, Petitionen, Abstimmungen liegen vollkommen 118 Räder, Hansfritz: Parteien und Parteienstaat in Deutschland, München 1930, S. 71. 119 Siehe auch Kaufmann, Erich: Die Regierungsbildung in Preußen und im Reiche und die Rolle der Parteien, in: Gesammelte Schriften, Bd.l: Autorität und Freiheit, Göttingen 1960, S. 374 ff. (381). 120 Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie, Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, 2. Auf!. Leipzig 1925, S.250. 121 Siehe unter 11 4 b. 122 So Räder: Parteien und Parteienstaat, S.94 bereits 1929, ebenso Bratfisch, Kurt: über den EInfluß des Fraktionswechsels auf das Abgeordnetenmandat, Diss. Jena 1929, S.58; Lambach, Walther: Die Herrschaft der Fünfhundert, Hamburg, Berlin 1926, S. 60. 123 Siehe dazu Sten.Ber. RT4 WP 1929, 79. Sitzung 7. 6~ Ü129, S.2161 C, 2162 B; ferner zur Schlüsselung derAusschußsitze Sten.Ber. RT 3 WP 1925, 83. Sitzung 25. 6. 1925,8.2637. C-2644 B.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

in der Hand der Fraktionen und der von ihnen beherrschten Parlamentsorgane. Ebenso werden die Redner im Plenum von der Fraktion bestimmtl24 • Die Fraktion hat also die unbedingte Möglichkeit, einen ihr nicht genehmen Abgeordneten mundtot zu machen, ein die Fraktion verlassender Parlamentarier, der sich keiner neuen Fraktion anschließt, ist aufgrund der in der Geschäftsordnung statuierten Unterstützungserfordernisse parlamentarisch weitgehend handlungsunfähig und somit zur Bedeutungslosigkeit verurteilt l25 • Dennoch waren fraktionslose Abgeordnete, verglichen mit der noch darzustellenden Entwicklung im Deutschen Bundestag, in den acht Wahlperioden des Deutschen Reichstages von 1920-1933 recht häufig. Dazu trug die Ausgestaltung des Wahlrechts bei, das damals noch nicht fünf Prozent der abgegebenen Wählerstimmen für den Einzug in das Parlament forderte, so daß die fraktionslosen Mandatsträger nicht unbedingt auch parteilos waren. Vergleicht man die Kräfteverteilung jeweils zu Beginn und am Ende der Wahlperioden, so gab es in den 13 Jahren des Deutschen Reiches 148 bzw. 156 Abgeordnete, die keiner Fraktion angehörten, somit politisch ein Schattendasein führten l26 • Hinzugefügt werden muß allerdings, daß sich während der acht Wahlperioden laufend verschiedene Gruppierungen des Parlaments zusammenschlossen127 , um die gewünschte Fraktionsstärke zu erreichen l28 , eine Entwicklung, wie sie noch später in den ersten Wahlperioden des Deutschen Bundestages zu beschreiben sein wird. Interessant ist dabei, daß diese "Zweckgemeinschaften" in ihrer Zusammensetzung sehr konstant waren und ihren Mitgliedern weitgehende Abstimmungsfreiheit ließen, da diese eben in der Regel unterschiedlichsten Parteien angehörten und sie nur das einigende Band des vorteilhaften Fraktionsstatus zusammenhieJt129. Im Gegensatz zur Regelung im Reichstag der Kaiserzeit hatte schließlich § 7 GORT 1922 auf das Erfordernis der gleichen Parteizugehörigkeit verzichtet und die Fraktionsbildung damit erleichtert.

124

S.10.

Bratfisch: Einfluß des Fraktionswechsels auf das Abgeordnetenmandat,

125 Siehe auch Räder: Parteien und Parteienstaat, S. 90; Bratfisch: Einfluß des Fraktionswechsels auf das Abgeordnetenmandat, S.10; Lambach: Herrschaft der Fünfhundert, S. 10 f. 126 Siehe dazu die Statistiken bei Obermann, EmU: Alter und Konstanz von Fraktionen, Meisenheim 1956, S. 15 ff. m Zu der Entwicklung der Splitterparteien siehe Schumacher, Martin: Zersplitterung und Polarisierung, Kleine Parteien im Weimarer Mehrparteiensystem, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Zeitung ,Das Parlament' vom 6. 8. 1977, S. 39 ff. 128 Siehe Obermann: Alter und Konstanz von Fraktionen, S. 28 f., 103, der diese Verbindungen als "technische Fraktionen" bezeichnet. 129 Siehe auch Obermann: Alter und Konstanz von Fraktionen, S. 30.

5. Die parlamentarische Entwicklung im Deutschen Bundestag

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e) Der Einfluß von Parteien und Fraktionen auf das Parlament

Abschließend ist zu der Entwicklung im Deutschen Reichstag zu sagen, daß das Parlament durch die Parteien im Parlamentarismus auf den Höhepunkt seiner Macht gebracht und zum wichtigsten Staatsorgan erhoben wurde. Es darf aber nicht übersehen werden, daß durch die Macht der Parteien und Fraktionen die Bedeutung des Parlaments zugleich wieder geschmälert wurde. Der eigentliche Sinn des Parlaments, unabhängigen Volksvertretern im Plenum durch freie Rede die Möglichkeit zu gewissenhafter und selbständiger Urteilsbildung zu bieten, ist durch den gewachsenen Einfluß von Partei und Fraktion auf den einzelnen Abgeordeten weitgehend in Fortfall gekommen. Meinungsbildende Parlamentarier in den Fraktionen werden dort ihre Argumente zur Debatte stellen, so daß der Schwerpunkt der parlamentarischen Diskussion aus der Öffentlichkeit des Plenums herausgenommen wird. Dadurch verliert das Parlament ein ihm wesenseigenes Element, nämlich die Kontrolle der Öffentlichkeit l3O • Durch die überspannung des Fraktionsgedankens und der fraktionellen Arbeit stellt sich das Plenum eher als formale Abwicklungs- und Verkündungsstelle gesetzgeberischer Vereinbarungen der Parteien, in dem der einzelne Abgeordnete zur reinen .. Abstimmungsmaschine" geworden ist, dar, statt als Ort unabhängiger Entscheidungsfindung. Blume l3l hat dies treffend als Denaturierung des Parlaments gekennzeichnet. 5. Die parlamentarische Entwicklung im Deutschen Bundestag a) Die Kontinuität parlamentarischer Geschäftsordnungen

In seiner konstituierenden Sitzung berief der erste Deutsche Bundestag einen vorläufigen Geschäftsordnungsausschuß, der sich aus je drei CDU/CSU- und SPD- sowie aus zwei F.D.P.-Mitgliedern und je einem Abgeordneten aller übrigen Fraktionen und Gruppen des Parlaments zusammensetzte und beauftragt wurde, dem Plenum möglichst rasch eine vorläufige Geschäftsordnung vorzulegenl32 • Dieser vorläufige Geschäftsordnungsausschuß, an dem alle im Parlament vertretenen Fraktionen und Gruppen beteiligt sein solltenl33 , beraumte jedoch keine 130 Siehe Heinen, Reinhold: Fraktion, in: Staatslexikon im Auftrag der Görres-Gesellschaft, hrsg. von Hermann Sacher, Bd.2, 5. Auf!. Freiburg 1927, Spalte 115 ff. (119). 131 Blume, Wilhelm von: Wesen und Aufgabe der Parlamente, in: Handbuch der Politik, hrsg. von Gerhard Anschütz u. a., Bd. I, 3. Auf!. Berlin, Leipzig 1920, S. 336 ff. (344 ff.). 132 Pl.Pr. 1 WP/l. Sitzung/7. 9. 1949/S. 6 A. 133 Siehe Pl.Pr. 1 WP/5. Sitzung/20. 9. 1949/S. 19 C.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

ordentliche Ausschußsitzung an 134, um die geeignete Form für eine vorläufige Verfahrensregelung zu erörtern, sondern sein Vorsitzender, der Abgeordnete Ritzel, vereinbarte in Gesprächen mit dem Alterspräsidenten Loebe und dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, dem Abgeordneten von Brentano, daß die Geschäftsordnung des Reichstages in der Fassung vom 31. 12. 1922 mit einigen Änderungen, die das Grundgesetz bedingte, dem Bundestagsplenum als vorläufige Geschäftsordnung zur Annahme vorgelegt werden sollte. Der Deutsche Bundestag übernahm daher in seiner fünften Sitzung am 20. 9. 1949 die Geschäftsordnung des früheren Deutschen Reichstages mit gewissen Änderungen l3S als vorläufige Geschäftsordnung, um sich bald die Grundlage einer sachlichen Arbeit zu schaffenl36 • Ausschlaggebendes Kriterium, dem Bundestag die modifizierte Geschäftsordnung des Reichstages als vorläufige Verfahrensregelung vorzuschlagen, war der Wunsch der Beteiligten, an die Tradition des Weimarer Reichstages anzuknüpfen, um so eine kontinuierliche Geschäftsordnungsentwicklung zu begünstigen137 • Mit Inkrafttreten der vorläufigen Geschäftsordnung hörte der vorläufige Geschäftsordnungsausschuß auf zu bestehen. Da jedoch die Verfahrens regeln nur als Provisorium bis zur Verabschiedung einer neuen Geschäftsordnung gedacht waren, bestellte das Plenum für die gesamte erste Wahlperiode einen nunmehr ständigen Geschäftsordnungssausschuß mit der Aufgabe, neue verbindliche Verfahrensregeln für das Plenum auszuarbeiten. Er setzte sich aus 21 stimmberechtigten Mitgliedern zusammen, von denen die CDU/CSU-Fraktion acht, die SPD sieben und die F.D.P. drei Vollmitglieder stellten. Entsprechend ihrer Mitgliederstärke im Plenum waren die BP, WAV und die DP mit je einem Sitz vertreten, die KPD entsandte ein beratendes Mitglied, das Zentrum ein stellvertretendes Mitglied l38 • b) Der Zwang in die Fraktion

Aufgabe des Ausschusses für Geschäftsordnung war es, unter Berücksichtigung aller Erfahrungen deutscher Länderparlamente und des europäischen Auslands sowie auch überseeischer Parlamente, jedenfalls solcher, die als demokratisch anzusehen waren, eine neue Geschäftsordnung auszuarbeiten, die für eine gewisse Dauer beibehalten werden sollte und nicht häufigen Änderungen ausgesetzt werden sollte l39 • Der 134 Vgl. Szmula, Volker: Die Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, Aufgabe und Bedeutung eines Bundestagsausschusses, Diss. Heidelberg 1970, S. 5. 135 Siehe BT-Drs. 1/18. 136 Siehe Pl.Pr. 1 WP/5. Sitzung/20. 9. 1949/S. 20 C. 137 Vgl. Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 5. 138 Siehe BT-Drs. 1/339. 139 Siehe Berichterstatter und Vorsitzender des Ausschusses für Geschäftsordnung, Abg. Ritzel, in Pl.Pr. 1 WP/179. Sitzung/5. 12. 1951/S. 7411 D ff.

5. Die parlamentarische Entwicklung im Deutschen Bundestag

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Entwurf des Ausschusses für Geschäftsordnung wurde vom Bundestag in seiner 179. Sitzung am 6. 12. 1951 beraten und mit einigen Änderungen angenommen. Die neue Geschäftsordnung trat am 1. 1. 1952 in Kraft. Neu geregelt wurde darin unter anderem die Frage der Mindeststärke einer Fraktion. Der Bundestag hatte in seiner fünften Sitzung die Fraktionsmindeststärke auf zehn Mitglieder festgesetzt l40 , und wich damit von der Geschäftsordnung des Reichstages ab, die an das Erfordernis von 15 Abgeordneten anknüpfte (§ 7 Abs. 1 GORT 1922). In der Diskussion hatten die Abgeordneten der DRP aus naheliegenden Gründen im vorläufigen Geschäftsordnungsausschuß für eine Mindeststärke von nur fünf Abgeordneten plädiertl41 • Aufgrund des neuen Quorums waren die Abgeordneten der CDU/CSU, SPD, F.D.P., DP, BP, KPD und des Zentrums (Z) in der Lage, sich in Fraktionen zu organisieren, während einige der übrigen 21 Abgeordneten sich den größeren Fraktionen anschlossen, andere dagegen fraktionslos blieben oder Gruppen bildeten, die ihrerseits wieder Zweckverbindungen eingingen, um so Fraktionsstärke zu erlangen l42 • Ursache für diesen Drang, sich in Fraktionen zusammenzuschließen, war § 9 vor!. GOBT 1949, der nur den Fraktionen im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl Anteile an den Stellen des Ältestenrates, des Vorstandes, der Ausschüsse, der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter zusichert. Der Inhalt dieser Bestimmung weist so auf die entscheidende Bedeutung hin, welche die Geschäftsordnung den Fraktionen zumißt, während sie den anderen im Bundestag vertretenen politischen Gruppen die planende Mitgestaltung der organisatorischen und politischen Arbeit verwehrt. Die Bestimmungen der vorläufigen Geschäftsordnung in §§ 41 Abs.2, 47 Abs. 1, 49 Abs. 1, 51, 60, wonach für Anträge und Kleine Anfragen eine Mindestzahl von zehn, bei Großen Anfragen (§ 55 vor!. GOBT 1949), Auskunfterteilung der Bundesregierung (§ 68 vor!. GOBT 1949), Vertagung der Sitzung (§ 78 vor!. GOBT 1949), Antrag auf Herbeirufung eines Bundesministers (§ 95 vor!. GOBT 1949) sogar die Zahl von dreißig Abgeordneten erreicht werden muß, verdeutlichen die dadurch bedingte Bedeutungslosigkeit von nicht fraktions gebundenen Abgeordneten. Wirkungsvolle politische Arbeit war für die Abgeordneten also nur dann möglich, wenn sie sich in Fraktionen zusammenschlossen.

Pl.Pr. 1 WP/5. Sitzung/20. 9. 1949/S. 19 D. Ebenda; die Abgeordneten Richter (alias Rössler), Mießner, Frommhold, von Thadden der DRP, der Abgeordnete Dorls und der Abgeordnete Leuchtgens der NDP hatten sich in der Gruppe der "Nationalen Rechten" (NR) im Bundestag zusammengeschlossen. 142 Siehe Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 92 m. w. N. 140

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aal Die neue Geschäftsordnung erschwerte die Möglichkeit der Abgeordneten, sich in Fraktionen zusammenzuschließen und damit parlamentarisch effektiv zu arbeiten, auf zweierlei Weise. Die Neufassung sah vor, daß die zur Bildung einer Fraktion notwendige Mitgliederzahl durch Beschluß des Bundestages festzusetzen sei (§ 10 Abs. 1 S.2 GOBT 1951), eine Zahlenangabe sollte die Geschäftsordnung künftig nicht mehr enthalten. Die F.D.P.-Fraktion hatte den - später zurückgezogenen - Antrag gestellt l4J , die Fraktionsmindeststärke auf 15 Abgeordnete heraufzusetzen und dies auch in die neue Geschäftsordnung aufzunehmen. Wäre diesem Antrag entsprochen worden und die Mindeststärke der Fraktionen Bestandteil auch der neuen Geschäftsordnung geworden, hätte es bei einer Abweichung VOn der Geschäftsordnung der Zwei-Drittel-Mehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages bedurft l44 • Nach der verabschiedeten Fassung jedoch kann jeder Bundestag mit einfachem Beschluß über die Mindeststärke einer Fraktion entscheiden. Die Rechtsposition, welche zahlenmäßige Voraussetzung an die Anerkennung als Fraktion geknüpft wird, wurde damit der Festschreibung in der Geschäftsordnung entzogen und zur Disposition eines jeden Bundestages gestellt. Die Absicht, keine Zahlenangaben bezüglich der Fraktionsmindeststärke in die Geschäftsordnung aufzunehmen, diente dem Zweck, es jedem Bundestag zu erleichtern, nach politischer Zweckmäßigkeit eigene ZahlenrichtIinien für die Fraktionsstärke festzusetzen, ohne die betreffenden Geschäftsordnungsbestimmungen ändern zu müssen l45 • Da bei der Berechnung der Fraktionsmindeststärke auch Gäste nicht mitzählen sollten (§ 10 Abs. 1 S.3 GOBT 1951), blieb den Gruppen auch die Möglichkeit versagt, durch Aufnahme VOn Gästen Fraktionsstärke zu erreichen. Mit dieser Neuregelung bezweckte der Geschäftsordnungsausschuß, einerseits der neuen Geschäftsordnung Kontinuität trotz parlamentarischer Diskontinuität zu verleihen, andererseits beabsichtigte er, der KPD den Fraktionsstatus zu nehmen, indem die Fraktionsmindeststärke - da die KPD nur 14 Mitglieder zählte l46 - durch einfachen Mehrheitsbeschluß des Plenums Siehe Pl.Pr. 1 WP/179. Sitzung/5. 12. 1951/S. 7417 C. Siehe § 127 GOBT 1951 "Abweichungen von den Vorschriften der Geschäftsordnung können im einzelnen Fall mit Zwei Drittel Mehrheit der anwesenden Mitglieder des Bundestages beschlossen werden, wenn die Bestimmungen des Grundgesetzes dem nicht entgegenstehen". 145 Siehe auch Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 94. 146 Die KPD-Fraktion hatte ursprünglich 15 Mitglieder, da aber die Mandatsverzichtserklärung des Abgeordneten Kurt Müller, der nach Ostberlin übergesiedelt war, nicht vom Bundestagspräsidenten anerkannt wurde, wurde er als Fraktionsloser geführt, so daß nur noch 14 KPD-Abgeordnete im Bundestag vertreten waren; siehe Schindler, Peter (Bearb.): 30 Jahre Deutscher Bundestag, Dokumentation, Statistik, Daten, hrsg. Deutscher Bundestag, Presse und Informationszentrum, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Bonn 1979. 143

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auf 15 erhöht werden solltel47 • Schließlich kam es dem Ausschuß für Geschäftsordnung eben nur in der Bestimmung über die Fraktionsmindeststärke darauf an, keine Zahlenangaben aufzunehmen, während beispielsweise die §§ 6 Abs. 4,93 Abs. 1 GOBT 1951 derartige Angaben enthalten. bb) An der Fraktionsmindeststärke von 15 Abgeordneten hielten auch die folgenden Bundestage fest, obwohl diese Zahl, wie Szmula l48 zu Recht hinweist, den tatsächlichen parlamentarischen Gegebenheiten nicht mehr entsprach. Aufgrund § 6 Abs. 4 BWG erreicht eine Partei, die in den Bundestag einzieht, im ungünstigsten Fall 5 Ofo der Wählerstimmen, was 5 % der Abgeordnetenmandate ausmacht. Wenn man davon ausgeht, daß jede Partei nur durch eine Fraktion im Parlament vertreten ist, erhöht die 5-0f0-Klausel des Bundeswahlgesetzes derzeit die Fraktionsmindeststärke auf 26 Abgeordnete. Diese Tatsache berücksichtigte der Geschäftsordnungsausschuß erst bei der Geschäftsordnungsrevision in der fünften Wahlperiode l49 , nachdem er bis dahin jeweils zu Beginn der Wahlperiode die erforderliche Mindestzahl durch Beschluß festgelegt hatteiso. Auf seinen Antrag hin beschloß der Bundestag den ersten Halbsatz in § 10 GOBT 1970 wie folgt zu fassen: "Die Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens fünf Prozent der Mitglieder des BundestagesI51 ." Die Neufassung der Geschäftsordnung von 1970 152 verstärkte damit insgesamt die Präferenz der Fraktionen gegenüber dem einzelnen Abgeordneten ausdrücklichl53 • Angesichts der Entstehungsgeschichte des § 10 Abs. 1 und der damit - bereits beschriebenen - Absichten dürfte es beispielsweise sehr fraglich sein, wie Troßmann l54 zu Recht hinweist, ob der Bundestag einer Gruppe von 25 Abgeordneten, die damit die nach § 10 Abs. 1 GOBT 1970 erforderliche Mindestzahl knapp verfehlten, die Frak147 Der Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses, der Abg. Ritzel, räumte dies am 30. 10. 1969 in einem Gespräch mit Szmula ein; siehe Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 54 f. FN 192. 148 Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 95. 149 Pl.Pr. 5 WP/225. Sitzung/27. 3. 1969/S.12423 C. 150 Pl.Pr. 1 WP/185. Sitzung/16. 1. 1952/S. 7891 C ff.; Pl.Pr. 2 WP/6. Sitzung/ 11. 11. 1953/S. 111 A; Pl.Pr. 3 WP/6. Sitzung/12. 12. 1957/S.178 A; PI.Pr.4 WP/ 3. Sitzung/8. 11. 1961/S. 12 B; Pl.Pr. 5 WP/3. Sitzung/26. 10. 1965/S. 13 C. 151 BT-Drs.5/4008. 152 Siehe BGBl I 1970, S.628; die im Jahr 1969 beschlossenen Reformmaßnahmen werden als "kleine Parlamentsreform" bezeichnet. 153 Siehe die Nachweise bei Thaysen, Uwe: Parlamentsreform in Theorie und Praxis, Zur institutionellen Lernfäp.igkeit des parlamentarischen Regierungssystems, Eine empirische Analyse der Parlamentsreform im 5. Deutschen Bundestag, Opladen 1972, S. 193. 154 Troßmann, Hans: Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, München 1977, § 10 RN 4.

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tionseigenschaft versagen könnte. Es stellt sich die bisher nicht praktisch gewordene Frage, ob der Bundestag mit dem Erfordernis einer Mindestzahl von 5 % die Grenze des Vertretbaren nicht schon überschritten hat. Dieser Gedanke drängt sich auch deshalb auf, wenn man die Motivation, die der Heraufsetzung der Fraktionsstärke zugrunde lag, in Rechnung stellt. Nicht die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments waren die bestimmenden Faktoren, sondern politische Zweckmäßigkeitserwägungen. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages wollte eine Vorkehrung gegen potentielle, möglicherweise in direkter Wahl erfolgreiche Abgeordnete der NPD im sechsten Deutschen Bundestag sChaffen und setzte deshalb vor den Wahlen von 1969 die Fraktionsmindeststärke drastisch herauf l5S • ce) Ein Fall der nicht mehr vertretbaren Mindeststärke muß etwa in der entsprechenden Bestimmung der Geschäftsordnung des Bayerischen Landtages gesehen werden. So lautet § 7 GObayLT vom 25.9. 1974156 : "Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens 10 Abgeordneten I57 ."

Da die F.D.P. nach der Landtagswahl vom 27.10.1974 nur acht Abgeordnete in das Parlament schicken konnte, hatte sie ihren Fraktionsstatus verloren. Ein entsprechender, von den F.D.P.-Abgeordneten am 29.11. 1974 eingebrachter Novellierungsantrag zur Geschäftsordnung, § 7 Abs. 1 S. 1 dergestalt zu ändern, daß "Abgeordnete, die derselben in den Landtag gewählten Partei angehören, sich zu einer Fraktion zusammenschließen können", wurde mit den Stimmen der CSU abgelehnt l58 • So auch Thaysen: Parlamentsreform in Theorie und Praxis, S. 192. Geschäftsordnung für den Bayerischen Landtag vom 25. 9. 1974, siehe GVBlI974,587. 157 Die Geschäftsordnung des Landtages von Baden-Württemberg, § 17 Abs. 1), abgedruckt in Handbuch des Landtages von Baden-Württemberg, 8. Wahlperiode 1980-1984, hrsg. vom Landtag von Baden-Württemberg, gewährt nur bei 6,6 %, also acht Abgeordneten, den Fraktionsstatus. Die seit 1980 dem Landtag angehörenden "Grünen" sind mit sechs Abgeordneten als Gruppe anerkannt und mit fraktionsähnlichen Rechten ausgestattet. Sie entsenden u. a. Vertreter in nahezu alle Ausschüsse sowie in den Ältestenrat. 158 Im nordrhein-westfälischen Landtag haben in einem ähnlichen Fall SPD und F.D.P., nachdem sich die Fraktionsstärke der F.D.P. durch drei Austritte auf acht vermindert hatte, das in § 16 der Geschäftsordnung des Landtages für eine Fraktionsbildung bisher vorgeschriebene Mindestquorum von zehn Abgeordneten problemlos auf sieben Abgeordnete reduziert. Der Antrag der drei NLA-Vertreter, ihnen im Landtag einen Gruppenstatus analog zur Geschäftsordnung des Bundestages (§ 10 Abs. 4) zuzugestehen, wurde von SPD und F.D.P. verworfen. Erst nach längerem Drängen und einer spektakulären Aktion in der Öffentlichkeit - die NLA-Vertreter steIlten einen Wohnwagen vor den Landtag und benutzten diesen als Abgeordnetenbüro - wurden ihnen schließlich Räume und Schreibkräfte im Landtagsgebäude zugestanden; siehe Bewerunge, Lothar: Die kleine Parlamentsreform in Nordrhein-Westfalen, in: ZParl 1970, 439 ff. (442). 155

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Diese war lediglich bereit, der F.D.P. ad hoc einen Sitz in acht von dreizehn Ausschüssen einzuräumen. Die Gruppe der F.D.P.-Abgeordneten im Bayerischen Landtag rief daraufhin den Bayerischen Verfassungsgerichtshof an, der § 7 Abs.1 S.1 GObayLT mit der Bayerischen Verfassung für vereinbar erklärte 1S9 • Eine später beim Bundesverfassungsgericht eingelegte Verfassungsbeschwerde wurde als unzulässig zurückgewiesen l60 • Nach Auffassung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes können sich bei der Bestimmung des Fraktionsquorums zwar verfassungs rechtliche Schranken ergeben, dem entscheidenden Einwand des Verbotes der doppelten Sperrklausel aber verschließt sich das Gericht jedoch. Die F.D.P. argumentierte, eine geschäftsordnungsmäßige Mindestzahl von Fraktionsstärken stelle - neben der wahlrechtlichen 5-0f0-Klausel eine zweite Sperrklausel dar, die von der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments nicht mehr gedeckt sei l61 • Da der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Definition der Fraktion als der "Partei im Parlament" ablehnt l62 , kommt er zu der Auffassung, daß einer politischen Partei, die die Sperrklausel des Art. 14 Abs. 4 BV überwunden hat, nicht automatisch der Status der Fraktion zuerkannt werden muß. Indem das Gericht auf die unterschiedliche Funktion von wahlrechtlicher SperrklauseI und geschäftsordnungsmäßiger Fraktionsmindeststärke hinweist, verweist es wiederholt auf den Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Parlaments l63 und - angesichts der politischen Kräfteverhältnisse völlig unrealistisch - auf eine mögliche Zusammensetzung des Parlaments, in dem mehrere Parteien vertreten sind, die eine so geringe Mandatszahl aufweisen, daß ihnen der Fraktionsstatus nicht zuerkannt werden könne. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof übersieht dabei, daß die wahl rechtliche 5-0f0-Klausel aber gerade dem Zweck diente, die Funktionsfähigkeit des Parlaments durch die Ausschaltung von Splitterparteien zu gewährleisten. Die Festsetzung eines Fraktionsquorums, das einer Partei, die diese Hürde genommen hat, den Status einer Fraktion verweigert, kommt damit der Einführung einer zweiten Sperrklausel gleich, die im praktischen Ergebnis die Anforderungen der wahlrechtlichen 5-% -Klausel erhöht und diese Sperrklausel obsolet werden läßt l64 • Da das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur 5-0f0-KlauBayVGH in BayVBl 1976, 431 ff. Siehe BVerfGE in DVBl 1977, 613 ff. 161 Siehe Weiler, Joachim: Rechtmäßigkeit von Bestimmungen über die Mindeststärke von Fraktionen, in: ZParl 1978, 18 ff. (22). 162 BayVBl 1976, 431 ff. (434), siehe auch BVerfGE 20, 56 ff. (104). 163 BayVGH in BayVBl 76, 431 ff. (436). 164 Siehe auch Arndt, Hans-Wolfgang, Schweitzer, Michael: Mandat und Fraktionsstatus - überlegungen zur Versagung des Fraktionsstatus für 8 Abgeordnete der F.D.P. im Bayerischen Landtag, in: ZParl 1976, 1971. 159 160

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H. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

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seI aber bereits die Obergrenze festgesetzt hat l65 , kann einer Partei, deren Stimmen anteil über 5 % liegt, nicht der Fraktionsstatus mit Hinweis auf die verschiedenen Funktionen von Wahlrechtsklausel und geschäftsordnungsmäßigen Fraktionsquorum versagt werden. dd) Ein weiteres Erschwernis, im Deutschen Bundestag eine Fraktion zu bilden, ist in der Revision des § 7 vor!. GOBT 1949 zu sehen. Diese Bestimmung definiert Fraktionen lediglich als "Vereinigung von mindestens 10 Mitgliedern". Der Ausschuß hielt diese Bestimmung als einziges Kriterium für das Recht, eine Fraktion zu bilden, für unzureichend l66 • Ursache dafür war, daß zum Teil die politisch heterogensten Kräfte sich in Fraktionen zusammenschlossen, um nur in den Vorteil der mit der Anerkennung als Fraktion verbundenen Rechte zu kommen. Vielzitiertes und eindrucksvolles Beispiel ist die Fraktionsgemeinschaft der Abgeordneten Dorls und Loritz. Während Loritz ehemals bayerischer Staatsminister zur ,Durchführung des Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus' gewesen war, vertrat Dorls offen die Ziele der einstigen NSDAP, mit deren Ideologie auch die anderen Abgeordneten dieser neugebildeten Fraktion sympathisiertenl67 • Der Ausschuß für Geschäftsordnung hielt dies für unvereinbar mit dem Interesse des jungen Parlaments, die Repräsentanz der verschiedenen politischen Meinungen deutlich werden zu lassen und diese glaubwürdig zu vertreten. Man hielt daher die Willenserklärung allein für ein nicht genügendes Motiv für einen Zusammenschluß; vielmehr mußte dies in dem Bestreben nach gemeinsamer politischer Willensbildung zu finden sein. Ein Zusammenschluß heterogener politischer Mandatsträger, nur um Vorteile zu erhalten, wäre ein mißbräuchliches Ausnutzen vorhandener Möglichkeiten der Geschäftsordnung und würde dem Selbstverständnis der Fraktion als einer organisatorischen Gemeinschaft politisch homogener Kräfte zur besseren (aufgrund des Zusammenschlusses) Durchsetzung gleicher Ziele eklatant widersprechen. Der Ausschuß für Geschäftsordnung lehnte daher folgerichtig politische Zweckehen, um Fraktionsstärke zu erreichen, als dem Sinn der Fraktion widersprechend ab l68 und definierte die Fraktionen in § 10 Abs. 1 S. 1 GOBT 1951 als "Vereinigungen von Mitgliedern des Bundestages, die der gleichen Partei angehören" . Gegen nur wenige Stimmenl69 hat der Deutsche Bundestag diesem Antrag des Ausschusses für Geschäftsordnung entsprochen, der Einwand Siehe BVerfGE 1, 208 ff. (256); 34, 81 ff. (99, 101). Vgl. 116. Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses vom 4. 10. 1951, zitiert nach Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 93. 167 Siehe Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 93. 168 Vgl. 116. Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses vom 4. 10. 1951, zitiert nach Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S.93. 165

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des Zentrums, die vorgeschlagene Formulierung verletze den Grundsatz der Gleichheit der Rechte der Abgeordneten, fand keine Resonanz l70 • In diesem Zusammenhang verdient Erwähnung, daß auch die CDU / CSU-Fraktion dem Antrag des Ausschusses für Geschäftsordnung zustimmte, obwohl sich dieser gegen sie richtete. Als die SPD der CDU / CSU im fünften Bundestag den Zusammenschluß zu einer Fraktion verweigern wollte, mußte diese in eigener Sache abstimmen l71 • Um ihren Fraktionsstatus für die Zukunft zu sichern, stellte die CDU/CSU-Fraktion einen Geschäftsordnungsantrag, § 10 Abs. 1 S. 1 den zweiten Halbsatz und den zweiten Satz wie folgt zu fassen: "... die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen. Schließen sich Mitglieder des Bundestages abweichend von Satz 1 zusammen, bedarf die Anerkennung als Fraktion der Zustimmung des Bundestages"172. Bei Stimmenthaltung der sozialdemokratischen Ausschußmitglieder wurde dieser Antrag dem Plenum vorgelegt, das ihn am 27.3.1969 annahm l73 • c) Die Vertretung in den Ausschüssen

Das Benennungsrecht der Fraktionen für die Ausschüsse wurde in seinem Kern von keiner politischen Kraft des Deutschen Bundestages angetastet. Der Bundestag übernahm die Regelung des Reichstages der Weimarer Republik, die die Ausschußsitze im Verhältnis zur Mitgliederzahl der Fraktionen nach dem System d'Hondt errechnet l74 • Um eine möglichst gerechte Sitzverteilung zu erzielen und darüber hinaus auch alle diejenigen Fraktionen des Parlaments zu berücksichtigen, die man aufgrund ihrer geringen Mitgliederzahl nicht mit dem Verteilerschlüssel erfaßte, stand der Geschäftsordnungsausschuß vor der Alternative, entweder die Mitgliederzahl in den Ausschüssen drastisch zu erhöhen l75 , oder aber allen denjenigen Fraktionen und Gruppen, die nach dem System d'Hondt nicht berücksichtigt wurden, einen Ausschußsitz mit 169 Die Fraktion der KPD und des Zentrums hatten gleichlautende Anträge, das Erfordernis der gleichen Parteizugehörigkeit zu streichen, gestellt; siehe Bericht des Ausschusses für Geschäftsordnung und Immunität, zu BT-Drs. 1/ 2550 S. 9 f. 170 Pl.Pr. 1 WP/179. Sitzung/6. 12. 1951/S. 7418 A. 171 Siehe Pl.Pr. 5 WP/1. Sitzung/19. 10. 1965/S. 1 C. 172 Vgl. BT-Drs.5/3447 sowie die Begründung in BT-Drs. 5/4008 S.2. 173 Siehe BT-Drs.5/4008 S.2 sowie Pl.Pr. 5 WP/225. Sitzung/27. 3. 1969/S. 12363 D. . 174 Dechamps: Macht und Arbeit der Ausschüsse, S.135. 175 Vgl. 71. Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses vom 6. 2. 1951, zitiert nach Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 74.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

beratender Stimme zu gebenl76 • Der Ausschuß für Geschäftsordnung sprach sich für letztere Möglichkeit aus, um endlosen Parlamentsdebatten entgegenzuwirken und um den Integrationsprozeß auf der Ausschußebene zu fördern, er schlug deshalb folgende Formulierung für § 68 Abs. 1 S. 2 GOBT 1951 vor: "... Jede Fraktion soll nach Möglichkeit das Recht haben, ein beratendes Mitglied in die Ausschüsse zu entsenden, in denen sie nicht durch ein ordentliches Mitglied vertreten ist." Mit dieser Bestimmung wurden zwar beratende Mitglieder in den Ausschüssen zugelassen, doch diente die Wendung ,nach Möglichkeit' dem Zweck, 'wichtige Ausschüsse auf die Voll mitglieder und deren Stellvertreter zu beschränken177• Auch diese Regelung der Geschäftsordnung zielte auf die KPD-Fraktion, die von den Ausschüssen für das Besatzungsstatut, für Auswärtige Angelegenheiten sowie für Gesamtdeutsche Fragen ferngehalten werden sollte. So hatte der Bundestag schon kurz nach seiner Konstitution l78 die damals noch bestehende kommunistische Fraktion aus den genannten Ausschüssen ausgeschlossen und dieses Vorgehen mit § 34 Abs. 1 S. 3 vorl. GOBT 1949 begründet, der nur summarisch den Ausschluß der dem Ausschuß nicht angehörenden Abgeordneten erfaßte. Angesichts der Tendenz des Bundestages, kleineren Gruppen ihre geschäftsordnungsmäßigen Rechte zu beschneiden, stellte die KPD-Fraktion den Änderungsantrag im Plenum, daß den Gruppen des Bundestages das Recht auf Entsendung eines Mitgliedes mit beratender Stimme einzuräumen sei l79 • In der Debatte des Bundestages über die neue Geschäftsordnung stellten die Vertreter der KPD-Fraktion aber das grundsätzliche Benennungsrecht der Fraktionen für die Ausschüsse in diesem Zusammenhang in keiner Weise in Frage. So wollte der Abgeordnete Renner (KPD) den Begriff der Fraktion sogar ausdrücklich angelegt wissen, der darin besteht, "daß von der Zugehörigkeit zu einer Fraktion und von der Stärke dieser Fraktion die Vertretung llJO der betreffenden Fraktion in den Ausschüssenl81 abhängig ist" 182. Die Repräsentanz auch der Gruppen in den Ausschüssen forderte Renner in dem Änderungsantrag, der mit großer Mehrheit abgelehnt wurde, mit der Begründung, daß "die Mitarbeit aller Bundestagsabgeordneten dieses So Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 78. Siehe auch Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 78 f. Pl.Pr. 1 WP/12. Sitzung/20. 10. 1949/S. 268 B. 179 Der Antrag der KPD-Fraktion lautete: "Die Mitgliederzahl der Ausschüsse des Bundestages ist so festzusetzen, daß jede Fraktion mit einem ordentlichen Mitglied vertreten ist. Die Gruppen des Bundestages haben das Recht auf Entsendung eines Mitglieds mit beratender Stimme", siehe zu BTDrs. 1/2550 S. 20. 180 Hervorhebung durch den Verfasser. 181 Ebenda. 182 Siehe Pl.Pr. 1 WP/179. Sitzung/6. 12. 1951/S. 7417 D. 176

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Hauses im Ausschuß ein demokratisches Recht sei"'83. Der vom Plenum angenommene Antrag l84 des Ausschusses für Geschäftsordnung erfüllte seinen Zweck, die Vertreter der KPD von der politischen Arbeit in den Ausschüssen fernzuhalten und verstärkte diese Tendenz noch in § 73 Abs.7 GOBT 1951: "Bei Ausschußsitzungen, in denen die Teilnahme auf die ordentlichen Mitglieder und deren Stellvertreter beschränkt ist, kann einer der Antragsteller, wenn er nicht Mitglied des Ausschusses ist, ausschließlich zum Zweck der Begründung des Antrages an der Sitzung teilnehmen." d) Die Auswirkungen der Geschäftsordnung auf das politische Kräfteverhältnis im Deutschen Bundestag (1. WP)

Das Bestreben des Bundestages, die zahlenmäßig kleineren Gruppen durch entsprechende Geschäftsordnungsbestimmungen in ihren politischen Wirkungsmöglichkeiten zu beschneiden, mußte zwangsläufig Bewegung in das Plenum des Bundestages bringen. Diese setzte ein mit dem bei nur wenigen Gegenstimmen l85 ge faßten Beschluß des Bundestagesl86 vom 16. 1. 1952, entsprechend dem Auftrag der neugefaßten Geschäftsordnung, die Mindeststärke der Fraktionen auf 15 Abgeordnete festzusetzen (§ 10 Abs. 1 S.2 GOBT 1951). Da bei der Konstituierung des Bundestages zehn Abgeordnete für die Bildung einer Fraktion ausreichten l87 , kam es nun zu zahlreichen Partei- und Fraktionsübertritten l88 , verfügten doch nach Inkrafttreten der neuen Geschäftsordnung BP, Z, KPD, WA V nicht mehr über das erforderliche Quorum von 15 Abgeordneten. Während bei Zusammentritt des ersten Bundestages am 7.9.1949 das Plenum aus acht Fraktionen, einer Gruppe und drei fraktionslosen Abgeordneten bestand l89 , zwang die neue Definition des Fraktionsbegriffs die Gruppe der WA V die Gruppe der DPB zu gründen und der Fraktion der DP beizutreten l90 , um der mit dem Status der Fraktion verbundenen Rechte nicht verlustig zu gehen. Aus ähnlichen Motiven bildeten kurz 183 Zur Begründung des Antrages siehe Pl.Pr. 1 WP/179. Sitzung/6.12.1951/ S.7434B. 184 Siehe bereits unter 11 5 c. 185 Die Abgeordneten der KPD stimmten gegen den Beschluß; siehe PIPr. 1 WP /185. Sitzung/16. 1. 1952/S. 7894 A. 186 Siehe Pl.Pr. 1 WP /185. Sitzung/16. 1. 1952/S. 7894 A. 187 Siehe bereits unter 11 5 b. 188 Zu diesem Komplex siehe Kaack, Heino: Fraktions- und Parteiwechsel im Deutschen Bundestag, in: ZParl 1972, 3 ff. 189 Eine Fraktion bildeten CDU/CSU, SPD, F.D.P., BP, DP, KPD, WAV, Z; am 15. 9. 1949 schlossen sich vier Abgeordnete der DRP, ein Unabhängiger sowie ein Abgeordneter der NDP zu der Gruppe "Nationale Rechte" zusammen, siehe Chronik Deutscher Bundestag 1949-1953, 1. Legislaturperiode, Debatten, Gesetze, Kommentare, hrsg. vom Presse- und Informationsamt des Deutschen Bundestages, Bonn 1974, S. 15 f. 190 Am 6. 12. 1951.

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II. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

darauf die durch Austritte unter das Quorum von 15 Abgeordneten gefallene 191 BP und das Zentrum die FU und schlossen sich zu einer gemeinsamen Fraktion zusammen l92 • Bedingt durch die zahlreichen Fraktionswechsel 193 und durch die Verabschiedung der neuen Geschäftsordnung wurde bereits jetzt - wenn auch erst in Ansätzen - eine allmähliche Konzentration auf diejenigen politischen Strömungen sichtbar, die endgültig ab 1960 das parlamentarische Geschehen bestimmen sollten. So sind 31 von 109 Wechseln während der ersten Wahlperiode auf die Neufassung der Geschäftsordnung zurückzuführen. Aus acht Fraktionen, einer Gruppe und drei fraktionslosen Abgeordneten zu Beginn der ersten Legislaturperiode waren am Ende der Wahlperiode fünf Fraktionen l94 , zwei Gruppen195 und zwanzig fraktionslose Abgeordnete geworden l96 • e) Die Entwicklung zum Drei-Parteien-System im Deutschen Bundestag (2. WP) Auch während der zweiten Wahlperiode konnte man noch nicht von einer Stabilisierung des Parteiensystems sprechen. Bei der konstituierenden Sitzung am 6. 10. 1953 bestand das Parlament aus fünf Fraktionen l97 und drei fraktionslosen Abgeordneten, wobei es während der Legislaturperiode mehrfach zu Gruppenwechseln kam, die die zahlenmäßige Stärke der Fraktionen entscheidend beeinflußten. Die größte Gruppe bildeten 16 F.D.P.-Abgeordnete, die am 23.2.1956 ihre Fraktion verließen, die FVP gründeten, die im März 1957 mit der DP vereinigt wurde l98 • Als erste größere Gruppe waren bereits im Juni 1955 sieben BHEAbgeordnete zur CDU/CSU übergetreten. Hatten die Fraktions- und Parteiwechsler in der ersten Wahlperiode in ihrer Mehrheit das Ziel, den gefährdeten Status der Fraktion zu sichern, waren in der Zeit von 1953-1957 hauptsächlich parteiinterne Auseinandersetzungen um die Regierungspolitik das entscheidende Motiv. Während im ersten Bundestag nahezu ausschließlich Hinterbänkler Fraktion und Partei wechselten, waren es im zweiten Bundestag und auch noch danach vor allem Führungsgruppen mit ihren Anhängernl99 • Diese parteiinternen VerSiehe Chronik Deutscher Bundestag 1949-1953, S.62, 70. Am 14. 12. 1951. 193 Siehe dazu Kaack: Fraktions- und Parteiwechsler, in: ZParl 1972, 3 ff. 194 CDU/CSU, SPD, F.D.P., DP und FU bildeten je eine Fraktion. 195 KPD und WAV bildeten je eine Gruppe. 196 Siehe Kaack: Fraktions- und Parteiwechsler, in: ZParl 1972, 3 ff. 197 CDU/CSU, SPD, F.D.P. und GB/BHE bildeten je eine Fraktion. 198 Siehe ausführlich Kaack: Fraktions- und Parteiwechsler, in: ZParl 1972, 3 ff. (10, 21). 199 Gruppe Kraft/Oberländer, Gruppe Euler; siehe Chronik Deutscher Bundestag 1953-1957,2. Legislaturperiode, Debatten, Gesetze, Kommentare, hrsg. 191

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schiebungen berührten zwar die Anzahl der im Bundestag vertretenen Fraktionen nichtlOO, sie waren jedoch Indiz für eine allmähliche Stabilisierung des Parteiensystems insofern, als die Vorherrschaft der CDU/ CSU, die von den Fraktionswechslern am stärksten profitierte2ll1 , gestärkt wurde. f) Die Etablierung des Drei-Parteien-Systems im Deutschen Bundestag (3. WP) bis zur Gegenwart

Der Verlauf der dritten Wahlperiode brachte aber nunmehr endgültig die Konzentration auf die seitdem bis heute im Bundestag vertretenen politischen Strömungen. Bei Konstituierung des dritten Bundestages waren im Parlament nur noch vier Fraktionen202 und ein fraktionsloser Abgeordneter vertreten, der freilich sofort als Hospitant zur CDU/CSUFraktion stieß203. Da am 1. 7. 1960 neun DP-Abgeordnete aus ihrer Fraktion austraten und sich am 20.9.1960 der CDU/CSU-Fraktion anschlossen, hörte die DP als Fraktion auf zu bestehen, die übrigen sechs DPAbgeordneten setzten ihre Arbeit als Gruppe fort, wurden aber, nachdem drei weitere DP-Abgeordnete zu anderen Parteien übergetreten waren, schließlich doch noch fraktionslos204 • So bestand der dritte Bundestag am Ende seiner Wahlperiode 1961 nur noch aus drei Fraktionen und fünf fraktionslosen Abgeordneten, bei der Konstituierung des ersten Bundestages hatte es noch acht Fraktionen, eine Gruppe und drei fraktionslose Abgeordnete gegeben20S • Durch den endgültigen Zerfall der DP auf Bundesebene wurden die Bürger ab Juli 1960 bis zur Gegenwart nur noch durch drei Fraktionen von CDU/CSU, SPD und F.D.P. repräsentiert. Fraktionslose Abgeordnete sind seit diesem Zeitpunkt die Ausnahme geblieben, Hospitanten werden dementsprechend als "verfassungssoziologische Rarität" angesehen2ll6 • Wohl sind, insbesondere während der sechsten Wahlperiode, einige Fraktionsaustritte zu verzeichvom Presse- und Informationsamt des Deutschen Bundestages, Bonn 1974, S. 76, 121. 200 Auch am Ende der zweiten Wahlperiode gab es fünf Fraktionen, allerdings nur noch einen fraktionslosen Abgeordneten; siehe Amtliches Handbuch des Deutschen Bundestages, Zweite Wahlperiode, 5. Nachtrag S.2, hrsg. von der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn 1957. 20! Siehe Kaack: Fraktions- und Parteiwechsler, in: ZParl 1972, 3 ff. (10 f.). 202 CDU/CSU, SPD, F.D.P. und DP bildeten je eine Fraktion. 203 Siehe Chronik Deutscher Bundestag 1957-1961,3. Legislaturperiode, Debatten, Gesetze, Kommentare, hrsg. Presse- und Informationsamt des Deutschen Bundestages, Bonn 1974, S. 11. 204 Fraktionslos in dem Sinne, daß sie weder einer Fraktion noch einer Gruppe angehörten; siehe Kaack: Fraktions- und Parteiwechsler, in: ZParl 1972,3 ff. (20). 20S Siehe bereits unter 11 5 d. 2Il6 So Ritzel / Bücker: Handbuch für die parlamentarische Praxis, Vorbem. § 10 III 1.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

nen, doch folgte diesen in der Regel nach kurzer Zeit der Eintritt bzw. das Hospitieren in einer neuen Fraktion.

g) Die jraktionslosen Abgeordneten des Deutschen Bundestages ohne Ausschußsitz Fraktionslose Abgeordnete in dem Sinne, daß sie mindestens ein Jahr keiner Fraktion angehörten und ihre Fraktionszugehörigkeit nicht durch Änderungen der Geschäftsordnung verloren, hat es seit 1949 in insgesamt nur 22 Fällen gegeben. Aufgegliedert in die neun Wahlperioden waren in der ersten Legislaturperiode 14 Abgeordnete207 mindestens ein Jahr fraktionslos, in der zweiten Wahlperiode208 nur noch zwei Parlamentarier, in der vierten209 , siebten210 und achten211 Periode nur noch je ein Mandatsträger. Erst in der neunten Wahlperiode waren wieder drei fraktionslose Parlamentarier zu verzeichnen, die länger als ein Jahr fraktionslos waren212 • Auch in der zehnten Wahlperiode gibt es bereits drei fraktionslose Parlamentarier213 • Von den insgesamt 22 fraktionslosen Abgeordneten hatten sechs Parlamentarier aus unterschiedlichsten Gründen nie einen Ausschußsitz inne214 , alle übrigen verloren entweder 207 Abg. Dorls 20. 10. 1949-13. 12. 1950, Abg. Hedler 16. 9. 1950-29. 4. 1953, Abg. Goetzendorff 5. 10. 1950-29. 4. 1953, Abg. von Thadden 20. 4. 1950 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Ott 26. 6. 1952 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Aumer 8. 9. 1950 bis zum Ende .der Wahlperiode, Abg. Donhauser 8. 9. 1950-17. 9. 1952, Abg. Frommhold 5. 10. 1950-26.3. 1952, Abg. Loritz 6. 12. 1951-19. 4. 1953, Abg. Kurt Müller 1. 1. 1952 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Keller 24. 4. 1952 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Bieganowski 21. 3. 1952 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Jaeger 29. 2. 1952 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Langer 10. 6. 1952-29. 4. 1953 - die hier und im folgenden nicht quellenmäßig belegten Angaben über die Fraktionslosigkeit der Abgeordneten entstammen persönlichen Informationen des Ver:" fassers vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages sowie der Dokumentation über Fraktions- und Parteiwechsel bei Schindler (Bearb.): 30 Jahre Deutscher Bundestag, S. 93 ff. 208 Abg. Stegner 13. 1. 1954---Q. 2. 1957, der Abg. Brock:mann (DZP) war während der gesamten zweiten Wahlperiode fraktionslos. 209 Abg. Gontrum 20. 9. 1962 bis zum Ende der Wahlperiode. 210 Abg. Emeis 8. 12. 1975 bis zum Ende der Wahlperiode. 211 Abg. Gruhl 11. 7. 1978 bis zum Ende der Wahlperiode. 212 Abg. Hansen 14. 12. 1981 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Coppik 27. 1. 1982 bis zum Ende der Wahlperiode, Abg. Hofmann 1. 4. 1982 bis zum Ende der Wahlperiode. 213 Abg. Handlos seit 9. 7. 1983; Abg. Voigt seit 28. 10. 1983; Abg. Bastian seit 10.2. 1984. 214 Der Abg. Dorls aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der rechtsgerichteten SRP, ähnlich der Abg. von Thadden, der sich nach Auflösung der Gruppe "Nationale Rechte" keiner Fraktion mehr anschloß, der Abg. Kurt Müller, der nach Ostberlin flüchtete, die Abg. Jaeger, die für den rechtsgerichteten Abg. Richter (alias Rössler) nachrückte, der Abg. Emeis, der sich vor seinem Eintritt in den Bundestag am 8. 12. 1975 als nachrückender Abgeordneter mit der

5. Die parlamentarische Entwicklung im Deutschen Bundestag

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bei Fraktionsaustritf15 oder kurz zuvor216 ihren Ausschußsitz, gelangten aber in der Mehrzahl der Fälle bei erneutem Fraktionseintritt durch Delegation der aufnehmenden Fraktion wieder in einen Ausschuß217 • In allen bisherigen Wahlperioden machten die Fraktionen des Deutschen Bundestages also von ihrem in der Geschäftsordnung verbrieften Recht auf Abberufung der Ausschußmitglieder Gebrauch, wenn diese sie verließen, ebenso ,belohnten' sie neu aufgenommene Abgeordnete mit einem neuen AusschußsitzZ l8 • Fraktionslose Abgeordnete in Ausschüssen des Bundestages hat es folglich, wenn man von kurzen unbedeutenden Zeiträumen mit übergangscharakter absieht, nicht gegeben. h) Die Bedeutung der Geschäftsordnungsreform 1951 für die Repräsentanz in den Ausschüssen

Darüber hinaus bewirkte die am 1. 1. 1952 in Kraft getretene Geschäftsordnung ein übriges, die Möglichkeit der Ausschußtätigkeit zu beschränken. Durch die Heraufsetzung der Fraktionsmindeststärke auf 15 Abgeordnete wurde am 21. 3. 1952 die Zusammenstellung der Ausschüsse neugefaßf l9 , so daß künftig nur noch fünf Fraktionen22O in der Lage waren, ihre Abgeordneten als ordentliche Mitglieder bzw. als deren Stellvertreter in die Ausschüsse zu schicken. Die parteipolitische Vielfalt in der ersten Hälfte der ersten Wahlperiode, als noch acht Fraktionen neben ordentlichen und stellvertretenden Mitgliedern auch Abgeordnete mit beratender Stimme in die Ausschüsse schicken konnten, und sogar die Gruppe der "Nationalen Rechten" in einem allerdings kurzlebigen Ausschuß mit einem ordentlichen Mitglied vertreten warZZ t , SPD überworfen hatte. Die Ausschußtätigkeit des Abg. Brockmann (DZP) ist nach Auskunft des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages nicht mehr bestimmbar. 215 So die Abg. Ott, Donhauser, Frommhold, Bieganowski, Langer, Stegner, Gontrum, Gruhl, Hansen, Coppik, Hofmann; die Abg. Stegner und Aumer verloren erst ca. neun Monate später ihren Ausschußsitz, siehe Deutscher Bundestag 1 WP 1949-1953, Zusammensetzung der Ausschüsse, Verzeichnisse und Veränderungen, Bd. I (Oktober 1949-September 1951), Bd. 11 (September 1951-Juli 1953), ebenso für die 2., 4., 8. Wahlperiode, sämtlich unveröffentlicht. 216 So die Abg. Goetzendorff, Loritz, ebenso der Abg. Donhauser, ebenda. 217 So der Abg. Donhauser am 17. 9. 1952 bei Eintritt in die CDU/CSUFraktion, der Abg. Stegner am 6. 2. 1957 bei Eintritt in die Fraktion des GB/ BHE. 218 Alle 22 Abgeordnete, die länger als ein Jahr fraktionslos waren und keiner neuen Fraktion beitraten, hatten am Ende der betreffenden Wahlperiode keinen Ausschußsitz mehr inne. 219 Siehe BT-Drs. 1/3318. 220 Künftig waren nur noch CDU/CSU, SPD, F.D.P., DP/DPB, FU vertreten, wobei die beiden Letztgenannten durch die Änderung der Geschäftsordnung bedingte Fraktionszusammenschlüsse waren.

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11. Fraktionslose Abgeordnete in deutschen Parlamenten

gehörte damit der Vergangenheit an. Künftig war ein Sitz in einem Ausschuß des Deutschen Bundestages noch stärker an die Zugehörigkeit zu einer Fraktion anknüpft222 , wobei diese wiederum bestimmten Mindesterfordernissen genügen mußte, um überhaupt als solche im parlamentarischen Leben anerkannt zu werden. i) Die Entwicklung des Deutschen Bundestages zum Fraktionenparlament

Die Bedeutung der Fraktionen ist auch vom Bundesverfassungsgericht wiederholt unterstrichen worden. Mit der Legalisierung des Parteienstaates durch Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG: "Die Parteien wirken bei der politischen WillensbiIdung des Volkes mit" sind die Fraktionen nunmehr auch verfassungs rechtlich legitimiert, das Grundgesetz hat darüber hinaus mit der Verfassungsänderung von 1968 in Art. 53 a223 nun auch selbst von den Fraktionen Notiz genommen. Entsprechend dieser Anerkennung bezeichnet das Bundesverfassungsgericht224 die Parlaments fraktionen als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens225 , die den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit in gewissem Grad zu steuern und damit zu erleichtern haben. Diesem Erfordernis ist - wie bereits dargelegt wurde226 - in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 6.12.1951 Rechnung getragen worden. Die genannten Beispiele zeigen deutlich, daß Abgeordnete, die einer Fraktion angehören, mehr Rechte besitzen als fraktionslose Parlamentarier. Es ist weiter sichtbar geworden, daß sich hinter vielen Änderungen der Geschäftsordnung der gemeinsame Wunsch der großen Fraktionen verbarg, parlamentsnegierende Gruppierungen in ihren Aktivitäten zu lähmen2Z7 • Bestimmte Rechte der parlamentarischen Mitwirkung 221 Der Abg. Frommhold war als Mitglied der Gruppe "Nationale Rechte" ordentliches Mitglied mit beratender Stimme des Ausschusses für die Frage des vorläufigen Sitzes einer Bundeshauptstadt, vgl. Deutscher Bundestag 1 WP 1949-1953, Zusammensetzung der Ausschüsse, Bd. I Oktober 1949-September 1951 sowie PI.Pr. 1 WP/ll. Sitzung/3D. 9. 1949/S. 255 C aus dem die einstimmige Billigung des Plenums, auch die Gruppe der "Nationalen Rechten" aus Gründen des nationalen Interesses in die Arbeit des Ausschusses einzubeziehen, hervorgeht. 222 Wie unter 11 5 g aufgezeigt wurde, gab es für kurze übergangsperioden fraktionslose Abgeordnete in den Ausschüssen. 223 Art. 53 a GG: "Der Gemeinsame Ausschuß besteht zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages, zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates. Die Abgeordneten werden vom Bundestage entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt." 224 BVerfGE 10,4 ff. (14). 225 Vgl. auch BVerfGE 2, 143 ff. (160,167). 226 Siehe unter 11 5 b. 2Z7 Siehe auch Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 106.

5. Die parlamentarische Entwicklung im Deutschen Bundestag

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können im Deutschen Bundestag erst dann wahrgenommen werden, wenn sie über den Umweg der Fraktion in Anspruch genommen werden, oder anders ausgedrückt, bedeutet es eine Bindung der Ausübung gewisser Abgeordnetenrechte an eine gruppenmäßige Wahrnehmung228. Als die Geschäftsordnung von 1951 gemäß Beschluß vom 6. 5. 1970 neu bekannt gemacht wurdeW, wird diese Tendenz der Verlagerung von parlamentarischen Rechten an die Fraktionen in der abermaligen Heraufsetzung der Fraktionsmindeststärke ein weiteres Mal sichtbar. Die Entwicklung zum "Fraktionenparlament"230 setzt sich in der Neufassung, die am 1. 10. 1980 in Kraft trat, noch fort. RaZZ231 weist darauf hin, daß Handlungsmöglichkeiten, die die bisherige Geschäftsordnung den Abgeordneten entweder allein - wenn auch mit bestimmten Unterstützungserfordernissen - , zusammen mit fünf oder zusammen mit zehn weiteren Abgeordneten, einräumte, nunmehr auf die Fraktionen oder fünf von 100 der Mitglieder des Bundestages übergegangen sind. Als prägnantestes Beispiel nennt er u. a. die Bezweiflung der Beschlußfähigkeit, die bisher durch fünf Abgeordnete erfolgen konnte (§ 45 Abs. 2 GOBT 1980, § 49 Abs. 2 GOBT 1970)232. Die fortschreitende ,Kollektivierung' des Abgeordneten führt im Ergebnis dazu, wie Achterberg233 zutreffend dargelegt hat, daß eine isolierte und dennoch effektive politische Tätigkeit eines Abgeordneten im Parlament ausgeschlossen sei, weil den Fraktionen in den Geschäftsordnungen Sonderrechte eingeräumt werden, die eine weitgehende, den fraktionslosen Abgeordneten diskriminierende Gestaltung des Entscheidungsprozesses ermöglichen. Diese Entwicklung bedarf einer umfassenden, kritischen Erörterung. Dabei soll zunächst festgestellt werden, ob sich die Beschränkung des Individualraumes des Abgeordneten auch in seiner verfassungsrechtlichen Stellung niederschlägt.

228 So VG Münster im Urteil vom 15. 6. 1971 (2K 364/70), unveröffentlicht, zitiert nach Arndt / Schweitzer: Mandat und Fraktionsstatus, in: ZParl 1976, 71 ff. (84). 229 Siehe BGBI I S. 628. 230 Vgl. Troßmann, Hans: Der Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit - in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts (JOR) NF (1979) Bd. 28, S. 155. 231 Roll, Hans-Achim: Geschäftsordnungsreform im Deutschen Bundestag, in: NJW 1981,23 ff. 232 Ebenda. 233 Achterberg, Norbert: Das Parlament im modernen Staat, in: DVBI 1974, 693 ff. (707); im Ergebnis auch Szmula: Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses, S. 96.

III. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten Wenn bisher dargestellt wurde, daß durch die Entwicklung vom Honoratiorenparlament zum Fraktions- und Parteienparlament parallel dazu Fraktionsgeschäftsordnung, Parlamentsgeschäftsordnung sowie parlamentarisches Gewohnheitsrecht ein übriges taten, um aus dem Abgeordneten als individuelle Einzelperson einen der Partei angehörenden und ihr verpflichteten Mandatsträger zu machen, also praktisch eine Entmachtung des Abgeordneten zugunsten der als Annex der Partei fungierenden Fraktion stattfand, soll im folgenden untersucht werden, ob diese Entwicklung auch in der Rechtsstellung der Abgeordneten in den verschiedenen Verfassungen zum Ausdruck kommt. Die Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus, die bereits das freie Mandat aussprachen!, sollen dabei ausgespart werden, da den Abgeordneten des Kleinparlamentarismus der Konflikt zwischen Wahrnehmung des freien Mandats und Berücksichtigung von Parteiinteressen in Form irgendeines Abstimmungszwangs noch fremd war.

1. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Frankfurter Reichsverfassung von 1849 Wenngleich die Frankfurter Reichsverfassung vom 28.3.1849 nicht effektiv in Kraft trat3, erlangte sie in der deutschen Staatsrechtsgeschichte doch einen eminenten Rang. Sie war die erste voll entwickelte Konzeption einer deutschen Gesamtstaatsverfassung national-bürgerli1 Siehe Badura in Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, bearb. von H. J. Abraham, N. Achterberg, P. Badura u. a., Hamburg 1950 ff. 2 Siehe Kramer: Fraktionsbindungen in deutschen Volksvertretungen 1819 bis 1849, S. 263; eine direkte Verbindung zu den Großparlamenten auf Reichsebene zieht Boldt in seinem Vortrag ,Die Stellung des Abgeordneten im historischen Wandel' vor der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen e. V., in: Zur Sache 1/79, Politik als Beruf, Das Abgeordnetenmandat im historischen Wandel, Bonn 1979, S. 15 ff. (17, 18). 3 Friedrich Wilhelm IV hatte die Kaiserkrone zurückgewiesen und schließlich die Reichsverfassung verworfen.

2. Die Rechtsstellung nach der Preußischen Verfassung (1850)

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cher Prägung und blieb Verfassungsmodell für alle späteren Verfassungsurkunden. Dementsprechend finden wir in § 96 FRV 18494 : "Die Mitglieder beider Häuser können durch Instruktionen nicht gebunden werden" erstmals in einer gesamtstaatlichen deutschen Verfassungsurkunde die Formulierung dessen, was später als ,freies Mandat' Anlaß vielfältiger juristischer Erörterungen geben wird. Da Parteien bzw. Fraktionen sich erst ansatzweise in Form von ,Klubbs' bildeten, gab es folglich noch keine Rechtsnorm, die dieses freie Mandat des Abgeordneten in § 96 FRV 1849 in irgendeiner Weise eingeschränkt hätte. Zwar stimmten die meisten Abgeordneten entsprechend der vorher in den ,Fraktionsversammlungen' ge faßten Beschlüsse ab5, von einem wirksamen Fraktionszwang kann jedoch noch nicht gesprochen werden, da die Vorbesprechungen und Vorberatungen mehr den Charakter unverbindlicher Empfehlungen trugen. In der Frankfurter Nationalversammlung besaß daher jeder Abgeordnete nicht nur der Form, sondern auch der Sache nach ein freies Mandafi. Auch andeutungsweise war verfassungs rechtlich keine Entwicklung erkennbar, nach der der einzelne Abgeordnete den Eintritt in eine Partei bzw. Fraktion beantragt hätte, um sein Mandat überhaupt erst wirksam wahrnehmen zu können. Eine Beinträchtigung des freien Mandats gab es in der Zeit der Frankfurter Nationalversammlung folglich weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht7 •

2. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Preußischen Verfassung von 1850 Was für die Zeit der Frankfurter Nationalversammlung gesagt wurde, gilt auch für die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Preußischen Verfassung vom 31. 1. 1850. Nach Art. 83 PrV 18508 sind 4 Frankfurter Reichsverfassung von 1849, abgedr. mit Vorentwürfen, Gegenvorschlägen und Modifikationen bis zum Erfurter Parlament bei Bergsträsser, Ludwig: Die Verfassung des Deutschen Reiches vom Jahre 1849, Bonn 1913, S. 5 ff. 5 Siehe bereits unter II 1 c. 6 Huber, Ernst-Rudolf: Deutsche Verfassungs geschichte seit 1789, 6 Bände, Stuttgart 1957-1981, Bd. II, S. 613. 7 Zu einer gegensätzlichen Wertung kommt Kramer: Fraktionsbindungen in deutschen Volksvertretungen 1819-1849, S.265, spricht aber gleichzeitig von "spontaner Mehrheitsbildung". 8 Die Preußischen Verfassung von 1850 ist abgedruckt in Handbuch der Deutschen Verfassung, hrsg. von Felix Stoerck, Friedrich Wilhelm von Rauchhaupt, 2. Aufl. München, Leipzig 1913, S. 272 ff.

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III. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

"die Mitglieder beider Kammern Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Überzeugung und sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden". Sowohl die Mitglieder des Herrenhauses als auch des Abgeordnetenhauses waren Träger echter Repräsentation9• Die Verfassung gab ihnen auf, durch ihr Wirken allein dem Gemeinwohl, nicht persönlichen, ständischen oder parteipolitischen Sonderinteressen zu dienen. Da ein straff durchorganisiertes Parteiensystem noch nicht existierte 10, nahmen die Abgeordneten auch zu dieser Zeit nicht nur rechtlich, sondern auch tatsächlich ihr Mandat wirklich als freies Mandat gemäß Art. 83 PrV 185011 wahr, wenngleich die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses die Rechte des einzelnen, des fraktionslosen Abgeordneten erheblich beschneidet12• Es kann daher gesagt werden, daß die Volksvertretungen in der parlamentarischen Entwicklung des 19. Jahrhunderts dem klassischen Repräsentationsbegriff, der ihnen in der Verfassung vorgegeben war, auch in der Verfassungswirklichkeit noch verhältnismäßig nahe kamen; die wachsende Bedeutung von Parteien und Fraktionen wird jedoch auf die Rechtsstellung des Abgeordneten zukünftig einen erheblichen Einfluß haben.

3. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 a) Die politischen Parteien in der Gesetzgebung

des Deutschen Reiches

Auch in der Reichsverfassung vom 16. 4. 1871 fanden die Parteien noch keine Erwähnung. Nach Art. 29 DRV 1871 13 waren die Mitglieder des Reichstages "Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden". Mit dieser Formel des klassischen Parlamentsrechts bekannte sich die Reichsverfassung zum Repräsentativsystem und zu seinem Kernstück,

Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, S.96. Siehe bereits unter II 2 b. 11 So auch Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, S.96; siehe auch Roenne: Staatsrecht der preußischen Monarchie, Bd. 1, S.327; Schulze, Herrmann: Das preußische Staatsrecht auf Grundlage des deutschen Staatsrechts dargestellt, Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1888, S. 594 f. 12 Siehe bereits unter 11 2 c. 13 Nach Seydel, Max von: Commentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich, 2. Aufl., Freiburg, Leipzig 1897, S.211 war Art. 83 PrV 1850 Vorbild für Art. 29 DRV 1871. 9

10

3. Die Rechtsstellung nach der Verfassung des Deutschen Reiches (1871)

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dem freien Mandat. Da aber eine politisch effiziente Arbeit im Parlament nur durch Bildung größerer Gruppen möglich war l 4, und auch die Wahl des Reichstags nur mit Parteien durchführbar war, bestimmte das Wahlgesetz des Norddeutschen Bundes von 1869, das vom Reich übernommen wurde, in § 17: "Die Wahlberechtigten haben das Recht, zum Betrieb der den Reichstag betreffenden Wahlangelegenheiten Vereine zu bilden und in geschlossenen Räumen unbewaffnet öffentliche Versammlungen zu veranstalten I5 ." Wenn das Wahlgesetz auch den Begriff der Partei noch vermeidet, wird doch in § 17 erstmals der politischen Entwicklung Rechnung getragen, die die politischen Parteien immer bedeutender werden ließ l6 • Daraus kann geschlossen werden, daß erstmals eine deutsche Verfassungsurkunde, die Verfassung des Kaiserreichs von 1871, durch die übernahme des Wahlgesetzes in Reichsrecht von den politischen Parteien im weiteren Sinne Notiz genommen hat. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches hat damit die politischen Parteien zur Kenntnis genommen, da sich materielles Staatsrecht nicht allein in den Bestimmungen der Verfassungsurkunde erschöpft.

b) Das freie Mandat in der Deutschen Reichsverfassung Gleichwohl war der Abgeordnete im rechtlichen Sinn Inhaber eines freien Mandats17 und nicht Vertreter bestimmter sozialer, wirtschaftlicher oder konfessioneller Interessen, geschweige denn Exponent einer Parteil8 • Es war allerdings schon damals schwer, das freie Mandat in die Wirklichkeit umzusetzen. Der Fraktionszwang war das deutlichste Symptom für die fortschreitende Zerstörung des freien Mandats l9 , wodurch das freie Mandat immer mehr die Züge des imperativen Mandats annahm. Häufige Parteiaustritte und Parteiübertritte, zahlreiche Parteiabspaltungen zeigen, daß die Abgeordneten sich vielfältig von bestehenden Abhängigkeiten freimachten, um in Konfliktsituationen ihr Recht Siehe bereits unter 11 3 b. Siehe Tannin: Geschichte der deutschen Parteien, S.71. 16 Siehe bereits unter II 3 b. 17 Art. 29 DRV 1871. 18 Siehe auch Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.l11 S. 889 f. und Arndt, Adolf: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Auf!., Berlin 1913, S.176. 19 Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.1II S.892; Dambitsch, Ludwig: Die Verfassung des Deutschen Reiches mit Erläuterungen, Berlin 1910, S. 455 f., irrig Tannin: Geschichte der deutschen Parteien, S.101; siehe auch das eindringliche Plädoyer des Reichstagsabgeordneten von Gerlach in: Das Parlament, S. 39 f., für den Fraktionszwang, da sonst die Auflösung des Parlaments in Atome drohe. 14

15

5 Kürschner

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111. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

der autonomen Entscheidung effektiv zu wahren20 • Die Möglichkeit dieser Handlungsweise verdeutlicht welch hoher Grad an Unabhängigkeit den Abgeordneten zu jener Zeit noch verblieben war. Dies war nur denkbar durch das ausdrückliche Bekenntnis der Verfassung zum freien Mandat ohne Einschränkungen21, und durch ein Wahlsystem, das einem Abgeordneten, der sich um seiner politischen überzeugungsfreiheit willen von seiner Partei gelöst hat, die reale Chance ließ, sich bei Neuwahlen auch als parteiunabhängiger Kandidat durchzusetzen22 • Ein wirklich freies Mandat besteht nur, wenn das Wahlsystem auch dem Außenseiter eine wirkliche Aussicht auf Wahlerfolg bietet, was beim Wahlsystem des Deutschen Reiches immerhin noch der Fall warD. c) Das freie Mandat in der Verfassungswirklichkeit

Interessant ist jedoch, daß angesichts der Formierung der politischen Parteien und Fraktionen das freie Mandat in Art. 29 DRV 1871 mit Begriffen wie "unerreichbares Ideal"24, "kaum erreichbarer Zustand"2S umschrieben wird. In diesem Zusammenhang wird den Abgeordneten zugestanden, daß sie von den Versprechen, der Fraktion sich anzuschließen, in deren Namen sie gewählt sind, aus politischen Gründen in den meisten Fällen nicht zurücktreten können26 • Es wird weiter anerkannt, daß die Abgeordneten in solchen Fällen Aufträge übernommen haben, an die sie sich selbstverständlichZT moralisch gebunden fühlen28 • Hier deutet sich eine verfassungsrechtliche Entwicklung an, die in Ansätzen beginnt, das freie Mandat des Abgeordneten als Ausdruck des Repräsentativsystems in Frage zu stellen, um diesen allmählich als Bestandteil einer Fraktion mit allen Rechten und Pflichten zu sehen. Wenn auch die tatsächliche politische Entwicklung als Tenc;lenz, die der Bestimmung des Art. 29 DRV 1871 entgegenstehf9, begriffen wird, wird ihr doch gleichzeitig durch vorsichtige und zurückhaltende Formulierungen Rechnung getragen. Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd: 111 S.890. Art. 29 DRV 1871. 22 Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.III S.890. 23 Zum Wahlrecht siehe im einzelnen Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd.III S. 866 ff. 24 Dambitsch: Verfassung des Deutschen Reiches, S. 455. 25 Ebenda, S. 456. 26 Ebenda. ZT Hervorhebung durch den Verfasser. 28 Dambitsch: Verfassung des Deutschen Reiches, S.456. 29 Ebenda, S.457; Huber, E. R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III 20 21

S.892.

4. Die Rechtsstellung nach der Weimarer Reichsverfassung (1919)

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Trotz dieser sich abzeichnenden Neubestimmung des Mandats bleibt freilich der Fraktionszwang, wie er sich im Deutschen Reichstag zwischen 1871 und 1918 entwickelte, mit der Verfassung unvereinbar030. Er machte den Gehalt des Art. 29 DRV 1871, wonach Abgeordnete an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden sind, zur verfassungsrechtlichen Fiktion. Der Ausbau der Partei- und Fraktionsmacht geschah vielmehr zu einer Zeit, in der das freie Mandat des Abgeordneten in seinem verfassungsrechtlichen Bestand noch in keiner Weise angetastet wurde, ohne rechtliche Grundlage. Die Verfassungswirklichkeit hatte die Verfassung ,überholt', die sich erst allmählich anschickte, eine neue Entwicklung zu berücksichtigen.

4. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach der Weimarer Reichsverfassung von 1919 a) Die politischen Parteien in der Gesetzgebung

des Weimarer Reiches

Die Weimarer Reichsverfassung vom 11. 8.1919 ist die erste deutsche Verfassungsurkunde, die die politischen Parteien, wenn auch nur eher beiläufig, erwähnt3!. Sie beschreibt die verfassungsrechtliche Stellung des Abgeordneten in Art. 21 WRV 1919. Danach sind "die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden". Eine Bestimmung ähnlich des Art. 21 GG 1949, die den politischen Parteien Verfassungsrang zumaß, fehlt der Weimarer Reichsverfassung. Angesichts der parlamentarischen Bedeutung der politischen Parteien32 war dies ein erstaunlicher, viel beachteter Umstand33 , wobei strittig war, ob dieses Nichterwähnen der Parteien als weise Zurückhaltung oder als arge Lücke anzusehen isf4. Das Ignorieren der politischen Parteien So auch Huber, E.R.: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III S.892. Siehe Art. 130 S. 1 WRV 1919 "Die Beamten sind Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei". 32 Siehe bereits unter III 3 a. 33 Dreher, Eduard: Zum Fraktionszwang der Bundestagsabgeordneten, in: NJW 1950,661 ff. 34 Apelt, Willibalt: Geschichte der Weimarer Verfassung, 2. Auf!. München, Berlin 1964, S. 196; Gebhard, Ludwig: Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, MünChen, Berlin, Leipzig 1932, Art. 21 Anm.5a sah es als Zugeständnis an die politische Wirklichkeit an, daß man die Entgegennahme von Aufträgen durch die Abgeordneten nicht schlechthin und ausdrücklich verboten hat, sondern sich mit der Unverbindlichkeit solcher Aufträge begnügte. Daß sie von der Verfassung mißbilligt werden, stand für ihn aber außer Zweifel. 30

3!

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111. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

kennzeichnet aber im Grunde nur den verfassungsrechtlichen Konflikt zweier gegensätzlicher Entwicklungen. Art. 21 WRV 1919 geht ebenso wie Art. 29 DRV 1871, Art. 83 PrV 1850 und § 96 FRV 1849 auf die französische Verfassungsurkunde von 1791 zurück, die das Prinzip des freien Mandats zum ersten Male konstituierte, dabei ganz auf der Rousseauschen Idee der volonte general fußte und damit notwendigerweise parteienfeindlich eingestellt sein mußte. Denn Parteien konnten nach Rousseau nur zu einer Verfälschung des allgemeinen Volkswillens führen3S . b) Das freie Mandat in Literatur und Rechtsprechung

Die Entwicklung zum parlamentarischen Parteienstaat.16 aber führte den Abgeordneten als unmittelbaren Exponent einer volonte general ad absurdum, insbesondere die Einführung des Verhältniswahlrechts, das den Parteien den Einfluß über die Parlamentskandidaten sicherte, kennzeichnet diese Gegenbewegung zugunsten des Parteienstaates sehr deutlich. Interessant ist für die Untersuchung, daß trotz des Fehlens einer verfassungsrechtlichen Verankerung der politischen Parteien aber bereits die Ansicht vertreten wurde, die parlamentarische Demokratie müsse zum imperativen Mandat führen37 . Kautsk ys38 Sätze: "Der sozialdemokratische Abgeordnete ist als solcher kein freier Mann - so lächerlich das klingen mag - , sondern bloß der Beauftragte seiner Partei. Treten seine Anschauungen in Widerspruch zu den ihren, dann muß er aufhören, ihr Vertreter zu sein ... Der heutige Parlamentsabgeordnete ... ist nicht Mandatar seines Wahlkreises, aber er ist, wenn auch nicht rechtlich, so doch tatsächlich Mandatar seiner Partei", kennzeichnen diesen Wandel. Darüber hinaus wurde das freie Mandat als "Dogma naiver Repräsentationsvorstellungen"39 und "Urgroßväterweisheit"40, als ein "verfassungsrechtliches Fossil"41

3S Tatarin-Tarnheyden, Edgar: Die Rechtsstellung der Abgeordneten, ihre Pflichten und Rechte, in: HdbDStR, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 413 ff. (416); Morstein Marx, Fritz: Rechtswirklichkeit und freies Mandat, in: Archiv des Öffentlichen Rechts (AöR) NF 11 Bd.50 (1926), S. 430 ff. (440). 36 Siehe bereits unter 11 4 e. 37 Blume von: Wesen und Aufgabe der Parlamente, Bd.l, S. 336 ff. (338); Kelsen, Hans: Allgemeine Staatslehre, Berlin 1925, S.314, 344 zitiert bei Pistorius, Theodor von: über den Einfluß des Fraktionswechsels auf das Abgeordnetenmandat nach dem württembergischen Staatsrecht, in: AöR NF 11 Bd. 50 (1926), S. 418 ff. (420); Bratfisch: Einfluß des Fraktionswechsels auf das Abgeordnetenmandat, S.56; Morstein Marx: Rechtswirklichkeit und freies Mandat, S. 430 ff. (439). 38 Kautsky, Karl: Parlamentarismus und Demokratie, 2. Auf!. Stuttgart 1911, S. 115. 39 Wittmayer, Leo: Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1922, S. 66, 68. 40 Ebenda. 41 Morstein Marx: Rechtswirklichkeit und freies Mandat, S. 430 ff. (443).

4. Die Rechtsstellung nach der Weimarer Reichsverfassung (1919)

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oder schlicht als Illusion42 kritisiert. Demgegenüber lehnten PoetzschHeffter43 und Gebhard44 als maßgebliche Kommentatoren der Verfassung das imperative Mandat ab, während Anschütz45 bei der Frage der Zulässigkeit des Württembergischen Landeswahlgesetzes46 den Grundsatz des freien Mandats nicht verletzt sah, wenn der Austritt aus der Partei freiwillig erfolgt47• Der Meinungsstreit um das in Art. 21 WRV 1919 statuierte freie Mandat verdeutlicht den Wandel, dem der Freiheitsraum des Abgeordneten unterworfen war. Wenn auch die politischen Parteien noch nicht Eingang in den Verfassungstext fanden, die Verfassungsurkunde sich also noch auf das freie Mandat festlegt48 , wird mit der Anerkennung des parlamentarischen Parteienstaates als politische Realität zugleich das imperative Mandat postuliert. Dieses ideenmäßige Paradoxon kann staatsrechtlich keine reine Auflösung finden, sondern, wie noch darzulegen ist, nur zu einem Komprorniß führen. Morstein Marx' Ansicht49 , "wer sich als Kandidat der Partei verschreibt, der muß diesen Pakt - und sei es selbst ein Pakt mit dem Teufel - erfüllen", kann hier nicht zu einer befriedigenden, geschweige denn verfassungskonformen, Lösung führen, die in der Lage ist, eine gegebene verfassungsrechtliche Entwicklung zu berücksichtigen und somit verfassungsrechtliche Kontinuität zu wahren. c) Das freie Mandat in der Verfassungswirklichkeit

Es bleibt festzustellen, daß die Unabhängigkeit und damit der Freiheitsraum der Abgeordneten nicht nur tatsächlich, sondern erstmals auch verfassungsrechtlich zur Disposition stand. Nicht der Verfassungstext, wohl aber die tatsächlichen politischen Verhältnisse schränkten diesen Freiheitsraum bereits erheblich einso. Der Abgeordnete sinkt in 42 Bühler, Ottmar: Die Reichsverfassung vom 11. 8. 1919 mit Einleitung, Erläuterungen und Gesamtbeurteilung nebst Anhang, enthaltend den Wortlaut der Geschäftsordnungen für den Reichstag und die Reichsregierung, 3. Auf!. Berlin 1929, S. 61. 43 Poetzsch-Heffter, Fritz: Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August 1919, 3. Auf!. Berlin 1928, Art. 21 Anm.4. 44 Gebhardt, Ludwig: Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs Art. 21 Anm.5a. 45 Anschütz: Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 21 Anm. 4. 46 Siehe dazu später unter 111 5 b. 47 Bedenken dagegen Gebhard, Ludwig: Handkommentar zur Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 21 Anm.5c. 48 Siehe auch Tatarin-Tarnheyden: Die Rechtsstellung der Abgeordneten, S. 413 ff. (417). 49 Morstein Marx: Rechtswirklichkeit und freies Mandat, S. 430 ff. (446 f.). so So spricht Bratfisch: Einfluß des Fraktionswecb.sels auf das Abg~9rdne-

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III. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

seiner Bedeutung als Einzelperson, die Folge ist eine zwar nicht de jure erkennbare, aber de facto meßbare Beeinträchtigung des Status, insbesondere auch der fraktionslosen Abgeordneten, die in den Parlamenten der Weimarer Zeit noch sehr zahlreich waren51 • Nicht nur ihre parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten wurden eingeschränktS2 , die anhaltende Diskussion um das freie Mandat mußte zu einer Verunsicherung über ihren verfassungsrechtlichen Status führen, zumal bereits die beiden Württembergischen Landeswahlgesetze von 1920 und 1924 den Mandatsverlust bei freiwilligem Parteiaustritt ausdrücklich festlegten53. Der Württembergische Staatsgerichtshof54 hielt diese Vorschrift mit dem Grundsatz des freien Mandats für vereinbar, ebenso AnschützS5, da der Mandatsverlust nur bei freiwilligem Austritt aus der Partei ausgesprochen werde. Zwar kann der fraktionslose Abgeordnete aus keiner Partei bzw. Fraktion mehr austreten, neben seiner parlamentarischen Wirkungslosigkeit muß er sich jedoch als verfassungsrechtliches Fossil vorkommen, das angesichts der Tendenz zum imperativen Mandat dauernd mit der Möglichkeit rechnen muß, durch entsprechende gesetzliche Regelung sein Mandat zu verlieren; vom politischen Druck und der damit verbundenen Isolation ganz zu schweigen. Nicht der Verfassungstext als solcher, sondern die verfassungsrechtliche Diskussion über das freie Mandat sowie die tatsächlichen politischen Verhältnisse bewirkten somit eine Schmälerung des ohnehin schon eingeschränkten Freiheitsraums der Abgeordneten, insbesondere der fraktionslosen Abgeordneten. 5. Die Rechtsstellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz von 1949 a) Das Spannungsverhältnis zwischen Art. 38 GG und Art. 21 GG

Während also die Weimarer Reichsverfassung die politischen Parteien in ihrer Funktion nirgends auch nur mit einem Wort erwähnte und tenmandat, S. 56 davon, daß von einer Unabhängigkeit der Abgeordneten heute keine Rede mehr sein kann. SI Siehe bereits unter II 4 d. 52 Ebenda. 53 Es heißt dort:' "Ein Abgeordneter verliert seinen Sitz durch Austritt aus derjenigen politischen oder anderen Vereinigung, in deren Auftrag er von einer Wählervereinigung auf eine Vorschlagsliste gesetzt wurde." - Württ. Landeswahlgesetz vom 15. 5. 1920, Reg.Bl. S.243; Württ. Landeswahlgesetz vom 4. 4. 1924, Reg.Bl. S. 228. 54 In Württ.StGH, Urteil vom 3. 5. 1926 in AöR NF 11, Bd.50 (1926), S.424. 55 Anschütz: Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 21 Anm.4, dagegen von Pistonus: Über den Einfluß des Fraktionswechsels auf das Abgeordnetenmandat, S. 418 ff. (423).

5. Die Rechtsstellung nach dem Grundgesetz (1949)

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lediglich in Art. 130 WRV 1919 "mit einer negativen Geste sprödester Abwehr"56 bemerkte, daß die Beamten nicht Diener einer Partei sein sollten, gab das Grundgesetz vom 23.5.1949 dieses ,Versteckspiel' auf, erkannte die politischen Parteien in Art.21 GG 1949 ausdrücklich an und billigte ihnen die Mitwirkung bei der politischen Willensbildung des Volkes zu. Der Widerspruch von Verfassungsrecht und politischsozialer Realität der Weimarer Reichsverfassung war somit durch die Inkorporation der Parteien in das Grundgesetz aufgehoben worden. Damit wurde ein tatsächlich schon lange gegebener Zustand als rechtliche Norm des Verfassungsrechts anerkannt. Es stellt sich aber die Frage, ob Art. 38 Abs.1 S.2 GG trotz des nahezu übereinstimmenden Wortlautes mit Art. 21 WRV 1919 noch in gleicher Weise ausgelegt werden darf, denn Normen müssen im Zusammenhang mit Nachbarnormen gedeutet werden. Eine verfassungskonforme und realitätsbezogene Auslegung muß ferner berücksichtigen, daß die Unabhängigkeit und Gewissensfreiheit des Abgeordneten bereits bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat so umstritten waren, daß ihre Aufnahme in das Grundgesetz zweifelhaft waren. So empfand der Abgeordnete Walter Strauss (CDU) die Formulierung in Art. 46 des Entwurfs von Herrenchiemsee57 als hohle Deklamation, die leider mit der Wirklichkeit nicht mehr übereinstimmte58, die Abgeordnete Selbert (SPD) verstieg sich sogar zu der Bemerkung, daß "Abgeordnete, die glauben, sich aus innerer überzeugung dem Fraktionszwang entziehen zu müssen, nicht immer die erfreulichsten Erscheinungen seien und damit nicht ein Schutz für Außenseiter und Einzelgänger geschaffen werden dürfe, denn nichts anderes als die Parteien seien die Träger des politischen Lebens"59. Obwohl Art. 46 des Ch. E. also zu kontroversen Erörterungen Anlaß gab, wurde er aber aus Gründen der demokratischen Tradition - die Fassung ist in dieser Art bereits bei den Verfassungsberatungen von 1848 entstanden60 - nur im Wortlaut geringfügig geändert und fand Eingang in das Grundgesetz. 56

Wittmayer: Die Weimarer Reichsverfassung, S.64.

Art. 46 Ch.E., der als Ausgangspunkt diente, lautete: "Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden." 58 Siehe Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, im Auftrag der Abwicklungsstelle des Parlamentarischen Rates und des Bundesministers des Innern aufgrund der Verhandlungen des Parlamentarischen Rates, bearb. von Klaus-Berto v. Doemming, Rudolt Werner Füßlein, Werner Matz, in: JöR NF Bd. 1 (1951), S. 346 ff. (354). 59 Ebenda. 60 Siehe bereits unter 111 1 und Maunz, Theodor, in: Theodor Maunz, Günter Dürig, Roman Herzog, Rupert Scholz: Grundgesetz, Kommentar, München 1977, Art. 38 RN 17. 57

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III. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

Damit war die Diskussion der Weimarer Zeit um den Sinn des freien Mandats, die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten6t unterbrochen worden war, wieder aufgenommen.

b) Mandatsverlust bei Parteiausschluß/ -austritt Bis in die nahe Gegenwart gibt daher die Frage nach dem Inhalt des freien Mandats des Art. 38 GG unter Berücksichtigung des Art. 21 GG Anlaß vielfältiger juristischer Erörterungen62 • Kontrovers ist dabei vor allem die Frage, ob ein Mandatsträger, der nach der Wahl aus Partei und/oder Fraktion freiwillig ausscheidet bzw. ausgeschlossen wird, sein Mandat verliert. Dabei soll in diesem Zusammenhang nochmals erwähnt werden, daß die württembergischen Landeswahlgesetze von 1920 und 1924 sogar den Mandatsverlust bei Parteiaustritt festlegten63 , was der Württembergische Staatsgerichtshof mit dem Grundsatz des freien Mandats für vereinbar hieltM. aal Nach einer Ansicht, die - soweit ersichtlich - nur von Jerusalem6S vertreten wird, genießt Art.38 GG absoluten Vorrang. Danach gehören die Parteien in den gesellschaftlichen, die Abgeordneten dagegen in den staatlichen Bereich. Alle Beziehungen des Abgeordneten zu Wählern und Parteien, denen er sein Mandat verdankt, werden für gelöst erklärt.

bb) Eine entgegengesetzte Auffassung66 räumt hingegen Art.21 GG den absoluten Vorrang ein, da Art. 38 GG im modernen Parteienstaat ein Anachronismus sei. Als in der sechsten Wahlperiode des Deutschen Bundestages eine größere Zahl von Abgeordneten Partei und Fraktion unter Beibehaltung ihres Mandats wechselten und damit die Mehrheitsverhältnisse zwischen Regierung und Opposition veränderten, wurde in diesem Zusammenhang die Ansicht vertreten, Art. 38 GG richte sich nur gegen ein imperatives Mandat, verbiete aber nicht den Mandatsverlust bei Ausschei61 Im Jahre 1934 wurde der Austritt oder Ausschluß aus der NSDAP als Grund für einen Mandatsverlust in das Reichswahlgesetz aufgenommen; siehe Gesetz zur Änderung des Reichswahlgesetzes vom 3. 7. 1934, RGBl I S.159. 62 Siehe die umfangreichen Literaturhinweise bei Spalckhaver, Jürgen: Mandatsverlust bei Fraktionswechsel und freies Abgeordnetenmandat, Diss. Göttingen 1977, S. 111 ff. 63 Siehe bereits unter III 4 c. 64 Ebenda. 6S Jerusalem, Franz: Die Zersetzung im Rechtsdenken, München 1968, S. 141. 66 Bermbach, Udo: Probleme desParteienstaates, der Fall Littmann in: ZParl 1970, 342 ff. (350); Schüßler, Hans: Abgeordnete dürfen ihre Wähler nicht um die Mandate prellen, in: Vorwärts vom 27. 7. 1972, S. 46 ff. (51).

5. Die Rechtsstellung nach dem Grundgesetz (1949)

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den eines Abgeordneten aus seiner Fraktion. Der Gesetzgeber könne daher durch einfaches Gesetz bestimmen, ein Abgeordneter verliere seinen Sitz -

bei freiwilligem Übertritt zu einer anderen Partei, sofern er nicht in einem Wahlkreis gewählt worden isf7

-

bei freiwilligem Austritt aus seiner Fraktion ohne Rücksicht darauf, ob er in einem Wahlkreis oder über die Liste einer Partei gewählt worden isf8

-

bei freiwilligem Austritt und bei Ausschluß aus seiner Partei69

-

bei einem Übertritt zu einer anderen Partei aus nicht billigenswerten Motiven70 •

ce) Nach einer vermittelnden Ansicht71 werden Art. 38 GG und Art. 21 GG zwar auch als Gegensatz gesehen, weder die eine noch die andere Vorschrift aber wird als absolut vorrangig behandelt. Mit Hilfe des freien Mandats, das Leibholz als Ausdruck eines überholten Repräsentativsystems betrachtet, sollen die äußersten Konsequenzen des modernen Parteienstaates abgewandt werden und der Mandatsverlust bei Ausscheiden des Abgeordneten aus seiner Fraktion (Partei) vermieden werden. Nach Leibholz' Auffassung ist die parteienstaatliche Demokratie eine Form der Demokratie, die sich von der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie strukturell grundsätzlich unterscheidet, und mit den Zwängen und Loyalitäten des Art. 38 GG nicht vereinbar ist. Im Ergeb67 Kriele, Martin: Mandatsverlust bei Parteiwechsel, in: ZRP 1969, 241 ff., der dem ausgetretenen Abgeordneten die Möglichkeit einräumen will, fraktionslos zu sein; ders.: Mandatsverlust bei Parteiwechsel, in: ZRP 1971, 99 ff.; Henkel, Joachim: Mandatsverlust bei Ausscheiden eines Abgeordneten aus seiner Fraktion oder Partei - Gedanken und Vorschläge zu einem Gesetzentwurf, in: DÖV 1974, 181 ff. (186) der dem Wahlkreisabgeordneten die Möglichkeit der unmittelbaren Nachwahl geben will; Steiger, Heinhard: Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, Eine Untersuchung zur rechtlichen Stellung des Deutschen Bundestages, Berlin 1973, S.202. 68 Schäfer, Friedrich: Problematik des Artikels 38 Grundgesetz, in: Zwischenbericht der Enquetekommission für Fragen der Verfassungsreform gemäß Beschluß des Deutschen Bundestages, BT-Drs.6/3829 S. 73 f. (75); Säcker, Horst: Abgeordnetenmandat und Fraktionswechsel, in: ZParl 1972, 347 ff. (352, 363) hält ein derartiges Gesetz für verfassungsmäßig, für verfassungspolitisch aber unerwünscht. 69 Schüßler: Abgeordnete dürfen ihre Wähler nicht um die Mandate prellen, S.51; Kramer, Helmut: Mandatsverlust bei Parteiwechsel, in: RuP 72, 107 ff.; Siegfried, Franz Ferdinand: Mandatsverlust bei Parteiausschluß, Parteiaustritt oder Parteiwechsel, in: ZRP 1971, 9 ff. (14). 70 Kremer: Abgeordnete zwischen Entscheiungsfreiheit und Parteidisziplin, S.70. 71 Leibholz, Gerhard: Parteienstaat und repräsentative Demokratie, in: DVBI 1951, 1 ff. (6), ders.: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Auf!. Karlsruhe 1967, S. 78 ff.

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111. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

nis folgt dem auch das Bundesverfassungsgericht72 , das den Mandatsverlust nur im Falle des Verbots einer für verfassungswidrig erklärten Partei für zulässig erklärt haf3• dd) Eine weitere Ansicht74 schließlich gelangt zum gleichen Ergebnis, verneint aber einen Widerspruch zwischen Art. 38 GG und Art. 21 GG. Danach sollen sich beide Vorschriften wie zwei schneidende Kreise zueinander verhalten, an deren Schnittpunkten die zuerst genannte Vorschrift als lex specialis dem zuletzt genannten allgemeineren Rechtssatz vorgehen soll. Badura75 begründet ein Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen Art. 38 GG und Art. 21 GG durch eine Auslegung des freien Mandats, das im Zusammenhang der Art. 21, 20 Abs. 2, 38 Abs. 1 S. 1 GG zu sehen ist und von daher dem gewandelten Sinn des freien Mandats in und für die parteienstaatliche Demokratie rechtfertigt. Von den hier erläuterten unterschiedlichen Standpunkten gelangten Rechtsprechung und die überwiegende Literatur also zu dem Ergebnis, daß ein gesetzlich geregelter Mandatsverlust bei Ausscheiden eines Abgeordneten aus seiner Fraktion mit Art. 38 GG nicht vereinbar ist76 • c) Der fraktionslose Abgeordnete in diesem Spannungsverhältnis

Die Auswirkungen des aufgezeigten Meinungsstreites auf den Status des fraktionslosen Abgeordneten: aal Die Auffassung, die Mandat und Partei- bzw. Fraktionszugehörigkeit verknüpft, führt in letzter Konsequenz zu einem von den Parteien abhängigen imperativen Mandat. Ein Mandatsverlust bei freiwilligem oder unfreiwilligem Ausscheiden des Abgeordneten aus Fraktion bzw. Partei hätte zur Folge, daß es fraktionslose Abgeordnete im 72 Zuletzt im sogenannten ,Diätenurteil' , DÖV 1975, 815 ff. (816); gegen die vom Bundesverfassungsgericht "unkritisch" übernommene These vom Parteienstaat Henkel, Joachim: Urteilsanmerkung zu BVerfG Urt. v. 5. 11. 1975 - 2 BvR 193/74, in: DÖV 1975, 819; von Parlamentsunfreundlichkeit des Urteils in diesm Zusammenhang spricht Thaysen, Uwe: Die Volksvertretungen der Bundesrepublik und das Bundesverfassungsgericht: uneins in ihrem Demokratie- und Parlamentsverständnis, in: ZParl 1976, 3 f. (12). 73 BVerfGE (SRP-Urteil) 2, 1 ff. (72 f.); BVerfGE (KPD-Urteil) 5, 85 ff. (392). 74 Maunz in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Kommentar, Art. 38 RN 18 ff., 27. 75 Badura in Bonner Kommentar, Art. 38 RN 69-72. 76 Siehe u. a. Kremer: Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, S. 68 ff.; Ritzel / Bücker: Handbuch für die parlamentarische Praxis, Vorbem.3 zu § 10; Henke, Wilhelm: Das Recht der politischen Parteien, 2. Auf!. Göttingen 1972, S.135; Badura in Bonner Kommentar, Art. 38 RN 80.

5. Die Rechtsstellung nach dem Grundgesetz (1949)

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Deutschen Bundestag nicht geben könnte77 , wobei die Möglichkeit einer erfolgreichen Direktkandidatur eines unabhängigen Wahlbewerbers in Anbetracht des Wahlrechts außer acht bleiben soll. Die im Parteienparlament bereits bestehende politische Bindung des Abgeordneten an seine Partei und auch an Parteigremien78 würde um eine parlaments rechtliche Abhängigkeit erweitert19 • Dies gilt sowohl für den Fall des Ausschlusses aus der Partei bzw. Fraktion, wobei der Fraktion praktisch eine Art Verfügungsgewalt über den Abgeordneten eingeräumt würde, als auch im Falle des freiwilligen AustrittsSO, den die Fraktion, durch die Geschäftsordnung des Bundestages mit entsprechenden Rechten ausgestattet, praktisch erzwingen könnte, indem sie dem Abgeordneten das weitere Verbleiben in ihr unerträglich macht. Gerade der Mandatsverlust aufgrund des Ausschlusses aus der Partei bzw. Fraktion würde die direkte Einführung des imperativen Mandats bedeuten, das etwa - unausgesprochen - die DDR-Verfassung vom 6. 4. 1968 k~nnt81. Diese Verfassung von 196882 , die im Falle grober Pflichtverletzung in Art. 57 Abs.2 83 die Abberufung des Abgeordneten 77 Vgl. etwa die Entwicklung in der Volkskammer der DDR, in der es nie fraktionslose Abgeordnete gab, diese Möglichkeit von der Geschäftsordnung der Volkskammer vom 7. 10. 1974 (GBI I S.469) auch gar nicht mehr berücksichtigt wird, siehe Mampel, Siegfried: Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar, 2. Auf!. Frankfurt 1982, Art. 55 RN 23. 78 Siehe die Entwicklung bei der Fraktion "Die Grünen" im 10. Deutschen Bundestag. 79 Siehe auch Tsatsos, Dimitris: Mandatsverlust bei Verlust der Parteimitgliedschaft?, in: DÖV 1971,253 ff. (255). so So auch Scheuner, Ulrich: Das imperative Mandat in Staat und Gemeinde, in: Festschrift für Hans Peter Ipsen, Tübingen 1977, S. 143 ff. (163). 81 Siehe Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Dokumente Kommentar, Bd.2, hrsg. von Klaus Sorgenicht, Wol/gang Weichelt, Tord Riemann und Hans-Joachim Semler, Berlin (Ost) 1969, Art. 56 S. 276 f. 82 Die Gründungsverfassung der DDR vom 7. 10. 1949 hingegen enthielt in Art. 51 Abs.3: "Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden", wortgleich mit Art. 38 Abs. 1 S.2 GG und Art. 21 WRV 1919 die klassische Formulierung des freien Mandats; Anträge, die Abberufbarkeit des Abgeordneten vorzusehen, wurden im Verfassungsausschuß abgelehnt (siehe Roggemann, Herwig: Die DDR-Verfassungen, Quellen zur Rechtsvergleichung, 2. Auf!. Berlin 1976, S.27). Der Wortlaut des Art.51 Abs.3 stimmte allerdings von Anfang an mit dem Wesen einer Volksvertretung nach den marxistisch-leninistischen Vorstellungen - Identitätsprinzip statt Repräsentationsprinzip nicht überein (siehe Mampel: Die sozialistische Verfassung der DDR, Art. 56 RN 2); bereits 1958 erklärte Poppe (Volkssouveränität und AbgeordnetensteIlung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle/ Wittenberg, S. 331 ff., zitiert nach Lapp, Peter Joachim: Die Volkskammer der DDR, Opladen 1975, S.57) nach entsprechenden Änderungen der Geschäftsordnung der Volkskammer, "daß das freie Mandat unter unseren sozialistischen Bedingungen gegenstandlos geworden ist". 83 Art. 57 Abs. 2 DDR Verfassung 1968: "Ein Abgeordneter, der seine Pflich-

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IH. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

vorsieht, hat sich aber für den Parteienstaat entschieden und damit eine andere Entwicklungsmöglichkeit ausgeschlossen84 , während das Grundgesetz sich mit Art. 38 und Art. 21 für einen Formelkompromiß zwischen repräsentativ-parlamentarischer Demokratie und Parteienstaat entschieden hat. Die rechtliche Abhängigkeit des Abgeordneten von Partei bzw. Fraktion würde darüber hinaus die MehrheitsverhäItnisse im Plenum während der Legislaturperiode zementieren, die ohnehin geringe Mobilität ginge verloren, da fraktionsunabhängige Initiativen ausgeschlossen wären. Eine derartige Überhöhung der Partei- bzw. Fraktionsmacht würde dem Grundsatz der verfassungsrechtlichen Kontinuität des freien Mandats, das als Verfassungsprinzip der Repräsentation seit 1849 fester Bestandteil deutscher Verfassungen ist, nicht gerecht; sie ist daher mit Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG unvereinbar8S. bb) Unabhängig davon wäre auch eine Unterscheidung zwischen ,Listenabgeordneten' und ,Wahlkreis abgeordneten' mit Art. 38 Abs. 1 S.2 GG nicht vereinbar. Die unbestreitbare Tatsache, daß der ,Listenabgeordnete' in stärkerem Maße sein Mandat der Partei verdankt und der Wähler in seiner Entscheidung für eine Liste primär eine Entscheidung für die Partei getroffen hat, kann nicht eine Differenzierung in der Rechtsstellung der Abgeordneten begründen86 • Ein Ergebnis, daß zu zwei Abgeordnetenarten, zu zwei Unabhängigkeitsgraden der Abgeordneten sowie zu zwei verschiedenen Legitimationsarten des parlamentarischen Mandats führt, ist unvereinbar mit dem grundgesetzlichen Parlamentsbild87 • Zu berücksichtigen ist schließlich, daß auch im Parteienstaat die Wahlen personenbezogen bleiben. Dafür spricht, daß die Parteien ihre Spitzenkandidaten regelmäßig auf die vordersten Listenplätze setzen. ce) Auch der Ansicht Jerusalems88 , der Art. 38 GG eindeutig den Vorrang einräumt, kann nicht beigepflichtet werden, da sie rein formal die Parteien in den gesellschaftlichen, die Abgeordneten in den staatlichen Bereich einordnet und alle Beziehungen zwischen dem Abgeordneten, seinen Wählern und seiner Partei für gelöst erklärt. Indem sie sich ten gröblich verletzt, kann von den Wählern gemäß dem gesetzlich festgelegten Verfahren abberufen werden." 84 Roggemann, Herwig: Die Verfassung der DDR, Entstehung, Analyse, Vergleich, Text, Opladen 1970, S. 172. 85 So auch Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform, Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Teil I: Parlament und Regierung, hrsg. vom Presse- und Informationsamt des Deutschen Bundestages in der Schriftenreihe ,Zur Sache' 3/76, S.82. 86 Tsatsos: Mandatsverlust, DÖV 1971, 253 ff. (255). 87 Ebenda. 88 Jerusalem: Zersetzung im Rechtsdenken, S. 141.

5. Die Rechtsstellung nach dem Grundgesetz (1949)

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rechtshistorisch zwar für den unabhängigen liberal-repräsentativen Abgeordnetenstatus ausspricht und damit fraktionsunabhängige Aktivitäten begünstigt, damit auch den Status des fraktionslosen Abgeordneten anerkennt, muß sie sich aber wegen ihrer formalistischen Betrachtungsweise Realitätsferne vorwerfen lassen, wenn sie etwa den politischen Parteien die Beteiligung an der staatlichen WiIlensbildung rundherum abspricht89• Die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft wird der Wechselwirkung beider Bereiche aufeinander sowie deren institutionellen Verschränkungen nicht gerecht und ist daher abzulehnen9O • dd) Die von Leibholz91 begründete Lehre, die weder Art. 38 GG noch Art.21 GG den Vorrang einräumt, läßt zwar fraktionsunabhängigen Initiativen Raum und sichert auch die rechtliche Existenz fraktionsloser Parlamentarier, indem sie den Mandatsverlust bei Partei- bzw. Fraktionsaustritt vermeidet, ist jedoch aufgrund ihres Ansatzes nicht geeignet, den Inhalt des freien Mandats in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG überzeugend zu bestimmen. Leibholz beurteilt das freie Mandat als Ausdruck eines überholten Repräsentativsystems, das im Sinne eines Rückzugsgefechts zu verstehen sei92 • Er stützt seine Argumentation auf die politische Wirklichkeit, die den repräsentativen Parlamentarismus zum Klischee werden ließ93. Diese Auslegung verkennt aber in ihrem Ansatz, daß das freie Mandat gerade im Parteienstaat eine spezifische Funktion erfüllt und nicht aus traditionsgläubiger Blindheit gegenüber der parteienstaatlichen Wirklichkeit in die Verfassung aufgenommen wurde94 • Es ist richtig, daß die in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG garantierte Freiheit des Abgeordnetenmandats durch Art. 21 GG und die ihm entsprechende Verfassungswirklichkeit eine Relativierung bezüglich der Unabhängigkeit des Abgeordneten gegenüber der Partei, durch die er in das Parlament gewählt worden ist, erfahren hat95 • Das parteienstaatliche freie Mandat ist daher in seinem staatsrechtlichen Inhalt zu ermitteln. Badura96 spricht in diesem Zusammenhang vom "freien Mandat des parteigebundenen Abgeordneten"97. Ebenda. Siehe auch Spalckhaver: Mandatsverlust bei Fraktionswechsel und freies Abgeordnetenmandat, S.113 f. 91 Leibholz: Parteienstaat, in: DVBI 1951, 1 ff. (6), ders.: Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 78 ff. 92 Leibholz: Parteienstaat, in: DVBl 1951, 1 ff. (4). 93 Leibholz: Parteienstaat, in: DVBl 1951, 1 ff. (2). 94 Badura in Bonner Kommentar, Art. 38 RN 69. 95 Tsatsos: Mandatsverlust, DÖV 1971, 253 ff. (254). 96 Badura in Bonner Kommentar, Art. 38 RN 71. 97 Zur Neudefinition des freien Mandats vergleiche später unter V 2. 89

90

III. Die Rechtsstellung der Abgeordneten in deutschen Parlamenten

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d) Das Grundgesetz als Träger der Verfassungswirklichkeit

Damit bleibt festzustellen, daß die sich schon zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung andeutende Tendenz, den Abgeordneten durch eine Diskussion über eine Neudefinition des freien Mandats stärker an Partei und Fraktion zu binden, im Grundgesetz durch die Aufnahme der politischen Parteien in Art. 21 GG ihre bisher stärkste Ausprägung fand. Das Grundgesetz trägt als erste deutsche Verfassungsurkunde einer Entwicklung auch verfassungsrechtlich Rechnung, die - längst politische Realität geworden - seit 1871 die Parteien als maßgebender Faktor des parlamentarischen und politischen Lebens auswies. Das Parteiengesetz und das Bundeswahlgesetz konkretisieren ihre gewachsene Bedeutung. Die Entscheidung des Verfassungsgebers, die politischen Parteien ausdrücklich als Faktor der politischen Willensbildung in das Grundgesetz aufzunehmen, sie damit aus dem Bereich des politisch-soziologischen in Verfassungsrang zu heben, ist bei der Bestimmung des Freiheitsraums des Abgeordneten zu beachten. e) Der fraktionslose Abgeordnete

als Träger des ,freien Mandats'

Diese zwingende Berücksichtigung des Art. 21 Abs.l S.1 GG offenbart freilich auch, daß das im Sinne des Wortes ,freie Mandat' nur noch der fraktionslose Abgeordnete ausüben kann, denn hinter dem fraktionsgebundenen Parlamentarier steht die Parteibindung. Diese Bindung und das daraus resultierende Gebot zur Loyalität sowie die Drohung der Partei, ihn nicht mehr als Kandidaten aufzustellen, bietet große Möglichkeiten der Einflußnahme. Der fraktionslose Abgeordnete hingegen ist in der Lage, unbeeinflußt von einer im Einzelfall ,verordneten' Parteimeinung nur seinem Gewissen zu folgen; Fraktionsdisziplin oder Fraktionszwang sind für ihn unbekannte Größen. Dieser erweiterte Freiheitsraum bezieht sich allerdings nur auf den Gewissensentscheid bei der Abstimmung. Da der Status des fraktionslosen Abgeordneten mit einer erheblichen Beschränkung seiner parlamentarischen Wirkungsmöglichkeiten verbunden ist98 , erfährt dieser neugewonnene Freiheitsraum durch die parlamentarische Praxis eine derartige Relativierung, daß er letztendlich geringer ist als der des fraktions gebundenen Abgeordneten. Im Hinblick auf die Wertentscheidung des Verfassungsgebers für Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG kommt also der fraktionslose Abgeordnete dem Parlamentariertyp des Honoratiorenparla98

Siehe dazu später unter V 2 b.

5. Die Rechtsstellung nach dem Grundgesetz (1949)

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ments der Frankfurter Nationalversammlung sehr nahe. Angesichts der Bedeutung der Parteien auch im politischen Bereich sowie im Hinblick auf die tumultartigen Zustände in der Frankfurter Nationalversammlung kann und soll hier nicht einer Renaissance der unabhängigen Persönlichkeiten, die vornehmlich aufgrund ihres Ansehens gewählt worden waren, das Wort geredet werden. Freies Mandat kann sicher nicht Mandatsfreiheit im Sinne eines verfassungsrechtlich geschützten individuellen Beliebens bedeuten, zumal der Abgeordnete als solcher nicht Grundrechtsträger, sondern Repräsentant des Volkes ist. Es ist aber der "Schlüsselbegriff"99 des repräsentativ-parlamentarischen Regierungssystems schlechthin, durch das allein die Unabhängigkeit des Abgeordneten gesichert und die Erfüllung seiner Aufgabe gewährleistet wird, während das imperative Mandat, das praktisch bei einem Mandatsverlust bei Partei- bzw. Fraktionsaustritt eingeführt würde, den Abgeordneten zu einer kalkulierbaren Zählfigur degradieren würde, da es ihm praktisch verwehrt wäre, auf Meinungen, Vorstellungen und Interessensforderungen, die außerhalb der Parteilinie liegen, einzugehen. f) Die Notwendigkeit einer Neudefinition des ,freien Mandats'

Die rechtshistorische Betrachtung sowohl der parlamentarischen Entwicklung seit 1848 als auch der verfassungsrechtlichen Stellung des Abgeordneten führt also zu dem Ergebnis, daß das ,freie Mandat', obwohl Inhalt jeder Verfassungsurkunde, in Wahrheit seit Inkrafttreten der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 verfassungs rechtlich zweifelhaft geworden ist. Das Grundgesetz entspricht der Kontinuität deutscher Verfassungen in Art. 38, berücksichtigt aber erstmals mit der Aufnahme der politischen Parteien in Art. 21 auch die entstandenen parlamentarischen Realitäten. Dieser - längst überfällige - Akt der verfassungsrechtlichen Legitimation der politischen Parteien engt freilich die repräsentative Stellung des Abgeordneten weiter ein, eine Neudefinition des ,freien Mandats'IOO, das aufgrund des Art. 21 GG nunmehr auch vom Wortsinn nicht mehr existiert, ist daher zwingend geboten. Einer solchen Neubestimmung muß die Klärung der Frage, ob der faktisch aufgrund Verfassungsrechts noch verbliebene, begrenzte Freiheitsraum des einzelnen Abgeordneten nicht durch geltende Rechtsnormen oder parlamentarisches Gewohnheitsrecht unzulässig eingeschränkt ist, vorausgehen.

99 Zu diesem Terminus Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, München 1977, S.842. 100 Siehe später unter V 2.

IV. Prüfung einer Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten 1. Der Freiheitsraum des Abgeordneten unter Berücksichtigung der Geschäftsordnungsautonomie a) Die Geschäftsordnungsautonomie

in parlamentshistorischer Kontinuität

Im Rahmen seiner durch Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten Autonomie gibt sich der Bundestag eine Geschäftsordnung. Die Geschäftsordnung dient der Regelung des Verfahrens der parlamentarischen Arbeit; aus dieser Aufgabe ergeben sich zugleich die Grenzen ihrer Wirkungskraft!. Dementsprechend hat die Geschäftsordnung lediglich Binnenwirkung, sie regelt die inneren Angelegenheiten des Bundestages und ist nicht in der Lage, andere Staatsorgane oder die Bürger zu verpflichten. Umgekehrt bindet sie aber auch alle Abgeordneten, gleich, ob sie dem Bundestag bei ihrem Erlaß bereits angehört haben und ob sie der Geschäftsordnung zugestimmt haben2• Die Geschäftsordnungsautonomie steht in engem sachlichen Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlichen Status, den das Parlament als Verfassungsorgan im Verlauf der historischen Entwicklung des deutschen Parlamentsrechts - vor allem nach dem übergang zur parlamentarischen Demokratie der Weimarer Republik - gewonnen hat. An diese Tradition knüpft Art. 40 Abs. 1 S.2 GG, wie auch die weitgehende übereinstimmung seines Wortlauts mit den einschlägigen früheren Regelungen zeigtJ, inhaltlich an. Das bedeutet, daß diejenigen Regelungsgegenstände, die herkömmlich - insbesondere mit Rücksicht auf die Rechtslage zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung - als autonome Geschäftsordnungsangelegenheiten des Parlaments gelten, prinzipiell auch vom Grundgesetz diesem Bereich zugewiesen werden.

! Siehe Maunz in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Kommentar, Art. 40 RN 17. 2 Siehe Maunz in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Grundgesetz, Kommentar, Art. 40 RN 18. 3 Vgl. etwa Art. 78 PrV 1850, Art. 27 DRV 1871, Art. 26 WRV 1919.

1.

Der Freiheitsraum und die Geschäftsordnungsautonomie

81

Das Organisationsrecht liegt daher in den Händen des Parlaments selbst. Die Geschäftsordnung hat die Funktion, die Erfüllung der dem Bundestag vom Grundgesetz aufgegebenen Aufgaben zu gewährleisten. Dazu gehört notwendigerweise die innere Organisation des Parlaments, also die Bildung der für eine geordnete verfahrensmäßige Behandlung der parlamentarischen Geschäfte erforderlichen Organe und die Bestimmung ihrer Aufgaben. b) Das Selbstorganisationsrecht als Ausfluß der Geschäftsordnungsautonomie

Das Selbstorganisationsrecht des Parlaments gilt nicht unbeschränkt. Die Grenze der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie liegt dort, wo die organschaftliche Stellung des Abgeordneten aus Art. 38 Abs.l S. 2 GG, sein verfassungsrechtlicher Status berührt wird. So wäre die autonome Regelungsbefugnis des Parlaments ersichtlich überschritten, wenn dem Abgeordneten die ihm durch das Grundgesetz ausdrücklich gewährten, zu seinem verfassungsrechtlichen Status gehörigen Rechte durch eine lediglich kraft der Geschäftsordnungsautonomie ergehende Regelung entzogen oder beeinträchtigt würden. aal Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts4 liegt eine Beeinträchtigung des Status des Abgeordneten immer nur dann vor, wenn der Bundestag die ihm mit der autonomen Regelungsbefugnis eingeräumte Gestaltungsfreiheit überschreitet oder mißbraucht. Ein solch unzulässiger Eingriff in den verfassungsrechtlichen Status des Parlamentariers ist dann gegeben, wenn die entsprechende Bestimmung der Geschäftsordnung unter keinem sachlich vertretbaren Gesichtspunkt zu rechtfertigen ists. Im sogenannten ,Redezeiturteil'6 hat das Bundesverfassungsgericht das Recht des Abgeordneten, im Bundestag das Wort zu ergreifen, ausdrücklich anerkannf, gleichzeitig aber festgestellt, daß die Ausübung dieses Rechts den vom Parlament kraft seiner Autonomie gesetzten Schranken unterliegt. Dementsprechend sei der durch Art. 38 GG gewährleistete Abgeordnetenstatus durch die Verteilung einer vom Bundestag beschlossenen Gesamtredezeit auf die einzelnen Fraktionen nach ihrer Stärke nicht verletzt, wenngleich die Grenze des Mißbrauchs zu beachten sei8 • BVerfGE 10,4 ff. (13). BVerfGE 10,4 ff. (18). 6 BVerfGE 10,4 ff. 7 BVerfGE 10,4 ff. (12). 8 Siehe dazu auch später unter IV 6 f. 4

5

&

Kürschner

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IV. Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten

bb) Darüber hinaus verbietet auch die Rechtsqualität der Geschäftsordnung des Bundestages eine Beeinträchtigung des verfassungsrechtlich gesicherten Status des Abgeordneten, die der Verfassung im Range nachsteht9 und sich somit weder zu den ausdrücklichen Regelungen des Grundgesetzes noch zu den allgemeinen Verfassungsprinzipien und den der Verfassung immanenten Wertentscheidungen in Widerspruch setzen darf. Zu den Verfassungsgrundsätzen, die der Bundestag bei der Regelung seiner Geschäftsordnungsangelegenheiten zu beachten hat, gehört das Prinzip der repräsentativen Demokratie. Danach ist die Mitwirkung aller Abgeordneten bei der Willensbildung des Parlaments grundsätzlich erforderlichlO • Zu untersuchen ist somit auch, inwieweit die einschlägigen Bestimmungen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages dem hohen Anspruch, die Mitwirkung aller Abgeordneten bei der parlamentarischen Willens bildung zu garantieren, gerecht werden. Die Klärung dieser Frage bedarf der Berücksichtigung des Art. 40 Abs.l S.2 GG, der die sich aus Art. 38 Abs. 1 S.2 GG ergebenden Mitwirkungsrechte geschäftsordnungsrechtlich konkretisiert. Als Grundlage für den inneren Organisationsaufbau legitimiert er das Parlament kraft der ihm eingeräumten Geschäftsordnungsautonomie zu begrenzten Einschränkungen der Status rechte des Abgeordneten. 2. Die Rechte der Fraktionen aus § 57 Abs. 2 GOßT a) Das Benennungsrecht der Fraktionen nach der GOBT Eine Form der Mitwirkung der Parlamentarier könnte sich aus § 57 Abs.2 GOBT11 ergeben. Die Bestimmung lautet: "Die Fraktionen benennen die Ausschußmitglieder und deren Stellvertreter." Die Vertretung fraktionsloser Abgeordneter in den Ausschüssen wird in den einschlägigen Bestimmungen der Geschäftsordnung nicht angesprochen. Gleiches gilt für die Untersuchungsausschüsse, die bei öffentlichem Interesse eines Beweisthemas gebildet werden (Art. 44 Abs. 1 GG i. V. m. § 54 Abs. 2 GOBT), sowie für Unterausschüsse, die jeder ständige Ausschuß zur Vorbereitung seiner Arbeiten mit bestimmten Aufträgen einsetzen kann (§ 55 Abs. 1 S. 1 GOBT). Diesen Gremien ist gemeinsam, So BVerfGE 1, 144 ff. (148). BVerfGE 44, 308 ff. (316) sowie Amdt, Klaus Friedrich: Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, Berlin 1966, 9

10

S.74.

11 Soweit nichts anderes angegeben, ist die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Neufassung vom 2. 7. 1980 (BGBI I S. 1238) gemeint.

2. Die Rechte der Fraktionen aus § 57 Abs. 2 GOBT

8B

daß sie dem Stärkeverhältnis der Fraktionen entspreChen müssen (§§ 54 Abs. 2, 55 Abs. 3 GOBT). Der Vollständigkeit halber soll erwähnt werden, daß auch die Zusammensetzung der Enquete-Kommissionen (aus Parlamentariern und Nichtparlamentariern bestehend), die mit wissenschaftlichen Analysen die praktische Politik bereichern sollen, des Ältestenrates, des Schriftführerkollegiums ohne Berücksichtigung der fraktionslosen Abgeordneten zwischen den Fraktionen ausgehandelt wird (§§ 56 Abs. 2, 6 Abs. 1 S.3 GOBT).

b) Die verfassungsrechtliche Anerkennung der Fraktionen Das Benennungsrecht der Fraktionen und als deren Vorläufer der Abteilungen wird von diesen seit Beginn des deutschen Parlamentarismus ausgeübt U und kann nunmehr angesichts der Legalisierung des Parteienstaates durch Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG: "Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" nicht ernsthaft in Frage gestellt werden l3 . Dementsprechend führt das Bundesverfassungsgericht14 aus: "Die Fraktionen sind Teile und ständige Gliederungen des Bundestages, die durch dessen Geschäftsordnung anerkannt und mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Sie sind notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens, nämlich der durch Verfassung und Geschäftsordnung geregelten Tätigkeit des Bundestages." c) Das Benennungsrecht gemäß § 57 Abs. 2 GOBT in der Praxis

Die praktische Ausgestaltung des Benennungsrechts ist in § 54 i. V. m. §§ 57 Abs. 1, 12 GOBT geregelt. Danach ist die Zusammensetzung der

Ausschüsse sowie die Regelung des Vorsitzes in den Ausschüssen im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen. Der Bundestag bestimmt das System der Zusammensetzung der Ausschüsse, ihre Anzahl sowie die Zahl ihrer Mitglieder l5 • Er legt zugleich gemäß § 69 Abs. 2 GOBT fest, für welche Ausschüsse sich das Zutritts recht auf die 12 Siehe bereits die Ausführungen über die parlamentarische Entwicklung unter 11 1 - 11 3. 13 Die parteienstaatlich ausgestaltete Demokratie enthält darüber hinaus nicht nur in Art.21 GG eine verfassungsrechtliche Anerkennung der Fraktionen, sondern expressis verbis deren Bestätigung in Art. 53 a GG. 14 BVerfGE 20, 56 ff. (104). 15 Zuletzt zu Beginn der neunten Wahlperiode, siehe Pl.Pr. 9 WP/6. Sitzung/26. 11. 80/S. 75 A; BT-Drs. 9/10, 9/11.

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IV. Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten

ordentlichen Mitglieder und deren namentlich benannte Stellvertreter beschränkt l6 • Der endgültigen personellen Zusammensetzung der Ausschüsse 17 gehen langwierige Verhandlungen zwischen den Parlamentarischen Geschäftsführern und den einzelnen Abgeordneten voraus, da es für diese von erheblicher Bedeutung ist, welchem Ausschuß sie zukünftig angehören werden. Diese Absprachen lassen sich vom Konsensprinzip leiten. Nach Abschluß der Ausschußbesetzung machen die Parlamentarischen Geschäftsführer dem Bundestagspräsidenten entsprechende Mitteilung, so daß sich wenig später die Ausschüsse unter Vorsitz von Mitgliedern des Präsidiums des Deutschen Bundestages konstituieren l8 • Die Geschäftsordnung des Bundestages sieht in § 57 Abs.3 vor, daß der Bundestagspräsident die erstmalig benannten Mitglieder und die späteren Änderungen dem Bundestag bekanntgibt. In der parlamentarischen Praxis aber erfolgt die Bekanntgabe nicht dem Plenum, sondern als amtliche Mitteilung den Mitgliedern des Hauses und den Ausschüssen gegenüberl9 • d) Das (angebliche) Abberufungsrecht der Fraktionen

Es bedarf der Klärung, ob dem unbestrittenen Benennungsrecht der Fraktionen gemäß § 57 Abs. 2 GOBT ein ebenso unzweifelhaftes Abberufungsrecht entspricht. Dieses Problem bedarf der Erörterung aus zwei Gründen: 1. Das Rückrufrecht ist seit Konstituierung des ersten Deutschen Bun-

destages ständige Praxis, ohne expressis verbis in der Geschäftsordnung verankert zu sein2O , und

2. es gibt Fälle, in denen das Rückrufrecht entgegen dem Willen des abberufenen Abgeordneten ausgeübt wurde21 • 16 Siehe zuletzt BT-Drs. 9/11 für den Auswärtigen Ausschuß, den Verteidigungsausschuß, den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen, den Innenausschuß in Angelegenheiten der inneren Sicherheit. 17 Hier wird nur auf die in § 54 Abs. 1 GOBT angesprochenen sog. ständigen Ausschüsse Bezug genommen. 18 Zum Verfahren der Ausschußbesetzung durch die Fraktionen ausführlich Dexheimer, Wolfgang: Die Mitwirkung der Bundestagsfraktionen bei der Besetzung der Ausschüsse, in: Festgabe Blischke: Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages (hrsg. Roll), Beiträge zum Parlamentsrecht, Bd. 4, Berlin 1982, S. 259 ff. (274). 19 Siehe Troßmann: Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 68 RN 7. 20 Siehe dagegen § 27 Abs.l GObayLT vom 1. 10. 1974 (GVBI S.587), der das Abberufungsrecht ausdrücklich erwähnt, ebenso für den Gemeinsamen Ausschuß § 3 GOGA. 21 Irrig deshalb Abelein, Manfred: Die Rechtsstellung des Abgeordneten in der Rechtsprechung des BVerfG, in: Festschrift von der Heydte. Berlin 1977,

2. Die Rechte der Fraktionen aus § 57 Abs. 2 GOBT

85

Anlaß für eine tiefere parlaments rechtliche Erörterung dieser Frage gab erst der Rückruf der SPD-Abgeordneten Hupka, Seume und Bartsch durch ihre Fraktion aus dem Auswärtigen Ausschuß kurz vor der Entscheidung über die sogenannten Ostverträge im Jahre 1972. Der SPDFraktion war die überaus kritische Haltung dieser Abgeordneten zu den Verträgen bekannt, und sie wollte durch den Rückruf ein negatives Votum des Auswärtigen Ausschusses verhindern. Sie stützte sich auf § 4 ihrer Geschäftsordnung22, demzufolge die Fraktion über die Besetzung von Ausschüssen entscheidet. Ergänzend heißt es in einer Erklärung der Pressestelle der SPD-Fraktion vom 25. 1. 197223 , daß "jeder zwar sein Gewissen haben darf, aber nicht auf Kosten unserer Stimmen bei der parlamentarischen Vorbereitung der Durchsetzung der Ostverträge" . Ähnliche, wenn auch weitaus weniger spektakuläre Fälle gab es bereits in früheren Wahlperioden24 , die aber ohne größere Resonanz blieben. e) Das (angebliche) Abberujungsrecht in seinen Alternativen Denkbar sind fünf Fallalternativen, in denen der Abgeordnete durch die Ausübung des Rückrufrechts der Fraktion seinen Ausschußsitz verliert: 1. Der Abgeordnete will abweichend von der Fraktionslinie sein

Stimmrecht im Ausschuß wahrnehmen, ohne einen Partei-/ bzw. Fraktionsaustritt zu beabsichtigen,

2. der Abgeordnete will abweichend von der Fraktionslinie sein Stimmrecht im Ausschuß wahrnehmen in der Absicht, Partei und Fraktion zu wechseln, falls diese vom Rückrufrecht Gebrauch macht, 3. der Abgeordnete wird aus Partei und Fraktion ausgeschlossen und schließt sich einer anderen Partei und Fraktion an, 4. der Abgeordnete will abweichend von der Fraktionslinie sein Stimmrecht im Ausschuß wahrnehmen, er nimmt dies und gegebenenfalls andere Divergenzen zum Anlaß, aus Partei und Fraktion auszutreten, um weiterhin dem Parlament als Fraktionsloser anzugehören, Bd.2, S. 777 ff. (790), der als Bundestagsabgeordneter die Meinung vertritt, . .. "Parlamentsfraktionen können die von ihnen in die Ausschüsse entsandten Abgeordneten auch nicht jederzeit gegen deren Willen aus dem Ausschuß abberufen". 22 Geschäftsordnung der Fraktion der SPD im Bundestag in der Fassung des Fraktionsbeschlusses vom 2. 6. 1970, abgedruCkt in Ritzel, Heinrich G. / Bücker, Joseph: Handbuch für die parlamentarische Praxis, Frankfurt 1970, A 11.

23 Zitiert nach Weiler, Joachim: Ausschußrückzug als verschleiertes imperatives Mandat?, in: DÖV 1973, 231 ff. 24 Siehe die Andeutung bei Dechamps: Macht und Arbeit qer Ausschüsse, S. 144, 177 FN 5 a.

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IV. Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten

5. der Abgeordnete wird aus Partei und Fraktion ausgeschlossen und will dem Parlament zukünftig als Fraktionsloser angehören. Die vorliegende Untersuchung ist auf die Problematik des fraktionslos bleibenden Parlamentariers zu begrenzen (Fallalternativen 4, 5), da nur er tatsächlich von einem wirklichen Verlust des Aussch.ußsitzes betroffen ist, denn es entspricht der parlamentarischen Praxis, daß -

die zurückrufende Fraktion ihr dissentierendes, aber sonst loyales Mitglied in einen anderen Ausschuß entsendet, um es nicht endgültig zu verlieren (Fall alternative 1)

-

die aufnehmende Fraktion den Partei-/ bzw. Fraktionswechsel in der Regel mit einem Ausschußsitz "belohnt"2S (Fallalternativen 2, 3).

In diesem Zusammenhang sei kurz angemerkt, daß fraktionslose Abgeordnete im Deutschen Bundestag immer ihren Ausschußsitz verloren, eine Praxis, die der parlamentarische Alltag erst jüngst wieder bestätigt. So mußte etwa in der achten Wahlperiode der frühere CDU-Abgeordnete Gruhl als fraktionsloser Parlamentarier seinen Sitz im Innenausschuß aufgeben, in der laufenden neunten Legislaturperiode büßten die fraktionslosen Abgeordneten Coppik, Hansen und Hofmann Sitz und Stimme im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit, im Auswärtigen Ausschuß bzw. im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen ein. Diese Vorgänge blieben ohne nennenswerte Resonanz, da es von den Abgeordneten offenbar als selbstverständlich angesehen wird, daß ein Partei-/ bzw. Fraktionsaustritt oder Ausschluß· den Verlust des Ausschuß sitzes bedeutet. f) Das (angebliche) Abberujungsrecht

im Verhältnis zu Art. 38 Abs.l S.2 GG Dessen ungeachtet stellt sich die Frage, ob ein Ausschußrückruf des Abgeordneten zulässig ist. Dies ist unproblematisch, soweit die Abgeordneten mit dem Vorhaben ihrer Fraktion einverstanden sind2l6 • Möchte dagegen der Abgeordnete in dem Ausschuß, in den ihn seine Fraktion entsandt hat, bleiben, könnten sich Bedenken aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ergeben, der die Abgeordneten als "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", definiert. 2S Siehe bereits unter 11 5 g. 26 Siehe den Fall des Abgeordneten Pfleiderer, der es für angebracht hielt, aus dem Auswärtigen Ausschuß auszutreten, da seine Fraktion seine Auffassungen nicht teilte; zitiert nach Kremer: Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, S. 53.

2. Die Rechte der Fraktionen aus § 57 Abs. 2 GOBT

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aal In der Literatur ist diese Problematik bisher völlig unzureichend erfaßt, die Rechtsprechung hat sich dazu direkt bisher nicht geäußert. In TroßmannSD Kommentar zur Geschäftsordnung heißt es, "daß es im freien Ermessen der Fraktionen, die Ausschußmitglieder und die Stellvertreter zu benennen, sie abzuberufen und durch andere Fraktionsmitglieder zu ersetzen, stehe. Die Umbesetzung kann ein Politikum sein. Das Recht dazu kann jedoch nicht in Frage gestellt werden". Troßmann28 hat seine Auffassung jüngst erläutert und räumt der Loyalität gegenüber der Fraktion absoluten Vorrang ein. "Das Ausschußmitglied kann sich der Fraktion gegenüber nicht auf Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG berufen. Fühlt es sich nicht in der Lage, die Fraktionsauffassung im Ausschuß zu vertreten und dementsprechend abzustimmen, so muß es die Mitgliedschaft im Ausschuß aufgeben. Notfalls kann es von der Fraktion aus dem Ausschuß zurückgezogen und durch ein anderes Mitglied ersetzt werden, ein Recht, das der Fraktion auch aus anderen Gründen zusteht. Die Ausschüsse sollen in ihrer Zusammensetzung dem Kräfteverhältnis im Plenum entsprechen. Nur dann können sie ihrer Aufgabe gerecht werden, dem Bundestag Beschlüsse zu empfehlen, die dort voraussichtlich eine Mehrheit finden. Daran, daß die Ausschüsse entsprechend den Mehrheitsverhältnissen des Plenums des Bundestages zusammengesetzt sind, sind alle Fraktionen interessiert, selbstverständlich auch daran, daß die Mitglieder im Ausschuß die Auffassung ihrer Fraktion vertreten, wobei es nicht ausgeschlossen ist, daß sie zu dem Ergebnis kommen, die Auffassung der Fraktion lasse sich nicht oder nicht voll durchsetzen. Dann müssen sie, bevor sie sich endgültig entscheiden, sich vergewissern, ob die Fraktion mit einem anderen als dem ursprünglich vorgesehenen Votum einverstanden ist, es sei denn, die Fraktion habe den Ausschußmitgliedern von vornherein einen entsprechenden Spielraum eingedämmt. Das uneingeschränkte Abberufungsrecht von Ausschußmitgliederndurch die Fraktionen zu bestreiten, findet in der Geschäftsordnung keine Stütze. Es kann auch nicht unter Berufung auf Art.38 GG bestritten werden, denn Art. 38 Abs.l S.l GG gilt nur, wenn der Abgeordnete nicht als Vertrauensmann seiner Fraktion tätig wird, sondern auf sich gestellt entscheidet. Das kann aber nur im Plenum des· Bundestages der Fall sein oder in einem Gremium, in das ein Abgeordneter vom Bundestag gewählt und nicht nach dem Ermessen sein~r Fraktion entsandt wurde. Keinerlei Anhaltspunkt läßt sich im übrigen dafür finden, daß die Entsendung des Abgeordneten in einen Ausschuß ein Besitzstandrecht gewähre." Troßmann: Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 68 RN 6. Troßmann: Bundestag - Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkelt -S.96. ., . . Tl

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IV. Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten

Bücke~ kommentiert das (angebliche) Abberufungsrecht nicht direkt, hält aber das Benennungsrecht der Fraktionen für keine unzulässige Beeinträchtigung der Statusrechte eines Abgeordneten, da kein Mitglied des Parlaments Anspruch auf Mitgliedschaft in einem bestimmten Ausschuß hat. An anderer Stelle30 leitet er das Rückrufrecht ohne weitere Erörterung aus § 57 Abs. 2 GOBT ab.

Meyer3 1 vertritt die Auffassung, daß die Fraktionen die Aufgabe haben, der politischen Richtung, der sie verpflichtet sind, in der Parlamentsarbeit weitgehend Geltung zu verschaffen. Voraussetzung dafür sei ein abgestimmtes Verhalten, wozu die freie Entscheidung über die Besetzung der Parlamentsausschüsse ein wichtiges Mittel sei. Art. 38 GG hindere sie nicht, Mitglieder aus Ausschüssen abzuberufen, da die Weisungsfreiheit nicht die Beibehaltung einer von der Fraktion verliehenen Funktion garantiere. Henke3 2 hält Parteimaßnahmen, die unmittelbar die AbgeordnetensteIlung beeinflussen - Fraktionsausschluß und dadurch Ausschluß aus den Parlamentsausschüssen - für "nicht unzulässig, denn so weit geht der legitime Einfluß der Parteien auf das Parlament".

In diese Richtung geht auch Scheuners33 Argumentation, der es als zulässig ansieht, "daß der aus der Fraktion ausscheidende Abgeordnete seinen auf der Entsendung durch die Partei beruhenden Ausschußsitz verliert. Damit wird seine Mandatsführung faktisch beengt, aber diese Position fließt nicht aus dem Mandat, sondern ist ein zulässiger Auftrag der Partei". HauenschiM~4 sieh zwar die Notwendigkeit, dem alleinstehenden Abgeordneten ein Mindestmaß an Mitwirkungsmöglichkeiten zu eröffnen, er hält aber sogar die Drohung mit der Abberufung aus dem Ausschuß für zulässig, "wenn damit erreicht werden soll, daß der betreffende Abgeordnete im Ausschuß die Meinung der Fraktion vertritt, weil dieses ja gerade zu seinen Aufgaben als Ausschußmitglied gehört"3S.

Ritzel / Bücker: Handbuch für die parlamentarische Praxis, § 57 11 a. Ritzel / Bücker: Handbuch für die parlamentarische Praxis, § 69 11 1 d. 31 Meyer, Hans, Schiedermair, Hartmut: Die Entwicklung des öffentlichen Rechts, in: DVBI 1975, 249 ff. (252) sowie Meyer, Hans: Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, Mitbericht in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (VVDStRL), Heft 33 (1975), S. 69 ff. (93), der außerdem dem Abgeordneten einer Partei automatisch einen Anspruch auf Aufnahme in die Fraktion einräumen will. 32 Henke: Recht der politischen Parteien, S. 154. 33 Scheuner: Imperatives Mandat in Staat und Gemeinde, S. 169. 34 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.I11. 35 Ebenda, S. 204. 29

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2. Die Rechte der Fraktionen aus § 57 Abs.2 GOBT

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Zum gleichen Ergebnis kommt Weiler16, der den Schutz des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG nur auf die Dauer der Entsendung in den Ausschuß bezieht, im Gegensatz zu Hauenschild aber eine Verletzung dieser Bestimmung annimmt, wenn der Ausschußrückruf als Druckmittel zu einer überzeugungswidrigen Stimmabgabe mißbraucht wird. Ähnlich argumentieren Kaltefleiter und Veen37 , die durch Art. 38 GG nur die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit des Abgeordneten im Plenum geschützt wissen wollen, einen Anspruch auf Sitz und Stimme an einem bestimmten Ort in der Parlamentsorganisation aber ablehnen. Ohne nähere Begündung wird das Rückrufrecht der Fraktionen von

Kremer38, Obermann39 , Hesse40 , Zeh41 , Blischke42 , Sträter43, Schäfer44 , Frosts und Stern46 bejaht, wobei für letzteren immerhin die Tendenz,

die Teilnahmerechte des einzelnen Abgeordneten an der Hervorbringung des politischen Willens weitgehend zu mediatisieren (Beispiele: Redezeitzuteilung, Sitz und Stimme in den Ausschüssen) nicht frei von Bedenken ist7• Diese Entwicklung zum Fraktionenparlaments hatte bereits grundlegend Achterberif9 erkannt. Seiner Ansicht nach schließen die in der Geschäftsordnung den Fraktionen eingeräumten Sonderrechte eine isolierte und dennoch effiziente Arbeit des Abgeordneten aus50 • "Sie be.J6 37

Weiler: Ausschußruckzug, in: DÖV 1973, 231 ff. Kaltefleiter, Werner, Veen, Hans-Joachim: Zwischen freiem und impera-

tiven Mandat, in: ZParl 1974, 246 ff. (263). 38 Kremer: Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, S. 53. 39 Obermann: Alter und Konstanz von Fraktionen, S. 101. 40 Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungs rechts der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl. Karlsruhe 1980, S.242. 41 Zeh, Wolfgang: Der Deutsche Bundestag, 3. Auf!. Düsseldorf 1979, S. 106. 42 Blischke, Werner, Scholz, Peter: So arbeitet der Deutsche Bundestag, Rheinbreitbach 1981, S. 18. 43 Sträter, earl Ludwig: Arbeitsgruppen des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, in: ZParl 1977, 27 ff. (32). 44 Schäfer, Friedrich: Der Bundestag, Eine Darstellung seiner Aufgaben und seiner Arbeitsweise, 4. Auf!. Opladen 1982, S. 110. 45 Frost, Herbert: Die Parlamentsausschüsse, ihre Rechtsgestalt und ihre Funktionen, dargestellt an den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, in: AöR 95 (1970), S. 38 ff. (58). 46 Stern: Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I S. 829, Bd. 11 S.103. 47 Stern: Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I S. 835. 48 Zu diesem Begriff siehe Troßmann: Bundestag Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit -, S. 96. 49 Achterberg, Norbert: Das rahmengebundene Mandat, überlegungen zur Möglichkeit der Bindungen des Abgeordneten an das Parteiprogramm, Berlin 1975, S.14. 50 Dem folgend auch Arndt / Schweitzer: Mandat und Fraktionsstatus, in: ZParl 1976,71 ff. (81).

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IV. Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten

wirken vielmehr eine Gestaltung des innerparlamentarischen Entscheidungsprozesses, bei der die Einflußmöglichkeit des fraktionslosen Abgeordneten unter diejenige eines Hinterbänklers herabgedrückt ist, was wie bei diesem zugleich zu einem - wenn auch vielleicht kaum meßbaren - Funktionsverlust des Parlaments führt." An anderer StelleSI spricht er von einer den fraktionslosen Abgeordneten diskriminierenden Gestaltung des Entscheidungsprozesses. Bestätigung findet diese Auffassung auch bei den Parlamentariern selbst. So führt der Abgeordnete J enninger in seiner Eigenschaft als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion aus, daß in der gegenwärtigen Parlamentspraxis nahezu ausschließlich die Fraktionen, gestützt auf die Geschäftsordnung des Bundestages, und nicht der einzelne Abgeordnete das Geschehen bestimmen52 • Es erscheint unerklärlich, daß in der parlamentsrechtlichen Literatur, auch von den Befürwortern des Abberufungsrechts, durchgängig die parlamentarische Bedeutungslosigkeit des fraktionslosen Abgeordneten konstatiert wird, gleichwohl konkrete Ansätze einer Lösung dieser Frage bisher unterblieben. In unterschiedlichen Worten, aber mit gleichem Tenor wird von "erheblicher Minderung der Wirkungsmöglichkeiten"S3, "faktischer Beengung der Mandatsführung"54, "völliger Lahmlegung der Parlamentstätigkeit"SS, "Einschnürung in ein sehr enges Geschäftsordnungskorsett"56, "weitgehendem Verlust der Möglichkeit effektiven parlamentarischen Arbeitens"57, "parlamentarischer Isolierung"58, "erheblicher Ein51 Achterberg, Norbert: Parlament im modernen Staat, in: DVBI 1974,693 ff. (707). 52 So Jenninger, Philipp: Oft muß die Fraktion die Führung übernehmen, in: Der Bundestag im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland, Beiträge zum dreißigjährigen Bestehen des Deutschen Bundestages, hrsg. von Klatt, Presse und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Bonn 1980, S.43, der die Beschränkung fraktionsunabhängiger Aktivitäten für "nicht unproblematisch" hält. 53 Stern: Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I S.811; BorgsMaciejewski, Hermann: Parlamentsorganisationen. Institutionen des Bundestages und ihre Aufgaben, Hamburg 1980, S.84. 54 Scheuner: Imperatives Mandat in Staat und Gemeinde, S. 165. ss Kremer: Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, S. 45. 56 Röper, Erich: Weitere Mediatisierung der Abgeordneten, Auswirkungen eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl 1982, 304 ff. (311). 57 Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungs reform, Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, S.80; ähnlich Henke: Recht der politischen Parteien, S. 154 sowie Steiger: Organisatorische Grundlagen, S.125. 58 Schröder, Heinrich-Josef:· Mandatsverlust bei Fraktionswechsel?, in: DVBI 1971, 132 ff. (134).

2. Die Rechte der Fraktionen aus § 57 Abs. 2 GOBT

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schränkung der parlamentarischen Aktionsfähigkeit"59, "Ineffizienz einzelgängerischen Verhaltens"6O des fraktionslosen Mandatsträgers gesprochen, "weil der ,wilde' Abgeordnete für die parlamentarische Arbeit ohne nennenswerte Bedeutung ist"61, wobeit schon die parlamentshistorisch überlieferte Charakterisierung als ,Wilder' kennzeichnend für seinen Status ist. Auch die scheinbare Nebensächlichkeit der Platzaufteilung im Plenarsaal verstärkt das Gefühl des fraktionslosen Abgeordneten, ein ,Fremdkörper' im Parlament zu sein. Dazu muß man wissen, daß in den Parlamenten des deutschen Frühkonstitutionalismus eine bestimmte Sitzordnung in den Kammern festgelegt wurde, die helfen sollte, Fraktionsbildungen zu verhindern62 • So ergibt sich aus den Anlagen zu den Amtlichen Handbüchern des Deutschen Bundestages der ersten bis neunten Wahlperiode, daß fraktionslos gewordene Abgeordnete ihren bisherigen Platz verlassen mußten und mit der hintersten Sitzreihe im Schatten von Säulen vorlieb nehmen mußten. Sie waren damit im wahrsten Sinne des Wortes ,Hinterbänkler', denn im Gegensatz zu den fraktionsgebundenen Parlamentariern ist es ihnen verwehrt, sich bei nur mäßigem Plenumsbesuch in die vordersten Reihen zu setzen, da diese Plätze den Fraktionen zustehen. Ihnen bliebe nur die Möglichkeit, sich auf eigene bewegliche Stühle zwischen die vordersten Reihen zu setzen, wobei sie sich dann der Gefahr eines Ordnungsrufes des Präsidenten gemäß § 36 GOBT aussetzen würden. Abwertend empfindet Kremef>3 die Fraktionslosen "als eine Belastung für den Bundestag. Ihre Konzeptionen sind verworren ... , ihre Parlamentsarbeit erschöpft sich fast ausschließlich darin, hin und wieder einige belanglose Sätze vor dem Plenum zu sprechen", was Henke64 mit der Mahnung "der Außenseiter ist nicht der ideale Abgeordnete" aufgreift. bb) Die Rechtsprechung hat sich zu der Frage der Zulässigkeit des Rückrufrechts der Fraktionen bisher nicht direkt geäußert. 59 Ritzel / Bücker: Handbuch für die parlamentarische Praxis, § 10 I 1 b. Kißler, Leo: Der Deutsche Bundestag. Eine verfassungssystematische, verfassungsrechtliche und verfassungsinstitutionelle Untersuchung, in: JöR NF Bd.26 (1977), S. 39 ff. (56). 61 Hauenschild: Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, S.202; Tschermak von Seysenegg, Armin: Die Fraktionen im Deutschen Bundestag und ihre verfassungsrechtliche Stellung, Bamberg o. J., S. 11. 62 Mohl, Robert von: Das Staatsrecht des Königreiches Württemberg, Bd. I, 2. Auf!. Tübingen 1840, S. 723 f. Anm.9. 63 Kremer: Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und ParteidiszipUn, S. 58; siehe auch die Kommentierung der Rede des fraktionslosen Abgeordneten Gruhl in Pl.Pr. 8 WP/221. Sitzung/13. 6. 1980/S. 17846 B. 64 Henke: Recht der politischen Parteien, S. 154. 60

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IV. Einschränkung des verbliebenen Freiheitsraums des Abgeordneten

Im ,Redezeiturteil'65 hat das Bundesverfassungsgericht zu den Fraktionen Stellung genommen. Darin heißt es66 : "Die Parlaments fraktionen sind notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens. Mit der Anerkennung der Parteien in Art.21 erkennt das Grundgesetz auch sie an. über ihre Stellung und Aufgaben mögen in mancherlei Hinsicht Zweifel bestehen. Unzweifelhaft ist aber, daß sie den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit in gewissem Grade zu steuern und damit zu erleichtern haben. Die Wahrnehmung einer Aufgabe durch die Fraktionen schließt naturgemäß eine gewisse Bindung des einzelnen Abgeordneten an seine Fraktion, eine Beschränkung seiner Freiheit ein." Und weiter heißt es entscheidend: "Geht diese Bindung oder Mediatisierung nicht über das hinaus, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten ist, so liegt sie im Rahmen des verfassungs rechtlichen Zulässigen, vorausgesetzt, daß die notwendige Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten erhalten bleibt."

g) Das (angebliche) Abberufungsrecht im Lichte des ,Kernbereichs' des Abgeordnetenmandats Es entspricht somit nicht nur der einhelligen Meinung in der Literatur, sondern auch der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, daß durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG nur ein gewisser Kernbereich des Abgeordnetenmandats geschützt wird67 • Angeführt werden in diesem Zusammenhang die Rechte, "im Parlament seine Meinung zu sagen und über Gesetzesvorlagen entsprechend seiner Willensentscheidung abzustimmen"68, das bereits durch die Verfassung gewährte Recht auf Entschädigung69, sowie "ein gewisses Maß an Antragsbefugnissen"70. Die Zulässigkeit des Rückrufs des fraktionslosen Abgeordneten entsprechend § 57 Abs. 2 GOBT ist unter dem Gesichtspunkt zu erörtern, ob die Mitarbeit des Abgeordneten im Ausschuß nicht auch zum geschäftsordnungsmäßig grundsätzlich nicht einschränkbaren Kernbereich des Mandats im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG gehören könnte. Im Rahmen der Erörterung dieser Frage bedarf es einer umfassenden Würdigung der Stellung des fraktionslosen Abgeordneten nach der Geschäftsordnung des Bundestages. BVerfGE 10,4 ff. BVerfGE 10,4 ff. (14). 67 Siehe auch StGH Bremen in DÖV 1970, 639 ff. 68 BVerfGE 10, 4 ff. (12); StGH Bremen in DÖV 1970, 639 ff. (641). 69 BVerfGE 4, 144 ff. (150). 70 BayVGH in BayVBl 1976, 431 ff. (435) und neuerdings erstmalig die ,Chance auf den Fraktionsstatus', BVerfG in DVBI 1977,613 ff. (615). 65 66

3. Die Rechte des fraktionslosen Abgeordneten nach der GOBT

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3. Die Rechte des fraktionslosen Abgeordneten nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages a) Die Tätigkeit im Ausschuß aal Bei der Erörterung der Aktionsmöglichkeiten des fraktionslosen Abgeordneten in den Ausschüssen ist zunächst auf das Zutrittsrecht abzustellen. Die Geschäftsordnung des Bundestages geht vom allgemeinen Zutrittsrecht aller Abgeordneten zu allen Ausschüssen aus, d. h., sie können als Zuhörer an den Sitzungen der Ausschüsse teilnehmen, denen sie nicht als ordentliches oder stellvertretendes Mitglied angehören71 • Beschränkungen gelten für die sogenannten ,geschlossenen Ausschüsse