Die Stadt und die Anderen: Fremdheit in Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit [1 ed.] 9783412521073, 9783412521059

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Die Stadt und die Anderen: Fremdheit in Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783412521073, 9783412521059

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S TÄ D T E F O R S C H U N G Andreas Rutz (Hg.)

DIE STADT UND DIE ANDEREN Fremdheit in Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit

STÄDTEFORSCHUNG Veröffentlichungen des Instituts für vergleichende Städtegeschichte in Münster begründet von Heinz Stoob

in Verbindung mit

U. Braasch-Schwersmann, M. Kintzinger, B. Krug-Richter, A. Lampen, E. Mühle, J. Oberste, M. Scheutz, G. Schwerhoff und C. Zimmermann

herausgegeben von

Werner Freitag Reihe A: Darstellungen Band 101

DIE STADT UND DIE ANDEREN FREMDHEIT IN SELBSTZEUGNISSEN UND CHRONIKEN DES SPÄT­MITTELALTERS UND DER FRÜHEN NEUZEIT

herausgegeben von

Andreas Rutz

2021 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Dieser Band wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung von folgenden Institutionen: Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande Landschaftsverband Rheinland Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Erzbischöfliches Generalvikariat Köln

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Cronica van der hilliger Stat van Coellen, Köln: Johann Koelhoff d. J. 1499, fol. 30r.

© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion: Ria Hänisch Institut für vergleichende Städtegeschichte, Münster http://www.uni-muenster.de/Staedtegeschichte Layout und Satz: Ria Hänisch, Münster Bildbearbeitung: T. Kniep, Münster

Gesetzt aus Stempel Garamond LT Pro 10pt.

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52107-3

INHALT

Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adressen der Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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METHODISCHE PERSPEKTIVEN Andreas Rutz Fremdheit in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken. Methodische und quellenkundliche Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

13

Michaela Fenske Relationalität und Relativität des Fremden. Perspektiven aus der Europäischen Ethnologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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KÖRPER UND GESCHLECHT Bianca Frohne yetz will ich ettlich wundergeburt schreyben vnd malen. Zum Umgang mit verkörperter Differenz in Haus- und Familienbüchern des 16. Jahrhunderts

43

Marco Tomaszewski Die Hausväter und die Anderen. Männlichkeitsentwürfe und soziale Ungleichheit in städtischen Familienbüchern und Hausratgedichten (14.–17. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6

Inhalt

HERMANN WEINSBERG UND DIE ANDEREN Peter Glasner geschriben und gemailt. Symbolisierungsformen von Ich- und Wir-Identität bei Hermann (von) Weinsberg (1518–1597) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Andreas Rutz Die Anderen im Krieg. Spanier, Niederländer und anderes ‚Kriegsvolk‘ in den Aufzeichnungen des Kölner Ratsherrn und Chronisten Hermann Weinsberg (1518–1597) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

Krisztina Péter Hermann Weinsberg and the Others . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

145

Eva Büthe-Scheider Weinsberch – Weinsberg – Weinsbergh. Namensschreibung und Identität im Köln des 16. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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DAS EIGENE UND DAS FREMDE Marc von der Höh Die Fremde im Haus. Sklavinnen im Spiegel der Florentiner Familienbuchüberlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

Simon Siemianowski ‚Welsch‘ oder ‚teutsch‘? Spielräume der Identifikation und Abgrenzung in Nürnberger Selbstzeugnissen zum Italienstudium um 1500 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

205

Christian Schlöder Vorurteile und eigene Erfahrungen. Beschreibungen von Fremden in der Chronik des hannoverschen Kammerschreibers Johann Heinrich Redecker (1682–1764) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

Inhalt

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LITERARISCHE KONSTRUKTIONEN VON FREMDHEIT Sergius Kodera Feindselige Mensch-Tiere im Labyrinth der Großstadt. Das Elisabethanische London in der Wahrnehmung Giordano Brunos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Manfred Groten Verfremdung des Vertrauten. Daniel Defoes fiktiver Erlebnisbericht über die Pest in London 1665 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

273

Literatur und Quellen in Auswahl

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Index der Orts- und Personennamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VORWORT DES HERAUSGEBERS

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die Herbsttagung der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte des Bonner Instituts für Geschichtswissenschaft zurück, die vom 24. bis 25. September 2018 in Verbindung mit dem Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande im Bonner Universitätsforum durchgeführt wurde. Die Tagung war – ebenso wie der jetzt vorliegende Ergebnisband – dem Kölner Ratsherrn und Chronisten Hermann Weinsberg (1518– 1597) zum 500. Geburtstag gewidmet. Die autobiographischen und chronikalischen Aufzeichnungen Weinsbergs sind für die Erforschung der Geschichte der Stadt Köln und des Rheinlands im 16. Jahrhundert unverzichtbar. Aber auch für Untersuchungen zur vormodernen Chronistik und zu frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen stellt sein Werk nicht zuletzt aufgrund seines Umfangs und der fast 40 Jahre umfassenden, schreibenden Zeitzeugenschaft des Autors ein zentrales Quellenkorpus dar. Es schien daher naheliegend, im Jubiläumsjahr an den Kölner Chronisten zu erinnern. Ihm gewidmet war auch der im Rahmen der Tagung von Peter Glasner gehaltene öffentliche Abendvortrag, der hier ebenfalls zum Abdruck kommt. Allerdings sollte die Tagung nicht allein Weinsberg behandeln – eine entsprechende Tagung fand in Bonn bereits 2003 statt, die Beiträge wurden 2005 von meinem akademischen Lehrer Manfred Groten in einem Sammelband publiziert und stellen seitdem eine zentrale Referenz für die Weinsberg-Forschung dar. Vielmehr ging und geht es darum, anhand von Selbstzeugnissen und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, also Texten, die dem Weinsbergschen Œuvre im weiteren Sinne verwandt sind, einen zentralen Aspekt der städtischen Alltagsgeschichte zu diskutieren: die Wahrnehmung und Erfahrung von Fremdheit. Der Band bringt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus mehreren Disziplinen zusammen, namentlich Geschichtswissenschaft, Europäische Ethnologie, Sprachgeschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie. Neben Weinsbergs Werk, das sowohl in eigenen Beiträgen als auch immer wieder als Referenz und Vergleichsbeispiel diskutiert wird, werden Selbstzeugnisse und Chroniken aus Franken, Oberdeutschland, Niedersachsen, Italien und England diskutiert, womit auch der Internationalität der gegenwärtigen stadthistorischen Forschung Rechnung getragen wird. Der zeitliche Schwerpunkt liegt im 16. Jahrhundert, verschiedene Beiträge greifen aber auch ins 14. und 15. Jahrhundert aus oder betreffen das 17. und 18. Jahrhundert. Zu danken ist den Autorinnen und Autoren, die sich bereitwillig auf meine inhaltlichen und methodischen Ideen eingelassen und die Realisierung des Bandes nicht nur durch ihre profunden Beiträge, sondern auch durch die unkomplizierte und konstruktive Zusammenarbeit bei der Drucklegung ermöglicht haben. Zu dan-

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Vorwort des Herausgebers

ken ist überdies Susanne Rau (Erfurt), die mir für meine Einleitung ihren auf der Tagung vorgetragenen Schlusskommentar zur Verfügung gestellt hat, und allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den Moderatorinnen und Moderatoren der Tagung für die konstruktiven Diskussionen. Ein besonderer Dank geht an meinen Freund und Kollegen Michael Rohrschneider (Bonn), der von Beginn an aufgeschlossen für meine Tagungsidee war und die Veranstaltung sowie die Drucklegung der Ergebnisse seitens der Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte in vielfältiger Weise unterstützt hat. Meinem Kollegen Werner Freitag (Münster) bin ich für die bereitwillige Aufnahme des Bandes in die renommierte Reihe des Instituts für vergleichende Städtegeschichte sehr dankbar. Seiner Mitarbeiterin Ria Hänisch danke ich vielmals für die Unterstützung bei der Redaktionsarbeit, vielfältige Hilfestellungen im Drucklegungsprozess sowie die hervorragende Gestaltung des Satzes. Für administrative Unterstützung möchte ich in Münster außerdem Katrin Jaspers danken. Das englische Lektorat erfolgte durch Annuschka Sonek (Dresden). In Dresden wurden die Redaktionsarbeiten von meiner studentischen Mitarbeiterin Saskia Kirchner mitgetragen, der ich dafür sehr verbunden bin. Ermöglicht wurde die Publikation durch großzügige Druckkostenzuschüsse des Vereins für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, des Landschaftsverbands Rheinland, der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und des Erzbischöflichen Generalvikariats Köln. Allen Förderern und den zuständigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei hierfür herzlich gedankt. Dieses Buch markiert einen Übergang. Die dem Sammelband zugrunde liegende Tagung war die letzte, die ich nach vielen Jahren der Forschung und Lehre in der Bonner Landesgeschichte organisiert und durchgeführt habe. Umso mehr freut es mich, die Publikation mit Hermann Weinsberg einer historischen Persönlichkeit zu widmen, die mich in meinen Jahren im Rheinland kontinuierlich begleitet, mein Interesse für die vormoderne Alltags- und Sozialgeschichte und die (Kölner) Stadtgeschichte geweckt und mich nicht zuletzt ‚uns kölsche sproch‘ gelehrt hat. Dresden, im September 2020

Andreas Rutz



ADRESSEN DER AUTORINNEN UND AUTOREN

Dr. Eva Büthe-Scheider Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW), Goethe-Wörterbuch Sternwartenstraße 31, 04103 Leipzig [email protected]

PD Dr. Sergius Kodera Institut für Philosophie Universität Wien Universitätsstraße 7, 1010 Wien [email protected]

Prof. Dr. Michaela Fenske Lehrstuhl f. Europäische Ethnologie/Volkskunde Universität Würzburg Am Hubland, 97074 Würzburg [email protected]

Krisztina Péter (Budapest) [email protected]

Dr. Bianca Frohne Historisches Seminar Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Leibnizstr. 8, 24118 Kiel [email protected] PD Dr. Peter Glasner Institut für Germanistik, Vergleichende Literaturund Kulturwissenschaft Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Am Hof 1d, 53113 Bonn [email protected] Prof. em. Dr. Manfred Groten Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit und Rheinische Landesgeschichte Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Am Hofgarten 22, 53113 Bonn [email protected] Prof. Dr. Marc von der Höh Historisches Institut Universität Rostock Neuer Markt 3, 18055 Rostock [email protected]

Prof. Dr. Andreas Rutz Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte Technische Universität Dresden Zellescher Weg 17, BZW, Raum A 536 01069 Dresden Simon Siemianowski Globalgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit Eberhard Karls Universität Tübingen Wilhelmstraße 36, 72074 Tübingen [email protected] Dr. Christian Schlöder Sächsisches Staatsarchiv, Staatsarchiv Leipzig Schongauerstraße 1, 04328 Leipzig [email protected] Dr. Marco Tomaszewski Historisches Seminar Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Rempartstraße 15, 79098 Freiburg i. Br. [email protected]

VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN UND SIGLEN

AEK Historisches Archiv des Erzbistums Köln Best. Bestand BSB Bayerische Staatsbibliothek München BW Boich Weinsberg DI Dialoghi italiani (siehe unter Literatur, Giordano Bruno) fl. florenus, Gulden fol. folio Frnhd. Frühneuhochdeutsch Gal Galater GW Gesamtkatalog der Wiegendrucke (siehe unter Literatur) HannGbll Hannoversche Geschichtsblätter HAStK Historisches Archiv der Stadt Köln HZ Historische Zeitschrift JbKölnGV Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins Joh Johannes LI Liber Iuventutis (siehe unter Literatur, Weinsberg) LS Liber Senectutis (siehe unter Literatur, Weinsberg) LD Liber Decrepitudinis (siehe unter Literatur, Weinsberg) Md./md. Mitteldeutsch/mitteldeutsch MittVGNürnberg Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg Mt Matthäus NB Nota Bene NLA HA Niedersächsisches Landesarchiv – Abteilung Hannover Ndd./ndd. Niederdeutsch/niederdeutsch omd. ostmitteldeutsch PfA Pfarrarchiv r recto rhfr. rheinfränkisch RhVjbll Rheinische Vierteljahrsblätter RhWestfZVkd Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde StadtA Stadtarchiv StaatsA s.v. v Tob ZHF

Staatsarchiv sub voce verso Tobias Zeitschrift für Historische Forschung

FREMDHEIT IN STÄDTISCHEN SELBSTZEUGNISSEN UND CHRONIKEN. METHODISCHE UND QUELLENKUNDLICHE VORÜBERLEGUNGEN Andreas Rutz

1. Einleitung Städte waren und sind Orte der Begegnung mit Fremden, ob sie nun aus Nachbar­ regionen oder einem anderen Kulturkreis stammen, einer anderen Religion oder Konfession angehören, den eigenen Wohnort teilen, aber sozial und habituell in einer ‚anderen Welt‘ leben, oder einfach nur ein anderes Geschlecht oder eine andere sexuelle Orientierung haben. Wer oder was als fremd oder anders angesehen wird, ist immer abhängig von der Definition des Eigenen. Die Konstruktion von Fremdheit und die Herstellung von Alterität, das sogenannte ‚Othering‘, sind daher zugleich Teil eines Sinnstiftungsprozesses mit Blick auf die eigene Identität und die Frage der Zugehörigkeit.1 Städtische Selbstzeugnisse und Chroniken des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit reflektieren die betreffenden Zusammenhänge in unterschiedlicher Weise.2 Gelegentlich erscheinen die zeitgenössischen Autoren gegenüber den Anderen und der von ihnen verkörperten Fremdheit als neugierig und offen, um sich das Fremde anzueignen und es gegebenenfalls in das Eigene zu inkorporieren, vielfach zeigen sie sich aber auch vorurteilsbehaftet und ablehnend, um die Abgrenzung zur Bildung und Schärfung der eigenen, der familiären oder einer gemeindlich-kollektiven Identität zu nutzen. Die Quellen berichten also nicht objektiv und neutral beobachtend über die Anderen in der Stadt. Vielmehr folgen die Texte bei 1

Die Aktualität des Themas ist unübersehbar und begleitete schon die Planung der diesem Sammelband zugrundeliegenden Tagung. Als Beitrag zur jüngeren gesellschaftspolitischen Debatte vgl. Joanna Pfaff-Czarnecka, Zugehörigkeit in der mobilen Welt. Politiken der Verortung, Göttingen 2012. 2 Vgl. hierzu pointiert die Essays von Pierre Monnet, Geschichtsschreibung und Identität im städtischen Raum. Ein Impuls, in: Pia Eckhart/Marco Tomaszewski (Hg.), Städtisch, urban, kommunal. Perspektiven auf die städtische Geschichtsschreibung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2019, S. 211–218; und Franz-Josef Arlinghaus, Hierarchische Stadtgesellschaft und identitäts­stiftende Erzählung. Ein kurzer Essay zur spätmittelalterlichen kommunalen Geschichtsschreibung, in: ebd., S. 219–225.

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Andreas Rutz

der Darstellung von Fremdheit narrativen Strategien, die sich aus dem Kontext ihrer Entstehung, der spezifischen Perspektive des Autors und den Darstellungskonventionen der Zeit und des Mediums ergeben. Die Entschlüsselung der Konstruktionsprinzipien des Fremden lässt dementsprechend immer auch Rückschlüsse auf das Selbstverständnis des Autors und seiner Stadtgemeinde bzw. seines sozialen Umfeldes zu. Die Beiträge des Sammelbandes, die auf eine Tagung in Bonn im September 2018 zurückgehen,3 diskutieren die Wahrnehmungen und Erfahrungen von Fremdheit und deren Verarbeitung in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken der Vormoderne in zwei miteinander verflochtenen Perspektiven: Zum einen geht es um die konkreten, in den Texten artikulierten Fremdheitserfahrungen. Erörtert wird etwa, wer oder was als fremd oder einfach anders wahrgenommen wird, wie Begegnungen mit Fremden stattfinden, welche Konflikte daraus resultieren, wie sie gelöst werden oder warum sie unlösbar bleiben. Zum anderen liegt das Augenmerk auf den Texten selbst und der Figur des Fremden im medialen Kontext. Gefragt wird in diesem Zusammenhang, wie Fremdheit in den jeweiligen Texten konstruiert wird, welche narrativen Strategien bei der Darstellung und Konstruktion des Fremden eingesetzt werden und schließlich welche Bedeutung die Herstellung von Differenz für die Identität des Verfassers, seines sozialen Umfeldes und seiner Stadtgemeinde hat. Insgesamt geht es nicht nur um Fremdheit im engeren Sinne, also die Begegnung mit dem mehr oder weniger Unbekannten, sondern vielmehr – wie der Titel des Bandes sagt – um die Anderen in der Stadt, also auch diejenigen, die ganz nah sind und zur Familie, Pfarrgemeinde oder städtischen Gesellschaft gehören und doch ab- oder ausgegrenzt werden. Im Folgenden sollen die Charakteristika der im Mittelpunkt stehenden Quellengruppen – Selbstzeugnisse und städtische Chroniken – knapp umrissen und die methodisch relevanten Leitbegriffe des Sammelbandes – Wahrnehmung, Erfahrung, Fremdheit – reflektiert werden, um damit zumindest skizzenhaft das historiographische Feld abzustecken, in dem sich die vorliegenden Forschungen bewegen. In diese Überlegungen einbezogen werden einzelne Ergebnisse und Perspektiven der Beiträge des Bandes, womit aber ausdrücklich keine systematische Zusammenfassung angestrebt wird, sondern eher Impulse zur vertiefenden Lektüre gegeben werden sollen. Eingeflossen sind darüber hinaus Anregungen der vielschichtigen Diskussionen der Tagung sowie des abschließenden Kommentars von Susanne Rau. Der an diese Einführung anschließende Beitrag von Michaela Fenske greift die methodische Frage nach dem ‚Fremden‘ aus einer anderen disziplinären Perspektive, nämlich der der Europäischen Ethnologie, auf und setzt damit – in konstruktiver Gegenüberstellung vormoderner und moderner Beispiele – einen gegenwartskulturellen Kontrapunkt.4 3

Vgl. den Tagungsblog, in: Histrhen. Rheinische Geschichte wissenschaftlich bloggen, 30.12.2018,  http://histrhen.landesgeschichte.eu/2018/12/uebersicht-weinsberg500/  [Stand: 03.01.2021], dort auch ein ausführlicher Tagungsbericht von Leonhard Dorn, in: ebd., 13.12.18, http://histrhen.landesgeschichte.eu/2018/12/die-stadt-und-die-anderen-tagungsbericht/ [Stand: 03.01.2021]. 4 Michaela Fenske, Relationalität und Relativität des Fremden. Perspektiven aus der Europäischen Ethnologie, S. 29–42.

Fremdheit in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken

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2. Selbstzeugnisse und städtische Chronistik Selbstzeugnisse und Chroniken werden seit längerem intensiv in der Geschichtswissenschaft und anderen kulturhistorisch interessierten Fächern diskutiert. Denn sie eignen sich hervorragend, um die unterschiedlichsten Fragestellungen einer in jüngerer Zeit immer stärker kulturwissenschaftlich orientierten Forschung zu untersuchen. Als Schlagworte für entsprechende Frageperspektiven seien nur Erfahrung, Erinnerung, Identität, Selbst- und Fremdwahrnehmung oder Traditionsstiftung genannt.5 Allerdings können Selbstzeugnisse und Chroniken nicht zwingend als verwandte Textsorten angesehen werden. Vielmehr scheinen sie auf den ersten Blick völlig unterschiedlich – hier die notwendigerweise subjektive autobiographische Erzählung eines Autors über sein Leben und seine Umwelt, möglicherweise einschließlich einer schreibenden Erforschung seines Selbst, dort die scheinbar objektive Dokumentation von Ereignissen aus der Perspektive eines oder mehrerer Chronisten. Mit dieser holzschnittartigen Charakterisierung sind freilich nur die zwei äußersten Enden eines breiten Textspektrums bezeichnet. Zwischen diesen recht klar abzugrenzenden Varianten findet sich ein breites Feld mit unterschiedlichsten Mischformen, die es vielfach unmöglich machen, eindeutige Zuweisungen zu der einen oder anderen Textform oder -sorte zu machen.6 Nehmen wir nur Hermann Weinsberg (1518–1597) als Beispiel:7 Er verfasste in den 1550er Jahren mit dem Boich Weinsberg eine zu großen Teilen frei erfundene Geschichte seines Geschlechts, an deren Anfang ein römischer Soldat zur Zeit Karls des Großen steht.8 1560/61 begann Weinsberg mit den sogenannten Gedenk­büchern, die er bis an das Ende seines Lebens fortführte.9 Das erste, der Liber Iuventutis, 5

Vgl. nur die Beispiele bei Susanne Rau/Birgit Studt (Hg.), Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienbuch zur Historiographie (ca. 1350–1750), Berlin 2010. Zu aktuellen Tendenzen der Stadtgeschichtsforschung vgl. jüngst Gerd Schwerhoff, Frühneuzeitliche Stadtgeschichte im Cultural Turn – eine Standortbestimmung, in: Julia Schmidt-Funke/Matthias Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n). Die Reichsstadt Frankfurt im Vergleich, Bielefeld 2018, S. 11–40. 6 Als jüngere Überblickswerke, die den differenzierten Forschungsstand zusammenfassen und zugleich vielfältige Perspektiven für die weitere Forschung bieten vgl. Gerhard Wolf/Norbert H. Ott (Hg.), Handbuch Chroniken des Mittelalters, Berlin/Boston 2016; Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Handbook of Autobiography/Autofiction, 3 Bde., Berlin 2019. 7 Vgl. zu Leben und Werk Manfred Groten (Hg.), Hermann Weinsberg (1518–1597) – Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Köln 2005; Matthew Lundin, Paper Memory. A Sixteenth-Century Townsman Writes his World, Cambridge/Mass. 2012; sowie jüngst mit ausführlicher Bibliographie Peter Glasner, Art. „Hermann von Weinsberg (1518–1597)“, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 6, Berlin/Boston 2017, Sp. 481–487; und Manfred Groten, Art. „Weinsberg, Hermann (von)“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 27, Berlin 2020, Sp. 652f. 8 Historisches Archiv der Stadt Köln [HAStK], Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen), Nr. 52. 9 HAStK, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen), Nr. 49–51. Die ältere Edition trägt den irreführenden Titel „Das Buch Weinsberg“, obwohl das Boich Weinsberg hier nicht berücksichtigt ist, aber auch die Gedenkbücher sind nur unvollständig aufgenommen: Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 5 Bde., hg. v. Konstantin Höhlbaum/Friedrich Lau/Josef Stein, Bonn/Leipzig 1886–1926, ND Düsseldorf 2000. Die jüngere Online-Edition ist zwar vollständig, aber in der Transkription nicht immer zuverlässig: Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann

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behandelt zunächst rückblickend die Zeit seit seiner Geburt bis in die Gegenwart, gestützt auf Erzählungen von Verwandten und verschiedene zeitgeschichtliche Chroniken. Seit Mitte der 1550er Jahre kann Weinsberg auf eigene Notizen zurückgreifen und führt das Gedenkbuch dann mit regelmäßigen Eintragungen bis 1578 fort. Es folgt der Liber Senectutis für die Zeit bis 1587 und schließlich der Liber Decrepitudinis bis in sein Todesjahr 1597. Eingebettet ist das Werk in den Versuch Weinsbergs, mittels eines Testaments eine Hausstiftung zu errichten, in die sein Vermögen eingehen und die das von ihm erträumte Haus Weinsberg trotz fehlender eigener Nachkommen in Zukunft erhalten sollte. Das Buch Weinsberg sollte dem künftigen Hausvater helfen, die Familientradition zu bewahren, die Gedenk­bücher waren nicht zuletzt dazu gedacht, aus nächster Nähe Erfahrungs- und Handlungswissen bereitzustellen. Es handelt sich also bei Weinsbergs Œuvre um eine Art Hauschronik, flankiert von autobiographischen Aufzeichnungen.10 Der Blick des Autors beschränkt sich allerdings nicht auf sich selbst, seine Familie und sein Haus. Vielmehr war Weinsberg ein aufmerksamer Beobachter seiner städtischen Umwelt und des politischen Geschehens in der Stadt Köln, in deren Dienst er fast 54 Jahre stand und in deren Rat er vierzehnmal gewählt wurde. Es verwundert also nicht, dass er sich in seinen Gedenkbüchern sowohl als Chronist des Alltagslebens als auch der sozialen, kirchlichen und politischen Ereignisse der Stadt betätigte. Aber das Interesse des Chronisten reichte noch weiter, und zwar soweit wie er, gleichsam in konzentrischen Kreisen um das Haus Weinsberg, seine ‚patria‘ definierte: Gradatim van dem wenigsten zum meisten hinuffstigend kan ich sagen, domus Weinsberch ist patria mea, das haus Weinsberch ist min heimat; parochia s. Jacobi est patria, das kirspel s. Jacob ist min heimat, die stat Coln ist min heimat, das dorf Dormagen [wo die Familie der Mutter lebte] ist min heimat, das erzstift Coln ist min heimat, das lant van Gulich und Berch und Marck ist min heimat, Deutzlant ist min heimat, das Romsche reich ist min heimat, die christenheit ist min heimat, die gantze welt ist min heimat, der himmel ist min heimat.11

Und über diesen Horizont berichtet Weinsberg, freilich in abnehmender Intensität, das heißt vor allem über Köln und das Rheinland, aber auch immer wieder über das Reich, Europa und gelegentlich sogar über die Welt. Ausführlich beschäftigt sich Peter Glasner im vorliegenden Band mit der persönlichen und kollektiven Identitätskonstruktion Weinsbergs, wobei er sowohl dessen narrative Selbstzeugnisse als

Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, hg. v. der Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003–2009, http://www.weinsberg.uni-bonn.de/ [Stand: 03.01.2021]. 10 Vgl. übergreifend Birgit Studt (Hg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2007; sowie als jüngere Detailstudie zu entsprechenden Quellen Marco Tomaszewski, Familienbücher als Medien städtischer Kommunikation. Untersuchungen zur Basler Geschichtsschreibung im 16. Jahrhundert, Tübingen 2017. 11 Buch Weinsberg, Bd. 5, S. 218.

Fremdheit in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken

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auch diesbezügliche Zeichnungen des Autors einbezieht.12 Eva Büthe-Scheider ergänzt die Diskussion über Identität bei Weinsberg durch eine detaillierte Analyse der in seinem Werk greifbaren Abgrenzungs- und Anlehnungsprozesse mit Blick auf den sich im 16. Jahrhundert in Köln vollziehenden schreibsprachlichen Umbruch. Dieser führte in der Konsequenz dazu, dass die lokale Schreibsprache von einer anderen, ‚fremden‘ Schreibsprache abgelöst wurde.13 Das skizzierte, weltumspannende Interesse, das sich in Weinsbergs Gedenk­ büchern niederschlägt, ist durchaus vergleichbar mit der breiten Ausrichtung gängiger Formen spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Chronistik. Besonders auffällig ist dabei die Nähe zu städtischen Chroniken, weisen diese doch häufig eine ähnliche Gewichtung lokaler, regionaler und überregionaler Inhalte auf. Weinsberg berichtet freilich nicht nur in historischer Perspektive, gleichsam als Geschichtsschreiber, sondern ist insbesondere auch Chronist seiner Gegenwart, indem er das Erlebte, aber auch Gelesenes und Gehörtes aufzeichnet. Entsprechendes findet sich durchaus, wenn auch vielleicht nicht in dieser Intensität, in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung bzw. Chronistik, die häufig neben der historischen Tiefendimension auch einen zeithistorischen Horizont hat und bis in die Lebenszeit des jeweiligen Chronisten reicht. Vor diesem Hintergrund scheint es mir durchaus sinnvoll, anstelle des mittlerweile recht gängigen Begriffs der ‚Geschichtsschreibung‘ am Begriff ‚Chronistik‘ festzuhalten oder diesen zumindest synonym zu verwenden, verweist er doch auf die gängige Praxis der bis in die eigene Gegenwart reichenden Fortschreibung der jeweiligen Geschichte.14 Peter Johanek hat vor einiger Zeit in seinem magistralen Überblick über die Stadtchronistik im Handbuch Chroniken des Mittelalters dafür plädiert, das betreffende Textcorpus sehr weit zu fassen und nicht nur die klassischen Genres, wie Chroniken, Annalen, Gesta, Viten usw., einzubeziehen, sondern auch Textformen wie Städtelob, Städtebeschreibung und – womit wir wieder bei Weinsberg sind – Gedenk-, Haus- und Familienbücher.15 Vonseiten der Selbstzeugnisforschung wäre 12

Peter Glasner, geschriben und gemailt. Symbolisierungsformen von Ich- und Wir-Identität bei Hermann (von) Weinsberg (1518–1597), S. 93–125. 13 Eva Büthe-Scheider, Weinsberch – Weinsberg – Weinsbergh. Namensschreibung und Identität im Köln des 16. Jahrhunderts, S. 159–184. 14 Birgit Studt, Was ist städtische Geschichtsschreibung? Ein persönlicher Rückblick auf die Tagungsdiskussion, in: Eckhardt/Tomaszewski (Hg.), Städtisch, urban, kommunal, S.  45–56, verwendet zwar grundsätzlich den Begriff ‚Geschichtsschreibung‘, verweist aber explizit auf die Praxis der Aktualisierung bzw. Fortschreibung der Texte, was den Begriff eher fragwürdig erscheinen lässt: „Häufig begegnen nicht-autorgebundene Texte als ‚offene‘ Texte, die immer wieder fortgesetzt werden können, daher prinzipiell nicht abgeschlossen sind. Als typisch für die städtische Geschichsschreibung wurde ihre Tendenz zur Gegenwartsberichterstattung festgestellt“; ebd., S. 50. 15 Außerdem nennt er noch „jenes Schriftgut, das als historisches Orientierungswissen des Rates zu gelten hat“, also Rats- und Stadtbücher, Rechtscodices u. ä.; Peter Johanek, Das Gedächtnis der Stadt. Stadtchronistik im Mittelalter, in: Wolf/Ott (Hg.), Handbuch Chroniken, S.  337–398, hier S.  386f. Zur spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsschreibung vgl. auch den aktuellen Überblick zum Forschungsstand bei Pia Eckhardt/Marco Tomaszewski, Städtische Geschichtsschreibung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Standortbestimmung und Perspektiven eines Forschungsfelds, in: Eckhardt/Tomaszewski (Hg.), Städtisch, urban, kommunal, S. 11–43; außerdem immer noch grundlegend Peter Johanek, Städtische Geschichtsschreibung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Köln/

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in diesem Zusammenhang an den Vorschlag von Benigna von Krusenstjern zu einer Typisierung der unterschiedlichen Formen von Selbstzeugnissen zu erinnern, der – vom anderen Ende des Spektrums ausgehend – auch die Chronistik einbezieht.16 Krusenstjern unterscheidet vier Typen von Selbstzeugnissen: Typ A bezeichnet Texte, die auf das Ich des jeweiligen Autors fokussieren und in denen dieser gleichsam egozentrische Blick den größeren Teil des Textes ausmacht; dem Typ B weist Krusenstjern Texte zu, in denen ebenfalls ein Ich über sich selbst berichtet, aber auch über Dinge, die den Autor beschäftigen, interessieren, berühren usw.; bei Texten des Typs C stehen diese ‚Anteile von Welt‘ im Mittelpunkt, während die ‚Anteile vom Ich‘ nurmehr am Rande begegnen; bei Typ D schließlich findet sich kein explizites Selbst mehr. Hier ist etwa an Chroniken zu denken, in denen ein implizites Ich, also der Chronist, über die Welt berichtet. So schematisch eine solche Typologie sein mag und so schwierig die Zuordnung bestimmter Texte zu einzelnen Formen von Selbstzeugnissen, zeigt Krusenstjerns Typologie doch sehr eindrücklich das facettenreiche Spektrum an Texten, die einen mehr oder weniger starken Ich-Bezug aufweisen. Für unseren Zusammenhang ist dieser Ich-Bezug insofern wichtig, als Wahrnehmung und Erfahrung von Fremdheit natürlich zunächst einmal eine subjektive Angelegenheit sind. Zugleich spielen dabei aber auch im weitesten Sinne soziale Aspekte eine Rolle, das heißt das Geschlecht, das soziale Umfeld, der gesellschaftliche Stand, die Konfession usw. Sie prägen die entsprechenden Wahrnehmungen und Erfahrungen und machen das Individuum zum Angehörigen einer Gruppe, eines Kollektivs, dessen Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizont es teilt. Ob der Ich-Bezug der betreffenden Texte nun explizit Weimar/Wien 2000. Als jüngere Fallstudien vgl. Heiko Droste, Schreiben über Lüneburg. Wandel von Funktion und Gebrauchssituation der Lüneburger Historiographie (1350 bis 1639), Hannover 2000; Stephanie Dzeja, Die Geschichte der eigenen Stadt. Städtische Chronistik in Frankfurt am Main vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003; Gregor Rohmann, „Eines Erbaren Raths gehorsamer amptman“. Clemens Jäger und die Geschichtsschreibung des 16. Jahrhunderts, Augsburg 2001; Susanne Rau, Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln, Hamburg/München 2002; Oliver Plessow, Die umgeschriebene Geschichte. Spätmittelalterliche Historiographie in Münster zwischen Bistum und Stadt, Köln/Weimar/Wien 2006; Helmut Bräuer, Stadtchronistik und städtische Gesellschaft. Über die Widerspiegelung sozialer Strukturen in der obersächsisch-lausitzischen Stadtchronistik der frühen Neuzeit, Leipzig 2009; Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500, Ostfildern 2009; Patrick Schmidt, Wandelbare Traditionen – tradierter Wandel. Zünftische Erinnerungskulturen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2009; Kathrin Jost, Konrad Justinger (ca. 1365–1438). Chronist und Finanzmann in Berns großer Zeit, Ostfildern 2011; Sascha Möbius, Das Gedächtnis der Reichsstadt. Unruhen und Kriege in der lübeckischen Chronistik und Erinnerungskultur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Göttingen 2011; Pia Eckhart, Ursprung und Gegenwart. Geschichtsschreibung in der Bischofsstadt und das Werk des Konstanzer Notars Beatus Widmer (1475–ca. 1533), Stuttgart 2016; Lars-Arne Dannenberg/Mario Müller (Hg.), Studien zur Stadtchronistik (1400–1850). Bremen und Hamburg, Oberlausitz und Niederlausitz, Brandenburg und Böhmen, Sachsen und Schlesien, Hildesheim 2018; Eckhardt/Tomaszewski (Hg.), Städtisch, urban, kommunal. 16 Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17.  Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), S.  462–471; vgl. insges. auch Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2, 20.12.2002, http://www.zeitenblicke.historicum.net/2002/02/rutz/index.html [Stand: 03.01.2021].

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oder implizit ist, ist dabei nicht entscheidend, denn auch der anonyme, hinter seinen Text zurücktretende Chronist artikuliert gelegentlich eigene Fremdheitserfahrungen oder er ist, wie auch der autonome Autor, Sprachrohr seiner peer-group. Mit Blick auf die Fragestellung unseres Bandes ermöglichen also Selbstzeugnisse und Chroniken gleichermaßen die Analyse von Fremdheitserfahrungen und Konstruktionen des Anderen bzw. des Fremden seitens der Stadtbürger, wobei hinsichtlich der damit einhergehenden Identitätsstiftung zwischen individueller, familien- und gruppenbezogener sowie gesamtstädtischer Identität zu differenzieren wäre.17 Die in den Beiträgen des vorliegenden Bandes analysierten Quellen decken das skizzierte Spektrum freilich nicht vollständig ab, was bei der Vielfalt von Textformen oder -sorten – um nicht den kontroversen Gattungsbegriff zu verwenden – auch kaum möglich wäre. Gleichwohl werden ganz unterschiedliche Texte herangezogen. Bianca Frohne widmet sich Familienbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts aus verschiedenen Städten des Reiches, etwa Augsburg, Ulm, Nürnberg und Köln, und nicht zuletzt dem Werk Weinsbergs, wobei sie sich im Zusammenhang ihrer körpergeschichtlichen Fragestellung auch mit der Abhängigkeit der Haus- und Familienbücher von anderen Textsorten, wie Flugblättern und Prodigiensammlungen, auseinandersetzt.18 Bei Marco Tomaszewski stehen ebenfalls Familienbücher und insbesondere Weinsbergs Aufzeichnungen im Mittelpunkt, die mit einer im Zusammenhang von Geschlecht, Ehe und sozialer Ordnung höchst aufschlussreichen Quelle, nämlich den Hausratgedichten etwa eines Hans Sachs (1594–1676) zusammengebracht werden.19 Die Beiträge von Krisztina Péter20 und Andreas Rutz21 sowie die bereits erwähnten Aufsätze von Büthe-Scheider und Glasner konzentrieren sich ausschließlich auf Weinsbergs Werk, nehmen allerdings unterschiedliche seiner Texte in den Blick. Während Péter und Rutz sich mit den Gedenkbüchern befassen, steht bei Glasner das Boich Weinsberg, also die fiktive Familiengeschichte im Mittelpunkt. Büthe-Scheider bezieht überdies auch verwaltungsgeschichtliches Schriftgut aus der Zeit Weinsbergs als Kirchmeister der Kölner Pfarrei St. Jakob in ihre Analyse mit ein. Familienbücher stehen auch im Mittelpunkt der Ausführungen Marc von der Höhs zu den Sklavinnen im spätmittelalterlichen Florenz, die in dieser Textform systematisch greifbar sind, während Privatbriefe als in diesem Zusammenhang eben-

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Vgl. in diesem Zusammenhang Monnet, Geschichtsschreibung, S. 214, der mit Blick auf Identitätsentwürfe bzw. Interessenkonstellationen in der städtischen Geschichtsschreibung „mehrere Stufen einer städtischen Erinnerungskultur“ unterscheidet: „eine kollektive, die inklusiv wirken kann und will (Chroniken), eine gemischte, die Stadt, Gruppen und Familien zu artikulieren versucht (Haus- und Familienbücher), eine individuums- oder gruppenorientierte, die auch exklusiv funktionieren kann (Memorialschriften und Selbstzeugnisse).“ 18 Bianca Frohne, yetz will ich ettlich wundergeburt schreyben vnd malen. Zum Umgang mit verkörperter Differenz in Haus- und Familienbüchern des 16. Jahrhunderts, S. 43–69. 19 Marco Tomaszewski, Die Hausväter und die Anderen. Männlichkeitsentwürfe und soziale Ungleichheit in städtischen Familienbüchern und Hausratgedichten (14.–17. Jahrhundert), S. 71–91. 20 Krisztina Péter, Hermann Weinsberg and the Others, S. 145–158. 21 Andreas Rutz, Die Anderen im Krieg. Spanier, Niederländer und anderes ‚Kriegsvolk‘ in den Aufzeichnungen des Kölner Ratsherrn und Chronisten Hermann Weinsberg (1518–1597), S. 127–143.

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falls denkbare Quelle nur zufällig überliefert sind.22 In dichter Folge vorhandene Briefe stehen dagegen im Mittelpunkt der Ausführungen Simon Siemia­nowskis zu den Nürnberger Studenten im Oberitalien des 16.  Jahrhunderts, deren Selbstverortung in der ‚Fremde‘ er auch in anderen ihrer Texte, etwa in Gedichten oder im Städtelob, greifen kann.23 Eine städtische Chronik im gleichsam klassischen Sinne, also als historiographisches Werk, das die Geschichte einer Stadt von den Anfängen bis in die Gegenwart des Autors behandelt, analysiert Christian Schlöder in seinem Beitrag zu den Historische[n] Collectanea des hannoverschen Kammerschreibers Johann Heinrich Redecker (1682–1764). Dabei konzentriert er sich vor allem auf die in der Chronik über mehrere Jahrzehnte dokumentierten Fremdheitserfahrungen und -wahrnehmungen des Autors, also die Passagen mit Selbstzeugnischarakter.24 Um eine völlig andere Textform als die bisher genannten geht es schließlich in den Beiträgen von Sergius Kodera und Manfred Groten, die sich mit literarischen Texten – den dialoghi italiani Giordano Brunos (1548–1600)25 und dem Journal of the Plague Year von Daniel Defoe (1660/61–1731)26 – befassen und diese ähnlich wie Glasner für Weinsbergs Boich als (fiktive) Selbstzeugnisse lesen.

3. Wahrnehmung, Erfahrung, Fremdheit Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes zeigen, wie unterschiedlich die Wahrnehmung und Erfahrung von Fremdheit sein kann bzw. wie spezifische Erfahrungen und Wahrnehmungen beeinflussen, wer oder was in Selbstzeugnissen und Chroniken als ‚fremd‘ dargestellt wird. Mit Wahrnehmung und Erfahrung sind zwei kulturhistorische Kategorien angesprochen, die in der geschichtswissenschaftlichen Debatte seit den 1980er Jahren eine zunehmende Rolle spielen. Als zentrale Weichenstellungen sei auf die Alltagsgeschichte verwiesen, die die Kategorie ‚Erfahrung‘ insbesondere der niederen Schichten auf die Agenda gehoben hat, um von einer auf die oberen Schichten fixierten Herrschaftsgeschichte zu einer alle Teile der Bevölkerung umfassenden Geschichte von Machtverhältnissen zu gelangen.27 Mit der sich seit den 1990er Jahren etablierenden Kulturgeschichte ist als weitere analytische Ka22

Marc von der Höh, Die Fremde im Haus. Sklavinnen im Spiegel der Florentiner Familienbuchüber­ lieferung, S. 185–203. 23 Simon Siemianowski, ‚Welsch‘ oder ‚teutsch‘? Spielräume der Identifikation und Abgrenzung in Nürnberger Selbstzeugnissen zum Italienstudium um 1500, S. 205–229. 24 Christian Schlöder, Vorurteile und eigene Erfahrungen. Beschreibungen von Fremden in der Chronik des hannoverschen Kammerschreibers Johann Heinrich Redecker (1682–1764), S. 231–246. 25 Sergius Kodera, Feindselige Mensch-Tiere im Labyrinth der Großstadt. Das Elisabethanische London in der Wahrnehmung Giordano Brunos, S. 247–272. 26 Manfred Groten, Verfremdung des Vertrauten. Daniel Defoes fiktiver Erlebnisbericht über die Pest in London 1665, S. 273–287. 27 Vgl. gleichsam klassisch Alf Lüdtke, Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a. M./New York 1989.

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tegorie die der Wahrnehmung hinzugekommen.28 Die beiden Begriffe sind insofern eng miteinander verknüpft, als angenommen wird, dass Wahrnehmung als Prozess des alltäglichen Sehens, Erkennens und Einordnens der Umwelt und anderer Menschen immer auf der Grundlage von Erfahrungen stattfindet, dass also bestimmte Erfahrungen die Wahrnehmung präfigurieren oder zumindest mitbestimmen. Für unseren Zusammenhang bedeutet dies, dass das jeweils Eigene als „wahrnehmungsund urteilskonstituierendes Muster bei der Erfahrung des Fremden“ mitwirkt.29 Die Begegnung mit Fremden, sei es im persönlichen Kontakt oder mittelbar durch Erzählungen, Texte, Objekte usw., bestimmt sodann die Wahrnehmung derselben und ihrer Handlungen bei künftigen Kontakten mit. Mittelfristig entstehen so Wahrnehmungsmuster, die immer wieder reproduziert werden und sich mit jeder Reproduktion erhärten. Die Folge sind in letzter Konsequenz Stereotypisierungen. Inwieweit dieser abstrakt postulierte Prozess tatsächlich in der skizzierten Weise abläuft, wäre im Einzelnen zu prüfen. Verkompliziert wird die Sache noch dadurch, dass neben den individuellen immer auch die kollektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen mitberücksichtigt werden müssen. Bezogen auf unsere Quellen bedeutet dies, dass eine individuelle Äußerung über Fremdheit nicht nur individuelle Erfahrungen und Wahrnehmungen spiegelt, sondern selbstverständlich auch vor einem bestimmten mentalitätsgeschichtlichen Hintergrund zu sehen ist, der für die Zeit und den Raum bzw. den Ort sowie die jeweiligen Gruppen, denen der Autor zugerechnet werden kann, charakteristisch ist. Es gilt also im jeweiligen Einzelfall zu prüfen, wie Fremde wahrgenommen werden, welche Erfahrungen mit Fremden dokumentiert sind, wie diese – wenn überhaupt – reflektiert werden und ob dahinter bestimmte kollektive Wahrnehmungs- und Erfahrungsmuster stehen. Sehr deutlich zeigt sich dies etwa im Beitrag von Rutz zur Darstellung von fremden Soldaten bei Weinsberg. Die diesbezüglichen Ausführungen des Chronisten sind von der politischen Situation Kölns angesichts des niederländisch-spanischen Konflikts geprägt. Dementsprechend versucht der Autor, das in Köln gängige Freund-Feind-Schema mit seinen eigenen Beobachtungen und den kolportierten Informationen über Gräuel­taten der Soldateska beider Seiten in Einklang zu bringen, wobei ihm in letzter Konsequenz sowohl Feinde als auch Freunde als fremd erscheinen. Was aber ist überhaupt ‚Fremdheit‘? Schlägt man in den gängigen Wörter­büchern diesen und verwandte Begriffe nach, trifft man in der Regel auf Definitionen, die alles Fremde als etwas charakterisieren, das von außen hinzukommt und nicht dazugehört. Das gilt für die Belege des Spätmittelalters im Deutschen Rechtswörterbuch, wo ‚fremd‘ in der Regel als Gegensatz zu ‚einheimisch‘ begegnet,30 aber auch für das Deutsche Wörterbuch von Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786– 1859), das ‚Fremdheit‘ mit ‚peregrinitas‘, also fremder, ausländischer Sitte übersetzt. 28

Vgl. allg. Achim Landwehr/Stefanie Stockhorst, Einführung in die europäische Kulturgeschichte, Paderborn u. a. 2004; Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. New Orientations in the Study of Culture, Berlin 2016. 29 Peter Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990, S. 27. 30 Deutsches Rechtswörterbuch. Wörterbuch der älteren deutschen Rechtssprache, Bd. 3, bearb. v. Eberhard von Künssberg, Weimar 1938, Sp. 852–857, s. v. „fremd“.

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Als  Beleg angeführt wird etwa Christoph Martin Wieland (1733–1813): man sah ihm die fremdheit an, an der sprache und an den kleidern; ganz ähnlich heißt es bei Johann Ludwig Tieck (1773–1853): der accent des ausländers, eine fremdheit in seinen manieren stand ihm gut.31 Der Münchner Satiriker und ‚Wortzerklauber‘ Karl Valentin (1882–1948) hat also mit seinem bekannten Bonmot Fremd ist der Fremde nur in der Fremde nichts wirklich Neues gesagt, auch wenn er es recht unnachahmlich ausdrückte.32 Diese Form der Fremdheit wird von Herfried Münkler und Bernd Ladwig als ‚kulturelle Fremdheit‘ bezeichnet. Sie lässt sich ganz allgemein als Unvertrautheit charakterisieren: „In der kulturellen Dimension steht das Fremde für das kognitiv wenig Bekannte. Die Erfahrung kultureller Fremdheit zeigt uns die Grenzen unseres Verständnisvermögens und führt uns die Kontingenz unserer Erwartungen vor Augen.“33 Davon abzugrenzen ist die ‚soziale Fremdheit‘, die die Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe kennzeichnet und die dementsprechend auch auf Personen bezogen sein kann, die am selben Ort leben, also ‚Einheimische‘ sind, aber zu der betreffenden Gemeinschaft oder bestimmten Gruppen nicht dazugehören: „Soziale Fremdheit liegt vor, wenn die Nichtzugehörigkeit des anderen als solche ins Zentrum der Aufmerksamkeit tritt. Fremdheit in dieser Dimension ist das Ergebnis einer exkludierenden Grenzziehung.“34 Mit Simona Cerutti, die das Fremdsein im Turin des 18. Jahrhunderts untersucht hat, lässt sich aus der Perspektive der jüngeren Stadtgeschichtsforschung in diesem Zusammenhang konstatieren, dass letztlich nicht die Herkunft den Fremden als solchen definiert, sondern ein Mangel an Zugehörigkeit.35 Beide Formen der Fremdheit, die kulturelle und die soziale, sind selbstverständlich Konstrukte.36 Fremdheit ist keine essenzialistische Kategorie, sie ist keine Eigenschaft einer Person, sondern eine Zuschreibung, die in der Regel von außen, 31

Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd.  IV/I,1, Leipzig 1878, Sp. 129f., s. v. „Fremdheit“. 32 Karl Valentin, Sämtliche Werke, Bd. 4: Dialoge, hg. v. Manfred Faust/Andreas Hohenadl, München 1996, S. 176f., hier S. 176. Eine knappe, aber eingängige Interpretation des Dialogs „Die Fremden“ mit Blick auf die Frage, was Fremdheit sei bzw. meint, findet sich bei Justin Stagl, Grade der Fremdheit, in: Herfried Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 85–114, hier S. 86. 33 Herfried Münkler/Bernd Ladwig, Vorwort, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S. 7–9, hier S. 8. 34 Ebd.; vgl. auch die genauere Bestimmung der Begrifflichkeiten bei Herfried Münkler/Bernd Ladwig, Dimensionen der Fremdheit, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S. 11–44, insbes. S. 15–36. 35 „Ce qui définit ainsi l’étranger n’est pas la provenance mais plutôt un déficit d’appartenance”; Simona Cerutti, Étrangers. Étude d’une condition d’incertitude dans une société d’Ancien Régime, Montrouge 2012, S. 18. 36 Es ist hier nicht der Ort, die diesbezügliche, in den Geistes- und Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten geführte Diskussion zu rekapitulieren. Hingewiesen sei lediglich auf einige zentrale Titel, über die sich diese Diskussion leicht erschließen lässt: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination; Ders. (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin 1998; Rudolf Stichweh, Der Fremde. Studien zur Soziologie und Sozialgeschichte, Berlin 2010; Sylke Bartmann/Oliver Immel (Hg.), Das Vertraute und das Fremde. Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs, Bielefeld 2012. Die Zahl der Studien, die in unterschiedlichen Epochen und Zusammenhängen Konstruktionen des Fremden oder des Anderen analysieren, ist mittlerweile fast unüberschaubar, vgl. mit Blick auf

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als Fremdzuschreibung, vorgenommen wird, gelegentlich aber auch eine Selbstzuschreibung darstellt. Dabei wird freilich nicht nur auf tatsächliche Unterschiede rekurriert, sondern es spielen auch imaginäre Unterschiede, Ängste, Projektionen usw. eine Rolle. In jedem Fall dient die Zuschreibung von Fremdheit immer der Abgrenzung und ist damit zugleich Ausdruck von Identität bzw. Mittel zur Identitäts­ stiftung. Das Eigene und das Fremde sind also relational aufeinander bezogen, „fremd ist keine Eigenschaft von Personen oder Gegenständen, sondern vielmehr Ausdruck einer Beziehung zu ihnen.“37 Denn ohne zu wissen, was das Eigene ist oder sein soll, ist es nicht möglich, das Gegenüber als fremd oder anders zu identifizieren und damit Alterität herzustellen: „In der Beschreibung von Personen oder Umständen als ‚fremd‘ enthüllen (oder verbergen) sich Selbstbeschreibungen. Das ist nicht immer ausdrücklich bewußt oder thematisiert. Das Selbst kann ja als unbestimmte Menge von Charakterzügen begriffen werden. In der Ausgrenzung von Fremden und Fremdem wird also immer nur ein Merkmal oder ein Bündel von Eigentümlichkeiten herausgegriffen, von denen man sich expressis verbis distanziert. Man selbst aber ist diese Distanz.“38

Dass solche Ab- oder Ausgrenzungsprozesse teilweise sehr komplexe Identitätskonstruktionen vorraussetzen, zeigte sich beispielhaft Ende August 2018 im Zuge der Ausschreitungen in Chemnitz, bei denen völkische Parolen gebrüllt und auf ‚fremd‘ aussehende Menschen losgegangen wurde. Auslöser war der gewaltsame die Vormoderne die knappen Hinweise bei Hering Torres/Max Sebastián, Art. „Fremdheit“, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 3, hg. v. Friedrich Jaeger, Stuttgart 2006, Sp. 1226–1229; Iris Gareis, Art. „Alterität“, in: ebd., Bd. 1, Stuttgart 2005, Sp. 261–263; außerdem als umfangreichere Studien und Sammelbände in jüngerer Zeit u. a. Marina Münkler, Erfahrung des Fremden. Die Beschreibung Ostasiens in den Augenzeugenberichten des 13. und 14. Jahrhunderts, Berlin 2000; Ina Schabert/Michaela Boenke (Hg.), Imaginationen des Anderen im 16. und 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2002; Volker Scior, Das Eigene und das Fremde. Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck, Berlin 2002; Klaus Herbers/Nicolas Jaspert (Hg.), „Das kommt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, Münster 2004; David Fraesdorff, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau, Berlin 2005; Christoph Dartmann/Carla Meyer (Hg.), Identität und Krise? Zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrungen, Münster 2007; Georg Jostkleigrewe, Das Bild des Anderen. Entstehung und Wirkung deutsch-französischer Fremdbilder in der volkssprachlichen Literatur und Historiographie des 12. bis 14. Jahrhunderts, Berlin 2008; Judith Becker/Bettina Braun (Hg.), Die Begegnung mit dem Fremden und das Geschichtsbewusstsein, Göttingen 2012; Clemens Gantner, Freunde Roms und Völker der Finsternis. Die päpstliche Konstruktion von Anderen im 8. und 9. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2014; Anna Aurast, Fremde, Freunde, Feinde. Wahrnehmung und Bewertung von Fremden in den Chroniken des Gallus Anonymus und Cosmas von Prag, Bochum 2019. 37 Scior, Das Eigene und das Fremde, S. 10. 38 Alois Hahn, „Partizipative“ Identitäten, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S.  115–158, hier S.  114; vgl. auch ebd., S.  119, wo Hahn die Perspektive umkehrt: „Jede Selbstbeschreibung muß Alterität in Anspruch nehmen. Wenn man sagt, was man ist, muß man dies in Abgrenzung von dem tun, was man nicht ist. Die paradoxe Funktion von ‚Fremden‘ besteht eben darin, daß sie Selbstidentifikationen gestatten.“

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Tod eines Deutsch-Kubaners. Tatverdächtig waren zu diesem Zeitpunkt ein syrischer und zwei irakische Flüchtlinge bzw. Asylsuchende.39 Die Konstellation ist mit Blick auf die Konstruktion von Fremdheit insofern interessant, als es sich bei dem Toten um einen Menschen mit Migrationshintergrund handelte, der als Sohn eines kubanischen Vertragsarbeiters und einer DDR-Bürgerin in Karl-Marx-Stadt / Chemnitz aufgewachsen und vor seinem gewaltsamen Tod mehrfach aufgrund seiner Hautfarbe Opfer rechter Gewalt geworden war. Die Zuschreibung als kulturell und sozial fremd begleitete ihn offenbar sein ganzes Leben.40 In dem Moment aber, als er mutmaßlich von gewalttätigen Flüchtlingen getötet worden war, rückte die Tatsache, dass er einen deutschen Pass besaß, in den Vordergrund. In der Propaganda der Rechtsextremen wurde er nun zu einem ‚Deutschen‘, der von ‚Ausländern‘ ermordet worden war. Der Konstruktionscharakter von Identität und Alterität, die je nach Bedarf definiert werden, ist hier überdeutlich.41 In spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Städten begegnen beide beschriebenen Formen von Fremdheit, die kulturelle und die soziale. Auch wenn sich die beiden Formen nicht immer eindeutig unterscheiden lassen und sicherlich vielfach in Kombination auftraten, dürfte die soziale Fremdheit als Phänomen des städtischen Alltags überwogen haben. Denn in der vormodernen Stadtgesellschaft existierte eine Vielzahl sozialer Gruppen, die sich unter anderem aufgrund ihres rechtlichen Status, der Standes- oder Schichtzugehörigkeit, ihres Berufes und nicht zuletzt ihrer Konfession bzw. Religion unterschieden.42 Darüber hinaus spielten die von der jüngeren Kulturgeschichte in den Fokus gerückten Differenzkategorien Geschlecht, Körper und Disability in diesem Zusammenhang eine Rolle, wobei immer auch die Intersektionalität, also die Überschneidung und Wechselwirkung der verschiedenen Kategorien berücksichtigt werden muss.43 39

Einer von ihnen wurde mittlerweile wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung verurteilt; vgl. MDR Sachsen, Der Todesfall Daniel H. Eine Chronologie der Ereignisse von Chemnitz, zuletzt aktualisiert am 20.08.2019, https://www.mdr.de/sachsen/chemnitz/chemnitz-stollberg/chemnitz-­ ausschreitungen-chronologie-demonstrationen-100.html [Stand: 03.01.2021]. 40 Antje Hildebrandt, Daniel H. aus Chemnitz. Vom „Negi“ zum Märtyrer, in: Cicero. Magazin für politische Kultur, 06.09.2018, https://www.cicero.de/innenpolitik/daniel-h-chemnitz-rassismus-­ auslaenderfeindlichkeit-rechte-linke-wir-sind-mehr [Stand: 03.01.2021]. 41 Vgl. zur Einordnung die Beiträge in Heidrun Friese/Marcus Nolden/Miriam Schreiter (Hg.), Alltagsrassismus. Theoretische und empirische Perspektiven nach Chemnitz, Bielefeld 2019. 42 Vgl. nur die betreffenden Abschnitte bei Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150– 1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln/Weimar/ Wien 22014; Heinz Schilling/Stefan Ehrenpreis, Die Stadt in der Frühen Neuzeit, Berlin/München 3 2015. Wie vormoderne Stadtgesellschaften mit dieser Heterogenität umgegangen sind, zeigt pointiert Joachim Eibach, Zugehörigkeit versus Heterogenität in der vormodernen Stadt. Regulierung durch Präsenz und Sichtbarkeit, in: Schmidt-Funke/Schnettger (Hg.), Neue Stadtgeschichte(n), S. 43–72; sowie jüngst Miri Rubin, Cities of Strangers. Making Lives in Medieval Europe, Cambridge/New York 2020. 43 Vgl. zur Geschlechtergeschichte nur die jüngeren, methodisch orientierten Überblicke von Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt a. M./New York 22018; Claudia Opitz-Belakhal, Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 22018; zu der auch für unseren Zusammenhang wichtigen Disability History vgl. Cordula Nolte u. a. (Hg.), Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch / Premodern Dis/ability History. A Companion, Affalterbach 2017.

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Menschen, die von außen kamen, wurden in der vormodernen Stadt nicht vorrangig als ‚Ausländer‘ wahrgenommen, denn Ausländer waren ja strenggenommen schon Leute, die etwa im Falle Kölns aus Jülich oder Bonn in die Stadt kamen. Vielmehr wurden sie den ihrem Stand und Status entsprechenden sozialen Gruppen zugeordnet, waren also zuallererst Bürger, Adlige, Kaufleute, Studenten, Handwerker, fahrendes Volk, Juden, Katholiken oder Protestanten usw.44 Aus dieser Logik heraus wurden ‚Fremde‘ auch seitens der städtischen Obrigkeiten ganz unterschiedlich behandelt, wurden teilweise privilegiert, teilweise immerhin geduldet oder waren einfach nur unerwünscht.45 Dass es innerhalb der verschiedenen Gruppen auch kulturelle Unterschiede gab, ist nicht zu bestreiten. Entscheidend war aber die soziale und ökonomische Zuordnung und Abgrenzung, die etwa den Bürger einer anderen, unter Umständen auch ‚ausländischen‘ Stadt weniger fremd erscheinen ließ als den Angehörigen einer städtischen Randgruppe.46 Im Sammelband zeigt sich dies sehr deutlich an den von Péter analysierten Ausführungen Weinsbergs zu den Anderen in der Stadt, insbesondere Pilgern, Juden, Kaufleuten, Religionsflüchtlingen und Angehörigen unterer Schichten. Deren Akzeptanz und Wahrnehmung hing weniger von ihrer Herkunft als von ihrem sozialen und ökonomischen Status und dem individuellen bzw. gruppenspezifischen Nutzen für die Stadt ab. Weinsberg ermöglicht die Distanzierung insbesondere von dem als fremd oder anders charakterisierten ‚gemeinen Volk‘, den eigenen Status als Bürger in der Hierarchie der Kölner Stadtbewohner zu unterstreichen. Dass die Sicht auf die Anderen stark von deren ökonomischem und sozialem Kapital abhing, bestätigt Fenske für die von ihr als vormodernes Beispiel herangezogenen auswärtigen Händler in Hildesheim. Sie wurden sicherlich als fremd wahrgenommen, da sie von außen kamen und sich nur zeitweise in der Stadt aufhielten. Allerdings nahmen sie aufgrund entsprechender Privilegien selbstverständlich am Marktgeschehen und am städtischen Leben teil, waren aufgrund ihrer Geschäftsbeziehungen mit der lokalen Kaufleuteschaft und aufgrund ihres sozialen Status akzeptiert und somit integraler Bestandteil eines funktionierenden Handelsplatzes.47 Diese Gleichzeitigkeit von Ferne und Nähe lässt sich auch auf außereuropäische Fremde übertragen, „denn der zum Kreuz und zur Gottesmutter bekehrte Indio Südamerikas konnte dem christlichen Europäer nun vertrauter erscheinen als zum 44

Mit Blick auf Konfessionszugehörigkeit und Wirtschaftstätigkeit als Kriterien der Exklusion und der Inklusion wird dies ausführlich analysiert bei Hanna Sonkajärvi, Qu’est-ce qu’un étranger? Frontières et identifications à Strasbourg (1681–1789), Straßburg 2008. 45 Vgl. Angelika Schaser, Städtische Fremdenpolitik im Deutschland der frühen Neuzeit, in: Alexander Demandt (Hg.), Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 137–157, hier S. 144f. 46 Zu städtischen Randgruppen vgl. Bernd Roeck, Außenseiter, Randgruppen, Minderheiten. Fremde im Deutschland der frühen Neuzeit, Göttingen 1993; Martin Rheinheimer, Arme, Bettler und Va­ ganten. Überleben in der Not 1450–1800, Frankfurt a. M. 2000. 47 Ganz in diesem Sinne beschreibt der klassische Text der Soziologie zum Thema ‚Fremdheit‘, Georg Simmels „Exkurs über den Fremden“ von 1908, die Rolle von Kaufleuten bzw. Händlern, die als Fremde von den Einheimischen unterscheidbar bleiben, aber doch ihre Position in der Gesellschaft finden und integriert werden; vgl. hierzu Rudolf Stichweh, Der Fremde, in: Hans-Peter Müller/ Tilman Reitz (Hg.), Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin 2018, S. 203–208.

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Beispiel der jüdische Nachbar.“48 Allerdings kamen die wenigsten Menschen tatsächlich mit Außereuropäern in Kontakt. Weinsberg etwa berichtet zwar von Ungarnpilgern, die im Zuge der Heiltumsfahrten regelmäßig nach Köln kamen,49 Türken samt aller Stereotype und Vorurteile kennt er dagegen nur aus der Zeitung.50 Auch von anderen Teilen der Erde hat er gelesen51 und lässt sich sogar von einem Seemann, der „Neu-Indien“ bereist hat, ausführlicher darüber berichten.52 ‚Exotischen‘ Menschen begegnete er in Köln aber nicht. Für die Menschen des 17. und 18. Jahrhunderts dürfte sich mit Blick auf diese Art der Fremdheitserfahrung nicht allzu viel geändert haben, auch wenn die Höfe im Reich sich nun regelmäßig mit ‚Hofmohren‘ und ‚Kammertürken‘ schmückten oder Menschen aus Afrika und Übersee ebenso wie exotische Tiere als Attraktionen auf Messen und Märkten vorgeführt wurden.53 „Das frühneuzeitliche Europa war nicht ‚multikulturell‘. Zwar duldete es den einen oder anderen Hofmohren oder schwarzen Feldtrompeter, doch besaß es wenig Kompetenz im Umgang mit kollektiv auftretenden Fremden im Nahbereich.“54 Das, was heute landläufig unter kultureller Fremdheit verstanden wird, nämlich eine deutliche Andersartigkeit von Aussehen, Kleidung, Sitten, Religion usw., begegnete in den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Städten also vergleichsweise selten, die Wahrnehmung dieser Fremden erfolgte wie bei Weinsberg auf der Grundlage von Nachrichten, Reiseberichten oder dem Hörensagen.55 Umso größer war offenbar die Aufmerksamkeit, die die betreffenden Menschen erregten, wenn man ihrer denn doch einmal ansichtig wurde, wie das Beispiel der von Schlöder analysierten Chronik von Redecker in unserem Sammelband zeigt. Der Autor begegnete in Hannover unter anderem Menschen aus dem türkischen 48

Jürgen Osterhammel, Gastfreiheit und Fremdenabwehr. Interkulturelle Ambivalenzen in der Frühen Neuzeit, in: Münkler (Hg.), Furcht und Faszination, S. 379–436, hier S. 378. 49 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 441, s. v. „Ungarische Pilger“; ebd., Bd. 4, S. 321, s. v. „Ungarn“. Vgl. detailliert zu den diesbezüglichen Schilderungen Weinsbergs Yuki Ikari, Wallfahrtswesen in Köln vom Spätmittelalter bis zur Aufklärung, Köln 2009, S. 100–103. 50 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 440, s. v. „Türken“; ebd., Bd. 4, s. v. „Türkei, Türken“; ebd., Bd. 5, S. 543, s. v. „Türken“; ebd., S. 557, s. v. „Türkengefahr u. -steuern“. 51 Vgl. etwa Buch Weinsberg, Bd. 1, S. 21 (Ägypten); ebd., Bd. 1, S. 101, 110, 155, 172, 203, 327 (Tunis, Algier); ebd., Bd. 1, S. 113 (Indien); ebd., Bd. 4, S. 153 (Asien); ebd., Bd. 2, S. 253, 320; ebd., Bd. 3, S. 388; ebd., Bd. 4, S. 153 (Russland). 52 Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 145 (20.10.1582). 53 Vgl. für den höfischen Bereich die vergleichende Studie von Anne Kuhlmann-Smirnov, Schwarze Europäer im Alten Reich. Handel, Migration, Hof, Göttingen 2013; und als Beispiel für das bürgerliche Milieu Thorsten Heese, „… an diesem Orte wohl etwas Neues“. Osnabrücks frühe Begegnung mit Afrika, glokalgeschichtlich interpretiert, in: Osnabrücker Mitteilungen 122 (2017), S.  129–150; außerdem mit Blick auf den unfreien Status der Menschen und die Sklavenhaltung im Heiligen Römischen Reich Rebekka von Mallinckrodt, Verhandelte (Un-)Freiheit. Sklaverei, Leibeigenschaft und innereuropäischer Wissenstransfer am Ausgang des 18. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 41 (2017), S. 347–380. 54 Osterhammel, Gastfreiheit, S. 389. 55 Vgl. die auch methodisch interessanten Ausführungen von Joachim Eibach, Annäherung – Abgrenzung – Exotisierung. Typen der Wahrnehmung ‚des Anderen‘ in Europa am Beispiel der Türken, Chinas und der Schweiz (16. bis frühes 19. Jh.), in: Ders./Horst Carl (Hg.), Europäische Wahrnehmungen 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse, Hannover 2008, S. 13–73.

Fremdheit in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken

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und dem arabischen Kulturraum, aber auch einem Grönländer, und beschreibt diese Personen in seinen Aufzeichnungen aufgrund ihrer Exotik sehr viel ausführlicher als die vielen in Hannover auftretenden, weniger fremden Europäer. In den  von von der Höh analysierten Familienbüchern ist es genau umgekehrt: Sklavinnen, die als Hausangestellte tätig waren und von ihrer Herkunft her durchaus als fremd gelten konnten, kamen sie doch zumeist aus dem Schwarzmeerraum oder vom Balkan, werden in den Texten nicht stigmatisiert oder aufgrund ihres Äußeren bzw. kultureller Andersartigkeit als fremd beschrieben. Vielmehr werden sie als integraler Bestandteil des Hauses ohne Unterscheidung von anderen Dienerinnen dargestellt. Im Gegensatz zur Chronik Redeckers geht es hier nicht um die Beschreibung von Besonderheiten und um darauf basierende kulturelle Abgrenzung, sondern um die Demonstration von Zugehörigkeit, was nicht zuletzt für den Umgang mit den illegitimen Kindern von Sklavinnen und ihren Herren eine Rolle spielte. Ähnliche Ambivalenzen bei der Darstellung bzw. Nichtthematisierung von Fremdheit zeigen sich auch bei den von Frohne behandelten Menschen, die sich durch verkörperlichte Differenz (‚embodied difference‘) auszeichneten. Je nach sozialem Kontext konnten besondere körperliche Merkmale zur Stigmatisierung und in der Folge zur Ausgrenzung führen, bis hin zur buchstäblich marktschreierischen Vorführung als ‚Monster‘. Im Kontext des Familiengedächtnisses konnten diese Merkmale aber auch den gegenteiligen Effekt haben und inkorporierend wirken, indem sie etwa als positive Vorzeichen gedeutet und in eine Familienerzählung eingebunden wurden. Behinderungen oder Beeinträchtigungen waren keine festgefügten Kategorien und wurden dementsprechend nicht zwangsläufig mit ‚Befremden‘ wahrgenommen. Dies gilt selbstverständlich auch für andere Differenzkategorien, etwa die Kategorie ‚Geschlecht‘, die je nach sozialem Stand ganz unterschiedlich bewertet wurde. Diesen Zusammenhang verdeutlicht im Sammelband Tomaszewski, der sich mit der (Selbst-)Darstellung von Männern in Familienbüchern und Hausratgedichten beschäftigt. Diese dienten unter Rückgriff auf das Ideal des Hausvaters der Herstellung und Reproduktion hegemonialer Männlichkeit und damit der Abgrenzung von den Anderen, insbesondere den sozial Schwächeren, sowie der Versicherung der eigenen Identität. Während in den genannten Beiträgen die Fremden aus der Sicht der städtischen Bewohner thematisiert werden, dreht sich die Perspektive bei dem von Kodera behandelten Giordano Bruno um, denn hier geht es nicht um die eigene Stadt. Vielmehr ist Bruno selbst ein Fremder in London und betrachtet bzw. konstruiert die Menschen, denen er in der Fremde begegnet, als die Anderen. Von diesen grenzt er sich insbesondere durch soziale Markierungen ab, was den identitätsstiftenden Charakter solcher Abgrenzungen bzw. der Konstruktion des Fremden unterstreicht. Ganz deutlich ist dieser Prozess auch bei den Nürnberger Studenten in Oberitalien zu sehen, deren Briefe und andere Schriften Siemianowski analysiert. Hier zeigt sich deutlich, dass Zuschreibungen von Alterität und Identität immer kontextgebunden und dynamisch waren. Sie konnten sich – selbst bei ein und demselben Autor – ändern und stellten somit ein flexibles Instrument dar, um Zugehörigkeit zu demonstrieren, im vorliegenden Fall sowohl zu einer bestimmten Herkunftsstadt, zur

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deutschen Nation, aber vor allem auch zur humanistischen, nationale Unterschiede überwölbenden res publica litteraria. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder zu einem bestimmten sozialen Gefüge konnte und kann allerdings durchaus, wie Groten anhand des literarischen Selbstzeugnisses von Daniel Defoe beschreibt, prekär sein – nicht, weil man sich selbst ändert und nach anderen, neuen identitätsstiftenden Momenten sucht. Vielmehr zeigt sich an einer Ausnahmesituation wie der Pest in London 1665, dass das Vertraute fremd wird und durch die Verwerfungen der Seuche soziale Kohäsion verloren geht. Diese Beobachtungen zur Konstruktion von Fremdheit scheinen angesichts der derzeit grassierenden Corona-Pandemie überraschend aktuell.

RELATIONALITÄT UND RELATIVITÄT DES FREMDEN. PERSPEKTIVEN AUS DER EUROPÄISCHEN ETHNOLOGIE Michaela Fenske

1. Vertrautes wird fremd: Fremde und Fremdheit als Herausforderung im 21. Jahrhundert Mit wachsendem Abstand von der Zeit, in der ich im ländlichen deutschen Nordwesten heimisch war, erscheint mir der Ort, in dem ich aufgewachsen bin, fremd. Und zugleich bleibt manches seltsam vertraut. Vertraut ist die Infrastruktur: der Kreisverkehr neben den Bahngleisen am Ortseingang, die Hauptstraßen, manche Häuser, sogar − dank weitgehend unveränderter gärtnerischer Praktiken − einige Grünanlagen. Mein früherer Kindergarten hat sich einen flotten Anstrich zugelegt, und auch bei der Schule aus den 1970er Jahren übertünchen die neuen poppigen Farben an der Außenfassade deren Baufälligkeit. Der Ort ist in den letzten zehn Jahren enorm gewachsen, auch dank Migration. Gemäß Meldung einer Lokalzeitung von 2017 soll der Anteil der Menschen mit naher Migrationserfahrung hier über 70 Prozent betragen.1 Von „Spätaussiedlern, Flüchtlingen, Produktions- und Erntehelfern“, die sich temporär oder dauerhaft im Ort angesiedelt haben, spricht die Verwaltung (die mit etwa 40 Prozent den Anteil der Neuhinzugekommenen übrigens deutlich geringer veranschlagt).2 Viele der neuen Einwohnerinnen und Einwohner hat der in der Region boomende Billiglohn­ sektor mit Arbeiten in landwirtschaftlichen Betrieben oder Großschlachtereien hierher geführt. Die meisten der Hinzugezogenen gelten im Ort (noch) als Fremde, sind sozial (noch) nicht mit den (bislang) Einheimischen verbunden und un1

Uwe Bornholt, Anteil der Migranten in Ahlhorn steigt auf 70 Prozent, 14.02.2017, https://www. kreiszeitung.de/lokales/oldenburg/grossenkneten-ort61344/anteil-migranten-ahlhorn-steigt-­ prozent-7401222.html [Stand: 03.01.2021]. 2 Gemeinde Großenkneten. Vorbereitende Untersuchungen Ortsteil Ahlhorn „Wildeshauser Straße“, Mai 2017, S. 9, https://www.grossenkneten.de/downloads/datei/OTAwMDAwNzUwOy07L3Vzci9sb2NhbC9odHRwZC92aHRkb2NzL2dyb3NzZW5rbi9ncm9zc2Vua25ldGVuL21lZGllbi9kb2t1bWVudGUvcHJhZXNlbnRhdGlvbl9idWVyZ2VyaW5mb3JtYXRpb25fMDUwNDIwMTcucGRm/ praesentation_buergerinformation_05042017.pdf [Stand: 03.01.2021].

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terscheiden sich sowohl untereinander als auch von den im Ort Aufgewachsenen in mancher Hinsicht in ihrer Lebensweise. Angesichts der Vielheit der vertretenen ursprünglichen Nationalitäten – die offizielle Statistik führt etwa zehn sogenannte Herkunftsstaaten in Afrika, Asien oder dem Nahen Osten auf3 – ist die Bestimmung des Fremdseins im Ort allerdings recht kompliziert geworden: Je nach Perspektive sind entweder alle anderen Fremde oder die als fremd Wahrgenommenen gruppieren sich unterein­ander mit Blick auf ihr Fremdsein unterschiedlich, auch was ihre Teilhabe an den Ressourcen betrifft. Die Neuhinzugezogenen tragen zur Veränderung des Ortes bei. Einige bewohnen Neubauten, die im Zuge der Ortsnachverdichtung entstanden sind. Zugleich wird die vorhandene Bausubstanz umgestaltet. Aus der alten Apotheke ist ein rumänisches Lebensmittelgeschäft geworden und dort, wo man früher Haushalts- und Spielwaren kaufen konnte (in Kindertagen für mich ein wunderbares Geschäft mit herrlich knarrenden Holzdielen), ist ein irakisches Bistro entstanden. Im ehemaligen Schreibwarenladen wohnen Saisonarbeiter aus Osteuropa; das Haus soll gerüchteweise ein chinesischer Investor gekauft haben. In den Straßen meiner Kindheit spielen jetzt Kinder, die aus Albanien und Rumänien gekommen sind, meine inzwischen in einem anderen Ortsteil lebenden Verwandten haben ukrainische und russlanddeutsche Nachbarinnen und Nachbarn. Was mir bei meinen eher seltenen Besuchen im Ort auffällt, ist die wachsende Armut. Wer wenig verdient, kann wenig investieren: in Wohnung, Kleidung, Bildung. Fast zwangsläufig folgt daraus eine Verarmung, ja eine Verelendung ganzer Ortsteile, die sich ebenso im Erscheinungsbild der hier lebenden Menschen wie der durch sie mitgestalteten Infrastruktur zeigt. Fenster, die notdürftig mit Decken verhängt sind, weil Gardinen Luxus wären, und überquellende Mülleimer, die den Abfall der hier auf engstem Raum lebenden vielen Menschen nicht zu fassen vermögen, prägen das Bild in manchen Ortsteilen. Eine Folge dieser Entwicklung sind Spannungen, über die ich − gemessen an der Kürze meines jeweiligen Aufenthalts – von den im Ort aufgewachsenen und nach wie vor dort lebenden Menschen unverhältnismäßig viel höre: von Diebstählen im Supermarkt, von Pöbeleien durch Jugendliche, von Fremdheitserfahrungen der sich (noch) einheimisch Fühlenden angesichts der raschen Veränderung des ihnen Vertrauten. Das geschilderte Beispiel ist hier auch deshalb so ausführlich wiedergegeben, weil es die Situation in vielen Orten in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts spiegelt. Es gibt Einblick in die Herausforderungen durch Massenmigration, die das neue Jahrtausend prägen. Der kürzlich verstorbene Soziologe Zygmunt Bauman hat mit einem seiner letzten Bücher unter dem Titel „Die Angst vor den anderen“ eine Art Manifest hinterlassen.4 Mit Blick auf die wachsende Zahl an Menschen, die sich weltweit als Reaktion auf Kriege, Klimawandel, Ungleichheit oder zerfallende Staaten auf den Weg machen, um in Europa eine Zukunft zu finden, geht er mit der derzeitigen europäischen Abschottungspolitik und dem Wiedererstarken des Nationalismus scharf ins Gericht. Er analysiert, wie die Ablehnung der Fremden aus Angst 3

Ebd. Zygmunt Bauman, Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache, Berlin 2016.

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resultiert − vor allem aus der Angst derjenigen, die fürchten, mit den Neuankommenden um die immer knapper werdenden Ressourcen konkurrieren zu müssen. Eine Angst, die aber auch, so lässt sich aufgrund des Eingangsbeispiels hinzufügen, aus Überforderung angesichts des Tempos der im Zuge der Globalisierung ebenso schnellen wie tiefgreifenden Veränderungen vertrauter Lebenswelten resultiert. Als Ausweg aus der Krise empfiehlt Bauman Empathie und Kommunikation, vor allem aber Solidarität, damit das Fremde nicht fremd bleibt. Damit empfiehlt der Soziologe den europäischen Gesellschaften auch kulturanthropologisches Handwerkszeug, mit dem das ‚Sich-Befremden‘ als Chance zur Erkenntnis genutzt werden kann.

2. Chancen des ‚Sich-Befremdens‘ Sich Fremdes vertraut und Vertrautes fremd zu machen, ist in der Europäischen Ethnologie, die international Teil der anthropologischen Fächerfamilie ist, ein grundlegendes Prinzip. Nur so können verschiedene Lebenswelten in ihren Dynamiken und Notwendigkeiten verstanden werden. Wer, wie viele Europäische Ethnologinnen und Ethnologen, vor allem im Eigenen forscht, wer das Selbstverständliche, das Alltägliche untersucht, macht es sich zuvor fremd, um es überhaupt erst als Untersuchungsphänomen fassen zu können.5 Zugleich ist das Vertraute immer auch zu guten Teilen fremd, insbesondere mit Blick auf die von Andreas Rutz im Kontext dieses Bandes als Arbeitsbegriff eingeführte „soziale Fremdheit“.6 Die anspruchsvolle Pendelbewegung zwischen ‚vertraut sein‘ und ‚sich befremden‘, ‚fremd sein‘ und ‚sich vertraut machen‘ gehört zum gut gepflegten Instrumentarium Europäischer Ethnologinnen und Ethnologen. Dabei gilt es im kulturanthropologischen Forschungsprozess konkret, sich empathisch mit den Akteurinnen und Akteuren auseinanderzusetzen, um nachzuvollziehen, was für die Menschen im jeweils untersuchten sozialen Feld relevant ist. Bei der Erforschung kultureller Phänomene der Vormoderne hat für mich das allein aufgrund des zeitlichen Abstands gegebene Ausmaß des Fremdseins von Anfang an eine große Faszination ausgemacht. Wer sich mit der Frühen Neuzeit befasst, kann unendlich viel Anderes entdecken. Diese Entdeckerfreude lebt von der Faszination am Anderssein. Zugleich erschließt sich mit der Analyse kultureller Praktiken in weiter zeitlicher Dimension aber auch in besonderer Weise, was Menschen jeweils möglich war und ist. Dabei lassen sich vormoderne Alltagskulturen oft nur unter Zuhilfenahme von Studien über als fremd geltende Kulturen unserer Gegenwart verstehen, wobei diese Fremdheit anderer Kulturen zumeist durch das Leben in oder die Herkunft aus anderen geographischen Räumen bedingt ist. Im 5

Vgl. z. B. Utz Jeggle/Bernhard Tschofen/Katharina Aisch-Angus (Hg.), Das Fremde im Eigenen. Beiträge zur Anthropologie des Alltags, Tübingen 2014. 6 Vgl. Andreas Rutz, Fremdheit in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken. Methodische und quellenkundliche Vorüberlegungen, S. 13–28, hier S. 22.

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Umkehrschluss offenbart sich damit auch die Relativität. Gerade in der heutigen Zeit, in der die Moderne als Deutungs- und Ordnungszusammenhang flüssig bzw. flüchtig wird,7 birgt die Auseinandersetzung mit der Vormoderne als einem vergangenen Lern- und Erfahrungsraum besondere Chancen. Diese besonderen Möglichkeiten der Erforschung vormoderner Alltagskultur gelten auch und gerade mit Blick auf die Fremden und das Fremde, da Fremdheit und Fremde ebenso wie die dazugehörigen Gegenstücke stets gemacht bzw. kon­ struiert werden: Wie wurden sie also in einer vormodernen Stadt gemacht und wie ging man mit denen, die fremd waren, um? Indem ich dieses Themenfeld im Folgenden anhand des Beispiels des Hildesheimer Jahr- und Viehmarkts im 17. und 18. Jahrhundert reflektiere, frage ich mich zugleich, inwiefern Erfahrungen aus der Vormoderne als spezifische Möglichkeiten der damals handelnden Menschen Hinweise für alternative Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten im Heute liefern können. Liegt im ‚Sich-Befremden‘ durch ein ‚Sich-Einlassen‘ auf vormoderne Alltage auch eine Chance angesichts der Krisen der Gegenwart? Vormoderne Märkte bieten im Rahmen der Suche nach dem Verständnis der Konstruktionsprozesse und der Relevanz des Fremdseins in den Gesellschaften dieser Zeit hervorragende Zugänge. Die folgende Episode, die im späten 17. Jahrhundert im Protokollbuch des Jahr- und Viehmarkts der Stadt Hildesheim festgehalten wurde,8 veranschaulicht dies eindrücklich. In ihr ist Fremdsein und Fremdheit nachgerade konstituierendes Prinzip.

3. Eine Episode an einem Ort, an dem fast jeder ein Fremder war Am 22. Oktober 1683 verkaufte ein Pferdehändler auf dem Hildesheimer Herbstmarkt eines seiner besseren Tiere für stattliche 22 Taler an einen ihm fremden Mann. Der Begleiter des vermögenden Käufers stellte sich als Adeliger namens Jacob Breußkau von Sora aus der Lausitz vor. Im Zuge des Handels wurde der Verkäufer allerdings nicht nur sein Pferd, sondern auch den dafür erlösten Kaufpreis wieder los. Während der Pferdehändler vom Gebaren des vermeintlichen Adeligen beeindruckt war und abgelenkt wurde, stahl ihm nämlich der Handlanger des Käufers die gezahlten 22 Taler kurzerhand wieder aus der Tasche. Der Schaden wurde rechtzeitig bemerkt, sodass der Pferdehändler die Fremden vor das Marktgericht bringen konnte. Im Zelt der gestrengen Ratsherren erwies sich die Inszenierung schnell als Betrug und die vermeintlichen Personen von Stand als gut verkleidete Gauner.

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Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ergebnisse meiner 2004 abgeschlossenen Doktorarbeit: Michaela Fenske, Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt, Köln/Weimar/Wien 2006. Die folgende Episode findet sich auf S. 255.

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Der hier geschilderte Betrug basierte darauf, dass Händler und Käufer einander persönlich unbekannt waren. Grundlegend dafür war die große räumliche Entfernung zwischen den Wohnorten der Akteure. Wesentlich ist zudem, dass in der streng hierarchisch organisierten frühneuzeitlichen Gesellschaft der Adel etwas zählte, zugleich aber ein norddeutscher Pferdehändler eher selten einem Adeligen persönlich begegnete. Hier kam also soziale Fremdheit zum Tragen. Auch eine gewisse Faszination an der Repräsentation des Fremden, an anderer Kleidung und einem anderen Habitus mögen günstig dafür gewesen sein, dem gutgläubigen Verkäufer den Erlös wieder abzunehmen. Es ist kein Zufall, dass die Geschichte auf dem Markt spielte: An keinem anderen Ort war man in der Frühen Neuzeit so sehr auf Fremde angewiesen wie im Handel. Mit dem Soziologen Georg Simmel lässt sich sogar sagen: Händler müssen Fremde sein.9 Erst durch die Fremden wird die überschaubare Zirkulation der im engeren regionalen Zusammenhang hergestellten und vertriebenen Güter durch fremde, neue Güter erweitert. Handel ist grundsätzlich ohne Fremde nicht denkbar. Mit dem Handel kommen die Fremden. Der Markt, der in Hildesheim wie an anderen Orten dieses Marktnetzes viermal im Jahr gehalten wurde, war Arena dieses Austauschs von Gütern.10 Zugleich war er als Kern der Stadt der Ort, an dem sich Einheimische und Fremde begegneten und austauschten. Fremde erweiterten die lokalen Ökonomien auch um das im Alltag der Bevölkerung in dieser Zeit so dringend benötigte, jedoch äußerst spärlich vorhandene Bargeld. Denn Fremde mussten bar zahlen, weil man einem Fremden auf dem Markt keinen Kredit gab.11 Grundlage jeglichen Kreditgeschäfts war Vertrautheit in Gestalt sozialer Bekanntschaft. Nur so ließen sich die Kreditwürdigkeit abschätzen und das mit Kreditgewährung stets verbundene Risiko abwägen und gegebenenfalls eingehen. Die angeführte Episode ist von der zeitgenössischen Gier nach Bargeld tief durchdrungen, wird doch die Verkaufsbereitschaft des Pferdehändlers wesentlich durch den vergleichsweise hohen Bargeldbetrag geweckt worden sein. Für gewöhnlich mussten Pferdehändler auf dem Markt zumeist Kredite gewähren, Ratenzahlung akzeptieren und Fälligkeitstermine ihrer Schuldner verlängern. In der geschilderten Episode gab es demgegenüber auf einen Schlag eine ansehnliche Summe Bargeld. Man kann sich förmlich vorstellen, wie das Klingen von Münzen im Beutel, das Spiel mit dem Geld vor der Nase des Verkäufers – übliche Praktiken im Kaufgeschäft der Zeit – die Wachsamkeit des Verkäufers herabsetzten, sodass er den Betrügern (zunächst) ein leichtes Opfer war. Die Episode erzählt auch etwas über die Relativität des Fremdseins, denn die Inszenierung der Betrüger ließ sich unter dem Druck der sich als Obrigkeit selbstbewusst gegen den heimischen Adel stellenden Ratsherren nicht aufrechterhalten. Die städtischen Honoratioren durchschauten rasch Kleidung und Habitus der Fremden als nicht standesgemäß. Indirekt vermittelt die Episode zudem die auf dem Markt 9

Georg Simmel, Exkurs über den Fremden, in: Ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Berlin 1908, S. 509–512. 10 Vgl. Fenske, Marktkultur, insbes. S. 27–38 u. 44–53. 11 Zu den Bedingungen des Handels vgl. ebd., S. 184–195.

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bestehende Furcht vor Fremden. Dass Unbekannte das in sie investierte Vertrauen zum eigenen Vorteil nutzen und damit die Einheimischen ohne die soziale Bindung der Bekanntheit hemmungslos schädigen konnten, indem sie etwa wie im Beispiel Pferd und Geld mitnahmen, machte den Handel mit Fremden so schwierig. Handel mit Fremden war ein hohes Risiko, deshalb gab man Fremden keinen Kredit und deshalb wollte man beim Kauf ihrer Waren unter Umständen besondere Absicherungen. Damit der Austausch dennoch möglich wurde, war die Obrigkeit auf dem Markt. Sie sicherte vor allem den Handel mit Fremden ab. Fremdsein war auch in der Frühen Neuzeit eine relative und relationale, das heißt in Beziehung zum jeweils Einheimischen stehende Kategorie. Wer fremd (oder einheimisch) war, das war im steten Fluss, Gegenstand permanenter Aushandlung und Teil steter Annäherungen bzw. Distanzierungen und Ausgrenzungen. Selbst die gestrengen Marktherren waren allerdings nicht davor gefeit, sich mitunter durch die Verwegenheit manches Handeltreibenden in ihrer Klassifizierung von ‚fremd‘ und ‚einheimisch‘ irritieren zu lassen. Letztlich aber stand hier wie anderen Orts im Heiligen Römischen Reich für alle grundsätzlich fest, dass auf dem Markt eigentlich fast alle fremd waren. Zumindest galt dies für viele der wesentlichen Akteure. Alle nicht aus Hildesheim stammenden Personen waren Fremde, alle nicht in Hildesheim hergestellten Güter waren fremd, und selbst unter den Hildesheimern waren manche fremder als andere.

4. Fremdsein in Hildesheim Fremde, so führt das Protokollbuch des Rates von 1652 aus, seien in Hildesheim diejenigen, „welche dem Publicum nichts beisteuern und gleichwohl ihr Nahrung und Gewerbe treiben“.12 Fremdsein war demnach mit der politischen, sozialen und ökonomischen Organisation der Gemeinde eng verbunden. Konkret trennte damit zunächst die Gemeindezugehörigkeit Einheimische und Fremde, Hildesheimer etwa von den Bürgern der Städte des Umlands. Wie an anderen Orten war die Gemeinde allerdings auch in Hildesheim keine Gemeinschaft von Gleichen, sie war vielmehr streng hierarchisch gegliedert und von unterschiedlichen Rechten und Privilegien durchzogen.13 Diese Rechte definierten verschiedene soziale Gruppen mit ihren Unterschieden ebenso wie sie sie konkret trennten: Altstädter von Neustädtern, beide zusammen von Vertretern adeliger Herrschaft oder des Klerus, Christen von Mitgliedern anderer Religionsgemeinschaften, die eine Handwerkerzunft von der anderen usw. Rechte waren Gegenstand permanenter Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen. Angesichts einer so umfassenden, zugleich doch permanent sich wandelnden

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Ebd., S. 53f. Vgl. hier und im Folgenden ebd., insbes. S. 53–72 u. 244–286.

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und konkret auch von Ort zu Ort wiederum changierenden Definition der jeweils anderen, verwundert es nicht, wie die Historikerin Angelika Schaser angemerkt hat, wenn eine eindeutige Definition des Fremden für die Vormoderne schwerfällt.14 Wenn ich meine explorative Reise durch Archive in ganz Deutschland auf der Suche nach aussagekräftigen Quellen zur vormodernen Marktkultur heute bilanziere, so erinnere ich ein schier unentwegtes, in Schriften überliefertes Klagen und Bitten, wie die jeweils anderen, die Fremden, davon ausgeschlossen werden könnten, die eigenen Ressourcen der jeweiligen Gemeinde zu nutzen. Das hatte auch mit den Zwängen einer Wirtschaft zu tun, die insgesamt nur kleine Spielräume kannte und in der jede Ressource nachhaltig genutzt werden musste. In einer städtischen Wirtschaft, deren Märkte allenfalls regionale Reichweite hatten, waren diese Zwänge für die Akteure besonders spürbar. Hildesheim steht dabei stellvertretend für viele andere Städte im Heiligen Römischen Reich. Vor dem Hintergrund heiß umkämpfter Mittel konnte das, was heute galt, morgen infrage gestellt werden. In Hildesheim hielt man es diesbezüglich gerne mit der Macht des Faktischen: Räume wurden besetzt, Praktiken ausgeübt, Märkte bezogen und wer nicht vehement gegen bestimmte Praktiken protestierte und seinen Einspruch auch durchsetzen konnte, hatte verloren. Wer heute fremd und vom Zoll betroffen war, war es morgen eventuell nicht mehr. Rechte wandelten sich oder wurden durch eine neue Praxis außer Kraft gesetzt. Die Stadt Hildesheim selbst spielte diesen Mechanismus übrigens virtuos zum eigenen Vorteil aus, hatte sie sich doch mit einer ebenso unorthodoxen wie pragmatischen Aneignung den neuen Marktplatz auf der Steingrube im Territorium des Domprobstes für die Dauer der Markttage gesichert. Marktfreiheit gestaltete sich vor diesem Hintergrund als ein kompliziertes Geflecht verschiedener Rechte und Gewohnheiten. Als Gegenleistung für den Marktzutritt hatten Fremde stets Abgaben zu leisten. Angesichts des permanenten Protests der lokalen Gewerbetreibenden oder der anhaltenden Vorurteile gegen bestimmte Handeltreibende erscheint die Öffnung des Marktes und das erfolgreiche Zusammenspiel der verschiedenen Akteure aus heutiger Sicht bisweilen erstaunlich. Aber tatsächlich wurde der Markt geöffnet, und jeder, der dafür zahlen konnte, erhielt Zugang. Aus Sicht der städtischen Obrigkeit wurden alle gebraucht, und zwar in Hildesheim wie in allen anderen Städten des Reiches aus purem Eigeninteresse − wegen der Einnahmen für das Stadtsäckel, aber auch wegen ihrer jeweiligen Funktionen für die Bevölkerung. Das Zusammentreffen verschiedener Menschen und Interessen war dabei alles andere als konfliktfrei. Mitunter fanden die Auseinandersetzungen ihren Weg ins Marktherrenzelt und damit in die gelegentlich erhaltene historische Überlieferung. Mindestens ebenso oft – und das sagt auch etwas über die Kraft des sozialen Ausgleichs der historischen Gesellschaft aus – lösten Handeltreibende ihren Streit ohne Anrufung der Autoritäten allerdings untereinander. Dabei stand die Interaktion mit 14

Angelika Schaser, Städtische Fremdenpolitik im Deutschland der frühen Neuzeit, in: Alexander Demandt (Hg.), Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 137–157 u. 270–278.

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den Fremden kollektiv, also zwischen Kommunen und sozialen Gruppen, wie individuell, also zwischen einzelnen Handeltreibenden, im steten Spannungsfeld von Konkurrenz und Kooperation, das die Beziehungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen im Reich grundsätzlich prägte.

5. Zwischen Konkurrenz und Kooperation: Interaktionen zwischen Fremden Eine Gruppe, ohne die es in Hildesheim keinen Jahr- und Viehmarkt gegeben hätte, waren die Großviehhändler. Die norddeutschen Pferdehändler brachten die von Militär, Adel und Bauern gleichermaßen begehrten Pferde von den ausgedehnten fruchtbaren Wiesen im Norden des Heiligen Römischen Reiches in die Stadt. Ochsenhändler aus dem Norden machten auf ihrer Wanderung in den Süden in Hildesheim Station. Großviehhändler stellten ein wesentliches Handelsgut bereit, auf das die Agrargesellschaft dringend angewiesen war. Die regelmäßigen Besuche dieser Händler in Hildesheim ermöglichten ihnen den Aufbau einer festen Klientel. Die Einwohner der Stadt und Menschen aus dem Umland profitierten umgekehrt von der sich aufbauenden persönlichen Bekanntschaft insofern, als ihnen viele Käufe durch die Kredite erst ermöglicht wurden. So wurden aus Menschen, die sich fremd waren, im Zuge regelmäßiger Marktbesuche zunehmend Bekannte, die einander mehr oder weniger vertrauten. Aus Sicht der Ratsherren führten die Viehhändler erfreulich viele Abgaben ab, sie waren daher auch seitens der Obrigkeit gern gesehene Besucher. Die Viehhändler waren die einzige Gruppe von Handeltreibenden, die von allen auf dem Markt vertretenen Parteien gleichermaßen gerne gesehen wurden. Bei vielen anderen Händlern gingen die Meinungen auseinander. Im Gegensatz zu den von den norddeutschen Viehhändlern importierten Gütern stellte man andere, an Markttagen eingeführte Güter in Hildesheim selbst her. Das galt etwa für handwerkliche Produkte wie Metall-, Leder- oder Töpferwaren. Das Verhältnis zu denjenigen Händlern aus den Nachbarorten, die ähnliche Produkte feilboten, wie sie in Hildesheim hergestellt wurden, war dauerhaft strapaziert. Die Hildesheimer Zünfte protestierten nicht nur fortwährend gegen die Zulassung ihrer auswärtigen Konkurrenz. Auf dem Markt selbst übten sie mitunter auch erheblichen Druck auf diese aus, indem sie etwa auf eigene Faust zusätzlich zu den von der Stadt geforderten Abgaben eigene Standgelder erhoben. Vor allem den einträglichen Ausschank von Spirituosen wollte man den Fremden vonseiten der Hildesheimer nicht gönnen. Die konkurrierenden Gastwirte aus dem Harz setzten sich allerdings selbst dann noch durch, als die lokal ansässigen Wirte in ihrer Abwehr von der Obrigkeit unterstützt wurden. Dieser Erfolg der Auswärtigen mag sich daraus erklären, dass das fremde Bier den Marktbesuchern besser schmeckte. Vielleicht zeigte aber auch der Gegendruck der Goslarer Obrigkeit, die ihren Gastwirten beistand, in Hildesheim Wirkung. Jedenfalls musste das importierte Bier geduldet werden.

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Für Mitglieder der jüdischen Bevölkerung war der Viehhandel eine von wenigen erlaubten Handelsmöglichkeiten. Entsprechend zahlreich fanden sich Mitglieder verschiedener jüdischer Gemeinden an Markttagen in Hildesheim ein. Da kamen wohlhabende Viehhändler aus Nachbarterritorien ebenso wie aus der Hildesheimer Neustadt oder arme Vaganten. Ungeachtet der großen Diversität dieser Gruppe galten sie den Ratsherren und vermutlich auch den Marktbesuchern alle zunächst als Juden und damit als minderberechtigte Handeltreibende. Juden hatten immer Abgaben zu leisten, ja sie hatten dies sogar vor allen anderen Fremden zu tun, egal woher sie kamen. Derart schrieb man von Markttag zu Markttag die Fremdheit der Juden fort. Freilich war die Praxis des Handels gleichzeitig eher auf Gemeinsamkeit ausgelegt. Jüdische Viehhändler waren ob ihrer Fachkunde von vielen Marktteilnehmern überaus geschätzt und konnten in der Regel mit der Kooperation der anderen Marktteilnehmer rechnen. Dann waren da noch die Fremden, deren Kommen viele Marktbesucher ersehnt haben mögen, garantierten sie doch ein außerordentliches, unterhaltsames Erlebnis: Die Gaukler und Spielstandbetreiber, die unregelmäßig Hildesheimer Märkte besuchten. Einem gesamtheitlichen Konzept von Körper und Geist verpflichtet, traten Jahrmarktsärzte nicht selten gemeinsam mit Gauklern auf. Das Fremde konnte dabei vielfach heilsam wirken: Die Faszination des Exotischen und die Überzeugungskraft der Welterfahrenheit von Heilern, die etwa in fremden Gewändern auftraten, entfalteten gemeinsam mit den unter Umständen vorhandenen beachtlichen medizinischen Kenntnissen ihre Wirkung. In einer Zeit ohne pharmazeutische Schmerzmittel oder Möglichkeiten der Betäubung wirkte gerade die Performanz solcher Künstler nachhaltig − wie die Theaterwissenschaftlerin Gerda Baumbach anschaulich in dem von ihr herausgegebenen Sammelband zum Zusammenspiel von „Theaterkunst und Heilkunst“ gezeigt hat.15 Während das breite Publikum mehr oder weniger begeistert staunte, notierte die bürgerliche Obrigkeit eher abschätzig, es seien wieder einmal Quacksalber in „türckischem […] Habit“ auf dem Markte gewesen.16 Auch die Ratsherren selbst schätzten allerdings exotische Produkte. In dem für sie an Markttagen zubereiteten festlichen Mahl spielten seltene Importgüter, wie Zitronen, Kapern, Safran, Zucker und später auch Kaffee, eine besondere Rolle. Hier bot der Genuss der seltenen fremden Güter Möglichkeit zur Inszenierung sozialer Distinktion.17 Insgesamt sorgten die städtischen Ratsherren dafür, dass der Handel zwischen Einheimischen und Fremden weitgehend reibungslos und störungsfrei verlief, wobei sie gelegentlich bei Streitigkeiten als Vermittler oder Gerichtsbarkeit fungierten. Zugleich bot die frühneuzeitliche Gesellschaft gute Voraussetzungen für den Austausch mit Fremden – sowohl mit ihrem Interesse an sozialem Ausgleich, der sich in

15

Gerda Baumbach (Hg.), Theaterkunst und Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie, Köln 2002. Fenske, Marktkultur, S. 95. 17 Zu dem üppigen Mahl der Marktherren vgl. ebd., S. 107–115. 16

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vielen Handelsgeschäften zeigte, als auch aufgrund ihrer, unter anderem von der Europäischen Ethnologin Barbara Krug-Richter und ihrem Kollegen Magnus Eriksson herausgestellten Konflikterfahrung und Konfliktfähigkeit.18

6. Eine um Ausgleich bemühte, konflikterfahrene Gesellschaft Der Blick auf den Hildesheimer Markt zeigt eine Gesellschaft, in der Fremde und Fremdheit allgegenwärtig waren. Wer fremd war, das konnte sich allerdings ebenso ändern wie der Grad an Fremdheit. Eine überaus flexible und pragmatische Handhabung garantierte, dass man im Wesentlichen offen für vielfältige Möglichkeiten der Kooperation blieb. Die Stadtgesellschaft öffnete sich dem von ihr als fremd angesehenen gegenüber ebenso aus Notwendigkeit wie etwa im Falle der exotischen Gaukler und Heiler aus Neugierde, hatte dabei jedoch stets den eigenen Nutzen im Blick. Die Öffnung gegenüber dem Fremden und seine Integration in das Marktgeschehen erfolgten konsequent im eigenen Interesse, wenn auch nicht unbedingt im individuellen Interesse oder im Interesse aller städtischen Gruppen, so doch im gemeinsamen Interesse der Stadtgesellschaft. Die auf dem Markt agierende Stadtgesellschaft orientierte sich insgesamt an Bedürfnislagen und unmittelbaren Notwendigkeiten, denen sich alles andere unterzuordnen hatte. Die Öffnung gegenüber Fremden folgte damit keiner grundlegenden Ideologie oder spezifischen Wertsetzung, sondern ging von aktuellen Bedürfnissen der lokalen Gemeinden aus. Wesentlich für den insgesamt einigermaßen störungsfreien Handel zwischen Einheimischen und Fremden war neben der erwähnten Konfliktfähigkeit die Einsicht in die Notwendigkeit des sozialen Ausgleichs.19 Hatte der soziale Ausgleich nicht bereits das eigentliche Kaufgeschäft hinreichend reguliert, so fand der Grundsatz im Streitfall breite Anwendung. Der Grundsatz, dass keiner den Schaden allein haben sollte, führte in der Praxis dazu, dass man im Fall von Schäden einen relativ starken Ausgleich suchte, der weder Käufer noch Verkäufer einseitig belastete. Auch dieses Vorgehen gehörte zu den gängigen Praktiken, die Risiken eines Handels unter einander fremden Akteuren zu minimieren. Freilich war die Stereotypisierung des Fremden durchaus bereits in dieser Zeit angelegt, wenn nicht gar üblich. Die eher unfreundliche Kommentierung von Personen mit exotisch wirkender orientalischer Kleidung seitens der Marktherren etwa deutet dies an. Gerade dieser Umgang mit Fremden und Fremdheit beschäftigte die zeitgenössischen Akteure im Zuge der Wahrnehmung anderer Kulturen jenseits von Europa immer mehr.

18

Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter, Streitkulturen – eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft (16.–19. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1–16. 19 Vgl. insbes. Fenske, Marktkultur, S. 235–244.

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7. Von der Stereotypisierung des Fremden zur Ideologisierung des Fremdseins Das Fremde wurde zunehmend nach ihm jeweils zugeschriebenen Eigenschaften geordnet. Dabei waren es insbesondere die sogenannten Heiden außerhalb der christlichen Welt, die die Neugierde und Unterhaltungslust befriedigten. Die sogenannten Völkertafeln beließen es wenig später nicht mehr bei der Feststellung von Unterschieden. In der bekannten Steierischen Völkertafel vom Beginn des 18.  Jahrhunderts etwa wurden die hier dargestellten einzelnen Völker auch – mitunter wenig freundlich – beurteilt.20 Türken waren demnach „Lügenteufel“, betrügerisch und faul, verräterisch und selbstverliebt. Im Vergleich zu anderen Völkern kamen die Deutschen gut weg, die Türken (synonym gesetzt mit Griechen) am schlechtesten, dicht gefolgt von Russen und Ungarn, die man unter anderem als grausam, boshaft, blutgierig oder verräterisch charakterisierte. Die hier beschriebenen ethnischen Differenzen sollten später auch biologisch bzw. biologistisch begründet werden. Die vielfältige Praxis der Bestimmung von fremd und Fremden in der Frühen Neuzeit wich in der Moderne einem zunehmend starren System, das – hier folge ich der Argumentation von Angelika Schaser und anderen21 – grundsätzlicher und damit in gewisser Weise auch stärker als zuvor Fremde ausgrenzte. Mit der Europäischen Ethnologin Johanna Rolshoven ließe sich auch feststellen, dass Fremdheit nachgerade ein Leitmotiv der Moderne geworden ist.22 Dabei überwiegt in der Moderne offenbar eine negative Definition des Fremden. Zu ethnischen Unterschieden gesellten sich im 19. Jahrhundert nationale Differenzen, die der Europäische Ethnologe Dieter Kramer als eine der aggressivsten Formen der Bildung von Wir-Gruppen ausgemacht hat.23 Gerade das Fach Volkskunde, Vorläuferdisziplin der Europäischen Ethnologie, hat im Zuge des 19. Jahrhunderts an dieser Entwicklung entscheidend mitgewirkt. Bei der Beschäftigung mit dem Eigenen, das im Sinne der Nationenbildung aktiviert werden sollte und zusätzlich verklärt wurde, geriet das Fremde schnell zur negativen Kontrastfolie. Die Aufarbeitung dieser Anfänge der Fachgeschichte erschien vielen neueren Fachvertreterinnen und -vertretern auch deshalb besonders wichtig, weil sie zwar nicht direkt und zwangsläufig in die menschenverachtende Politik des Nationalsozialismus führte, aber doch wesentliche Bausteine dafür lieferte.24 Fremd und 20

Die Tafel selbst ist vielfach im Internet frei verfügbar, z. B. Thomas Schmid, Europa in Vorurteilen. Warum Klischees so zählebig sind, 01.10.2016, https://schmid.welt.de/2016/10/01/europa-invorurteilen-­warum-klischees-so-zaehlebig-sind/ [Stand: 03.01.2021]. 21 Schaser, Städtische Fremdenpolitik. 22 Johanna Rolshoven, Fremdheit is ordinary. Kulturthema Fremdheit in der kritischen Kulturwissenschaft, in: Nils Grosch/Sabine Zinn-Thomas (Hg.), Fremdheit – Migration – Musik. Kulturwissenschaftliche Essays für Max Matter, Münster 2010, S. 11–22. 23 Dieter Kramer, Zwischen Fremdenfurcht und Neugier, in: Mona B. Suhrbier (Hg.), Fremde. Die Herausforderung des Anderen, Frankfurt a. M. 1995, S. 41–62. 24 Nach wie vor sehr lesenswert sind etwa die Beiträge des Tübinger Empirischen Kulturwissenschaftlers Utz Jeggle, der in gewisser Weise sein gesamtes Wirken der Aufarbeitung dessen widmete, was in der NS-Zeit mit Blick auf Einstellungen und Haltungen sowohl des Faches Volkskunde als auch auf Seiten der Bevölkerung an Fremdenfeindlichkeit kulminierte; mit Blick auf die Fachgeschichte vgl. z. B.

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einheimisch und die darauf aufbauenden dichotomischen Diskurse von Fremde und Heimat gehören zu wesentlichen Themen des Fachs.25 Zunehmend ist dabei auch auf die eigene Beteiligung am gesellschaftlichen Konstruktionsprozess hingewiesen worden. Fremde, die zum Untersuchungsgegenstand erhoben werden, werden auch dadurch zu Fremden gemacht. Daher hat man grundsätzlich in Zweifel gezogen, ob „Eigen“ und „Fremd“ noch „relevante Untersuchungskategorien“ sein können.26 Der Blick auf vormoderne Konstruktionsprozesse des Fremden liefert dabei durchaus Anregungen für den Umgang mit den Anderen in der Jetztzeit, in der das Thema des vorliegenden Bandes besondere Aktualität besitzt.

8. Vormoderne Praktiken im Spiegel der Jetztzeit: Wie Fremdes vertraut werden kann Für die Europäische Ethnologie hat Beate Binder mit Blick auf die „Anderen der Stadt“ vorgeschlagen, diejenigen Ordnungssysteme zu untersuchen, die das Andere jeweils zum Anderen machen27 – so wie ich es im vorliegenden Kontext für die frühneuzeitliche Stadtgesellschaft skizziert habe. Es gehe darum, Praktiken, Haltungen und Einstellungen der beteiligten Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt zu stellen. Die Befremdung des Eigenen sieht Binder dabei im Sinne ethnographischen Arbeitens als wesentlich an, und – so ergänze ich – die in der ethnographischen Forschungspraxis gemachte Erfahrung der Annäherung an Fremdsein ist als erster Schritt zum Gewinn von Vertrautheit wesentlich. Insofern wird die Mitbestimmung des Fremden stets durch die wissenschaftliche Untersuchung selbst bereits im Forschungsprozess teilweise wieder aufgehoben. Die Befremdung des Eigenen im Hier und Jetzt gelingt meines Erachtens im Besonderen durch den Blick auf historische Handlungszusammenhänge – mehr noch, das Vergangene mag alternative Möglichkeiten aufzuzeigen. So erscheint mir der Blick zurück in die Frühe Neuzeit im Zusammenhang mit der Frage nach den AndeUtz Jeggle, Volkskunde im 20. Jahrhundert, in: Rolf W. Brednich (Hg.), Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, Berlin 32002, S. 53–75. 25 Insbesondere seit der Publikation des Konferenzbandes der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde von Ina-Maria Greverus/Konrad Köstlin/Heinz Schilling (Hg.), Kulturkontakt – Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden, Frankfurt a. M. 1988, wurden zahlreiche regionale und themenbezogene Studien aus der deutschsprachigen Europäischen Ethnologie vorgelegt; vgl. nur Reinhard Johler, Europa und seine Fremden. Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung, Bielefeld 2007; Max Matter/Anna Caroline Cöster (Hg.), Fremdheit und Migration. Kulturwissenschaftliche Perspektiven für Europa, Marburg 2011. 26 Irene Götz, Wenn „Eigen“ und „Fremd“ keine relevanten Untersuchungskategorien mehr sein dürfen. Oder wie die Ethnologie ihre Forschungsgegenstände auflöst, in: RhWestfZVkd 46 (2001), S. 422–426. 27 Beate Binder, Die Anderen der Stadt. Überlegungen zu Forschungsperspektiven im Grenzgebiet von Europäischer Ethnologie und Geschlechterstudien, in: Zeitschrift für Volkskunde 105 (2009), S. 233–254.

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ren in der Stadt für unsere Gegenwart deshalb interessant, weil er vor der Etablierung starrer Konzepte von Fremdheit in der Moderne ansetzt. Er betont im Besonderen sowohl Relationalität als auch Relativität des Fremdseins. Damit wird Fremdheit als ein immer wieder neu hergestellter Zustand deutlich. Was zunächst dystopisch klingt, dass nämlich im Blick der vormodernen Stadtgesellschaft fast alle irgendwie Fremde waren, erweist sich in der Praxis paradoxerweise als Voraussetzung für ein insgesamt im Alltag immer wieder auch gelingendes Miteinander. – Ich betone das ‚auch‘, weil es in der Frühen Neuzeit bedauerlicherweise reichlich Beispiele für das Nichtgelingen im Miteinander, insbesondere im Verhältnis zu Andersgläubigen, gibt. – Weil fast alle fremd waren, galt es konkret immer wieder und so auch in Hildesheim, ein komplexes Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz auszuhandeln, pragmatisch, an den jeweiligen Bedürfnislagen orientiert. Dabei den sozialen Ausgleich zwischen verschiedenen Akteurinnen und Akteuren sowie Interessen als Grundlage eines friedvollen Miteinanders stets im Blick zu behalten, scheint mir unter heutiger Perspektive überaus aktuell. In gewisser Weise nimmt dieser Blick auf den anzustrebenden sozialen Ausgleich als Ansatz eines friedlichen Miteinanders den eingangs erwähnten Rat des Soziologen Zygmunt Bauman nach Empathie, Kommunikation und Solidarität auf, akzentuiert ihn freilich mit Betonung des kompromissorientierten Ausgleichs etwas anders. Das Beispiel des Hildesheimer Markts zeigt die hohe Relevanz von Kommunikations- und Konfliktfähigkeit als Voraussetzung für ein funktionierendes Miteinander. Dabei basiert der angestrebte soziale Ausgleich auf dem Wissen um die Notwendigkeit des Miteinanders angesichts der Bedürfnislagen. Was in Hildesheim die Produkte der Fremden waren, ist heute ihre Arbeitskraft, die zur Aufrechterhaltung der Wirtschaftsprozesse an vielen Orten in Europa unersetzlich ist. Hier könnte, nur nebenbei bemerkt, eine gerechte Bezahlung ein erster Schritt dafür sein, den neuen Nachbarinnen und Nachbarn die notwendige Solidarität zu erweisen, die sich dann auch konkret im Ortsbild abbilden wird. Bauman selbst setzt darauf, dass die Mitglieder europäischer Gesellschaften damit „nach Möglichkeiten suchen, in einen engen und immer engeren Kontakt mit den anderen zu gelangen, der hoffentlich zu einer Verschmelzung der Horizonte führt statt zu einer bewusst herbeigeführten und sich selbst verschärfenden Spaltung“.28 Mit Blick auf meinen eingangs vorgestellten Heimatort ist mir selbst in den vergangenen Jahren bewusst geworden, dass der von Bauman angemahnte Prozess eine große und im Einzelnen immer wieder äußerst mühsame Aufgabe ist. Schließlich erschweren hier wie anderen Orts bereits die erheblichen Ungleichheiten innerhalb der Gruppe derjenigen, die ‚schon immer da gewesen sind‘, die Aufgabe zusätzlich. Ohne die Bereitschaft, diesen Prozess zu durchleben, und zugleich – auch hierin der frühneuzeitlichen Gesellschaft vergleichbar – sowohl kommunikations- als auch konfliktfähig zu sein, werden die Gräben, die Unterschiede und Ungleichheiten sowie die daraus resultierenden und eingangs skizzierten Spannungen wachsen. Was mich mit Blick auf die Notwendigkeit, diesen Prozess zu gestalten, ermutigt, sind 28

Bauman, Angst, S. 23.

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die neuen Freundschaften, die etwa in der Nachbarschaft meiner Verwandten entstanden sind: Hier sind aus ehemals Fremden inzwischen vertraute Freundinnen und Freunde geworden.

yetz will ich ettlich wundergeburt schreyben vnd malen ZUM UMGANG MIT VERKÖRPERTER DIFFERENZ IN HAUS- UND FAMILIENBÜCHERN DES 16. JAHRHUNDERTS Bianca Frohne

1. Einleitung Im Jahr 1532 kam in der Stadt Köln im Hause Weinsberg ein Kind auf die Welt. Über dieses Ereignis unterrichtet uns Hermann Weinsberg (1518–1597), der ältere Bruder des Neugeborenen, in seinen Haus- und Gedenkbüchern. Es handelt sich dabei um eines der umfangreichsten deutschsprachigen Selbstzeugnisse aus dem 16. Jahrhundert. Weinsberg schildert die Geburt, die sich in zweierlei Hinsicht als besonders ‚merkwürdig’ herausstellen sollte, wie folgt: Anno 1532 uff fritag den 8. marcii uff den rechten mittach ist min broder Gotschalk von Weinsberch […] geboren und hat ein helm mit uff die welt bracht, das ist ein felgin uff dem heubt gewassen, das geinem andern von miner elter kindern widderfaren ist. Es hat fillicht got etwas sonderligs uber in versehen, das er in mit dem helm bezeignet hat.1 1

Hermann Weinsberg, Liber Iuventutis [LI-digital], fol.  48v; im Folgenden zit. nach: Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, hg. v. der Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003– 2009, http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Iuventutis/Liber_Iuventutis.htm [Stand: 03.01.2021]. Aus der umfangreichen Literatur zu Hermann Weinsberg vgl. etwa Gerd Schwerhoff, Verklärung und Untergang des Hauses Weinsberg – eine gescheiterte Geltungsgeschichte, oder: Vom glücklichen Überlieferungs-Zufall eines Ego-Dokuments aus dem 16.  Jahrhundert, in: Johannes Altenberend (Hg.), Kloster – Stadt – Region. Festschrift für Heinrich Rüthing, Bielefeld 2002, S. 65–86; Birgit Studt, Der Hausvater. Haus und Gedächtnis bei Hermann von Weinsberg, in: RhVjbll 61 (1997), S. 135–160; Gregor Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit. Verwandtschaft, Status und historisches Wissen bei Hermann von Weinsberg, in: JbKölnGV 71 (2000), S. 43– 76. Die Aufzeichnungen sind u. a. aus körper- und medizingeschichtlicher Perspektive ausgewertet worden, vgl. etwa Robert Jütte, Ärzte, Heiler und Patienten. Medizinischer Alltag in der frühen Neuzeit, München/Zürich 1991; Ders., Aging and Body Image in the Sixteenth Century: Hermann Weinsberg’s (1518–1597) Perception of the Aging Body, in: European History Quarterly 18 (1996), S. 260–290; Michael Stolberg, Homo Patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2003; Bianca Frohne, Leben mit „kranckhait“. Der gebrechliche Körper in

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Nach knappen Angaben zu Taufe und Namensgebung ergänzt Weinsberg Folgendes: Er hatt beinger, waren im binnen gebeugt wie eim ruter, das im die knehe van einander etwas stonden; solt daher sin komen, das min moder in siner tragt oft an den herrn Don Galzera de Cardona uis Hispanien, der mit dem keiser zu Coln war und zu Weinsberch lag, gedacht het, wie sei domails verzalt, der sin lebtag geritten hat, das im die bein van einandern mit den kneen stunden.2

Gottschalk Weinsberg (1532–1597) wird somit bereits am Tag seiner Geburt mit Zeichen belegt, die sich direkt im und am Körper manifestieren: Hermann hebt zum einen hervor, dass keines der anderen Kinder seiner Eltern mit einem Häutchen auf dem Kopf auf die Welt gekommen sei und mutmaßt, dass sich darin möglicherweise ein von Gott damit angezeigtes besonderes Schicksal offenbaren könnte. Zum anderen wies Gottschalk zusätzlich eine Kniefehlstellung auf, die auf die mütterliche Vorstellungs- und Gedankenwelt während der Zeit der Schwangerschaft zurück­ geführt wird. Weisen diese Merkmale jedoch Gottschalk bereits als ‚auffällig‘ oder gar als ‚anders‘ aus? Welche Funktion haben die beiden Körpermerkmale innerhalb des Berichtszusammenhangs, und was lässt sich aus ihrer Erwähnung schließen?

2. Andere Körper? Verkörperte Differenz als Forschungskonzept Die Untersuchung sozialer und kultureller Differenzierungskategorien, verbunden mit der Frage, wie Differenz, und damit ‚das Andere‘, hervorgebracht wird, bildet den zentralen Ausgangspunkt der Disability Studies. Sie bieten eine wichtige Forschungsperspektive auch für die Geschichte der Vormoderne, mit der sich unter anderem untersuchen lässt, wie vergangene Gesellschaften mit Vielfalt und Anders­ artigkeit umgingen.3 Das Konzept der verkörperten Differenz (‚embodied differ­ ence‘) stellt in diesem Zusammenhang eine hilfreiche Annäherung dar. Gemeint sind „die vielfältigen körperlichen, mentalen und psychischen Auffälligkeiten, denen gemeinsam ist, dass sie immer nur mittels des Körpers ausgedrückt und wahrgenom-

der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne, Affalterbach 2014, mit weiterer Literatur. Im Zuge der Forschungen für den vorliegenden Beitrag habe ich wertvolle Hinweise und Unterstützung von M. A. Katritzky, Julia Bruch und Jess Bailey erhalten. Bei ihnen bedanke ich mich herzlich. 2 Weinsberg, LI-digital, fol. 48v. 3 Vgl. Catherine J. Kudlick, Disability History: Why We Need Another „Other“, in: American Historical Review 108 (2003), S. 763–793; speziell mit Blick auf die Vormoderne Cordula Nolte u. a. (Hg.), Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch / Premodern Dis/ability History. A Companion, Affalterbach 2017; Wendy Turner, Care and Custody of the Mentally Ill, Incompetent, and Disabled in Medieval England, Turnhout 2013.

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men werden können.“4 Vor diesem Hintergrund gehen die Disability Studies von einer grundlegenden Wandelbarkeit dessen aus, was in bestimmten soziokulturellen Kontexten jeweils als Andersheit aufgefasst wird. Demnach erscheinen weder Behinderung noch Beeinträchtigung als festgefügte Kategorien. Im Fall von Gottschalk Weinsberg führten die auffälligen Zeichen, die sich seinem Körper eingeschrieben hatten, wohl keineswegs zu einer Einstufung seiner Person als anders- oder fremdartig. Zwar handelt es sich bei den bei der Geburt hervorgehobenen Merkmalen um weithin geläufige Phänomene, die in zeitgenössischen Diskursen zur Erklärung und Deutung von bestimmten Körperzeichen und körperlichen Auffälligkeiten regelmäßig herangezogen wurden: Körperzeichen aller Art wurden häufig im Rahmen physiognomischer Lehren ausgedeutet,5 während körperliche Auffälligkeiten vor allem von Neugeborenen mit dem sogenannten ‚Versehen‘, der Imaginationslehre,6 in Verbindung gebracht wurden. Beide Vorstellungsbereiche konnten innerhalb zeitgenössischer Diskurse sowohl zur Einordnung und Erklärung von ‚Andersheit‘ als auch zu dessen Festschreibung beitragen. Es ist jedoch noch wenig darüber bekannt, inwieweit diese Vorstellungen tatsächlich im sozialen Miteinander wirkmächtig wurden und inwieweit sie die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Menschen mit entsprechenden körperlichen Merkmalen formten. Gottschalks auffällige Beinhaltung etwa wird in Weinsbergs familiengeschichtlichen Aufzeichnungen nicht noch einmal erwähnt; sie ist wahrscheinlich in erster Linie als familiengeschichtliche Anekdote zu verstehen. Der zeichenhafte Helm, der auch als ‚Glückshaube‘ bekannt ist, verspricht in der zeitgenössischen Wahrnehmung gemeinhin ein langes, glückliches Leben. In beiden Fällen, so dürfen wir annehmen, ist die geschilderte Besonderheit des neugeborenen Kindes wohl vor allem von rhetorischer Bedeutung. Sie eröffnen uns Einblicke in die Schreibgewohnheiten des Verfassers, der an dieser Stelle sowohl um lebendiges und anschauliches Erzählen bemüht war als auch der verbreiteten Praxis nachkam, Vorzeichen zunächst ergebnisoffen und möglichst vollständig aufzuzeichnen. Auf diese Verzeichnispraxis wird im Folgenden zurückzukommen sein. Zunächst jedoch zeigt das Beispiel, dass es aufschlussreich ist, zu fragen, was eigentlich in vormodernen Gesellschaften als andersartig galt, welche körperlichen Merkmale in diesem Zusammenhang als bedeutsam – und damit als merk- und aufzeichnungswürdig – eingestuft wurden, und welche Bewertungen jeweils mit ihnen verbunden werden konnten. Nicht zuletzt gilt es dabei zu berücksichtigen, wie Phänomene verkörperter Differenz in vormodernen Quellen überhaupt fassbar gemacht werden können. Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob nur Phänomene, die in unserer Gesellschaft als negativ auffällig gelten, zum Forschungsgegenstand gezählt werden sollen, wie es in den Disability Studies noch teilweise geschieht.7 Insbeson4

Anne Waldschmidt, Soziales Problem oder kulturelle Differenz? Zur Geschichte von „Behinderung“ aus der Sicht der Disability Studies, in: Traverse (2006), Heft 3, S. 31–46, hier S. 32. 5 Vgl. dazu unten, S. 50. 6 Vgl. dazu unten, S. 53. 7 Vgl. etwa Markus Dederich, Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007, S. 9. Insbesondere Vertreterinnen und Vertreter des sozialen Modells von Be-

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dere kulturwissenschaftlich geprägte Herangehensweisen, die in den letzten Jahren auch in die Disability History Eingang gefunden haben, können dazu beitragen, auf diese Frage Antworten zu finden.8 Das kulturell hervorgebrachte und in sozialen Bezügen umgesetzte Wissen über Körper steht dabei – in seinen Wandlungen, Dynamiken und all seiner Vielfalt – im Mittelpunkt. Diese Wissensbestände verbinden sich, so die Annahme, mit einer erheblichen Bandbreite an Kategorisierungen, die es noch zu untersuchen gilt.9 Das kulturelle Modell von Behinderung wird daher von zahlreichen Vertreterinnen und Vertretern der Disability History der Vormoderne bevorzugt.10 Das Konzept der verkörperten Differenz trägt wesentlich dazu bei, den häufig noch anhand moderner Kategorien abgegrenzten Forschungsgegenstand ‚Behinderung‘ zu erweitern und seine Erforschung um neue, grundlegend ausgerichtete Fragestellungen zu bereichern: „In den Disability Studies geht man davon aus, dass körperliches ‚Anderssein’ und ‚verkörperte Differenz’ weitverbreitete Lebenserfahrungen darstellen, deren Erforschung zu Erkenntnissen führt, die nicht nur für die auf ‚Behinderung’ spezialisierten gesellschaftlichen Teilsysteme und die sogenannten ‚Betroffenen’, sondern für die allgemeine Gesellschaft und für das Verständnis des Zusammenlebens von Menschen schlechthin relevant sind.“11 Ein solcher Zugang kann dazu beitragen, die historische und kulturelle Wandelbarkeit von körperbezogenen Wahrnehmungen und Zuschreibungen, aber auch die des Umgangs mit Vielfalt und Andersheit schlechthin zu beleuchten. Er ermöglicht es uns, die eigenen, vermeintlich selbstverständlichen Annahmen über die Welt und die darin verwurzelten Vorstellungen von ‚Normalität‘ zu hinterfragen und die Welt aus ‚anderer‘ Perspektive zu sehen.12 hinderung konzentrieren sich zur Beschreibung von Behinderung auf die Frage, auf welche Weise die Gesellschaft Behinderung produziert, indem sie ausschließende oder stigmatisierende Praktiken und Strukturen schafft, die von Nicht-Behinderten als Normalität angesehen und reproduziert werden. Der Erfahrungsbereich körperlicher Beeinträchtigung wird in diesem Zuge nicht explizit als festgefügt oder ahistorisch konzipiert, sondern bewusst ausgeklammert, da er kein Potenzial für soziale und politische Änderungen in sich trägt; vgl. Michael Oliver, Defining Impairment and Dis­ability. Issues at Stake, in: Colin Barnes/Geof Mercer (Hg.), Exploring the Divide. Illness and Disabiblity, Leeds 2000, S.  39–54, hier insbes. S.  48f., 51; eine Zusammenfassung der am sozialen Modell geäußerten Kritikpunkte bietet etwa Tom Shakespeare, The Social Model of Disability, in: Lennard J. Davis (Hg.), The Disability Studies Reader, New Haven/London 32006, S. 266–273, hier insbes. S. 269–272. 8 Vgl. etwa die Beiträge Mairian Corker/Tom Shakespeare (Hg.), Disability/Postmodernity. Embodying Disability Theory, London/New York 2002; Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010. 9 Vgl. etwa Dederich, Körper, S. 19f. 10 Vgl. etwa Joshua R. Eyler, Introduction. Breaking Boundaries, Building Bridges, in: Ders. (Hg.), Dis­ability in the Middle Ages. Reconsiderations and Reverberations, Farnham 2010, S. 1–8; Julie Singer, Blindness and Therapy in Late Medieval French and Italian Poetry, Cambridge 2011. 11 Anne Waldschmidt/Werner Schneider, Disability Studies und Soziologie der Behinderung. Kultursoziologische Grenzgänge – eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld, Bielefeld 2007, S. 9–28, hier S. 13. 12 Die ‚queer‘ bzw. ‚crip theory‘ hat in den letzten Jahren zahlreiche wertvolle Grundsatzüberlegungen dazu geliefert; vgl. etwa Merri Lisa Johnson/Robert McRuer, Cripistemologies. Introduction, in: Journal of Literary & Cultural Disability Studies 8 (2014), S. 127–147.

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Zugleich wirft die Übertragung des Konzepts der verkörperten Differenz auf vormoderne Gesellschaften spezifische methodische Probleme auf: Als relationale Kategorie existiert Andersheit grundsätzlich nicht jenseits von sprachlichen Zuweisungen und entsprechendem sozialen Handeln. So müssten Untersuchungen, die das Attribut der Andersheit zum Ausgangspunkt nehmen, eigentlich stets an das Vorhandensein von semantischen Markierungen gebunden sein, die jeweils die zeitgenössische Wahrnehmung als ‚anders‘ belegen. Jedoch würde eine Einengung des Untersuchungsfeldes auf explizite Zuschreibungen von Alterität weder der gelebten Erfahrung der Zeitgenossen entsprechen noch den gängigen Produktionsund Rezeptionskontexten der uns heute zugänglichen Quellen Rechnung tragen. Implizite Übertragungen und allegorische Ausdrucksweisen, nicht hinterfragte Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie symbolische Zusammenhänge beispielsweise sind nur greifbar, wenn verkörperte Differenz als ein komplexes Netzwerk von Bedeutungszuschreibungen untersucht wird, ohne jedoch vorschnell Gesetzmäßigkeiten aus den Beobachtungen abzuleiten.13 Der vorliegende Beitrag soll dies verdeutlichen, indem er aufzeigt, wie variabel und uneinheitlich Phänomene verkörperter Differenz in den uns zugänglichen Quellen erscheinen. Um sich ihnen zu nähern, bietet sich dabei der Zugang über individuelle Erfahrungen, Deutungen und Wahrnehmungen an. Die beiden Zeichensysteme, die Hermann Weinsberg am Körper seines neugeborenen Bruders identifizierte, bieten im Folgenden den Ausgangspunkt, um der Frage nachzugehen, inwieweit der Körper als Differenzkategorie im Rahmen der familiengeschichtlichen Überlieferung des 16.  Jahrhunderts wirksam wurde.14 Zahlreiche Haus- und Familienbücher verweisen etwa regelmäßig auf medizinisch-astrologische Wissensbestände, auf Vorzeichen und wundersame Vorkommnisse: Welche Arten von Wissen, welche Informationen wurden zusammengetragen, und zu welchem Zweck? Lässt die Überlieferung konkrete Gebrauchskontexte des gesammelten Wissens erkennen? Und schließlich: Lassen sich Vorstellungen, Haltungen und Einstellungen ableiten, die auf die Wahrnehmung bestimmter Menschen als grundlegend anders oder gar fremdartig schließen lassen? 13

Vgl. auch Bianca Frohne, Infirmitas. Vorschläge für eine Diskursgeschichte des gebrechlichen Körpers in der Vormoderne, in: WerkstattGeschichte 65 (2015), S. 9–27; David T. Mitchell/Sharon L. Snyder, Narrative Prosthesis. Disability and the Dependencies of Discourse, Ann Arbor 2000. 14 Dabei gilt es, die Überlieferungsbedingungen im Blick zu behalten. In vormodernen Selbstzeugnissen können wir beobachten, wie Bezüge zu ganz bestimmten Lebenswelten produziert wurden, in die sich die Verfasserinnen und Verfasser damit zugleich einschreiben konnten: von Handlungsbereichen wie der Berufs- und Ämterlaufbahn über Erinnerungsgemeinschaften auf familiärer, städtischer und/oder korporativer Ebene bis zum alltäglichen Miteinander im Kontext von Heirat und Geburt, Gesundheit und Krankheit, Tod, Sterben und Begräbnis. In Haus- und Familienbüchern finden wir demnach nur einige wenige der vielen möglichen Wahrnehmungsweisen der gesellschaftlichen Umwelt und den damit verbundenen Wissensbeständen. Diese wurden zudem von den Verfasserinnen und Verfassern ausgewählt, gegebenenfalls abgeändert und zu neuen Sinnstrukturen angeordnet. Vgl. neben der in Anm. 1 genannten Literatur den Überblick aus der Perspektive der Disability History in Frohne, Leben, S. 98–104. Im Bereich der Familiengeschichtsschreibung ist zudem stets die hohe formale und inhaltliche Bandbreite zu berücksichtigen. Sie reicht von einzelnen kurzen Kinderverzeichnissen, die in die Einbände von gedruckten Bibeln oder Kalendern geschrieben wurden, bis hin zu den mehrbändigen, thematisch gegliederten Haus- und Gedenkbüchern, die zum Beispiel Hermann Weinsberg in seinen Schriften als generationenübergreifendes Projekt beschreibt.

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Dabei soll der Schwerpunkt zunächst bewusst allein auf körperlichen Zuständen liegen, die langfristig eine gesellschaftliche Wirkung im Sinne einer wahrnehmbaren Auffälligkeit oder Abweichung hätten entfalten können.15

3. fir und fir mit krankhait beladen: Medizinisch-astrologisches Wissen Wer sich mit frühneuzeitlichen Haus- und Familienbüchern beschäftigt, dem wird schnell deutlich, dass zeichenhafte, erinnerungswürdige Geburtsumstände immer wieder eine Rolle spielen.16 Hermann Weinsbergs Bemerkungen über seinen Bruder anlässlich dessen Geburt stehen also durchaus nicht allein. Auch der Nürnberger Kaufmann und Ratsherr Paulus Behaim (1519–1568) ließ in seinem Stamm- und Wappenbuch festhalten, dass sein Sohn Georg im Jahr 1567 mit einer Glückshaube geboren worden war: hatt sein pelgle mit im aus mutter leib pracht. Die Bedeutung liefert er gleich mit: sol vil glückhafftigkeitt bedeutten. Dieses unmittelbare, greifbare Körperzeichen, das in der Regel ohne Komplikationen vom Kopf eines Neugeborenen abgezogen werden kann, wurde anscheinend nicht nur als erinnerungswürdig, sondern geradezu als gedächtnisstiftend angesehen: Behaim weist darauf hin, dass das pelgle in einem schechtelein aufgehoben werde.17 Das Haushalts- und Rechnungsbuch des Nürnberger Ratskonsulenten Dr.  Christoph Scheurl (1481–1542) weist ebenso zahlreiche Einträge auf, in denen Merkmale am Körper seiner Söhne festgehalten wurden. Scheurl sammelte anscheinend gezielt Körperzeichen, die auf ein langes Leben schließen ließen. Dazu nahm er den Rat seines Hausgesindes ebenso dankbar auf wie den von Experten im Bereich des Wahrsagertums, unter anderem von Astrologen und Chiromantikern.18 Es ließe sich daher im Umkehrschluss vermuten, dass Erkrankungen oder sichtbare körperliche Auffälligkeiten eines Neugeborenen im Familienkreis ebenfalls Anlass zu Prognosen über das Leben des Kindes gegeben hätten, vielleicht ja sogar als Zeichen der Auserwähltheit angesehen worden wären. Es gibt jedoch innerhalb der familiären Überlieferung kaum Hinweise auf entsprechende Deutungen: Körpermerkmale, die mit Krankheiten, Gebrechlichkeit oder Beeinträchtigungen in Verbindung stehen, werden in der Regel nicht als Vorzeichen thematisiert. Dieser Befund ist angesichts der Textsorte, die zu weiten Teilen mit einem repräsentativen Anspruch verbunden wurde, gar nicht sonderlich überraschend. Hingegen ist es durchaus erwähnenswert, dass auch medizinisch-astrologische Daten, die in vielen 15

Akute Erkrankungen, leichte oder weithin unsichtbare Beschwerden, zum Beispiel Hermann Weinsbergs lange verheimlichter Leistenbruch, bleiben daher an dieser Stelle unberücksichtigt. Weitere Forschungen müssten aber genau an dieser Schnittstelle ansetzen. 16 Die folgenden Ausführungen beruhen teilweise auf Frohne, Leben, S. 104–112, 133–137. 17 StadtA Nürnberg, E 11/II, Nr. 510, fol. 8r. 18 Vgl. Heinrich Heerwagen, Bilder aus dem Kinderleben in den 30er Jahren des 16. Jahrhunderts, in: Mitteilungen aus dem Germanischen Nationalmuseum (1906), S. 93–106, hier S. 99f., 105; dazu auch Steven E. Ozment, Flesh and Spirit. Private Life in Early Modern Germany, New York 1999, S. 91f., 99.

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Haus- und Familienbüchern gesammelt wurden, nur äußerst selten zur Anwendung kamen, um langwierige Erkrankungen oder dauerhafte Beeinträchtigungen erklären oder einordnen zu können. Dabei haben die zur Verfügung stehenden Theorien und Vorstellungen durchaus ihren Platz in der Familiengeschichtsschreibung: Seit dem 15.  Jahrhundert wurde es üblich, beim Anlegen von Sammelhandschriften inhaltlich breit gestreutes Wissen aus Astrologie, Astronomie oder Medizin mit aufzunehmen. Die große Bedeutung von medizinisch-astrologischer Literatur steht dabei im Zusammenhang mit der Popularisierung von Gesundheitsbüchern und Kalendarien, die zunehmend in der Volkssprache verfügbar wurden.19 Entsprechend groß war die Faszination für medizinisch-astrologisches Wissen unter den Verfassern von Hauschroniken und Familienbüchern. Viele von ihnen besaßen entsprechende Traktate, ließen Horo­ skope erstellen oder nahmen eigene astrologische Berechnungen vor. Anlässlich von Geburten weisen zahlreiche Familienbücher ausführliche Datensammlungen etwa zum Tagesdatum und zur Tageszeit, zu den Geburtsumständen und zu den Gegebenheiten der Taufe auf. Vor allem die genauen Angaben zur Geburtsstunde dienten dabei als Grundlage bei der Erstellung von Horoskopen. Der Charakter eines Menschen, aber auch seine körperliche Gestalt und gesundheitlichen Aussichten wurden in Horoskopen erfasst, da diese bei der Geburt durch das jeweilige Tierkreiszeichen mitbestimmt würden.20 Vor diesem Hintergrund könnte man erwarten, dass Zusammenhänge mit astrologischen Determinanten oder anderen medizinischen Deutungsmustern hergestellt wurden, wenn Kinder mit körperlichen Auffälligkeiten und Beeinträchtigungen auf die Welt kamen oder diese in frühen Jahren entwickelten. In den überlieferten Hausund Familienbüchern sind nicht wenige Familienangehörige genannt, die als blind, bucklig, sichtbar ‚gebrechenhaft‘, als ‚unrichtig‘, als ‚Zwergin‘ oder auch einfach als immerzu krank bzw. niemals recht gesund aufgeführt werden.21 Eine erklärende Einordnung oder Bezugnahme zu den genannten Theorien und Vorstellungen findet jedoch bei diesen Personen in der Regel nicht statt. Es werden sogar nur äußerst selten Zusammenhänge zwischen der tatsächlichen körperlichen Verfasstheit eines Familienmitglieds und den gesammelten zeichenhaften Daten hergestellt. Selbst wenn Stefan Bayr (1488–1558) anlässlich des Todes seiner Tochter Katharina im Jahr 1540 festhält, dass am Tag zuvor eine große Sonnenfinsternis beobachtet worden sei – als inn vill lanngen jarren nie gesehen ist worden –, zieht der Verfasser keine Schlüsse aus der Nähe der beiden Ereignisse.22 Geburts-, Hochzeits- und Sterbestunden wurden in der familiären Überlieferung anscheinend zunächst als solche gespeichert und für weitere Ausdeutungen bereit19

So Ursula Hess, Heinrich Steinhöwels ‚Griseldis‘. Studien zur Text- und Überlieferungsgeschichte einer frühhumanistischen Prosanovelle, München 1975, S. 97. 20 Vgl. Erika Derendinger, Die Beziehung des Menschen zum Übernatürlichen in bernischen Kalendern des 16. bis 20. Jahrhunderts, Bern/Stuttgart 1985, S. 223–234. 21 Vgl. Frohne, Leben, insbes. S. 96–187. Unter den zahlreichen Kindern, die bei oder kurz nach der Geburt verstorben waren, könnten weitere Fälle gewesen sein, die in der Familienbuchschreibung nicht erwähnt wurden. 22 StaatsA Nürnberg, Rep. 52a, Reichsstadt Nürnberg, Handschriften, Nr. 266, S. 10.

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gehalten.23 Auch lassen sich die bis auf die Antike zurückgehenden Erklärungen für auffällige Phänomene körperlichen Andersseins, die etwa im hochmittelalterlichen Wunderdiskurs erneut rezipiert wurden, innerhalb der häuslichen Überlieferung nicht nachweisen. Zu der Bandbreite möglicher Erklärungen zählten etwa die emotionalen oder physiologischen Umstände bei der Empfängnis oder der Geburt, die körperliche Konstitution von Mutter oder Vater wie auch die Bewegungen der Himmelskörper.24 Krankheiten, Beeinträchtigungen oder eine auffällige Gestalt innerhalb der eigenen Familie wurden möglicherweise nicht als Phänomene angesehen, die solchen Erklärungsmustern bereitwillig unterworfen werden konnten. Vor dem Hintergrund der wachsenden Prodigienliteratur wäre ein möglicher Grund für das Fehlen derartiger Bezugnahmen, dass die davon betroffenen Familienmitglieder damit in den Bereich des Merkwürdigen und Abseitigen, das einer Erklärung bedurfte, eingeordnet worden wären. Auch Körperzeichen, die im Rahmen der umfassenden Temperamentenlehre als Anzeichen oder auch als Erklärungen für bestimmte körperliche Verfasstheiten dienen konnten, finden in Haus- und Familienbüchern vor allem im Zusammenhang mit leichten und weitverbreiteten Beschwerden Erwähnung, beschränken sich aber weitgehend auf Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen, Vorlieben und Abneigungen.25 In den – seltenen – Fällen, in denen physiognomische Kennzeichen mit gesundheitlichen Kategorien verbunden werden, zeigt sich eine gewisse Vagheit und Beliebigkeit, die weniger eine konkrete Deutung als eine rahmengebende Zuordnung zu bestimmten Wissensbeständen zu sein scheint. Ein Beispiel dafür ist das Kinderverzeichnis des Augsburger Kaufmanns Lucas Rem (1481–1541). Er fing wahrscheinlich zeitgleich damit an, astrologische Daten und das Äußere seiner Kinder anhand gleichbleibender Kategorien zu verzeichnen. Dabei folgte er einem Schema, das in engem Zusammenhang mit den Vorstellungen der Temperamentenlehre und der Physiognomik zu sehen ist. Er beschrieb unter anderem die Körpergestalt als Ganzes (kräftig oder zierlich), die Körpergröße (groß 23

Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht die Lebensbeschreibung des Hieronymus Wolf (1516–1580). In diesem Zusammenhang hat Stolberg, Homo Patiens, S. 57f., bereits drauf hingewiesen, dass Wolfs astrologisch geprägte Erklärungen für seine Erkrankungen und Beeinträchtigungen eine Ausnahme darstellen. 24 Vgl. Irina Metzler, Disability in Medieval Europe. Thinking about Physical Impairment during the High Middle Ages, c. 1100–1400, London/New York 2006, S. 79–89; Christian G. Bien, Erklärungen zur Entstehung von Mißbildungen im physiologischen und medizinischen Schrifttum der Antike, Stuttgart 1997. Eine Systematik mit Beispielen aus zeitgenössischen Prodigiensammlungen findet sich bei Ambroise Paré (1509–1590) im Prolog zu seiner Sammlung von Wundergeburten: Ambroise Paré, Des monstres et prodiges, hg. v. Jean Céard, Genf 1971, S. 3f., mit Beispielen in den folgenden Kapiteln. 25 Auch Schreibende wie Hermann Weinsberg oder Andreas Ryff (1550–1603) nutzen die Temperamentenlehre, um rückwirkend Lebens- und Karriereentscheidungen zu legitimieren; vgl. Christoph Lumme, Höllenfleisch und Heiligtum. Der menschliche Körper im Spiegel autobiographischer Texte des 16. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 69–74. Als Sonderfall dürfte ferner der Melancholie­ diskurs gelten, der jedoch seinen eigenen Regeln folgt und an dieser Stelle nicht diskutiert werden kann, vgl. etwa Antje Wittstock, Melancholia translata. Marsilio Ficinos Melancholie-Begriff im deutschsprachigen Raum des 16. Jahrhunderts, Göttingen 2011. Die Gelehrtenautobiographie hat viel eher Verwendung für die Ausdeutung von Köperzeichen, steht jedoch gerade darin häufig im Kontext apologetischer Aussageabsichten. Vgl. dazu auch Frohne, Leben, S. 332–339.

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oder klein), Haar-, Augen- und Körperfarbe. Die Temperamentenlehre als solche umfasste die Beschreibung, Deutung und Prognose von Lebensschicksal, Lebensdauer, Krankheit, Gesundheit, Körperbau und Charakter. Bezeichnend ist bei allen Beschreibungsmodellen jedoch die relative Offenheit der Zuschreibungen, die eine Vielzahl an unterschiedlichen Bewertungen ermöglichte.26 Es hing daher nicht unwesentlich von den jeweiligen Aussageabsichten ab, welche Kategorien herangezogen wurden und zu welchen Resultaten die physiognomisch Deutenden kamen. Die Auslegung von Beeinträchtigungen und anderen Phänomenen körperlichen Andersseins, selbst von chronischen Erkrankungen galten wohl zumindest innerhalb des familiären Schrifttums nur bedingt als ein Betätigungsfeld für die Temperamentenlehre. Lucas Rem etwa nimmt eine äußerst vage physiognomisch geprägte Bezugnahme zu den Veranlagungen seines kränklichen, früh verstorbenen Sohnes Berthold vor, wenn er über ihn schreibt: Ain fast schons schwartzaugends kind mit aim kraussen weyssen har, aber fir und fir mit krankhait beladen, vergicht, grimmen, haptwee, zuo letzt die flecken.27 Die körperliche Konstitution erscheint damit als eine eigene Kategorie, die Rem in seinem Kinderverzeichnis zunehmend regelmäßig thematisiert.28 Eine Deutung oder Auslegung der körperlichen Verfasstheit findet allerdings nicht statt, und die Kategorien der Beschreibung stehen unverbunden neben­einander.29 Zur Charakterisierung von sogenannten allzeit kranken, unrichtigen, gebrechlichen Personen findet sich innerhalb der familiengeschichtlichen Überlieferung stattdessen häufig der Verweis auf den Willen Gottes. Dieser sei der Grund dafür, dass alle unternommenen Behandlungsversuche erfolglos geblieben seien. Wie diese Versuche aussahen, erfahren wir häufig nicht aus den Familienbüchern selbst, sondern allenfalls aus Briefen, Rechnungsbüchern oder anderen Dokumenten.30 Für die familiäre Erinnerungskultur spielten demnach astrologisch-medizinische Kategorien keine gewichtige Rolle. Vielmehr wird den so bezeichneten Familienmitgliedern ein gewisses religiös-moralisches Verdienst zugesprochen, da sie viele Schmerzen und großes Leiden aushalten mussten, und dies mit Geduld ertrugen. 26

B. Greiff (Hg.), Tagebuch des Lucas Rem aus den Jahren 1494–1541. Ein Beitrag zur Handels­ geschichte der Stadt Augsburg. Sechsundzwanzigster Jahres-Bericht des historischen Kreis-Vereins im Regierungsbezirke von Schwaben und Neuburg für das Jahr 1860, Augsburg 1861, S. 66–70. Die spätmittelalterlich-frühneuzeitliche Ausprägung der Temperamentenlehre setzt sich aus Grundgedanken der Kosmologie, Medizin und Physiognomik zusammen; vgl. Stolberg, Homo Patiens, S. 116– 121; Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, S. 86–94; Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M. 1992, S. 226–231. 27 Vgl. Greiff (Hg.), Tagebuch, S. 68. Berthold starb 1530 im Alter von etwa eineinhalb Jahren. 28 Vgl. auch ebd., S. 69, zu seinem Sohn Jakob (1530–1533): ain schon schwartzaugender, uberstarker, brauner buob, kraus haar, fir und fir gesondt, nie krank bis adi 11 Settbr. 1533, kam In ain bos hitzigs fieber an. Starb dran adi 24. Settbr. 1533 morgens zwischen 3 In 4 Ur. 29 Vielleicht handelte es sich um eine tröstliche Vorstellung, die Rem aus der Retrospektive für sich in Anspruch nahm: Kinder, die von ihrer Natur aus zu Kränklichkeit neigten, konnten auch bei bester Pflege und durch die größte Mühe der Eltern nicht am Leben gehalten werden. 30 Vgl. ausführlich Frohne, Leben, S. 256–281.

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Somit lässt sich festhalten: Auch wenn die in Haus- und Familienbüchern zahlreich gesammelten Daten und Wissensbestände Bezüge zu medizinisch-astrologischen Vorstellungen aufweisen, wurden die Aufzeichnungen anscheinend nicht immer oder in erster Linie von den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen gesteuert.31 Als leitendes Kriterium können vielmehr auch die zeittypischen Sammelpraktiken gelten, die häufig einem popularisierten Fachdiskurs mit seinen Gegenständen, Kategorien, Begriffen und Verzeichnungsstrategien folgen. Vielen Verfassern von Haus- und Familienbüchern ging es wohl nicht zuletzt um eine repräsentative Aufbereitung von Wissen. Es erscheint daher angemessen, die medizinisch-astrologischen oder auch religiös geprägten Diskurse der Zeit nicht unbesehen auf die Alltagswahrnehmung zu übertragen. Das bedeutet nicht, dass den genannten Theorien und Deutungen im Zusammenhang mit verkörperter Differenz keine kulturelle Bedeutsamkeit zuzuweisen wäre. Allein der Umstand, dass sie in unterschiedlichen Kontexten wiederholt referiert wurden, zeigt, dass sie erhebliche gesellschaftliche Deutungsmacht in sich tragen konnten. Allerdings sollte dieses Potenzial auch nicht überschätzt werden, wie es in älteren geschichtlichen Überblicken zu Behinderung oft geschehen ist.32 Es empfiehlt sich daher – etwa in Analogie zur Erforschung der vormodernen Rechtspraxis bzw. Rechtsnutzung –, die pragmatischen Kontexte der Nutzung vormoderner Theorien, Einordnungen, Bilder und Symbole im Umfeld verkörperter Differenz stärker in den Mittelpunkt zu stellen. In diesem Zusammenhang lässt sich häufig zeigen, dass ein ähnlich starker Unterschied zwischen überlieferten Normen und gelebter Praxis bestehen konnte wie im mittelalterlich-frühneuzeitlichen Rechtsleben.33 Dies ist angesichts der Allgegenwärtigkeit von Krankheitserfahrungen, lang anhaltenden Beeinträchtigungen und Gebrechen in vormodernen Gesellschaften durchaus nicht überraschend. Zahlreiche jüngere Studien haben darauf hingewiesen, dass vor allem in vormodernen Zeiten ein Großteil der Bevölkerung im Verlauf des Lebens von längerfristigen Erkrankungen und Beeinträchtigungen von sehr unterschiedlicher Dauer, in unterschiedlichen Lebensabschnitten und mit je unterschiedlichen Auswirkungen betroffen war. Infolgedessen werden die sozialen Auswirkungen und die kulturellen Bedeutungen von ‚disability‘ zunehmend als breitgefächerte, dynamische und komplexe Untersuchungs­gegenstände anerkannt.34 Diese Befunde haben zur Ausbildung von Forschungsfragen geführt, mit denen sich etwa Organisationsstrukturen und die Flexibilität sozialer Gruppen und Umwel31

Konkrete Nützlichkeitserwägungen sind etwa auch bei der Aufnahme eines medizinischen Traktates in ein Hausbuch nicht ohne Weiteres vorauszusetzen; vgl. Ortrun Riha, Wissensorganisation in medizinischen Sammelhandschriften. Klassifikationskriterien und Kombinationsprinzipien bei Texten ohne Werkcharakter, Wiesbaden 1992, S. 137f., 165f. 32 Vgl. die von Elisabeth Bredberg, Writing Disability History. Problems, Perspectives and Sources, in: Disability & Society 14 (1999), S. 189–201, angeführten Beispiele; außerdem etwa Josef N. Neumann, Der mißgebildete Mensch. Gesellschaftliche Verhaltensweisen und moralische Bewertungen von der Antike bis zur frühen Neuzeit, in: Michael Hagner (Hg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 22005, S. 21–44. 33 Vgl. Nolte u. a. (Hg.), Dis/ability History, insbes. Kap. 3 und 8. 34 Einen Überblick liefert Nolte u. a. (Hg.), Dis/ability History; vgl. insbes. Wendy Turner, The Environmental Model, in: ebd., S. 63–67.

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ten, Machtverhältnisse und Repräsentationspraktiken sowie die Überschneidungen unterschiedlicher Wissensformen aus Sicht der Disability History neu und anders beleuchten lassen.

4. Wundergeburten und wundersame Menschen Auch am Beispiel der Imaginationslehre lässt sich zeigen, dass der Umgang mit verbreiteten Theorien zum Zustandekommen abweichender Körperphänomene durchaus flexibel und deutungsoffen gehandhabt wurde. Es handelt sich dabei um die Vorstellung, dass durch das ‚Versehen‘ oder auch durch ‚Erschrecken‘, also durch äußere Sinneseindrücke oder heftige Gemütsbewegungen, eine langfristige körperliche Veränderung im Inneren des Körpers verursacht werden konnte. Als besonders gefährdet galten schwangere Frauen, die durch einen schreckenerregenden Anblick oder auch allein durch ihre Vorstellungskraft einen schädlichen Einfluss auf die körperliche Gestalt ihres ungeborenen Kindes nehmen konnten.35 Im Inneren von Hermann Weinsbergs Mutter etwa wurde seinen Aufzeichnungen zufolge das in der Vorstellungskraft sich manifestierende Bild des besagten spanischen Reiters, an den sie während ihrer Schwangerschaft häufig denken musste, auch ihrem Kind aufgeprägt. Es ist dies jedoch eines der wenigen Beispiele innerhalb der Familiengeschichtsschreibung des 15. und 16. Jahrhunderts, in denen die Imaginationslehre zur Erklärung für körperliche Eigenarten der eigenen Familienmitglieder herangezogen wurde. Es scheint zudem so, als ob in diesem Fall die augenzwinkernde Erwähnung ihrer gedanklichen Befindlichkeit eher zur Belustigung der Leser dienen sollte. Eine schwerwiegende Beeinträchtigung des Bruders wird dabei nicht nahegelegt.36 Konkrete Anwendungen der Imaginationslehre auf bestimmte Individuen finden sich ansonsten vor allem im Zusammenhang mit Berichten über ‚Wundergeburten‘ und wundersame Menschen, die seit dem 15. und 16. Jahrhundert in Form von

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Vgl. Irene Ewinkel, De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1995, S. 151–185; Robert Jütte, Die Frau, die Kröte und der Spitalmeister. Zur Bedeutung der ethnographischen Methode für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin, in: Historische Anthropologie 4 (1996), S. 193–215. Der Imaginationslehre zufolge prägen sich äußere und innere Bilder über einen bestimmten Teil des Gehirns (der imaginatio) in die Materialität des Körpers ein. Dieser Hirnventrikel sorgte nicht nur dafür, dass äußere Sinneseindrücke verarbeitet und zum Speichern weitergegeben würden, sondern auch dafür, dass innere Bilder und Gedanken Form fänden. 36 Hingegen lassen sich zahlreiche Beispiele für Erkrankungen infolge eines ‚Schreckens‘ in Haus- und Familienbüchern wie auch vor allem in Lebensbeschreibungen finden. Gottschalk Weinsberg etwa führte ein schweres Fieber darauf zurück, dass er sich vor einer Spinne erschreckt habe, die ihm im Wirtshaus ins Glas gefallen war. Hermann Weinsberg vermutet jedoch, dass auch die kühle Konstitution bei gleichzeitigem Überessen als Ursache infrage kommt; vgl. Weinsberg, LI-digital, fol. 336r. Umgekehrt habe ein heftiges Erschrecken bei Hermanns Mutter das Fieber vertreiben können; vgl. ebd., fol. 232r.

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Einblattdrucken und ganzen Wundersammlungen kursierten.37 Diesen besonderen Körpern wurden häufig besondere Bedeutungen zugesprochen. Dazu gehörte auch ihre Funktion als Vorzeichen, als Vorausdeutung auf kommende Katastrophen oder anstehende Gefahren. Berichte über wundersame Geburten fanden in einigen Fällen auch ihren Weg in Haus- und Familienbücher.38 Die Informationen bezogen die Schreibenden zumeist direkt aus Flugblättern und -schriften, Briefen, mündlichen Mitteilungen und manchmal aus eigener Anschauung. Die Wiedergabe wundersamer Ereignisse folgt dabei anscheinend zu großen Teilen wörtlich den zitierten Druckwerken oder Briefen.39 Der Umfang der verzeichneten Nachrichten ist dabei recht unterschiedlich. In der Regel werden innerhalb des häuslichen Schrifttums nur die wichtigsten Daten zu den jeweils angesprochenen Wundergeburten festgehalten, darunter Jahr, Ort und Gestalt. Diese Informationen mögen ausgereicht haben, um die einzelnen Ereignisse zu identifizieren und bei Bedarf möglicherweise in weiteren, uns in diesem Überlieferungskontext nicht mehr zugänglichen Quellen nachzulesen. Flugblätter und -schriften oder andere Druckwerke, die sich bereits im eigenen Besitz befanden, werden wohl nicht immer eigens erwähnt.40

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Aus der umfangreichen Literatur seien stellvertretend die einschlägigen Forschungsarbeiten von Ewinkel, De Monstris; Michael Schilling, Bildpublizistik der frühen Neuzeit. Aufgaben und Leistungen des illustrierten Flugblatts in Deutschland bis um 1700, Tübingen 1990; Jennifer Spinks, Monstrous Births and Visual Culture in Sixteenth-Century Germany, London u. a. 2009, genannt. Auch Eugen Holländer, Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts. Kulturhistorische Studie, Stuttgart 1921, ist als Materialsammlung immer noch hilfreich. Aus Perspektive der Disability Studies sind zu nennen Rosemarie Garland-Thomson (Hg.), Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, New York/London 1996; Christian Mürner, Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen. Sensationslust und Selbstbestimmung, Weinheim u. a. 2003; Michael Hagner (Hg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 22005; Urte Helduser, Imaginationen des Monströsen. Wissen, Literatur und Poetik der „Missgeburt“ 1600–1835, Göttingen 2016; Elizabeth B. Bearden, Monstrous Kinds. Body, Space, and Narrative in Renaissance Representations of Disability, Ann Arbor 2019. Eine Einordnung in umfassende kulturelle Kontexte bieten Lorraine Daston/Katherine Park, Wunder und die Ordnung der Natur 1150–1750, Berlin 2002, insbes. S. 205–252. 38 Zu den (oft auch unausgesprochenen) Adressatenkreisen der Flugblätter vgl. Schilling, Bildpubli­ zistik, S. 47–50. 39 Johannes Velius (1545–1631), Pfarrer von Einbeck, gibt beispielsweise in seinen ansonsten überwiegend lateinisch verfassten Schreibkalendernotizen einen Briefausschnitt in deutscher Sprache wieder: Das Kalendarium des Johannes Velius (1545–1631), Pastor an der Marktkirche St. Jacobi zu Einbeck. Einbecker Nachrichten aus dem 16. und 17. Jahrhundert, hg. v. Horst Hülse, Oldenburg 1994, S. 14 (19.01.1574). Velius verzeichnete weitere selbsterlebte Himmels- und Wettererscheinungen, glich diese Phänomene jedoch auch mit Briefen oder Flugblättern ab; vgl. z. B. ebd., S. 17 (03.05.1575). 40 Hans Salat (1498–ca. 1561) vermerkte in seinen persönlichen, familien- und zeitgeschichtlichen Notizen den Einritt Karls V. in Augsburg im Jahr 1530 und fügt hinzu: des inritens ich ein copy han in miner bibliateck; Jacob Baechtold (Hg.), Hans Salat. Ein Schweizerischer Chronist und Dichter aus der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts. Sein Leben und seine Schriften, Basel 1876, ND Vaduz 1986, S. 40. Salat berichtet über eine große Zahl an Wettererscheinungen, seltsame Himmelsphänomene sowie Fälle von Mord und Totschlag, Hinrichtungen und Prozesse. Damit deckt er das gängige Feld der in Flugblättern kolportierten Nachrichten ab. Es findet sich nur eine einzige Erwähnung einer Wundergeburt, der keine Deutung beigegeben ist; vgl. ebd., S. 66.

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Es ist zudem durchaus aufschlussreich, dass die Thematisierung von Menschen mit wundersamen körperlichen Eigenschaften innerhalb der häuslichen Überlieferung nicht über die Deutungsebenen hinausgehen, die in den Flugblättern angeboten wurden. Interessanterweise bleiben sie zumeist sogar noch dahinter zurück, indem auf Deutungen, Einordnungen oder Wertungen vollständig verzichtet wird: Die seltsamen Ereignisse wurden rein faktenorientiert verzeichnet und bleiben ohne jede weitere Kommentierung. So finden sich zwar auch in Hauschroniken gelegentlich Verweise auf die typische Ausdeutung von Prodigien als allgemein unheilverkündende Vorzeichen. Der kurmainzische Amtmann von Stadtprozelten am Main, Adolf Echter von Mespelbrunn (1543–1600), hielt in seinem Tagebucheintrag zum 17. März 1586 fest: Nota. Ein schreckliche Gepurt zweyer Kinder zu Prodselden, mit zweyen Kopffen ein Leib zusammen gewachsen, mir zukommen.41 Abgesehen von der Einordnung des Geschehens als ‚schrecklich‘ – und damit als Prodigium – erfolgt keine weitere Ausdeutung. Ausführliche Deutungsversuche, wie sie sich auf Flugblättern finden lassen, sind innerhalb des häuslichen Schrifttums äußerst selten zu finden. Die Behandlung von Nachrichten über Wundergeburten und Wundermenschen weist dabei durchaus Parallelen zu den Einträgen über selbsterlebte Krankheitsepisoden der Schreibenden und ihrer Angehörigen auf. Auch hier werden sehr häufig allein äußere Daten einer Erkrankung verzeichnet, etwa die Zeiträume, in denen die Krankheit auftrat, gelegentlich verbunden mit weiteren Details zur Behandlung. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass Familienbücher häufig auf Einträge aus Tagebüchern oder Schreibkalendern zurückgehen. Wenn ausführliche Schilderungen der Krankheitssituation später in Haus- und Familienbücher niedergeschrieben wurden, dann erfolgte dies zumeist aus der Retrospektive. Da aber zumindest akute Erkrankungen zu diesem Zeitpunkt in vielen Fällen bereits überwunden waren, bot sich anscheinend oft kein Anlass mehr, diese Erfahrungen weiter auszuführen.42 Den Schreibenden ging es also auch hier anscheinend zunächst um das Sammeln von Daten und Ereignissen, die man als erinnerungswürdig wahrnahm oder die sich später einmal als nützlich erweisen könnten. Dazu gehörte zunehmend auch das Sammeln von wundersamen Geschehnissen in der Welt. Ein typisches Beispiel für einen entsprechenden Eintrag in einem Reisetagebuch stammt etwa von Philipp Eduard Fugger (1546–1618). Ohne die Quelle für seine Informationen zu nennen, vermerkte er kurz und kommentarlos zum 2.  Januar 1569: Jst zůe Aůgspůrg ein kindt geboren hatt ein Seükopff, vnnd schwentzel gehabt. Jtem 9 zeen an ainem fůeß.43 Die Kürze der Aufzeichnungen lässt darauf schließen, dass das Tagebuch eher als Stichwortgeber und Erinnerungshilfe dienen sollte. Den

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Franz Hüttner (Hg.), Aus dem Tagebuch eines Echter von Mespelbrunn, in: Archiv für Kulturgeschichte 3 (1905), S. 440–468, hier S. 456. 42 Vgl. Frohne, Leben, S. 49–96. 43 Beatrix Bastl, Das Tagebuch des Philipp Eduard Fugger (1560–1569) als Quelle zur Fuggergeschichte. Edition und Darstellung, Tübingen 1987, S. 191.

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Schreibenden kam es wohl vor allem auf eine gewisse Vollständigkeit beim Sammeln außergewöhnlicher Ereignisse an.44 Dies zeigt sich auch in dem Umstand, dass derartige Einträge wohl nicht selten nachträglich vorgenommen wurden.45 Eine besonders aufschlussreiche Fallsammlung zu Wundergeburten und wundersamen Menschen findet sich in dem umfangreichen Haus- und Familienbuch des Ulmer Schuhmachers Sebastian Fischer (geb. 1513).46 Er übernahm dazu ganze Absätze – wörtlich oder paraphrasiert – aus Flugblättern und Chroniken und zeichnete auch die dort gefundenen Abbildungen mit der Feder ab. Kommentare, individuelle Deutungen oder Wertungen gibt es zwar auch von seiner Seite kaum. Da er allerdings nur ausgewählte Passagen aus seinen Vorlagen übernahm, ist es mit der gebotenen Vorsicht möglich, Rückschlüsse auf die Aspekte zu ziehen, die ihn an diesen Phänomenen vordringlich interessierten. Fischer hält, den Vorlagen folgend, stets Ort und Datum der wundersamen Ereignisse fest, ebenso, falls möglich, die Namen der Betroffenen und gegebenenfalls die von glaubhaften Zeugen.47 Den größten Teil nimmt in der Regel die Beschreibung der körperlichen Gestalt der Kinder und erwachsenen Wundermenschen ein. Fischer übernimmt aber auch durchaus Informationen zu ihrem persönlichen Ergehen. So gibt er auf der ersten Seite seiner Fallsammlung wundersamer Geburten und Menschen ausführlich den Inhalt eines Flugblatts über eine Wundergeburt wieder, die sich im Jahr 1550 in Harxheim im Zellertal zugetragen hatte:

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Vgl. auch Franz Mauelshagen, Wunderkammer auf Papier. Die ‚Wickiana‘ zwischen Reformation und Volksglaube, Epfendorf 2011, zu den Sammelpraktiken Johann Jakob Wicks (1522–1588). 45 Vgl. Bastl, Tagebuch, S. 259. Auch thematische Zusammenstellungen lassen sich finden. So fasst Johannes Rütiner (1501–1556) in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen in einem Absatz verschiedene Sagen, Gerüchte und Erzählungen über Mehrlingsgeburten und Fälle außerordentlicher Fruchtbarkeit zusammen. Am Schluss fügt er hinzu: Tubingae quaedam genuit puerum 2 capitibus; Johannes Rütiner, Diarium 1529–1539, Lateinischer Text und Übersetzung, Bd. 1,1, hg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen 1996, S. 137f., Nr. 238. Das Augenmerk dürfte hierbei also weniger auf Prodigien gelegen haben als von medizinischem oder historischem Interesse geleitet worden sein. Auch die Geburt von lebensfähigen Vierlingen galt bereits als wundersam, vgl. ebd., Bd. 2,1, S. 135, Nr. 99a. 46 Bayerische Staatsbibliothek München [BSB], Cgm 3091, hier fol. 400v–405v, mit einem eingeklebten Flugblatt über die sog. Jungfrau von Esslingen. Fischers Aufzeichnungen sind auch deshalb für die Dis­ability History von Interesse, da er sich darin ausführlich zu seinem anhaltenden, schweren Ohrenleiden, das zu Schwindel und starken Einschränkungen des Gehörs führte, äußert. Er beschreibt u. a. zahlreiche, oft schmerzhafte Behandlungen sowie den sozialen Druck vonseiten seines familiären und beruflichen Umfeldes, durch das er sich veranlasst sah, immer weitere Heilungsversuche zu unternehmen; vgl. ausführlich Frohne, Leben, S.  79–90. Der Text liegt in einer (größtenteils verlässlichen) Edition vor: Sebastian Fischers Chronik, besonders von Ulmischen Dingen, hg. v. Karl Gustav Veesenmeyer, Ulm 1896. Zu Fischers Kompilationstätigkeit vgl. insbes. Harald Haferland, Weltzeit, Lebenszeit und das Individuum als Augenzeuge und Gegenstand persönlicher Erfahrung. Ereigniskonzepte in der volkssprachlichen Chronistik des 16. Jahrhunderts am Beispiel der ‚Chronik’ Sebastian Fischers, in: Nicola McLelland/Hans-Jochen Schiewer/Stefanie Schmitt (Hg.), Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2008, S. 183–197. 47 Diese Angaben gehören zu den üblichen Beglaubigungsmitteln in Flugblättern; vgl. Schilling, Bildpublizistik, S. 86; Ewinkel, De Monstris, S. 8.

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Dises kind solcher wunderbarer gestalt / ist geboren worden im zeller tal / in ainem dorff genant [durchgestrichen: Harst] Harchsam an der pfremen / im kurfirstenthum der pfaltz / durch Hansen von Merßhaims eliche haußfraw / geboren am tag der haimsuchung Marie / diß 1550 iars / vnd hat diß kind weder augen / oren / oder nasen gehabt man hat aber an stat seiner augen nichts anders / dan zway klaine rotte pingtlin gesehen / auch ist im sein mund gantz weytt offen gestanden / wie dise kunterfegt anzaygt / derhalben es seiner mutterliche narung noch sunst ander speyß nit geniessen hat migen / yedoch hat es mit zinnlicher stim geschryen / sein leyb ist im allenthalb anzusehen gewesen / als ainer zerschniten vnd zerryssner haut / mit rott geferbten schrunden vnd wie der leyb vnd fordertayl an disem kind / yberzwerch zerschnitten / oder zerschrunden / also ist auch der ruck nach der lenge / mit rotten streimen oder schrunden / gestalt gwesen / Man hat des kinds mutter gefragt / ob sy ettwar ab erschrocken sey da hat sy geantwurt / sy wyß gar nichts das sy erschroken sey / das kind ist geteüfft worden / vnd sein nam Iohannes / hat nit lenger dan ain tag vnd ain nacht gelebt vnd ist darnach gestorben vnd als ain ander krysten mentsch begraben worden etc. diese wundergeburt ist zu wurmß getruckt / mit fil mehr wortten / aber mir zufil / das ist das firnempst darauß verzaychnett.48

Dieser Bericht ist aus mehreren Gründen interessant. Zum einen weist Fischer eigens darauf hin, dass er nicht das gesamte Flugblatt wiedergegeben habe, sondern nur die wichtigsten Passagen. Es ist bezeichnend, dass für ihn nicht nur die Gestalt des Kindes dazugehört: die nicht ausgebildeten Augen und Ohren, das Fehlen einer sichtbaren Nase, die Fehlstellung des Mundes, die schrundige und wie zerrissen wirkende Haut am ganzen Körper. Vielmehr scheint für ihn auch das persönliche Ergehen im kurzen Leben des neugeborenen Menschen mit zu den bedeutsamen Passagen zu zählen. So wird etwa erwähnt, dass das Kind aufgrund der ungünstigen Stellung des Mundes keine Muttermilch oder andere Nahrung zu sich nehmen konnte, aber mit ziemlicher, also mit ausreichend lauter Stimme, schreien konnte. An dieser Stelle ließe sich noch argumentieren, dass diese Details dazu dienen sollten, den Umstand, dass ein Kind mit solch schwerwiegenden Auffälligkeiten lebensfähig auf die Welt gekommen war, glaubwürdiger erscheinen zu lassen und so den Charakter des Spektakulären zu erhöhen. Zum anderen lässt sich aber aus dem Gesagten ableiten, dass man versucht hatte, das Kind am Leben zu erhalten und es anscheinend sowohl mit Muttermilch als auch mit anderer Nahrung zu füttern. Es kann meines Erachtens ausgeschlossen werden, dass es sich hierbei um einen Topos handelt, der verschleiern sollte, dass man das Kind etwa vorsätzlich dem Tod durch Vernachlässigung überlassen haben sollte, denn in einem solchen Fall wäre wohl das Schreien des Kindes nicht erwähnt worden. Vielmehr scheint dieses Detail dazu zu dienen, aufzuzeigen, dass sich das Kind trotz seines abweichenden Äußeren wie jedes andere neugeborene Kind verhielt und auch so behandelt wurde. Nicht zuletzt wird im Folgenden ausgeführt, dass das Kind getauft wurde, welchen Namen es erhielt, und dass es nach seinem frühen Tod wie jeder andere Christenmensch begraben wurde.49 Der Umstand, dass Fischer all 48

BSB, Cgm 3091, fol. 400v. Auf detaillierte Situationsschilderungen im Rahmen von Wundergeburten weist auch Schilling, Bildpublizistik, S. 89f., anhand eines Beispiels von 1642 hin und zeigt, dass diesen u. a. eine weitere

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diese Detailinformationen aufnahm, zeigt, dass er nicht allein an dem spektakulären Charakter der ‚Wundergeburt‘ – wie er die gedruckte Vorlage bezeichnet – interessiert war, sondern auch an den Lebensumständen bzw. den Überlebenschancen des Kindes und an seinem Ergehen vor und nach seinem Tod. Darüber hinaus ist interessant, dass dem Text des Flugblatts zufolge die Mutter des Neugeborenen gefragt wurde, ob sie sich während der Schwangerschaft vielleicht erschrocken habe. Dies war ihres Wissens zwar nicht der Fall. Das Beispiel zeigt aber, dass, ähnlich wie bei Gottschalk Weinsberg, die Überlegung im Raum stand, dass eine äußere Wahrnehmung oder heftige Gefühlserregung, in diesem Fall der ‚Schrecken‘, die Ursache für die auffällige körperliche Gestalt des Kindes gewesen sein konnte. Es ist leider nicht erkennbar, ob dieser Punkt in Fischers Vorlage noch weiter diskutiert wurde. Anhand der Prodigienliteratur wird deutlich, dass die Gefahr des ‚Versehens‘ im Rahmen der Imaginationslehre anscheinend geringer eingeschätzt wurde als die Möglichkeit, durch einen Schrecken in heftige Gemütsbewegungen versetzt zu werden. Wie an dem zitierten Beispiel aus Harxheim deutlich wird, wurde dabei nicht unbedingt an körperlich auffällige Menschen als Auslöser gedacht. Der Umstand, dass, wie weiter unten ausgeführt wird, Schaustellerinnen und Schausteller von aufsehenerregender körperlicher Gestalt durch die Lande zogen und sich in den dicht bevölkerten Städten, etwa anlässlich der großen Handelsmessen, zur Schau stellten, zeigt, dass ein solcher Anblick allein (der durch die gedruckten Flug- und Werbeblätter zudem noch vervielfältigt wurde) nicht automatisch als gefährlich eingeschätzt wurde. Der Prodigiensammlung des Conrad Wolffhart, gen. Lycosthenes (1518–1561), lässt sich hingegen entnehmen, dass die Obrigkeiten durchaus auf die entsprechenden Lehren rekurrierten, wenn es ihnen angemessen erschien. Im Text werden zwei ähnliche Fälle (anscheinend aus unterschiedlichen Quellen) einander gegenübergestellt: Während ein männliches Zwillingspaar, das unterhalb des Oberkörpers miteinander verwachsen war, allein anhand seiner körperlichen Merkmale und Verhaltensweisen beschrieben wird, wird über gleichermaßen miteinander verwachsene weibliche Zwillinge berichtet, dass diese aus dem Territorium ausgewiesen worden seien, um die schwangeren Frauen zu schützen. Ausschlaggebend scheint jedoch nicht ihre körperliche Andersheit als solche eine Rolle gespielt zu haben, sondern erst der verstörende Anblick, den einer der Zwillinge im Bereich der Kopfregion bot. Hier kommt demnach die Gefahr des ‚Schreckens‘, wie sie auch in dem bei Fischer wiedergegebenen Flugblatt thematisiert wird, zum Tragen.50 Beglaubigungsfunktion zukommen konnte. Zugleich konnten emotional geprägte Schilderungen, etwa Beschreibungen der verzweifelten Mutter, auch bewusst als Mittel zur Erzielung von Angst und Schrecken und zugleich zur Tröstung und christlichen Belehrung genutzt werden. In dem hier zitierten Beispiel kamen diese Mittel jedoch anscheinend auch in der von Fischer genutzten Vorlage nicht zum Tragen, zumindest gibt es darauf keine Hinweise innerhalb der von ihm ausgewählten Passagen. 50 Conrad Lycosthenes, Wunderwerck oder Gottes unergründtliches vorbilden [...], Basel 1557 [Übertragung durch Johannes Herold], S. 496: EBen diß jars ward geporen / vn[d] ist einer vfferwachsen e zu einem man der zwey haupter / schulteren / vnnd halß gehabt / sunst alle glider einfach / ein haupt sach fürsich / das ander hindersich / aber einand[er] gantz gleich. […] Deßgleichen weyb hatt man jmm Beyerland gesehen zweyntzig jar alt. Doch war das ein angesicht gar vngeschaffen / weder das e ander. Sye gieng vmb bettlen / aber ward der schwangeren frawen halb / mit einem zorpfennig verehrt

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Es ist mir bisher leider nicht gelungen, Fischers Vorlage ausfindig zu machen. Eine äußerst knappe Erwähnung der Wundergeburt findet sich ebenso bei Lycosthenes. Dort wird – in der deutschen Übertragung – zum Jahr 1550 festgehalten: [...] jn[n] der Pfaltz zu Horchsan jm[m] Zelle[n]tal / do ward vff vnser Frawen heymsůchung tag ein kind geporn on nasen / on ohren / mit einem wyten grossen maul / der gantz leyb war gschunden zerrissen / zerhackt.51 Eine Abbildung ist nicht beigefügt. Es ist jedoch so gut wie ausgeschlossen, dass Fischer die gedruckte Sammlung zur Verfügung stand, da sein Hausbuch bereits vor der Drucklegung weitgehend abgeschlossen gewesen sein muss. Nach 1554 sind keine Einträge mehr von Fischers Hand vorgenommen worden, sodass nicht sicher ist, ob er beim Erscheinen des Buches überhaupt noch am Leben war. Zudem ist der Unterschied zwischen der ausführlichen Wiedergabe der Wormser Druckschrift und dem knappen Eintrag in der Prodigiensammlung offenkundig. In der lateinischen Originalfassung des Lycosthenes, die ebenfalls 1557 erschienen war, finden sich ferner die in der deutschen Übertragung fehlenden Angaben, dass das Kind weiblichen Geschlechts und von monströser Gestalt gewesen sei (infans muliebri sexu natus est mo[n]stroso aspectu).52 Fischer zufolge wurde das Kind jedoch auf einen männlichen Namen getauft. Auch wird das Kind in der von ihm wiedergegebenen Fassung weniger als monströs, also schreckenerregend oder vorzeichenhaft, sondern als wundersam gekennzeichnet. Dazu passt auch der Abschnitt, der eine denkbare medizinische Ursache – nämlich das Erschrecken der Mutter – thematisiert. Interessanterweise entspricht allerdings das Wunderzeichen, das bei Lycosthenes direkt auf den Harxheimer Fall folgt, exakt der Reihenfolge und Auswahl bei Fischer: Es handelt sich um einen Bericht über eine bei Lindau aufgefundene Taube mit einem doppelten Unterleib und vier Beinen, die nach Augsburg gebracht und unter anderem dem Kaiser vorgeführt wurde. Der bei Fischer wiedergegebene Text folgt größtenteils wörtlich dem Flugblatt, das wohl direkt im Jahr 1550 in Augsburg ausgegangen war.53 Der letzte Satz, der sich auf die Allmacht Gottes bezieht – einem Topos innerhalb der mit Wundergeburten befassten Publikationen –, ist von Fischer kommentarlos ausgelassen worden. Die der Prodigiensammlung des Lycosthenes beigegebene (spiegelverkehrte) Abbildung entspricht in allen Details dem Flugblatt wie auch der Zeichnung bei Fischer. Der Text weicht zwar in einigen (minder wichvnnd vß dem landgwisen. Der Umstand, dass die Frau sich als Bettlerin durchschlagen musste, könnte darauf hindeuten, dass sich ihr Äußeres nicht zur Schaustellerei eignete. Umgekehrt könnte aber auch das Betteln als ausschlaggebend gewertet worden sein, um sie des Landes zu verweisen. Der Fall wird ebenfalls zitiert bei Paré, Des monstres, S. 10f. Vgl. auch Bearden, Monstrous Kinds, S. 211–215. 51 Lycosthenes, Wunderwerck, S. 525f. Bei Lycosthenes finden sich auf diesen beiden Seiten noch weitere Wundergeburten, teilweise bebildert, die aber bei Fischer nicht vorkommen. 52 Conrad Lycosthenes, Prodigiorum ac ostentorum chronicon [...], Basel 1557, S.  610. Zur Anlage des Werks vgl. auch Dudley Wilson, Signs and Portents. Monstrous Births from the Middle Ages to the Enlightenment, London u. a. 1993, S. 62–67; Ewinkel, De Monstris, S. 16–19; Spinks, Monstrous Births, S. 96–99. 53 BSB, Cgm 3091, fol. 400v. Eine Ausgabe des Einblattdrucks (Im M. D. L. Jar/ ist ain iunge Tauben gefundenn worden in aim Dorff […], Augsburg [1550]) befindet sich in der Graphischen Sammlung der Zentralbibliothek Zürich (PAS II 12/38); abgedruckt ebenso bei Walter L. Strauss, The German Single-Leaf Woodcut 1550–1600, Bd. 2, New York 1975, S. 661, Nr. 1.

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tigen) Details erkennbar von dem uns bekannten Einblattdruck ab, sodass nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass nicht ein weiteres Flugblatt kursierte oder eine andere Vorlage benutzt wurde. Allerdings können die Zusätze, die in der lateinischen Ausgabe der Prodigiensammlung zu finden sind, auch direkt aus der Abbildung oder aus dem Kontext abgeleitet worden sein.54 Es ist demnach trotz der auffälligen Übereinstimmung eher wahrscheinlich, dass sowohl von Fischer als auch von Lycosthenes jeweils individuell ausgewählte Flugblätter zugrunde lagen. Auf eine gemeinsame Vorlage gibt es derzeit keine Hinweise.55 Die meisten der im Folgenden von Fischer zusammengestellten Wundermenschen beziehen sich auf Geburten oder die Zurschaustellung von Zwillingen, die im Mutterleib verbunden geblieben waren.56 Es ist auffällig, dass von den insgesamt sieben verbundenen Zwillingen, die Fischer aufgenommen hat, vier von Darstellungen begleitet werden, die die beiden Kinder in einer Weise zeigt, als würden diese sich liebkosen oder mit den Armen umfangen. Dies ist eine verbreitete Bildformel für Zwillingsgeburten, jedoch bei Weitem nicht die einzige. Es ist daher denkbar, dass 54

Vgl. Lycosthenes, Chronicon, S.  610. Hier findet sich etwa der Hinweis darauf, dass die Taube Exkremente aus zwei Darmausgängen ausgeschieden habe. Auf dem Flugblatt wird die Taube beim Ausscheiden gezeigt, der Text erwähnt dies jedoch nicht explizit (auch Fischer hat die Darstellung der Exkremente ohne eigenen Kommentar übernommen; vgl. BSB, Cgm 3091, fol. 400v). In der deutschen Übertragung wird dieses Detail ebenso erwähnt (vgl. Lycosthenes, Wunderwerck, S. 526), der Inhalt gegenüber der lateinischen Vorlage jedoch noch insgesamt etwas gestrafft. Innerhalb der bei Fischer nun folgenden Kompilation von Wundergeburten und Wundermenschen findet sich u. a. ein Bericht – mitsamt Bild – über einen zur Schau gestellten Pavian, der nicht als Prodigium, sondern als aufsehenerregendes Tier aus der indischen Wildnis präsentiert wird. Auch bei Lycosthenes finden sich das entsprechende Bild und ein (nur leicht abweichender) Text, der vermutlich auch auf ein Flugblatt zurückgeht; vgl. ebd., S. 22; BSB, Cgm 3091, fol. 402v. 55 In Hiob Fincel, Wunderzeichen mit Figuren [...], Leipzig 1557, das gegenüber der Fassung von 1556 ergänzt und mit Bildern versehen wurde, sind weder die Wundergeburt aus Harxheim noch die Taube erfasst, sodass dieses Werk keine weiteren Hinweise liefert. Dies gilt auch für Kaspar Goldwurm, Wunderwerck und Wunderzeichen Buch […], Frankfurt am Main 1557. Goldwurm äußert sich zurückhaltend zur Imaginationstheorie; er wolle es den gelehrten Ärzten (Phisicis) überlassen, darüber zu urteilen; ebd., fol. Lr. 56 An dieser Stelle können nicht alle davon eingehend besprochen werden. Es handelt sich um folgende Fälle: a ) Weiblicher Zwilling aus der Nähe von Kaufbeuren, der auf einem im Jahr 1550 in Augsburg gedruckten Flugblatt dargestellt wurde (BSB, Cgm 3091, fol. 401r). b ) Leuvener Wundergeburt (1547) (ebd., fol. 401r–401v), s. dazu unten. c ) Nach Johannes Stumpf wiedergegebene Zwillingsgeburt aus dem Jahr 1063 (ebd., fol. 401v), s. dazu unten. d ) Namenloser Mann mit einem parasitären Zwilling, der im Jahr 1519 in der Schweiz umherzog (ebd., fol. 401v, ebenfalls nach Stumpf); vgl. dazu auch Lycosthenes, Wunderwerck, S.  471 (zum Jahr 1519): Vß Saphoy ka[m] in dz Schwytzer la[n]d ein gsta[n]dner ma[n] / de[m] gieng ein anderer man e zům bauch vß / doch stackt d[er] kopff vn[d] arm im leyb / ein schwerer last / dormit er vil gelts vff samblet. Möglicherweise ist dies derselbe Mann, der zum Jahr 1516 beschrieben wird: MAn sahe do einen gstandenen gwachssnen man vmbziehen / dem raget ein kopff vnnd mentsche[n] haupt zům nabel aus / das aß vnnd tranck; ebd., S. 470. e ) Männliches Zwillingspaar (1543) nahe Basel (BSB, Cgm 3091, fol. 402r), s. dazu unten. f ) Wormser Zwillingsgeburt (1495) (ebd., fol. 402r–402v), s. dazu unten. g ) Hans Kaltenbrunn, der jedoch bei Fischer namenlos bleibt, und sein parasitärer Zwilling (ebd., fol. 404r), s. dazu unten.

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sich Fischer bei der Auswahl der von ihm abgezeichneten Vorbilder von einer Vorliebe für diese Darstellungsform hat leiten lassen. Es zeigen sich ebenfalls Unterschiede in der Informationsdichte, die offenbar überwiegend auf die Vorlagen zurückzuführen sind. Fischer scheint dabei manche Texte annähernd wörtlich übernommen, andere leicht umformuliert, gekürzt oder ergänzt zu haben. Bei der Zusammenstellung bediente er sich unterschiedlicher Quellen, die er möglicherweise eigens zu diesem Zweck durchgesehen hat. So verweist eine (allerdings nachgetragene) Ankündigung auf der dritten Seite seiner Wunderkompilation darauf, dass er nun ettlich wundergeburt aus seiner sogenannten großen Chronik schreyben vnd malen werde. Bei dem angeführten Werk handelt es sich um Johannes Stumpfs (1500–1577/78) Chronik der Eidgenossenschaft, die 1548 im Druck erschienen war und von Fischer häufiger zitiert wird. An dieser Stelle gibt er – größtenteils wörtlich – einen auf das Jahr 1063 bezogenen Eintrag wieder: Im 1063 iar / hat ain weyb nit weytt von Costentz / ain kind geboren / [durchgestrichten: zw] das hatt zway heüpter / vnd zwen leyb / biß vff die hufft zwiefach / wie es hie vor augen stat.57 Der Hinweis auf die sichtbare Gestalt des Kindes stammt von Fischer allein, der die bei Stumpf abgedruckte Abbildung ansonsten überaus detailgetreu abgezeichnet hat.58 Zwei weitere Fälle sind aus Sebastian Münsters (1488–1552) Cosmographia übernommen: Es handelt sich zum einen um ein männliches Zwillingspaar, das 1543 in der Nähe von Basel zur Welt kam und kurz nach der Geburt starb.59 Zum anderen gibt Fischer Münsters Bericht über das berühmte Zwillingspaar von Worms, zwei an der Stirn verbundene Mädchen, die 1495 geboren worden waren und sechs Jahre alt wurden, wörtlich wieder.60 Interessanterweise hat Fischer dabei die bei Münster referierte Erklärung für die Geburt nicht übernommen: Demzufolge habe eine Frau den Kopf der Mutter während der Schwangerschaft mit dem einer weiteren Frau zusammengestoßen und so einen großen Schrecken verursacht. 57

BSB, Cgm 3091, fol. 401v. Johannes Stumpf, Gemeiner Loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger thaaten beschreybung, Zürich 1548, fol. 310v: In disem iar hat ein weyb / nit weyt von Costentz e / ein kind geboren / das hatt zwey houpter / auch alle glider oben hinab biß auff die hufft zwyfach. Die Stelle sticht nicht nur mittels einer Abbildung hervor, sondern kann auch mithilfe eines Registereintrags (Wundergeburt) gefunden werden. Die zweite im Register des ersten Bandes angeführte Wundergeburt, ein im Jahr 1528 in Esslingen geborenes Kind (ebd., fol. 94v: hatt ein haupt / 4. Oren / 4. Arm / vn[d] 4. schenckel/ etc.), wurde von Fischer hingegen nicht berücksichtigt. Diesem Eintrag ist kein Bild beigegeben, sodass er für Fischer eventuell nicht interessant war. Auch die im zweiten Band über das Register erschließbaren Wundergeburten hat er nicht übernommen. 59 BSB, Cgm 3091, fol. 402r; bei Veesenmeyer (Hg.), Chronik, S. 211, versehentlich als 1343 transkribiert. Die Text- und Bildvorlage entstammt vermutlich der Erstausgabe von Sebastian Münster, Cosmographia. Beschreibung aller Lender durch Sebastianum Munsterum, in welcher begriffen Aller völcker, Herrschafften, Stetten und namhafftiger flecken, herkommen […], Basel 1544, S. 303. Fischer hat die in seiner Vorlage verwendete Bezeichnung monstrum nicht übernommen. Derselbe Fall findet sich ohne Abbildung auch bei Stumpf, Chronick, Bd. 1, fol. 386v, wurde von Fischer aber wohl nicht herangezogen. 60 BSB, Cgm 3091, fol. 402r–402v, wörtlich zitiert mit Quellenangabe und Übernahme der Abbildung nach (vermutlich) Münster, Cosmographia, S. 433; vgl. auch Spinks, Monstrous Births, S. 27–34; Bearden, Monstrous Kinds, S. 183–197. Fischer hat bei der Abschrift darauf geachtet, die Verwendung der ersten Person als wörtliche Rede Münsters zu kennzeichnen. 58

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Ein weiteres Beispiel für den Umgang Fischers mit seinen Vorlagen bietet eine Wundergeburt aus dem Jahr 1547. In diesem Fall konnte ein Einblattdruck identifiziert werden, der Fischers Darstellung zugrunde gelegen haben könnte. Fischer gibt folgenden Text wieder: Dise wunderbarliche kindsgeburt / mit zway leyben vnder ainem haubt / mit 4 ermla / 4 schenckel / vnd mit zway hertzen etc. ist zu Leuen im niderland 8 meyl von Antorff beynach hundert meyl von Nieremberg / von ainem weybs bild Margreta genant / am grienen dunstag im 1547 iar geboren / des kinds fatter hayst Anthony Hefftelmacher ain burger daselbst / welcher diß kind Conrat Reschen Himelreycher burger zu Nieremberg / vm reychliche widergeltung geschenckt vnd hat gemelter vatter des kinds bayde hertzen dieweyl man es hat außwayden miessen / zum gedechtnus behalten vnd diß kind hat 4 stund gelebt / vnd nach der achtauff [sic] ist es bald gestorben / etc.61

Damit folgt Fischer – zum größten Teil wörtlich – einem Einblattdruck, der diesen Text mit einem eher einfachen Holzschnitt kombiniert.62 Der Autor hat auch diese Abbildung detailgetreu mit der Feder abgezeichnet.63 An der Aufnahme des Falles in Fischers Wunderkompilation ist besonders interessant, dass die unterhalb des Bildes abgedruckten mahnenden Verse, die eine Deutung der Wundergeburt vornehmen, fehlen. Auf dem Blatt wird die Geburt als Strafe für begangene Sünden und sexuelle Verfehlungen der Menschheit gedeutet. Sollte Fischer tatsächlich das vollständige Blatt als Vorlage benutzt haben, ließe sich daraus schließen, dass er diese Deutungsebene möglicherweise nicht für relevant hielt. Bei aller Sensationslust und der Freude an der Zurschaustellung von andersartigen, fremd erscheinenden Körpern, die aus Fischers Zusammenstellung spricht, zeigt sich auch ein gemeinsames Merkmal: Soweit seine Vorlagen es zuließen, gab Fischer Informationen wieder, die auf ein Interesse an den betroffenen Personen, ihrem Ergehen und – soweit bekannt – ihrer Lebensgeschichte hindeuten. Demgegenüber zeigte er anscheinend nur ein geringes Interesse an überpersönlichen Deutungen. Seine Zusammenstellung ist nicht als Sammlung bedrohlicher Vorzeichen angelegt, sondern erscheint als eine Reihung von merkwürdigen Abweichungen und Besonderheiten, die sich oftmals mit den persönlichen Schicksalen als solchen verbinden. Fischer scheint bei seiner Auswahl der aufgenommenen Fälle und Bilder sowie beim Zuschnitt der übernommenen Textpartien weniger Wert auf die Kate-

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BSB, Cgm 3091, fol. 401r–401v. Abgedruckt bei Holländer, Wunder, S. 79, Abb. 28; vgl. dazu auch ebd., S. 80–82. 63 Auffällig ist, dass Fischer kommentarlos einen weiteren Satz hinzugefügt hat, der anscheinend nicht Teil des Drucks war: Das kind hat der Himelreycher her gebracht / vnd habens gar fil leut in Hansen Kochs hauß des wierts / gesehen etc.; ebd., fol.  401v. Es könnte sich hierbei um einen handschrift­ lichen Vermerk auf dem Blatt handeln, der anscheinend in Nürnberg selbst entstanden sein muss. Laut Schilling, Bildpublizistik, S. 73, Anm. 40, lassen sich auf Schaustellerblättern nicht selten Vermerke der Besitzer finden, in denen sie ihre eigenen Eindrücke mit dem auf dem Flugblatt angepriesenen Erlebnis abgleichen. 62

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gorien des Monströsen, Schreckenerregenden und Ausgrenzenden gelegt zu haben als auf die verbindenden Elemente des grundlegend Menschlichen, die sich auch im Anderssein zeigen.64 Dies wird besonders an den Berichten und Bildern derjenigen Wundermenschen deutlich, die das Erwachsenenalter erreicht hatten und ihren Lebensunterhalt damit verdienten, ihre körperliche Gestalt bzw. ihre außerordentlichen Fähigkeiten in verschiedenen Städten zur Schau zu stellen. Zu diesen Personen gehörte ein Mann namens Hans Kaltenbrunn (geb. 1529), der mit seinem kopflosen Zwilling unterhalb der Brust verwachsen war. Von ihm sind zahlreiche Nachrichten und Abbildungen überliefert, sowohl in Form von Flugblättern als auch in gedruckten Prodigiensammlungen und Chroniken.65 Kaltenbrunn war möglicherweise direkt an der Herstellung derartiger Einblattdrucke beteiligt und verkaufte diese als Werbemittel bzw. als Erinnerungsstücke. So weisen mehrere der erhaltenen Drucke und ihre Abschriften darauf hin, wann und wo Kaltenbrunn zu sehen gewesen war, zum Beispiel im Jahr 1566 auf der Basler Herbstmesse.66 Fischer könnte eines der frühesten der uns nachrichtlich bekannten Flugblätter über Kaltenbrunn als Vorlage gehabt haben, da er als Jahresangabe 1551 angibt: Ain wunderbarliche geburt / ain kneble ist for ettlichen iahren / nach krysty geburt 1529 iar im elichen stand geboren / in ainem dorff bey kniebis / vff dem schwartzwald / getaufft / erzogen / bey vatter vnd mutter / in aller gestalt wie es dan yettlichen vor augen abgemalet ist / vnd lebet noch mitt seinem angewachsnen leyb / zu diser fryst / auch so ist er selbs vom mengklichem jung vnd alten gesehen worden / zu Straßburg in der meß / an manchen ortten / im 1551 jar vnd zu Straßburg getruckt vnd außganngen.67 64

Positive Deutungsweisen dieser Art hebt auch Spinks, Monstrous Births, für den Wunderdiskurs um 1500 hervor. Bearden, Monstrous Kinds, insbes. S. 225–227, diskutiert „the agency of monstrosity“ (S. 227) als spezifisch vormoderne Form der Repräsentation von Menschen mit Behinderung. 65 Eines der ältesten Flugblätter zu Kaltenbrunn weist eine Abbildung auf, die anscheinend aus einem anderen Zusammenhang stammt und wiederverwendet wurde. Der Text lautet: An dem achte[n] tag des Octobers od[er] Weinmonats / des jars. M. D. xxix. ist ein sollichs wunderbarlichs kindt / wie diese gegenwertige figur anzeigt / (nit on sunderliche fürsehung vnd ordnung gottes des allmechtigen) vff e e diese muselige welt kumen. Sein vater heißt Wolff Kalte[n]brun[n]. sein můter ist des Hans Zerrers e tochter zů Grienberg / wonendt zů Lutenbach / gehort in de Pfarr gen Oberkirch / daselbst ist auch diß kindt vff den obgenanten tag / zwischen .ix. vn[d] .x. vr vor mittag geteüfft worden / vnd sein namen heißt Hans. etc. Gott schick alle ding zum besten. M.D.XXIX; abgedruckt in Holländer, Wunder, Abb. 25, vgl. ebd., S. 104. Vgl. auch M. A. Katritzky, Healing, Performance and Ceremony in the Writings of Three Early Modern Physicians. Hippolytus Guarinonius and the Brothers Felix and Thomas Platter, Farnham 2012, S. 210f. 66 Schilling, Bildpublizistik, S. 144–146. Der Text auf dem Flugblatt lautet: Abconterfetung der Wunderbaren gestalt / so Hans Kaltenbrunn / mit jme an die Welt hergeboren / auß seinem Leib ein Kindt wachsende / yetzunder seines alters xxxx. jar. geboren zu Oberenkirchen / drey mail von Straßburg gelegen / herum getragen hat / vnd ist dißmals zu Basel in der Meß gewesen / Jm 1566. Jar. auff Martini; Holländer, Wunder, Abb. 45. Neben den bei Schilling, Bildpublizistik, S. 145, Anm. 19, genannten Blättern zu Kaltenbrunn ist ferner ein 1558 in Regensburg durch Heinrich Geißler gedrucktes Blatt erhalten: Warhafftige Contrafactur eines Mannes […], BSB, Einbl. VIII, 19 s. Zur „marktgerechte[n] Gestaltung“ von Flugblättern vgl. Schilling, Bildpublizistik, S. 53–90. 67 BSB, Cgm 3091, fol. 404r, abgedruckt bei Schilling, Bildpublizistik, Abb. 62. Auch bei Lycosthenes, Wunderwerck, S.  475f., bezieht sich die entsprechende Passage anscheinend auf Kaltenbrunn, ohne jedoch dessen Namen zu überliefern: NJt wyt ob Kniebs im Schwartzwald ward ein kind gporn

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Es könnte sich dabei um eine frühere Variante der Flugblätter gehandelt haben, auf denen Kaltenbrunn noch nicht namentlich genannt ist. Auch erscheint die Darstellung des parasitären Zwillingsbruders etwas unbeholfener als auf den späteren Einblattdrucken, was wohl nicht auf Fischers mangelnde Zeichenkünste, sondern auf die verwendete Vorlage zurückzuführen ist.68 Besonders beeindruckend ist jedoch vor allem der danach folgende Bericht, den Fischer anscheinend größtenteils ohne die Zuhilfenahme einer Vorlage verfasste und der sich mit einer anderen Form körperlicher Differenz befasst.69 Er handelt von einem ohne Arme geborenen Schausteller, dessen Vorstellung in Ulm Fischer am 27. September 1551 beigewohnt hatte. Er liefert einen ausführlichen und außergewöhnlich detaillierten Bericht über die Performance des Mannes: Um Aufmerksamkeit und Neugier zu erregen, lief dieser zunächst an dem betreffenden Tag – einem Sonntag – mit einem Schweinespieß auf der Schulter durch die Stadt. Dieses Vorgehen hatte den gewünschten Effekt: da lieff mengklich zu was er machen welte. Eine grosse menge folcks sei bei der Aufführungsstätte (dem schuhauß, einem von Fischer auch anderweitig erwähnten Ort für Schauspiel-, Tanz- und Fechtdarbietungen70) zusammengekommen, der Eintritt betrug einen Pfennig pro Person. Die Beschreibung der einzelnen Kunststücke des Mannes ist äußerst detailliert und könnte durchaus auf der Grundlage eines Schaustellerblattes erstellt worden sein. Der Mann demonstrierte seine Geschicklichkeit, indem er unter Zuhilfenahme seines Mundes, seiner Schultern und Füße die Benutzung unterschiedlicher Alltagsgegenstände, Waffen und Werkzeuge vorführte, aß und trank und sich zum Schluss bis zum Oberkörper entkleidete.71 Die Möglichkeit, den armlosen Mann in seiner körperlichen e

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/ das ein knablin in wollches lyb nach einanderer volkomner lyb stecket biß vff die kneüw hinab / e allein stacket jm d[er] kopff in der prust inwendig / diser ist mannbar worden / allhie zů Basel in dem fünffunndfünfftzigsten jar / vff S. Martins tag in der Meß gsehen worde[n]. Die bei ihm wiedergegebene Abbildung findet sich in dieser Form auch in bebilderten Chroniken und Prodigiensammlungen, so auch in Lycosthenes, Wunderwerck, S. 476. Fischers Zeichnung zeigt, anders als die in Druckwerken vielfach reproduzierte Darstellung, die charakteristische Innenraumdarstellung eines Fußbodens, die auf den späteren Flugblättern zu sehen ist. Auch weisen Details bei der Wiedergabe der Kleidung, insbesondere der Strümpfe und Kopfbedeckung, darauf hin, dass Fischers Vorlage sorgfältiger ausgeführt gewesen sein muss, als die Abbildung im Wunderwerck vermuten lassen würde. Die anatomische Darstellung des parasitären Zwillings stimmt jedoch überein. Eine ähnliche Darstellung eines unbekleideten Mannes mit einem parasitären Zwilling wird bei Lycosthenes, Wunderwerck, S. 468, zur Illustration einer Wundergeburt bei Colmar im Jahr 1513 verwendet. Es scheint sich demnach wohl auch um eine Bildformel zu handeln, die einen Wiedererkennungseffekt erzielte. BSB, Cgm 3091, fol. 404r–405r, hier und im Folgenden zit. nach Veesenmeyer (Hg.), Chronik, S. 212f. Es ist eher unwahrscheinlich, dass es sich hier um den auch von Ambroise Paré beschriebenen armlosen Mann handelt, der später als Mörder hingerichtet worden sein soll, auch wenn die Aufführung deutliche Parallelen aufweist; vgl. Paré, Des monstres, S. 33f. Vgl. BSB, Cgm 3091, fol. 398v, 432v. Ein solches Schaustellerblatt könnte auch einem Eintrag in Lycosthenes, Wunderwerck, S. 478, als e Vorlage gedient haben. Dort heißt es zum Jahr 1528: ES ward ein knablin geborn das gantz kein arm / sonder sie warn an den achsel würble[n] hinweg sonst einer freye[n] glidmaß. Der selb als er zwey e e vnd zwentzig jar alt worden / hat mit den fussen gethan so vil als ander mit den hande[n]. Byhel gwüß werffe[n] / spieß schüessen / holtz ab hauwen / büchsen ab lassen / trincke[n] / essen / würffle[n] / mit e geyßlen klopffen / nadel fedmen / dz ich selbs alles von jm gesehe[n] / einschencken / yßtrincke[n] /

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Verfasstheit betrachten zu können, scheint den Höhepunkt der Vorführung gebildet zu haben. Fischers Bericht zufolge verband sich damit eine Ansprache des Mannes: Er versicherte, dass er von Gott so geschaffen worden sei, der ihm zugleich die Fähigkeit verliehen habe, die zuvor demonstrierten Tätigkeiten – durch jahrelange Übung von Kindheit an – erlernen zu können. Fischer beschreibt das Aussehen des Mannes sehr genau und weist eigens auf die Achselhaare hin, die dieser – wie jeder andere Mensch – gehabt habe: Darnach hat er das hemet yber die achsel abfallen lassen, vnd die leütt lassen sehen, das man im die arm nitt hab abgehawen, sunder also geboren, es was an allen orten gantz weyß wie sein gantzer leyb, allain zway rotte fleckla an stat der arm ettwa ains pfenings brayt, darunder ain wenig har wie dan aim yeden mentschen vnderm arm ist, Vnd hub an vnd sagt zu den leytten Lieben heren also bin ich geboren worden, vnd hat mir gott das kreytz vff den halß gelegt, dargegen hat er mich an stat der arm, dises lassen lernen, das ich dan von kindhait an, mich dazu gewent hab, vnd ist kain gaugklerey mitt mir, wie fil mechten gedencken, vnd ist das also mein narung vnd hantwerck etc.

Damit nicht genug, schließt Fischer eine ausführliche Beschreibung des Mannes an: Er schildert seine Gestalt, Kleidung, Haar- und Barttracht. Er folgt damit den Beschreibungskonventionen, die sich etwa in Kostümbüchern und Selbstbeschreibungen der Zeit vielfach finden lassen.72 Insbesondere die Feststellung, dass der Mann einem tüchtigen Kriegsmann ähnlich gesehen habe, ist ausdrücklich als Lob zu verstehen:

e

darzů brauchte er das küne vast / was er vffrecht that. Ob es sich um denselben Mann handelte, von dem Fischer berichtet, lässt sich nicht klären. Auch Johannes Haller (1523–1575) berichtet zum Jahr 1552 von einem armlosen Circulator, der seine Geschicklichkeit vorführte; Das Tagebuch Johann Hallers aus den Jahren 1548–1561, hg. v. E. Bähler, in: Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 23 (1917), S. 238–355, hier S. 260. Die Beschreibung der Darbietung weist deutliche Parallelen zu der Ulmer Performance auf, jedoch waren die Darbietungen armloser Schausteller noch in den folgenden Jahrhunderten ähnlich aufgebaut. Auch die Vorführungen armloser Frauen sind denen der Männer oft ähnlich, unterscheiden sich jedoch in einigen geschlechtsspezifischen Tätigkeiten; vgl. Lycosthenes, e e Wunderwerck, S. 478f.: So wz nachst Franckforter Fastmaß Anno 57. ein junckfraw dselbst [sic] / die e e ebe[n] so wenig arm oder hand / wol nehe[n] / sie kundt schreiben mit den fussen / spinne[n] / hasplen e e / gelt zalen / stralen / vnd and[er]s vil thůn. Die dem gemeinsamen Eintrag beigefügte Abbildung der weiblichen Schaustellerin zeigt diese nackt und ohne die Gegenstände ihrer Performance, während der Mann halb bekleidet dargestellt wird und von Waffen und Alltagsgegenständen umgeben ist. Fischer (BSB, Cgm 3091, fol. 404r) scheint sich zumindest teilweise dieser weitverbreiteten Bildformel bedient zu haben: Der Mann ist aufrechtstehend mit dem Spieß zwischen Hals und Schulter geklemmt dargestellt, seine Haltung und Kleidung, Haar- und Barttracht sind sorgfältig und detailliert wiedergegeben. Auf dem Boden sind verschiedene Waffen, Essgeschirr, Kanne und Trinkbecher, Würfel, ein Kamm und eine Peitsche zu sehen. Besonders interessant ist die Wiedergabe der kniehohen Strümpfe des Mannes: Diese sind etwa auf halber Höhe des Rists nach vorne geöffnet, um den Gebrauch der Zehen zu ermöglichen. 72 Vgl. Valentin Groebner, Die Kleider des Körpers des Kaufmanns. Zum ‚Trachtenbuch’ eines Augsburger Bürgers im 16. Jahrhundert, in: ZHF 25 (1998), S. 323–358. Zu dieser Konvention gehört auch die Angabe des Alters zum Zeitpunkt der Beschreibung oder Abbildung; vgl. etwa die ausführliche erste Selbstbeschreibung Hermann Weinsbergs: Weinsberg, LI-digital, fol. 243r–245v.

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Es war ain feiner langer starcker Man hipsch von leyb, hett zwu rott kuttet hosen an, die kain latz hetten, fast wie die wallen tragen, aber die hosen glat auffbunden beym kniw, vnd ain weyß hembd an, ain feiner kriegsman anzusehen, het ain schwartzen bart vnd bschorn kopf.

Es fällt auf, dass Fischer an dieser Stelle, nachdem er die Beschreibung der Performance bereits abgeschlossen hat, die fehlenden Arme des Mannes nicht mehr in die Beurteilung von dessen körperlicher Gestalt einbezieht. Der hohe Wuchs und die Kraft des Mannes sowie seine ‚hübsche‘ Gestalt spiegeln sich für Fischer anscheinend in der ansprechenden Kleidung wider, sodass beides zusammen zu einem attraktiven, keinesfalls defizitären Gesamtbild führt. Fischer gibt an: ich hab in abkonterfet das best so ich kindt hab In seiner klaydung vnd aller gstalt wie gemalet ist vff dem blat hiefor etc. Fischers Wissbegier und das Interesse an der Person des Schaustellers ließen ihn weitere Nachforschungen über den Mann anstellen. So diskutierte er etwa den Herkunftsort des Mannes mit seinen Mitmenschen anhand seiner Mundart: er war ain man als ich acht vm 38 jar kan nit erfaren von wanen er ist, die leüt sagen er red wie die sachsen. Ein weiteres berühmtes Beispiel eines armlosen Menschen, der jedoch einer anderen Gesellschaftsschicht zugerechnet werden muss, ist der Haller Schreiber und Kalligraph Thomas Schweicker (1541–1602).73 Er hatte das Handwerk eines Schönschreibers wohl auf Betreiben seiner Eltern von Kindheit an gelernt. Schweicker führte ein selbstständiges Leben, blieb jedoch unverheiratet. Auch er führte seine Kunst öffentlich vor. Jedoch handelte es sich dabei anscheinend um gehobene Veranstaltungen vor einem kleineren Publikum, die auch seinem eigenen Prestige zuträglich waren. Schweicker wurde für seine fußgeschriebenen Dokumente und Schmuckblätter gut entlohnt. Sie wurden als begehrte Kuriositäten vielfach nachgefragt und zum Teil auch mit persönlichen Widmungen als Geschenke in Auftrag gegeben. Schweicker zeigte seine Kunst vor dem Kaiser und an weiteren Höfen und erhielt neben Geldgeschenken auch ein eigenes Wappen. Sein Porträt, welches er vom Maler Jakob Hoffmann anfertigen ließ, wurde mehrfach in Einblattdrucken verwendet und diente somit offenbar als Werbemittel. Auch fand es Eingang in Schweickers Epitaph, das dieser vor seinem Tod selbst geschrieben hatte. In der Haus- und Familienchronik des Haller Stadtarztes Johann Morhard (1554–1631) hat Thomas Schweicker eine eigene Erwähnung erhalten. Allerdings wird nicht seine körperliche Besonderheit angesprochen: Morhard verzeichnete ausschließlich den Todestag Schweickers: 7. Octob. 1602 Thomas Schweickher obiit.74 Schweicker erscheint hier wie jede andere Persönlichkeit der Stadt, deren Todestag zu Erinnerungszwecken festgehalten wurde. Aus dem Hausbuch allein wäre nicht erkennbar, dass es sich um einen Menschen handelte, der unter anderem aufgrund seiner körperlichen Andersheit und den daraus hervorgehenden besonderen Fähigkeiten zu Berühmtheit gelangt war.

73

Zum Folgenden vgl. Joachim W. Siener, Der Kalligraf Thomas Schweicker zu Schwäbisch Hall. Eine Spurensuche, in: Aus dem Antiquariat 4 (2009), S. 221–237; vgl. auch Holländer, Wunder, S. 115–121. 74 Haller Haus-Chronik von Johann Morhard, hg. v. Wilhelm Dürr, Schwäbisch-Hall 1962, S. 49.

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5. Fazit Langwierige Erkrankungen, Beeinträchtigungen und weitere Phänomene verkörperter Differenz, so lässt sich vielleicht abschließend festhalten, wurden von den Zeitgenossen zwar aufmerksam registriert, unterlagen aber keineswegs festen oder in sich geschlossenen Deutungsweisen. Zumindest innerhalb der familiären Gedächtniskultur überwiegen Thematisierungsweisen, die Krankheit und körperliche Auffälligkeiten nicht als das Andere und als fremdartig, sondern als Teil der eigenen Geschichte behandeln. Auch in Bezug auf außerfamiliäre Ereignisse geben die Verfasser von Haus- und Familienbüchern – darin auch teilweise den Einblattdrucken und der Chronistik folgend – eher an, nicht zu wissen, was diese Phänomene körperlicher Besonderheit bedeuteten oder was ihre Ursache war. Bei der ausführlichen Wiedergabe wundersamer Körperphänomene bei Sebastian Fischer überwiegen die Kategorien der eigenen, alltäglichen Lebenswelt, die auch in der Familiengeschichtsschreibung in diversen Berichten, Einträgen und Notizen reproduziert wurden: Namen, Orte, familiäre und religiöse Zugehörigkeiten, Tod und Begräbnis, gegebenenfalls auch Kleidung, Gestalt, sozialer Status und moralische Haltung. Es ergibt sich ein diverses Bild vom kulturellen Umgang mit Phänomenen verkörperter Differenz, das zu einem guten Teil von den Eigenarten der hier ausgewerteten Textsorten sowie von den jeweiligen, situativ unterschiedlichen Produktionskontexten der oft über viele Jahre erstellten Haus- und Familienbücher bestimmt ist. Diese Faktoren sind auch bei der Untersuchung der einzelnen Fallbeispiele, die sich etwa in Fischers Wunderkompilation finden lassen, zu berücksichtigen. Innerhalb der Zusammenstellung wundersamer Geburten und Menschen mischen sich Fischers unterschiedliche Interessen und Faszinationen, seine Sammel- und Kompilationspraktiken mit den jeweils verfügbaren Wissensbeständen und der Überlieferungslage. Fischer scheint zu gleichen Teilen von der Andersartigkeit der wundersamen Menschen angezogen worden zu sein wie von den verbindenden Elementen zu seiner eigenen Lebenswelt. Die von ihm ausgewählten Passagen beschäftigen sich mit dem, was diese Personen mit ihren Mitmenschen einte, nicht das, was sie trennte und fremdartig erscheinen ließ. Die ihm zur Verfügung stehenden Vorlagen zeigen jedoch gelegentlich auch ein anderes Bild: Sie sind geprägt von einem Diskurs, der die abweichenden Körper vor allem als schreckenerregende Vorzeichen, als Folge von Sündenstrafen und sexuellen Verfehlungen erfasst. Die Vorstellung, dass etwa die ‚wollüstigen‘ Gedanken einer Schwangeren dazu führen könnten, dass das ungeborene Kind im Mutterleib die Form des Objekts der Begierde annimmt, liegt nicht zuletzt der Anekdote zugrunde, die Hermann Weinsberg in seinem Hausbuch überliefert. Damit wird auch die Kategorie Gender als ein Element verkörperter Differenz wirksam.75 Angesichts

75

Vgl. auch Ewinkel, De Monstris, S. 151–185; Margrit Shildrick, Embodying the Monster. Encounters with the Vulnerable Self, London 2002, S. 9–47; Bearden, Monstrous Kinds, S. 191–197.

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dieser komplexen Verschränkungen bieten intersektionale Zugänge für die weitere Erforschung verkörperter Differenz gerade im Feld der Disability History eine vielversprechende Perspektive.76 Zudem sollte die Darstellungsweise bei Fischer nicht darüber hinwegtäuschen, dass die von ihm bevorzugten Zugänge nur einem kleinen Ausschnitt aus der Lebensrealität der betroffenen Menschen entsprachen. Dies zeigt bereits der Umstand, dass sich die zur Schau gestellten Wundermenschen vor allem als Kinder und Jugendliche anscheinend – teilweise unverhohlen – im Besitz von Dritten befanden. So berichtet auch der Handwerker Dionysius Dreytwein (1498–1576) aus Esslingen zum Jahr 1557 von einem jungen Mann von etwa 23 Jahren, dem ein lebendiges kneblein aus dem Körper herauswuchs: Wan das kind sein notturft thon wellt, must der man mitt gan, sobald ers merktt, und wer es welltt sechen, must ime ein halben batzen gebenn. Es gingen auch zwen man mitt ime, die hetten in kauft um ettlich geltt, und man wolltt in zu Eschlingen nitt lasen sechen.77

Auch der Umstand, dass der Vater des 1547 in Leuven geborenen Kindes nach dessen frühzeitigem Tod entschied, den Leichnam zu verkaufen, sodass er ausgeweidet und zur Schau gestellt werden konnte, zeigt diese Ambivalenz. So geht aus der gedruckten Textpassage, die Fischer kommentar- und kritiklos übernahm, implizit hervor, dass das verstorbene Kind, obwohl getauft, kein christliches Begräbnis erhalten konnte. Dass der Vater die beiden Herzen zum Gedenken erhielt, zeigt, dass dem Kind selbstverständlich Anteil an der familiären Gedächtniskultur zugebilligt wurde: Verstorbene Kinder wurden betrauert, für sie wurde gebetet und es wurde ihrer gedacht. Es zeigt aber auch, dass selbst diese Einbindung in den Familienverbund, wie auch die geteilten Attribute der christlichen Glaubensgemeinschaft, die etwa in der Taufe zum Ausdruck gebracht werden, nicht davor schützten, dass Menschen auf ihre körperliche Andersheit reduziert und auf diese Weise den Blicken der anderen preisgegeben wurden.78 Einheitliche Deutungen, Bewertungen oder gesellschaftliche Haltungen gegenüber Phänomenen verkörperter Differenz lassen sich demnach nicht ausmachen. Somit lässt sich auch abschließend die Frage, ob innerhalb der städtischen Kultur ein spezifisches Verständnis von Andersheit, bezogen auf die körperliche Verfasstheit, vorherrschte, nicht beantworten. Obwohl sich die meisten Wundergeburten in ländlichen Gebieten ereigneten, werden sie häufig nicht dort, sondern erst im städtischen Raum quellenmäßig fassbar. Es ist vor allem die Infrastruktur größerer Städte, die schnellen Informationsaustausch und damit auch Nachrichten über abweichende Körper begünstigte. Sie zog die Schaustellerinnen und Schausteller an, die dort zügig 76

Vgl. auch Nolte u. a. (Hg.), Dis/ability History, S. 122–131. Dionysius Dreytweins Esslingische Chronik (1548–1564), hg. v. Adolf Diehl, Tübingen 1901, S. 180f. Die Beschreibung erinnert an den von Montaigne geschilderten Fall, bei dem der noch im Kleinkind­ alter befindliche Zwilling von zwei Männern und einer Amme, die sich als Angehörige vorstellten, herumgeführt wurde; vgl. Wilson, Signs, S. 75–77. 78 Grundlegende Überlegungen dazu finden sich bei Rosemarie Garland-Thomson, Staring. How We Look, Oxford/New York 2009. 77

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ein großes Publikum versammeln und zugleich für die nächsten Vorführungen (etwa auf Messen) werben konnten. Nicht zuletzt bot sie den städtischen Obrigkeiten Anlass, zu den einzelnen Fällen Stellung zu nehmen. Die städtische Lebenswelt brachte auch aufgrund der Zusammensetzung der Stadtbewohner und Durchreisenden eher Zeugnisse über Phänomene verkörperter Differenz hervor: Das breite Angebot an kurativen Optionen – der medizinische Markt79 – gab Anlass, sich über eigene und fremde Erkrankungen oder körperliche Auffälligkeiten schriftlich oder mündlich auszutauschen und dies möglicherweise in Erwartung des nächsten durchreisenden Heilkundigen festzuhalten. Zahlreiche Berufsgruppen, aber auch familiäre und korporative Verbünde pflegten zudem – anteilig oder dauerhaft – einen reisenden Lebensstil, der nicht nur die Kommunikation zwischen den Städten sowie zwischen Stadt und Umland förderte, sondern die Hervorbringung von ‚neuen Zeitungen‘ wie auch die Produktion von Reisetagebüchern, Briefen etc. begünstigte.80 Nicht zuletzt konzentrierte sich in der Stadt eine große Zahl an medizinisch gebildeten Spezialisten, vielseitig gebildeten Gelehrten und naturkundlich interessierten Laien, die zugleich das Zielpublikum für das in Städten ansässige Druckergewerbe bildete.81 Darüber hinaus ist jedoch auch der enge Austausch mit höfischen und geistlichen Kontexten zu berücksichtigen, deren Angehörige sowohl an der Hervorbringung abweichender Körperlichkeit interessiert und beteiligt waren – etwa im Kontext der Wunderkammern –, als auch als Rezipienten von Wunderberichten, Abhandlungen und Zusammenstellungen adressiert wurden.82 Auch wenn die in Haus- und Familienbüchern überlieferten Nachrichten zunächst keine genuin ‚städtische‘ Perspektive auf Phänomene verkörperter Differenz eröffnen, ist es lohnenswert, die unterschiedlichen sozialen Umwelten, die sich aus ländlichen, städtischen, höfischen, geistlichen oder auch örtlich nicht gebundenen Lebensweisen ergeben, und das in ihnen und durch sie produzierte Wissen stärker in die Disability History der Vormoderne einzubeziehen. Die Erforschung der Brüche und komplexen Verflechtungen zwischen individueller Wissensorganisation und repräsentativer Überlieferung, zwischen Spezial- und Alltagswissen, Gebrauchskontexten und lebensweltlicher Deutungspraxis im Bereich vormoderner ‚disability‘ steht immer noch am Anfang.

79

Vgl. Jütte, Ärzte; Roy Porter, The Patient’s View. Doing Medical History from Below, in: Theory and Society 14 (1985), S. 175–198. 80 Vgl. Bastl, Tagebuch, S. 252–254. 81 Zum Interesse am ‚Außernatürlichen‘ im 15. und 16. Jahrhundert vgl. auch Daston/Park, Wunder, S. 188–203. Zu den Adressatenkreisen von Flugblättern vgl. auch Schilling, Bildpublizistik, S. 47–50: Neben Wirtshausbesitzern und Lehrern sind auch Schuhmacher unter den typischen Käufern von Flugblättern zu vermuten, die diese u. a. als Wanddekoration, als Gesprächsanlass bzw. Unterhaltung oder zur Wissensbereicherung erworben haben könnten. Doch auch der Oberschicht zuzurechnende Besitzer von Flugblättern, einschließlich des hohen und niederen Adels sowie gelehrten Kreisen, sind vielfach nachweisbar, vgl. ebd., S. 51f. 82 Vgl. ebd., S. 51f.; Daston/Park, Wunder, S. 249; Ruth von Bernuth, Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheit in den „Historien von Claus Narren“, Tübingen 2009.

DIE HAUSVÄTER UND DIE ANDEREN. MÄNNLICHKEITSENTWÜRFE UND SOZIALE UNGLEICHHEIT IN STÄDTISCHEN FAMILIENBÜCHERN UND HAUSRATGEDICHTEN (14.–17. JAHRHUNDERT) Marco Tomaszewski

1. Einleitung Dem erenthaften fleisligsten zukunftigen hausfatter zu Weinsberch, minem geliebten erben, untbieten ich Herman von Weinsberch minen grutz und alles gode. Mit diesem Gruß an den künftigen Hausvater beginnt Hermann Weinsberg (1518–1597) seinen Liber Iuventutis, das erste von drei nach 1560 entstandenen Gedenkbüchern.1 Sein Buch bezeichnet Weinsberg als liber domesticus seu familiaris bzw. als ein hauslich, broderlich und fruntlich gedenkboich.2 Es lässt sich der Quellengruppe der städtischen Familienbücher zuordnen, womit Sammelhandschriften bezeichnet werden, in denen familienbezogene Aufzeichnungen mit stadtgeschichtlichen, autobiographischen oder literarischen Inhalten kombiniert wurden und die im deutschsprachigen Raum seit dem Ende des 14. Jahrhunderts überliefert sind.3

1

Hermann Weinsberg, Liber Iuventutis [LI-digital], fol. 1v, zit. nach: Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, hg. v. der Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003–2009, http:// www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Iuventutis/Liber_Iuventutis.htm [Stand: 03.01.2021]. 2 Weinsberg, LI-digital, fol. 1v. 3 Vgl. Marco Tomaszewski, Familienbücher als Medien städtischer Kommunikation. Untersuchungen zur Basler Geschichtsschreibung im 16. Jahrhundert, Tübingen 2017, S. 4f., 16–24, mit weiteren Angaben. Vgl. außerdem Birgit Studt (Hg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2007; sowie Claudia Ulbrich, Family and House Books in Late Medieval German-Speaking Areas: A Research Overview, in: Dies./ Kaspar von Greyerz/Lorenz Heiligensetzer (Hg.), Mapping the ‚I‘. Research on Self-Narratives in Germany and Switzerland, Leiden 2015, S. 209–226. Einen aktuellen Überblick bietet Klaus Graf, Zur neueren Literatur über vormoderne Familienbücher [31.12.2017], https://archivalia.­hypotheses. org/69622 [Stand: 03.01.2021]. Zu Weinsberg vgl. Gregor Rohmann, Der Lügner durchschaut

72

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Ebenfalls Mitte des 16.  Jahrhunderts veröffentlichte der bekannte Nürnberger Schuhmacher und Dichter Hans Sachs (1494–1576) ein Spruchgedicht mit dem Titel Der gantz Haußrat.4 Darin heißt es: e

Es ghort vil haußratz zum haußhalten/ Wiltu es anderst recht verwalten/ Den ich dir nach eyne ander her/ Erzelen wil doch ungefehr/ Erstlich inn die stueben gedenck/ Muest haben disch, stul, sessel und penck.5

Es folgt die Aufzählung des Inventars eines städtischen Haushalts des 16. Jahrhunderts; im Titel des Drucks ist die Rede von dreihundert stück. Derartige aus heutiger Sicht seltsam anmutende Hausratgedichte, in denen seitenlang der für die Ehe- und Haushaltsführung nötige Hausrat aufgezählt wird, sind – wie auch die bereits erwähnten Familienbücher – seit dem 14. Jahrhundert überliefert.6 Hermann Weinsbergs Familienbücher und Hans Sachs’ Hausratgedicht haben mehr gemeinsam als es auf den ersten Blick möglicherweise scheint. Beide entstanden in großen Städten, die als urbane Verdichtungsräume von großer sozialer, rechtlicher, wirtschaftlicher und bisweilen auch kultureller Vielfalt geprägt waren.7 Und

4



5



6

7



die Wahrheit: Verwandtschaft, Status und historisches Wissen bei Hermann von Weinsberg, in: JbKölnGV 71 (2000), S. 43–76. Der Druck erschien zunächst 1545 bei Hans Guldenmund und leicht verändert 1553 bei Georg Merkel, außerdem existiert eine frühere handschriftliche Fassung: Hans Sachs, Der gantz haußrat.||Nürnberg: Hans Guldenmund 1545 (VD16 S 277); Ders., Der gantz haußrat bey drey hundert stuck.||Nürnberg: Hans Guldenmund 1545 (VD16 S 278); Ders., Der gantz Haußrat || bey dreyhundert st[ue]cken/ so vngefehrlich || inn eyn jedes Hauß geh[oe]ret.|| Mehr ein n[ue]tzlicher raht/ den jun-||gen gesellen die so sich verheyraten w[oe]llen.|| Hans Sachs.|| Nürnberg: Georg Merkel 1553 (VD16 S 279, VD16 S 511); Ders., Der gantz Haußrat/|| bey dreyhundert st[ue]cken/ so vngefehrlich || inn ein jedes Hauß geh[oe]ret.|| Mehr ein n[ue]tzlicher raht/ den jungen || gesellen die so sich verheyraten w[oe]llen.|| Hans Sachs.||Nürnberg: Georg Merkel 1553 (VD16 S 280, VD16 S 512); Ders., Der gantz Haußrat/|| bey dreyhundert st[ue]cken/ so vngefehrlich || inn ein jedes Hauß geh[oe]ret.|| Mehr ein n[ue]tzlicher raht/ den jungen || gesellen die so sich verheirateu w[oe]llen.|| Hans Sachs.||Nürnberg: Georg Merkel 1553 (VD16 S 281, VD16 S 513). Zu einem weiteren Druck von 1558 und zur handschriftlichen Fassung von 1544 vgl. Theodor Hampe, Gedichte vom Hausrat aus dem XV. und XVI. Jahrhundert, Straßburg 1899, S. 17; im Anhang II ein Abdruck der handschriftlichen Fassung (Staatsbibliothek zu Berlin, Ms. germ. fol. 591, fol. 100–103). Sachs, Der gantz Haußrat (VD16 S 279, VD 16 S 511), fol. 2r. Vgl. Peter Assion, Art. „Hausratgedichte“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasser­ lexikon, Bd. 3, Berlin/New York 21981, Sp. 556–558, mit weiteren Angaben; vgl. auch Art. „Hausratgedichte“, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, hg. v. Wolfgang Achnitz, Bd. 4: Lyrik und Dramatik, Berlin/New York 2012, Sp.  654–656; Ursula Rautenberg, Über die Ehe. Von der Sachehe zur Liebesheirat. Eine Literaturausstellung in der Bibliothek Otto Schäfer, Schweinfurt 1993, S. 73–86; Nathanael Busch/Claudia Kanz, „Was man als haben muß“. Nürnberger Dichtung vom Hausrat, in: Heike Sahm/Monika Schausten (Hg.), Nürnberg. Zur Diversifikation städtischen Lebens in Texten und Bildern des 15. und 16. Jahrhunderts, Berlin 2015, S. 25–42; sowie den grundlegenden älteren Beitrag mit Textbeispielen von Hampe, Gedichte. Zu Listen als literarischer Form vgl. Eva von Contzen, The Limits of Narration: Lists and Literary History, in: Style 50/3 (2016), S. 241–60. Zur terminologischen Differenzierung der Begriffe ‚städtisch‘, ‚urban‘ und ‚kommunal‘ ausgehend von derzeitigen kulturgeschichtlichen Perspektiven auf die vormoderne Stadt vgl. Pia Eckhart/Marco Tomaszewski, Städtische Geschichtsschreibung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit – Standortbestimmung und Perspektiven eines Forschungsfelds, in: Dies. (Hg.), Städtisch, urban, kom-

Die Hausväter und die Anderen

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beide sind als Bestandteile von Diskursen und Praktiken anzusehen, bei denen zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert Fragen von Haushalt und Ehe eng mit Konzepten von Geschlecht und sozialer Ordnung verbunden wurden und die Abgrenzung von Anderen eine wichtige Rolle spielte.8 Diese Anderen konnten durchaus Teil der eigenen Stadt sein, sich aber beispielsweise hinsichtlich ihres sozialen Status oder ihres Geschlechts unterscheiden. Diese Unterscheidungen und damit das Anderssein war jedoch keineswegs von vornherein gegeben, sondern wurde durch Praktiken und Diskurse des ‚Othering‘ erst produziert. Die Alteritätskonstruktionen dienten zugleich der Rückversicherung eigener Identität, wie Andreas Rutz in der Einleitung zu diesem Band betont.9 Das Herstellen von Fremdheit und die Konstruktion des Eigenen sind also im Grunde zwei Seiten derselben Medaille. Beides funktioniert zumeist durch Markierung von Differenzen, wodurch zugleich Hierarchien impliziert und soziale Ungleichheiten hergestellt oder verstärkt werden. Ausgehend vom Konzept des ‚doing difference‘ und der Annahme, dass soziale Differenzierung das Ergebnis interaktioneller Prozesse ist, bietet dieser Beitrag eine Perspektive zum besseren Verständnis vormoderner Familienbücher und Hausratgedichte.10 Wie im Folgenden gezeigt wird, konnten sowohl Familienbücher als auch Hausratgedichte dazu dienen, unter Rückgriff auf das geschlechtsspezifische Modell des Hausvaters als hegemonialer Form von Männlichkeit soziale Unterschiede und Ungleichheiten mehrfachrelational herzustellen und zu reproduzieren. Zunächst wird dazu im zweiten Abschnitt das Phänomen der Hausratgedichte näher vorgestellt, bevor im dritten Teil dargestellt wird, dass es sich bei den seitenlangen Auflistungen von alltäglichen Haushaltsgegenständen um die Darstellung von ökonomischem, aber auch symbolischem Kapital handelt. Dies diente den vermunal – Perspektiven auf die städtische Geschichtsschreibung des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2019, S. 11–43, hier S. 29 zur Begrifflichkeit und S. 19–21 mit weiteren Angaben. 8 Vgl. Repertorium deutschsprachiger Ehelehren der frühen Neuzeit, Bd. I/1: Handschriften und Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin/Preußischer Kulturbesitz, hg. v. Erika Kartschoke/Walter Behrendt, Berlin 1996, S.  VII; sowie Michael Dallpiazza, Sorge um die Sicherung des Daseins und Haushalten in literarischen und ökonomischen Schriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Irmintraut Richarz (Hg.), Haushalten in Geschichte und Gegenwart, Göttingen 1994, S. 81–87. Teil dieser Diskurse sind auch sog. zeitgenössische Ökonomiken und Haushaltslehren. Die bekannten, von der Forschung gemeinhin als ‚Hausväterliteratur‘ bezeichneten Texte sind jedoch nur eine Sonderform, die sich von den früheren Haushaltslehren unterscheidet, sich meist auf nicht-städtische Kontexte bezieht und erst Ende des 16.  Jahrhunderts einsetzt; vgl. Trude Ehlert, Die Rolle von ‚Hausherr‘ und ‚Hausfrau‘ in der spätmittelalterlichen volkssprachlichen Ökonomik, in: Dies., Haushalt und Familie in Mittelalter und früher Neuzeit, Sigmaringen 1991, S. 153–166, hier S. 154. Vgl. zur sogenannten Hausväterliteratur Ulrike Kruse, Hausväterliteratur. Praktische Ratgeber für eine imaginierte Landwirtschaft, in: Traverse 21/2 (2014), S.  40–52, mit weiteren Angaben; sowie Jürgen Donien, Hausväterliteratur, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, 2014, http://dx.doi. org/10.1163/2352-0248_edn_a1618000 [Stand: 03.01.2021]. 9 Vgl. Andreas Rutz, Fremdheit in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken. Methodische und quellenkundliche Vorüberlegungen, in diesem Band, S. 13–28, hier S. 13. 10 Vgl. hierzu unten Kap. 5. Entwickelt wurde dieser Zugang von Candace West/Sarah Fenstermaker, Doing Difference, in: Gender and Society 9 (1995), S. 8–37, hier S. 9, als Erweiterung ihres früheren Konzepts des ‚doing gender‘.

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Marco Tomaszewski

heirateten Männern der städtischen Mittel- und Oberschichten zur Konstruktion des Hausvaters als Vertreter hegemonialer Männlichkeit. Dass diese patriarchalen Abgrenzungsstrategien auch in Familienbüchern eine wichtige Rolle spielten, ist Thema des vierten Abschnitts. Zuletzt werden im fünften Teil die diskutierten Phänomene konzeptionell und historisch eingeordnet.11

2. Hausratgedichte Gedichte mit einer Aufzählung der für die Ehe und Haushaltsführung notwendigen Dinge sind aus dem deutschen Sprachraum seit Mitte des 14. Jahrhunderts in mindestens zwölf Texten überliefert.12 Die detaillierten Schilderungen des Hausrats machen sie zu anschaulichen Quellen für die materielle Ausstattung vormoderner Haushalte, nicht zuletzt, weil viele Alltagsgegenstände und deren Bezeichnungen sonst nur sehr spärlich überliefert sind. Es lassen sich zwei Typen von Hausratgedichten unterscheiden: Gedichte vom Typ A, wozu auch das bereits erwähnte Spruchgedicht von Hans Sachs zählt, sind belehrend und beinhalten meist eine fürsorgliche Warnung vor übereilter Heirat. In Gedichten des Typs B wird über Entbehrungen und Armut in der Ehe geklagt.13 Ein frühes Beispiel für diesen Typ B, das aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts überliefert ist und von Peter Assion um 1400 datiert wird, ist das sogenannte Hausgeschirr.14 Das Gedicht beginnt mit einer Klage über Armut im ‚Orden der Ehe‘ und erstellt ein Inventar des fehlenden Hausrats als Zeichen von Armut und wirtschaftlicher Not:

11

Dabei dürfen Begriffe wie ‚Patriarchat‘ sowie ‚patriarchale‘ und ‚hegemoniale Männlichkeit‘ selbstverständlich nicht im Sinne universaler Kategorien verstanden werden, sondern als Werkzeuge zur Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse. Vgl. zur Kritik an der Unzulänglichkeit und zum Potenzial dieser Begrifflichkeiten Merry Wiesner-Hanks, Forum Introduction: Reconsidering Patriarchy in Early Modern Europe and the Middle East, in: Gender & History 30/2 (2018), S. 320–330, hier S. 327; sowie Androniki Dialeti, Patriarchy as a Category of Historical Analysis and the Dynamics of Power. The Example of Early Modern Italy, in: Gender & History 30/2 (2018), S. 331–342, hier S. 339: Der Begriff des ‚Patriarchats‘ „permits us to explore male power as a social and discursive process that transcends the gender binary to produce and legitimise variously the dynamics and hierarchies of inclusion and exclusion in early modernity“. Zur Kritik am Konzept der hegemonialen Männlichkeit vgl. zusammenfassend Ben Griffin, Hegemonic Masculinity as a Historical Problem, in: Gender & History 30/2 (2018), S. 377–400. 12 Ältere Beispiele sind aus dem 13. Jahrhundert aus Frankreich bekannt; vgl. zur Gattung und Überlieferung den Überblick bei Assion, Hausratgedichte; sowie Art. „Hausratgedichte“, in: Deutsches Literatur-Lexikon, mit weiteren Angaben. Bei den im Folgenden vorgestellten Gedichten handelt es sich um eine exemplarische Auswahl, die nicht alle überlieferten Texte beinhaltet. 13 Vgl. Assion, Hausratgedichte. 14 Peter Assion, Art. „Das Hausgeschirr“, in: Verfasserlexikon, Bd. 3, Sp. 552f.

Die Hausväter und die Anderen

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Von Dem hausgeschirre ein lied./ Jch waiss ein orden, dar in ist manchem also we./ er ist vill leiten e woll erkantt und haist ‚die e‘./ der ist so piter und so scharpf,/ wan man so vill dar zu bedarpf/ e von haus geschire/ wer aram jn den orden kumt, der wirt woll jre.// Wann er nun die schussel e e hat, so hat er nicht/ ein schusselkorb, dar zu gehert, der ist entwicht./ auch hat nit ain pfanan./ so hebt sich greinen und zanen./ wo leffell futer?/ jm wer bas da haim gewessen bey seiner muter.15

Ein weiteres, dem ‚König vom Odenwald‘ zugeschriebenes Gedicht aus dem 14. Jahrhundert beginnt mit der Klage, dass der Sprecher keine Freude mehr an Gesang und Dichten habe. Zuvor sei ihm der Sinn nach Freude und Liebe gestanden, aber seit er einen eigenen Haushalt führe, habe er gemerkt, dass er nun die Liebe aufgeben müsse: Min gesang und min getiht/ ist worden gar zů nihte./ Hievor het ich die sinne/ uf liebe und uf minne/ Getrůwelich bekeret:/ hushalten hat mich geleret/ Daz ich die minne můz begeben.16 Im Anschluss daran wird dann der fehlende Hausrat aufgezählt. Assion hat für diese Gedichte vom Typ B auf den „Zusammenhang mit dem Pauperismus stadtbürgerlicher Unterschichten“ hingewiesen, zugleich aber betont, dass „die parodistische Opposition zur Minnedichtung nicht übersehen werden“ dürfe.17 Dies wird besonders an der Mitüberlieferung in den Handschriften dieser frühen Gedichte deutlich. Das Hausgeschirr ist unter anderem im sogenannten Liederbuch der Klara Hätzlerin (ca. 1430–1476), einer Augsburger Schreiberin des 15. Jahrhunderts, überliefert.18 Es handelt sich dabei um eine planvoll angelegte Handschrift mit einem thematischen Programm, das sich auf die Minne, also die geschlechtliche, sexualisierte Liebe im weitesten Sinn bezieht. In dieser wie in anderen Handschriften lassen sich viele der mit den Hausratgedichten überlieferten Texte als Minnereden charakterisieren, einer spätmittelalterlichen Gattung über die 15

Von Dem hausgeschirre ein lied, in: Eva Kiepe/Hansjürgen Kiepe (Hg.), Gedichte 1300–1500. Nach Handschriften und Frühdrucken in zeitlicher Folge, München 1972, S. 236–238, hier S. 236. Übersetzung: „Ein Lied vom Hausrat. Ich kenne einen Orden, in dem muß mancher so sehr leiden. Viele Leute kennen ihn, er heißt ‚die Ehe‘, Der ist so bitter und so hart, weil man dafür so viel Hausrat braucht. Wer arm in diesen Orden eintritt, der verliert den Verstand. Hat er nun die Schüssel, dann hat er kein Abstellbrett, [das doch] dazugehört, das ist nicht vorhanden. Auch hat er keine Pfanne. Da wird dann geweint und geplärrt. Wo [ist] der Löffelkasten? Bei seiner Mutter daheim wär‘s ihm besser gegangen“; ebd. Zum Ehestand als Orden vgl. Gabriela Signori, Von der Paradiesehe zur Gütergemeinschaft. Die Ehe in der mittelalterlichen Lebens- und Vorstellungswelt, Frankfurt a. M. 2011, S. 44–51. 16 Edward Schröder, Ein Nachtrag zu den Gedichten des Königs vom Odenwalde, in: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde N. F. 18 (1934), S. 327–334, hier S. 331. Der hier abgedruckte Text stammt aus einer 1870 verbrannten Straßburger Handschrift und ist nur in einer Kopie des 18. Jahrhunderts überliefert; vgl. ebd., S. 327f. Vgl. Gisela Kornrumpf, Art. „Der König vom Odenwald“, in: Verfasserlexikon, Bd. 5, Sp. 78–82: „‚Von dem Hausrat‘, als Negativkatalog verwandt mit anderen frühen Hausratgedichten (B), ist weniger eine Klage über das Elend der Armut im Ehestand als ein Gedicht über das Nichts, den un-rat schlechthin, einem ergrauenden Ich in den Mund gelegt, das im lieben wan des Minnesangs Trost zu finden vorgibt.“ 17 Assion, Hausratgedichte. 18 Vgl. Ingeborg Glier, Art. „Hätzlerin, Klara“, in: Verfasserlexikon, Bd. 3, Sp. 547–549. Die bekannteste Handschrift ist Prag, Nationalmuseum, Cod. X A 12, hier fol. 288v–289v; vgl. den Eintrag im Handschriftencensus, http://www.handschriftencensus.de/3722 [Stand: 03.01.2021]; außerdem ist das Gedicht überliefert in: Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 314, fol. 98r–98v; vgl. den Eintrag im Handschriftencensus, http://www.handschriftencensus.de/4904 [Stand: 03.01.2021].

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Minne-Thematik.19 Die Hausratgedichte sind hier als Parodie und satirisches Gegenbild zu sehen, in denen die sonst erstrebte Minne umgekehrt als Ursache für Last, Sorge und Armut dargestellt wird. Aus einer ganz anderen Perspektive wird der Hausrat in einem 1510 in Straßburg herausgegebenen und mit Holzschnitten illustrierten Druck präsentiert. Hier teilt ein männliches Ich seiner Frau in langer Aufzählung mit, welchen Hausrat es ihr zum neuen Jahr von der Messe als Geschenk mitgebracht hat: Hie in finstu zů einẽ nüwẽ Jar || Einen Hußrat den hon ich dir fürwar || Vß der nesten Meß für ein Kron gebracht.20 Im Gegensatz zu den Armutsklagen wird hier fast wie in einer Art Warenkatalog die Gesamtheit der Alltags- und Luxuswaren des beginnenden 16. Jahrhunderts präsentiert. Möglicherweise ist dies auch Anzeichen einer beginnenden Konsumgesellschaft und einer „medial geleiteten Homogenisierung der Wohnausstattung“.21 Auf eine zeitgenössische Rezeption von Hausratgedichten zum Jahreswechsel22 deutet ferner ein Basler Druck aus dem Jahr 1569 hin, der mit einer an junge Frauen und Männer gerichteten, didaktischen Sentenz schließt. Es heißt darin, wer eine Ehe eingehen wolle, solle danach schauen, genügend Hausrat anzuschaffen, um keinen Mangel zu leiden. e

e

Aber wolcher zů der Ehe greiffen woll/ Der lůg voran das er darzů bestell/ Hausradt, das er nicht mangel hab/ da merck du magt und junger knab/ Wilt du dich haußhan nemmen an/ So betracht was du darzů můst han Hiemit will ich die red beschliessen/ An vil gschwetz hat man verdriessen/ e Und wils euch zům gůten jar schencken/ War will der mag daran gedencken.23

Diese Verse, deren Schlussformel auf den Kontext des Neujahrs hinweist, scheinen wohl eine Art Sprichwort aufzugreifen, das überregional über lange Zeit in Gebrauch war. Es findet sich fast hundert Jahre zuvor schon auf einem um 1475 entstandenen illustrierten Einblattdruck des Nürnberger Briefmalers Hans Paur. Im

19

Vgl. zur Gattung Jacob Klingner/Ludger Lieb, Handbuch Minnereden, Berlin/New York 2013; William Maurice Sprague, Minnereden, in: Albrecht Classen (Hg.), Handbook of Medieval Studies. Terms – Methods – Trends, Berlin/New York 2010, S. 1905–1910. 20 Hie in finstu zů einẽ nüwẽ Jar || Einen Hußrat den hon ich dir fürwar || Vß der nesten Meß für ein Kron gebracht || ... ||, [Straßburg: Johann Grüninger um 1510] (VD16 H 816). Es handelt sich um eine Überarbeitung eines etwa hundert Jahre zuvor von Konrad Dangkrotzheim für ein adliges Publikum verfassten Gedichts; vgl. Hellmut Rosenfeld, Art. „Dangkrotzheim, Konrad“, in: Verfasserlexikon, Bd. 2, Sp. 39–42. 21 Julia A. Schmidt-Funke, Städtische Wohnkulturen in der Frühen Neuzeit, in: Joachim Eibach/Inken Schmidt-Voges (Hg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch, Berlin 2015, S. 215–232, hier S. 227. 22 Auch das sog. Liederbuch der Klara Hätzlerin, in dem das Hausgeschirr überliefert ist, enthält zahlreiche Gedichte und Sprüche zum Neuen Jahr; vgl. den Überblick im Handschriftencensus, http://www. handschriftencensus.de/3722 [Stand: 03.01.2021]. 23 Der Haußradt.|| Der Haußradt bin ich genannt/|| Manchē gůtten gsellen wol erkannt, Basel: Apiarius, Samuel, 1569 (VD16 ZV 28372), letztes Blatt. Abgedruckt in: Der Haussradt. Ein Basler Gedicht vom Jahre 1569 in Faksimiledruck hg. mit einer Einleitung v. Emil Major, Straßburg 1912.

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Zentrum steht hier die bildliche Vermittlung des Hausrats, wobei die Intention der Darstellung in einem kurzen Text deutlich wird: Über einem Paar, bei dem der Mann der Frau gerade einen Ring überreicht, ist zu lesen: Were zu der Ee greyffen welle Der tracht das er dar zu bestelle / Haußrat das er nit mangel hab Hye merck du dirn vund iunger knab / Wiltu dich haußhaltens nehmen an So tracht was du darzu must han / In ein hauß gehort als vil haußrat Das der zehenteil nit hye gemalet stat.24

Die letztgenannten Beispiele lassen sich den Gedichten von Typ A zuordnen, die „bis ins 17. Jh. belehrend meist an junge Ehewillige adressiert“ waren.25 Hierzu zählt auch das bereits eingangs erwähnte Spruchgedicht von Hans Sachs, das 1545 und 1553 in Nürnberg gedruckt wurde. Hier ist die Aufzählung des Hausrats in eine Rahmenhandlung eingebettet: Einem Handwerksmeister wird beim Frühmahl von seinem Gesellen mitgeteilt, dass dieser heiraten wolle. Der Meister warnt ihn davor und beschreibt ihm, was er zur Haushaltsgründung, die ja mit der Ehe einhergeht, alles benötige. Den Hauptteil des Gedichtes bildet eine Aufzählung des Inventars von Raum zu Raum, von der Wohnstube über die Küche in die Speisekammer und den Keller und weiter ins Schlafzimmer. Darauf folgt eine Übersicht über das, was sonst noch nötig ist zur Haushaltsführung: Werkzeuge für Reparaturen, Geräte zum Wäschewaschen sowie die Ausstattung des Bades. Außerdem brauche man Gesinde, das entlohnt werden müsse, sowie Katzen und Hunde als Nutztiere. Anschließend geht der Meister auf die Schwangerschaft der Frau und die Geburt der Kinder ein und weist abschließend auf die Kosten für die Kindererziehung und die Miete des Hauses hin.26 Durch die Rahmenhandlung richtet sich dieses Spruchgedicht an männliche Handwerksgesellen. Doch auch die Drucke selbst adressieren vorrangig Männer: Die 1553 bei Georg Merkel erschienene Fassung enthält neben dem Gedicht vom Hausrat außerdem einen n[ue]tzliche[n] raht/ den jungen gesellen die so sich verheyraten w[oe]llen.27 Es geht darin um die Frage, wer für einen jungen Mann die geeignetste Ehepartnerin sei: eine noch unverheiratete Jungfrau, eine junge Witwe, die zuvor ein Mal verheiratet gewesen war oder eine alte reych und wol begabt, die zuvor aber schon zwei Ehemänner hatte. Geraten wird, eine Jungfrau auszuwählen, weil hier am wenigsten Gefahr für den künftigen Hausvater bestehe, an Autorität zu verlieren.28 Sachs greift hier den gängigen zeitgenössischen Topos vom ‚Weiberregi24

Hans Paur, Einblattholzschnitt um 1475, Staatliche Graphische Sammlung München, EK 991, zit. nach Rautenberg, Ehe, S. 75, Abb. ebd., S. 76; vgl. auch Hampe, Gedichte, S. 8. 25 Assion, Hausratgedichte. 26 Hans Sachs, Der gantz Haußrat || bey dreyhundert st[ue]cken/ so vngefehrlich || inn eyn jedes Hauß geh[oe]ret.|| Mehr ein n[ue]tzlicher raht/ den jun-||gen gesellen die so sich verheyraten w[oe]llen.|| Hans Sachs.|| Nürnberg: Georg Merkel 1553 (VD16 S 279, VD16 S 511); vgl. auch VD16 S 280, VD16 S 512, VD16 S 281, VD16 S 513. Vgl. insges. Rautenberg, Ehe, S. 77f. 27 Sachs, Der gantz Haußrat (VD16 S 279, VD16 S 511); vgl. auch VD16 S 280, VD16 S 512, VD16 S 281, VD16 S 513. 28 Sachs, Der gantz Haußrat (VD16 S 279, VD16 S 511). Vgl. dagegen aber die Überlegungen von Weinsberg, LI-digital, fol. 199r–199v, zur Heirat der sechs Jahre älteren Witwe Weisgin Ripgin: Die-

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ment‘ und dem „Kampf um die Hose“ auf.29 In sogenannten Hausordnungen, die über moralisch gute Haushalts- und Lebensführung informieren, wird diese Frage nach der geeigneten Ehepartnerin ebenfalls diskutiert.30 Einige Jahrzehnte vor Hans Sachs hatte in Nürnberg bereits Hans Folz (ca. 1435/40–1513) den Hausrat im Meistersang und in einem gedruckten Spruchgedicht thematisiert. Beide Texte sind ohne Rahmenhandlung direkt als Lehre an einen heiratswilligen Mann gerichtet, der explizit als arm bezeichnet wird. So heißt es in der gedruckten Fassung, die auch als ‚Hausratbüchlein‘ bekannt ist: Welch armer sich zu d[er] ee will lencken/ solt sich alweg vor wol bedencken/ Was man als haben mus ins haus/ Des ich ein teil will ecken aus.31 Der handschriftlich überlieferte Spruchgesang von Folz verweist noch stärker auf die Armutsrisiken verfrühter Eheschließungen. Dieses Lehrgedicht erzählt von jungen Männern, die zu früh heiraten und vergleicht diese mit Vögeln, die fliegen, bevor ihnen Flügel gewachsen seien. Dies führe unweigerlich zu Armut und Verpflichtungen. Wenn dann noch Kinder hinzukämen, fehle es sogar an Lebensmitteln. Deshalb solle jeder, der eine sorgenfreie Ehe führen will, prüfen, ob er den dafür erforderlichen Hausrat besitze: Ich gib ain ler dem jüngen man/ die zeitlichen dünt heben an/ zw fligen e sie fliegel han/ dünd weiber nem/ sie werden zem/ als ich eüch singen will-/ Armüt kümpt in gedrüngen ein/ sie müessen alpet schüldig sein/ gewinnen darnach kindelein/ die sün auf gat/ im haus kein prat/ der armüt der ist vil –/ Ein ider sich bedencken dw/ will er in der ee haben rw/ das er hab was im dar gehor zw/ von geschir und hausrat.32

weil ich auch 30 jar alt war, wolte ich gein jongfrau nemen van 20 jarn, dan mich duchte, das sulte sich besser schicken, das der man jonger were dan die frau, uis ursachn mich darzu bewegende und auch nach des weisen mans leir, das man die kundigen in der nachparschaft sol freien. 29 Vgl. u. a. Sigrid Metken, Der Kampf um die Hose. Geschlechterstreit und die Macht im Haus. Die Geschichte eines Symbols, Frankfurt a. M. 1996; Heide Wunder, Er ist die Sonn’, sie ist der Mond. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992, S. 104f. 30 Vgl. Michael Dallapiazza, Sorge um die Sicherung des Daseins und Haushalten in literarischen und ökonomischen Schriften des Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Richarz (Hg.), Haushalten, S. 81–87, der S. 82f. auf die ordnung eines vernũnfftigen haußhalters verweist: Ein ordnung || eines vernũnfftigen || haußhalters.||, Nürnberg 1530 (VD16 O 886); Ein ordnung || eines vernũff=||tigen haus||halters.||, Erfurt 1531 (VD16 O 887); Ein ord=||nung eynes || vernünfftigen || haußhalters.||, Nürnberg 1539 (VD16 O 888); abgedruckt in: Alemannia 16 (1888), S. 207–211. Es existiert außerdem eine niederdeutsche Fassung, aus der die Dialogstruktur des Textes als Gespräch zwischen Vater und Sohn deutlich wird; vgl. Alemannia 16 (1888), S. 211–219. Zur älteren Tradition und zum Erstdruck 1477 im Anhang zu einer Ausgabe des Ackermann aus Böhmen vgl. Peter Assion, Art. „Das Haushalten“, in: Verfasserlexikon, Bd.  3, Sp.  553f.: „Der Tendenz nach besteht Verwandtschaft mit den ‚Hausratgedichten‘, doch zielt der Text mehr auf moralisch richtiges Verhalten und nur mittelbar auch auf ökonomische Umsicht.“ Zu derartigen ‚Hausordnungen‘ vgl. auch Ehlert, Rolle. 31 Hans Folz, Vom Hausrat, [Nürnberg: Hans Folz um 1483/88] (Gesamtkatalog der Wiegendrucke [GW], Nr. 10131); Ders., Vom Hausrat, Bamberg: Marx Ayrer und Hans Bernecker [14]93, (GW, Nr.  10132); Ders., Vom Hausrat, [Leipzig: Konrad Kachelofen um 1495] (GW, Nr. 10133); Ders., Vom Hausrat, [Leipzig oder Nürnberg(?) vor 1500(?)] (GW, Nr. 10134); dieses Exemplar war wahrscheinlich die Vorlage für das bei Hampe, Gedichte, abgedruckte Faksimile; vgl. GW, Nr.  10134, https://­gesamtkatalogderwiegendrucke.de/docs/GW10134.htm [Stand: 03.01.2021]; hierzu u. a. Rautenberg, Ehe, S. 77; Busch/Kanz, Nürnberger Dichtung, S. 25–29. 32 Zit. nach Hampe, Gedichte, Anhang I, S. 1. Das Original findet sich in der Staatsbibliothek zu Berlin, Ms germ. qu. 414 (Meisterliedsammlung von Hans Sachs, 1517/18); vgl. Hermann Degering, Kur-

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In diesen Gedichten wird die Verbindung zwischen Haushaltsführung und Armut mehrfach in unterschiedlicher Form angesprochen, beispielsweise wird auch im Spruchgedicht von Hans Sachs am Ende vor drohender Armut bei einer verfrühten Eheschließung gewarnt. Fehlen die ökonomischen Mittel zur Haushaltsführung, zeigt sich dies in fehlendem Hausrat, aber auch darin, dass man nicht mehr für das Gesinde, die Miete und die Kindererziehung aufkommen kann. Diese Problematik ist für das Verständnis der Gedichte zentral, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

3. Hausrat als ökonomisches und symbolisches Kapital Der in den Gedichten dargestellte Hausrat hatte in der Vormoderne einen immensen materiellen Wert. Dies macht die Aufzählung von alltäglichen Gegenständen, die aus heutiger Sicht zunächst seltsam erscheint, nachvollziehbar. Hausrat war Vermögen und damit auch die materielle Basis des Haushalts. Er wurde als mobiles ökonomisches Kapital genutzt, als Pfand eingesetzt, vererbt und verschenkt. Hausrat war darüber hinaus Zeichen einer bestimmten Lebensführung und des sozialen Stands und damit symbolisches Kapital. Im Übrigen war er nicht an einen bestimmten Haushalt oder ein bestimmtes Haus gebunden. Zum Teil überstieg der Wert des Hausrats sogar den Wert des Hauses.33 Zwischen dem in den Gedichten vorgestellten Hausrat, der im Fall von Hans Sachs an die dreihundert stück umfasst, und der Ausstattung weniger wohlhabender Haushalte bestanden erhebliche Unterschiede.34 Die in den Hausratgedichten evozierten Szenarien sind entgegen mancher anderslautenden Interpretation nicht unbedingt realistisch. Vielmehr artikulierte sich in der Hausratdichtung „eine bestimmte Sicht auf eine sozial erwünschte oder gar geforderte Realität und den damit zusammenhängenden Status innerhalb der Gesellschaft.“35 Die Hausratgedichte zeigen also einen Idealhaushalt, dessen Ausstattung am Lebens­stil der stadtbürgerlichen Oberschichten orientiert ist.

zes Verzeichnis der germanischen Handschriften der Preußischen Staatsbibliothek, Bd. 2: Die Handschriften in Quartformat, Leipzig 1926, S. 76. 33 Vgl. das Beispiel des Frankfurter Ehepaares Johann und Elisabetha Bohl bei Schmidt-Funke, Städtische Wohnkulturen, S. 226. 34 Vgl. das Beispiel des Frankfurter Küfers Johann Klinger bei Schmidt-Funke, Städtische Wohnkulturen, S. 226, der als Witwer zur Miete wohnte und dessen Hausrat aus 90 Stücken „an alten Betten, Möbeln, Wäsche und Geschirr [bestand], dazu 27 Pfund Zinn sowie seine bürgerliche Rüstung und Waffen“. Hinzu kam Inventar, das Schmidt-Funke zu einer zeitgenössischen Vorstellung von einer „geziemenden Ausstattung eines Haushalts“ zählt. Diese wird auch in den Gedichten vorgeführt; hierzu zählen Lehnstühle, eine Nählade, Brottücher, Servietten und Krüge mit Zinndeckel sowie ein Handfassbrett, eine Art Kredenz. Diese Dinge waren nicht direkt zum Lebensunterhalt notwendig, aber doch Teil einer schichtspezifischen Lebensführung. 35 Busch/Kanz, Nürnberger Dichtung, S. 35. Vgl. zur Funktion der Gedichte als „Ausweis häuslicher Tugenden“ auch Schmidt-Funke, Städtische Wohnkulturen, S. 227.

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Doch weshalb wurde dieses Ideal vorgeführt? Ging es in den Gedichten nur um gut gemeinte didaktische Hinweise für junge heiratswillige Paare? Oder bedienten sie vielleicht auch die Träume und Sehnsüchte derjenigen, die wussten, dass sie sich einen derartig umfangreichen Hausrat niemals würden leisten können?36 Beides ist anzunehmen. Ein entscheidender Aspekt darf jedoch nicht übersehen werden: Die Darstellung des Hausrats und des Haushalts erfolgt in den Gedichten stets aus einer spezifisch männlichen Perspektive. Dies wird besonders deutlich, wenn man weitere zeitgenössische didaktische Formen betrachtet, in denen es ebenfalls um Haushalt und Hausrat ging. Ein Beispiel sind detailreich und üppig ausgestattete Puppenhäuser, die sich als „Idealhaushalte im Miniaturformat“37 bezeichnen lassen. Sie stellten vor allem Haushalte der stadtbürgerlichen Oberschicht dar, anhand derer der Nachwuchs lernen sollte, einen Haushalt zu führen und zu leiten. Wie diese Häuser benutzt wurden, zeigt ein Einblattdruck aus dem Jahr 1631, auf dem für den Besuch des Kinder Hauß der Anna Köferlin (gest. 1647) geworben wird. Sie bot dieses heute nicht mehr erhaltene Puppenhaus gegen ein Entgelt zur belehrenden Besichtigung für Kinder beiderlei Geschlechts an. An sie richtete sich die Aufforderung im Textteil des Druckes: So schaut nun an diß Kinder Hauß/ Ihr Kinder inn und aussen/ Schauts an und lernet bevorauß/ wie ihr einmal solt hausen/ Schaut wies alles ist ordiniert/ (Soß anders recht wol geziert/ Inn Kuch, Stuben und Kammer)/ Schaut was doch für ein Jammer/ Haußrath, ein wolbestelltes Hauß Fordert.38

Während sich das Puppenhaus als didaktisches Medium an beide Geschlechter richtet, adressieren die Hausratgedichte männliche Rezipienten. Auch das lyrische Ich, das in den Texten spricht, ist meist männlich. Die Hausratgedichte waren also Teil eines zeitgenössischen, spezifisch männlichen Diskurses über Ehe und Haushalt, bei dem geschlechtsspezifische Deutungen wichtig waren: Es sind Männer, die wie im Hausgeschirr über ihre Lage in der Ehe klagen, die wie im Neujahrsgruß der Frau Dinge schenken und die wie bei Hans Sachs oder Hans Folz den gesamten Hausrat vor der Ehe zusammenstellen und aufbringen müssen. Dies suggeriert, dass der materielle Bestand im Haushalt vom Mann des Hauses stammte und ihm gehörte. Allerdings entsprach das nicht zwangsläufig der zeitgenössischen Praxis. Möbel, Textilien und anderer Hausrat überstanden oft mehrere Generationen und gelangten

36

Vgl. u. a. Valentin Groebner, Ökonomie ohne Haus. Zum Wirtschaften armer Leute in Nürnberg am Ende des 15. Jahrhunderts, Göttingen 1993, S. 263, Anm. 2, der die Frage stellt, ob die Hausratgedichte deshalb so beliebt waren, „weil der Alltag des allergrößten Teils ihrer Leser und Zuhörer vom ständigen Zwang bestimmt ist, jeden Tag neue Lösungen für das Problem notwendiger, aber teurer und nicht beliebig erneuerbarer und wiederbeschaffbarer Alltagsgegenstände zu finden?“. 37 Heidi A. Müller, Ein Idealhaushalt im Miniaturformat. Die Nürnberger Puppenhäuser des 17. Jahrhunderts, Nürnberg 2006. 38 Abriß, Entwerffung vnd Erzehlung, was in dem, von Anna Köferlin zu Nürnberg, lang zusammen getragenem Kinder-Hauß […] anzutreffen […], [Nürnberg 1631].

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nicht alle durch Neukauf in neue Haushalte. Ein großer Teil des Hausrats wurde dabei auch von den Frauen in die Ehe eingebracht und ein Teil davon verblieb direkt in deren Besitz.39 Gerade bei den häufigen Wiederverheiratungen nach dem Tod eines Ehepartners oder einer Ehepartnerin wurde besonders auf den besitzrechtlichen Status der Gegenstände im Haus geachtet. So schildert Hermann Weinsberg, wie er nach seiner Hochzeit mit Weisgin Ripgin (1512–1557), einer Witwe mit zwei Kindern, den gesamten Hausrat des neuen gemeinsamen Haushalts inventarisieren ließ, um sich gegen etwaige unberechtigte Erbansprüche seines Stiefsohns oder dessen Vormünder abzusichern: wan ich das nit uffgericht hette; dan wiewol es vurhanden war, noch duchte min steifson Johan und sine vurmunder, es moisten mehe gutter und geltz gewest sin, und were diss inventarium nit da gewest, sei hetten mir noch eins ader zwei mail so vil geheischen.40

Die Gedichte hingegen suggerieren einen einheitlichen Haushalt, dessen Hausrat vom Mann erworben und besessen wird und ignorieren, dass viele der Gegenstände über mehrere Generationen weitergegeben und benutzt wurden.41 Die Verantwortung und Bedeutung, die den Ehemännern und Familienvätern in den Hausratgedichten zugesprochen wird, entspricht also nur zum Teil der zeitgenössischen Praxis. Allerdings – und damit lässt sich vielleicht erklären, warum diese Gedichte verfasst und rezipiert wurden – entsprach diese Verantwortung und Bedeutung genau dem, was die männlichen Vorsteher der Haushalte für sich reklamierten. Denn bei genauer Betrachtung geht es in den Gedichten nicht nur um die Position des männlichen Haushaltsvorstands, sondern auch um die Frage, welche Männer diese einnehmen durften bzw. sollten. Dies wird explizit im Spruchgedicht von Hans Sachs thematisiert. Neben der Postulierung ehelicher Geschlechterentwürfe ging es hier um soziale Distinktion zwischen zünftisch-bürgerlichen Meistern und den Ge-

39

Vgl. Signori, Paradiesehe, S. 64: „Aussteuer, Ehesteuer und Widerlegung bildeten vielerorts das ökonomische Fundament der Ehegemeinschaft, ein Fundament, das weder Mann noch Frau ohne die Zustimmung des andern verändern durften.“ 40 Weinsberg, LI-digital, fol. 201v. Zum Vorgehen vgl. ebd., fol. 200v–201r: Anno 1548 den 1. februarii uff den abent purificationis Mariae, als ich min hausfrauw bekomen und 2 kinder van ir und Paulo von Kaube vurhanden waren, hab ich dissen tag Gerhart Wolf und Johan van Kauf, beide miner steifkinder oemen, uff die Bach in miner hausfrauwen haus bescheiden und von innen begert, sei wolten sich der kinder vurmunderschaft beladen, so wolte ich die gutter vur innen inventriseren und uffschriben laissen, damit man kunftiglich wissen mog, wie vil ader wenich der gutter gewesen, zu kunftigen irtum so vil moglich zu verhuten, und als sei diss bewilliget hatten, hat min hausfrauwe und ich samender hant vur innen als kunftigen vurmundern und gezeugen in gegenwertigheit des notarien Petri Mans van Hulz in beisein Drutgin uff dem Steinwech, schetzerschen, und in zusehen des gansen gesindes, als nemlich Hoff Johans, Petri Brackerfelders, Joachim van Aich, Trin von Stammel und Feigin der megde ein glubwirdich inventarium aller gereider und farender gutter uffgericht. Vgl. zu derartigen Konflikten um Hausrat Simon Teuscher, Schulden, Abhängigkeiten und politische Kultur. Das Beispiel der Kleinstadt Thun im Spätmittelalter, in: Gabriela Signori (Hg.), Prekäre Ökonomien. Schulden in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2014, S. 243–262. 41 Vgl. auch Busch/Kanz, Nürnberger Dichtung, S. 38.

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sellen. Ohne eigenes Vermögen wurde letzteren abgesprochen, zu heiraten, einen Haushalt zu gründen und so als gesellschaftlich (und auch politisch) vollständig anerkannte Männer zu agieren.42 Der Hausrat, der tatsächlich das ökonomische Kapital des Ehepaares und damit eben auch der Ehefrauen darstellte, wird in den Gedichten als symbolisches Kapital des Hausvaters beansprucht. Sein Eigentum symbolisiert patriarchale Stärke und grenzt ihn sowohl gegenüber Frauen als auch gegenüber ökonomisch und damit auch sozial und politisch schlechter gestellten nicht verheirateten, nicht haushaltenden Männern ab. In umgekehrter Perspektive thematisieren die satirischen Klagen der Hausratgedichte des Typs B ebenfalls die verantwortungsvolle und bei fehlendem Vermögen prekäre Lage der Hausväter. In den Hausratgedichten wird also ein geschlechtsspezifisches Konzept des männlichen Haushaltsvorstands modelliert, ohne dass dieses zwangsläufig mit dem Begriff ‚Hausvater‘ bezeichnet werden musste. Explizit verwendet wird dieser Begriff aber von Hermann Weinsberg im eingangs erwähnten Liber Iuventutis.

4. Genealogie, Gruppenbildung und ständische Praxis in Familienbüchern Weinsberg versteht die Position des Hausvaters als eine Art überpersonales Amt, wenn er in der Vorrede zu seinem Liber Iuventutis seine künftigen Nachfolger damit anspricht, dass ir und ich und ich und ir eiz eins sin sullen und moissen als ein person, sovil das amt des hausfatters zu Weinsberch betrifft.43 Er beansprucht darüber hi­ naus, über die Nachfolgeregelungen dieses ‚Amts‘ zu verfügen. Diese Orientierung auf die männliche Nachfolge spiegelt sich häufig auch in den genealogischen Inhalten von Familienbüchern, die im 15. und 16. Jahrhundert zunehmend nach patrilinearen und agnatischen Mustern organisiert waren.44 Genealogie wurde „besonders vom 15. bis zum 17. Jahrhundert zu einem zentralen Regulativ zwischen gesellschaftlicher Kontinuität und Veränderung, indem sie Gedächtnis­

42

Vgl. u. a. Martha C. Howell, Gender in the Transition to Merchant Capitalism, in: The Oxford Handbook of Women and Gender in Medieval Europe, hg. v. Judith M. Bennett/Ruth Mazo Karras, Oxford/New York 2013, S. 561–576. 43 Weinsberg, LI-digital, fol. 6v. 44 Vgl. zum genealogischen Bewusstsein in ganz unterschiedlichen Formen der familiären Überlieferung Europas Eric Ketelaar, The Genealogical Gaze. Family Identities and Family Archives in the Fourteenth to Seventeenth Centuries, in: Libraries & the Cultural Record 44 (2009), S. 9–28; außerdem den Überblick bei Tomaszewski, Familienbücher, S. 5, 16–24. Zur besonders repräsentativen Form sog. Ehrenbücher vgl. Gregor Rohmann, Das Ehrenbuch der Fugger, Augsburg 2004; Hartmut Bock, Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance – Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat, Frankfurt a. M. 2001; Christoph Emmendörffer/Helmut Zäh (Hg.), Bürgermacht & Bücherpracht. Augsburger Ehren- und Familienbücher der Renaissance, Luzern 2011.

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bildung am sozialen System der Verwandtschaft betrieb.“45 Dies spiegelt sich auch in Weinsbergs Vorrede, wenn er schreibt, dass aus den Verwandtschaftsbeziehungen, die er in seinem Gedenkbuch zusammengetragen hat, lichtlich ein genealogei und geburtzregister zusammengestellt werden könne, uff das man wissen und spurren moge, wer von minem fatter Christian von Weinsberch ader von sinen susteren Drutgin und Mergen geboren sei, wer ein agnat und cognat sei, wer elich ader un­ elich sei, uff das mine executoren und frunde daraus verstain mogen, wen man nach graid und ordnung zu einem hausfatter zu Weinsberch erwelen sol, uff das gein unordnung ader ubersclag der grade geschehe, das die agnaten und mansstam den vurgank hab vur allen anderen cognaten.46

Besonders deutlich wird die Relevanz des Haushalts in genealogischen Darstellungen der Basler Familie Ryff aus der Zeit um 1600. In einem Familienbuch des späteren Professors und Rektors der Basler Universität Peter Ryff (1552–1629) und in einem Stammbuch bzw. Album amicorum des Kaufmanns und Ratsherrn Andreas Ryff (1550–1603) werden in den Stammtafeln nicht die Geburtsdaten der einzelnen männlichen Vorfahren verzeichnet, sondern stattdessen, ab wann diese in der Haushaltung lebten, das heißt verheiratet waren und einen eigenen Haushalt führten. Dies war Voraussetzung für die legitime Weiterführung der Familie wie auch für die Übernahme von politischen Ämtern in Zunft und Rat.47 Hier zeigt sich, dass die Bücher vorrangig der Abgrenzung dienten, indem die eigene Verwandtschaftsgruppe häufig unter Marginalisierung der weiblichen Mitglieder definiert und konstruiert und damit eine besondere Stellung der Gruppe innerhalb der Stadt betont und legitimiert wurde. Das Anlegen und Führen von Familienbüchern war so Teil einer ständischen Praxis, deren Ziel die Herstellung von Unterschieden und die Abgrenzung von anderen Statusgruppen wie auch von anderen Familien war.48 Außerdem dienten die Bücher der Inszenierung und Positionierung der Hausväter, die in den Texten, aber auch in der patrilinearen Logik der Stammtafeln und heraldischen Darstellungen immer wieder hervorgehoben werden. Mit dem von ihnen zusammengestellten Wissen verbanden die Autoren und Kompilatoren von

45

Kilian Heck, Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit, München/Berlin 2002, S. 31. Genealogische Abstammung wurde zunehmend auch politisch bedeutsam; vgl. Simon Teuscher, Verwandtschaft in der Vormoderne. Zur politischen Karriere eines Beziehungskonzepts, in: Elizabeth Harding/Michael Hecht (Hg.), Die Ahnenprobe in der Vormoderne. Selektion, Initiation, Repräsentation, Münster 2011, S. 85–106; David Warren Sabean/Jon Mathieu/Simon Teuscher (Hg.), Kinship in Europe. Approaches to Longterm Development (1300–1900), New York/Oxford 2007. 46 Weinsberg, LI-digital, fol.  3r–3v. Das Buch richte sich daher an Weinsbergs broder, suster, neifen, nichten und ire kinder […] die dan pillich ein lust und zuflucht zu dissem boich sullen haben, dieweil darin von in selbst, iren eltern und kinderen und allerlei bericht fonden wirt, ebd. 47 Vgl. Tomaszewski, Familienbücher, S. 94–96, mit weiteren Angaben. 48 Weinsberg spricht von merer specificerung der agnation und cognation des haus Weinsberch, Weinsberg, LI-digital, fol. 3v.

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Familienbüchern häufig Forderungen an ihre Nachkommen, die Bücher gut aufzubewahren, geheim zu halten, nur bestimmte Inhalte weiterzugeben und die Bücher nur ausgewählten Personen zu zeigen. So heißt es in Hermann Weinsbergs Vorrede: Darumb will ich fleislich begert haben, ir wilt uch heirinnen bescheidentlich als ein sorgfeltiger hausfatter halten und fleislich bedenken und bewaren diss boich in gutter gewisser hutt, das es nit jederman under die hende bekommt, und verzellet und offenbaret allein daraus, was raitsam und nutz ist zu wissen und mit uch sin mag; was aber nit raitsam, dan unnutzlich ist und widder uch bedudet mag werden, das behalt bei uch still in geheim und hailbar.49

Auch der bereits erwähnte Peter Ryff aus Basel vermerkte, dass sein Familienbuch nicht veräußert, sondern nur an Nachkommen weitergegeben und dessen Inhalt geheim gehalten werden sollte: NB. Dises buch der Basler chronic soll iederzeit und alwägen by dem eltisten miner shönen einem verbliben und getrewlichen aufgehalten werden, oder sonst einem mines geschlechts der Ryffen, auch niemanden lichtlichen gezeiget oder auszgelichen werden, damit es nicht dahinden verblibe, wil in disem buch vil sonderbare sachen aufgezeichnet sindt, welche iederzyt häliglichen gehalten sindt worden, so man in getruckten cronicen nicht wöllen offenbaren. Doct. Petr. Ryff.50

Mit der Weitergabe an die Söhne zeigt sich hier wiederum eine patrilineare und pa­ triarchale Ideologie, die in der Praxis jedoch häufig unterlaufen werden musste, weil beispielsweise, wie im Fall von Peter Ryff, keine Söhne vorhanden waren und stattdessen die Tochter das Buch erbte.51 Über die patrilinear strukturierte Verwandtschaftskonstruktion sowie die Herausstellung der besonderen Bedeutung eines männlichen Familienoberhauptes als der Person, die die Bücher erstellen, aufbewahren, weiterführen und weitergeben sollte, wurden durch Familienbücher standes- und geschlechtsspezifische Modelle reproduziert und Identitäten zugewiesen. Die Nachkommen auf Geheimhaltung und Weiterführung zu verpflichten, folgte dabei ganz der Logik einer zeitgenössisch gängigen Ökonomie der Schulden und Verpflichtungen.52 Dabei muss man aller49

Weinsberg, LI-digital, fol. 5v–6r. Basel, Universitätsbibliothek, Ms. A λ II 18, Deckel innen mit Geheimhaltungsgebot; vgl. auch Basler Chroniken, hg. v. der Historischen und Antiquarischen Gesellschaft Basel, Bd. 1, Leipzig 1872, S. 16. 51 Vgl. Tomaszewski, Familienbücher, S. 87. Auch Hermann Weinsberg hatte keine Söhne; Rohmann, Lügner, S. 45. Vermutlich deshalb thematisierte er die Nachfolgeregelung für den Hausvater besonders ausführlich; vgl. Birgit Studt, Der Hausvater. Haus und Gedächtnis bei Hermann von Weinsberg, in: RhVjbll 61 (1997), S. 135–160, hier S. 141; Weinsberg, LI-digital, fol. 9v–10r. Vgl. auch Klaus Graf, Fürstliche Erinnerungskultur. Eine Skizze zum neuen Modell des Gedenkens in Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert, in: Chantal Grell/Jürgen Voss/Werner Paravicini (Hg.), Les princes et l‘histoire du XIVe au XVIIIe siècle, Bonn 1998, S. 1–11, hier S. 6: „Güter und Werte sollten auf diese Weise – einer Stiftung vergleichbar – verewigt und den Kräften des Wandels entzogen werden.“ Zu Weinsbergs Bemühungen um eine Familienstiftung vgl. Studt, Hausvater, S. 141f. 52 Vgl. Craig Muldrew, The Economy of Obligation. The Culture of Credit and Social Relations in Early Modern England, Basingstoke 1998; vgl. dazu Gabriele Jancke/Daniel Schläppi, Einleitung: Ressourcen und eine Ökonomie sozialer Beziehungen, in: Dies. (Hg.), Die Ökonomie sozialer Be50

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dings von einem „relativen Charakter dieser Geheimhaltungsabsicht“53 sprechen. Durch den öffentlichen Charakter vormoderner Haushalte erreichten die Bücher durchaus eine gewisse, wenngleich durch den Hausvater kontrollierte Öffentlichkeit. Sie wurden nicht nur gezeigt, sondern ausgeliehen und teilweise kopiert.54 Familienbücher wurden zudem als Medien im Sinne symbolischer Kommunikation verwendet, wobei ihr Inhalt dabei zweitrangig war.55 Dementsprechend können die Gebote zur Geheimhaltung und zur Weitergabe an die Söhne als Inszenierung der eigenen Position als Hausvater gesehen werden, wodurch die Kontrolle von Wissen beansprucht und kommuniziert wurde. Indem der Hausvater den Zugang zu den Büchern kontrollierte, konstituierte schon allein die damit verbundene Teilhabe an der Kommunikation Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Personen, die Zugang zum Medium erhielten, wurden Teil einer Kommunikationsgemeinschaft, womit zugleich auch soziale Zuschreibungen verbunden waren.56 Dies bedeutete gleichzeitig Ausschluss anderer, die keinen Zugang erhielten. Im Spannungsfeld zwischen Offenbaren und Verbergen konnten so Identitäten und Zugehörigkeiten konstituiert und zugewiesen werden. Familienbücher markierten also sowohl durch die in ihnen enthaltenen inhaltlichen Informationen als auch durch die mit ihnen verbundenen kommunikativen Praktiken Differenz. Zugleich können sie als Medien einer ständischen Praxis beschrieben werden, bei der gesellschaftlicher Status auf Basis von Abstammung, Geschlecht und kommunikativer Teilhabe hergestellt werden konnte.57

ziehungen. Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden, Stuttgart 2015, S. 7–33, hier S. 12: „Der Sinn dieses Handelns besteht darin, eine Verpflichtung zu erzeugen und sie zu erhalten – eine Verpflichtung, die man selbst übernimmt oder in die andere einem selbst gegenüber eintreten.“ Dabei gehe es nicht darum, diese Verpflichtung bald einzulösen wie bei einem Tausch, sondern um das Offenhalten der gegenseitigen Verpflichtung, um dadurch Beziehungen zu erhalten. 53 Gabriele Jancke, Autobiographie als soziale Praxis. Beziehungskonzepte in Selbstzeugnissen des 15. und 16. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Köln/Weimar/Wien 2002, S. 200. 54 Vgl. Tomaszewski, Familienbücher, S. 87; außerdem Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: ZHF 38 (2011), S. 621–664; Ders., Das Haus: zwischen öffentlicher Zugänglichkeit und geschützter Privatheit (16.–18. Jahrhundert), in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 183–205. 55 In Anlehnung an James W. Carey, Communication as Culture. Essays on Media and Society, Boston 1989, S. 18, lässt sich hier von Kommunikation als Ritual sprechen. 56 Zur Gruppenbildung durch Briefkommunikation bei Humanisten und Gelehrten vgl. Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen 2006; Michael Kempe, Gelehrte Korrespondenzen. Frühneuzeitliche Wissenschaftskultur im Medium postalischer Kommunikation, in: Fabio Crivellari u. a. (Hg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz 2004, S.  407–429. Zu Kommunikationskreisen und „interpretative communities“ bei städtischer Geschichtsschreibung vgl. Lisa Demets/Jan Dumolyn, Urban Chronicle Writing in Late Medieval Flanders. The Case of Bruges during the Flemish Revolt of 1482–1490, in: Urban History 43/1 (2016), S. 28–45. 57 Vgl. Tomaszewski, Familienbücher, Kap. III.

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5. Hausväter und die Anderen ‚Doing difference‘ vom 14. bis zum 17. Jahrhundert Familienbücher und Hausratgedichte als zeitlich parallele Phänomene waren Teil von Diskursen und Praktiken, in denen städtische Ehemänner der Mittel- und Oberschichten seit dem 14. Jahrhundert ihre eigene Stellung als Hausväter und den Status der eigenen Familie konstruierten, postulierten und reproduzierten. Das Anlegen und Weiterführen von Familienbüchern war eine ständische Praxis zur Abgrenzung von Anderen und zur Reproduktion von gesellschaftlichen Strukturen. Die Hausratgedichte modellieren ein bestimmtes Männlichkeitsideal und sind dabei aber durchaus ambivalent. Einige enthalten fast im Sinne von Haushaltslehren klare didaktische Hinweise (Typ A), andere wenden sich mit satirischen Klagen von der Hausvaterrolle ab (Typ B). Die mit diesen unterschiedlichen Quellen verbundenen Praktiken lassen sich mit dem Begriff des ‚doing difference‘ beschreiben, da sie letztlich auf die Herstellung sozialer Unterschiede zielten. Dabei standen unterschiedliche Kategorien wie Geschlecht, ökonomischer Status, Verwandtschaft und Familienstand in wechselseitiger Beziehung.58 Mit dem spezifisch männlichen Entwurf des Hausvaters wurden soziale Unterschiede in Abgrenzung von anderen weiblich wie männlich konnotierten Zuschreibungen hergestellt. Hier wird das „Nebeneinander verschiedener Männlichkeiten, die – im Unterschied zur ‚Postmoderne‘ – nicht individuell wählbar, sondern an Gruppen- (Standes- usw.) Zugehörigkeiten gebunden waren“ deutlich.59 „Patriarchalismus“ war zwar eine „Basis-Ideologie der frühneuzeitlichen Gesellschaft“,60 zugleich war Geschlecht jedoch nur eine Form gesellschaftlicher Zuschreibungen und dabei immer abhängig von Stand, Schicht und Status. Gerade weil Ungleichheit in der Vormoderne als zentraler Wert akzeptiert und ständig bewusst reproduziert wurde, muss besonders auf Überlappungen und Verschränkungen verschiedener Formen von Ungleichheit geachtet werden. Die Kategorie Geschlecht sollte daher in den Worten Claudia Ulbrichs „immer in der Verwobenheit mit anderen Kategorien, theoretisch gesprochen als ‚mehrfachrelationale Kategorie‘

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Vgl. West/Fenstermaker, Doing Difference, S. 9: „We argued that doing gender involves a complex of perceptual, interactional, and micropolitical activities that cast particular pursuits as expressions of manly and womanly ‚natures‘. […] We suggested that examining how gender is accomplished could reveal the mechanisms by which power is exercised and inequality is produced“. Da neben der Kategorie Gender weitere Formen von Ungleichheit ebenso mitberücksichtigt werden müssen, fordern die Autorinnen, die Analyse zu erweitern und „to consider explicitly the relationships among gender, race, and class, and to reconceptualize ‚difference‘ as an ongoing interactional accomplishment“. 59 Thomas Kühne, Rezension zu: Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450– 2000), Wien 2003, in: H-Soz-Kult 17.02.2004, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/­ rezbuecher-3127 [Stand: 03.01.2021]. 60 Heinrich R. Schmidt, Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Martin Dinges (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen 1998, S. 213–236, hier S. 213.

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angewendet“ werden, um „Ungleichheit in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit unter Einbeziehung mehrerer Ungleichheitskategorien und unterschiedlicher Untersuchungsebenen zu erforschen“.61 In einer Episode in Weinsbergs Liber Iuventutis wird deutlich, welche Auswirkungen die Verwobenheit von sozialem Status und Geschlecht hatte. Weinsberg hatte im Alter von 27 Jahren ein voreheliches sexuelles Verhältnis mit Greitgin von Olup, der Dienstmagd seiner Mutter, aus dem ein Kind hervorging.62 Als drei Jahre später Weinsbergs Hochzeit mit Weisgin Ripgin bevorstand, versuchten Greitgin und ihr Vater Johan von Olup die Hochzeit mit dem Argument zu verhindern, Weinsberg und Greitgin seien bereits verlobt. Letztlich entzog sich Weinsberg jedoch diesen Ansprüchen und Forderungen und die Hochzeit fand statt.63 Dass Greitgin mit ihrem unehelichen Kind alleingelassen wurde, hing dabei nicht nur von ihrem Geschlecht ab, sondern auch von ihrer sozialen Stellung als unverheirateter Dienstmagd. Die Abgrenzung der Hausväter von den Anderen war also mehrfachrelational. In Abgrenzung nicht nur zu Frauen, sondern auch zu anderen Männern wurde mit dem Hausvater ein patriarchaler Entwurf als hegemoniale Form von Männlichkeit postuliert.64 Patriarchale Männlichkeit, die mit gesellschaftlicher Macht und politischer Herrschaft auch über andere Männer einherging, konnte letztlich nur von

61

Claudia Ulbrich, Ständische Ungleichheit und Geschlechterforschung, in: Marian Füssel/Thomas Weller (Hg.), Soziale Ungleichheit und ständische Gesellschaft. Theorien und Debatten in der Frühneuzeitforschung (Zeitsprünge 15/1), Frankfurt a. M. 2011, S. 85–104, hier S. 194. Vgl. auch Andrea Griesebner, Intersektionalität versus Interdependenz und Relationalität, in: EWE. Erwägen – Wissen – Ethik 24/3 (2013), S. 381–383, die ‚Geschlecht‘ als interdependente Kategorie fasst. 62 Weinsberg, LI-digital, fol. 166v: also das sich duck zutroge, das mir so vil malen uff der Bach und under dem raithaus allein waren. Darzwischen hat der teufel sin unkrut gesehet, das mir uns verselligten und leib gewonnen, dardurch ich folgens meine eltern hoichlich verzornte und mir vil unrauwen und unwillens, auch schade daruis untstunde, das ich oft beclagt und beschrouwen hab. 63 Weinsberg, LI-digital, fol. 197vf.: Des fritag quam Weisgin ind ich im dom samen, sei schenkte mir etwas und ich ir, do sagte sei mir, wie sei verstanden hette van m. Johan van Olup, schroder, der Greten fatter, damit ich das kint hatte, sei wolten mich verpeiten laissen und mich uis boisheit verschemen. […] Den saterstach sprach min fatter den pastoir s. Jacob an und verzalte im die sach mit beger, er wolte uns den sontag morgens seir fro samen geben; do sagte der pastor, es weren m. Johan Olup und Gretgin, sin dochter, bei im gewest, im verpotten, er sult uns nit samen geben, dan ich het mich mit ir verlofft. Ich quam zum pastoir, sagt nein, das weir nit war. Der pastoir gink den abent zu dem Olup und siner dochter und wolt sei underweisen, Olup stunde hart druff, aber die tochter durft das bei irem eide nit sagen, aber Olup wolt sich vam pastoir nit berichten laissen. Doch gink min fatter zu im, nam einen gutten nachpar mit, handlet so lank mit im, das er sich sagen leis und vam verbade affstunde. 64 Vgl. Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2 2000, S. 98, der hegemoniale Männlichkeit als eine „derzeitig akzeptierte Strategie“ definiert, die sich je nach Kontextbedingungen ändern kann.

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vermögenden und verheirateten Männern beansprucht werden.65 Außerdem sollten diese Männer, zumindest theoretisch, gewissen Erwartungen etwa hinsichtlich moralischer Integrität, ökonomischer Kompetenz oder Führungsstärke entsprechen.66 Geschlechterentwürfe, Ehe und Verwandtschaftskonzepte waren seit dem späten Mittelalter deshalb so wichtige Themen, weil sie sich in dieser Phase in Wechselwirkung mit anderen gesellschaftlichen Wandlungsprozessen veränderten. Auch die Reformation zu Beginn des 16. Jahrhunderts war ein Teil dieser Veränderungen und kann nicht als deren Ursache gesehen werden.67 Vielmehr sind schon seit dem 11./12. Jahrhundert langfristige Prozesse beobachtbar, die Heide Wunder zufolge zu einer „Familiarisierung von Arbeit und Leben“ führten. Hintergrund waren mit der Verlagerung von Produktion und Handel in kleinere Haushalte der Kernfamilie sowie der beruflichen Spezialisierung und Lohnarbeit zwei Entwicklungstendenzen, die eng an die Entwicklung der Städte und der verdichteten dörflichen Siedlungen gebunden waren. „Das Ehe- und Arbeitspaar bildete den Kern der Neuorganisation des Wirtschaftens in selbstverantwortlichen Haushalten von Handwerkern, Kaufleuten und Bauern, aber auch den Kern für Familie als allgemeiner Lebensform dieser sozialen Gruppen.“68 In diesem Zusammenhang des Wandels sozialer Organisationsformen wurde die Ehe nun in verschiedenen Gattungen volkssprachlicher Literatur im Hinblick auf eine moralische und ordnungsgemäße Lebensführung thematisiert.69 Für den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Strukturwandel in den Bereichen Herrschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur war also die „Konstellation von Ehepaar – Familienwirtschaft – Haushalt – Gemeinde“ von besonderer Bedeutung.70 Haushalte, die eng an die Institution der Ehe geknüpft waren, verkörperten nicht nur die Ordnung der Geschlechter, sondern bildeten auch „die Basis für neue Formen 65

Vgl. Susan D. Amussen, The Contradictions of Patriarchy in Early Modern England, in: Gender & History 30/2 (2018), S. 343–353, hier S. 350: „patriarchy provided authority to some men over not just women, but other men: only married men with property could fully participate in patriarchy and achieve […] ‚patriarchal manhood‘“. 66 Vgl. Amussen, Contradictions, S. 346; Schmidt, Hausväter, S. 218. 67 Vgl. Claudia Opitz-Belakhal, „Krise der Männlichkeit“ – ein nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte?, in: L’Homme 19/2 (2008), S.  31–50, hier S.  42–49. Vgl. zur Reformation Bernhard Jussen/Craig Koslofsky (Hg.), Kulturelle Reformation. Sinnformationen im Umbruch 1400–1600, Göttingen 1999. 68 Wunder, Er ist die Sonn’, S. 96f.; vgl. ebd.: „Die ‚Emanzipation‘ aus diesen [grundherrlichen] Abhängigkeiten gelang nicht dem einzelnen, sondern nur dem Ehe- und Arbeitspaar. Wem dies nicht glückte, der mußte sich weiterhin zeitweise oder lebenslang in den Schutz und damit in die Abhängigkeit eines anderen Haushalts begeben, weil es einen Staat, der den einzelnen hätte Schutz garantieren können, noch nicht gab.“ 69 Vgl. Repertorium deutschsprachiger Ehelehren, S.  VII; außerdem Albrecht Classen, Der Liebesund Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17.  Jahrhundert, Münster 2005. In moraltheologischen Schriften beispielsweise sicherten sich angesichts einer immer komplexer werdenden Gesellschaft die männlichen Autoren die Definitionsmacht über Ehe und Familie; vgl. Manuel Braun, Disziplinierung durch disziplinlose Texte? Der moraltheologische Ehediskurs und ein Leitparadigma der Frühneuzeitforschung, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit 31 (2002), S. 413–468, hier S. 417f. 70 Vgl. Wunder, Er ist die Sonn’, S. 264.

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politischer Herrschaft, die sich in den gemeindlichen – ‚republikanischen‘ – Organisationsformen in Stadt und Dorf ausprägten.“71 Ehe und Haushalt waren politisch bedeutsam.72 Unter der Voraussetzung eines gewissen Vermögens und des Status als verheirateter Mann mit eigenem Haushalt konnten Kaufmänner und zunehmend auch Handwerker politische Ämter im städtischen Rat erringen. Der ideale Hausvater stammte also aus der Mittel- und Oberschicht, was sich auch in den vorgestellten Beispielen zeigt, wenn armen Gesellen von einer Heirat abgeraten wird.73 Dass im gleichen Zeitraum mit der Einführung der Kategorie ‚Hausarme‘ eine weitere Form des ‚doing difference‘ zu beobachten ist, ist kein Zufall. Hausarme führten einen eigenen Haushalt, arbeiteten und waren ohne eigenes Verschulden von Armut bedroht.74 Hintergrund war, dass infolge zunehmender Lohnarbeit nun Männer und Frauen auch ohne Grund- und Hausbesitz Kapital erwirtschaften konnten, um zu heiraten und einen Haushalt zu gründen.75 Statt Grund- und Hausbesitz bildete der Hausrat die materielle Basis des Haushalts, was in einigen Fällen wohl tatsächlich zu dünn zum Haushalten war. Die sogenannten Hausarmen wurden nun Objekt spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher städtischer Armenpolitik und Fürsorge. Für sie stiftete beispielsweise Jakob Fugger (1459–1525) die als Fuggerei bekannte Augsburger Wohnsiedlung, die noch heute existiert. Gerade in den Hausratgedichten zeigt sich ein Bewusstsein für derartige ökonomische Risiken der Haushaltsgründung, sei es in den Ratschlägen an heiratswillige Männer (Typ A) oder in den satirischen Klagen über mangelnden Hausrat (Typ B). Zugleich sind sie aber auch eine Reflexion (und zum Teil satirische Infragestellung) der mehrfachrelationalen Rollenerwartungen an die männlichen Haushaltsvorsteher.76 Allerdings wurden 71

Wunder, Er ist die Sonn’, S. 264. Vgl. Howell, Gender. 73 Vgl. Stefan Weiss, Otto Brunner und das Ganze Haus oder: Die zwei Arten der Wirtschaftsgeschichte, in: HZ 272 (2001), S. 335–369. Zur gleichen Zeit lassen sich aber auch unter Gesellen geschlechtsspezifische Abgrenzungsstrategien und Identitätsentwürfe beobachten. 74 Vgl. Ernst Schubert, „Hausarme Leute“, „starke Bettler“. Einschränkungen und Umformungen des Almosengedankens um 1400 und um 1500, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Armut im Mittelalter, Ostfildern 2004, S. 283–347; Benjamin Scheller, Memoria an der Zeitwende. Die Stiftungen Jakob Fuggers des Reichen vor und während der Reformation (ca. 1505–1555), Berlin 2004, S. 136; Frank Rexroth, Armenhäuser – eine neue Institution der sozialen Fürsorge im späten Mittelalter, in: Michael Matheus (Hg.), Funktions- und Strukturwandel spätmittelalterlicher Hospitäler im Vergleich, Stuttgart 2005, S. 1–14. 75 Vgl. Wunder, Er ist die Sonn’, S. 104–106. 76 Vgl. zur ebenfalls ambivalenten Thematisierung von Ehe, Hochzeit und Sexualität in Fastnachtsspielen des 15. Jahrhunderts Beatrice von Lüpke, Nürnberger Fastnachtspiele und städtische Ordnung, Tübingen 2017, insbes. S. 180, 220. Dies deutet auch auf Widersprüche im patriarchalen System der Zeit hin, das für beide Geschlechter Rollenerwartungen und Standards aufstellte, die nie vollständig eingehalten werden konnten und sich teilweise auch widersprachen und darüber hinaus immer wieder neu diskursiv ausgehandelt werden mussten; vgl. Amussen, Contradictions, S. 345: „patriarchy produces multiple demands that are in tension with each other. It can also be in tension with the demands of the economic and political systems with which it interacted“; Schmidt, Hausväter, S. 219: „Unterwerfung des Mannes unter das Bild des rechten Hausvaters“, der gut haushalten kann als „‚zweite Schneide‘ des Patriarchalismus“. Nach Opitz-Belakhal, Krise, S. 39, wäre „ein zentraler Grund für den allseits beobachtbaren massiven Patriarchalismus der frühneuzeitlichen Gesellschaften die höchst fragile politische Struktur.“ 72

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durch diese veränderte Form der Wahrnehmung von Armut und mit der Einteilung in unverschuldete und verschuldete Arme ökonomische Ungleichheiten sozial verstärkt und zum Teil erst hergestellt.

6. Fazit und Ausblick Mit Familienbüchern und Hausratgedichten wurden Normen und Ideale einer standesgemäßen geschlechtsspezifischen Lebensführung konstruiert und reproduziert. Dabei wurden soziale Unterschiede in Wechselwirkung mit unterschiedlichen Zuschreibungen und Merkmalen wie Geschlecht, Vermögen, Familienstand oder Verwandtschaft unter Rückgriff auf das Modell des Hausvaters hergestellt. Im Zusammenhang mit fundamentalen und langfristigen Wandlungsprozessen zwischen dem 14. und 17.  Jahrhundert ging es dabei um die Durchsetzung, den Erhalt und die Legitimation von Machtansprüchen vermögender stadtbürgerlicher Männer. Der Haushalt spielte dabei als grundlegende wirtschaftliche und soziale Einheit eine zentrale Rolle. Allerdings darf man aus derartigen normativen, moralisierenden, idealisierenden oder gar – wie bei einigen Hausratgedichten – parodierenden Quellen nicht auf tatsächliche Verhältnisse im ‚ganzen Haus‘ unter der Kontrolle der Hausväter schließen.77 Zahlreiche Forschungen bestätigen vielmehr den durchlässigen und offenen Charakter vormoderner Haushalte,78 wobei hinsichtlich des Komplexes ‚Ehe, Haus, Familie‘ noch zahlreiche Fragen offen sind. Dies betrifft einerseits das Verhältnis von Wandel und Kontinuität zwischen Vormoderne und Moderne, aber auch ganz grundsätzliche begriffsgeschichtliche Aspekte.79

77

Vgl. Andreas Gestrich, Art. „Haushalt“, in: Enzyklopädie der Neuzeit Online, hg. v. Friedrich Jaeger, 2014, http://dx.doi.org/10.1163/2352-0248_edn_a1609000 [Stand: 03.01.2021]. Zum Stand der Forschung vgl. zusammenfassend Philip Hahn, Trends der deutschsprachigen historischen Forschung nach 1945: Vom ‚ganzen Haus‘ zum ‚offenen Haus‘, in: Eibach/Schmidt-Voges (Hg.), Haus, S. 47–63. Zur Kritik am Konzept des ‚ganzen Hauses‘ vgl. Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des ‚Ganzen Hauses‘, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 88–98; Valentin Groebner, Außer Haus. Otto Brunner und die ‚alteuropäische Ökonomik‘, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994) S. 69–80; Weiss, Otto Brunner. 78 Vgl. hierzu das Modell des ‚offenen Hauses‘; Eibach, Das offene Haus. Die auf einer breiten Datenbasis gewonnenen Ergebnisse des von Maria Ågren geleiteten Forschungsprojekts „Gender and Work“ der Universität Uppsala bestätigen dieses Modell, http://gaw.hist.uu.se/what-is-gaw/ research+project/­resultat/ [Stand: 03.01.2021]. 79 Vgl. Inken Schmidt-Voges, Strategien und Inszenierungen häuslichen Lebens zwischen 1750 und 1820. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Ehe – Haus – Familie. Soziale Institutionen im Wandel 1750– 1850, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 9–27, hier S. 16, 24; Dies., Das Haus in der Vormoderne, in: Eibach/Schmidt-Voges (Hg.), Haus, S. 1–18, hier S. 17f.

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Wenn hegemoniale Männlichkeitsentwürfe immer nur innerhalb spezifischer „communication communities“ zirkulieren sowie angeeignet und akzeptiert werden,80 stellt sich die Frage nach dem Charakter dieser Kommunikationsgemeinschaften auch für die hier untersuchten Phänomene. Bei Familienbüchern zählen hierzu sicherlich der Kreis der Bekannten und Verwandten, Teile der städtischen Eliten, aber auch Auswärtige.81 Bei den Hausratgedichten gibt es Anzeichen für eine Rezeption im Umkreis des Jahreswechsels und der Fastnacht ebenso wie in Form von Einblattdrucken als Wandschmuck. Man müsste aber in beiden Fällen noch stärker zwischen sozialen Trägerschichten und konkreten Kommunikationssituationen unterscheiden, was allerdings oft schwer zu rekonstruieren ist. Schließlich ließe sich fragen, inwiefern und in welchen Situationen geschlechterabhängige Identitätsentwürfe konkret angeeignet wurden.82 Hinsichtlich des Konzeptes der Hausväter wäre dabei interessant, in welchen Lebensphasen, aber auch in welchen kurzfristigen Kontexten die Akteure unter Umständen auf alternative Männlichkeitsentwürfe zurückgriffen. Hierfür ließen sich Hermann Weinsbergs Gedenkbücher mit ihren zahlreichen autobiographischen Aufzeichnungen und Selbstinszenierungen ebenso gut heranziehen wie die bildlichen Personendarstellungen in Ehren- und Kostümbüchern.83

80

Vgl. Griffin, Hegemonic Masculinity, S. 388, der auf „communication communities“ hinweist, „in which particular models of masculinity circulate and are invested“. 81 Vgl. Tomaszewski, Familienbücher, S. 88. 82 Griffin, Hegemonic Masculinity, S. 388, schlägt vor, die Ebene der kulturellen Normen und Ideale stärker mit sozialen Faktoren zu verbinden und fordert, „that historians of masculinity ought to direct their attention towards the historically specific opportunities, mechanisms or techniques that enabled individuals to identify themselves with those normative models. In other words, what historically specific solutions were available to men that allowed them to close the gap between the cultural ideal and the practice of masculinity?“. 83 Vgl. die Analyse des sogenannten Kostümbuchs des Matthäus Schwarz bei Ulinka Rublack, Dressing up. Cultural Identity in Renaissance Europe, Oxford 2010, S. 33–80.

geschriben und gemailt SYMBOLISIERUNGSFORMEN VON ICH- UND WIR-IDENTITÄT BEI HERMANN (VON) WEINSBERG (1518–1597) Peter Glasner

1. Einleitung Vor nunmehr über dreihundert Jahren wurde der Kölner Ratsherr und Vielschreiber Hermann von Weinsberg geboren1 – seines facettenreichen Œuvres wegen neuerlich Grund genug für Tagungen und Publikationen, die abermals ihre Aufmerksamkeit auf ein Manuskriptkonvolut richten, dessen vollständige Edition oder gar Digitalisierung bis heute noch ein Desiderat darstellt.2 „Seit den 1550er Jahren arbeitete“ 1

Zu Weinsbergs Bildung und Ämtern vgl. Wolfgang Herborn, Hermann von Weinsberg (1518–1597) (1988), in: Manfred Groten (Hg.), Hermann Weinsberg (1518–1597) – Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Köln 2005, S. 15–33, hier S. 19–23; Wolfgang Schmid, Bürgerliche Lebenswelt und Renaissance-Kultur am Rhein im Spiegel der Aufzeichnungen des Hermann Weinsberg aus Köln, in: Guido von Büren u. a. (Hg.), Renaissance am Rhein, Ostfildern 2010, S. 120–129, hier S. 120f.; zu seiner Studentenzeit vgl. Wolfgang Herborn, „O alte Burschenherrlichkeit“. Hermann Weinsberg als Student, in: Groten, Weinsberg, S. 79–114; zu seiner Ratslaufbahn vgl. Alexandra Vullo, „... ich wurde zu Coln burgmeister werden ...“. Die Aufzeichnungen des Kölner Ratsherren Hermann Weinsberg als Dokument einer Ratslaufbahn im 16. Jahrhundert, in: Groten, Weinsberg, S. 115–230; Horst Bursch, Der Kölner Ratsherr und Chronist Hermann von Weinsberg (16. Jahrhundert) als Lehens­ inhaber des Wolfsgutes zu Schwarzmaar, in: Weilerswister Heimatblätter 47 (2018), S. 3–15. Zur sozialund kulturgeschichtlichen Perspektive vgl. Wolfgang Herborn, Das Lachen im 16. Jahrhundert. Die Chronik des Hermann von Weinsberg als Quelle für eine Gemütsäußerung, in: RhWestfZVkd 40 (1995), S. 9–30; Ders., Die Reisen und Fahrten des Hermann von Weinsberg. Zur Mobilität eines Kölner Bürgers im 16. Jahrhundert, in: Georg Mölich/Gerd Schwerhoff (Hg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, Köln 2000, S. 141–166. 2 Seit 2002 wurde unter Leitung von Manfred Groten, einem Historiker, und Thomas Klein, einem Sprachwissenschaftler, am Institut für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande der Universität Bonn im Rahmen eines interdisziplinären DFG-Projektes, unterstützt von der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, an einer originalgetreuen Gesamtedition gearbeitet, sodass heute jene Teile der Gedenkbücher, die in der Teiledition der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde nicht enthalten sind, nun auch digital vorliegen. Hierdurch werden neuerdings vor allem sprachgeschichtliche und durch Kennzeichnung der Namen ferner auch paläographische Arbeitsschwerpunkte ermöglicht; vgl. Manfred Groten, Die autobiographischen Aufzeichnungen des Kölner Bürgers Hermann Weins-

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Weinsberg „immer regelmäßiger an einer Geschichte seines Geschlechts, dem boich Weinsberg.“3 Ab 1560/61 entstanden die sogenannten Gedenkbücher, beginnend mit der Generation seiner Eltern und einem autobiographischen Teil. Nach 1555 „schrieb er das Werk bis 1578 mit täglichen Eintragungen weiter“4, das er bis zu seinem Tode 1597 „im tagebuchartigen Stil“5 unausgesetzt fortführte.6 Im Gegensatz zum Boich Weinsberg sind „[d]ie drei Gedenkbücher Weinsbergs (Liber Iuventvtis 1518–1577, Liber Senectvtis 1578–1587, Liber Decrepitvdinis, zusammen über 2500 Blatt“, so Manfred Groten, „früh als wertvolle Quelle zur Geschichte Kölns im 16. Jahrhundert erkannt worden. In zwei Blöcken zu jeweils zwei Bänden publizierte die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 1886/87 und 1897/98 eine Auswahledition.“7 Da Weinsbergs Aufzeichnungen nicht für eine Veröffentlichung bestimmt waren, sondern lediglich dem jeweiligen Hausvater der kommenden Generationen zugeeignet wurden, enthalten sie über Stadtgeschichtliches hinaus auch Persönliches bzw. Privates ihres Verfassers.8 Konstantin Höhlbaum, erster Herausgeber von Weinsbergs Schriften, konstatiert diesbezüglich in seinem Vorwort: „Das Gefallen des Verfassers an seiner Person ist unverkennbar; aber es begründet einen tiefen Unterschied, ob er sich selbst im Spiegel betrachtet und sich daran freut oder berg (1518–1597). Digitale Erfassung, historische Auswertung und sprachgeschichtliche Analyse, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2, 20.12.2002, http://www.zeitenblicke.de/2002/02/groten/index.html [Stand: 03.01.2021]. Das Boich Weinsberg harrt jedoch noch immer einer Edierung oder zugänglichen Digitalisierung. Zu Weinsbergs nichtautobiographischem Schrifttum vgl. z. B. Andreas Rutz, „... das mir beide Zeitgenoissen gewesen, da schier zwei jar alter dan ich“. Hermann Weinsbergs Nachruf auf Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg. Einführung und Edition, in: Guido von Büren/Ralf-Peter Fuchs/Georg Mölich (Hg.), Herrschaft, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg und seine Zeit, Bielefeld 2018, S. 29–52. 3 Tobias Wulf, Bestandsaufnahme und Perspektiven der Weinsberg-Forschung, in: Groten, Weinsberg, S. 35–57, hier S. 36; zu Weinsbergs Biographie vgl. Josef Stein, Hermann Weinsberg als Mensch und Historiker, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 4 (1917), S. 109–169; Peter Glasner, Art. „Hermann von Weinsberg (1518–1597)“, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literatur­ wissenschaftliches Verfasserlexikon, hg. v. Wilhelm Kühlmann u. a., Bd. 6: Siber, Adam – Zyrl, Chris­ tian, Berlin 2017, Sp. 481–487. Zum Boich Weinsberg in der Medialität eines vorläufigen Manuskripts vgl. Ders., „ein geschrift zu ewiger gedechtniß ...“ Das erinnernde Ich bei Hermann von Weinsberg (1518–1597) in der Medialität von Schrift und Bild, in: Gerald Kapfhammer/Wolf-Dietrich Löhr/ Barbara Nitsche (Hg.), Autorbilder. Zur Medialität literarischer Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2006, S. 285–319, hier S. 289f. 4 Wulf, Bestandsaufnahme, S. 36. 5 Ebd. 6 Boich Weinsberg (Historisches Archiv der Stadt Köln [HAStK], Best. 7030 [Chroniken und Darstellungen], Nr. 52); Gedenkbücher (Liber Iûûentûtis [l. Juventutis], ebd., Nr. 49; Liber Senectvtis, ebd., Nr. 50, und Liber Decrepitvdinis, ebd., Nr. 51). Im Folgenden werden entsprechend der Titelgebung von Weinsberg die Siglen BW für Boich Weinsberg und LI für Liber Iuventvtis, LS für Liber Senectvtis sowie LD für Liber Decrepitvdinis verwandt. 7 Groten, Aufzeichnungen, Abs. 3. Zur Editionsgeschichte vgl. Gerd Schwerhoff, Verklärung des Hauses Weinsberg – eine gescheiterte Geltungsgeschichte, oder: Vom glücklichen Überlieferungszufall eines Ego-Dokuments aus dem 16. Jahrhundert, in: Johannes Altenberend (Hg.), Kloster – Stadt – Region. Festschrift für Heinrich Rüthing, Bielefeld 2002, S. 65–86, hier S. 66–68; Matthew Lundin, Paper Memory. A Sixteenth-Century Townsman Writes His World, Cambridge/London 2012, S. 16. 8 Zur Vertraulichkeit der Kommunikationssituation von Autor-Ich und Hausvater/Leser vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 292f.

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hinaus geht, um sich andern zu zeigen.“9 Manches von Weinsbergs selbstbezüglichen Passagen übergingen die Herausgeber des 19. Jahrhunderts mit der Begründung, es sei doch zweifelhaft, ob „man der Person des Verfassers nach 300 Jahren noch eine besondere Theilnahme zuwenden mag“.10 Zudem hätten „einzelne Stellen“ der Manuskripte gänzlich „ausgenommen werden“ müssen, da es genüge, „den Sumpf zu zeigen, wo er sich findet; seine Tiefe zu ergründen kann uns gleichgültig sein, wenn er sich darstellt wie jeder andre zu jeder Zeit.“11 Der ausgelassene ‚Sumpf‘ beinhaltet auch „Themen wie körperliche Befindlichkeit, Familiennachrichten, Nachbarschaftsbeziehungen und Alltagsgeschehen.“12 1926 erschien dann ein fünfter Band der Auswahledition als „Kulturhistorische Ergänzungen“, „der auch Auszüge aus dem ‚Buch Weinsberg‘ bekannt machte.“13 Jedoch wurde hier ebenfalls auf die Wiedergabe der zahllosen Illustrationen von Weinsbergs eigener Hand – von dem Abdruck der Skizze seines Wohnviertels abgesehen14 – gänzlich verzichtet. Da selbst die ergänzte Teiledition „noch nicht einmal die Hälfte der erhaltenen Texte erschließt“, lässt sie auch kein „abgerundetes Bild der Lebensumstände des Chronisten entstehen“.15 Darüber hinaus veranlassten 2002 moderne Editionskriterien eine neue ori9

Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 5 Bde., hg. v. Konstantin Höhlbaum/Friedrich Lau/Josef Stein, Bonn/Leipzig 1886–1926, ND Düsseldorf 2000, hier Bd. 1, S. X. 10 Ebd. 11 Ebd., S. XI. Bei Groten, Aufzeichnungen, S. 3, heißt es hierzu: „Als zu trivial oder anstößig beurteilte Textpassagen wurden übergangen.“ 12 Ebd., S. 4. 13 Ebd., S. 3. Heute verwirrend trägt die gesamte Auswahledition von Konstantin Höhlbaum, Friedrich Lau und Josef Stein den Titel „Das Buch Weinsberg“. Demgegenüber hat Weinsberg selbst unterschieden zwischen seinem tagebuchartigen Gedenkbuch und seiner Familiengeschichte, die er selbst Boich Weinsberg nennt. 14 Weinsbergs Viertelskizze aus eigener Hand findet sich abgedruckt in: Buch Weinsberg, Bd. 5, S. 111, und neuerlich bei Schmid, Lebenswelt, S. 125. 15 Groten, Aufzeichnungen, S.  4. Die fünfbändige Auswahledition hat jedoch seit ihrem Erscheinen vor nunmehr fast hundert Jahren über Stadtgeschichtliches hinaus so unterschiedliche Forschungsperspektiven auf Weinsbergs Handschriften inspiriert wie jene der Alltags- und Mentalitätsgeschichte von Wolfgang Herborn, der Kunstgeschichte etwa von Franz Irsigler und Wolfgang Schmid sowie von Werner Schäfke und Hildegard Westhoff-Krummacher, der Religionsgeschichte von Gérald Chaix, der Frauengeschichte von Andrea Kammeier-Nebel, des Gesundheitswesens von Robert Jütte oder der Liturgiegeschichte von Friedrich Lurz. Seit den 1990er Jahren wurde Weinsberg auch von der Selbstzeugnisforschung ‚entdeckt‘, sodass er inzwischen immer weniger als bloßer Typus des zwar gebildeten, aber profillosen Kleinbürgers gilt. Denn insbesondere durch die Arbeiten von Stephan Pastenaci oder Hans Rudolf Velten rückte vermehrt die Individualität der Selbstdarstellung und -wahrnehmung, der Autorschaft und Äußerungsform Weinsbergs dadurch in den Vordergrund, dass er nicht mehr isoliert, sondern im Kontext autobiographischen Schreibens etwa auch desjenigen eines Konrad Pellikan, Hieronymus Wolf, Thomas Platter, Daniel Greiser, Sebastian Leonhart, Bartholomäus Sastrow oder Lucas Geizkofler betrachtet werden konnte. Durch die unterschiedlichen Blickrichtungen auf Weinsbergs Werk sind auch dessen konzeptueller Zusammenhang sowie die funktionale Zusammengehörigkeit von phantastischer Familiengeschichte und ausgebreitetem Autor-Ich als Familienstiftung etwa von Birgit Studt herausgehoben worden. Dementsprechend wurden Weinsbergs Manuskripte bereits von Georg Misch und Gregor Rohmann den Haus- und Familienbüchern zugeordnet. Mit Weinsbergs Schriften, die durch kontinuierliches Schreiben über ein halbes Jahrhundert entstanden sind, liegt auch ein einmaliges Schriftzeugnis aus Zeiten sprachlichen Wandels vor. Es verwundert also nicht, dass sich auch die Sprachgeschichte für Weinsberg interessiert hat: So widmete sich Marie-Luise Balan dem Sprachwandelphänomen der neuhochdeutschen Diphthongierung,

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ginalgetreue Gesamtedition der Gedenkbücher im Rahmen eines DFG-Projektes von Manfred Groten und Thomas Klein. Mit der Edition des Boichs Weinsberg hat inzwischen Eva Büthe-Scheider begonnen, die mir dankenswerterweise ihre Edition zur Verfügung gestellt hat. In der Widmung seines Gedenkbuches an den zukünftigen Hausvater und Leser gibt Weinsberg mit der Inhaltsbeschreibung des Boichs Weinsberg en passent auch eine erste eigene Definition von ‚Identität‘: ſo hab ich zü andern zeiten / die herkompſt, Genealogi, vnd Eigenschafft deß / Stamß vnd haüß Weinſberch jn eyn boich geſchriben / vnd vergadert, da mit es auch nit gar vergeſſen / worde, ſonder daß es deſthe daürhafftiger mogt / bleiben, vnd hab daſſelb genant daß boich Weinſberch […].16

Vor der Abfassung der ‚Gedenkbücher der Jahre seines Lebens‘ habe er also Herkunft, Genealogie und Eigenschaft von Familie und Haus Weinsberg in einem Buch aufgezeichnet, um es dem (kollektiven) Vergessen zu entreißen und dasselbe Boich Weinsberg genannt. Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde hat sowohl ihre Auszüge aus den Gedenkbüchern als auch aus dem Boich Weinsberg pauschalisierend mit „Buch Weinsberg“ überschrieben.17 Dass dies nicht nur den jeweiligen Ursprung der Textauszüge in der Edition verunklärt, sondern auch Weinsbergs Intention widerspricht, zeigt sich ebenfalls in seiner Adressierung an den Leser: So hab ich aüch weiders / ſorg getragen[,] daß der geſchichten, die sich myn / lebenlanck jn meiner zit zügetragen, vnd / jn ſonderheit vnſſern Stam vnd haüß Weinſberch / vnd ſuͮnſt betreffende nit jnß vergeß geſtalt, dan / mit fleiß angezeignet vnd jn eyn geschrifft zü / ewiger gedechtniß verfaſt worden, vnd hab ſei / derhalb jn eyn boich ſamen geſchriben, wilchs ich / nit beſſers gewiſt hab zü jntitüleren, ader zü / nennen, dan,[:] Eyn Gedenckboich der Jaren myneß / lebenß […].18

Über seine Familiengeschichte hinaus habe er sich ebenfalls darum bemüht, dass Ereignisse und Geschehnisse zu seinen Lebzeiten, insbesondere wenn sie Familie und Haus Weinsberg betreffen, zu ‚ewigem Angedenken‘ in einem Buch festgehalten seien, das er nicht besser als mit ‚Gedenkbuch der Jahre meines Lebens‘ zu betiteln gewusst habe. Der Verfasser unterscheidet nicht nur Boich Weinsberg und Gedenkbücher, sondern stellt auch deren geradezu ‚organologische‘ Zusammengehörigkeit heraus,19 da diß Gedenck= / boich der Jaren myneß lebenß dem obbeſtimptem / boich Weinſberch dermaiſſen anhengt, vnd dar viß / vntſproſſen ist, wie die Zweige, so

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Walter Hoffmann Weinsbergs vormoderner Namentheorie und Eva Büthe-Scheider der digraphischen Vokalschreibung und der e-Apokope sowie Robert Möller der gemischten Sprache Weinsbergs insgesamt. Zum Forschungsstand vgl. Wulf, Bestandsaufnahme; Glasner, Weinsberg. LI, fol. IVr. Vgl. Birgit Studt, Der Hausvater. Haus und Gedächtnis bei Hermann von Weinsberg, in: RhVjbll 61 (1997), S. 135–160, hier S. 147; Wulf, Bestandsaufnahme, S. 36, Anm. 3f. LI, fol. IVv. Zum zitierten Werkzusammenhang von Boich Weinsberg und Gedenkbüchern vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 291.

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Weinsberg weiter, aus dem Stamm eines Baumes. Trotz der allenthalben beschworenen Unerschöpflichkeit seiner Aufzeichnungen als Quelle unterschiedlichster Forschungsrichtungen liegt bislang keine Gesamtedition vor, die ihm in dieser doppelten Blickrichtung gerecht würde: als Autor – auch in einem literarischen Sinne – und als Illustrator seiner Manuskripte.20 Mit meinem Beitrag „geschriben und gemailt“ werde ich diese Forschungslücke mehr ausstellen als füllen können. Er könnte jedoch thematisch geeignet sein, um kontrastiv-komplementär zum Themenkomplex „Alterität in der Stadt“ Entwurf und Gestaltung der Symbolisierungsformen von Ich- und Wir-Identität an einem frühneuzeitlichen Beispiel herauszuarbeiten.21 Denn diese haben nicht einzig repräsentative Funktion, sondern sind im Kontext des Weinsberg’schen Stiftungsbemühens eines innerfamiliären Gedächtnisses zu sehen. Dementsprechend werden im Folgenden zunächst theoretische Überlegungen zu ‚personaler‘ und ‚kollektiver Identität‘ angestellt, um darauf aufbauend das Boich Weinsberg gefolgt von den Gedenkbüchern auf identitätsbezogene Symbolisierungsformen in Text und Bild hin zu untersuchen.

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Lediglich vereinzelt stehen auch Weinsbergs Illustrationen von eigener Hand im Fokus der Forschung; vgl. Wolfgang Schmid, Ein Bürger und seine Zeichen. Hausmarken und Wappen in den Tagebüchern des Kölner Chronisten Hermann Weinsberg, in: Karin Czaja/Gabriela Signori (Hg.), Häuser, Namen, Identitäten. Beiträge zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, Konstanz 2009, S. 43–64; Ders., Kölner Renaissancekultur im Spiegel der Aufzeichnungen des Hermann Weinsberg (1518–1597), Köln 1991; Glasner, Das erinnernde Ich, S. 285–319. 21 Zum Thema ‚Identität bei Weinsberg’ einschlägig erscheinen Beiträge wie Schmid, Ein Bürger und seine Zeichen. Der dort zugrunde liegende Identitätsbegriff meint jedoch vornehmlich die Bezeichnungsfunktion von Hausmarken, Wappen etc. und nicht Identität als Konzept, das von diesen ikonographisch visualisiert wird. So zielt Schmid darauf ab, „die verschiedenen Zeichen in ihren praktischen Funktionszusammenhängen, ihren räumlichen Kontexten und vor ihrem sozial- und frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund zu analysieren“, ebd., S.  45. Wappen, Hausmarke und -name werden jedoch nicht auf die ihnen eingeschriebene ethisch-sittliche Programmatik hin gelesen. Zu Identität bzw. Individualität bei Weinsberg vgl. Stephan Pastenaci, Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Historischen Psychologie, Trier 1993, S. 125–145.

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2. Annäherungen an Definitionen von personaler und kollektiver Identität Was in der Vormoderne unter spätlateinisch idemptitas oder identitas22 als ‚Wesens­ einheit‘ verstanden worden ist, hat besonders pointiert der englische Philosoph John Locke (1632–1704) formuliert. In seinem Essay Concerning Human Understanding von 1690 wirft er die Frage auf, „worin die personal identity des Menschen“23 bestehe: This being premised to find wherein ‚personal Identity‘ consists, we must consider what ‚Person‘ stands for; which, I think, is a thinking intelligent Being, that has reason and reflection, and can consider it self [!] as it self [!], the same thinking thing in different times and places.24

Wollte man Lockes Kriterien zur Definition von personal identity im Einzelnen mit Blick auf die Autorschaft eines vormodernen Ego-Dokuments applizieren, ließen sich reason und reflec­tion auf Darstellungshaltung und -verfahren im Sinne von rationaler wie reflektierter Schreibweise beziehen.25 Auch für die Vormoderne kann to consider it self as it self verstanden werden als Unterscheidungsvermögen zwischen sich und anderen, Fremd- und Selbstwahrnehmung, ausgehend von einem Ich als Individuum in der spezifischen Situation eines Schreibenden. Die hierbei als Kontinuität bzw. Konsistenz gedachte Imagination des Selbst korrelierte dann seinerseits mit same thinking thing in different times and places bei Locke als ‚einheitlich‘ gedachte Persönlichkeit. Für das Bewusstsein von ‚personaler Identität‘26 ist nach Locke zudem dieses Fundament existenzielle Voraussetzung: Identität beruhe „allein auf Erinnerung“.27 In dieser Blickrichtung weiterdenkend ließe sich mit Michael Quante formulieren: 22

Zu lat. „identitas, atis, f. (idem). die Wesenseinheit, Identität“ vgl. Karl Ernst Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der besten Hilfsmittel. Unveränderter Nachdruck der achten verbesserten und vermehrten Auflage, Hannover 1916–1919, Darmstadt 1998, Bd. 2, Sp. 24. 23 Harald Tausch, Art. „Locke, John“, in: Nicolas Pethes/Jens Ruchatz (Hg.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek 2001, S. 354–356, hier S. 355. 24 John Locke, An Essay concerning Human Understanding. Abridged with an Introduction and Notes by Pauline Phemister, Oxford 2008, S. 208; zur zitierten Stelle bei Locke vgl. Michel Quante, Art. „Identität I“, in: Pethes/Ruchatz (Hg.), Gedächtnis, S. 267–269, hier S. 268f. 25 Nach Dieter Kartschoke, Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur, in: Richard van Dülmen (Hg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2001, S.  61–78, hier S.  62, kommt „personale Identität“ in der Vormoderne „in der Reflexion, im Nachdenken über sich selbst und über die Anderen“ zum Ausdruck. 26 Zur Problematisierung des Begriffs ‚personale Identität’ im Sinne von Nietzsche und Foucault vgl. Jürgen Straub, Art. „Identität II“, in: Pethes/Ruchatz (Hg.), Gedächtnis, S. 269–272, hier S. 271: „So wird z. B. konstatiert, dass der I[dentität]s-Begriff unter ‚postmodernen’ Lebensbedingungen, die durch vielfältige Fragmentierungen in der Sach-, Sozial- und Zeitdimension gekennzeichnet werden, seine ‚Paßform’ (H. Keupp) verloren habe. Der Begriff und die damit verbundene politische, psychologische oder pädagogische Praxis der ‚Verordnung’, Zuschreibung oder Bildung von I[dentität] wird nicht nur (in deskriptiver Absicht) als anachronistisch, sondern (in normativer Absicht) auch hinsichtlich impliziter Gewaltpotenziale kritisiert.“ 27 Ebd.

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„Personen zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht nur über die Zeit hinweg existieren, sondern auch ein Bewusstsein ihrer eigenen Identität zu einem Zeitpunkt und über die Zeit hinweg haben. Dafür sind die Speicherungen vergangener Erlebnisse und Handlungen als vergangene (Erinnerungen) notwendige Voraussetzungen.“28

Bei Weinsberg finden sich Selbstdarstellungen in Text und Bild. Hierbei zeugen die regelrechten Selbstbeschreibungen29 von Aspekten seiner vorgestellten ‚qualitativen Identität‘: „Der Begriff der qualitativen I[dentität] einer Person umfasst zentrale, fundamentale oder akzidentelle Merkmale eines Subjekts in unterschiedlichen Definitionsräumen der I[dentität] (z. B. Körper/Leib, sex/gender, Familie, Arbeit, Werte usw.). Er hat primär deskriptive Funktion und steht stellvertretend für die Antwort reflexiver Subjekte auf die qualitative I[dentität]s-Frage ‚wer bin ich (geworden) und wer möchte ich sein?‘“30

Aufgrund des autobiographischen Grundzuges seiner Gedenkbücher ist Weinsberg auch in den Fokus der Erforschung von frühen Selbstzeugnissen oder sogenannten Ego-Dokumenten gerückt worden, wie es vor allem in den Arbeiten von Stephan Pastenaci geschehen ist.31 Hierbei wird Weinsberg als Person in ihrer sozialen Vernetzung bzw. deren evaluativ praktisches Selbstverständnis sichtbar: „Personen erzeugen aus der Interpretation eigener Erinnerungen und Absichten eine biographische oder narrative Identität [...]. Dieser Prozess, einen kohärenten Eigenentwurf zu erreichen, findet im sozialen Raum statt, zu dessen Wert- und Sinnangeboten [...] sich eine Person reflexiv verhält. Damit kommt neben dem aktivischen Charakter auch die durch wechselseitige Anerkennungsbeziehungen konstituierte soziale Dimension von Identität zum Vorschein.“32

Weinsbergs Erinnerungswerk kann gattungstypologisch nicht mit einer regelrechten Autobiographie gleichgesetzt werden.33 Für Philippe Lejeune ist jedes Werk eine Autobiographie, wenn es sich dabei um eine „rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz“ handelt und „sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlich28

Quante, Identität I, S. 268. Vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 295–302. 30 Straub, Identität II, S. 270. Hans Rudolf Velten, Das selbst geschriebene Leben. Eine Studie zur deutschen Autobiographie im 16. Jahrhundert, Heidelberg 1995, S. 303, fasst ‚Identität’ und ‚Individualität’ so: „Unter Identität (Ich-Identität) verstehe ich zunächst allgemein das Sich-Gleichbleiben einer Person, ihre Konstanz und Vereinheitlichung, unter Individualität das Besonders-Sein dieser Person, ihre Unverwechselbarkeit.“ 31 Vgl. Pastenaci, Erzählform. 32 Quante, Identität I, S. 269. 33 Von Autobiographien unterschieden sind Weinsbergs Schriften selbstredend in ihren frei erfundenen Passagen einerseits und den tagebuchartigen Aufzeichnungen andererseits, da diesen das gattungsspezifische Merkmal der Authentizität ebenso fehlt wie der Aspekt der ‚nachträglichen Selbsterzählung’. Vgl. hierzu Straub, Identität II, S. 270. 29

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keit legt.“34 Bei Weinsberg entsteht Kohärenz jedoch weniger als Effekt literarischer Konstruktion, als vielmehr aus der mehr oder minder stimmigen Summe der Einzelinformationen, die der Verfasser über seine Person notiert. Hierüber wird dann aber auch ‚numerische Identität‘, also der Autor in seiner „Einzigartigkeit bzw. Individualität“35 und nicht bloß als „Typus“36 fassbar. Nach Jan Assmann lässt sich hierbei zwischen ‚individueller‘ und ‚personaler‘ Identitätsrepräsentation differenzieren. Als ‚individuelle Identität‘ gilt „das im Bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild der ihn von allen (‚signifikanten‘) Anderen unterscheidenden Einzelzüge, das am Leitfaden des Leibes entwickelte Bewußtsein seines irreduzi­blen Eigenseins, seiner Unverwechselbarkeit und Unersetzbarkeit.“37 Demgegenüber fasst ‚personale Identität‘ alle „dem Einzelnen durch Eingliederung in spezifische Konstellationen des Sozialgefüges zukommende[] Rollen, Eigenschaften und Kompetenzen.“38 Assmann definiert pointiert zusammenfassend: „Individuelle Identität bezieht sich auf die Kontingenz eines Lebens mit seinen ‚Eckdaten‘ von Geburt und Tod, auf die Leibhaftigkeit des Daseins und seiner Grundbedürfnisse. Personale Identität bezieht sich dagegen auf die soziale Anerkennung und Zurechnungsfähigkeit des Individuums.“39

Wenn das Boich Weinsberg im Folgenden mit den Gedenkbüchern in einem konzeptuellen Zusammenhang betrachtet wird, lassen sich auch ‚individuelle‘ bzw. ‚personale‘ und ‚kollektive Identität‘ in ihrer wechselseitigen Konstituierung, mithin ihrer soziogenen Natur, herausarbeiten.40 Mit Blick auf Weinsbergs Familiengeschichtsbuch beziehe ich mich hierbei auf einen sozialpsychologischen Identitäts­begriff, 34

Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a. M. 1994, S. 14. Lejeune ergänzt ebd. seine Definition der Autobiographie um vier Kategorien, die gegeben sein müssen, um die Autobiographie von den Nachbargattungen Memoiren, Biographie, Tagebuch, Selbstportrait im Essay etc. abzugrenzen: die ‚sprachliche Form’ (Erzählung, Prosa), das ‚behandelte Thema’ („individuelles Leben, Geschichte einer Persönlichkeit“), die ‚Situation des Autors’ („Identität zwischen dem Autor [,dessen Name auf eine tatsächliche Person verweist] und dem Erzähler“) sowie die ‚Position des Erzählers’ („Identität zwischen dem Erzähler und der Hauptfigur“, „rückblickende Erzählperspektive“). Jürgen Lehmann, Art. „Autobiographie“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Klaus Weimar, Bd. 1, Berlin/New York 2007, S. 169–173, hier S. 169, führt darüber hinaus als Gattungskriterium das jeweilige Narrativ – Rechtfertigung, Information oder Unterhaltung an, wodurch „sich die Autobiographie von den ebenfalls lebensgeschichtliche Fakten artikulierenden Gattungen Tagebuch, Brief und Biographie“ unterscheide. 35 Straub, Identität II, S. 270. 36 Denn „weder durch einen besonderen ethischen Gehalt noch durch eine Form von Geschmack“ unterscheide sich Weinsberg etwa von dem Schreiber der Zimmerischen Chronik oder Hans von Schweinichen; Buch Weinsberg, Bd. 1, S. X. 37 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 21997, S. 131. 38 Ebd., S. 131f. 39 Ebd., S. 132. 40 Dass Konzepte ‚kollektiver Identität‘ höchst heikel sind, ist spätestens seit Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000, ein Gemeinplatz. Wenn ich diesen Begriff dennoch im Hinblick auf Weinsbergs Erinnerungsprojekt verwende, sollen

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der das „individuelle oder kulturelle Selbstverständnis oder -bild von Personen oder Gruppen“41 umfasst. Hierbei gehen „neben Annahmen über Tatsachen auch Vorstellungen darüber ein, wer oder was man sein will“.42 Die frühere historische Forschung hat dem Boich Weinsberg jeglichen Quellenwert abgesprochen, weil dessen Erzählgut „größtenteils frei erfunden“43 sei. Quante betont in seiner Definition von ‚Identität‘ aber gerade, dass zum ‚Selbstverständnis‘ „Tatsachen und Vorstellungen“,44 also Faktisches und Imaginäres, gehören.45 Weinsbergs Schriften sollen auch daraufhin neu gelesen werden, inwiefern sie „Strategien zur Herstellung bzw. Verteidigung kollektiver I[dentität]en“ enthalten: also hinsichtlich angeführter „Praktiken des kollektiven Gedächtnisses“ und die mit diesem verknüpfte „Berufung auf vermeintlich vorhandene und zu bewahrende Traditionen“.46 „Einer kollektiven Identität entspricht“, so Assmann, „sie fundierend und – vor allem – reproduzierend, eine kulturelle Formation. Die kulturelle Formation ist das Medium, durch das eine kollektive Identität aufgebaut und über Generationen hinweg aufrecht erhalten wird“.47 Werden Boich Weinsberg und Gedenkbücher auf derartige kulturelle Formationen hin gelesen, so wird dieser Manuskriptkomplex aufgrund seiner bimodalen Funktion auch als ein kollektives bzw. kulturelles Gedächtnis im Sinne Assmanns deutlich: „im Modus der fundierenden Erinnerung, die sich auf Ursprünge [...], und im Modus der biographischen Erinnerung, die sich auf eigene Erfahrungen und deren Rahmenbedingungen [...] bezieht.“48 Dass folglich in Weinsbergs ‚erlogener‘ Familiengeschichte ihrerseits ein gigantisch-fiktionaler Identitätsentwurf für seine zeitgenössischen Familienmitglieder ebenso wie für deren Nachfahren vorliegt, wird im Folgenden nachvollziehbar werden. Hierzu werden über das Erzählgut Weinsbergs hinaus auch dessen Namenetymologien und Wappendarstellungen betrachtet, denn „die Evidenz kollektiver Identität unterliegt einer ausschließlich symbolischen Ausformung.“49

weder dubiose Typisierungen vorgenommen noch Vorstellungen von ‚kollektiver Mentalität‘ oder gar einer ‚Kollektivpsychologie‘ Raum gegeben werden. 41 Quante, Identität I, S. 268. 42 Ebd. 43 Wulf, Bestandsaufnahme, S. 36. 44 Quante, Identität I, S. 268. 45 Vgl. ebd. 46 Straub, Identität II, S. 271. 47 Assmann, Gedächtnis, S. 139. 48 Ebd., S. 51f. 49 Ebd., S. 132. In meiner Darstellung von Symbolisierungsformen personaler wie kollektiver Identität beschränke ich mich in diesem Beitrag auf Weinsbergs verbale und bildliche Entwürfe in seinen Schriften. Zu den öffentlichen Symbolisierungsformen als Hausmarke, Wappen, Kirchenfenster, Epitaph etc. vgl. Schmid, Ein Bürger und seine Zeichen.

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3. Symbolisierungsformen von Wir- und Ich-Identität Weinsberg lässt seine reich illustrierte „Herkunfts- und Abstammungslegende“ (ca. 573 Blätter)50 zu Zeiten Karls des Großen (reg. 768/800–814) beginnen, um nach dem Vorbild der Kölner Geschlechter die eigene Familiengeschichte historisch möglichst tief zu fundieren.51 Das lange als bloßes Materialienbuch unterschätzte Boich Weinsberg ist durch die Abfolge der 14 sogenannten Hausväter strukturiert und damit ein typisches Beispiel genealogischen Erzählens.52

3.1 (Phantastische) Geschichte und (utopisches) Ethos im Boich Weinsberg Mit der Stimme eines zurückhaltenden Chronisten setzt Weinsberg im Jahre 793 ein, um in Gänze ein Narrativ zu entspinnen, das kunstvollerweise auf der Handlungsebene plausibel zu machen versteht, welchen Umständen der Gewinn diverser Symbolisierungsformen53 von kollektiver Identität wie Name, Besitz oder Wappen zu danken sei.54 Zudem werden nicht nur die Stationen einer Hausgründung wie Christianisierung, Besiedelung, Hausbau und Kirchenstiftung erzählt, sondern auch eine regelrechte Utopie gemeinschaftlichen Lebens in der Großfamilie nebst Bediensteten entworfen, der ihrerseits eine politische wie ökonomische Hausregel zugrunde gelegt wird. Den ‚Erzähler‘ Weinsberg charakterisiert insbesondere sein Interesse an der Motivik von Genealogie, Lehnswesen, Besitzverhältnissen und Erb­

50

Ebd., S.  44. Zur legendenhaften Familiengeschichte vgl. Studt, Hausvater, S.  136f.; Gregor Rohmann, Der Lügner durchschaut die Wahrheit. Verwandtschaft, Status und historisches Wissen bei Hermann von Weinsberg, in: JbKölnGV 71 (2000), S. 43–76, hier S. 51. 51 „Daß Hermanns eigene Ideen vom Vorbild der 15 Kölner Geschlechter geprägt sind, die bis 1396 die politische Führungsschicht der Stadt gebildet hatten, steht außer Frage“; Schwerhoff, Verklärung, S. 74. 52 „Die mit idealisierten Portraits illustrierte Geschichte der Weinsberger Hausväter seit Aramondt wird durch zahlreiche Genealogien, Geburtsregister, Verwandtschaftstafeln, Buchstabenspiele, Wappen­ erläuterungen sowie eine parallele lateinisch-deutsche Versfassung der Herkunftsgeschichte ergänzt“; Studt, Hausvater, S. 149f.; vgl. BW, fol. 364r–536v. Zudem enthält es eine Kopie seines Testamentes. „Mit der Geschichte des Herkommens der Weinsberg-Familie, in der Herkunft und Abstammung und anschließende Geschlechterfolge geschildert werden, steht Hermann im Kontext der adligen Haus- und Familienchroniken des 16. Jahrhunderts“; Studt, Hausvater, S. 155. 53 Zu ‚Symbolisierungsformen der Identität‘ vgl. das gleichnamige Kapitel in Assmann, Gedächtnis, S. 139f. 54 Nicht-fiktionale Repräsentations- und Symbolisierungsformen sind bei Weinsberg noch vielfältiger. Bereits Schmid, Ein Bürger und seine Zeichen, S. 52, hat gezeigt, dass hierzu auch diverse Siegel und Hausmarken, eine Vielfalt von Wappen und deren jeweilige Erscheinungsformen auf „Porträts, Textilien und dem Tafelsilber“ sowie in Glasfenstern für private Haushalte ebenso wie für Kirchenräume zählen. Funktional werden derartige Repräsentationsformen in Kontexte profanen Erinnerns oder religiöser Memoria eingeordnet. Ich betrachte diese hier vornehmlich unter dem Aspekt der Identitätsstiftung und -repräsentation.

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recht. Dennoch erscheint das geschilderte Geschehen nicht ohne Emotionalität, und den erzählenden Weinsberg zeichnet eine besondere Affinität zur Beschreibung von Personen und deren Kleidung aus. Da für kollektive Identität bzw. für das kulturelle Gedächtnis Gründungsmythen von besonderer Bedeutung sind, widme ich mich nun ausführlicher dieser ‚Ur-‘ und ‚Frühgeschichte‘ Weinsbergs. Der Anfang seiner Familiengeschichte ist gleichermaßen die Erzählung von einem ‚Sünden-Fall‘ wie von – im Wortsinne – grenz­ überschreitender und somit interkultureller Liebe. Erzählt wird nämlich zunächst die Elterngeschichte des späteren ersten Hausvaters Aramondt.55 Dessen Eltern, ein namentlich nicht genannter junger christlicher Römer und Adeldis, die heidnische Tochter von Fullonis und Sigismunda, sind in tabuisierter wie heimlicher Liebe ein­ ander verfallen: Jn dem warff eyn jonger Romer [...] ſyn leibde vff Adeldim, Fullonij doch=ter, myt ſulcher gebeir, daß Adeldis deß edlen jongen Romers liebde woll ſpurde, derwegenn warff Adeldis jre leibde hynwider vff den jonge(n) Romer, wie dan den Menſchen von natur jnge=bildet iſt, daß die geliebten, die leibhaber gern widder plegen zu lieben,[.]56

Die verknappte Erzählmanier hindert den Erzähler nicht daran, neuerlich sentenzhaft Lebensweisheit in die Handlungsschilderung einzuflechten: Liebe initiiert naturgemäß Gegenliebe, zumal bei jungen Leuten. Auch ohne gemeinsame Sprache kommt man sich schließlich näher (myt vill früntlicher gebeir / kortzweileten ſei heimlich ſamen).57 Der junge Römer muss aber wieder in die Ferne, und nach anrührendem Abschied bleibt die schwangere Heidin allein zurück. Sie sinnt mit ihrer so loyalen wie intrigenkompetenten Dienstmagd Cümerell auf einen Ausweg aus dieser bedrohlichen Situation. Die servile Helferin weiß Rat: Anstatt wegen des unehelichen Kindes aller Ehre und allen Besitzes verlustig zu gehen, wie es der angebliche Heidenbrauch vorsähe, solle sich die Schwangere im Verborgenen halten, bis das Kind geboren sei. Weinsberg versteht es durchaus, Spannung aufzubauen, wenn die so genötigte Schwangere und ihre Dienstmagd beschließen, sich des Neugeborenen durch Kindsmord zu entledigen. Und mit subtiler Leitmotivik führt er zudem wyngarthen, ader weinberch als bedeutungsschwere Örtlichkeit vielfachen Geschehens ein.58 Am 3. Mai kommt in besagtem Weinberg Adeldis Sohn zur Welt. Als die Magd sich bereits anschickt, eine Kuhle auszuheben, um das Kind lebendig zu begraben, bringt die junge Mutter die Kindstötung doch nicht übers Herz – ein zweiter Intrigenplan muss her und ist mit Cümerell schon bei der Hand: Nicht getötet, sondern ausgesetzt solle das Neugeborene werden. Und auch diese Biographiemotivik adelt, rückt sie doch den Protagonisten der Aramondtgeschichte in den Assoziationsraum so berühmter Ausgesetzter wie Moses oder Gregorius. Dass der Ort der Aussetzung die Lokalität der Geburt, nämlich eben jener Weinberg sein soll, macht mit dem 55

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Zum Vorfahren Aramondt vgl. Rohmann, Lügner, S. 65. BW, fol. 1r. BW, fol. 1v. BW, fol. 2v.

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Gesetz der Serie klar, dass auch die Ortsbezeichnung noch an Bedeutung gewinnen wird. Denn dort wird das ausgesetzte Kind ausgerechnet von Adeldis Bruder Hellonissar bei einem Jagdausritt gefunden. Dem Findling Aramondt rettet ein kleines Naturwunder das Leben, wodurch zugleich der Makel der Elternlosigkeit getilgt wird: Auf das selbstverständlich schöne Findelkind machen kreischende Raben aufmerksam, weil sie es wie Aas umkreisen. Demgegenüber reagieren Hellonissars Jagdhunde höchst menschlich auf den Kindsfund, heißt es doch von ihrem Anschlagen, dass dieses ebenso freudig wie einfühlsam sei, so als ob ſei deß kyndes bedawret hetten.59 Dem geschilderten ,Sünden-Fall‘ als familiärer Gründungsgeschichte hat Weinsberg eine ganzseitige Miniatur gewidmet, die als Simultanbild in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen drei Episodenszenen in ein Bild setzt: die Trennung des Liebespaares, die Aussetzung des Kindes sowie die Entdeckung des Findlings durch die Jagdgesellschaft (Abb. 1).60 Dem Kind wird schließlich der Herkunftsname Aramondt von Weinsberch und ausgerechnet – der Erzähler nennt dies eine Fügung des Glücks – die Schwester des Finders, die ja zugleich die leibliche Mutter des Findlings ist, als Erzieherin gegeben. Nach dem Tod von Fullonis und Sigismunda wird deren Besitz unter den Geschwistern Hellonissars aufgeteilt. Und es ist ausgerechnet seine Schwester Adeldis, die leibliche Mutter Aramondts von Weinsberch, die dessen einstigen Aussetzungs- und Auffindungsort – den Weinberg im Literalsinne – als Erbe für sich ausbittet, um genau dort für sich eine Grablege zu haben: vnnd iſt vff den weinberch (dar vff aramondt geboren / war) begrauen worde(n).61 Der Ausgangspunkt der Familiengeschichte wird zu deren Gedächtnisort. Im folgenden Handlungsverlauf schildert der Erzähler die weiteren Etappen bis zur Errichtung der Herrschaft Weinsberg in Brunsau. Hierzu zählen der Übertritt der Familie zum Christentum, die Besiedelung des Weinbergs (angeblich besiegelt von der königlichen Kanzlei), die dortige Errichtung der Hausvaterwohnstätte nebst Kirchenbau über der Grablege sowie schließlich die Ausformung der ‚Hausvaterschaft‘. Folglich birgt das Boich Weinsberg in seinen ersten Erzählabschnitten Narrative, die jeweils ihr eigenes Identifikationspotenzial für die Nachkommenschaft bieten. Hierbei handelt es sich um die Herausbildung von Symbolisierungsformen einer kollektiven Identität, wie sie bereits in der Vieldeutigkeit des Namens ‚Weinberg‘ als Örtlichkeit der Ursprungsgeschichte, Gedächtnisort als Grablege sowie als zentraler Wohn-, Wirtschafts- und Herrschaftsraum kulminiert. Mit der ersten Hausvaterschaft geht auf der Handlungsebene auch die Einführung von deren Insignien als weiteren Symbolisierungsformen des Kollektivs ‚Weinsberg‘ einher:62 Vor dem Erwerb eines Familienwappens gibt sich die Familie ein Siegel mit dem Bildzeichen eines Gemsleins, das von einer Putte mit Trauben in der Hand geritten wird.63 59

BW, fol. 3r. Für die Erlaubnis, Abbildungen aus Weinsbergs Handschriften verwenden zu dürfen, danke ich Herrn Dr. Max Plassmann vom Historischen Archiv der Stadt Köln. 61 BW, fol. 4r. 62 Zum Zusammenhang von Name und Gedächtnis vgl. Peter Glasner, Art. „Name“, in: Pethes/ Ruchatz (Hg.), Gedächtnis, S. 395f. 63 Zu Weinsbergs tatsächlich geführtem Siegel vgl. Buch Weinsberg, Bd. 5, S. 155f.; Schmid, Ein Bürger und seine Zeichen, S. 58f. 60

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Abb. 1: Ganzseitige Miniatur zur Findlingsgeschichte des ersten Hausvaters Quelle: BW, fol. 366v.

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Abb. 2: Der erste Hausvater der Weinsbergs Quelle: BW, fol. Tv.

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Als erster Hausvater wird Aramondt (Abb. 2) auch ‚amtsgemäß‘ ausgestattet: Er zoüch ſyn hoichzeitliche / kleidung an, nemlich, Eynen gronen ſiden man= / tell, rontz vmbher ſchoin bordeirt, ſonder maü= / wenn, doch mit weiden vffgeſnitten armlocher, / da er die armen durch ſtach,[.] der mantel war, / rontz vmb zü genehet, [...] vff ſynem heübt / hat er eynen gronen ſydenn hoedt, myt eym bri= /den vffſclach, rontz vmbher, myt brünen fellen ge= / fodert.64

Die Auflistung Weinsberg’scher Symbolisierungsformen wäre hier nicht repräsentativ, blieben die folgenden ‚Insignien‘ des Hausvaters zu Weinsberg unerwähnt: vür der borſt hyng eyn zeichen,[:] / vnd war eyn guldin draübe myt eym guldin aiſtgin, / an eym roden ſnoir, vmb den halß,[.] !jn ſynem / fynger hat er eyne(n) guldin rinck, vnd jn ſyner / handt eynen veirecketichen ſtaff, van hoichden[,] / wie er ſelbſt war,[.]65

Mit dem Traubensymbol als Hausvaterschmuck erhält die Wein- bzw. Weinsbergmotivik eine weitere symbolische Spielart und veranschaulicht wie Ring und Stab: „Alles kann zum Zeichen werden“, so Jan Assmann, „um Gemeinsamkeit zu kodieren. Nicht das Medium entscheidet, sondern die Symbolfunktion und Zeichenstruktur“.66 Zur Institutionalisierung der Hausvaterschaft gehört insbesondere die Stiftung einer jährlichen Gedenkfeier, zu begehen am Geburtstag des ersten Hausvaters (am 3. Mai), auf der nitz anders gedroncken, dan allein / der wein vff dem Weinberch gewaſſen, wilchen / aramondt ſelbſt geplantzt.67 Drei Tage lang solle mit Verwandtschaft und Nachbarschaft ausgiebig getafelt werden. Von der erweiterten Familia als Mahl- und Tischgemeinschaft bzw. einem rituell wiederholten Gedenktag erhoffte sich Weinsberg nicht nur Gemeinschaftsstiftung im Fiktiven, denn testamentarisch verfügte er, dass „am 3. Mai eines jeden Jahres, dem Geburtstage des Ahnherrn Aramond, [...] ein Hausfest der ganzen Familie gefeiert werden [sollte]. Um 6 Uhr morgens haben alle mehr als 20jährigen Verwandten auf dem Hause Weinsberg zusammenzukommen und sich dort das Testament und die Genealogie vorlesen zu lassen.“68 Zur Bekräftigung seiner Gedenktagsstiftung und einer Art Absicherung der erstrebten „Vergegenwärtigung fundierender Vergangenheit“69 legt Weinsberg zudem fest, dass die Feiergemeinschaft mit „Präsenzgeld“ und einer „fröhliche[n] Mahlzeit“70 entlohnt werden soll. Mit seiner Erzählung weiß Weinsberg nicht nur diverse Symbolisierungsformen des Familiären auf der Handlungsebene einzuführen. Vielmehr weist der Handlungskomplex seinerseits sowohl implizite als auch explizite Formen didaktischer 64

66 67

BW, fol. 6r–v. BW, fol. 6v. Assmann, Gedächtnis, S. 139. BW, fol. 6v. Zur Bedeutung von Festen im Kontext des kulturellen Gedächtnisses vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S.  52f.; zu ihrer identitätsbildenden und memorativen Funktion vgl. Peter Glasner, Art. „Fest“, in: Pethes/Ruchatz (Hg.), Gedächtnis, S. 169–172. 68 Buch Weinsberg, Bd. 5, S. XXX. 69 Assmann, Gedächtnis, S. 53. 70 Buch Weinsberg, Bd. 5, S. XXX. 65

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Vermittlung eines frühbürgerlichen Ethos’ auf, das sowohl das Auskommen des Einzelnen als auch das Wohl der Gesamtfamilie sichern soll. So ist es zunächst ein Negativexemplum, das auf ein gemeinsames Bürgerethos abschreckend hinzuwirken sucht: Drinman, der Schwager des in jeder Hinsicht untadeligen Aramondt, mit dem größten Besitz in der ganzen Erzählung, verprasst all seine Habe. Weinsbergs Didaxe folgt hierbei dem literarischen Muster von Tugend = Lohn und Sünde = Strafe: Während der vergnügungssüchtige Schwager verelendet, kommt dessen Hab und Gut vollends in den Besitz der Familie Weinsberg, die nun auch über eine Herrschaft ‚Weinsberg‘ verfügt. Weinsbergs idealisiertes Familienbild kommt in seiner Erzählung von seinen Vorfahren auch als einer schier utopisch-idealen Urgemeinschaft zum Ausdruck: Aramondt verheiratet ausnahmslos alle seine Kinder, die sich ebenso ausnahmslos glücklich vermehren, und überdies als Großfamilie zusammenbleiben. Die ökonomische Basis ist hierbei jeweils sowohl eigener Besitz aus dem Erbe Aramondts als auch Gemeingut. Die schließlich hundertköpfige Familiengemeinschaft hat auch eine symbolisch-architektonische Entsprechung in einem komplexen Weinsberg-Stammsitz, dessen Kern die Hausvaterwohnung bildet, an die jeweils die Unterkünfte der Nachfahren angebaut werden. So wird gleichsam für jede Generation und Kleinfamilie ebenso Privatleben wie Leben in der Großfamilie möglich, denn alle Familienmitglieder sind angehalten, ihre Mahlzeiten am Tisch des Hausvaters einzunehmen. Weinsbergs phantastische Familiengeschichte hat neuerlich Belehrendes im Sinne einer Kasuistik von Tugend = Lohn und Sünde = Strafe und dies vor allem dann, wenn explizit Normen und Regeln guten Wirtschaftens und sittlichen Umgangs miteinander verknüpft werden. In Handlungsverläufen genealogischen Erzählens sind hierfür Schwellensituationen besonders geeignet, etwa Initiationen oder die Sterbeszene einer abtretenden Generation. So lässt auch Weinsberg seinen ersten Hausvater auf dem Sterbebett ein regelrechtes geistiges Testament formulieren, das den ethisch-moralischen Gehalt für die später explizit gemachte Hausregel bietet: Mein liebe kynder / vnd haüſgnoſen, willt doch myn leer halten, vnnd / nyt verachten, daß jr Gotlich, erparlich, vnd frunt= /lich ſamen leben ſult, ewre kynder jn tügeten vff= /erzehen, ewer narüng mit erlicher arbeit beko= / men, vnd waß jr erworben hat, mit ſperlichkeit be= / ſchirmen, vnd ſullt jn allen ewren ſachen weiſ= / lich handlen,[.] wannehe jr daß alſo zu werck ſtellt, / vnnd Ewers fatters rhadt folgendt, so wirt es / euch woll gain, ewer geſclecht vnd parthei wirt / ſich groißlich merhen, vnd werdet jn friden, erhe, / richtümb, vnd guttem regiment beſtain,[.]71

Am Anfang der Hausvaterlehre steht ein Harmonieideal. Das Fundament häuslichen Auskommens sind Gottesfurcht und Ehrbarkeit sowie das freundliche Zusammenleben. Das darauf aufruhende Ethos ist bei allem symbolischen Versteigen in aristokratische Repräsentations- und Ausdrucksformen zutiefst bürgerlich. Das tägliche Brot sei mit ehrlicher Arbeit verdient und der so gewonnene Besitz mit Sparsamkeit und Ehrenhaftigkeit erhalten. Und das Telos einer solchen Lehre ist schier selbst­ 71

BW, fol. 7v.

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evident: Friede, Ehre und Wohlstand. Weinsberg würde aber grob unterschätzt, wollte man dessen Insistieren auf Friedewahrung einzig unter hausväterlich-ökonomischen Gesichtspunkten betrachten. Vielmehr scheint an solchen Textstellen auch seine humanistische Bildung und insbesondere seine Verehrung des Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536) auf, den Weinsberg als lux orbis betrachtete.72 In dessen Schrift Adagia, die sprichwörtliche Lebensweisheit und gute Herrschaft reflektiert, heißt es von einem guten Fürsten, dieser habe si quam forte nactus est ditionem, justitia, frugalitate, caeterisque pacis artibus efficiat florentiorem.73 Möglicherweise stimmte Weinsberg auch in dieser Hinsicht mit seinem ‚Abgott‘ Erasmus überein, dass „der Krieg unter allen Umständen [zu] vermeiden [sei], denn [...] der Krieg löst den Geleitzug aller Übel zugleich aus“.74 Auf dem Sterbebett des ersten Hausvaters findet Normvermittlung auch über weniger philosophische Reflexion, denn über christliche Negativdidaxe statt: wa ewer / aber eyner dem andernn anders wirt doin, dann / er wollt[,] daß jm geſcheich, ader vberfluſſich, vnmeiſ= / ſich jn eſſen vnd drincken worde leben, Gotzfürcht / vnd dugent verachten, derſelb wirt jn armüt[,] verachtüng, vnd widderwerdicheit leben, vnd kurtz= / leibich werden,[.]75

Diese Lehrpassage Weinsbergs erinnert an die Goldene Regel, die sowohl im Buch Tobias als auch im Matthäusevangelium überliefert ist: Quod ab alio oderis fieri tibi, vide ne tu aliquando alteri facias (Tob 4,16)76 oder Omnia ergo quaecumque vultis ut faciant vobis homines, et vos facite illis (Mt 7,12).77 Von der idealisierten, gar utopisch anmutenden Lebensgemeinschaft der Weinsbergs nach Aramondt war bereits die Rede. Dessen Erben werden hauptsächlich durch bürgerliche Tugenden wie Umsicht, Bescheidenheit, Ehrbarkeit, Sparsamkeit, Eintracht, brüderliches Zusammenleben und generelle Tugendhaftigkeit charakterisiert. Bei seiner Normvermittlung ist Weinsberg auch medial kreativ und symbolisiert mit einem Akrostichon sein Familienethos: „Den ideellen Extrakt aus guten Exempeln des ehrbaren Herkommens der Vorfahren faßt [er] in einer mit Altare Weinsbergicum bezeichneten Tugendtafel zusammen, deren Initialen aus dem Namen des Hauses Weinsberg zusammengesetzt sind: Weisheit, Eintracht, Nahrung, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Ehrbarkeit, Redlichkeit und Geduld.“78 72

Vgl. Buch Weinsberg, Bd. 5, S. XIII. „[...] den Herrschaftsbereich, der ihm gerade zugefallen ist, mit Gerechtigkeit, Sparsamkeit und anderen Künsten des Friedens noch blühender zu machen“; Erasmus von Rotterdam, Adagia. Lateinisch/ Deutsch. Auswahl, Übersetzung und Anmerkungen von Anton J. Gail, Stuttgart 2000, S.  89. Zu Weinsbergs Verehrung des Erasmus von Rotterdam vgl. Lundin, Paper Memory, S. 24. 74 Erasmus von Rotterdam, Adagia, S. 9. 75 BW, fol. 7v. 76 „Was du verabscheust, tue keinem anderen an!“ 77 „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun.“ 78 Studt, Hausvater, S.  150. Zu Weinsbergs Schreibung des eigenen Namens und der Entwicklung von Familiennamen vgl. Walter Hoffmann, Hermann Weinsberg als Namenforscher?, in: Groten, Weinsberg, S. 275–292.

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Nach dem Abtreten des ersten Hausvaters geben sich dessen Erben auch eine explizite Hausregel – und mit ihr in einem ethisch-sittlichen Sinne die aussagekräftigste, wenn auch gleichwohl fiktive Symbolisierungsform familiärer Identität, denn über die entworfene Hausregel wird das Hausregiment ebenso bestimmt wie das familiäre Miteinander von männlichen und weiblichen Verwandten. Dass darüber hinaus bei Weinsberg auch als Symbolisierungsform einer Wir-Repräsentation die Amtszeichen des Hausvaters festgelegt werden sollen, mag wenig überraschen. Zu den wichtigsten Bestimmungen zur Wahrung des familiären Gemeinwohls zählen: 1. Wahl des Hausvaters: [...] man ſolt vyß jnne(n) eyn heübt / erwelen, eynen verſtendigen, erenthafften man [...]. 2. Wahl von dessen Beratern: zü dem ſülten acht perſonen alle / zeit vnder jn ſyn, van den beſten haüſgnoſenn, / wilche neben dem hauſfatter deß gmeine(n) haüß / ſachen ſulten vertreden, vnd sorg­haber genant / werden [...]. 3. Kindererziehung, Alten- und Armenfürsorge aus Gemeingut: daß / alle haüßgütter zü gmeinem nütz angelacht worden, / daß die kinder erlich erzagen, den alterloſenn, / jr leib, hab, vnd gutt, verwart, vnd den armen / haüſgnoſen noitturfft verſchafft worde [...]. 4. Tischgemeinschaft von Hausvater und ‚Sorghabern‘: ſülten aüch, alle mittags, vnd abenß an deß / haüſfatters diſch eſſen, aber jre weiber ſülten / jn jren wonungen bei jren kyndern vnd geſynde / pleiben [...]. 5. Wahlgremium des nächsten Hausvaters: ſo ſulten die sorghaber bynnen, veirzich dagen / eyne(n) andern haüſfatter vnder jn erwelen [...]. 6. Amtszeichen des Hausvaters: der haüſfatter ſolt aüch aramondi mantel, / hoedt, zeichen, rynck, vnd ſtaib, vff daß jarfeſt / vnd ſunſt wie gebrüchlich, andoin [...].79

Während im Erzählvorgang im Vagen bleibt, wie es zu dieser Hausregel kommt und wer sie alternativ zum Erzähler im Text vorträgt, ist die Aufnahme einer weiteren Regel dadurch herausgehoben, dass sie als einzige szenisch ausgestaltet ist. In der Versammlung der ausschließlich männlichen Familienmitglieder erscheint unvermittelt eine Filana samt anderen tugendhaften Weinsberg-Frauen und bittet um Erlaubnis, das Wort an die Versammlung richten zu dürfen. Der Auftritt einer Frauenfigur und die Ausnahmeerlaubnis, vor den Männern sprechen zu dürfen, bauen Spannung auf, welche Regel die Frauen des Clans unbedingt in der Hausregel festgeschrieben wissen wollen: ſey wollten / mit verpieten, daß nemans van den haüſgnoſen / zu(m) kreich ſülte ziehen.80 In der Hausregel findet sich dann aber eine leicht abweichende Formulierung: 7. Kriegsdienstverbot für Hausvater und Sorghaber: [...] derhalb haben ſei vertragen[,] daß kein haüſfatter, ader sorghaber / zü kreich ſült zehen, dan allein zü haüß bleiben, / vnd die gmein geſchefften verwalten […].81

79

BW, fol. 10v–13v. BW, fol. 13v–14r. 81 BW, fol. 14r. 80

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Die Frauen fordern also ein Kriegsdienstverbot für alle Männer, in der Hausregel werden aber lediglich der Hausvater und sein Beratergremium vom Kriegsdienst ausgenommen. Das ist sowohl bürgerlich wie latent pazifistisch zu werten, denn im weiteren Gesprächsverlauf zwischen Frauen und Männern wird nicht nur die Kontinuität der Hauswirtschaft in Kriegszeiten problematisiert, sondern auch ein Recht auf Selbstverteidigung diskutiert. Solcherlei Hausregel und Verhaltensmaximen hindern jedoch den fabulierlustigen Weinsberg nicht daran, spätere Hausväter und Protagonisten seiner Familiengeschichte in abenteuerliche Kriegshändel zu verwickeln, freilich abermals, um weitere Symbolisierungsformen aus dem Handlungsverlauf zu generieren. So ist das von Weinsberg immer wieder gezeichnete, beschriebene sowie allegorisch ausgedeutete Familienwappen in der Detailbedeutung von Wappenbild und Helmzier ebenfalls ‚Produkt‘ erzählerischer Imagination.82 Neben dem Geschlechts- und Hausgründer Aramondt gilt ein nicht weniger sagenhafter Henrich als vornehmster ,Patron des Stamms‘. Henrich ist der Protagonist in der Episode der Belagerung Mailands, der einstigen Ruhestätte der Gebeine der Heiligen Drei Könige, durch Kaiser Friedrich Barbarossa (reg. 1152/55–1190). Die einzelnen Bestandteile des Weinsberg-Wappens entwickeln sich während des Handlungsverlaufs von einem beiläufigen Konversationsgegenstand ‚Kleeblätter als Heilkräuter‘ über ‚Kleeblatt als Wortzeichen und Losungswort‘ schließlich zum Wappenbild.83 Selbstredend weist der ‚phantastische‘ Ahnherr Henrich nicht nur militärische Verdienste auf, sondern ist darüber hi­naus ebenso ‚maßgeblich‘ an der Überführung der berühmtesten Reliquien nördlich der Alpen von Mailand nach Köln84 sowie in Streitigkeiten mit Heinrich dem Löwen (reg. 1142–1180) verwickelt.85 Somit schreibt Weinsberg die eigene Familiengeschichte an prominenter Stelle in die Stadtgeschichte Kölns ein. Da Henrichs Wappen schließlich Weinsbergs eigenes Wappen wird und als solches auch dessen Haus- und Lebensmotto ikonographisch repräsentiert, soll auf dieses hier näher eingegangen werden (Abb. 3 und 4). Als Erzähler von Henrichs militärischen Ruhmestaten, dem Erringen seines Freiherrentitels und Amts als Erbkämmerer des Römischen Reiches schildert Weinsberg dessen Wappen wie folgt: daſelbſt ſcloig er Henrichen van Weinſberch, vnd vill / kreichsleüth[,] ritter, vmb jrer manlicher daten willen, / die danneſt van gebürt zu vür edel geboren waren,[.] / vnd der keiſer gaff Henrichen van Weinſberch zum zeüg= / niß ſyner wonderlicher anſclege, vnd getrewen ver= / deinſte, Eyn weiß Schillt, dar jn eyn ſwartz ſpar, vnd / drei ſwartzer kleblater dar vmb, vnd zü dem helm= / zeichen, eyn güldin kroin, mit eym heüptmans ar= / men, jn der rechter faüſt eynen klüppel haltende,[.] vnd / ſülchs wapen ſült er vür ſich vnd ſyn leibserben, vnd / nachkomen van manßlineen zü manßlineen gebornn, / allein gebrüchen, vnd foeren, dar van jm der keiſer breiff / vnd büllen gaff […].86 82

Zu Weinsbergs Wappen im Kontext seiner Stiftungen vgl. Schmid, Ein Bürger und seine Zeichen, S. 46–61. 83 Vgl. hierzu den Auszug aus der narrativen Passage des Boichs Weinsberg in Buch Weinsberg, Bd. 5, S. 441–446. 84 Vgl. ebd., S. 446f. 85 Vgl. ebd., S. 446; Rohmann, Lügner, S. 65. 86 BW, fol. 36v–37r.

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Abb. 3: Die prominentesten Hausväter Quelle: BW, fol. 323r.

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Abb. 4: Weinsbergs eigenes Wappen und dessen Deutung Quelle: BW, fol. 49r.

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Mit diesem Wappen schafft sich Weinsberg eine Symbolisierungsform, die gleichermaßen für das einzelne Familienmitglied wie für die Gesamtfamilie steht. Hierbei hat das Bildprogramm wie der Familienname nicht nur Identifizierungsfunktion, sondern visualisiert – wie Weinsbergs Wappendeutung veranschaulicht – auch das ‚gemeinsame‘ Lebensmotto. Als ein weiteres Moment „eines identitätsverleihenden Ethos“87 in Weinsbergs fiktiver Familiengeschichte nimmt die allegorische Bedeutung des von ihm selbst entworfenen Familienwappens – als ‚Kardinaltugend‘ oder Hausmotto – das Maßhalten vorweg: Medium tenuere beati („Die Glücklichen wandeln den Mittelweg“). Das ‚rechte Maß‘ oder der ‚Mittelweg‘ ist die fundamentale Leitkategorie von Weinsbergs Ethos, welches dieser als Erzähler abermals aus der Handlung seiner Familiensaga zu entwickeln versteht. Weinsbergs Wappen ist in der öffentlich-offiziellen Variante wie etwa auf dem Altarbild Barthel Bruyns d. J. (1523/25–ca. 1610) auf die durch Schranken in drei Felder mit je einem Kleeblatt unterteilte Schildfläche reduziert (Abb. 5):88 Das mit seiner phantastischen Familiengeschichte, insbesondere dem Erwerb des Adelstitels und des Marschallstabes von Stammvater Henrich aufgeladene Wappendetail von Ritterhelm und Helmzier ist demgegenüber ausgespart. Die private Ikonographie ist als Symbolisierungsform kollektiver Identität und als Erinnerungsfigur an die vermeintliche Familiengeschichte also wesentlich signifikanter.89 Als Erzähler gehört Weinsberg jedoch nicht zu jenen, die das allegorische Potenzial ihrer Bild­inhalte wie des Wappens samt Helmkleinod mit eingeschobener, handlungsunterbrechender Allegorese eigens deuteten bzw. signifikanten Gehalt der Deutung seiner Leser ‚didaktisch‘ entzögen, denn seine Wappendeutung findet in den Gedenk­büchern statt – ein Hinweis mehr darauf, dass Boich Weinsberg und das Gedenckboich der jaren konzeptuell wie Allegorie und Allegorese oder Erzählung und Deutung zusammengehören.

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Velten, Leben, S. 314. Zu Bruyns Darstellung der Familie Weinsberg vgl. Werner Schäfke, Das Triptychon des Hermann von Weinsberg, in: Museen in Köln 14 (1975), Heft 3, S. 1307–1311; Ders., Kreuzigung, in: Irmgard Tietz-Lassotta (Red.), Kölnisches Stadtmuseum. Auswahlkatalog, Köln 1984, S. 389. 89 Vgl. Schmid, Renaissancekultur, S. 8, 25–34. 88

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3.2 Optima mediocritas: Identität und Individualität in den Gedenckbüchern der Jaren Suchte man noch nach einer Begründung, die Gedenkbücher als Selbstzeugnisse oder Ego-Dokumente einordnen zu können, deutete das folgende Zitat zwar noch nicht in Richtung Autobiographie, unzweifelhaft aber auf ein Selbstzeugnis hin:90 Dan jn diſſem Gedenckboich wirt principalich / vnd meiſtheills von myr ſelbſt vermelt, myn / leben, handel, vnd wandell van anfanck biß vff / ietzige zit, vnd villicht noch weiters (wie zu ver[-] / hoffen) beſchriben,[:] Waß ſich mynenthalben jn / myner kyndtheit, jügendt, manheit vnd alter zu[-] / getragen hat,[;] wanne, wa, vnd wie jch geboren[,] / geteufft, gefirmpt vnd erzagen byn, von mynem / ſcholganck, ſtudern, promoüeren, von mynem fleiſs[,] / vnfleiſs vnd hyndernyß jn der lehr, von mynem / eheſtandt, rhaitzganck, burgerſchafft, kirchmeiſter[-] / ampt, Borggreifſschafft, von myner perſon leib vnd / geſtallt, von mynen ſidden, complexion, vnd ſynnen, / von mynen jrthümmen, vnd widderwerdicheiten […].91

Was sich zunächst mehr wie die Ankündigung eines schematischen Lebenslaufes von der Kindheit bis zum Alter des Verfassers liest, thematisiert bereits die wechselseitige Bezogenheit von Identität und Individualität dadurch, dass sowohl beantwortet wird, „wer einer ist“ als auch „wie einer zu diesem wer geworden ist.“92 Man braucht also noch keine der berühmten vier Selbstbeschreibungen im Alter von 33, 56, 60 und 70 Jahren bei Weinsberg zu kennen93 und darf doch versichert sein, dass mit dem klassischen Topos der Autobiographie personale Identität schier in jeglicher Hinsicht thematisiert wird.94 Auffällig ist zudem, dass die Auflistung 90

Während Pastenaci, Erzählform, bereits für deutschsprachige Ego-Dokumente wie Weinsbergs Schriften die Gattungsbezeichnung ‚Autobiographie‘ verwendet, weist Velten, Leben, S.  12f., darauf hin, dass „historisch gesehen [...] erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Autobiographie gesprochen werden“ könne, wenn als gattungskonstituierende Merkmale „die reflexive Analyse des Ich, der Stil des bekennenden Individuums, das sein Privates dem Leser öffnet, die psychologisch interpretierte Entwicklungsgeschichte seiner Persönlichkeit“ sein sollen. Angesichts der Formen­ vielfalt autobiographischen Schreibens in Spätmittelalter und Früher Neuzeit favorisiert Velten folglich den Begriff ‚Selbstzeugnis‘, den bereits Marianne Beyer-Fröhlich, Die Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse, Leipzig 1930, verwendet hat. Lejeune, Der autobiographische Pakt, S. 28, erklärt für (moderne) Autobiographien die „Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist“ zum Gattungscharakteristikum. Auf die Schriften Weinsbergs u. a. bezogen, hatte Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung, Berlin 1932, ND Hildesheim/New York 1970, S. 165f., die Gattungsbezeichnung ‚Selbstbiographie‘ verwandt. 91 LI, fol. Vv–VIr. 92 Velten, Leben, S. 306. Zur Definitionsproblematik von ‚Identität‘ in der Frühen Neuzeit vgl. Kar­ tschoke, Ich-Darstellung, S. 62f.; Glasner, Das erinnernde Ich, S. 286, Anm. 5. 93 Zu Weinsbergs Selbstdarstellungen vgl. Herborn, Weinsberg, S. 29; Pastenaci, Erzählform, S. 118– 122; Glasner, Das erinnernde Ich, S. 295–302; Lundin, Paper Memory, S. 18–20; zu den Selbstbildnissen vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 303–318. 94 Velten, Leben, S. 331.

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der ‚Ego-Themen‘ gleich zu einer systematisch geordneten Vita gerät und Negatives nicht verschwiegen wird, was den Urheber als einen humanistisch genauen Verfasser nach dem Vorbilde des Erasmus von Rotterdam charakterisiert. Und überdies machen Weinsbergs Selbstbeschreibungen fasslich, wie sich nach Otto Ulbricht Individualität für die Vormoderne definieren ließe: zum einen durch „die Unterschiedlichkeit jedes Einzelmenschen von einem anderen [...], seine Unverwechselbarkeit“,95 dann durch „die bewußte Individualität“,96 die im Bewusstsein des Autor-Ich aus der Relation von eigenem „Inneren einerseits und der Welt andererseits“97 entsteht, und im Hinblick auf spätmittelalterlich-frühneuzeitliches Denken schließlich durch „die Perspektive des Sündhaften zu Gott“.98 Im Gegensatz zu den verbalen Selbstzeugnissen zeigen die Selbstdarstellungen Weinsbergs auf den Deckblättern seiner Gedenkbücher weniger ein individuelles als vielmehr ein typisierendes Weinsberg-Bild. Zwar sucht sich der Dilettant Weinsberg individuelle Gesichtszüge zu geben, Haltung und Tracht entsprechen aber den spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Bildtypen ,Autor‘, ‚Stifter‘ und ‚Hausvater‘.99 Für den folgenden Abschnitt konnte insbesondere auf die Arbeiten von Wolfgang Herborn, Stephan Pastenaci und Hans Rudolf Velten zurückgegriffen werden. Während Pastenaci „Weinsbergs individuelle Selbstdarstellung als Sonderfall“ vor allem hinsichtlich seiner humanistischen und religiösen Wurzeln sowie seiner ‚Selbsterkenntnis‘ gegenüber anderen und seiner ‚Affektivität‘ („Liebe und Leidenschaft“, „Sexualität“, „Aggressivität, Streit“, „Tod und Trauer“) in einem eigenen Buchkapitel behandelt,100 sind es bei Velten vornehmlich die Betrachtungsaspekte für Identität und Individualität in autobiographischen Texten anderer Autoren des 16. Jahrhunderts, die mich auch bei der Auswahl der Textstellen bei Weinsberg geleitet haben: ‚Distanz zu sich selbst‘,101 ‚persönliche Meinung‘102 sowie ‚soziale Identität‘.103 „Identität erwächst“ auch in autobiographischen Texten des 16.  Jahrhunderts „aus der Spaltung des Ich in eine handelnde und eine beschreibende, sich selbst beobachtende und bewertende Instanz.“104 Diese produktive „Trennung von Ich und Selbst im Erzählprozeß“105 wird nach Velten insbesondere an Schilderungen der eigenen Kindheit fasslich. In seinem Gedenkbuch schildert Weinsberg nach einem Abschnitt über seine Eltern Christian von Weinsberg und Sophia Korth seinen Ge-

95

Otto Ulbricht, Ich-Erfahrung. Individualität in Autobiographien, in: van Dülmen (Hg.), Entdeckung, S. 109–144, hier S. 111f. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Ebd.; vgl. Kartschoke, Ich-Darstellung, S. 62f. 99 Vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 303–318. 100 Pastenaci, Erzählform, S. 92–145. 101 Velten, Leben, S. 324–330. 102 Ebd., S. 313. 103 Ebd., S. 312–315. 104 Ebd., S. 327. 105 Ebd., S. 324.

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burtstag (3. Januar 1518) und seine Taufe (6. Januar 1518), die Firmung (16. März 1519), Krankheit und Sturz als Kind, seine erste Kleidung und Beichte und anderes mehr.106 In Darstellungen seines weiteren Lebenslaufes streut er aber auch Episoden und Ereignisse ein, die seine Kindheit als Diskrepanz „des kindlichen Noch-nicht und der erreichten Identität im Erwachsenensein“107 illustrieren. Hierfür ist die Erzählung von Jugendstreichen des zehnjährigen Weinsberg exemplarisch: als myr nühe zu den ſteinen quamen[,] raffte / jeder van vnſſer ſexen ſynen ſchoiß voll / ſchrotten, gincken gegen die finstern ſtain / vnd worffen zu glich jn die finſtern, daſs / laüte, wonderlich,[:] klingelin, lin, lin, lin, lyn,[;] / vnd leiffen damit eilenß die hoeportzs / aff, biß an die bach, vnd warten, da[,] waß / folgen wollt,[.] do ſagen mir[,] daß alle häuſer / vffgingen, vnd quamen man, frauwen, ge= / ſynde, kynder, vnd alles her für mit lichter / vnd wonderthen ſich deß gerüchtz […].108

Derartige schier zeitlose ‚Lausbubenstreiche‘ werden vom Erzähler Weinsberg so lautmalerisch geschildert (klingelin, lin, lin, lin) wie milde getadelt, wäre doch Weinsberg zufolge nach derartigen Störungen der Nachbarschaft körperliche Züchtigung angemessen gewesen. Individualität wird auch bei Weinsberg besonders in jenen Passagen fasslich, die Formen von „Selbstkritik“ oder eine „Diskrepanz zwischen Wollen und Müssen“109 thematisieren. Fastabend 1574 veranlasst Weinsberg zu einer narzisstischen, im Vergleich zu karnevaleskem Treiben jedoch harmlosen eigenen Narretei einer neuerlichen Selbstdarstellung: Anno 1574 den 22. februͦ arij jm faſtabent vff / den montag hab ich vmb zit verdreib vnd ge= / ſelſchafft vnd truͦ nk zu miden mich selbſt ab= / contrafeith vnd die geſtallt myner personen[,] / angeſichtz vnd leibß angezeignet, do ich alt war / 56. jar, wie nachfolgt. / [...] Wolgeſtalte ſchone frauen(=) / leüth hab ich luͦ st zu ſehen, vnd die boeſe beger iſt / arger dan der wil vnd wirck, [...] byn [...] ſanfftmuͦ ttich und gedultich / [...], aber ſcharff jm / zorn mit worten [...] byn lecker= / hafftiger nit begerlich [...] vnd felt mir daß / faſten ſwere,[.] Jch ghain wol zü kirchn [...] aber bitte nit ſo fleiſſich noch vil, [...] Jch halt gern ma= / neir [,] ordnong vnd brauͦ ch [...].

Die Selbstbeschreibung spart Anfechtungen eigener Lasterhaftigkeit ebenso wenig aus wie Selbstkritik an mäßiger Frömmigkeitsübung.110 Charakteristisch erscheint zudem die Selbstzuschreibung von Ordnungs- und Traditionsliebe. Derartige Selbstdarstellungen belegen, dass „die Konstituierung der persönlichen Identität dem Erleben ihrer Problemhaftigkeit parallel laufen“ kann.111 106

Zum Themenkomplex Krankheit bei Weinsberg vgl. Robert Jütte, Krankheit und Gesundheit im Spiegel von Hermann Weinsbergs Aufzeichnungen, in: Groten, Weinsberg, S. 231–251. 107 Velten, Leben, S. 324. 108 LI, fol. 33v–34r. 109 Ebd., S. 307. 110 Zu Weinsbergs Selbstkritik vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 297–301; Rohmann, Lügner, S. 59. 111 Velten, Leben, S. 318.

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Darüber hinaus zeigt sich in Weinsbergs Gedenkbüchern ein individuelles Selbst, wenn es um eigene Ansichten bzw. abweichende Einschätzungen gegenüber der öffentlichen Meinung oder bloßen Gerüchten geht. So berichtet Weinsberg am 31. Oktober 1589 von einem Stupe Peter, der der Zauberei und Gräueltaten als Werwolf bezichtigt worden sei: Anno 1589 den 3j. Octobris iſt Stuͦpe Peter rechtfertiget / worden,[.] diſſer war ein bawr vff drei meiln van Coln / zuͦ Eperade wonhafft,[.] diſſer wart gefangen und hin vff / Bedber gefuͦyrt,[.] Man ſagt[,] er were ein zeuͦberer, der ſich / zum werwolff het kuͦnnen machen und vil ſchadenß / vnd ſchreckenß im lande gemacht,[.] / vnd hett / jn wolffs geſtalt 13 kynder von 6 oder 7 jaren[,] auch ſyn / eigen ſontgen zerriſſen vnd jnnen die hirnen auß den / kopffen freſſen […].112

Weinsberg enthält sich zwar nicht, schauerliche Details dieses umgehenden Gerüchts eines kinderfressenden Werwolfs festzuhalten, kommt aber dessen Glaubwürdigkeit erwägend zu eigenem Schluss: Sol ichs gleuͦben[,] ſo wil ichs ge= / leuͦben,[.] Aber das alles war ſei[,] waß man vom zauͦ= / bern ſagt[,] dreuͦmbt vnd nach ſwetzſt[,] daß kan ich nit / all gleuͦben,[.] wan ſuͦlche boeſe zeuͦber jn Coln wern[,] / da man auͦch recht weiß, wuͦrde wol juͦſticia druͦber / geſchein,[.] Wer weiß[,] ob eß verſclach, bedroch, jnbilduͦng / ſei,[.] jch laiß heimlich, verborgen dingen Gode[,] dem / nitzs verborgen[,] richten.113

Was von sogenannter Zauberei durch Hörensagen, Träumereien oder schlichtes Nachschwätzen kolportiert werde, könne er nicht glauben. Die eigene Meinung insbesondere im „Kontrast zu anderen“ kann auch bei Weinsberg als „ein Zeichen für das Bewußtsein von Identität“ aufgefasst werden.114 Für Hieronymus Wolf hat Velten als Kennzeichen für Identität auch die „Selbstdistanz im Humor“ geltend gemacht.115 Vergleichbares lässt sich auch bei Weinsberg finden, der insbesondere die Gesamtheit seines Stiftungsvorhabens nicht ohne Selbstironie betrachtet hat. Im September 1579 manifestiert sich Weinsbergs soziale Identität auch an seinem Bildungsbewusstsein, das ihn immer wieder auf Lektüren oder erworbene Bücher hinweisen lässt. Seine Schwägerin Elisabeth habe ihm eine lateinische Fassung von Sebastian Brants Narrenschiff, 1497 gedruckt, zukommen lassen.116 Das Alter dieses Narrenschiffs veranlasst Weinsberg nicht nur dazu, seinen künftigen Hausvater zu ermahnen, auch seine eigenen Bücher – unklar, ob damit Boich Weinsberg und Gedenkbücher oder seine Bibliothek gemeint ist – in Ehren zu halten. Angesichts des Spektrums von Bücher- und Sündernarren bei dem Humanisten Brant kommt Weinsberg mit Blick auf sich selbst zu dem ironischen

112

LD, fol. 151v. Ebd. 114 Ebd., S. 313. 115 Ebd., S. 324. 116 Zu Weinsberg und Sebastian Brant vgl. Lundin, Paper Memory, S. 109. 113

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Schluss, dass dem Narrenschiff noch ein Narrentypus fehle bzw. sein Ansinnen, das Haus Weinsberg wie eine kirchliche Stiftung fundieren zu wollen, ihm einen Platz in Brants Narrenschiff garantieren müsste: Jch hab noch eyn / alt geſchriben boich von paibſten vnd keiſer vnd / jſt nit vngeſtalt dan durch auͦß leſlich, wilch mich / beduͦnckt vber 200 vnd mehe jaren alt zu ſyn, / darvmb ermant mich diß Narrenſchiftzs boich vor / eirſt, das ich euͦch[,] Lieber hauͦſfatter[,] vnd andern bitte[,] / daß jr myn geſchriben boicher vrer nachkomenheit / verwaren wilt vnd vngeletzſt nachlaissen,[;] Zum / andern[,] als ich es duͦrch hyn beſigtigt[,] daß alle Narren / nit gnog jm ſelben boich specificeirt ſyn, beſonder ich[,] / da ich vnderſtain[,] mynß fatters hauͦß weinsberch der= / maiſſen durch myn Teſtament zuͦ fuͦndern vnd zu / beſtifften[,] das es ewich duͦren, ſo ich doch weiß[,] daß / nichtzs vff erden beſtendigh jſt vnd keiner vor mir / ſulch hauͦß jn Coln fuͦndert hat[,] daß weltlich iſt, es / were dan eyn geiſtlich hauͦß[,] kirch, cloiſter, Conuͦent, / capel, gaſthuͦß, ſpittal,[;] vnd gluͦb[,] wan mich Auͦthor / libri gekant vnd myn vornemen gewiſt, er het mich / mitten drin geſatzſt […].117

Weinsberg vermochte offenbar zu seinem profanen Stiftungsprojekt bzw. seinem Fideikommiss118 auch eine selbstironische Haltung einzunehmen, worin abermals ein Aspekt seiner Individualität aufscheint.119

3.3 Selbst und Wir: stam und haus Weinsberg Wolfgang Schmid hat bereits mehrfach nachgewiesen, dass Weinsberg in seiner zeitgenössischen Öffentlichkeit in der ganzen Bandbreite bürgerlicher Repräsenta­ tionsformen von Wappen auf Geschirr und Silber über gestiftete Kirchenfenster und Epitaphe präsent gewesen ist.120

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LS, fol. 147v. „Dieser Fideikommiß, mit dem Hermann gewährleisten wollte, daß sein Nachlaß stets ungeschmälert zur Erhaltung seines väterlichen Stammhauses erhalten blieb, ist ganz auf weltliche Zwecke gerichtet. Hermann war in erster Linie von der Sorge um das Weiterbestehen des Namens und der Familie Weinsberg geleitet, das er in der Fortdauer des elterlichen Hauses garantiert sah. Die Sorge um sein Seelenheil und seine Memoria wie die seiner verstorbenen Angehörigen treten nur noch als Akzidentien hinzu“; Studt, Hausvater, S. 142. 119 Zu Weinsbergs Selbstironie vgl. Pastenaci, Erzählform, S. 128f. 120 Vgl. Schmid, Renaissancekultur; Ders., Ein Bürger und seine Zeichen, S. 43–64; Ders., Lebenswelt, S. 120–129. 118

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Abb. 5: Altarbild der Familie Weinsberg von Barthel Bruyn d. J., 1556/57 Quelle: Kölnisches Stadtmuseum, Inv.-Nr. KSM 1974/373.

Das bereits erwähnte Altarbild von Barthel Bruyn d. J. ist in seinem ikonographischen Programm insbesondere für seine Illustrationen von Haus und Name ‚Weinsberg‘ grundlegend (Abb. 5).121 Es zeigt seinen Auftraggeber so stereotyp wie porträthaft vor der Kreuzigungsgruppe positioniert. Christusverehrung und Familiensinn, die Selbstinszenierung in Kölner Stiftertradition vor einer Jerusalemsilhouette als Ausweis biblisch-typologischen bzw. allegorischen Denkens sind auch für Weinsbergs eigene Text-Bild-Kombinationen in seinen Manuskripten fundamental. Nicht nur in den Gedenkbüchern, sondern auch im Boich Weinsberg finden sich signifi-

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Für die Genehmigung, Bruyns Altarbild in meinem Beitrag abbilden zu dürfen, danke ich Herrn Dr. Mario Kramp vom Kölnischen Stadtmuseum.

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kante Selbstdarstellungen des Verfassers, die Weinsbergs Vorstellung von personaler Identität in der Typisierung des Stifters visualisieren.122 Mehrfach variiert Weinsberg hierbei den Motivkomplex ‚Haus Weinsberg mit Christus als Weinstock‘.123 Wie auf Bruyns Altarbild stellt sich Weinsberg mehrfach als Stifterfigur in Anbetung des Gekreuzigten dar. Während der Stifterfigur auf Abbildung 6 Spruchband, Wappen und Namenszug identifizierend beigegeben sind, ist die Christusdarstellung umrankt von zwei Rebstöcken. Seitenanfang und -ende rahmen das Vollbild mit Bibelzitaten motto- und sentenzhaft ein. Aus diesem Kombinationstypus von Schrift und Bild resultiert ein regelrechter Dialog zwischen Religions- und Hausstifter, der die Allegorese des gesamten Blattes steuert: Das bildüberschreibende Christuswort Ego vitis vera, vos palmites (Joh 15,1 u. 5: „Ich bin der wahre Weinstock […] und ihr die Rebzweige“) korrespondiert mit dem Stifterbekenntnis des Spruchbandes nahe Weinsbergs Selbstdarstellung: Mihi autem absit gloriari nisi in cruce domini nostri Jhesu Christi (Gal 6,14: „Ich jedoch will mich nicht rühmen, es sei denn im Kreuze unseres Herrn Jesus Christus“). Während das Schriftliche jeweils perspektivisch für den einzelnen Sprechakt steht, dynamisiert die Allegorese des Christuswortes bereits die Bildbedeutung. Namensetymologie und Demutsgestus lassen die Organologie korporativen Zusammenhalts (des Weinstocks) als von der Religionsgemeinschaft auf die Familie Weinsberg übertragbar erscheinen. Denn das Miteinander von linearer Schrift und simultaner Bildlichkeit in ihrem Ordnungsprinzip der Fläche kehrt die Textur der Blattgestaltung mit ihrer konnotativen Bedeutungsebene hervor: Der wahre, also ethos- und sinnstiftende Hausvater der Familie Weinsberg ist Christus. Bereits durch das allegorische Christuswort vom Weinstock und den Reben, mehr aber noch durch die Interaktion von Schrift und Bild, wird auch eine Deutung im Sinne des vierfachen Schriftsinnes ermöglicht: Auf der Ebene des Literalsinns steht ‚Weinsberg‘ wörtlich für den Autor und für das gleichnamige Haus uff der Bach im Zentrum Kölns, die in einem typologischen Sinne auf Jesus Christus ausgerichtet sind. Die tropologische Implikatur appelliert an entsprechendes moralisches Verhalten, um einen familiären Zusammenhalt im Sinne der Weinstock-Organologie zu erwirken. Schließlich wird auch auf die anagogische Sinnebene endzeitlicher Auslegung angespielt, indem die Wein-Blut-Metaphorik des Gekreuzigten dem Stifter und seinem Haus das ewige Leben verheißt. Im Folgenden wird Weinsbergs Selbstdarstellung in Abbildung 6 mit derjenigen von Abbildung  7 verglichen. Auf den ersten Blick kann Abbildung  6 als Vollbild mit Textzusätzen gelten, wohingegen Abbildung 7 zunächst als Text mit Bildzusatz erscheint.

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Vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 303–308; Rohmann, Lügner, S. 72. Zur Weinstockmotivik bei Weinsberg vgl. Studt, Hausvater, S. 138f.; Schwerhoff, Verklärung, S. 70; Glasner, Das erinnernde Ich, S. 305–308.

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Abb. 6: Weinsberg vor Christus als ‚Weinstock‘ Quelle: BW, fol. 201v.

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Abb. 7: Haus Weinsberg mit Gott als ‚Gärtner‘ Quelle: BW, fol. Qv.

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Bei genauerer Analyse der beiden Illustrationen werden außer den Gestaltungs­ parallelen (Christus und der Weinstock) auch Gestaltungsvarianten deutlich, die zum einen das Bildprogramm ‚Christus als Hausvater‘ und zum anderen dessen Allegoriepotenzial noch stärker akzentuieren. Das vorherige Mottozitat Ego vites vera vos palmites erscheint in Abbildung 7 nicht mehr als inscriptio im oberen Blattdrittel. Zudem rankt aus dem hier dargestellten Haus Weinsberg aus dem Dachfirst eben jener Weinstock empor, dessen Reben in Abbildung 6 beziehungsreich in das Kruzifix des Heilands übergehen. Darüber hinaus begegnet in Abbildung 7 die Selbstdarstellung, in Weinsbergs dilettierender Hand sichtlich vergröbert, abermals als Stifterfigur mit einer Segensbitte auf einem Spruchband: Domine si vis potest domui huic(us) bene­dicere. Die dargestellte Stifterfigur in Abbildung 7 kniet aber nicht (erneut) vor dem Gekreuzigten nieder, sondern nunmehr vor dem eigenen Haus mit Familienwappen und einer Gärtnerfigur. „Mit dem Gleichnis von Gott als Weingärtner und Christus als Weinstock kann er sein Ideal des Hausvaters und seine Idee des Hauses nicht nur historisch herleiten, sondern auch christlich legitimieren.“124 Zwar rankt aus dem Dachfirst des Stammhauses abermals Rebstockhaftes hervor, realisiert sich aber dieses Mal nicht in Weintrauben und Gekreuzigtem. Die Textur des Blattes wird neuerlich erschließbar als Semiose aus Bildlichem und Textlichem: Unter der Abbildung begegnet der vollständig zitierte Johannestext Ego sum vitis vera et pater meus agricola est (Joh 15,1: „Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner“). Nun ‚bestellt‘ also nicht Christus, sondern Gott-Vater selbst Haus und Grund ‚derer von Weinsberg‘, aus deren Stammsitz, dank göttlicher Fürsorge, hier nicht allegorisch-Familiäres wie ein Weinstock mit Christus hervorgeht. Vielmehr krönt in der Variante von Abbildung 7 Haus und Weinstock eine Schrift, die sich zudem als Text im bzw. aus dem Boich Weinsberg mit seiner phantastischen Familien­geschichte erweist.

124

Ebd., S. 139.

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125

4. Familiengeschichte und Tagebuch: Ambitionierter Versuch einer Identitätsstiftung Weinsbergs Boich Weinsberg und Gedenkbücher konstituieren in ihrer Zusammengehörigkeit ein monumentales Familiengedächtnis, dessen ineinander verschränkte Hauptinhalte die personale Identität ihres Verfassers ebenso wie die kollektive Identität ‚der Weinsbergs‘ darstellt. Zwar handelt es sich hierbei um den gescheiterten Versuch von Traditionsbegründung und -bewahrung, wie es sich nach Weinsbergs Tod unmittelbar abzuzeichnen begann.125 Sein närrisch-ambitionierter Stiftungsversuch war weder von Dauer noch von einer „normativen und formativen Kraft“.126 Allerdings wird sich zweierlei nicht leugnen lassen: Sowohl seine fiktive Familiengeschichte als auch seine chronikhaften und autobiographischen Gedenkbücher enthalten eine spektakuläre Fülle von Repräsentationszeichen und Erinnerungs­figuren, die im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Köln durchaus als Symbolisierungsformen von Ich- und Wir-Identität hätten Geltung erlangen können. So liegt Weinsbergs Scheitern allerdings weniger in dem Nebeneinander von „quantitativ Unausgewogene[m] von familiärer Gründungsgeschichte“ und „Weinsbergs [selbstbezüglichem] Alltagsgedächtnis“ begründet, als vielmehr schlicht in der Tatsache, keine eigenen Kinder gehabt zu haben.127 Damit muss Weinsbergs Stiftungsgedanke als verfehlt betrachtet werden, seine Stiftungsidee hingegen, als Person und als Familie nicht in kollektivem Vergessen zu versinken, hat bis heute nicht nur in der Intermedialität seiner illustrierten Manuskripte, sondern darüber hinaus in den vielfältigen wissenschaftlichen Beschäftigungen mit denselben Bestand.

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Weinsbergs Tod und dem Niedergang seiner Familie ist nach Schwerhoff, Verklärung, S.  86, der ‚glückliche Überlieferungszufall‘ seiner Manuskripte zu danken. Nach dem Rücktritt von Weinsbergs Bruder Gottschalk als alleinerbender Hausvater und dessen ungeklärtem Tod folgte Hermann jun. 37-jährig, der aber seinerseits nach dem Auffinden seiner toten Tante in einem Brunnen am 17.08.1597 unter Mordverdacht verhaftet wurde. Heikle Suizidverdächtigungen und handfester Mordvorwurf machten in Köln die Runde und blieben im Wortsinne ‚skandalös‘, auch wenn den Betroffenen juristisch nichts Stichhaltiges nachgewiesen werden konnte. Der wegen anderer Delikte inhaftierte Hermann jun. verstarb 1604 im Kerker und die Familie erwirkte 1608 vor Gericht die testamentswidrige Aufteilung von Weinsbergs Nachlass. Letztlich verdanken wir Weinsbergs Werk bzw. dessen Überlieferung jener Kriminalgeschichte, denn in deren Verlauf hat der Kölner Rat nicht nur Weinsbergs Hinterlassenschaft, sondern eben auch dessen Aufzeichnungen eingezogen. Mehr als 250 Jahre ruhten Weinsbergs Schriften unbemerkt im Kölner Stadtarchiv, bis Leonard Ennen sie schließlich wiederentdeckt hat. 126 Assmann, Gedächtnis, S. 52. 127 Vgl. Glasner, Das erinnernde Ich, S. 294. Weinsberg hatte lediglich eine außereheliche Tochter Anna (geb. am 06.11.1546, gest. vor 1601); vgl. ebd.; Herborn, Weinsberg, S. 30. Zu Weinsbergs Scheitern vgl. Studt, Hausvater, S. 159f.; Rohmann, Lügner, S. 73f.

DIE ANDEREN IM KRIEG. SPANIER, NIEDERLÄNDER UND ANDERES ‚KRIEGSVOLK‘ IN DEN AUFZEICHNUNGEN DES KÖLNER RATSHERRN UND CHRONISTEN HERMANN WEINSBERG (1518–1597) Andreas Rutz

1. Einleitung Hermann Weinsberg lebte in kriegerischen Zeiten.1 Als aufmerksam beobachtender Zeitgenosse erlebte er die Kriege Kaiser Karls V. (reg. 1519/30–1556), den Aufstand in den Niederlanden und die ersten Jahrzehnte des Achtzigjährigen Krieges (1568–1648) sowie den Kölner Krieg (1583–1588) und dokumentierte sie ausführlich in seinen Gedenkbüchern. Auch wenn er die sicheren Mauern der Reichsstadt Köln nur selten verließ und nicht unmittelbarer Zeuge der Kämpfe wurde,2 war das Kriegsgeschehen für ihn ständig präsent: durch Flugschriften, Einblattdrucke und Mess­relationen, die er eifrig las und für seine Aufzeichnungen exzerpierte oder abschrieb,3 durch die Beratungen über Verteidigungsmaßnahmen und diplomatische 1

Vgl. zu Leben und Werk Weinsbergs nur Manfred Groten (Hg.), Hermann Weinsberg (1518–1597) – Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Köln 2005; Matthew Lundin, Paper Memory. A Sixteenth-Century Townsman Writes his World, Cambridge/Mass. 2012; sowie jüngst mit ausführlicher Bibliographie Peter Glasner, Art. „Hermann von Weinsberg (1518–1597)“, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon, Bd. 6, Berlin/Boston 2017, Sp. 481–487; und Manfred Groten, Art. „Weinsberg, Hermann (von)“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 27, Berlin 2020, Sp. 652f. Zu Köln im Krieg vgl. jetzt Max Plassmann, Eine Stadt als Feldherr. Studien zur Kriegsführung Kölns (12.–18. Jahrhundert), Köln/Weimar/Wien 2020. 2 Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf zwei Reisen in die Niederlande im Jahre 1569, wo Weinsberg auch spanischen Soldaten begegnete; Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 5 Bde., hg. v. Konstantin Höhlbaum/Friedrich Lau/Josef Stein, Bonn/Leipzig 1886–1926, ND Düsseldorf 2000, hier Bd. 2, S. 192–194, 197–199; vgl. hierzu Wolfgang Herborn, Die Reisen und Fahrten des Hermann von Weinsberg, in: Georg Mölich/Gerd Schwerhoff (Hg.), Köln als Kommunikationszentrum. Studien zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte, Köln 2000, S. 141–166, hier S. 156–159. 3 Eva-Maria Schnurr, „Jedem anbringer gleub ich so balt nit.“ Informationsbeschaffung und Mediennutzung des Kölner Bürgers Hermann Weinsberg während des Kölner Kriegs (1582 bis 1590), in:

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Missionen im Rat, dem er im regelmäßigen Turnus angehörte,4 durch Gespräche mit Nachbarn und anderen Kölner Bürgern sowie mit auswärtigen Gästen, die Nachrichten in die Stadt brachten,5 und schließlich durch die in und vor Köln anwesenden Kriegsleute.6 Weinsberg hatte also Gelegenheit, nicht nur von Krieg und Kriegs­erfahrungen zu lesen und zu hören, sondern auch die betreffenden Akteure zu beobachten und die Gewalt unmittelbar kennenzulernen. Seine Aufzeichnungen enthalten dementsprechend viele Einträge zu Soldaten, Landsknechten und ‚Freibeutern‘ unterschiedlichster Herkunft.7 Im Folgenden soll Weinsbergs Wahrnehmung dieser Kriegsleute analysiert werden. Dabei geht es insbesondere um die Frage, wie der Autor mittels einer Kategorisierung der Soldaten in eigene/fremde bzw. Freunde/Feinde die militärischen Handlungen und vor allem die Übergriffe derselben gegenüber der Bevölkerung einzuordnen und zu verstehen versucht.8 Von besonderer Bedeutung für die Zuordnung zu der einen oder anderen Kategorie ist für Weinsberg die Differenzierung

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Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 56 (2009), S. 171–206; Dies., Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Krieges (1582 bis 1590), Köln/ Weimar/Wien 2009, S. 464–478; Lundin, Paper Memory, S. 239–243. Zu Weinsbergs Ratskarriere vgl. ausführlich Alexandra Vullo, „... ich wurde zu Coln Bugermeister werden ...“ Die Aufzeichnungen des Kölner Ratsherrn Hermann Weinsberg als Dokument einer Ratslaufbahn im 16. Jahrhundert, in: Groten, Weinsberg, S. 115–230. Durch seine politischen Ämter hatte Weinsberg auch mit der Kölner Universität zu tun und erlebte die Auswirkungen des spanisch-niederländischen Konflikts auf die Hochschule. 1570 berichtet er, dass er in congregatione universitatis gewesen sei, wo über das Mandat des Herzogs von Alba, dem Statthalter der Niederlande (1567–1573), diskutiert worden sei, den niederländischen Studenten Universitäten außerhalb des spanischen Einflussbereiches zu verbieten; Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 205f. Schnurr, Informationsbeschaffung, S. 179–181 und passim; Schnurr, Religionskonflikt, S. 465f. So berichtet Weinsberg etwa 1572, dass die kreichsleut, ruter und knecht, quamen allenthalben in die stat und umb und langs die stat, worden auch zu beiden seiten in Coln knecht angenommen und war vil frembs folk aus den Nederlanden in der stat; Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 235; weitere Erwähnungen von fremden Soldaten sowie für die Verteidigung rekrutierten Landsknechten in der Stadt etwa ebd., Bd. 2, S. 176f.; ebd., Bd. 3, S. 77, 133, 186f., 208, 274; ebd., Bd. 4, S. 25. In Zeiten des Kölner Krieges waren auch Kampfhandlungen und Übergriffe auf Zivilisten von der Stadt aus zu beobachten, so etwa 1585, als Truppen des Kölner Erzbischofs einen Konvoi von Kaufleuten überfielen, und war ein grois geschrei und jagen im felde, das mans vor der Haneporzn hoirt und sach; ebd., Bd. 3, S. 291; oder 1586 als kurfürstliche Truppen einen Konvoi von Kaufleuten bei Junkersdorf überfielen und ein Massaker anrichteten. Weinsberg berichtet, dass die burger und vil folks, jonk und alt, dahin gelaufen, wein, beir, confect mit genomen und die verwonten gelafft und die doeden gesehen; ebd., S. 329. Vgl. erste Beobachtungen hierzu bei Andreas Rutz, Der Westen des Reiches als Kriegsschauplatz und Erfahrungsraum im langen 17. Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Krieg und Kriegserfahrung im Westen des Reiches 1568–1714, Göttingen 2016, S. 11–30, hier S. 11–13. Zur Darstellung von Krieg in der spätmittelalterlichen Kölner Chronistik vgl. Markus Jansen, Die Memoria von Krieg und Verteidigung im spätmittelalterlichen Köln, in: Geschichte in Köln. Zeitschrift für Stadt- und Regionalgeschichte 64 (2017), S. 43–69; sowie vergleichend für andere Reichsstädte Almut Höfert, Der Krieg in der Individualperspektive von reichsstädtischem Patriziat und Adel im Spätmittelalter. Die Beispiele Nürnberg, Frankfurt und Georg von Ehingen, in: Christoph Heiduk/Almut Höfert/Cord Ulrichs, Krieg und Verbrechen nach spätmittelalterlichen Chroniken, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 111–184. Vgl. zur Wahrnehmung und Erfahrung von Kriegsgewalt in der Frühen Neuzeit die Hinweise zum Forschungsstand bei Rutz, Westen, S. 13–18; außerdem in jüngerer Zeit Jörg Rogge (Hg.), Kriegserfahrungen erzählen. Geschichts- und literaturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2016; Philipp Batelka/Stephanie Zehnle/Michael Weise (Hg.), Zwischen Tätern und Opfern. Gewaltbeziehungen

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der Kriegsleute nach folgenden Kriterien: ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kriegspartei, einer Landsmannschaft bzw. Nation oder einer Konfession sowie der Legitimität der bewaffneten Handlungen. Aussehen, Sprache, Sitten oder ähnliches spielen für Weinsberg als Abgrenzungskriterien mit Blick auf die Soldaten hingegen keine Rolle. Da die benannten Kriterien sich häufig überschneiden bzw. einander bedingen, erscheint es wenig sinnvoll, sie im Sinne einer Systematik separat zu behandeln. Vielmehr soll von einzelnen Gruppierungen ausgegangen werden, die Weinsberg durch seinen Sprachgebrauch definiert und anhand derer sein Freund-Feind-Schema exemplarisch erörtert werden kann. Im Mittelpunkt stehen Spanier und Niederländer als die im Rheinland in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wohl am häufigsten anzutreffenden Kriegsparteien bzw. Soldaten sowie die bei Weinsberg häufig mit der niederländischen Kriegspartei verbundenen ‚Freibeuter‘. Es handelt sich dabei um Kriegsleute, die unabhängig von den eigentlichen Kampfhandlungen das Land mit Gewalt überzogen, um sich zu versorgen bzw. zu bereichern. Die Quellenauswertung beschränkt sich im Wesentlichen auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, also die Zeit, die Weinsberg nicht nur retrospektiv behandelt, sondern in der er tatsächlich dazu überging, regelmäßig Einträge zum Zeitgeschehen zu verfassen.9

2. Spanier Spanien kam im 16.  Jahrhundert eine bedeutende Rolle im Nordwesten des Reiches zu.10 Die burgundischen Niederlande waren seit der Heirat des späteren römisch-deutschen Königs und Kaisers Maximilian von Österreich (reg. 1486/1508– 1519) mit Maria von Burgund (1457–1482), der Tochter und Erbin Karls des Kühnen (reg. 1467–1477), in habsburgischem Besitz. Unter Karl V., der seit 1506 Herzog von Burgund, seit 1516 König von Spanien und seit 1519/20 schließlich römisch-deutund Gewaltgemeinschaften, Göttingen 2017; und insbes. Hans Medick, Der Dreißigjährige Krieg. Zeugnisse vom Leben mit Gewalt, Göttingen 2017. 9 Die Grundlage der Analyse bildet die Teiledition der Gedenkbücher, vgl. Buch Weinsberg; die Online-Edition „Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs. Digitale Gesamt­ ausgabe“, 06.02.2009, http://www.weinsberg.uni-bonn.de/ [Stand: 03.01.2021], ist aufgrund des Fehlens eines Registers und einer Volltextsuchfunktion für die vorliegende Fragestellung leider nicht sinnvoll zu benutzen. 10 Vgl. mit zahlreichen Hinweisen auf die Beziehungen zwischen Rheinland und (spanischen) Niederlanden den Überblick von Franz Petri, Im Zeitalter der Glaubenskämpfe (1500–1648), in: Ders./ Georg Droege (Hg.), Rheinische Geschichte, Bd. 2, Düsseldorf 31980, S. 1–217; außerdem in jüngerer Zeit Johannes Arndt, Das Heilige Römische Reich und die Niederlande 1566 bis 1648, Köln/Weimar/Wien 1998; Ders., Der Niederrhein zwischen dem niederländischen Aufstand und dem Dreißigjährigen Krieg, in: Manfred Groten/Clemens von Looz-Corswarem/Wilfried Reininghaus (Hg.), Der Jülich-Klevische Erbstreit 1609. Seine Voraussetzungen und Folgen, Düsseldorf 2011, S. 163–176; Monique Weis, Les Pays-Bas espagnols et les états du Saint Empire (1559–1579). Priorités et enjeux de la diplomatie en temps de troubles, Brüssel 2003.

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scher König und Kaiser war, wurde der habsburgische Besitz 1521/22 zwischen ihm und seinem Bruder Ferdinand I. (reg. 1521–1564) geteilt. Während Ferdinand fortan die habsburgischen Erblande regierte und seinem Bruder 1531 als römisch-deutscher König und 1556 als Kaiser nachfolgte, behielt Karl die spanischen Besitzungen und die burgundischen Niederlande. Nach seiner Abdankung 1556 gingen diese an seinen Sohn Philipp II. (reg. 1556–1598) über. Der katholische Kaiser musste seit der Reformation ein zwingendes Interesse daran haben, die Niederlande und den Nordwesten des Reiches für den Katholizismus zu erhalten, woraus etwa die Katholizismusklausel im Vertrag von Venlo zum Abschluss des Geldrischen Erbfolgekrieges oder auch Karls Vorgehen gegen den Reformationsversuch des Kölner Kurfürst-Erzbischofs Hermann von Wied (reg. 1515–1547) in den 1540er Jahren resultierten.11 Eine besondere Situation ergab sich zwei Jahrzehnte später mit dem Aufstand in den Niederlanden, durch den sich in einem längeren politischen und kriegerischen Prozess die nördlichen Provinzen der Niederlande von den südlichen trennten.12 Dieser Konflikt zwischen den protestantischen Niederländern und den katholischen Spaniern griff immer wieder auch in die rheinischen Territorien aus, insbesondere durch Truppenwerbungen, Durchzüge, Einquartierungen und die damit zusammenhängenden Belastungen der Bevölkerung.13 Nachdem der Kölner Kurfürst-Erzbischof Gebhard Truchsess von Waldburg (reg. 1577–1583) 1583 zum Protestantismus übergetreten war und versuchte, das Erzstift in ein protestantisches Erbfürstentum

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Vgl. in jüngerer Zeit zum Geldrischen Erbfolgekrieg Matthias Böck, Herzöge und Konflikt. Das spätmittelalterliche Herzogtum Geldern im Spannungsfeld von Dynastie, ständischen Kräften und territorialer Konkurrenz (1339–1543), Geldern 2013, S. 655–673; Ders., Die Auseinandersetzungen zwischen Wilhelm V. von Jülich-Kleve und Kaiser Karl V. im geldrischen Erbfolgekrieg, in: Guido von Büren/Ralf-Peter Fuchs/Georg Mölich (Hg.), Herrschaft, Hof und Humanismus. Wilhelm V. von Jülich-Kleve-Berg und seine Zeit, Bielefeld 2018, S. 143–170; sowie zum Reformationsversuch des Hermann von Wied Rainer Sommer, Hermann von Wied. Erzbischof und Kurfürst von Köln, 2 Bde., Köln 2000/2013; Stephan Laux, Reformationsversuche in Kurköln (1542–1548). Fallstudien zu einer Strukturgeschichte landstädtischer Reformation (Neuss, Kempen, Andernach, Linz), Münster 2001; Andreea Badea, Kurfürstliche Präeminenz, Landesherrschaft und Reform. Das Scheitern der Kölner Reformation unter Hermann von Wied, Münster 2009. 12 Vgl. nur die einschlägigen Überblicksdarstellungen von Geoffrey Parker, The Dutch Revolt, London 1977; Horst Lademacher, Die Niederlande. Politische Kultur zwischen Individualität und Anpassung, Berlin 1993, insbes. S. 71–149; Jonathan Israel, The Dutch Republic. Its Rise, Greatness, and Fall 1477–1806, Oxford u. a. 1995, S. 129–230; Anton van der Lem, Opstand! Der Aufstand in den Niederlanden, Berlin 1996; außerdem die jüngeren Biographien von Henry Kamen, The Duke of Alba, New Haven/London 2004; Olaf Mörke, Wilhelm von Oranien (1533–1584). Fürst und „Vater“ der Republik, Stuttgart 2007. 13 Vgl. hierzu den Überblick von Arndt, Reich, S. 100–110; detailliert zu den Kriegslasten einzelner Regionen vgl. die Quellenbeispiele bei W. Graf von Mirbach, Kriegsschäden, welche das Herzogthum Jülich durch Einlagerungen und Durchzüge spanischer und kurkölnischer Truppen in den Jahren 1568 bis 1589 erlitten hat, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 3 (1881), S. 279–327; und Hans Goldschmidt, Spanische Raubzüge in Jülich-Berg, in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 47 (1914), S. 251–261; außerdem Jürgen Kloosterhuis, „...an villen Orteren von allerseidtz Kriegsfolck verdorben...“ Die Folgen des Spanisch-Niederländischen Krieges (1566–1609) für die Grafschaft Mark, in: Der Märker. Landeskundliche Zeitschrift für den Bereich der ehem. Grafschaft Mark und den Märkischen Kreis 32 (1983), S. 125–132, 162–173, 200–211.

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umzuwandeln, kämpften schließlich im Kölner Krieg beide Konflikt­parteien auch im Rheinland gegeneinander.14 Seit den 1590er Jahren etablierten die Kriegsparteien sogar feste Stützpunkte im gesamten Niederrheingebiet.15 Es ist also nicht verwunderlich, dass Weinsberg in seinen Gedenkbüchern ausführlich über Spanien und dessen Politik, aber auch über die spanischen Truppen im Rheinland und vor Köln berichtet. Grundsätzlich scheint er gegenüber der spanischen Krone positiv eingestellt zu sein. Immer wieder äußert der Chronist seine Sympathie zu den Habsburgern; insbesondere von Kaiser Karl V. war er regelrecht begeistert.16 Diese Haltung verdeutlichen nicht zuletzt verschiedene Kindheitserinnerungen, etwa an den Einzug Karls V. in Köln 1520, den er als Dreijähriger miterlebte und währenddessen Spanier in seines Vaters Haus einquartiert waren, die mich in ein wige lachten, mich weigten und ir kurzweil und freude mit mir hatten.17 Einige Jahre später, 1531, war ein in kaiserlichen Diensten stehender spanischer Adliger, Don Galzara Senior de Cardona, für drei Wochen mit seinem Gefolge im Hause Weinsberg einquartiert und verhalf Vater und Sohn, den in Köln anwesenden Kaiser beim Essen zu sehen. Er bot sogar an, den jungen Hermann mit nach Spanien zu nehmen, was der Vater aber ablehnte.18 Gleichwohl dürften die erwiesene Ehre sowie das Verhalten der Gäste die Sicht des Kölner Chronisten auf die Spanier längerfristig geprägt haben. Ausschlaggebend für Weinsbergs Haltung war aber vor allem die politische und konfessionelle Konstellation, in der sich Köln im 16.  Jahrhundert befand und die den Kaiser sowie seine österreichische und seine spanische Familie zu gleichsam natürlichen Verbündeten der Reichsstadt machten. Köln war zur Wahrung seines

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Zum Kölner Krieg vgl. noch immer grundlegend Max Lossen, Der Kölnische Krieg, 2 Bde., Gotha 1882, München/Leipzig 1897; außerdem Petri, Zeitalter, S.  83–95; zum Reformationsversuch des Gebhard Truchsess von Waldburg vgl. Günther von Lojewski, Bayerns Weg nach Köln. Geschichte der bayerischen Bistumspolitik in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, Bonn 1962, S. 346–369; Franz Bosbach, Köln, Erzstift und Freie Reichsstadt, in: Anton Schindling/Wolfgang Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650, Bd.  3: Der Nordwesten, Münster 1991, S.  58–84, hier S.  74–76; Hansgeorg Molitor, Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe (Geschichte des Erzbistums Köln 3), Köln 2008, S. 208–226, 403–414. Zur Situation der rheinischen Bevölkerung im Kölner Krieg vgl. Thomas P. Becker, Der Alltag des Krieges. Das Rheinland im Kölner Krieg, in: Rutz, Krieg, S. 121– 139, hier insbes. S. 133–139; außerdem Alexander Denzler, Lebenswelten von Kindern im Kölner Krieg (1583–1588), in: Kathrin Kiefer u. a. (Hg.), Kinder im Krieg. Rheinland-pfälzische Perspektiven vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 2018, S. 21–46. 15 Vgl. die diesbezügliche Auflistung mit zugehöriger Karte bei Petri, Zeitalter, S.  96f. Diese Kon­ stellation spielte auch im Dreißigjährigen Krieg noch eine Rolle für das Kriegsgeschehen am Niederrhein; vgl. Michael Kaiser, Generalstaatische Söldner und der Dreißigjährige Krieg. Eine übersehene Kriegspartei im Licht rheinischer Befunde, in: Rutz, Krieg, S. 65–100. 16 So auch Peter Arnold Heuser, Hermann Weinsberg und das Reich, in: Maximilian Lanzinner/Arno Strohmeyer (Hg.), Der Reichstag 1486–1613. Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten, Göttingen 2006, S. 375–402, hier S. 389, 391; vgl. auch die zahlreichen Weinsberg-Belege zu den Habsburgern ebd., S. 388–392. 17 Buch Weinsberg, Bd. 1, S. 27f., das Zitat S. 28. 18 Ebd., S. 71; vgl. auch ebd., S. 77.

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reichsstädtischen Status auf gute Beziehungen zum Kaiser angewiesen.19 Dabei ging es vor allem um den Rückhalt des Reichsoberhauptes in den Auseinandersetzungen mit den Kölner Kurfürsten, die auf jede erdenkliche Weise versuchten, die 1475 reichsrechtlich anerkannte, faktisch aber seit 1288 bestehende Reichsfreiheit der vormaligen Bischofsstadt zu untergraben.20 „Das Verhältnis der Stadt zum Kaiser mußte darum feinfühlig austariert werden. Jede Neigung des Kaisers zur einen oder anderen Seite hin machte sich sofort auch in der Reichspolitik der Stadt Köln bemerkbar. Senkte sich die Waagschale auf die Seite des Kurfürsten, so konnte Köln auch auf Reichstagen keine eigenständige Politik betreiben [...]. Neigte sich die Waagschale aber auf die Seite der Stadt, so erhielt sie den größten Handlungsspielraum“.21 Neben politischer Gefolgschaft ließ sich Kaisertreue im Jahrhundert der Reformation freilich auch durch die konfessionelle Haltung belegen, was sicherlich als einer der Gründe für den Verbleib der Stadt beim alten Glauben anzuführen ist.22 Weinsberg folgte bekanntlich dieser Linie und begegnete den reformatorischen Entwicklungen seiner Zeit mit erheblicher Skepsis, vertrat aber grundsätzlich eine irenische Haltung, wie er etwa 1578 deutlich macht: Ich wil bei dem alten pliben, den mittelweg wandeln und bitten, got wille alle dingen im friden verrichten laissen.23 Da die Niederlande nach der Abdankung Kaiser Karls V. an die spanische Linie der Habsburger übergegangen waren, stellte Spanien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts neben dem Kaiser einen weiteren zentralen Faktor in der Kölner Außenpolitik dar. Auch wenn durchaus ein Hausinteresse die beiden Linien der Familie verband, war das Verhältnis zwischen Kaiser Maximilian II. (reg. 1562/64– 1576) und seinem Cousin König Philipp II. von Spanien nicht völlig konfliktfrei. Hinsichtlich seiner Haltung zum niederländischen Aufstand musste der Kaiser Rücksicht auf die protestantischen Kurfürsten nehmen und versuchte dement19

Vgl. zusammenfassend Hans-Wolfgang Bergerhausen, Die Stadt Köln und die Reichsversammlungen im konfessionellen Zeitalter. Ein Beitrag zur korporativen reichsständischen Politik 1555–1616, Köln 1990, S. 22–27. 20 Vgl. die Übersicht zum diesbezüglichen Archivbestand von Wilhelm Kisky, Die Akten der Abteilung „Köln contra Köln“ (Verhältnis der Stadt zum Erzbischof), in: Mitteilungen des Stadtarchivs von Köln 34 (1912), S. 11–186; außerdem zu den symbolischen Aspekten des Konfliktaustrags André Krischer‚ ‚Ceremonialia Coloniense‘. Zur symbolischen Konstitution kurfürstlicher Herrschafts- und reichsstädtischer Autonomieansprüche in Köln, in: Werner Paravicini/Jörg Wettlaufer (Hg.), Der Hof und die Stadt. Konfrontation, Koexistenz und Integration in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart 2006, S. 327–346. 21 Bergerhausen, Stadt, S. 23. 22 Vgl. die klassische Studie von Robert W. Scribner, Warum gab es in Köln keine Reformation? (1976), in: Mölich/Schwerhoff (Hg.), Köln, S. 88–109; hierzu Manfred Groten, Die nächste Generation. Scribners Thesen aus heutiger Sicht, in: ebd., S. 111–113. 23 Buch Weinsberg, Bd.  2, S.  373. Zu Weinsbergs konfessioneller Haltung vgl. ausführlich Wolfgang Herborn, Die Protestanten in Schilderung und Urteil des Kölner Chronisten Hermann von Weinsberg (1518–1598[!]), in: Wilfried Ehbrecht/Heinz Schilling (Hg.), Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regional- und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit. Franz Petri zum 80. Geburtstag, Köln/Wien 1983, S.  136–153; Gérald Chaix, Paix de religion et concorde civique. Hermann Weinsberg, bourgeois de Cologne (1518–1597), témoin des conflits religieux, in: Thierry Wanegffelen (Hg.), De Michel de L’Hospital à l’édit de Nantes. Politique et religion face aux Églises, Clermont-Ferrand 2002, S. 71–84.

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sprechend eher zu vermitteln, während Philipp politisch und konfessionell kompromissloser agierte.24 Umso wichtiger war es für die Reichsstadt, auch zu Spanien gute Beziehungen zu pflegen und sich mit Blick auf den niederländischen Aufstand entsprechend zu positionieren, zumal die spanischen Niederlande einen politisch, konfessionell und nicht zuletzt militärisch durchsetzungsfähigen Akteur in unmittelbarer Nachbarschaft darstellten. Obwohl es also für Köln außenpolitisch geboten war, eine pro-habsburgische und pro-spanische Linie zu verfolgen und im niederländischen Konflikt zumindest Neutralität zu wahren, erscheint Weinsbergs Beurteilung der spanischen Kriegshandlungen durchaus ambivalent. Insbesondere mit Blick auf das Verhalten der Soldaten gegenüber der Bevölkerung setzt der Autor immer wieder kritische Akzente. Dies zeigt sich etwa bei der Schilderung diverser Belagerungen von niederländischen Städten im Zuge der frühen Kämpfe mit den Aufständischen: 1572 töteten die Spanier beim Einfall in Rotterdam laut Weinsberg 120 Bürger und verjagten die ander burger aus der stat und driben vil mutwillens und schadens an;25 bei der Einnahme von Mecheln im selben Jahr hätten Albas Truppen alles spolieirt [geplündert] und grausam tyranniseirt, das die burger, man, frauen, kinder untflohen und die stat scheir ledich ware;26 ebenfalls 1572 wurde Zutphen von den Spaniern spolieirt, wobei sonder fil umbpracht und tyranniseirt worden seien, sodann zogen sie weiter nach Naarden, erschlugen dort die Bürger und raubten sie aus;27 1576 wurde Maastricht von spanischem und Deutz kreichfolk eingenommen und geplündert, wobei über 60 Bürger ums Leben kamen.28 Besonders ausführlich berichtet Weinsberg über die Einnahme von Antwerpen im November 1576, ein Ereignis, das wegen der verübten Gewaltexzesse als ‚Spaanse Furie‘ in die Geschichte eingegangen ist und die anti­ spanische Stimmung in den Niederlanden stark befördert hat.29 Der Chronist stützt sich hier, wie bei anderen auswärtigen Ereignissen auch, vor allem auf Flugschriften bzw. ‚Zeitungen‘. Die Spanier seien in die Stadt eingefallen und hätten wonderlich tyranniseirt, gebrant, gemort, geschatzt, geplondert, gehandelt, ganze Straßenzüge 24

Zu den habsburgischen Hausbeziehungen in der Anfangsphase des Aufstandes vgl. Arndt, Reich, S. 42–51; pointiert auch Maximilian Lanzinner, Friedenssicherung und politische Einheit des Reiches unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576), Göttingen 1993, S. 80: Die Haltung Maximilians gegenüber dem spanischen Eingreifen in den Niederlanden war „keineswegs vom Auf und Ab seiner Reichspolitik oder dem aktuellen Stand hausinterner dynastischer Konjunkturen abhängig, wie man geglaubt hat. Vielmehr läßt sich eine beachtliche Konstanz erkennen, denn über die Jahre hinweg hat sich Maximilian in allen prinzipiellen Fragen für Philipp entschieden. Aber zugleich war er bestrebt, diesen Eindruck öffentlich zu verwischen und mit diplomatischen Mitteln die Härte des spanischen Eingreifens zu mildern. Er erkannte frühzeitig, daß sie der habsburgischen Herrschaft in den Niederlanden mehr schadete als nutzte und daß sie seine Beziehung zu den Reichsständen beeinträchtigte.“ 25 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 229. 26 Ebd., S. 249. 27 Ebd., S. 252f. 28 Ebd., S. 334. Deutsche Landsknechte in spanischen Diensten werden auch an anderen Stellen genannt, etwa Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 21. 29 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 334–336; die folgenden Zitate ebd., S. 335. Als weitere Belege für spanische Übergriffe vgl. u. a. ebd., Bd.  3, S.  30f., 94, 114. Zur Einnahme Antwerpens vgl. nur Floris Prims, Geschiedenis van Antwerpen, Bd. 6/A, Brüssel 1982, S. 83–85.

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und mehrere hundert Häuser seien abgebrannt, die Menschen um ihr Geld gebracht und viele ermordet worden, inwendige noch uswendige verschonet, noch man, frauen, kinder, kranken, alles bloit vergossen. In ihrer Verzweiflung hätten viele Bürger versucht, über das Wasser zu fliehen, ir kinder drin geworfen, uber geswommen, uber die maur gefallen zu errettung irs lebens, aber vergeblich, die wassern und graben [seien] mit bloit untferbet. Schließlich berichtet Weinsberg auch von Vergewaltigungen, die an Frauen und jungen Mädchen auf dem Kastell begangen worden seien. Weinsberg übernimmt die drastischen Schilderungen dieser Ereignisse aus seinen gedruckten Informationsquellen. Seine abschließenden Bemerkungen zeigen aber ganz deutlich, dass er die Vorgänge auch persönlich negativ bewertete. Zwar enthält er sich vordergründig einer expliziten Kritik, indem er die wohl rhetorisch gemeinte Frage, ob das fatterlich gehandlet und beschirmt sei oder turkischs tyranniseirt, den verstendigen [zu] urtelen überlässt. Sodann erwähnt er aber, dass er schon als Kind gehört habe, dass Antwerpen aufgrund seiner Pracht, des Wuchers, Betrugs, Überflusses und seiner Sünden eines Tages von Gott gestraft würde und impliziert damit, dass wohl auch die spanische Belagerung und Einnahme der Stadt auf diese Weise interpretiert werden könnten. Allerdings wolle Gott laut Weinsberg weder Antwerpen noch alle ander stet, landen und leute in sinen grimmen nit straifen. Das Leid der Antwerpener Bevölkerung sei also, so der implizite Vorwurf, ausschließlich den Spaniern zuzuschreiben. Und nicht nur das – auch die Bürger von Köln, Augsburg, Straßburg und anderen Reichs- und Hansestädten sowie in fremden nationen hätten hierdurch großen Schaden erlitten, dan Antwerpen war ein schatzkamer des gansen Europe.30 Weinsberg stellt sich hier also ganz deutlich auf die Seite der Stadt Antwerpen und verurteilt das Vorgehen der Spanier. Allerdings bezieht er sich dabei auf die Situation der Bevölkerung und die wirtschaftlichen Konsequenzen der gewaltsamen Einnahme der Stadt und nicht auf den politischen Konflikt zwischen Spaniern und Niederländern. Seine Parteinahme für die Stadt bedeutete also keine Parteinahme für die aufständischen Niederlande. Die wirtschaftlichen Folgen des niederländischen Aufstandes und des Krieges wurden auch von der Stadt Köln sehr genau regis­ triert. Der Rat bemühte sich dementsprechend darum, das Thema auf Kreis- und auf Reichsebene in die Diskussion einzubringen und Verbesserungen für den Handel zu erwirken.31 Weinsberg bewegt sich mit seinem Hinweis auf die wirtschaftlichen Schäden also durchaus im Rahmen der städtischen Argumentation. Gewaltsame Übergriffe der spanischen Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung beschränkten sich freilich, wie die Schilderungen Weinsbergs zeigen, nicht auf die Niederlande: 1568 etwa zogen aus Maastricht spanische Reiter und Fußsoldaten ins Jülicher Land und töteten etwa 1.200 Menschen – werlose[s] folk, das sich den Nie30

Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 335; vgl. auch ebd., Bd. 4, S. 84: Aus Antwerpen und den Nederlanden ist uberfluss in diss lant komen. Groisser kreich, duir zeit und ellent hat sie eirst uberkomen und uns nach. Zum Kölner Handel in den niederländischen Raum vgl. ausführlich Gunther Hirschfelder, Die Kölner Handelsbeziehungen im Spätmittelalter, Köln 1994, S. 267–394; zu dem für Köln besonders wichtigen Antwerpenhandel ebd., S. 299–322; darüber hinaus für die Frühe Neuzeit Gertrud Susanna Gramulla, Handelsbeziehungen Kölner Kaufleute zwischen 1500 und 1650, Köln/Wien 1972, passim. 31 Bergerhausen, Stadt, S. 184–192, 242–248.

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derländern angeschlossen hatte.32 Solche grenzüberschreitenden Nachverfolgungen von Aufständischen waren offenbar an der Tagesordnung. Eine diesbezügliche Beschwerde Herzog Wilhelms V. von Kleve (reg. 1539–1592) wegen der Verletzung der Landeshoheit beantwortete der Herzog von Alba im Juni 1568 mit dem Hinweis, dass er seine Widerwärtigen [also die Aufständischen] nicht allein in Sr. Liebden Land, sondern auch an derselbigen fürstlichen Hoflager und, das noch mehr ist, von Sr. L. Tafel langen und hinführen wolte.33 Die Gewalttaten, die die Spanier in den niederrheinischen Territorien ausübten, betrafen allerdings nicht nur die tatsächlichen oder vermeintlichen Anhänger der Niederländer, sondern letztlich die gesamte Bevölkerung, wie die zahlreichen Beispiele bei Weinsberg zeigen: 1574 etwa hätten die Spanier – wiederum von Maastricht aus – versucht, gegen die niederländische Belagerung Limburgs vorzugehen, und ist vil schadens mit brande und verderben der leut geschein;34 1579 plünderten 60 Spanier bei Neuss ein Schiff, das neben Waren mehrere Tausend Goldgulden geladen hatte, die dem Kölner Domkapitel gehörten;35 im selben Jahr nahmen sie bei Kerpen 14 Bürger aus Antwerpen und anderen niederländischen Städten gefangen, die auf dem Weg zur Frankfurter Messe waren;36 bei Orsoy wurde ebenfalls 1579 ein Schiff mit Handelswaren im Wert von 20.000 Talern geplündert, diss mogen die soldaten binnen Stralen im lande von Geller getain haben, des koninks folk von Hispanien, die allenthalben umbgetast, nemantz verschonet.37 Entsprechende Beispiele begegnen bei Weinsberg insbesondere für die 1570er und 1580er Jahre häufiger,38 wobei der Autor die Vorfälle in der Regel lediglich konstatiert, aber keine Erklärungen oder Rechtfertigungen für das Verhalten der Soldaten liefert. Beim letztgenannten Beispiel kann Weinsberg aber immerhin darauf verweisen, dass den Soldaten, wie sie selbst sagten, ir besoldung nit bezalt wart, kunten sie nit hende, noch fois essen.39 Viele Jahre später, 1593, erwähnt Weinsberg erneut, dass spanische und kurkölnische Soldaten ihre Raubzüge in der Region damit entschuldigt hätten, sie bequemen keinen zolt, man blib ihn schuldich und moisten dannest in sulchn noden sehen, wie sie essen und leben mogten.40 Nach jahr32

Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 175. Die Gegenreformation in Westfalen und am Niederrhein. Actenstücke und Erläuterungen, bearb. v. Ludwig Keller, Bd. 1, Leipzig 1881, S. 138, Nr. 65; vgl. auch ebd., S. 137f., Nr. 64. Vgl. hierzu Monique Weis, Du baume diplomatique sur les ravages de la guerre. La correspondance échangée entre le Duc d’Albe et le duc de Clèves en 1568, in: Bulletin de la Commission royale d’histoire 171 (2005), S. 89–134, mit weiterer Korrespondenz zwischen Wilhelm und Alba. Zu den Folgen des niederländischen Aufstandes für die Vereinigten Herzogtümer Jülich-Kleve-Berg vgl. übergreifend auch Stefan Ehrenpreis, Das Herzogtum Berg im 16. Jahrhundert, in: Stefan Gorissen/Horst Sassin/Kurt Wesoly (Hg.), Geschichte des Bergischen Landes, Bd. 1, Bielefeld 2014, S. 301–305. 34 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 272f. 35 Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 32. 36 Ebd., S. 33. 37 Ebd., S. 47; das folgende Zitat ebd. 38 Vgl. u. a. Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 47f., 340, 342, 364; ebd., Bd. 4, S. 42f. Daneben finden sich aber Beispiele für die Gegenwehr von Bürgern und Bauern, u. a. ebd., Bd. 3, S. 55,  57, 59, 371; ebd., Bd. 4, S. 171f. 39 Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 47. 40 Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 165; das folgende Zitat ebd. 33

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zehntelangen Kriegserfahrungen lässt Weinsberg diese Bemerkung allerdings nicht mehr für sich stehen, sondern fügt klagend hinzu: Wie kan dieser handel vor got und fromen luden wol vertadingt werden. Die Gewalttätigkeit der spanischen Soldaten in der engeren Umgebung von Köln stellt Weinsberg vor ein argumentatives Problem. Denn die Spanier, die doch frunde sulten sin, verhielten sich im Rheinland letztlich wie Feinde.41 Auf dem niederländischen Kriegsschauplatz wurden dieselben Gewaltverbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübt, aber hier gab es eine politische und konfessionelle Freund-Feind-Konstellation, die die entsprechenden Handlungen im Rahmen des Krieges wenn nicht legitimierte, dann doch zumindest nachvollziehbar machte. Im Rheinland gab es diese Konstellation nicht, die Territorien standen abgesehen von den Nassauer Grafschaften und dem Truchsessischen Kurköln auf der Seite des Reiches und billigten daher grundsätzlich das Vorgehen der Spanier gegen die Aufständischen. Zum Schutz ihrer Länder versuchten sie gleichwohl, sich soweit wie möglich aus dem Konflikt herauszuhalten und die Kriegshandlungen über die Kreisorgane des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises einzudämmen.42 Um die durch die ‚frunde‘ verübten Gewalttaten in der Region einordnen zu können, weist Weinsberg die Schuld an den Ausschreitungen nicht ganz allgemein ‚den‘ Spaniern und damit dem Hause Habsburg zu. Vielmehr macht er hierfür, ohne sie freilich beim Namen zu nennen, vor allem die im Laufe des Aufstands mehrfach wechselnden spanischen Statthalter in den Niederlanden verantwortlich, die die spanischen Truppen vor Ort befehligten.43 Der König wird dagegen nur mittelbar verantwortlich gemacht, da er das Vorgehen gegen die Aufständischen seinen Statthaltern überlassen habe.44 Er sei, wie Weinsberg 1577 schreibt, selbst in Hispanien pliben und hat andere laissen gewerden, die gemeint haben, sie wulten es all mit gwalt und 41

So eine Bemerkung Weinsbergs über spanische Soldaten, die 1580 im Rheinland groissen schaden anrichteten, wodurch etliche Städte in den grunt verdorben sin; Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 64; vgl. auch schon den Eintrag von 1579, wo Weinsberg schreibt, dass die Spanier nit anders in landes des richz und der frunde agieren würden als die Niederländer; ebd., S. 33. Dieselbe Problematik zeigt sich auch bei der Schilderung des von bayerischen Truppen verübten Massakers von Junkersdorf; ebd., S. 328–330, hier insbes. S. 330. Dass Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung in der Frühen Neuzeit nicht selten von den eigenen Soldaten ausging, zeigt eindringlich die Studie von Maren Lorenz, Das Rad der Gewalt. Militär und Zivilbevölkerung in Norddeutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg (1650–1700), Köln/Weimar/Wien 2007, hier insbes. S. 154–218. 42 Weinsberg berichtet regelmäßig über die Bemühungen der Reichsinstitutionen, insbesondere des Niederrheinisch-Westfälischen Kreises, zur Eindämmung und Beendigung des Konflikts; vgl. mit den entsprechenden Belegen Heuser, Weinsberg, S.  395–397; zum Kontext vgl. Arndt, Niederrhein, S.  168–172; sowie ausführlich Andreas Schneider, Der Niederrheinisch-Westfälische Kreis im 16. Jahrhundert. Geschichte, Struktur und Funktion eines Verfassungsorgans des Alten Reiches, Düsseldorf 1985, S. 162–209; Arndt, Reich, S. 111–140; und mit Blick auf das stadtkölnische Agieren auf Kreisebene Bergerhausen, Stadt, S. 181–203. 43 Ein expliziter Hinweis findet sich im Zusammenhang der Plünderung von Mecheln 1572 durch die Albanischn Hispanier; Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 249. 44 Vgl. in diesem Zusammenhang Magnus Ressel, Der Herzog von Alba und die deutschen Städte im Westen des Reiches 1567–1573. Köln, Aachen und Trier im Vergleich, in: Rutz, Krieg, S. 33–64, hier S. 44–53, der eine zunehmende Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Köln und Alba konstatiert.

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nach irem gefallen uisrichten. Und das hat in gefaelet.45 Dass der König sich nicht ausreichend um die Vorgänge in den Niederlanden kümmere und sich von anderen das Heft des Handelns aus der Hand nehmen lasse, artikuliert Weinsberg auch im Februar 1582 mit Blick auf die Einsetzung von Franz von Anjou (1555–1584), dem Bruder des französischen Königs Heinrich III. (reg. 1574–1589), als Herzog von Brabant und damit als Erbsouverän der Niederlande durch die Generalstaaten:46 O, ihr herrn von Hispanien, wie habt ir so ubel zugesehen! Euere straifbar geiricheit hat nit vil gutzs beipracht! O edel haus von Oisterich, die gutiger art ist ubermeistert van andern worden!47 Eine besondere Gefahr sah Weinsberg darin, dass nun Frankreich unmittelbar in die Auseinandersetzungen in den Niederlanden involviert wurde, was Konsequenzen auch für die rheinischen Territorien haben würde: O weh colnisch, guligs, clevischs, ja trerisch lant disser neuer nachparschaft! Ich trag sorg, mir sulln es mit uff dem hals moissen tragen. Es wil ein anfank kreichs, uffroirn, verenderung viller dingen sin.48

3. Niederländer und Freibeuter Der Aufstand in den Niederlanden musste von Köln als kaisertreuer und katholischer Reichsstadt kritisch beurteilt werden. Neben der politischen und konfessionellen Frontstellung resultierte dies auch aus Kölns Status als Handelsstadt, deren wirtschaftliche Prosperität auf dem Rhein als Verkehrsweg und einem intensiven Austausch mit den niederländischen Handelsplätzen beruhte. Fortdauernde kriegerische Aktivitäten im Nordwesten des Reiches waren hier kontraproduktiv. Hinzu kam, dass niederländische Truppen, wie bereits erwähnt, zwischenzeitlich im Kölnischen Krieg aufseiten des abgesetzten Kölner Kurfürst-Erzbischofs kämpften, während die Spanier auf der katholischen Gegenseite standen. Die Frontlinien des niederländischen Konflikts verlagerten sich damit in das unmittelbare Umfeld der Reichsstadt. Eine Konsequenz, die Köln hieraus zog, war die Erneuerung ihrer Wehrverfassung, was Weinsberg mit den Worten kommentiert: Es hat Antwerpen

45

Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 359. Diesbezügliche Verhandlungen zwischen den aufständischen Niederlanden und Frankreich wurden seit 1579 geführt, 1580 wurde Franz durch den Vertrag von Plessis-lès-Tours zum „Verteidiger der Freiheit der Niederlande“ erklärt, die feierliche Einsetzung als Herzog von Brabant, von der Weinsberg berichtet, erfolgte am 19.02.1582; Théodore Juste, Art. „Alençon, François de Valois, duc D‘“, in: Biographie nationale de Belgique, Bd. 1, Brüssel 1866, Sp. 209–211; Israel, Dutch Republic, S. 209. 47 Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 123. 48 Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 123. Diese Befürchtung äußert der Chronist erneut im Juni 1582: Der französische König wirt hie lant und leude gern under sin croin prengen willen, wie ich mehe besorge, dan verhoffe. Und wa es gott nit durch einen vertrag anders schicken wirt, besorg ich, das erzstift Coln, das lant von Cleif und Gulich, auch die stat Coln, werden mit kreich, kreichsfolk und uffroir hoich besweirt werden. Ich wult, das es mir faelen worde; ebd., S. 132. 46

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herzu ursach geben.49 Bei aller Konflikthaftigkeit, die das Verhältnis zwischen der Reichsstadt und dem Kölner Erzbischof kennzeichnete, war Köln in dieser Auseinandersetzung nicht an einer Säkularisation des Erzstifts interessiert, da diese, abgesehen von der Konfessionsfrage, völlig unkalkulierbare Folgen für den reichsunmittelbaren Status der Stadt gehabt hätte.50 In der Beurteilung der niederländischen Soldaten bei Weinsberg spiegelt sich die städtische Haltung zum niederländischen Aufstand und zum Reformationsversuch des Kölner Erzbischofs wider, wenngleich er auch hier – wie im Falle Spaniens – kein ganz eindeutiges Bild zeichnet. Mischten sich in das prinzipiell positive Bild Spaniens und der spanischen Habsburger immer wieder kritische Bemerkungen über die spanischen Soldaten, ist es bei den Niederländern umgekehrt: Neben der grundsätzlich negativen Beurteilung des niederländischen Aufstandes und der niederländischen Soldaten finden sich immer wieder positive Bemerkungen über die Niederländer. Letztere betreffen allerdings nicht die Soldaten, sondern die niederländischen Kriegs- und Glaubensflüchtlinge und deren Bedeutung für die Wirtschaftsleistung der Reichsstadt.51 Weinsberg erwähnt an mehreren Stellen die Konsequenzen des niederländischen Aufstands für die ökonomische Situation der Stadt Köln, etwa mit Blick auf den Handel insgesamt, wie im oben zitierten Beispiel Antwerpen,52 die gestörten Handelsrouten53 oder die durch den Krieg fehlenden bzw. gefährdeten Einnahmen aus Renten und anderen Kapitalanlagen in den Niederlanden.54 Ein wiederkehrendes Thema stellen in diesem Zusammenhang auch die Flüchtlinge dar. So beschreibt Weinsberg schon im Juli 1569, dass wegen der Niederländer, dero die stat vol was, das scheir alle heuser in Coln bewont worden, mehe dan in menschngedenken, Brennstoffe in Köln sehr teuer seien, was dem einen ein schade, dem andern batte, also nützlich sei.55 Ganz ähnlich kommentiert er im Januar 1570 die Befürchtungen, die seitens der Kölner Geistlichkeit gegenüber dem Rat geäußert worden waren.56 Diese hatte darauf hingewiesen, dass man sich den König von Spanien, den Kaiser und den Papst durch die Aufnahme der Flüchtlinge zu unfrunde machen würde, da 49

Der Eintrag betrifft die Einsetzung zweier Kriegskommissare und die Neuordnung der ‚Kettenwacht‘, also der Straßenwachen in den Stadtvierteln, am 22.01.1583. Auf diese Weise kunnen ander wachten, nämlich die, die für die äußere Bewachung der Stadt zuständig waren, dabei verschoint werden; Buch Weinsberg, Bd.  3, S.  166. Eine neue Wachtordnung wurde am 17.10.1583 erlassen; vgl. ausführlich Hideyuki Takatsu, Die Umorganisation des Militärwesens in der Stadt Köln 1583. Überlegungen zum Einfluss auf das politische Verhältnis von Rat und Gemeinde, in: Jahrbuch des Kölnischen Geschichtsvereins 76 (2005), S. 27–50. 50 Vgl. Petri, Zeitalter, S. 89. 51 Vgl. zu den niederländischen Kaufleuten in Köln Gramulla, Handelsbeziehungen, S. 202–252 und passim. 52 Vgl. auch Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 381. 53 Vgl. u. a. Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 131. 54 Vgl. u. a. Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 313, 316. 55 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 196. Vgl. zu den Auswirkungen auf dem Immobilienmarkt auch ebd., Bd. 3, S. 120: Und brengt die mennigt des folks sulche deurde in die heuser in Coln, das vil heuser von den alten gesclechten an fremden komen, dan sie eitz mit vil geltzs mehe nutz schaffen kunnen und renten gelten. Wiewol sich diss auch verandern kan, das sie zu andern zeiten nach den sterbden oder frit in den Nederlanden widder unwert kunnen werden. 56 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 202f.

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hieraus heimliche ketzereien, uffroir und verfoerungen des folks erwachsen könnten. Außerdem wären bei Mieten, Holzkohle, Fleisch, Fisch, Butter, Käse, Eiern und allerlei, dess der gemein man nit untraten kunt, Teuerungen zu erwarten, das vil burger dardurch narlois worden und verdurben. Seitens des Rates und auch von Weinsberg wurden diese Befürchtungen nicht geteilt. Vielmehr wurde auf die Freiheit der Reichsstadt verwiesen, in der sich jeder, so lang sei sich unverweislich, hors und stil hilten und nemans uber sei clagten, aufhalten könne und die die Flücht­linge uis barmherzicheit in irem ellende zu herbergen verpflichtet sei. Darüber hinaus verweist Weinsberg noch einmal auf das ökonomische Element, dass zwar manche Kölner dadurch Nachteile hätten, andere aber von den Flüchtlingen profitieren würden, da vil leut in den stetten weren, da queim auch narung nach, dan vil sclogen sich neder und worden burger. Dieser durchaus positiven Beurteilung der Flüchtlingssituation und des möglichen ökonomischen Nutzens der nach Köln geflohenen Niederländer stehen die negativen Beschreibungen der Soldaten der Generalstaaten gegenüber. Diese unterscheiden sich nicht von denen der bereits ausführlicher vorgestellten spanischen Kriegsleute. Auch die Niederländer plünderten, brandschatzten und mordeten: So berichtet Weinsberg etwa 1594, dass niederländisches kreichsfolk […] uff der colnischen seiten bis gegen Widdich zu gestreuft, spolieirt und die lantlude beschedigt, pferde, koe, beisten, und was sie bekomen mogten, um Coln her hinab gebracht; bei Surde ein schiff angedrungen, da einem richen pagadorn al sin gute, das darin war, gennomen, auch unsem nachpar uff dem Weitmart bei s. Jacob 200 daler abgenomen, die sin fraue ihm hinuff in den herbst, da er wein feuren sult, schickt, die auch in der streuferien in den schaden fielen und besser glucks bedurft hetten.57

Auffällig ist allerdings, dass die Zahl der Beschreibungen, die im Zusammenhang mit Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung ausdrücklich von ‚Niederländern‘ sprechen, verschwindend gering ist.58 Angesichts der Haltung Weinsbergs gegenüber dem Aufstand in den Niederlanden muss dies verwundern. Verständlich werden die Zahlenverhältnisse erst, wenn man sich die Einträge zu den von Weinsberg als ‚Freibeuter‘ bezeichneten Soldaten anschaut, die scheinbar ohne Verbindung zu konkreten militärischen Operationen die Bevölkerung bedrohten und das Land verwüsteten.59

57

Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 213f. Vgl. neben der zitierten Passage lediglich Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 210, wo vom kreichsfolk der Staten gesprochen wird, das den leuten groissen schaden zugefoigt habe. 59 Eine genaue Differenzierung zwischen regulären Truppen, aus dem Dienst entlassenen Söldnern und Räuberbanden ist schwierig. Weinsberg verweist im Zusammenhang mit der Nennung von ‚Freibeutern‘ wiederholt auf Straßenräuberei u. ä.; vgl. u. a. Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 113 (die freibuter oder ander Rhein- und straissenschender), 177, 199; ebd., Bd. 5, S. 339f., 354. Der Großteil der Einträge dürfte sich dennoch auf Soldaten beziehen; vgl. zu dieser Problematik, wenn auch für ein späteres  Jahrhundert, Gerhard Fritz, Kriegsführung – Kriegskriminalität – Kriegsflüchtlinge. Überlegungen zur Zeit zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Krieges und dem Pfälzischen und Spanischen Erbfolgekrieg in Südwestdeutschland, in: Rutz, Krieg, S. 159–181, hier insbes. S. 169–176. 58

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Weinsberg verwendet den Begriff, soweit ich sehe, erstmals 1579;60 es folgen verschiedene Nennungen in den frühen 1580er Jahren,61 bis der Begriff dann seit 1585 gehäuft auftritt.62 Bis dahin lässt sich die Herkunft der marodierenden Gruppen nur in wenigen Fällen eindeutig feststellen.63 Seit Mitte der 1580er Jahre lassen sich die Freibeuter aber zumeist durch den Kontext oder durch entsprechende adjektivische Bestimmungen eindeutig als ‚niederländisch‘ bzw. ‚statisch‘ identifizieren. Die Belege fallen in eine Zeit, als der eigentliche Streit um den Kölner Bischofsstuhl mit der Flucht Gebhards in die Niederlande und die Einsetzung Ernsts von Bay­ern (reg. 1583–1612) als neuem Kurfürst-Erzbischof längst entschieden war. Gleichwohl ging der Krieg nun aber mit niederländischer Unterstützung weiter. Truchsessische Truppen operierten von Rheinberg aus; im Verbund mit den Niederländern gelang im Mai 1584 die Einnahme von Neuss und im Dezember 1587 von Bonn. Im Zuge dieser Ereignisse häufen sich bei Weinsberg die Belege für Freibeuter. Viele dieser Kriegsleute sind nun durch entsprechende Zusätze, wie zum Beispiel statische fributer, Geussen und freibuter oder hollendische freibuter, eindeutig als Niederländer zu identifizieren.64 Bei anderen Belegen für Freibeuter fehlen solche Zusätze. Woher diese Marodeure kamen und ob Weinsberg im Einzelnen hierüber informiert war, ist unklar. Auffällig ist jedoch, dass Weinsberg ausschließlich Niederländer als Freibeuter identifiziert, während andere Kriegsparteien keine entsprechende Zuschreibung erhalten.65 Damit versucht Weinsberg offenbar einen Unterschied zwischen den illegitimen, kriminellen Gewaltaktionen der niederländischen ‚Freibeuter‘ und den im Kontext der Kriegshandlungen verorteten Ausschreitungen der spanischen Soldateska zu konstruieren, die er ja, wie bereits erörtert, gelegentlich sogar mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der Truppenversorgung rechtfertigte oder zu verstehen suchte. Hierzu passt, dass die Stadt Köln nach Weinsbergs Zeugnis mehrfach 60

Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 48. Der Begriff stammt aus dem Niederländischen und ist dort nicht wesentlich früher als bei Weinsberg bezeugt, vgl. Art. „Vrijbuiter“, in: Marlies Philippa u. a. (Red.), Etymologisch Woordenboek van het Nederlands, 4 Bde., Amsterdam 2003–2009, hier Bd. 4, S. 572, mit einem Beleg für 1572. Ich danke Eva Büthe-Scheider (Leipzig) für diesen Hinweis. 61 Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 80, 96, 146, 150, 158, 182, 255, 266, 291. 62 Vgl. das Register in Buch Weinsberg, Bd. 5, S. 549, s. v. „Freibeuter“. 63 So hätten etwa im Dezember 1582 freibuter van Geller, bei 50 stark, das Obercloister vor Neuss ingenommen, die monch uisgetriben; Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 158. 64 Vgl. für die Zitate Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 371; ebd., Bd. 4, S. 76, 160; für weitere Belege ebd., Bd. 3, S. 59; ebd., Bd. 4, S. 91f., 101, 113, 139, 180, 199, 210, 228, 237, 254. Hingewiesen sei darüber hinaus auf die Erwähnung von Übergriffen durch Nuisser fributer 1585. Die betroffenen Kölner Bürger, wiewol sie neutral waren, so wart irer auch nit geschoint, als ob sie dem fiant zufoirten und mit im handelten; ebd., Bd. 3, S. 295f. Neuss war zu diesem Zeitpunkt niederländisch besetzt. 65 Es finden sich nur wenige Ausnahmen: 1579 werden spanische Kriegsleute, die zwei Kölner Bürger gefangengesetzt und nach Zahlung von Lösegeld wieder freigesetzt hatten, als Freibeuter bezeichnet; Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 47f.; 1588 werden zwein Welschn aus dem leger vor Bon als welsche freibeuter bezeichnet; ebd., Bd. 4, S. 32; im selben Jahr schreibt Weinsberg bezüglich eines Überfalls durch freibuter, dass man sagt, es weren hispanischen und colsche kreichslude gewest; ebd., S. 39. Ansonsten begegnen Soldaten, die nicht einer bestimmten Kriegspartei angehörten oder zuzuordnen waren, bei Weinsberg als ‚Landsknechte‘; vgl. das Register in ebd., Bd. 5, S. 552, s. v. „Landsknechte“. Auch sie konnten den leuten fast uberlestich und schedlich sein, werden aber eben nicht als ‚Freibeuter‘ bezeichnet; ebd., Bd. 3, S. 92.

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versuchte, die Übergriffe der ‚Freibeuter‘ durch Interventionen bei den Generalstaaten zu unterbinden,66 während der Autor entsprechende diplomatische Missionen bei den Spaniern nicht erwähnt.67 Aber auch dieser Versuch der Differenzierung scheitert, denn Weinsberg kommt schließlich nicht mehr umhin, die befreundeten Truppen ebenfalls als Freibeuter und somit als Feinde zu deklarieren: Am 7. April 1593 berichtet Weinsberg, dass etwa 200 freibuter [...] in das lant von Gulich zu Paffendorf, zu Esch und der Orter gefallen und geraubt vehe, linenwek und alles, was in gedienet, und sin mit dem raub darvon gezogen. Die Bauern hätten Alarm geschlagen, sich bewaffnet und mit etwa 2.000 Mann die Verfolgung aufgenommen, sodass die reuber fliehen und das Raubgut zurücklassen mussten.68 Etwa einen Monat später, am 15. Mai 1593, seien dieselben Soldaten umb die stat Coln gestreuft, hätten einige Kölner Bürger angegriffen und sie irer kleider berauft, das sie blois nach Coln moisten traben, wären schließlich nach Dormagen gezogen und hätten dort alles geraubt, pfert, vehe, ingedoim, linen und zinwirk, was sie weg prengen mogten. Den Soldaten zum Opfer fiel nicht zuletzt der Sohn des Gerden Lennartz, der als Halfmann ein Weinsberg gehöriges Gut bearbeitete, er wurde jemerlich erschossen und erstochen.69 Die geschilderten Vorfälle unterscheiden sich in der Sache nicht von anderen, die Weinsberg in seinen Aufzeichnungen mitteilt. Bemerkenswert ist allerdings die Herkunft der Soldaten, denn sie waren zum teil aus Neuss, das min her von Coln besatzst, zum teil aus Mors, das der konink von Hispanien besatzst.70 Die Gewalt ging also von Truppen aus, die der eigenen Seite – Kurköln bzw. Spanien – zugerechnet wurden. Um ihre Handlungen als illegitim einzuordnen und vom militärisch legitimen Agieren der befreundeten Kriegspartei abzugrenzen, bezeichnet Weinsberg sie als ‚Freibeuter‘.71 Erträglicher werden die Kriegsgreuel dadurch für Weinsberg aber nicht, denn den Gedanken, dass es sich ja um befreundete Truppen handelte, kann er auch nicht durch ihre begriffliche Gleichsetzung mit den Feinden verscheuchen. Die Auflösung des Freund-Feind-Schemas, die Tatsache, dass die Abgrenzung des Eigenen vom 66

Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 114, 162, 228. Bei der Festnahme von 21 Freibeutern, die lang umb Coln und Bruil im lande umbgesweift und uff abentur gewartet, im Oktober 1594 in Deutz zeigten diese ire freibreif und pasporzn von den nederlendischen Staten, das sie ire fiande zu wasser und zu lande angreifen mogten; ebd., S. 209f. 67 Eine Ausnahme bildet die Intervention des Rates beim Herzog von Novaterra, der sich anlässlich des Pazifikationstages in Köln aufhielt, zugunsten zweier von spanischen kreichsknechten gefangener Bürger; Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 46. 68 Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 164f.; weitere Belege für die Neusser ‚Freibeuter‘ ebd., S. 297–299, 303, 307, 313, 315, 320. 69 Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 167. 70 Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 164. 71 Schon zu einem früheren Zeitpunkt, im Januar 1583, schildert Weinsberg eine ähnlich ambivalente Situation, allerdings ohne sie genauer zu bewerten: In der Nähe von Neuss seien 14 Soldaten von Bauern erschlagen worden, da diese glaubten, sie seien Freibeuter. Die in Linn liegenden kurkölnischen Truppen hätten daraufhin die betreffenden Dörfer geplündert und niedergebrannt sowie junge und alte Menschen getötet. Vort quam der schrecken so grois, das alles folk umb Nuiss uis dorfern und haiffen flohe und die ledich leissen staien, das man zu Nuiss das folk nit wol unden kunt brengen, dadurch die burger an iren guttern auch nit wenich beschedigt worden, das dem domcapittel nit vil gunst machte, das ir eigen folk ir lantsaissen also besweirten; Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 182.

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Fremden in Kriegszeiten letztlich nicht möglich zu sein scheint, ist für Weinsberg nicht zu ertragen und muss zu einer tiefen Verunsicherung führen: Wan es viant [Feinde] gewesen, so hält der Chronist abschließend fest, were es zu gedulden, nuhe sullen es frunde sin.72

4. Fazit Die vorgestellten Beispiele haben gezeigt, wie Weinsberg in seinen Gedenkbüchern bei aller Unübersichtlichkeit des Kriegsgeschehens versucht, die kämpfenden Truppen und Individuen in eigene/fremde bzw. Freunde/Feinde zu unterteilen. Schwierigkeiten ergeben sich dabei nicht auf den Schlachtfeldern bzw. bei der übergreifenden Beurteilung der aus der Ferne verfolgten kriegerischen Ereignisse, denn hier kann der Autor jeweils die diplomatische Position der Reichsstadt Köln vertreten. Argumentationsbedarf ergibt sich vielmehr bei den nicht in unmittelbare Kampfhandlungen verwickelten Soldaten, die sich auf dem Durchzug zum nächsten Kampfplatz befanden, in der Umgebung Kölns lagerten oder Raubzüge in der Region unternahmen. Denn sie alle stellten eine Bedrohung für die Bevölkerung dar, standen als Soldaten den Zivilisten, als Bewaffnete den in der Regel unbewaffneten Bürgern und Bauern gegenüber. Genau bei diesen unmittelbaren Begegnungen mit der Soldateska erweist sich Weinsbergs mühsam konstruiertes Freund-Feind-Schema letztlich als inkongruent. Denn wie war es zu verstehen, wenn Kriegsleute, die auf­grund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kriegspartei, einer Landsmannschaft oder Nation und der katholischen Konfession als eigene bzw. Freunde angesehen wurden, sich gegenüber der befreundeten Zivilbevölkerung genauso wie die fremden, und das heißt verfeindeten Truppen verhielten, also plünderten, vergewaltigten, mordeten oder brandschatzten? Hier muss Weinsberg weiter differenzieren, muss, wie im Fall der Spanier, zwischen dem König und seinen Statthaltern bzw. Militärführern unterscheiden, um seine grundsätzliche Loyalität zum Haus Habsburg zu bewahren, oder er muss auf die Nöte der Soldaten verweisen, die in bestimmten Situationen keine andere Wahl hatten, als sich aus dem Land zu versorgen. Dass entsprechende Argumente für die niederländische Soldateska nicht eingebracht werden, unterstreicht die Bedeutung der betreffenden Passagen für die Bewertung von Weinsbergs Bild Spaniens und der Spanier. Die Ausschreitungen der Niederländer werden sogar noch kritischer gezeichnet, indem sie vielfach als Freibeuterei, also als illegitime und kriminelle Handlungen gebrandmarkt werden, die in keinerlei Zusammenhang zum Kriegsgeschehen stehen. Trotz aller Versuche um eine deutliche Unterscheidung von Freund und Feind in den Kriegshandlungen des späten 16. Jahrhunderts scheitert Weinsberg letztlich in seinen Bemühungen. Die Fassungslosigkeit, mit der er im April 1593 die Raubzüge der in Neuss und Moers stationierten spanischen und kurkölnischen Soldaten 72

Buch Weinsberg, Bd. 4, S. 167.

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schildert, zeigt sehr eindrücklich, wie das Freund-Feind-Schema des Chronisten angesichts der auch von den ‚frunden‘ ausgeübten Gewalt in sich zusammenfällt. Die ‚Anderen‘ konnten im Krieg auch die eigenen Leute sein.73

73

Selbst Mitglieder der eigenen Familie machte der Krieg zu ‚Anderen‘; zu der von Weinsbergs Neffen Johann Kuckelmann van Aich ausgeübten Kriegsgewalt vgl. Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 162f.; sowie Rutz, Westen, S. 12f.

HERMANN VON WEINSBERG AND THE OTHERS Krisztina Péter

One of the most remarkable sources of information about early modern Cologne is the Gedenkbuch, or memory book, compiled by Hermann von Weinsberg, a sixteenth-century city councillor and wine merchant. This massive three-volume diary written over a period of nearly fifty years is an extraordinary source for early modern urban life and has been widely studied from various angles.1 This article is about certain groups within the urban society of Cologne, which Weinsberg perceived as “others”.2 One of the distinct groups which Weinsberg had already encountered in his childhood and which piqued his interest were the foreign pilgrims who regularly came to Cologne. They were the pride of the city. As Weinsberg notes, feasts, such as the day of Epiphany, were not as “happy and glorious” (so frolich und herlich) if no foreign people (fremt volk) visited the cathedral.3 The most important occasions when pilgrims came to the city were the great pilgrimages (Heiltumsfahrten) to Aachen every seven years, and Weinsberg watched them with great interest. One of the earliest childhood memories recorded in his memory book was that pilgrims temporarily stayed in the stalls at his father’s house and the neighbouring houses. According to Weinsberg’s later estimation, the number of pilgrims in Cologne sometimes reached two or three thousand. They mostly came from Bohemia, Austria and Hungary. Weinsberg remembers that the pilgrims were welcomed warmly and that the citizens of Cologne provided them with accommodation and food.4 What 1

Most recently and most importantly Manfred Groten (ed.), Hermann Weinsberg (1518–1597). Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Cologne 2005; Matthew Lundin, Paper Memo­ ry. A Sixteenth-Century Townsman Writes his World, Cambridge/London 2012. 2 On the topic of ‘others’ in Cologne see Franz Irsigler/Arnold Lassotta (eds.), Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker. Außenseiter in einer mittelalterlichen Stadt, Köln 1300–1600, München 1989. 3 Hermann Weinsberg, Liber Decrepitudinis [LD-digital], fol. 17r (6 January 1588); cf. Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, ed. by Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003– 2009, http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Decrepitudinis/Liber_Decrepitudinis.htm [Accessed: 03.01.2021]. 4 Hermann Weinsberg, Liber Iuventutis [LI-digital], fol. 18v (1524); cf. Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, ed. by Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003–2009,

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interested Weinsberg most were the peculiar religious and everyday customs of the pilgrims, e.g. fasting excessively, eating exclusively fruit or carrying big black wax candles. He also records that the Hungarian pilgrims had strange plays, dances and pipe music. Pilgrims were usually important agents of cultural exchange5 and we can see that indeed Weinsberg paid close attention to their customs.6 Of course, he also felt sorry for them when he saw their crowd lying miserably (jamerlich) in the stalls. Pilgrims were exotic figures for him, viewed with a combination of fascination and repulsion. Aachen was a traditional and very popular pilgrimage site for the Hungarians in the Middle Ages. By the second half of the sixteenth century, however, the number of Hungarian pilgrims declined, primarily due to the Ottoman wars in Hungary. In 1587 Weinsberg was quite surprised at how few Hungarian pilgrims resided in the city – around 150 individuals – and that they were actually rather “poor people from Bohemia and the neighbouring lands”.7 Weinsberg was even more surprised by how poor and badly dressed these Hungarian pilgrims were. Because of the war, they did not even travel further to Aachen but went back to Hungary from Cologne. Weinsberg condescendingly adds that there were supposed to be some respectable people among them but that he had not noticed anybody like that. Nevertheless, they were given alms like linen shirts and some wine by pious townswomen. Emphasising that the pilgrims relied on the benevolence of the urban citizens puts them into a subordinate position. However, Weinsberg also regards their presence to be an honour for the city. He laments about the small number of pilgrims though the city was full of refugees from the Low Countries at that time, who were very interested in this famous religious custom that they had not seen before. According to Weinsberg’s estimation, there were ten thousand onlookers there.8 The custom of the Heiltumsfahrten declined further in the following years. By 1594 Weinsberg began to suspect that the Hungarian pilgrims were in fact not Hungarians at all. He notes that they were merely called Hungarians, but only two of them were actually Hungarians and the others were poor people from Austria.9 Even their candles were smaller and decorated with less gold than in the previous years.

http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Iuventutis/Liber_Iuventutis.htm [Accessed: 03.01.2021]. 5 Bernd Roeck, Introduction, in: Herman Roodenburg/Bernd Roeck (eds.), Forging European Identities 1400–1700, Cambridge 2006, pp. 1–29, here p. 20. 6 Roeck, Introduction, p. 20. 7 Hermann Weinsberg, Liber Senectutis [LS-digital], fol. 656r–656v (29 June 1587); cf. Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, ed. by Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003– 2009, http://www.weinsberg.uni-bonn.de/Edition/Liber_Senectutis/Liber_Senectutis.htm [Accessed: 03.01.2021]. 8 Weinsberg, LS-digital, fol. 656r–656v (29 June 1587). 9 Weinsberg, LD-digital, fol. 368r (29 June 1594).

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Another religious group, which in Weinsberg’s perception was definitely “different”, were the Jews.10 In the diary they are usually distinguished from Christians (die juden und christen)11 or from the burghers (die burger und juden).12 Weinsberg explains that they were banned from Cologne “for eternity” in 1423, and three years later, in 1426, their former synagogue was turned into a Christian chapel13 as a symbolic victory of Christianity over Judaism. Weinsberg’s antiquarian interests are manifest in his remarks on the stones inscribed with Hebrew letters he saw there.14 He later also records that the new town hall of Cologne was built on the Judengasse, which bears the name of its previous inhabitants. Being banned from Cologne, the Jewish population of the area in the second half of the sixteenth century lived on the Eastern bank of the Rhine river, mostly in Deutz. As Weinsberg recalls, Jews who did not swear an oath were not allowed to enter the city during the daytime and had to remain there overnight15 – they belonged to the night and darkness. Similar restrictions were in force in other German cities as well.16 In 1584, as a consequence of the turmoil caused by the Cologne War, a group of Jewish refugees – Weinsberg mentions a woman as one of their leading figures – asked for permission to settle down in the city. Their request prompted great debates in the city council. As Weinsberg records, the Jews had made friends with many prominent members of the elite. However, a number of other councillors were against the admission of the Jews. Although they promised to pay an extra tax, they were eventually rejected. According to Weinsberg, the decision was made out of economic reasons only: the council members considered the Jews to be harmful to the common folk, most importantly because they lent money to the poor who pawned their clothes, furniture and even household utensils but spent the cash given to them in exchange on alcoholic drinks.17 Weinsberg himself is convinced that there are other ways to help the poor. This suggests that the Jews probably also tried to come up with economic arguments in their own favour; both the Jews and the city council referred to the interests of the “common folk”. Weinsberg personally agrees with the decision; he thinks it was better to “let” them go to other places. He expresses his rather negative opinion of Jews at other times as well. For instance, in 1583 he notes that the Jews had a good time because of the war while everyone else was suffering.18

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Weinsberg, LI-digital, fol. 83v (1583). Weinsberg, LI-digital, fol. 83v (1583). 12 Weinsberg, LS-digital, fol. 289v (10–13 June 1581). 13 Weinsberg, LD-digital, fol. 231v (8 September 1591). 14 Weinsberg, LD-digital, fol. 477v (8 September 1595). 15 Weinsberg, LS-digital, fol. 416r (16 August 1583). 16 Maria Boes, Unwanted Travelers. The Tightening of City Borders in Early Modern Germany, in: Thomas Betteridge (ed.), Borders and Travelers in Early Modern Europe, Aldershot/Burlington 2007, pp. 87–112, here p. 93. 17 Weinsberg, LS-digital, fol. 463v (12 July 1584). 18 Weinsberg, LS-digital, fol. 416r (16 August 1583). 11

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The council’s rather pragmatic approach towards the Jews was not unique in the period. The expulsion of Jews from Frankfurt on the Main in 1614, for example, was demanded on economic grounds as well.19 However, the mere fact that the council considered moneylending the prime economic activity of the Jews – a stereotype originating in the twelfth century20 – put them per definition into the category of the “others”, since moneylending was basically not allowed among Christians. Nevertheless, Weinsberg also personally engaged in financial transactions with Jews in 1557. It was not the very best experience for him, though. He had to borrow money because of his wife’s debts, and they sent for a Jew living in Deutz and borrowed three talers from him. They soon ended up in a financial quarrel with the moneylender, however, and Weinsberg was completely confused: he could not follow the arguments of the Jew. He ends his narration of the episode with the remark that they did not lose too much money, but still one should be more watchful.21 He was in personal contact with other Jews as well. For instance, he consulted a Jewish doctor, a certain Isaac der Jude, when his young nephew fell seriously ill.22 He also mentions in his diary some converted Jews dwelling in the city. However, he had not forgotten their original faith; otherwise he would not have mentioned it. When recording the demolition of a very small corner house, for example, Weinsberg adds that a converted Jewish woman used to live in it, who made her living selling fruit, needles and other small things.23 On another occasion Weinsberg mentions the death of a man whose “background was Jewish, but otherwise [he was] a decent man” (siner herkompt ein judde, sunst ein redlicher man).24 Thereby he expresses the typi­ cal resentment of the townspeople towards Jews from which even those who had converted to Christianity could apparently not escape. On the other hand, Weinsberg sharply condemns any crimes committed against Jews. In 1582, for instance, he records that a “wicked” (böse) burgher of Cologne kidnapped a Jewish woman with whom he had had some business earlier and demanded a ransom of 8,000 talers for her.25 Weinsberg calls this a “nasty deed”; he follows the developments and the arrest of the offender with satisfaction and asks for divine intervention to stop these atrocities.26 A couple of years later he is deeply shocked when a Jewish person is killed on the street and the murderer is not even sentenced.27

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Boes, Unwanted Travelers, p. 95. Robert Chazan, Medieval Stereotypes and Modern Antisemitism, Berkeley/Los Angeles/London 1997, p. 30. 21 Weinsberg, LI-digital, fol. 361r (12 April 1557). 22 Weinsberg, LI-digital, fol. 542v (13 August 1567). 23 Weinsberg, LS-digital, fol. 14v (Vom O oder Troitzenberch). 24 Weinsberg, LD-digital, fol. 303r (10 January 1593). 25 Weinsberg, LS-digital, fol. 370v–371r (21 November 1582). 26 Weinsberg, LS-digital, fol. 370v–371r (21 November 1582). 27 Weinsberg, LD-digital, fol. 424r (7 February 1595). 20

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There were also foreigners who only temporarily stayed in the city, such as the abbot from Friesland Weinsberg invited to be his guest while in Cologne.28 Travelers could be valuable nodes in networking,29 but there is no sign that they remained in contact. Weinsberg seems to mention his Frisian guest rather as a matter of curiosity. One of the largest groups of foreigners living permanently in Cologne consisted of merchants.30 The diarist mentions Italian, Spanish and Portuguese traders living in Cologne. He states that the stock exchange near the Rhine river was specially built for the use of foreign merchants in 1580.31 They were most easily found on the major market squares of Cologne (i.e. Neumarkt and Heumarkt); Weinsberg, at least, went to the Heumarkt and to the stock exchange when he wanted to get some information on the fate of the Spanish Armada in July 1588. Foreign merchants usually played an important role in the dissemination of information and in the urban news networks. However, to his great surprise, in this case even the foreign merchants did not have any information at all.32 Besides the Jews, Christian merchants could also be approached when someone needed money. In 1592 the Diet of the Archbishopric of Cologne considered borrowing money from Italian and Portuguese merchants for military purposes.33 In 1578 the churchwarden of Weinsberg’s own parish also borrowed a considerable amount of money from a young Veronese merchant in order to be able to buy a building for the new parish school.34 This time no problems occurred during the transactions, or at least Weinsberg does not mention any. Many of the foreigners living in Cologne were well-educated professionals and Weinsberg acknowledges their expertise. He mentions a doctor from Denmark practising in the city35 as well as a professional news writer from Austria (Michael von Aitzing, ca. 1530–1598).36 Foreign sailors and shipmen are also mentioned frequently in the diary. Weinsberg’s attitude towards these low-status outsiders is less favourable, though: he usually writes about them in connection with various scandals. For instance, he records a street fight between sailors from the Low Countries and sailors from Jülich-Cleves which broke out after a financial debate. Two people died due to the fight.37 As Maria Boes explains: “While towns increasingly welcomed merchants throughout the sixteenth century and beyond, they became less and less inclined to tolerate other previously readily acceptable groups in their

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Weinsberg, LI-digital, fol. 416r (16 August 1561). Elizabeth Williamson, ‘Fishing after News’ and the Ars Apodemica. The Intelligencing Role of the Educational Traveler in the Late Sixteenth Century, in: Joad Raymond/Noah Moxham (eds.), News Networks in Early Modern Europe, Leiden/Boston 2016, pp. 542–562, here p. 543. 30 Weinsberg, LI-digital, fol. 665r (19 February 1571). 31 Weinsberg, LS-digital, fol. 242r (12 October 1580). 32 Weinsberg, LD-digital, fol. 68r (2 September 1588). 33 Weinsberg, LD-digital, fol. 273v (5 July 1592). 34 Weinsberg, LS-digital, fol. 73r (12 June 1578). 35 Weinsberg, LS-digital, fol. 616v (25 October 1586). 36 Weinsberg, LD-digital, fol. 68r (2 September 1588). 37 Weinsberg, LS-digital, fol. 359v (22 September 1582). 29

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midst. An urban discriminatory mentality emerged”.38 As urban migration policies in the early modern period were primarily concerned with the dangerous behaviour of low-status newcomers,39 Weinsberg also expresses his repulsion mainly towards lower-status foreigners. There was another large group of foreigners living in Cologne which was in the focus of Weinsberg’s interest: refugees. A large number of religious and economic refugees settled in Cologne in the sixteenth century because of political and economic uncertainties in their homelands. Most of them came from the Low Countries in the mid-1560s. There was another wave of immigration to Cologne between 1578 and 1585. This time Catholics from Italy also arrived in the city.40 However, Weinsberg is mainly concerned with the immigrants from the Low Countries. He claims that there were many very well-educated men among them, such as bishops and lawyers, and he considers them important enough to record their lives and deaths in his diary.41 These remained separate groups within urban society, though. Weinsberg calls the refugees “foreign people” (frembs volk)42 and states that these Catholic refugees had their own preacher, an observant monk. As we have seen, Weinsberg also records that the refugees from the Low Countries were very much interested in seeing the famous pilgrimage: they behaved like foreigners visiting the city and the city dwellers also saw them as visitors marvelling at the pride of the city. The diarist also registers the refugees’ keen interest in news about their home countries. They followed these pieces of information in the hope of returning home as soon as possible. In 1588, Weinsberg records that 300 people, mostly from Brabant, decided to travel home immediately after the news of the Spanish Armada’s departure arrived in Cologne.43 Three years earlier, in 1585, Weinsberg also describes a similar situation in great detail, when many of the refugees started to plan their way home immediately after receiving the news of the successful siege of Antwerp by the Spanish troops. They organised a huge Thanksgiving procession through the city, followed by a fiesta in the evening.44 Once again, these celebrations presented them to onlookers as a distinct community within urban society. Weinsberg had face-to-face contact with many of these foreigners. For instance, he records the death of a refugee, a certain Thomas Horn, in 1588, and calls him his schwager, suggesting that the godfather of one of Horn’s children was Weinsberg’s brother.45 That means that some of the refugees even managed to establish family ties 38

Boes, Unwanted Travelers, p. 91. Bert De Munck/Anne Winter, Regulating Migration in Early Modern Cities. An Introduction, in: Bert De Munck/Anne Winter (eds.), Gated Communities? Regulating Migration in Early Modern Cities, Farnham 2012, pp. 1–24, here p. 13. 40 Josef Kulischer, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, vol. 2: Die Neuzeit, München/Berlin 1929, p. 250. 41 Weinsberg, LS-digital, fol. 181v (17 February 1580). 42 Weinsberg, LI-digital, fol. 618v (6 July 1572). 43 Weinsberg, LD-digital, fol. 53r (14 July 1588). 44 Weinsberg, LS-digital, fol. 519v (17 August 1585). 45 Weinsberg, LD-digital, fol. 45r (2 June 1588). 39

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with respectable burghers in Cologne and were thus integrated into the city’s society. In 1579 Weinsberg participated in a baptism. The godfather of the child was an alleged baron from Vicenza, who made his living in Cologne as a magician – and who was rather badly dressed, in Weinsberg’s opinion, compared to his social status.46 In 1580 Weinsberg’s niece Feigin married a foreigner from the Duchy of Cleves. The groom was an outsider and since he was not a burgher of Cologne even had no right to sell wine, but his dowry of 500 talers compensated for these shortcomings.47 Nevertheless, these people were still regarded as outsiders, as otherwise Weinsberg would probably not provide information on their places of origin. On the other hand, Weinsberg does not mention any strange customs, clothing or languages of the foreigners living in Cologne. In general terms, Weinsberg’s perception of “strangers” in Cologne was not too favourable. Like Jews, foreigners are also referred to in Weinsberg’s diary as distinct from burghers (burger und fremden).48 Describing the urban society of Cologne with some detail, Weinsberg distinguishes three groups of city dwellers: the first group consisted of those eligible for offices and governmental positions in the city (die von der oberkeit sin), who were responsible for the common good and for the maintenance of proper social order. In his perception, the burghers by birth (sclechte burger) belonged to the second group of society, whereas the third group consisted of the foreign residents (fremde inwoner). According to Weinsberg, the main problem with this third group was that they had only their own business in mind and did not care at all about the city and the common good (gemeinen nutz).49 In his opinion, they were not even welcome as neighbours, since they were not permanent residents.50 Weinsberg, a middle-class burgher, expressed his rather hostile or at least distrustful attitude towards foreigners in the city in a period in which Cologne, as one of the most important trade and production centres of Europe, had already become a real multicultural metropolis.51 Moreover, Weinsberg blames immigrants, even Catholic refugees, for many things he considered negative developments in his city. One of his main concerns is the rental price of houses: according to him, the immigrants were responsible for the sharp rise in these prices. In 1579 Weinsberg records that his nephew could not afford to rent the house he wished. Weinsberg claims that the reason for his nephew’s trouble was that Cologne was overpopulated. Not for centuries had so many people lived in Cologne, and there were practically no empty houses left. The basic reason for the housing shortage was, according to the diarist, that many foreign people had come to Cologne from both parts of the Low Countries.52 By the next year, 1580, 46

Weinsberg, LS-digital, fol. 125v (17 May 1579). Weinsberg, LS-digital, fol. 236v (13 September 1580). 48 Weinsberg, LI-digital, fol. 607r (10 November 1571). 49 Weinsberg, LD-digital, fol. 257r–257v (28 February 1592). 50 Weinsberg, LD-digital, fol. 58v (31 July 1588). 51 Yvonne Leiverkus, Köln. Bilder einer spätmittelalterlichen Stadt, Cologne/Weimar/Vienna 2005, pp. 118–119. 52 Weinsberg, LS-digital, fol. 111v (26 January 1579). 47

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the rental prices rose to an unprecedented level – they were three or even four times higher than usual53 – and they did not start to decline until around 1588, when, as Weinsberg claims, foreign nations (fremde nationes) started to depart from Cologne. Consequently, the city became “spacious” again and there were houses available for rent.54 Recording in 1588 that 300 refugees from Brabant returned home, the diarist feels it necessary to add that the rental prices had declined immediately, in some places by 50 talers even, and the tenants were not willing to pay the former high prices anymore. Instead, they moved from one house to another if that was cheaper, to the great astonishment of the landlords and to the great pleasure of the tenants.55 Weinsberg’s attitude towards refugees is thus rather ambiguous: on the one hand he welcomes persecuted fellow-Christians, but on the other he is well aware of the economic consequences of large-scale immigration, which he sees as not entirely positive. Similar accusations against immigrants of causing economic harm to locals were widespread throughout Europe in the sixteenth century.56 However, Weinsberg, as a middle-class burgher living off rent, is merely concerned with the housing market and less with other economic areas affected by immigration, such as the state of the labour market – a charge frequently brought forward against immigrants in the sixteenth century.57 Neither does he blame immigrants for the rising food prices, which was one of the main causes of popular complaints against immigrants in Cologne in the second half of the sixteenth century.58 He also does not demand the regulation of these markets. Weinsberg does, however, blame foreigners, especially foreign merchants, for the introduction of the lottery in Cologne. The city council agreed to the introduction of this new type of gambling but with some restrictions: the lottery had to be overseen by two supervisors and a bet was not allowed to exceed a certain amount. Weinsberg takes a tougher stance: he demands an entire ban. He notices the immediate popularity of the lottery, especially among the common folk (gemeinem folk), particularly among servants, maids, children and the youth. Weinsberg is deeply concerned about the “unfairness” of the results, meaning that servants could win valuable prizes. He is upset, for example, when he writes about a youngster winning a beautiful horse. Not only did the prizes not suit the social standing of the winners in his view but, most importantly, some gamblers were even willing to steal money from their masters or parents to be able to bet and participate in the lottery. In Weinsberg’s eyes, the lottery poses a serious threat to social stability and moral standards and thus to the entire social order of the city. Eventually, the foreigners are blamed by him for this terrible novelty.59

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Weinsberg, LS-digital, fol. 206r (22 June 1580). Weinsberg, LD-digital, fol. 23v (11 February 1588). 55 Weinsberg, LD-digital, fol. 53v (14 July 1588). 56 Jacob Selwood, Diversity and Difference in Early Modern London, Farnham 2010, p. 77. 57 De Munck/Winter, Regulating Migration, p. 6. 58 Kulischer, Wirtschaftsgeschichte, p. 250. 59 Weinsberg, LD-digital, fol. 181r (4 June 1590). 54

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Other important consequences of immigration in Weinsberg’s eyes were religious ones. Most of the refugees coming to Cologne were Catholics, but not all; simultaneously, the number of Lutherans living in the city was constantly growing. Weinsberg records in 1582 that a supplication was submitted to the city council to allow the Lutherans to build a church. According to Weinsberg’s estimation there were at least 400 burghers who supported the proposal. He adds that many among the foreigners, who were present in Cologne in large numbers, also supported it but did not want to sign the supplication.60 They were probably well aware of the fact that they were outsiders. Weinsberg’s suspicion that there were many hidden Protestants among the foreigners was strengthened a couple of years later, when he notices that the “strangers” were those who did not attend the Easter procession but remained in their houses instead, whereas the “old” burghers of the city duly took part in the procession.61 Three years later, in 1595, he also notes that many of the foreigners did not go to church.62 That means, according to Weinsberg, that strangers posed a threat to the proper religious life of the city as well. On the other hand, Weinsberg had a negative opinion of foreign Catholics as well, especially of the mendicants coming to Cologne from the Low Countries. According to the diarist, they managed to persuade wealthy town dwellers to give them considerable amounts of alms. Consequently, as Weinsberg claims, these mendicants lived even better than respectable burghers. Again, Weinsberg sees foreigners as those who threaten the proper order of society. He even adds an ironic remark that he simply cannot understand how the Spanish king could let these “holy” monks leave his country. The Cologne folk were so hospitable that they were apparently more willing to give alms to foreign monks and nuns than to nuns who were the daughters of respectable Cologne burghers, so that the latter had to live in poverty.63 In this case, Weinsberg was probably thinking primarily of his own daughter, who was living in a convent. Again, however, like with the housing shortage, these refugees (even members of the Catholic clergy) were seen by him as potential competitors for local economic resources. His economic jealousy was rooted in the fact that his extended family was affected by these negative developments. Weinsberg was not alone with his sentiments towards foreigners in Cologne: the city authorities expressed similar opinions. In 1590, Weinsberg records that the council wrote a lengthy letter to Emperor Rudolf II about the reasons the city was unable to pay its debt back to the Emperor. One of the many explanations was that the city was full of strangers.64 It was probably merely an excuse, but the council obviously tried to come up with excuses that would be accepted. The council’s letter, referring to strangers as burdens on urban society, thus probably shows the general perception of strangers.

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Weinsberg, LS-digital, fol. 343r (6 June 1582). Weinsberg, LD-digital, fol. 440r (7 April 1595). Weinsberg, LD-digital, fol. 481r (30 September 1595). Weinsberg, LD-digital, fol. 128r (28 June 1589). Weinsberg, LD-digital, fol. 174v (15 April 1590).

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Since foreigners were considered a potential threat to the social order, there were some official actions taken against them by the city authorities. One was the regulation of immigration: early modern cities tried to control who could enter and settle within their walls.65 Not only the Jews but all other immigrants had to ask for admission. After Antwerp was taken by the Protestant forces in 1578, a group of refugees – merchants originally stemming from Portugal – asked the city council of Cologne to be allowed to settle down in the city. They were granted this right and Weinsberg agrees with the decision and justifies it with the fact that these Portuguese refugees were extremely wealthy. According to Weinsberg, the main reason for the decision was that the city council thought that the presence of these merchants would be a benefit for the entire city or that at least they would not jeopardise the subsistence of the common merchants and craftsmen living in Cologne, since the Portuguese already had their own sources of income.66 Two months after they were granted the right to settle, the Portuguese merchants arrived in Cologne, and they indeed proved to be wealthy. Weinsberg was astonished that one of the members of the group possessed a fortune of 20,000 guldens.67 Thus, like with the question of admitting Jews, in this case economic calculation also seems to have played the most important role. Economic reasons were also the decisive factors in the inclusion or exclusion of immigrants in other places of Europe.68 More importantly, the urban authorities of Cologne took into consideration the interest of the common folk as well. In parallel with these developments, there was “a growing ambition to control and monitor the whereabouts and activities of newcomers”.69 One action taken by the city authorities in order to control strangers already admitted was the conscription of immigrants. Weinsberg first mentions in 1585 that such action was taken in Cologne.70 Expulsions were also frequently used against immigrants in early modern cities.71 Weinsberg reports in detail on how the suspicious elements were seized and expelled from the city in 1586. Captains and colonels went from house to house early in the morning in a surprise attack to find, examine and finally expel all suspicious or unknown people. According to Weinsberg, the whole action took only two or three hours. It was aimed at refugees, unknown people, those who refused to take the oath and other foreigners and is considered by the diarist to be a preventive action against the fremde böse volk at a time when Cologne was in a dangerous mili­ tary situation with the enemy virtually in front of the city gates. Weinsberg agrees with the expulsion of the suspicious elements and is somewhat disappointed that all these actions were in vain, because the expelled people were back in the city within

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De Munck/Winter, Regulating Migration, pp. 1–24. Weinsberg, LS-digital, fol. 64v (24 February 1578). 67 Weinsberg, LD-digital, fol. 269v (5 June 1592). 68 Heinz Schilling, Early Modern European Civilization and its Political and Cultural Dynamism. Hanover/London 2008, p. 104. 69 De Munck/Winter, Regulating Migration, p. 13. 70 Weinsberg, LS-digital, fol. 504v (12 May 1585). 71 De Munck/Winter, Regulating Migration, p. 13. 66

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days.72 Though this action was taken in Cologne in a special military situation, simi­ lar municipal decrees and prohibitions were frequently issued in sixteenth-century German towns. For instance, in Frankfurt in the 1580s the city authorities again and again prohibited anyone except innkeepers from providing lodging to foreigners, and these prohibitions were similarly ignored repeatedly.73 Finally, there is another group which is treated rather dismissively or distantly by Weinsberg, and that is the “common folk” (gemein folck) of the city.74 Like the Jews and foreigners, these people are mentioned sometimes as counterparts of the burghers of Cologne. Weinsberg on one occasion describes the society of Cologne as consisting of die burger und folk.75 What we learn from him about the common folk in the city is that they are quite simple: they can for example easily be misled by people of other denominations.76 According to the diarist, in September 1571 the city council was considering the expulsion of people of other denominations because they misled the Catholic folk, leading to a decline in worship. Weinsberg himself repeatedly – in 1575, 1588 and 1595 – complains that the folk do not go to church.77 The folk were also misled by the Catholic mendicants, who kept lying to the wealthy but simple (einfeltichen) city dwellers to get alms from them.78 To sum up, the folk could be easily and quickly manipulated. The folk were eager to learn the latest news and tended to gossip and spread rumours.79 The folk were also too often frightened or shocked by the news and information that reached them. For instance, the news of the French king’s attack on Brabant in 1542 caused panic (einen groissen schrecken) in Cologne.80 In Weinsberg’s opinion, the folk tended to react to the news rather emotionally. A frequent adjective he uses when describing the folk is “evil” (boese)81 and they could be easily upset by all kinds of sensational news, like a scandal in the court82 or the sudden death of a prominent person.83 The members of the folk were all men of moods. In Weinsberg’s description, when the good weather predicted a rich wine harvest, everyone in the city was happy, but when these expectations did not become a reality, the entire folk mourned.84 72

Weinsberg, LS-digital, fol. 581r (10 June 1586). Boes, Unwanted Travelers, pp. 108–109. 74 In the contemporary social vocabulary “people” meant both the entire population of the city and commoners as well; James Amelang, The Flight of Icarus. Artisan Autobiography in Early Modern Europe, Stanford 1998, pp. 22–23. Weinsberg also uses the word in its both meanings. Weinsberg, LD-digital, fol. 181r (4 June 1590). 75 Weinsberg, LS-digital, fol. 592r (27 July 1586). 76 Weinsberg, LI-digital, fol. 605r (26 September 1571). 77 Weinsberg, LI-digital, fol. 690r (1 January 1575). 78 Weinsberg, LD-digital, fol. 128r (28 June 1589). 79 Weinsberg, LD-digital, fol. 426r (19 February 1595). 80 Weinsberg, LI-digital, fol. 125r (1542); similar situation ibid., fol. 166v (1545). 81 Weinsberg, LD-digital, fol. 402v (8 December 1594); ibid., fol. 47r (14 June 1588). 82 Weinsberg, LD-digital, fol. 345v (29 January 1594). 83 Weinsberg, LD-digital, fol. 426r (19 February 1595). 84 Weinsberg, LD-digital, fol. 188r (10 August 1590). 73

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Members of the common folk frequently appear drunk in the diary. Weinsberg recalls, for example, his memories of the year 1540 when the wine was extremely cheap and people were lying around on the streets of Cologne like hogs (wie die swein).85 In contrast, in 1589 the wine was expensive but the bread was cheap. Consequently, Weinsberg could write with satisfaction that the common folk were sober and well (sober und gesont).86 Complaining about excessive wine consumption may sound strange for a wine merchant like Weinsberg but drunkenness was the target of social disciplining efforts87 throughout Europe in the sixteenth century,88 and as a councillor Weinsberg supported this policy. The folk were extremely superstitious89 – a charge already expressed by Erasmus90 – and their traditional lore and proverbs are unreliable.91 The folk firmly believe, explains Weinsberg, that if it is raining on June 22 it will not stop raining for the next 30 days, and he is convinced that it is merely a common mistake.92 The folk also believed in various ghosts and poltergeists and tended to trust magicians. Weinsberg recalls that his father forbade mention of any kinds of ghosts and phantoms in his house, because these tales would frighten the children and the maids.93 In Weinsberg’s description at least some members of the folk are thus basically on the same intellectual level as children. As we have seen, when describing the urban society of Cologne, Weinsberg claims that the first and highest group of the burghers, those who are eligible for governmental positions and offices (die von der oberkeit sin), are responsible for the common good and for the maintenance of proper order within the city.94 Since he hoped that his descendants would belong to this group, he includes some pieces of advice in his memory book on the knowledge or wisdom a proper burgher of this first group needs to deal with council and governmental issues, in order to promote the common good. According to the author, one element of this knowledge is to know how to be not too strict and yet not too weak towards the common folk.95 In Weinsberg’s perception, the folk are rather childish, and decent burghers should behave like their parents. Moreover, these stereotypes – being superstitious, being

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Weinsberg, LI-digital, fol. 105v (1540). Weinsberg, LD-digital, fol. 107v (14 February 1589). 87 Ann Tlusty, Bacchus and Civic Order. The Culture of Drink in Early Modern Germany, Charlottesville/London 2001, pp. 183–184. 88 Graeme Murdoch, Church Building and Discipline in Early Seventeenth-Century Hungary and Transylvania, in: Karin Maag (ed.), The Reformation in Eastern and Central Europe, Abingdon/New York 1997, pp. 133–155, here p. 154; Michael Graham, The Uses of Reform. ‘Godly Discipline’ and Popular Behaviour in Scotland and Beyond 1560–1610, Leiden/New York/Cologne 1996, p. 2. 89 Weinsberg, LD-digital, fol. 169v (8 March 1590). 90 Lundin, Paper Memory, p. 109. 91 Weinsberg, LD-digital, fol. 355r (4 April 1594). 92 Weinsberg, LD-digital, fol. 48r (22 June 1588). 93 Weinsberg, LD-digital, fol. 529r (21 April 1596). 94 Weinsberg, LD-digital, fol. 257r–257v (28 February 1592). 95 Weinsberg, LI-digital, fol. 98r (Divisio). 86

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less intelligent, gossiping, being emotional – are gendered. This means that the folk are feminised in Weinsberg’s diary, which further legitimised the desired patriarchal dominance of proper burghers above the folk. Weinsberg’s condescending and paternalist96 attitude towards the folk was far from unique. This vision of proper social order was based on the order of the household: “Civic government especially after the Reformation was based on an image of paternal discipline and control, with the city council acting in the role of municipal fathers”.97 We have also seen that, according to the city council of Cologne, the common folk “needed protection against the temptation”98 to spend cash given to them by the Jews on drinking. In the view of the city council, the folk were “by nature undisciplined and in need of the paternal correction of the city magistrates”.99 The urban elites felt entitled to correct the behaviour of these childish or feminine folk. All these phenomena strengthen the theory of middle classes as enforcers of social disciplining. However, we have to take into consideration that Weinsberg belonged to the rising middle class of urban society: “He saw himself as belonging to and writing for the people”,100 about “insignificant people”,101 since, as he put it, “otherwise, it will be as if we had never been”.102 He was a vocal advocate of the emerging urban middle classes.103 This identity was defined by the ideas and values of “discipline, moderation, frugality and self-control”,104 and Weinsberg clearly articulated and defended these values.105 Drawing on the “Renaissance concept of the ‘nobility of virtue’, most famously developed by Erasmus”,106 he was convinced that following these virtues “can make anyone noble”.107 According to him, “commoners were noble […] because they were modest, thrifty and industrious, because they lived an unpretentious, ordinary life”.108 Since the entire legitimisation of the demand for equality and similar status of the commoners with the nobility rested on these virtues of meritocracy,109 Weinsberg distances himself from the masses of the folk who were in

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Edward Thompson, Patrician Society, Plebeian Culture, in: Journal of Social History 7 (1974), pp. 382–405, here p. 382. 97 Tlusty, Bacchus, p. 116. 98 Tlusty, Bacchus, p. 201. 99 Tlusty, Bacchus, p. 201. 100 Amelang, Icarus, p. 174. 101 Quoted by Lundin, Paper Memory, p. 2. 102 Quoted by Lundin, Paper Memory, p. 2. 103 Lundin, Paper Memory, p. 114. 104 Lundin, Paper Memory, p. 129. 105 Lundin, Paper Memory, p. 5. 106 Lundin, Paper Memory, p. 125. 107 Quoted by Lundin, Paper Memory, p. 126. 108 Lundin, Paper Memory, p. 110. 109 Lundin, Paper Memory, p. 105.

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his opinion unable or unwilling to follow this “unpretentious, ordinary life”.110 To identify themselves with the undisciplined folk would have jeopardised the emancipation of ‘proper’ middling sort burghers. To sum up, Weinsberg’s attitude is rather different towards low- and high-status immigrants. Neither national characteristics nor religious differences but first and foremost differences in social status were important for him. His attitudes are good indicators that in the sixteenth century a “new urban mentality emerged, pitting insiders against outsiders”111 and “the outcome was an increasing urban ethnocentricity”.112 This exclusionary attitude not only affected the unreliable or suspicious non-residents, though, but the undisciplined folk as well.113

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Lundin, Paper Memory, p. 110. Boes, Unwanted Travelers, p. 93. 112 Boes, Unwanted Travelers, p. 110. 113 Charles H. Parker, The Reformation of Community. Social Welfare and Calvinist Charity in Holland, 1572–1620, Cambridge 1998, p. 14. 111

Weinsberch – Weinsberg – Weinsbergh NAMENSSCHREIBUNG UND IDENTITÄT IM KÖLN DES 16. JAHRHUNDERTS Eva Büthe-Scheider

1. Einleitung Hermann Weinsberg (1518–1597) – oder von Weinsberg, wie er sich selbst nannte – zählt zur Gruppe der Fremden oder ehemals Fremden in Köln. Seine Vorfahren waren Zugezogene, die in der spätmittelalterlichen Reichsstadt einen Aufstieg erlebt haben. Hermann Weinsberg war in dritter Generation in Köln und wirtschaftlich recht gut gestellt. Als Zugezogener erfand er eine Vorgeschichte seiner Familie, durch die er den alten Patrizierfamilien, die lange allein die Geschicke der Stadt beherrschten, ebenbürtig zu werden wünschte. Mit solcherlei Erfindung stand er nicht alleine da,1 denn viele angesehene und politisch einflussreiche Familien ‚erfanden‘ ebenfalls ihre Vorgeschichten und legten – wenn auch rund hundert Jahre früher – Familienbücher an,2 die seinem Boich Weinsberg3 glichen. Nicht nur Weinsberg selbst war ein 1

Eine kurze Zusammenfassung der erfundenen Vorgeschichte gibt Birgit Studt, Der Hausvater. Haus und Gedächtnis bei Hermann von Weinsberg, in: RhVjbll 61 (1997), S. 135–160, hier S. 136–137; zum Selbstverständnis der Kölner Führungsschicht mit weiteren Literaturverweisen vgl. Klaus Militzer, Führungsschicht und Gemeinde in Köln im 14. Jahrhundert, in: Wilfried Ehbrecht (Hg.), Städtische Führungsgruppen und Gemeinde in der werdenden Neuzeit, Köln 1980, S. 1–24, hier S. 2; und Wolfgang Herborn, Bürgerliches Selbstverständnis im spätmittelalterlichen Köln. Bemerkungen zu zwei Hausbüchern aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in: Werner Besch u. a. (Hg.), Die Stadt in der europäischen Geschichte. Festschrift Edith Ennen, Bonn 1972, S. 490–520. 2 Hier sei beispielhaft auf das Haus- oder Familienbuch des Werner Overstolz verwiesen, Historisches Archiv der Stadt Köln [HAStK], Best. 7657, ehem. 1157 (Genealogische Abteilung), Nr. 67; vgl. dazu Wolfgang Herborn, Bürgerliches Selbstverständnis, S. 503–507; Marc von der Höh, Zwischen religiöser Memoria und Familiengeschichte. Das Familienbuch des Werner Overstolz, in: Birgit Studt (Hg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 33–60, hier insbes. S. 45 zur Funktion des Familienbuchs. 3 Mit Boich Weinsberg ist hier und im Folgenden das ‚wirkliche‘ Boich Weinsberg gemeint, HAStK, Best. 7030 (Chroniken und Darstellungen), Nr. 52, das von Weinsberg selbst so genannt wurde. Eine Verwechslungsgefahr besteht mit der Auswahledition seiner chronologisch fortlaufend angelegten Gedenkbücher (Liber Iûûentûtis [l. Juventutis], ebd., Nr.  49; Liber Senectvtis, ebd., Nr.  50; Liber

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Fremder, sondern auch der Name bzw. Beiname Weinsberg, denn die Familie hatte sich sekundär so nach dem 1491 in Köln erworbenen Haus benannt, nachdem sie zunächst nach ihrer Herkunft aus dem bergischen Ort Schwelm van Swelm(e) hieß.4 Um diesen Namen herum, der anfänglich als Haus und später auch Personenname noch nicht Weinsberg lautete, sondern unter anderem Wintzberg, Wijnsberg, Wynsberch,5 ersann Hermann in seinem Werk eine kunstvoll angelegte Familiengeschichte, die er in der Römerzeit beginnen lässt. Auch der Name und seine Etymologie stehen wiederholt im Fokus seiner Überlegungen.6 Das Thema Fremdheit und Identität und damit auch Identitätskonstruktion spielt somit bei Hermann Weinsberg eine außerordentlich wichtige Rolle, wie bereits diese grob skizzierten Zusammenhänge zeigen. In diesem Beitrag soll es um die Fragen von Identität und Fremdheit in einer Perspektive gehen, die die Sprache ins Zentrum der Betrachtung rückt. Dieses Vorhaben stellt für Köln des 16. Jahrhunderts und dann noch einmal für Hermann Weinsberg ganz besonders ein lohnenswertes Unterfangen dar, denn im 16. Jahrhundert fand in Köln ein großer schreibsprachlicher Umbruch statt.7 Darun-

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Decrepitvdinis, ebd., Nr. 51). Sie trägt den Titel „Buch Weinsberg“, da die Herausgeber bis zuletzt der Ansicht waren, Weinsberg habe dem falschen seiner Bücher diesen Titel gegeben; Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16.  Jahrhundert, 5 Bde., hg. v. Konstantin Höhlbaum/ Friedrich Lau/Josef Stein, Bonn 1886–1926, ND Düsseldorf 2000. So schreibt Stein in der Einleitung zum letzten Band: „Weinsberg begann mit der Abfassung seines dreibändigen ‚Gedenkboiches der jaren‘ in der Weihnachtswoche des Jahres 1560. Höhlbaum hat mit Recht dieser Chronik den Titel ‚Das Buch Weinsberg‘ gegeben, den eigentlich das fälschlich sogenannte Materialienbuch trägt“, ebd., Bd. 5, S. XXXIX. Zur Fehleinschätzung des Boich Weinsberg vgl. auch Tobias Wulf, Bestandsaufnahme und Perspektiven der Weinsberg-Forschung, in: Manfred Groten (Hg.), Hermann Weinsberg (1518–1597) – Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Köln 2005, S. 35–57, hier S. 36–37 und 45. Für die zuvor genannten Bücher Weinsbergs werden im Folgenden die Siglen BW, LI, LS, LD für seine Originaltitel verwendet. Das Boich Weinsberg wird nach meiner noch im Entstehen begriffenen Edition zitiert. Zitate werden mit der Fundstelle in der Handschrift BW belegt. Der originalgetreue Zeilenumbruch wird dabei aufgelöst, weil er für die angestellten Betrachtungen nicht relevant ist. Abbreviaturen werden in Rundklammern wiedergegeben. Vgl. Wolfang Herborn, Hermann von Weinsberg (1518–1597), in: Rheinische Lebensbilder 11 (1988), S. 59–76; zit. nach dem unveränderten Wiederabdruck in: Groten (Hg.), Weinsberg, S. 15–33, hier S. 18. Vgl. Hermann Keussen, Topographie der Stadt Köln im Mittelalter, 2 Bde., Bonn 1910, hier Bd. 2, S. 6; zur Namenstradierung vgl. auch Walter Hoffmann, Hermann Weinsberg als Namenforscher?, in: Groten (Hg.), Weinsberg, S. 275–292, hier S. 280. Als Student erscheint Weinsberg in den Universitätsmatrikeln von 1534 als Herm. Wynsberg de Colonia; Die Matrikel der Universität Köln, bearb. v. Hermann Keussen, Bd. 2: 1476–1559, Bonn 1919, S. 929, Nr. 583,41. Die Anzahl der Schreibvarianten des Namens mag noch größer gewesen sein, im Schreinsbuch Sententiarum des Schreins Arsbach (der bis zu Weinsbergs Zeit noch Airsbergh hieß und im Laufe der Jahrhunderte nach Auskunft von Prof.  Manfred Groten (Bonn) mehrmals umbenannt wurde) findet sich z. B. auch die Schreibung Wyntzberch (08.11.1497), HAStK, Best. 101, Nr. A 321 (1495–1593), fol. 9r. Aus dem noch unveröffentlichten BW können hier beispielhaft die in lateinischen Versen verfassten Passagen De agnomine Weinſberch (fol. 243r–256v, zum Namen im engeren Sinne davon fol. 243r–248v) und DE AGNOMINE WEINSBERG. Vom Zuͦnamen weinſberch (fol. 471r–486r mit anschließenden Versen zum Wappen bis fol. 489v) genannt werden. Bei letzterer handelt es sich um ein Lehrgespräch in zweizeiligen Hexametern mit anschließender deutscher Übersetzung. Diese Passagen stimmen inhaltlich mit der ersten Ausführung in deutscher Sprache Vom Zuͦnamen rein zuͦ ſchreiben (fol. 8v–9v) weitgehend überein, auf die in Kap. 3.2 noch näher eingegangen wird. Zu diesem Thema sei besonders auf zwei Beiträge von Walter Hoffmann verwiesen sowie auf einen, gleichfalls mit von ihm stammenden Überblicksartikel mit weiterer Literatur: Walter Hoffmann,

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ter ist zu verstehen, dass ein länger währender Selektionsprozess begann, in dessen Folge die zuvor etwa 200 Jahre lang tradierte lokale Schreibsprache letztlich einer anderen, fremden Schreibsprache wich. Genau in dieser Zeit hat Weinsberg etwa 40 Jahre lang kontinuierlich und überaus ausführlich geschrieben. Er war Zeit seines Lebens mannigfachen (schreib-)sprachlichen Einflüssen ausgesetzt, nachdem er in der Schule neben Latein zunächst nur in der ‚traditionellen‘ Lokalsprache zu schreiben gelernt hatte.8 Infolge verschiedener Einflüsse bediente er sich einer Schreibsprache, der bereits individuelle Züge bescheinigt worden sind,9 da sie eine bunte Mischung darstellt: Altes steht darin neben Neuem, Südliches neben Nördlichem. Wie weit diese vielfältigen Einflüsse voneinander zu unterscheiden sind, ist oftmals die Frage. Die Sprache Weinsbergs zeugt jedenfalls von vielfältigen Abgrenzungsund Anlehnungsprozessen. Alle verschiedenen sprachlichen Merkmale, die in dieser Zeit auftreten, lassen sich freilich nicht lokal oder gar von der Stilhöhe her verorten; einige aber durchaus. Da die bis um 1500 gültige Kölner Schreibsprache, die etwa 200 Jahre lang ausgebaut wurde und in der lokalen Schriftlichkeit uneingeschränkte

„Die groisse verenderonge in der schrift…“. Zum Sprachwandel in Köln im 16. Jahrhundert, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 25 (1983/84), S.  63–84; Ders., Rheinische Sprachverhältnisse im 16. Jh., in: RhVjbll 57 (1993), S. 137–157, hier bes. S. 138; und Ders./Klaus J. Mattheier, Die Stadt in der neueren deutschen Sprachgeschichte III: Köln, in: Werner Besch u. a. (Hg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung, Bd.  2.3, Berlin/New York 22003, S.  2321–2340. Für die Zeit bis 1500 ist ferner der Beitrag von Robert Möller, Rheinische Sprachgeschichte von 1300 bis 1500, in: Jürgen Macha/Elmar Neuss/Robert Peters (Hg.), Rheinisch-Westfälische Sprachgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 51–75, einschlägig; speziell zu Weinsbergs Sprache auch Ders., Beobachtungen zu Hermann Weinsbergs ‚gemischter‘ Sprache, in: Groten (Hg.), Weinsberg, S. 253–273. Einen Überblick über die bisherige Weinsbergforschung mit Daten zu Leben und Werk gibt Wulf, Bestandsaufnahme, S. 35–57. 8 Vgl. Hartmut Beckers, Ein Kölner ABC-Buch von ca. 1520 als kulturhistorische und sprachgeschichtliche Quelle, in: Klaus J. Mattheier u. a. (Hg.), Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch, Frankfurt u. a. 1993, S. 261–277, hier S. 274. Bedauerlicherweise ist das einzige erhaltene Exem­ plar des späteren Drucks Handbuechleyn der Kynder, gedruckt von Anthonius Keyser in Köln um 1550, das nicht mehr in der lokalen Schreib- bzw. Drucksprache verfasst ist, nicht mehr nachweisbar (Universitätsbibliothek München, Philos pr. 701). Bei ihm handelt es sich zugleich um das erste „Lesebuch für Kinder, die den Erstunterricht im Lesen und Schreiben bereits hinter sich haben“; Beckers, ABC-Buch, S. 267. Dieses Lesebuch könnte vermutlich Auskunft über die verschiedenen sprachlichen Einflüsse in Köln geben, da das Werk sowohl protestantische als auch katholische Texte versammelt, die wohl kaum aus der gleichen sprachlichen Region gestammt haben können. Es zählt leider zu den Kriegsverlusten des Zweiten Weltkriegs und wird wohl verbrannt sein (Mitteilung von Irene Friedl, UB München vom 14.11.2017). Beckers, ABC-Buch, S. 276, Anm. 22, führt diesen Druck als das „anscheinend einzige erhaltene Exemplar“ an, wird diese Angabe aber nur von Jakob Zewe, Geschichte des rheinischen Lesebuchs, Bonn 1927, S. 14, Anm. 3, übernommen haben, der dieses Exemplar wohl noch eingesehen hat. Bei Zewe finden sich leider nur kürzere Ausschnitte, die wegen der Kürze keine Einschätzung dieses Drucks zulassen und auch, weil unklar ist, ob und in welchem Maße normalisiert wurde. Das ist höchst bedauerlich, weil ein solches Lesebuch zeigen könnte, welches Deutsch unter den verschiedenen Varietäten als maßgeblich oder gut geeignet für den Schulunterricht empfunden wurde. Vielleicht mag der Umstand, dass der Drucker in religionssachen verdechtich (Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 160) und deshalb 1556 im Gefängnis gelandet war (Zewe, Lesebuch, S. 15), mit für die desaströse Überlieferung dieses Buches verantwortlich sein. 9 Vgl. Möller, Beobachtungen, S.  260: „Man könnte insofern fast von einer spezifischen Weinsberg-Varietät sprechen“.

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Gültigkeit besaß, in einer ganzen Reihe von Merkmalen fest war,10 lassen sich vor ihrem Hintergrund ‚neue‘ Merkmale im 16. Jahrhundert recht sicher als solche identifizieren und teilweise auch verorten. Woher nun die verschiedenen Einflüsse stammen, denen Weinsberg ausgesetzt war, und wie sich seine Sprache zu der anderer Schreiber und Schreiberinnen in dieser Zeit verhält, ist bereits thematisiert worden, wobei der Vergleich mit ungeübten Schreiberinnen und Schreibern (wie etwa Elisabeth Horns11) für die vorliegende Frage nicht erhellend ist. Ein methodisches Problem ist, dass bis dato nicht alle schreibsprachlichen Einflussgrößen bekannt sind, die es überhaupt in Köln gegeben hat und die für Weinsbergs Schreiben relevant sind. Fremdes zeigte sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts an vielen Stellen. Auch in der Ratskanzlei passten sich die vielen auswärtig rekrutierten Schreiber zunehmend nicht mehr den lokalen Schreibgewohnheiten an;12 selbst aus Köln stammende folgten nicht mehr ausschließlich dem Kölner Schreibusus. Als prominentester Einzelfall wäre hier der Kölner Bürger Peter Bellinghausen zu nennen, der von 1523 bis 1543 Kanzler der Stadt war: „Seine eigenwillige Orthographie hat mehrere Editoren aus der Bahn geworfen“.13 Insofern bemerkte bereits Möller mit aller Vorsicht zu eigenwilligen Merkmalskombinationen in Weinsbergs Schriften: „Man könnte insofern fast von einer spezifischen Weinsberg-Varietät sprechen, wobei sich natürlich sofort die Frage anschließt, ob es sich hier um Weinsbergs persönliche Merkmalskombina­ tion handelt oder um eine typische Kombination dieser Übergangsphase. Hierzu müssen die Texte anderer Schreiber derselben Zeit untersucht werden.“14

Ohne Kenntnis dieser Einflussgrößen, die in ihrer Vielzahl schier unüberblickbar scheinen, können wir über das als ‚eigen‘ oder als ‚fremd‘ Empfundene im Bereich der Sprache in Teilen nur mutmaßen, da auch die Quellen, die Weinsberg rezipierte – die Inventarliste seiner Bibliothek ist leider nicht überliefert –, nicht alle hinreichend bekannt sind. In diesem Beitrag soll ein Vorstoß unternommen werden, 10

Vgl. Hoffmann, Rheinische Sprachverhältnisse, S. 138; eine Zusammenstellung konkreter Merkmale findet sich bei Eva Büthe-Scheider, Die e-Apokope im Ripuarischen. Eine korpuslinguistische Untersuchung spätmittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Quellen, Berlin/Boston 2017, S. 24–26. 11 Zum Rechnungsbuch von Weinsbergs Schwägerin Elisabeth Horns vgl. Klaus J. Mattheier, Das Rechnungsbuch der Elisabeth Horns. Sprach- und kulturgeschichtliche Bemerkungen zu einem Kölner Gebrauchstext des späten 16. Jahrhunderts, in: Rheinisch-Westfälisches Jahrbuch für Volkskunde 26/27 (1981/82), S. 31–55. 12 „Die wachsende Toleranz gegenüber Standardabweichungen ermöglichte eine weiträumige Rekrutierung des Kanzleipersonals. Der Kölner Sekretär Antonius Heresbach (Hirtzbach) (1544–67) stammte aus Boppard, sein Kollege Laurenz Weber vom Hagen (1547–94) aus Sachsen“; Manfred Groten, Erfindung und Tradierung einer städtischen Schriftsprache im spätmittelalterlichen Köln. Rahmen­ bedingungen und Akteure, in: Anna Karin/Silvia Ulivi/Claudia Wich-Reif (Hg.), Regiolekt, Funktiolekt, Idiolekt. Die Stadt und ihre Sprachen, Göttingen 2015, S. 7–24, hier S. 21. 13 Groten, Erfindung, S. 21; Autographen sind von Bellinghausen erhalten, vgl. Norbert Nagel, Die Korrespondenz des Kanzlers der Stadt Köln, Dr. Peter Bellinghusen, mit Franz von Waldeck, Bischof von Münster, zu Anfang des Täuferreiches im März/April 1534, in: Niederdeutsches Wort 42 (2002), S. 1–42, hier S. 3, Anm. 14; zu seiner Schreibsprache in ausgewählten Textzeugen vgl. ebd., S. 23–31. 14 Möller, Beobachtungen, S. 260.

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diese Lücke für einen sehr kleinen, dafür aber klar eingrenzbaren Teilbereich der Schriftlichkeit innerhalb der Stadt zu schließen, um sprachliche Abgrenzungs- und Anlehnungsprozesse zu analysieren, die mit Weinsbergs eigenen Aussagen über die Schriftlichkeit in der Stadt kontrastiert werden. Der Grad der Abgrenzung bzw. Anlehnung lässt sich dabei durch einen Vergleich mit Textzeugnissen anderer Schreiber bestimmen, die Weinsberg rezipiert hat, und auch durch einen Vergleich mit der älteren Kölner Schreibtradition, die im Bereich des Verwaltungsschrifttums, um das es im Folgenden gehen wird, gut dokumentiert ist. Den Nachweis der Rezeption der untersuchten Textzeugnisse hat Weinsberg uns glücklicherweise in Form von Korrektureinträgen und Ergänzungen am Rand der betreffenden Handschriften selbst erbracht. Seine sprachliche Positionierung innerhalb der Stadt wird durch diesen Sprachvergleich – auch ex negativo – sichtbar. Es soll gezeigt werden, wie Identität über Sprache konstruiert wird – und zwar in mikrostruktureller Perspektive, das heißt über einzelne Schreibungen und die Schrift selbst. Im Folgenden werden dazu in Kapitel 2.1 zunächst die relevanten Entwicklungslinien und die Fragestellung nachgezeichnet, anschließend wird in Kapitel  2.2 das Quellenmaterial vorgestellt. Die Auswertung des Materials erfolgt in Kapitel 3. 2. Ausgangslage, theoretische Implikaturen und Quellenmaterial 2.1 Forschungsüberblick Im 16.  Jahrhundert begann man in Köln – wie bereits in der Einleitung erwähnt – eine überregionale Schreibsprache auch innerstädtisch zu verwenden, die in sich nicht einheitlich, teils auch noch von ripuarischen Anteilen durchdrungen war und die nicht in alle Teilbereiche der Schriftlichkeit gleichmäßig Einzug erhielt.15 Die Ablösung der ripuarischen Schreibsprache war „alles andere als ein geradliniger und zielgerichteter Vorgang“16 und die verschiedenen Mischungsverhältnisse sind längst nicht bekannt. Welche Merkmale nun auch immer gewählt wurden, es handelte sich in der Regel um solche, die tendenziell aus südlicheren, hochdeutschen Sprachräumen stammten. Die Übernahme solcher südlichen Formen ging mit einer Höher­

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Die erste Untersuchung und bislang einzige Monographie zu diesem Thema in Köln stammt von Willy Scheel, Jaspar von Gennep und die Entwicklung der neuhochdeutschen Schriftsprache in Köln, Trier 1893. Zur Rolle des Buchdrucks vgl. auch Walter Hoffmann, Zur Frage nach der sprachlichen ‚Progressivität‘ des Buchdrucks im frühen 16. Jh. Untersuchungen zum Fall Köln, in: Klaus J. Mattheier/Haruo Nitta (Hg.), Sprachwandel und Gesellschaftswandel – Wurzeln des heutigen Deutsch, München 2004, S. 131–160; ein Überblick findet sich in Hoffmann/Mattheier, Köln, S. 2328–2333. 16 Hartmut Beckers, Die Zurückdrängung des Ripuarischen, Niederdeutschen und Niederländischen durch das Hochdeutsche im Kölner Buchdruck nach 1500, in: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 112 (1989), S.  43–72, hier S.  72; vgl. insbes. Klaus J. Mattheier, Wege und Umwege zur nhd. Schriftsprache, in: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 9 (1981), S. 274–307.

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bewertung des südlicheren Hochdeutschen einher, die sich wahrscheinlich schon im Laufe des 15. Jahrhunderts in Köln angebahnt hat.17 In diesem Zuge kam es zu einer Neubewertung einzelner, ursprünglich nur räumlich verteilter Varianten: „Varianten, die ursprünglich zwei landschaftlich verschiedenen Normmodellen zugehören, werden in dieser Variantenmischungsphase zu Markern bzw. Symbolen für ganz anders motivierte soziolinguistische Zusammenhänge. Dabei steht in Köln im Vordergrund die attitüditionale Verbindung zwischen der Verwendung von Rip[uarischem] oder einzelnen rip[uarischen] Varianten und der Identifikation mit dem Köln der guten alten Zeit, in dem die ‚groisse verenderong‘ noch nicht stattgefunden hatte [...]. Für eine gewisse Zeit ist die rip. Schreibsprache Identifikations­ medium für die Kölsche Identität“.18

Dieser Aspekt ist für die vorliegende Untersuchung zentral und muss bei allen sprachlichen Mischungsverhältnissen, mögen sie noch so verschieden sein, stets mitbedacht werden. Durch die Hinwendung zu einem südlicheren Hochdeutschen gehörten die Kölner einem größeren Verbund an, aber Identität wurde dann doch wieder lokal über Rückgriff auf die vermeintliche oder tatsächliche eigene Tradition hergestellt, die auch durch eine Mischung von lokalen bzw. regionalen mit den neuen südlichen Merkmalen zum Ausdruck kam. Dass im Übrigen die Tradition des Hauses Weinsberg eine erfundene ist, wurde bereits in der Einleitung erwähnt.19 Nicht nur die Formen der Sprache und ihre Schreibungen änderten sich im 16. Jahrhundert. Auch die Schrift selbst war von Änderungen betroffen, denn die bis dahin tradierten kursiven Schriften wurden durch die Kurrentschrift ersetzt. In der viel zitierten Passage mit metasprachlichen Äußerungen zur Sprachveränderung im 16. Jahrhundert wird von Weinsberg auch eigens der Schriftersatz im Zusammenhang mit einem Überblick über die großen Veränderungen seiner Zeit in Köln thematisiert. Im Folgenden wird diese Passage in ihrer Originalschreibung ohne Normalisierung20 wiedergegeben, um Schreibunterschiede, die für die Argumentation in diesem Beitrag relevant sind, beispielhaft sichtbar zu machen:21 17

Vgl. Möller, Rheinische Sprachgeschichte, S. 74. Hoffmann/Mattheier, Köln, S. 2329. 19 Vgl. hierzu auch den Beitrag in diesem Band von Peter Glasner, geschriben und gemailt. Symbolisierungsformen von Ich- und Wir-Identität bei Hermann (von) Weinsberg (1518–1597), S. 93–125. 20 Die Wiedergabe des Textes erfolgt möglichst diplomatisch: Rubrizierung wird durch Fettung wiedergegeben, Abbreviaturen erscheinen in Rundklammern aufgelöst, Ergänzungen  –  auch von Satzzeichen – erfolgen in eckigen Klammern; aus heutiger Sicht überflüssige Kommata erscheinen in grau; umbrochene Wörter am Ende der Zeile enthalten das Zeichen =, das Weinsberg selbst verwendet. 21 Die Auswahledition unterscheidet nicht zwischen handschriftlich zs und z, z. B. nichtzs (LS, fol.  147v,46) gegenüber nichtz in der Edition (Buch Weinsberg, Bd.  5, S.  150); manchmal fehlt die Unterscheidung zwischen th und t, z. B. erscheint theil (LS, fol. 39r,37) in der Edition als teil (ebd., S. 38, Z. 35); der Unterschied zwischen ſs und ß ist grundsätzlich aufgehoben, z. B. fleis, unfleis und hindernis (ebd., Bd. 1, S. 5, Z. 38) für handschriftlich fleiſs, vnfleiſs vnd hyndernyß (LI, fol. 3r,4–5); der Unterschied zwischen gh und g fehlt manchmal, etwa bei ſagh (LS, fol. 39r,25) gegenüber sag (ebd., Bd. 2, S. 38, Z. 25), um nur einige Beispiele zu nennen. Im oben angeführten Zitat wäre noch auf zwei sprachlich (schriftlich und lautlich) relevante Fehler in der Edition (ebd., Bd. 3, S. 232f.) hinzuweisen: handschriftlich verbeighan erscheint als vorbeigan (ebd., S. 232, Z. 30) und veranderung als verende-

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Die groiſſe verenderong jn der ſchrifft kan ich nyt verbeighan, wie schriber geſellen jn Cantzeleien[,] vor gerichten die rechenſzmeister ſo ſeltzame litern, boichſtaben mit groiſſen langen ſtrichen wormen machen[,] die vor hyn nyt breuͦchlich waren,[.] Jch beſorg[,] wa die veranderung der boichſtaben nyt geſtewrt vnd ge=beſſert wirt werden[,] ſol man die alte ſchrifft bei der neuͦwer vnd die newe bei der alten nyt ken=nen vnd ist ein groiß mißbrauͦch, Jha[,] die wortt[,] ſo man ſpricht[,] lauthen nyt wie vormaillß, jtz jst jn Coln eyn andere pronuͦnciation vnd ma=neir zuͦ reden dan vor seſzzich jaren, die littern werden versatzſt[,] das e jn a verwandelt, ober=lendiſche oder nederlendeſche wort jn ſtat der alter Colniſcher ſprachen[,] latiniſche wort jn ſtat der deuͦtzen gebrauͦcht, Scheir alle jar komen newe wort vff[,] die vor hyn nit erkant waren,[.]22

Die Unterschiede in der Ausführung einzelner Buchstaben sind in der Tat so erheblich, dass Weinsbergs Sorge nicht unberechtigt erscheint. Er selbst hielt bis an sein Lebensende an seiner traditionellen Schrift fest. Besonders eindrücklich tritt diese Abgrenzung innerhalb der Stadt in den Textzeugnissen zutage, in denen Weinsberg im Wechsel mit einer anderen Hand Kopien sogenannter Quittancien und anderer Dokumente in verschiedene Geschäftsbücher der Gemeinde Sankt Jakob eintrug, um die es im Folgenden noch gehen wird. Weinsberg geht nicht zur Kurrentschrift über, zeigt sich aber auch im Bereich der Schrift offen für Neuerungen, die in der Stadt aufkommen. Hier kann etwa als Beispiel die Verwendung verschiedener s-Schreibungen genannt werden, die Weinsberg in ganz regulärer und regelmäßiger Verwendung in städtischen Schriftzeugnissen vorfand, und hier und da im Boich Weinsberg und in den Gedenkbüchern adaptierte, wie es scheint, besonders in Überschriften, die ganz bildlich eine herausgehobene Position innerhalb des Textes haben.23 Diese und weitere Kennzeichen passen zu Weinsbergs vielzitiertem Wahlspruch Medium tenuere beati (Die Glücksseligen haben (immer) die Mitte gehalten),24 insofern als er Neues in Maßen adaptiert, aber auch Altes daneben bewahrt (vgl. Abb. 1).

rong (ebd.). Diese Beispiele zeigen, dass eine Untersuchung wie die vorliegende nicht auf Basis der Auswahledition durchgeführt werden kann. 22 LS, fol. 446v; vgl. Buch Weinsberg, Bd. 3, S. 232f. 23 Vgl. hierzu Kap. 3.1.1. 24 Die Übersetzung folgt Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, begr. v. Samuel Singer, hg. v. Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, Bd. 8: Linke–Niere, Berlin/New York 1999, S. 133.

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Abb. 1: Wappenzeichnung mit Wahlspruch Quelle: BW, fol. 188r.

Auch ein Bild der Hausstiftung (BW, fol. 335r), die Peter Glasner in diesem Band im Spannungsfeld zwischen individueller, personaler und kollektiver Identitätskon­ struktion beleuchtet, lässt Spuren sprachlicher Identitätskonstruktion erkennen, wie ich am Ende dieses Beitrags zeigen werde. Die Auffassung von Identität und ihren einzelnen, oft auch miteinander verschränkten Spielarten, folgt der von Glasner gegebenen Definition.

2.2 Quellenmaterial und Methode Neben den Merkmalen sind auch längst nicht alle Quellen untersucht worden, besonders die städtischen Verwaltungsquellen nicht. Das ist ursächlich sicher zum einen in der großen Anzahl der Quellen und zum anderen in der Editionslage begründet, da beispielsweise die Schreinsbücher für die spätere Zeit, in der sie regelmäßig in deutscher Sprache geschrieben wurden, nicht ediert sind.25

25

Nur für das 13. und 14. Jahrhundert liegt eine Edition vor: Die Kölner Schreinsbücher des 13. und 14. Jahrhunderts, hg. v. Hans Planitz/Thea Buyken, Weimar 1937. Bis zum Ende des 14. Jahrhunderts sind die Eintragungen noch auf Latein, ab dem 15.  Jahrhundert geht die Schreibsprache zur lokalen Sprache über. Daher sind gerade die späteren Schreinsbücher aus sprachwissenschaftlich-germanistischer Sicht von besonderem Interesse.

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Um Weinsbergs Sprache innerhalb der städtischen Schriftkultur seiner Zeit bewerten und untersuchen zu können, wäre es hilfreich, genau zu wissen, welche Bücher er im Laufe seines Lebens gelesen hat. Über Vieles hat Weinsberg uns berichtet, ein Inventar seiner Bibliothek hat er jedoch nicht angefertigt, wie bereits einleitend erwähnt wurde. Hinweise dazu, welche Schreinsbücher er gelesen hat, gibt er in den Gedenkbüchern an verschiedenen Stellen. Durch sein familienkundliches Interesse angeregt, hat er diese sowie die Schreinsurkunden eingesehen und exzerpiert.26 Er berichtet in seinem Liber Senectvtis, was er vorgibt, dort zum Haus Weinsberg und seinen Vorfahren gefunden zu haben. Einige Einträge sind in den betreffenden Büchern existent und noch heute aufzufinden; dass einige nicht auffindbar sind, kann mannigfache Gründe haben, die hier nicht erörtert werden. Die auffindbaren Einträge dokumentieren jedenfalls, dass er die Bücher tatsächlich eingesehen hat. Neben verschiedenen Schreinsbüchern des Schöffenschreins und des Schreins Arsbach, die ich eingesehen und in meine Überlegungen einbezogen habe,27 gibt es eine Reihe von Geschäftsbüchern im erzbischöflichen Archiv in Köln, die er nachweislich rezipiert hat. Auf diese weiteren schriftlichen Zeugnisse Weinsbergs im Bestand des Historischen Archivs des Erzbistums Köln hat erstmals Joachim Oepen hingewiesen.28 Neben einem „Memorialbuch“, das zu Weinsbergs Oeuvre zählt,29 existieren die folgenden Verwaltungs- oder Geschäftsbücher, die Weinsberg teilweise selbst angelegt hat:30 – Erstes Kopienbuch, 1548–156731 – Zweites Kopienbuch, 1568–158832 – Auszüge aus dem Ersten Kopienbuch, 156333 – Quittungsbuch der Provisoren der 24 Hausarmen von St. Jakob, 1578–163634 – Rechnungsbuch der Kirche St. Jakob, 1592–164835 Durch ganz regelmäßige Randeintragungen und Zusätze hat Weinsberg uns in diesen Büchern den Nachweis seiner Rezeption erbracht. Abbildung 2 zeigt am Beispiel zweier Ausschnitte aus dem Zweiten Kopienbuch seine Hand neben und unter 26

Vgl. LS, fol. 219r–230v. Im Einzelnen handelt es sich um Stichproben aus den zeitlich aufeinanderfolgenden Schreinsbüchern Sententiarum mit Gerichtsurteilen der Schöffen: HAStK, Best. 101, Nr.  480 (1363–1407), Nr.  481 (1407–1467), Nr. 482 (1467–1504), Nr. 483 (1504–1569) und Nr. 484 (1569–1634). 28 Vgl. Joachim Oepen, Die Aufzeichnungen von Hermann Weinsberg im Memorialbuch der Pfarrkirche St. Jakob in Köln als historische Quelle, in: Groten (Hg.), Weinsberg, S. 59–77, hier S. 65f. 29 Historisches Archiv des Erzbistums Köln [AEK], Pfarrarchiv [PfA] St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 8. 30 Vgl. z. B. die Eintragungen im linken Innendeckel von Weinsbergs Hand im Ersten Kopienbuch, die über den Anlagezeitpunkt und die Ämter der Gemeinde zu diesem Zeitpunkt Auskunft geben; AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 5. 31 AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 5. 32 Ebd., B II 10. 33 Ebd., B II 9. 34 Ebd., B II 11. 35 Ebd., B II 12. 27

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dem eigentlichen Text. Dieses Beispiel illustriert auch den Kontrast in der Schrift zwischen dem modernen Schreiber des Haupttextes und Weinsbergs traditioneller Schrift, die zuvor erwähnt wurde.36

Abb. 2: Ergänzungen Weinsbergs im Zweiten Kopienbuch Quelle: AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 10, fol. 120r.

Von den genannten Büchern wurden das Erste und das Zweite Kopienbuch sowie das Quittungsbuch der Provisoren für diesen Beitrag untersucht. Alle Bücher wurden in größerem Umfang von anderen Personen geschrieben, die aber nur teilweise namentlich bekannt sind.

36

Ich danke Matthias Senk vom Historischen Archiv des Erzbistums Köln für die freundliche Reproduktionsgenehmigung.

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3. Ergebnisse 3.1 Adaption des Fremden/Anderen Viele der charakteristischen Merkmale, die in den oben genannten, nicht von Weinsberg selbst verfassten Textzeugnissen begegnen, lassen sich erstaunlicherweise im Laufe seiner langen Schreibtätigkeit irgendwann einmal in seinen eigenhändigen Schriftzeugnissen (das heißt in den Gedenkbüchern und im Boich Weinsberg) finden. Die Merkmale können rein graphischer und manchmal auch lautlicher Art sein, teils auch nur einzelne Lexeme betreffen (sogenannte lexemspezifische Schreibungen). Die folgende Betrachtung zeigt einige solcher Beispiele (Kap. 3.1.1–3.1.3). Auf ein Kennzeichen, das für die hier verfolgte übergeordnete Fragestellung bedeutsam ist, werde ich vertiefend eingehen (Kap. 3.2), lässt sich an ihm doch eine generelle Veränderung in der Stadt sowie bei Weinsberg beobachten.

3.1.1 s-Schreibungen In diesem Zusammenhang ist die graphische Realisation für den heutigen Buchstaben ß von Interesse, für den es zwei Realisationsformen gab. Sie ergaben sich aus der Ligatur von Schaft-ſ mit nachfolgendem runden s oder z. Die von Weinsberg generell verwendete Buchstabenform gleicht der heutigen Realisierung von ß, die sich wohl aus Schaft-ſ mit folgendem geschwänzten z entwickelte. Weinsberg schreibt in der Regel einen Buchstaben, der nicht mehr als Ligatur interpretiert werden kann. In den ausgewerteten Geschäftsbüchern findet sich normalerweise die Variante, die sich aus Schaft-ſ mit rundem s ergeben hat, in verschiedenen Abstufungen, einmal mehr und einmal weniger als Ligatur deutbar. Abbildung 3 zeigt ein Beispiel für die bereits zu einem Buchstaben verbundene Variante und ein Beispiel für die getrennte Ausführung. In Überschriften mit gebrochenem Schrifttyp, die keine Verbindung von Buchstaben vorsieht, sind die Buchstaben stets einzeln ausgeführt (Abb. 4).

Abb. 3: Verbundene und lose ſs-Schreibung im Zweiten Kopienbuch Quelle: AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob B II 10, fol. 2r u. 3r.

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Abb. 4: ſs-Ausführung in einer Überschrift im Zweiten Kopienbuch Quelle: AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob B II 10, fol. 21r.

Die am Beispiel des Zweiten Kopienbuchs vorgeführte Ausführung findet sich gelegentlich auch bei Weinsberg, nach den ersten Stichproben, wie es scheint, vornehmlich in herausgehobenen Positionen wie Überschriften. Abbildung 5 zeigt ein Beispiel für die verschiedenen Ausführungen der s-Schreibung: Das erste Wort ist mit einer Ligatur aus ſ und s ausgeführt, die folgenden Beispiele zeigen die Schreibung als ein Buchstabe ß, der sich historisch aus ſ und z ergeben hat, was anhand der Schreibung von Weinsberg aber nicht mehr erkennbar ist.

Abb. 5: Überschrift aus dem Boich Weinsberg Quelle: BW, fol. 2v.

Die verschiedenen s-Schreibungen sind somit ein Beispiel für eine gelegentliche Adaption eines Kennzeichens, welches Weinsbergs eigenem Schreibgebrauch nicht eigen ist.

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3.1.2 Frühneuhochdeutsche Diphthongierung Schreibungen, die die frühneuhochdeutsche Diphthongierung von mhd. î-iu-û anzeigen, sind an sich nichts Besonderes. Weinsberg verwendet in unterschiedlichem Maße auch Diphthongschreibungen bei Wörtern, denen im Dialekt regulär kein Diphthong zukam.37 In den ausgewerteten Geschäftsbüchern, vornehmlich im Quittungsbuch der Provisoren, finden sich Diphthongschreibungen für den Wortbestandteil mhd. quît, einerseits in dem häufig vorkommenden Wort Quitanz,38 das jeder Eintrag als Titel führt, sowie in quit ‚frei, los‘, zum Beispiel Queitantzei (AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 11, fol. 1r), Queitants (fol. 4r), Qweitants (fol. 7r) u. ä. und quit entsprechend als qweidt (z. B. fol. 2r, 4r, 9r u. ö.), qweÿdt (fol. 3r) u. ä. Die genannten Belege sind Quitanzien-Einträgen entnommen, die nicht von Weinsbergs Hand stammen und sich wohl schon im betreffenden Buch befunden haben, bevor Weinsberg dort auch Eintragungen vornahm. Sie sind mit Sorgfalt in immer gleicher Ausführung in Kurrentschrift mit hervorgehobener verzierter, (meist) rubrizierter Überschrift ausgeführt. Sie befinden sich nur auf den Recto-Seiten des Buches im Abschnitt fol. 1r–35r, den ich hier betrachte, und füllen in der Regel nicht das ganze Blatt aus. Der erste Eintrag auf fol. 1r datiert auf den 12. Januar 1579. Es folgen chronologisch fortlaufende Einträge aus dem gleichen Jahr bis fol. 31r und ab fol. 32r–35r aus dem Jahr 1581. Weitere Abschriften von Quitanzien sind in den Freiräumen auf der Rückseite und den leeren Zwischenräumen der Vorderseiten wohl erst später hinzugesetzt worden. Sie stammen zu einem großen Teil von Weinsbergs Hand und datieren später als die in Kurrentschrift ausgeführten Einträge, beginnend mit einem von 1583 (fol. 1r), und sind nicht chronologisch fortlaufend: auf Einträge von 1589 auf fol. 2r folgt einer von 1598 auf fol. 2v, darauf folgen wiederum solche von 1586 auf fol. 6r usw., sodass sich die Deutung förmlich aufzwingt, dass sie nachträglich hinzugesetzt wurden. Die Aussteller der meisten Quitanzien sind jeweils die Kirchmeister von St. Jakob, namentlich Gerhard Lützenkirchen (gest. 1588), Martin Kruft (genannt Krudener) und Hermann Weinsberg. Wer die Abschriften in Kurrentschrift mit den diphthongierten Formen eingetragen hat, ist derzeit nicht bekannt. Man wird mit Bezug auf Weinsbergs Einträge sagen können, dass er auf jeden Fall die Einträge mit den auffälligen Diphthongformen gesehen hat, als er selbst Eintragungen vornahm, da sie sich jeweils im Titel hervorgehoben finden. Bei den Abschriften, die Weinsberg angefertigt hat, sind keine regelhaften Diphthongschreibungen bei Wörtern mit dem Bestandteil mhd. quît vorhanden. Beispielhaft können hier die Belege 37

Im Ripuarischen wurden die Fortsetzer von mhd. î-iu-û nur in Hiatposition und im Auslaut diphthon­ giert; vgl. Wilhelm Müller, Untersuchungen zum Vokalismus der stadt- und landkölnischen Mundart, Bonn 1912, S.  60. Zur Schreibgewohnheit hinsichtlich der neuen Diphthonge vgl. Marie-Luise Balan, Zur neuhochdeutschen Diphthongierung im Kölner Buch Weinsberg, in: RhVjbll 33 (1969), S. 337–387. 38 Dieses wurde im späteren Sprachgebrauch von Quittung abgelöst und erscheint in der früheren Zeit unterschiedlich aus mlat. quitantia integriert, teils mit Langvokal in der Stammsilbe und der Endung -îe, der diphthongiert erscheinen kann; vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, bearb. v. Matthias von Lexer, Bd. VII, Leipzig 1889, Sp. 2380f., s. v. Quittanz.

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quiterens (fol. 1v), quidt (fol. 1v), Quͦitancz (fol. 1v), Qŭitanczs (fol. 1v) angeführt werden, die mit der sonstigen, häufig anzutreffenden Schreibgewohnheit Weinsbergs in seinen Gedenkbüchern übereinstimmt. Abgesehen von seltenen Ausnahmen (queidt, fol. 2v, 1589, und queidth, fol. 27r, 1594) verwendet er Monoph­thongschreibungen. Ähnlich verhält sich dazu der Befund in seinen Gedenkbüchern. Dort ist das Wort quit gut bezeugt und wird nicht nur mit Bezug auf rechtliche Kontexte verwendet, wie etwa der folgende Satz mit einer für Weinsberg typischen Schreibung für mhd. quît zeigt. Er steht im Zusammenhang mit einem Streit, in dessen Folge ein Hufschmiedsknecht seine Nase verlor: wart der ſyner naſen quidt (LI, fol. 36v,5, vgl. Buch Weinsberg, Bd. 1, S. 61). Im Liber Iuventvtis und zunächst auch im Liber Senectvtis verwendet er niemals ei, im Zeitraum 1585 bis 1596 tritt diese Schreibung aber vereinzelt in Erscheinung: zweimal queidt im Liber Senectvtis (fol. 539v, 07.12.1585, und fol. 567v, 22.03.1586) sowie im Liber Decrepitvdinis zweimal queidt (fol. 185r, 16.07.1590, und fol. 522v, 16.03.1596) und einmal queidtt (fol. 280r, 20.08.1592). Die queidt-Belege betragen insgesamt nicht einmal 10 Prozent, sie sind aber zu häufig, um als Versehen gedeutet werden zu können. Es ist nicht auszuschließen, dass sich die von Weinsberg stammenden queidt(h)-Belege im Quittungsbuch der Provisoren dadurch erklären, dass er in seinen Anpassungsbestrebungen zunehmend nachlässiger wurde. Wie viel Bewusstheit Weinsberg dabei unterstellt werden kann oder sollte, lässt sich nicht zweifelsfrei eruieren. Dass solche diphthongierten Belege nicht nur in den Abschriften des Quittungsbuches, sondern auch etwa zeitgleich in seinen Gedenkbüchern auftreten, lässt auf eine zumindest partielle Adaption oder Aneignung des Fremden schließen. Weinsberg hat dieses Merkmal gewiss häufig im Quittungsbuch ab 1579 und vielleicht auch noch an anderer Stelle gesehen, und nicht viel später (ab 1585) findet es sich dann auch bei ihm. Als weiteres Beispiel dieser Art wäre auf diphthongierte Formen von mhd. sîn ‚sein‘ (Verb) in der 3. Pers. Pl. Präs. als seint ‚sind‘ hinzuweisen. Sie finden sich in den betrachteten Geschäftsbüchern vereinzelt, zum Beispiel im Zweiten Kopienbuch (AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 10, fol. 107v) und im Quittungsbuch (ebd., B II 11, fol. 12r). Diese Form gab es vor dem 16. Jahrhundert in Köln nicht.39 Bei Weinsberg selbst sind solche Formen nicht die Regel, kommen aber gelegentlich vor. In den im Rahmen des Bonner Weinsberg-Projekts erfassten Textteilen lassen sich folgende Belege finden:40 für ſeint im Liber Iuventvtis (fol. 470r,11) und im Liber Senectvtis (fol. 136r,44 und 333v,12) und für ſeindt im Liber Decrepitvdinis (fol. 170r,73, 170r,78, 475r,69 und 591v,44). Anders als bei den Belegen für mhd. quît ist in diesem Fall nicht zwingend mit einer Beeinflussung durch die Geschäftsbücher zu rechnen, auch wenn Weinsberg zum Beispiel die oben genannte Kopie, die auf fol. 107v beginnt, auf den nachfolgenden Seiten fol. 108v und 109r mit Kommentaren am Rand versehen hat und sich seine Rezeption entsprechender Passagen durchaus 39

Diese Einschätzung beruht auf einer Korpusanalyse meines ripuarischen Korpus (Büthe-Scheider, e-Apokope, S. 23–97) sowie der Quellensammlung Akten zur Geschichte und Verfassung der Stadt Köln im 14. und 15. Jahrhundert, hg. v. Walther Stein, 2 Bde., Bonn 1893–1895, ND Düsseldorf 1993. 40 Vgl. Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, hg. v. der Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003–2009, http://www.weinsberg.uni-bonn.de/ [Stand: 03.01.2021].

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nachweisen lässt. Da das Kennzeichen sich in den Geschäftsbüchern nicht so oft findet – teils bedingt dadurch, dass diese Verbalform nur selten vorkommt –, ist ihre Vorbildwirkung zweifelhaft. Das übereinstimmende Auftreten in allen analysierten Schriften zeigt meines Erachtens nur ein Ausprobieren neuer Varianten aller hier betrachteten Seiten. Dies zeigt nicht zuletzt auch das Vorkommen von Hyperkorrekturen, auf die hier am Rande hingewiesen sei. Sie finden sich sowohl bei Weinsberg als auch bei den anderen städtischen Schreibern in gleichem Maße und zeugen von dem Bemühen aller, sich in größere Schreibzusammenhänge einordnen zu wollen. Beim Transfer der örtlichen Lautung und Schreibung in die entsprechende hochdeutsche, das heißt südlichere Lautung, sind nicht selten Fehler unterlaufen, weil Lauten verschiedener Herkunft, die im örtlichen Dialekt zusammengefallen sind, im Hochdeutschen nicht immer der gleiche Laut entspricht.41

3.1.3 Zusatz von h nach Konsonanten Der Zusatz von h nach bestimmten Konsonanten42 ist ein schreibsprachliches Novum im 16. Jahrhundert, obgleich er sich nach einigen wenigen Konsonanten auch schon früher findet. Als Beispiel für eine solche neue h-Schreibung wird der Zusatz von h nach k und n betrachtet.43 Die Schreiber der Geschäftsbücher machen von diesem Kennzeichen in unterschiedlichem Maße Gebrauch, aus dem Zweiten Kopien­ buch wären als auffällig und wiederkehrend etwa khomment ‚kommen‘ (3. Pers. Pl. Präs.) und nhame ‚Name‘ (AEK, PfA St.  Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B  II  10, fol. 107v u. ö.) zu nennen, ferner bekhennendt(e) (1. Pers. Pl. Präs./Part. Präs.) im Quittungsbuch der Provisoren (ebd., B II 11, fol. 9r, 10r, 12r, 32r, 33r u. ö.). In Weinsbergs Einträgen in diesem Quittungsbuch steht hingegen bei allen geprüften Einträgen bis fol. 32r stets bekennen(de) ohne kh (z. B. ebd., fol. 9r, 9v, 10v, 11r, 11v u. ö.). Je41

In vielen Fällen entspricht z. B. der Laut /v,f/ im Hochdeutschen /b/, sodass der Transfer hin zu diesem hd. /b/ durchgeführt wird, auch wenn es das betreffende Wort im Hd. nicht gibt, z. B. das Wort nl. leveren/nd. leferen ‚liefern‘, welches ins Hd. übernommen wird und sich schließlich mit nördlicher Lautung im Hd. durchgesetzt hat: die der [...] here Pilgerom dair vuͦr gelebert; Erstes Kopienbuch, AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 5, fol. 54v. Daneben sind auch falsche lautliche Verhochdeutschungen von Wörtern zu verzeichnen, die es im Hd. durchaus gibt, z. B. in der Vorrede Zum Leser im Zweiten Kopienbuch pfall ‚Fall‘ mit pf statt f oder v (ebd., B II 10, fol. 2r) oder an späterer Stelle darauͦp ‚darauf‘ (ebd., fol. 107v). Ein Fehler gleicher Qualität wäre von Weinsbergs Hand die fehlerhafte Umsetzung von /d/ zu dem vermeintlich hd. /t/, obwohl ihm im Hd. auch ein /d/ entspricht. Das ist immer der Fall, wenn sich das rip. /d/ < germ. *ϸ entwickelt hat, so beim Wort Dach, das er fälschlich zu Tag korrigiert: van jrer wo=nong eynß haûß van veir haûssern vnder eynem tage gelegen; Quittungsbuch der Provisoren, ebd., B II 11, fol. 6v. 42 Zum Phänomen vgl. Virgil Moser, Frühneuhochdeutsche Grammatik, 1. Band: Lautlehre, 1. Hälfte: Orthographie, Betonung, Stammsilbenvokale, Heidelberg 1929, § 29, Anm. 4. 43 Die Schreibung kh stammt ursprünglich aus dem Ostoberdeutschen, kam im 16. Jahrhundert aber auch in anderen Gebieten (vgl. Frühneuhochdeutsche Grammatik, hg. v. Oskar Reichmann/Klaus-Peter Wegera, Tübingen 1993, § 49, S. 102; Moser, Grammatik, § 39, S. 65) vor und kann durch diese nach Köln vermittelt worden sein. Zur Frage der Herkunft dieses Einflusses wären daher weitere Untersuchungen notwendig.

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doch finden sich beide Merkmale mit nur geringem Zeitverzug zu den Eintragungen in den Geschäftsbüchern auch in seinen Gedenkbüchern ab 1579 hin und wieder. In den im Rahmen des Bonner Weinsberg-Projekts erfassten Textteilen44 sind im Liber Senectvtis zwei Belege zu finden (Erstbeleg anfanckh, LS, fol. 134r,56, 15.07.79, gefolgt von Erb­nhamen fol. 652r,26, 13.06.1587) und im Liber Decrepitvdinis sechs Belege (kranckh, LD, fol. 142r,12, wirckh fol. 169r,60, wirckhu(n)ck fol. 169r,60, lanckh fol. 522r,25, kheyne fol. 293v und Nhamen 229r,38). Das Belegmaterial zeigt, dass Weinsberg auch diese neuen Kennzeichen nicht geregelt, aber dennoch hier und da übernimmt. Im Hinblick auf eine th-Schreibung, die an sich im 16. Jahrhundert nicht gänzlich neu ist, in der ripuarisch-hochdeutschen Mischschreibung thoin ‚tun‘ aber auffällig und als spezifische Weinsbergische Mischung erwogen wurde,45 ergab die Betrachtung der Geschäftsbücher ein interessantes Ergebnis: thoin findet sich auch bei anderen Schreibern, so zum Beispiel im Ersten Kopienbuch (vgl. Abb. 6). Auch hierin unterscheiden sich Weinsberg und die anderen Schreiber also nicht.

Abb. 6: „thoin“ bei anderen Schreibern im Ersten Kopienbuch Quelle: AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 5, fol. 7r.

Neue Merkmale, von denen hier nur eine Auswahl besprochen wurde, die mit größerer Konsequenz bei den anderen Schreibern zu finden sind und bei Weinsberg zunächst nicht, lassen sich alle und ohne Ausnahme in seinen späten Schriften nachweisen. Sie begegnen zwar selten, aber doch in so großer Zahl, dass sie keinesfalls als Verschreibung oder Versehen gewertet werden können. Es ist bei den betrachteten Kennzeichen gewiss, dass er sie im Laufe seines Lebens häufiger gesehen hat. Das vergleichsweise marginale Auftreten in seinen Schriften erweckt eher den Eindruck einer minder bewussten Reproduktion als einer bewussten Varietätenwahl, zeugt aber dennoch von einem Einfluss der Umwelt auf seine Sprache. Um eine bewusste Varietätenwahl, die im Zusammenhang mit Identitätskon­ struktion eine Relevanz besitzt, handelt es sich hingegen bei dem im Folgenden zu behandelnden Zusatz von h nach g. 44

Zur Begründung, weshalb nur diese Textteile verwendet werden, vgl. Kap. 2.1 und 3.2. Vgl. Möller, Beobachtungen, S. 260f.

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3.2 Identitätskonstruktion: Der Name Weinsbergh Der Zusatz von h nach g ist keine Erfindung der Frühen Neuzeit, sondern verdankt sich einer alten Tradition, auf die noch zurückzukommen sein wird. An den Anfang der Analyse seien Weinsbergs eigene Betrachtungen zum Namen Weinsberg gestellt. Durch sein genealogisches Interesse fand seine Hinwendung zum Alten statt, zu dem auch sprachgeschichtliche Überlegungen zählen. Sie zeigen ein beachtliches Reflexionsniveau und auch eine Auseinandersetzung mit seiner Zeit:46 Im Boich Weinsberg gibt er uns Auskunft, wie der Name Weinsberg richtig zu schreiben sei, damit sein Sinn nicht verfälscht werde (vgl. BW, fol. 8vff.). Der Autor betont, dass es sich um das Kompositum Wein und Berg handelt, das den Ort der Geburt des ersten Stammvaters des Hauses, Aramondt, in Bayern bezeichnet.47 Laut für Laut erläutert Weinsberg, welcher Buchstabe oder welche Buchstabenkombinationen aus etymologischer Perspektive zulässig oder eben unzulässig seien (vgl. insbes. fol. 9r). Die Anleitung zur Namensschreibung soll den Zweck erfüllen, dass der Name synchron nicht anders gedeutet werden kann als eben als Kompositum aus Wein und Berg: dan, wan vff die boich=ſtaben kein achtüng gehat worde, mocht man meine(n), der zünam, het ſynen vrſpru(n)ck vam wint, winde, findt, borch, burch, vnd derglichen, so er doch allein van eym berch deß weinß herkompt, den man drinckt vnd an den reben (vff dem berch geſtanden) gewaſſen iſt, dan vff ſulchem berch iſt aramondt geborn,[.]48

Zum ebenfalls Unerwünschten werden Übersetzungen des Namens in verschiedene Sprachen gezählt: Glichfalſs redt man jm latin, ‘paterfamilias jn Weinßberch, ara=mondus .de. weinſberch.[,] simon à Weinsberch.[,] Chriſ=tianüs Weinſberchius’, ader, per .g. ‘Weinſbergius’,[.] alſo ſtellt man aüch den adiectiüüm ‘Weinſberchianüs[,] [-]a, [-]üm’, per .g. aut .ch. ad libitu(m),[.] vnd es iſt verbot=tenn den zünamen, vff latin zü tranſfererenn ader zu verandern, als ‘Vinimons, Vinimontan(us)’, ader vff Greickiſch, alls, ‘ὀινώριος’ .ader. ‘oenoriüs’[,] ob es ſchoin bei den gelerthen weir, ader jn fremb=der nation […][.]49 46

Als Beispiel sei auf den Beitrag von Hoffmann, Weinsberg als Namenforscher, verwiesen, der auch eine Analyse der Passage aus dem BW enthält (S. 278–280), um die es im Folgenden gehen wird. 47 Wir erinnern an dieser Stelle daran, dass es sich eigentlich um einen Häusernamen handelt, der in den Kölner Quellen des 16. Jahrhunderts, wie in der Einleitung erwähnt, überwiegend Wintzberg, Wijnsberg, Wynsberch geschrieben wurde und für den auch andere etymologische Erklärungen denkbar wären. Handelt es sich um einen Herkunftsnamen, wäre es naheliegender, etwa einen Bezug zum näher gelegenen Ort Winzberg herzustellen. Ältere Schreibungen dieses Namens deuten auf den germanischen Personennamen Winid < germ. *winiϸa als ersten Bestandteil des Kompositums; vgl. die Namenszusammenstellung im Artikel Zur Geschichte von Winzberg, https://www.regionalgeschichte. net/mittelrhein/winzberg.html [Stand 18.07.2019]. Diese Deutung wäre neben anderen gleichermaßen für Weinsberg denkbar. Es handelt sich also keinesfalls um die einzige mögliche Herleitung, sondern lediglich um die von Weinsberg einzig gewünschte Erklärung. 48 BW, fol. 8v,32–35. 49 BW, fol. 9v,23–32.

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Solche Übersetzungen erwähnt Weinsberg nicht nur, sondern gibt uns auch wohl eigenständig übersetzte Exempel für griechische und lateinische Translationen des Namens, die meines Wissens nirgends tatsächlich verwendet wurden. Auch er selbst verwendet sie nicht, die anderen Familienmitglieder verfügen nicht über die Bildung, um sie verwenden zu können. Wozu teilt er uns derlei also mit? Eine naheliegende Erklärung ist, dass er auf diese Weise seine Bildung demonstriert und zeigt, dass er solche humanistischen Spielereien kennt und zumindest ex negativo adaptiert.50 Ebenso verhält es sich mit dem in der Frühzeit seines Schaffens häufig erscheinenden Telos in griechischen Buchstaben, so auch im Boich Weinsberg am Ende von Abschnitten (Abb. 7).

Abb. 7: „Telos“ im Boich Weinsberg Quelle: BW, fol. 48r u. 150v.

Hierbei handelt es sich um ein humanistisches Erkennungszeichen par excellence.51 Auch in anderen Schriften verwendet er es zunächst, unter anderem auch in seinem ersten Gedenkbuch (z. B. LI, fol. 10r u. 227r), dann aber nicht mehr. Dies sei am Rande erwähnt, da auch diese Adaptionen der gelehrten Spielereien gewissermaßen zum ‚Fremden‘ zählen, das seiner eigenen Geschichte inkorporiert und somit zur Identitätskonstruktion genutzt wird. Sie zeigen Weinsbergs Bemühen einer Verankerung in dem, was ihm gewissermaßen als ‚modern‘ erscheint, und sind deshalb in diesem

Der Satz ob es ſchoin bei den gelerthen weir gibt einen Hinweis auf einen Usus seiner Zeit, auf den er hier referiert: Es handelt sich um einen Hinweis auf den Usus unter Gelehrten, die diese Übersetzungen pflegen, man denke etwa an Melanchthon, der als Philipp Schwartzerdt geboren wurde und seinen Namen ins Altgriechische rückübersetzt hat durch das Kompositum aus dem altgr. μέλᾱς ‚dunkel, schwarz‘ und dem Substantiv χθών ‚Erde, Erdboden‘. Hierbei handelt es sich um eine „typisch humanistische Mode der Namens-Latinisierung bzw. -Gräzisierung“; Joachim Knape, Das Deutsch der Humanisten, in: Besch u. a. (Hg.), Sprachgeschichte, Bd. 2.3, S. 1673–1681, hier S. 1677. 51 Dieter Wuttke, Telos als explicit, in: Fritz Krafft/Dieter Wuttke (Hg.), Das Verhältnis der Humanisten zum Buch, Boppard 1977, S. 47–62, hier S. 51, vermutet, „daß man in der Übernahme [...] im 15. und 16. Jahrhundert den Vorgang bewußter, modischer Gräzisierung erblicken darf, die Setzung einer humanistischen Erkennungsmarke, mit dem man dem jeweiligen Werk den Stempel der Modernität zu geben trachtete“. 50

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Zusammenhang von Bedeutung, auch wenn sie nicht die letztlich beschrittene, allein entscheidende Richtung zeigen. Der Aspekt der Anbindung an neuere Tendenzen spielt neben einer lokalen Verankerung auch sonst eine wichtige Rolle. Kehren wir zu den Namensschreibungen zurück. Nach Weinsberg sind bei manchen Schreibungen für Laute Alternativen zulässig, bei anderen nicht. Beispielsweise darf der Namensbestandteil Wein nicht mit i geschrieben werden: Weinsberg tradiert immerzu die Schreibung mit ei, gebraucht niemals i, wie es bis weit in das 16. Jahrhundert hinein in den städtischen Quellen gebräuchlich war.52 Hier ist folglich eine klare Abgrenzung vom alten Usus zu erkennen, die daher rührt, dass Weinsberg über einen größeren, über die Kenntnis der lokalen Schreibgewohnheiten hinausgehenden Horizont verfügte.53 Er weiß, dass man in südlicheren hochdeutschen Gebieten ei für einen Diphthong schreibt, dem in der Kölner Aussprache zumeist ein Monophthong /i/ entspricht, der also aus mhd. î herzuleiten ist: [...] iſt eyn diphthongüs .ei.[,] daß iſt zwein vür einen geſatzſt, die beid jr krafft behalten, dan jm hoichdutzen ſacht man wein, nit win, derhalb iſt .e. ader .i. ader .y. allein geſatzſt verbotten, vmb fre(m)bder bedudu(n)g willen,[.]54

Die Familie stammt aus Bayern und dort schreibt man eben ei und nicht i wie in Köln; die Schreibung mit i, die der Aussprache der Kölner entspricht, verschleiert laut Weinsberg die richtige Herkunft. Somit setzt er sich in diesem Punkt vom Schreibusus der Stadt ab. Dass der Schreibusus in Bayern sein Bezugspunkt ist, den er mit der Namensschreibung Weinsberg in Einklang zu bringen sucht, zeigt weiterhin seine Rechtfertigung der Verwendung von b statt p im Namensbestandteil berg: vnd iſt diſſer boichſtab von alters bei den Beierſchen ge=brüchlich geweſt, [.] (BW, fol. 9r,28f.). Aus diesem Grunde sei die b-Schreibung statthaft und als konform mit der einstigen bayrischen Tradition zu erachten. Die Schreibung für den letzten Laut, die trotz ihrer ‚Zweiheit‘ von Weinsberg als ein Buchstabe bezeichnet wird (vgl. BW, fol. 9r,42), hat mit g eine zulässige Variante, alle anderen Varianten seien verboten:

52

Vgl. die in Anm. 5 sowie in der Einleitung genannten Belege. Aus dem Zweiten Kopienbuch wäre die Namensschreibung Wynßberch (AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakobi, B II 10, fol. 17r) von anderer Hand (schon in neuer Kurrentschrift) zu ergänzen, die mit der Schreibung in den anderen städtischen Zeugnissen übereinstimmt. 53 Wobei auch schon sein Vater Mitte des Jahrhunderts den Namen mit Diphthong schrieb. Im BW ist ein Brief von ihm vom 18.10.1547 eingeheftet und von Weinsberg mit der Zählung fol. 538 versehen worden. Hierin schreibt der Vater mehrmals das Wort Wein mit Diphthong (BW, fol. 538v) und unterschreibt als keyrſtgen van weynſberch (ebd.). Den Anstoß zur diphthongierten Schreibung kann Weinsberg durchaus von seinem Vater erhalten haben, der auch seine Hinwendung zu genealogischen Fragen und Forschungen maßgeblich beeinflusst hat; vgl. Herborn, Weinsberg, S. 18. 54 BW, fol. 9r,9–12.

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Der achte vnd leſthe boichſtab iſt .ch. vnd laüdt ſo vil als .g.[,] dan daß .h. iſt kein boichſtab, aber allein ey(n) zeichen deß zübla=ſens,[.] doch iſt daß .g. jm end diß wortz jm latin vnd dützen zügelaiſſen, aber .gh.[,] .ck.[,] ader gk. ader .c. allein, iſt ver=bottenn […][.]55

In der Liste mit möglichen Schreibungen findet sich zum Wortbestandteil berg der Hinweis, dass es einerlei sei, ob der letzte Laut mit ch oder mit g geschrieben werde.56 gh und andere Endungen aber seien verboten, warum erklärt Weinsberg uns nicht. Passend erscheint zu den hier auszugsweise mitgeteilten ‚Regeln‘ für die Namensschreibung, dass er für das hier betrachtete Buch den Titel Boich Weinsberch wählte. Zu dieser wohl frühen Ansicht Weinsbergs steht sein Schreiben irgendwann im Widerspruch, denn die Schreibung mit gh wird zur weit überwiegenden Schreibung, wie die folgende Übersicht (Tab. 1) mit Belegen aus den Gedenkbüchern zeigt. Tab. 1: Weinsbergh in den im Weinsberg-Projekt erfassten Gedenkbuchteilen Buch

Datierung

Schreibung

Anteil

Belege gesamt

LI

1560/61(?)–1577

gh

4 %

715

LS

1578–1587

gh

28 %

2411

LD

1588–1597

gh

81 %

1873

Quelle: Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs – Digitale Gesamtausgabe, hg. v. der Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn 2003–2009, http://weinsberg.uni-bonn.de/ [Stand: 03.01.2021].

Tabelle 1 berücksichtigt alle Belege für Weinsberg als Name (ungeachtet der Unterscheidung des Familien-, Orts- und Hausnamens) in den Textteilen der Gedenk­ bücher, die im Rahmen des Bonner Weinsberg-Projekts erfasst wurden. Die Belege aus der Auswahledition von Höhlbaum und Lau bleiben unberücksichtigt, weil diese Edition den Unterschied gh und g nicht zuverlässig wiedergibt, wie bereits in Kapitel 2.1 bemerkt wurde. Diese Normalisierung betrifft auch den Namen Weinsberg, wie die folgenden Beispiele in Tabelle 2 zeigen:

55

BW, fol. 9r,42–46. Ob Weinsberg die Kenntnis unterstellt werden darf, dass ch nicht nur in Köln als Schreibung für Frikative verschiedener Herkunft gängig war, sondern im Bairischen – wenn auch für einen anders ausgesprochenen Laut – auch die Schreibung ch nach r vorkam (z. B. birche ‚Birke‘ oder werch ‚Werk‘; vgl. Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, 25. Aufl., neu bearb. v. Thomas Klein/Hans-Joachim Solms/Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schöbler, neu bearb. und erw. v. Heinz-Peter Prell, Tübingen 2007, § E 26, S. 35), wäre denkbar, wird an dieser Stelle jedoch nicht weiterverfolgt.

56

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Tab. 2: Normalisierung von gh < g in der Auswahledition ‚Buch Weinsberg‘ Auswahledition ‚Buch Weinsberg‘

Handschrift

das alte wormstichich taiflin des auszugs zu Weinsberg in Swaben (a)

daß alte wormſtichich taifflin deß Auͦßzuͦgs zuͦ weinſbergh jn Swaben [...] (c)

haben wir alle im haus Weinsberg (b)

haben wir alle jm hauͦß Weinſbergh (d)

Quelle: a) Buch Weinsberg, Bd.  3, S.  288 (16.08.1585); b) Buch Weinsberg, Bd.  3, S.  367 (29.03.1587); c) LS, fol. 518v,7–19; d) LS, fol. 640r,19f.

Die Verwendung von gh ist nicht auf die privaten Schriften Weinsbergs beschränkt. Auch in den in diesem Beitrag betrachteten Geschäftsbüchern aus dem Historischen Archiv der Erzdiözese Köln verwendet er sie, wie der folgende, auf den 6. Februar 1584 datierte Beispieleintrag zeigt (Abb. 8).

Abb. 8: Weinsbergh im Quittungsbuch der Provisoren Quelle: AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 11, fol. 6v.

Das Vorbild für diese Schreibung haben Weinsberg vielleicht sogar die Geschäftsbücher gegeben, denn auch die anderen Hände schreiben seinen Namen mit gh, im zuvor genannten Quittungsbuch gleich von Anfang an und zeitlich Weinsbergs eigenhändigen Eintragungen vorausgehend.57 Wie ist dieses Schreibverhalten erklärbar? Zu verweisen ist auf den Kontext der ripuarischen Schriftlichkeit, denn gh ist eine alte ripuarische Schreibung für verschiedene Frikative, die das ripuarische mit den nördlich angrenzenden Gebieten des Niederländischen und Niederdeutschen teilte. Teilweise kam diese Schreibung 57

Ab dem ersten Eintrag vom 12.01.1579 im Quittungsbuch recht regelmäßig; gleich mehrmals: AEK, PfA St. Georg, Best. Pfarrei St. Jakob, B II 11, fol. 1r,4, 6 und 18.

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etwas außer Gebrauch und trat insgesamt nicht regelhaft im 15.  Jahrhundert und am Anfang des 16. Jahrhunderts auf. Manche Schreiber verwendeten sie aber noch, teilweise eingeschränkt auf Einzelwörter oder eine bestimmte Position im Wort. In der Tendenz wurde diese Schreibung durch ch und g abgelöst. Dennoch kam die Schreibung nie ganz aus der Mode, sie wurde am Rande immer noch tradiert und musste Weinsberg somit als ‚alte‘ Schreibung aus den städtischen Quellen, die er für seine genealogischen Studien eingesehen hatte, und vielleicht auch aus seinem eigenen Schulunterricht, bekannt sein.58 Auch wenn die Schreibung nicht von allen regelmäßig verwendet wurde, kam sie häufig genug vor, um wahrgenommen zu werden.59 Eine kleine Auswahl solcher Schreibungen sei im Folgenden als Beleg gegeben. Bereits im ersten Eidbuch der Stadt Köln von 1321 kommen gh-Schreibungen häufig vor, so auch bei Namen (Belege für -berg oder -burg gibt es nicht): Lodewigh (HAStK, Best. 30 [Verfassung und Verwaltung], V1, fol.  5r,31), henrigh (fol.  5r,7), henrighe (fol. 6r,14), dederighe (fol. 5r,3) (fol. 5r,3), Ruuaghe (fol. 6r,2, 15 u. 16). Im Haus- oder Familienbuch von Werner Overstolz (ca. 1390–1451) aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in dessen Kontext sich auch Weinsbergs Boich Weinsberg einreiht,60 gibt es ebenfalls Belege für gh-Schreibungen.61 Sie betreffen dort jedoch weit überwiegend Namensschreibungen mit berg und burg: die Namen seiner Vorfahren und anderer historischer Personen in und um Köln, wie Schallenbergh (HAStK, Best. 7657, ehem. 1157 [Genealogische Abt.], Nr. 67, fol. 12r,2 u. 16 u. ö.), hembergh (fol. 20r,17), voulbergh (fol. 30r,15); Kölner Häusernamen, wie rynbergh (fol. 18r,1), und Joedenbergh (18r,8) oder den Kölner Schrein Airſbergh (17v,4).

58

Ein frühes ABC-Buch, gedruckt bei Johannes Gymnich 1534, das Beckers, ABC-Buch, S. 13f., auszugsweise ediert, enthält zumindest ein Beispiel für eine gh-Schreibung: seghen ‚Segen‘, ebd., S. 13. 59 Die Beschreibung bei Moser, Grammatik, § 37, S.  63, die etwas allgemein gehalten ist und für das Mittelfränkische bzw. Köln wesentlich auf der Beschreibung von Scheel, Jaspar von Gennep, basiert, stimmt mit meinen eigenen Beobachtungen weitgehend überein: „gh ist ein md. (und ndd.) Zeichen zur genaueren Kenntlichmachung des spirantischen Charakters von g (§ 148). Am häufigsten wird es (abgesehen vom Ndd.) im Mfr. gebraucht, wo es in den Kölner Drucken nicht selten bis gegen Mitte des 16. Jhs. [...] und in der dortigen Stadtkanzlei häufig bis in dessen letztes Viertel [...] erscheint, dann aber aufgegeben ist. Im übrigen Md. kommt es schon von Anfang des Frnhd. an (besonders omd.) nur noch recht selten vor [...], findet sich aber in einzelnen rhfr. (Frankfurter) Drucken sporadisch noch bis zur Mitte des 16. Jhs. [...] und gelegentlich sogar bei einem (allerdings aus Halberstadt kommenden [d. h. aus dem Nd. stammend, Anm. d. Verf.]) Erfurter Drucker im ersten Viertel desselben (so in ghe-).“ 60 Vgl. Wulf, Bestandsaufnahme, S. 49. 61 Für die Überlassung der Transkription des Familienbuchs sei Marc von der Höh (Rostock) herzlich gedankt. Zur Quelle vgl. insbes. von der Höh, Memoria; und zur Terminologie und Gattung Birgit Studt, Haus- und Familienbücher, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16.–18.  Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien/München 2004, S. 753–766.

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Aus dem Schreinsbuch Sententiarum Nr. 482 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in dem die Verwendung von gh auch sonst häufiger ist, seien folgende Beispiele für Namen gegeben: furſtenbergh (HAStK, Best. 101, Nr. 482, fol. 2v,19), Spegelbergh (fol. 3r,3), Blankenbergh (fol. 4r,23), wolkenburgh (fol. 3r,34), dryngenbergh (fol. 3r,23). Man darf daher unterstellen, dass Weinsberg die Schreibung mit gh als eine etwas altertümliche Schreibung gekannt hat. Aus der Ausführung zum Namen sehen wir, dass er der Ansicht war, Weinsbergh mit gh sei nicht ‚richtig‘. Allmählich kommt die Schreibung jedoch bei seinen fiktiven historischen Verwandten zum Vorschein, im zweiten Teil des Boich Weinsberg wird sie neben der Schreibung mit ch zur Hauptschreibung des Namens,62 so zum Beispiel auch in einem Bild (BW, fol. 335r), überschrieben mit TESTAMENTARIA FVNDATIO DOMVS WEINSBERGIANÆ (‚die durch Testament eingerichtete Stiftung des Weinsbergischen Hauses‘). Es steht im Zusammenhang mit der Hausstiftung, die für die kollektive Identität und Memoria bedeutsam ist.63 Die Namensschreibung ist im mittleren Kästchen über der Zeichnung, in der Überschrift des folgenden Textes sowie in der ersten Zeile des beginnenden Textes und somit in hervorgehobener Position jeweils mit gh ausgeführt (Abb. 9). In den genau datierbaren und chronologisch fortlaufend geschriebenen Gedenkbüchern gewinnt die Schreibung mit gh ganz deutlich die Oberhand, wie die vo­ rangegangene Tabelle 1 zeigt. Am Ende seiner Schreibtätigkeit beträgt die Namensschreibung mit gh rund 80 Prozent. Auch sich selbst bezeichnet Weinsberg so, wie wir gesehen haben. Während er sonst Neuerungen partiell übernommen hat, kann hier aufgrund der Quantität des auftretenden Merkmals keine Rede davon sein, dass es sich um Zufall handeln könnte. Eine naheliegende Erklärung für diese Schreibung im Kontext der Schriftlichkeit der Stadt ist, dass der Name durch die Schreibung zu einem kölnischen wird, einem Namen, der so geschrieben wird wie die Namen der alten Geschlechter, der also schon hinreichend lange in Köln tradiert worden war, um so wie ein heimischer Name geschrieben zu werden. In der Einführung von gh zeigt sich somit eine neuerliche Traditionsbegründung, die nicht auf Weinsberg und sein Haus beschränkt war. Vielmehr handelt es sich um eine kollektive Identitätsstiftung in der Stadt, denn auch andere städtische Schreiber, die zugleich ‚modern‘ in

62

Auf eine Abgabe der Verteilung aller Namensschreibungen im BW und eine Gesamtinterpretation wird verzichtet, weil die einzelnen Teile bislang chronologisch weder absolut noch relativ zueinander datiert sind. Bekannt ist einzig, dass Weinsberg „seit den 1550er Jahren [...] immer regelmäßiger an einer Geschichte seines Geschlechts, dem boich Weinsberg“ arbeitete; Wulf, Bestandsaufnahme, S. 36. Unter Vorbehalt sei daher nur die Beobachtung mitgeteilt, dass sich gh in den Vorsatzblättern vor dem eigentlichen ersten Teil des BW häufiger findet, dann im eigentlichen ersten Teil, aus dem auch das Zitat stammt, dass die Schreibung mit gh verboten sei, nicht mehr. Im zweiten Teil findet sie sich dann wieder, auch an sehr prominenter Stelle, vermehrt. Dies könnte so zu deuten sein, dass sich Weinsberg zu Anfang der Aufzeichnungen für eine archaische Schreibung entschied, sie dann doch aufgab, unter dem Einfluss anderer städtischer Schreiber später aber wieder aufgriff. 63 Vgl. hierzu den Beitrag in diesem Band von Peter Glasner, geschriben und gemailt. Symbolisierungsformen von Ich- und Wir-Identität bei Hermann (von) Weinsberg (1518–1597), S. 93–125.

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Abb. 9: Ausschnitt aus der testamentarisch verankerten Hausstiftung Weinsbergs Quelle: BW, fol. 335r.

neuer Schrift und hochdeutscher als zuvor schrieben, verwenden dieses gh. Durch das Wein zeigt Weinsberg sich folglich ebenfalls ‚modern‘ und zugleich hoch- oder oberdeutsch; durch das gh wird der Name als ein ‚alter‘ Kölner Name ausgewiesen. Hier wird sprachlich eine Tradition vollzogen und begründet, die Weinsberg durch seine familiengeschichtlichen Ausführungen im Boich Weinsberg ebenfalls zu begründen sucht. Es bestätigt sich erneut, was Hoffmann wie oben angeführt schon zutreffend formulierte: „Für eine gewisse Zeit ist die rip. Schreibsprache Identifikationsmedium für die Kölsche Identität.“64 Es lässt sich präzisierend noch hinzufügen: Auch dort, wo sie scheinbar durch Zuwendung zu modernerem Schreiben schon aufgegeben wurde, wird dennoch eine lokale Identität neu geschaffen, nämlich durch die Bei­mischung und teilweise vielleicht auch durch die Wiedereinführung von gh. Auf diese Weise wird eine kölnische Identität bei vielen Schreibern und nicht zuletzt auch bei Weinsberg hergestellt, die neben allen Neuerungen partiell die alte kölnische Identität relikthaft, aber unverkennbar bewahrt. Neben dem inflationären Auftreten von gh in dem betrachteten Verwaltungsschriftgut aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gibt es auch Textzeugnisse aus dem Kölner Umland, die in zwei zeitlich verschiedenen Redaktionsstufen erhalten sind und eine Einführung von gh zeigen, zum Beispiel zwei herzogliche Akzise-Privilegien von 1490 und 1563 aus dem Jülicher Land, die Hoffmann in Auszügen mitgeteilt hat.65 Die ersten Sätze lauten demnach:

64

Hoffmann/Mattheier, Köln, S. 2329. Hoffmann, Rheinische Sprachverhältnisse, S. 144.

65

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Wir Wylhem van gotz gnaiden hertzouch zo Guylge, zo dem Berge, grave zo Ravensberg, [...] (1490) Von Gottes gnaden wir Wilhelm hertzogh zu Guylich, Cleve und Bergh, graff zu der Marck unnd Ravensbergh, [...] (1563)

Die kurzen Textausschnitte belegen, dass es auch Schriftzeugnisse aus dem Umland gibt, die zeitgleich mit der Einführung modernerer hochdeutscher Formen (vgl. Wilhelm, Gottes) auch vermehrt gh schreiben, ein Merkmal, das sich vorher entsprechend nicht im Text befand. Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass der Name Weinsberg nicht immer der Name der Familie war, sie wurde zuvor van Swelm genannt. Erst nachdem sie Eigentum in Köln erworben hatte, nannte sie sich sekundär nach dem Haus. Dieser Häusername wurde von Weinsberg zeit seines Lebens immer wieder etymologisch und genealogisch unterfüttert und neu ausgestaltet. Hier zeigt sich, dass sich Identität oder vielmehr Identitätsstiftung kontinuierlich und immer wieder neu vollzieht.

4. Fazit und Ausblick Trotz vielfacher Modernisierungen in der Sprache im 16.  Jahrhundert gab es eine zeitgleiche Rückwendung zum ‚Alten‘, die Weinsberg mit vielen städtischen Schreibern teilte und die ihm zur Identitätskonstruktion in der Stadt diente: ursprünglich fremde sprachliche Merkmale wurden im 16. Jahrhundert zu eigenen, aber zur Abgrenzung nach außen auch wieder mit erkennbar ureigenen Merkmalen durchsetzt. Ob dabei seitens der städtischen Schreiber zugleich eine Anlehnung an den Nordwesten intendiert war, bedürfte noch weiterer Prüfung. Durch den Vergleich der Texte zeigte sich darüber hinaus, dass Weinsberg gegenüber verschiedenen Einflüssen in der Stadt offen war und blieb. Eine Einheitlichkeit in der sprachlichen Form gab es zu seiner Zeit noch nicht. Weinsberg reflektiert dies, indem er verschiedene Varianten nebeneinander gelten lässt. Langfristig zeigen sich somit verschiedene Einflussgrößen. Möller resümiert zu Weinsbergs Sprache, es handele sich nicht „um eine bewusste Varietätenwahl, [...] sondern vielmehr um eine Bejahung der Tatsache, dass diese gemischte Sprache insgesamt gleichzeitig modern und gebildet und traditionsverhaftet erscheinen ließ – gemäß seiner Lebensmaxime des goldenen Mittelwegs: ‚Medium tenuere beati‘“.66

66

Möller, Beobachtungen, S. 270.

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Dies lässt sich ganz konkret auch an der ‚Entwicklung‘ seiner Namensschreibung beobachten. Bei der zunehmenden Anzahl des auftretenden Merkmals ist Zufall oder eine Zufallsvariation ausgeschlossen. Mit dieser zugleich modernen und traditionellen Sprache steht Weinsberg nicht allein da, wie viele Vergleichstexte aus dem Kontext des städtischen Verwaltungsschrifttums zeigen. Denn auch dort zeigt sich ab der Jahrhundertmitte eine inflationäre Zunahme von gh zeitgleich mit eindeutig als modern einzustufenden Schreibungen.

DIE FREMDE IM HAUS. SKLAVINNEN IM SPIEGEL DER FLORENTINER FAMILIENBUCHÜBERLIEFERUNG Marc von der Höh

1. Einleitung

Anno 1568 den 27. Juni uff sontag, wan man zu s. Laurenz das hillige sacrament tragt, hat Anna von Weinsberch, min naturliche dochter, ir profess zu Maria Bethlehm in der Reimersgasse gedain.1

Mit diesen Worten beginnt Hermann Weinsberg (1518–1597) einen detaillierten Bericht über die Aufnahme seiner unehelichen Tochter Anna (1546–1601) in den Franziskanerinnenkonvent in der Kölner Reimersgasse.2 Anna war das Ergebnis einer versellichung – wie Hermann es nennt – mit der Magd seiner Mutter.3 Über die Jahre erfahren wir zahlreiche Details aus dem Leben dieser Anna, von Hermann meistens Engin genannt, die von ihm nicht nur finanziell abgesichert wurde, sondern an deren Entwicklung und Erziehung er selbst seinen Texten zufolge regen Anteil nahm.4 Sexuelle Verbindungen zwischen jungen Männern und dem familiären Dienstpersonal waren in der Frühen Neuzeit ebenso wenig eine Seltenheit wie im späten Mittelalter. Entsprechend häufig entstanden aus diesen Verbindungen illegitime Kinder.5 Das Schicksal der Anna Weinsberg kann man in diesem Zusammenhang 1

Das Buch Weinsberg. Kölner Denkwürdigkeiten aus dem 16. Jahrhundert, 5 Bde., hg. v. Konstantin Höhlbaum/Friedrich Lau/Josef Stein, Bonn/Leipzig 1886–1926, ND Düsseldorf 2000, hier Bd. 2, S. 180. 2 Buch Weinsberg, Bd. 2, S. 180–182. Ebd., Bd. 1, S. 257f., zu Annas Geburt. 3 Das ander [haus] hat uff zit miner geburt m[eister] Johan van Olpe schroder und darnach fil jare bewont. Dess dochter Greitgin Olpe, miner motter magt, hat sich mit mir versellicht, davon min dochter, suster Engin, geborn ist; Buch Weinsberg, Bd. 5, S. 113. 4 Vgl. etwa ebd., Bd. 5, S. 18f., oder sein Testament von 1563, ebd., S. 48. 5 Vgl. etwa zuletzt Aude-Marie Certin, Paternité et filiation illégitime dans les villes de l’Empire (XV– XVIe siècles), in: Carole Avignon (Hg.), Bâtards et bâtardises dans l’Europe médiévale et moderne, Rennes 2016, S. 335–344; Ellen Widder, Skandalgeschichten oder Forschungsdesiderate? Illegitime

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noch als durchaus glücklich bezeichnen: zwar wurde sie nicht vollständig in die Familie ihres Vaters aufgenommen, doch blieb sie zunächst bei ihrer Mutter und wurde – wie erwähnt – von ihrem Erzeuger vergleichsweise gut versorgt. Blickt man auf die andere Seite der Alpen, so stößt man auf eine Praxis, die der kleinen Anna glücklicherweise erspart geblieben ist. In Florenz, auf das ich mich mit den folgenden Ausführungen konzentrieren werde, existierte seit dem Ende des 14. Jahrhunderts am Ospedale degli Innocenti eine noch heute zu besichtigende Einrichtung, die als ruota (Rad) bezeichnet wurde. Hier konnte man im Schutze der Nacht ein unerwünschtes Baby in eine Art Drehlade legen, die von innen und außen zugänglich war.6 Ähnlich wie über heutige Babyklappen wurde das Kind so anonym in die Obhut des Waisenhauses gegeben. Das Ospedale degli Innocenti führte wie zahlreiche vergleichbare Institutionen Buch über die abgegebenen Babys und Kleinkinder, denen zudem regelmäßig kleinere Geschenke und schriftliche Nachrichten beigegeben wurden. Zwei Beispiele seien hier als Beleg angeführt: „1400, am 10. Tag des Mai: Am Montag, dem genannten Tag wurde am Hospital von San Gallo ein Mädchen abgegeben, das einem Zettel zufolge, den es bei sich trug, zwölf Monate alt war; des Weiteren war auf dem Zettel zu lesen, dass es das Töchterchen einer Sklavin namens Lucia war, dass es am 1. Mai 1399 geboren wurde, und dass ihr Name Papera (Gänschen) war.“7

Ein anderer Eintrag gibt zudem den Wortlaut der dem Baby mitgegebenen Nachricht wieder: „Im Namen des Herrn, am 17. Tag des Novembers 1405. Dieser Knabe ist von Graziano di Ber­ naba aus Scarperia, und er hat ihn im Monat Februar gezeugt mit Catherina, einer Sklavin Gio­ vanni Orlandinis, und der genannte Knabe wurde geboren am 16. November um 1 Uhr nachts;

Verbindungen im Spätmittelalter aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, in: Andreas Tacke (Hg.), „... wir wollen der Liebe Raum geben“. Konkubinate geistlicher und weltlicher Fürsten um 1500, Göttingen 2006, S. 38–92; Birgit Noodt, Illegitime Geburt im 14. Jahrhundert. Uneheliche Kinder und ihre Mütter in Lübecker Quellen des 14. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 81 (2001), S. 77–103; Michael Mitterauer, Ledige Mütter. Zur Geschichte illegitimer Geburten in Europa, München 1983; sowie die Beiträge in Ludwig Schmugge (Hg.), Illegitimität im Spätmittelalter, München 1994; Peter Laslett/Karla Oosterveen/Richard M. Smith (Hg.), Bastardy and its Comparative History, London 1980. 6 Zum Ospedale degli Innocenti vgl. Philip Gavitt, Charity and Children in Renaissance Florence. The Ospedale degli Innocenti 1410–1536, Ann Arbor 1990; allgemein zur Praxis John Eastburn Boswell, Kindness of Strangers. The Abandonment of Children in Western Europe from late Antiquity to the Renaissance, Chicago 1998; speziell zur spätmittelalterlichen Toskana Tomoko Takahashi, Il Rinascimento dei trovatelli. Il brefotrofio, la città e le campagne nella Toscana del XV secolo, Rom 2003. 7 Ridolfo Livi, La schiavitù domestica nei tempi di mezzo e nei moderni, Padua 1928, S. 219: Mcccc adì di x di maggio. Lunedi adì decto fu rechata e lasciata a lo Spedale di S. Gallo una fanciulla d’età di dodici mesi secondo che diceva la scritta che rechò la decta fanciulla; e più diceva la decta fanciulla essere stato figliuola d’una schiava che ebbe nome Lucia, e diceva che naqua adi primo di maggio 1399 e diceva che aveva nome Papera.

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er ist noch nicht getauft. Kümmert Euch um ihn, denn weil der genannte Graziano sich dafür schämt, möchte er ihn von fremden Leuten aufziehen lassen. Macht mit ihm, was Ihr für richtig haltet, und was Ihr auch mit den anderen zu tun pflegt.“8

Im Kontext der Untersuchung von Selbstzeugnissen ist natürlich der zuletzt zitierte Eintrag bereits von einigem Interesse, wird hier doch ein mit der Zeugung illegitimer Kinder verbundenes Gefühl explizit gemacht: vergogna – Scham. Hierauf wird zurückzukommen sein. Wie in den beiden zitierten Beispielen waren nahezu alle auf diese Weise am Ospedale degli Innocenti abgegebenen Kinder das Resultat von Verbindungen zwischen freien Florentinern und Sklavinnen. Damit ist ein Thema berührt, das in den letzten Jahren wieder verstärkt das Interesse der Forschung gefunden hat: Die Ausbreitung einer neuen Form der Sklaverei in den nord- und mittelitalienischen Städten des 14. Jahrhunderts. Bevor ich zu den Selbstzeugnissen komme, die mich hier besonders interessieren, und die zugleich immer wieder zu unserem Jubilar Hermann Weinsberg zurückführen werden, soll das Phänomen der spätmittelalterlichen Sklaverei in Italien kurz erläutert werden. 9 8

Ebd. S. 220: Al nome di dio adi xvij di novembre 1405. Questo fanciullo è di Graziano di Bernaba della Scharperia e aquistollo dalla Chaterina schiava di Giovanni Orlandini del mese di febraio e nacque il detto fanciullo adi xvj di novembre, a ore una di notte; non è batezato. Abiate chura accui voi il date, perchè il detto Graziano, per verghognia il farà levare ad altra gente. Non di meno, fatene quello vi pare e chome solete fare degli altri. 9 Die Literatur zu diesem Thema ist in den letzten Jahren stark angewachsen. Als klassische Beiträge vgl. Charles Verlinden, L’esclavage dans l’Europe médiévale, Brügge 1977; Domenico Gioffrè, Il mercato degli schiavi a Genova nel secolo XV, Genua 1971; Jacques Heers, Esclaves et domestiques au Moyen Âge dans le monde méditerranéen, Paris 1981, und Christiane Klapisch-Zuber, Women Servants in Florence during the Fourteenth and Fifteenth Centuries, in: Barbara A. Hanawalt (Hg.), Women and Work in Preindustrial Europe, Bloomington 1986, S. 56–80; aus der Flut der jüngeren Arbeiten vgl. Franco Angiolini, Padroni e schiavi a Pisa nel XV secolo, in: María Teresa Ferrer i Mallol/Josefina Mutgé i Vives (Hg.), De l’esclavitud a la llibertat. Esclaus i lliberts a l’edat mitjana, Barcelona 2000, S. 717–735; Monica Boni/Robert Delort, Des esclaves toscans, du milieu du XIVe au milieu du XVe siècle, in: Mélanges de l’École française de Rome. Moyen-Age 112 (2000), Heft 2, S. 1057–1077; Steven A. Epstein, Speaking of Slavery. Color, Ethnicity, and Human Bondage in Italy, Ithaca 2001; Michele Luzzati, Schiavi e figli di schiavi attraverso le registrazioni di battesimo medievali: Pisa, Gemona del Friuli, Lucca, in: Quaderni storici 36 (2001), S. 349–362; Sergio Tognetti, Note sul commercio di schiavi neri nella Firenze del Quattrocento, in: Nuova rivista storica 86 (2002), S.  361–374; Christoph Cluse, Frauen in Sklaverei. Beobachtungen aus genuesischen Notariatsregistern des 14. und 15. Jahrhunderts, in: Frank G. Hirschmann/Gerd Mentgen (Hg.), „Campana pulsante convocati“. Festschrift anläßlich der Emeritierung von Prof. Dr. Alfred Haverkamp, Trier 2005, S. 85–123; Sergio Tognetti, The Trade in Black African Slaves in Fifteenth-Century Florence, in: Thomas F. Earle/Katherine J. P. Lowe (Hg.), Black Africans in Renaissance Europe, Cambridge 2005, S. 213–224; Silvana Fossati Raiteri, I genovesi e il mercato degli schiavi nel Vicino Oriente (secc. XIV–XVI), in: Rivista dell’Istituto di Storia dell’Europa Mediterranea 1 (2008), S. 67–75; Sally McKee, Domestic Slavery in Renaissance Italy, in: Slavery and Abolition 29 (2008), S. 305–326; Christoph Cluse, Zur Repräsentation von Sklaven und Sklavinnen in Statuten und Notariatsinstrumenten italienischer Städte um 1400, in: Peter Bell (Hg.), Fremde in der Stadt: Ordnungen, Repräsentationen und soziale Praktiken (13.–15. Jahrhundert), Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 383–410; Christoph Cluse, Intimate Strangers. Slave Women as Wetnurses in Medieval Genoa, in: Laura Guidi/Maria Rosaria Pelizzari (Hg.), Nuove frontiere per la Storia di genere, Bd. 2, Salerno 2013, S. 149–156; Anna Esposito, Schiave di Roma. Una nota sulla schiavitù domestica nella Città eterna (fine ‘400 – primo ’500), in:

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2. Sklavinnen im spätmittelalterlichen Florenz Gleichsam im Schatten des zuletzt als „Morgen der Welt“10 gefeierten Humanismus entwickelte sich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eines der tragischsten und deshalb oft vergessenen oder zumindest an den Rand gedrängten Kapitel der italienischen Geschichte des Spätmittelalters: das erneute Entstehen von Sklaverei.11 Italienische Kaufleute waren schon seit der Intensivierung des Mittelmeerhandels nach der Jahrtausendwende Akteure auf dem mediterranen Sklavenmarkt, zunächst jedoch nahezu ausschließlich als Zwischenhändler. Erst nach den Bevölkerungsverlusten der Pestwellen seit der Mitte des 14. Jahrhunderts wurden Sklaven auch wieder in größerer Zahl in die italienischen Städte gebracht und dort zu einem signifikanten Phänomen des täglichen Lebens. Bei diesen Sklaven handelte es sich in den weitaus meisten Fällen um Frauen.12 Insbesondere aus dem Schwarzmeerraum, aber auch vom Balkan wurden Frauen bzw. vor allem Mädchen zwischen Kleinkind­alter und Anfang zwanzig über die großen Sklavenmärkte in Venedig und Genua in das

Dies./Heidrun Ochs (Hg.), Trier – Mainz – Rom: Stationen, Wirkungsfelder, Netzwerke. Festschrift für Michael Matheus zum 60. Geburtstag, Regensburg 2013, S. 297–310; Juliane Schiel, Die Sklaven und die Pest. Überprüfung eines Forschungsnarrativs am Beispiel Venedig, in: Simonetta Cavaciocchi (Hg.), Schiavitù e servaggio nell‘economia europea, secc. XI–XVIII / Serfdom and Slavery in the European Economy, 11th–18th Centuries, Bd. 1, Florenz 2014, S. 365–376; Juliane Schiel, Sklaven, in: Michael Borgolte (Hg.), Migrationen im Mittelalter. Ein Handbuch, Berlin 2014, S.  251–266; Claudio Bismara, Schiave e schiavi a Verona nel XV secolo, in: Archivio Veneto Ser.  6, 10 (2015), S. 77–96; Salvatore Bono, Schiavi. Una storia mediterranea (XVI–XIX secolo), Bologna 2016; Michel Balard, Slavery in the Latin Mediterranean (Thirteenth to Fifteenth Centuries): The Case of Genoa, in: Reuven Amitai/Christoph Cluse (Hg.), Slavery and the Slave Trade in the Eastern Mediterranean (c. 1000–1500 CE), Turnhout 2018, S. 235–254; Hannah Barker, That Most Precious Merchandise. The Mediterranean Trade in Black Sea Slaves 1260–1500, Philadelphia 2019. 10 Bernd Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München 2017; zur Humanistischen Diskussion vgl. Epstein, Slavery, S. 139–149. 11 Barker, Merchandise, hat zuletzt wieder die Kontinuität mittelalterlicher christlicher Sklaverei betont. Dieser Eindruck kann in der Tat entstehen, wenn man von der Quellenterminologie für Versklavte ausgeht, die zunächst mit den gleichen Begriffen bezeichnet wurden, wie die hochmittelalterlichen Unfreien; vgl. ebd. S. 14f. Für Nord- und Mittelitalien stellt sich die Situation aber anders dar. Während Formen extrusischer bzw. autochthoner Sklaverei, das heißt die Formen abgestufter Leibeigenschaft innerhalb der eigenen Gesellschaft, in den italienischen Kommunen und ihrem Einflussbereich seit dem 12.  Jahrhundert allmählich verschwinden, kommt seit der Mitte des 14.  Jahrhunderts mit den importierten Menschen aus dem Schwarzmeerraum eine neue Welle intrusischer Sklaverei nach Italien, vgl. zum Begriffspaar extrusisch/intrusisch Orlando Patterson, Slavery and Social Death. A Comparative Study, Cambridge 1982, S. 39–42. Nur für die neue Form intrusischer Sklaverei ist die Definition Pattersons („social death“/„natal alienation“, vgl. ebd. S. 5–7) sinnvoll anzuwenden, während die hochmittelalterliche Unfreiheit wesentlich nur eine Frage der Rechtsstellung, insbesondere der Einschränkung von Mobilität und Besitzrecht war. Die Definitionskriterien Pattersons rezipierte in der mediävistischen Forschung zuerst Cluse, Frauen, insbes. S. 11f. Vgl. die ausführliche Diskussion der jüngeren mediterranen Sklaverei-Forschung bei Stefan Hanss, Sklaverei im vormodernen Mediterraneum. Tendenzen aktueller Forschungen, in: ZHF 40 (2013), S. 623–661. 12 97 % der in Genua nachgewiesenen Sklaven waren weiblich, Gioffrè, Mercato, S.  79; in Florenz scheinen es sogar 98 % gewesen zu sein, Klapisch-Zuber, Women Servants, S. 68.

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italienische Binnenland gebracht und damit auch nach Florenz.13 Anders als im östlichen Mittelmeerraum, auf der Iberischen Halbinsel und den Inseln des Mittelmeeres14 wurden diese Sklavinnen in der Toskana ausschließlich als Haushaltssklavinnen eingesetzt, wo sie die gleichen Aufgaben übernahmen, die zuvor von freien Diene­ rinnen und Mägden übernommen worden waren.15 Aufgrund der fortgeschrittenen Entwicklung von administrativer Schriftlichkeit in den italienischen Kommunen lassen sich dieser Sklavenhandel sowie die Lebensbedingungen der Sklavinnen in der Toskana vergleichsweise gut rekonstruieren. Auf eine besonders aussagekräftige Quelle möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich hinweisen: 1366 beschloss die Florentiner Stadtregierung, dass die bereits in großer Zahl in Florenz lebenden Sklavinnen und Sklaven zentral erfasst werden sollten. Der Grund hierfür waren die regelmäßigen Fluchtversuche der betreffenden Personen, die auf diese Weise einfacher wiedergefunden bzw. identifiziert werden sollten.16 Neben den verzeichneten Umständen des Erwerbs, dem gezahlten Preis, der Herkunft und dem Alter überrascht vor allem eine ungewöhnlich präzise Beschreibung der jeweiligen Sklavinnen und Sklaven:17 „Im Namen Gottes, amen. Im Jahre seit seiner Fleischwerdung 1366, im vierten Jahr der Indiktion, am 4. Tag des Monats Juli. Ugolino del fu Vicino de Judis, nach eigenen Angaben Herr der unten genannten Sklavin, führte in der genannten Kammer in der Anwesenheit von mir, Tardaccorri, oben genannten Notars, die Sklavin Jacomina vor, die früher Stamati genannt wurde, aus dem Volk der Tataren, etwa 18 Jahre alt, etwas größer als das Mittelmaß, von olivfarbener Hautfarbe, mit einer dicken Nase und einem schwarzen Muttermal über der Nase, zwei Narben auf dem linken Handrücken und mit durchbohrten Ohren; von dieser behauptet er, sie für den Preis von 33 ½ Golddukaten gekauft zu haben und lässt sie durch mich eintragen und registrieren.“18

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Zu den Sklavenmärkten zuletzt Barker, Merchandise, S. 92–120; ebd., S. 68f. zum Alter der in Genua und Venedig verkauften Sklaven. 14 Benjamin Arbel, Slave Trade and Slave Labour in Frankish Cyprus (1191–1517), in: Studies in Medieval and Renaissance History 14 (1993), S. 149–190; Kevin Mummey, Enchained in Paradise. Slave Identities on the Island of Mallorca, ca. 1360–1390, in: Johan Watkins/Kathryn Reyerson (Hg.), Mediterranean Identities in the Premodern Era. Entrepôts, Islands, Empires, Farnham 2014, S. 121–138. 15 Klassisch hierzu Heers, Esclaves; Klapisch-Zuber, Women Servants; zuletzt McKee, Slavery; Barker, Merchandise, S. 72f. 16 Ediert bei Livi, Schiavitù, S. 141–217; vgl. zur Quelle Epstein, Slavery, S. 107–114. 17 Zur exakten Beschreibung der Sklaven vgl. Valentin Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, S. 78–80. 18 Livi, Schiavitù, S.  146: In Dei nomine amen, anno ab eiusdem incarnatione millesimo trecentesimo sexagesimo sexto, indictione quarta, die quarto mensis juli. Ugholinus quondam Vicini de Judis, dominus ut dixit infrascripte schiave, representavit in dicta camera coram me Tardacorri, notario suprascripto Iacominam schiavam suam olim vocatam Stamati, de genere Tartarorum, etatis decem et octo annorum vel circa, ultra mediocrem staturam, cum pelle ulivigna, naso grosso et neo nigro super naso, duabus marginibus super manu sinistra, auribus foratis, quam dixit emisse pro pretio trigintatrium ducatorum cum dimidio de auro, quam schiavam scribi et registrari fecit per me dictum notarium.

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Das Florentiner Sklavenverzeichnis dokumentiert durch die Beschreibung der registrierten Menschen, dass diese wohl schon durch ihre physische Erscheinung aus der Masse der Stadtbewohner herausstachen.19 Doch nicht nur aufgrund ihres Aussehens waren sie als Fremde erkennbar. So haben sie, um einen weiteren Aspekt anzusprechen, ein mehr oder weniger stark gebrochenes Italienisch gesprochen, von dem uns literarische Texte des 15. und 16. Jahrhunderts einen Eindruck vermitteln, in denen Sklaven in vielen Fällen durch eine pidginartige Sprache gekennzeichnet werden.20 Schließlich waren vor allem die Sklavinnen oft durch spezifische Namen markiert bzw. stigmatisiert. Nach zeitgenössischer Einschätzung als Nichtchristen nach Italien gekommen, mussten alle in den Haushalten lebenden Sklaven getauft werden.21 Dabei erhielten sie Namen, die sich im Laufe der Zeit zu regelrechten Sklavinnen-Namen entwickelten. Neben den besonders häufig vergebenen christlichen Namen, Catharina, Lucia oder (noch häufiger) Magdalena, stehen spezifische Sklavinnen-Namen: Cita (die Schnelle), Bona (die Gute), Picenina (die Kleine), Benvenuta (die Willkommene) oder Divizia (der Reichtum).22 Die Sklavinnen und Sklaven standen so im Schnittfeld zwischen zwei Aspekten, die beide im deutschen Begriff ‚fremd‘ angelegt sind: Das Fremde ist einerseits das Unvertraute, das, was man nicht oder noch nicht kennt, was man im kulturellen Sinne als abweichend oder divers interpretiert. Daneben kann das Fremde zugleich auch im sozialen Sinne als das nicht dazugehörende verstanden werden.23 Die Florentiner Sklavinnen des Spätmittelalters waren beides: Sie sahen anders aus, sprachen anders, 19

Beleg hierfür ist nicht zuletzt die Polemik, die niemand anderes als Francesco Petrarca (1304–1374) 1367 in einem Brief aus Venedig äußert: Nam grecie calamitas vetus est, sed Scitharum recens. Ut, unde nuper ingens annua vis frumenti navibus in hanc urbem invehi solebat, inde nunc servis honuste naves veniant, quos urgente fame miseri venditant parentes. Iamque insolita et inextimabilis turba servorum, utriusque sexus hanc pulcerrimam urbem scithicis vultibus et informi colluvie, velut amnem nitidissimum torrens turbidus inficit; que, si suis emptoribus non esset acceptior quam michi et non amplius eorum oculos delectaret quam delectat meos, neque feda hec pubes hos angustos coartaret vicos, necque melioribus assuetos formis inameno advenas contristaret occursu; sed intra suam Scithiam cum fame arida ac pallenti lapidoso in agro, ubi Naso illam statuit, raras herbas dentibus velleret atque unguibus; Francesco Petrarca, Le Senili, hg. v. Guido Martellotti, Turin 1976, S. 1116–1118. Zur humanistischen Polemik gegen die Sklaven (wohlgemerkt nicht gegen die Sklaverei!) vgl. David Wallace, Humanism, Slavery, and the Republic of Letters, in: Helen Small (Hg.), The Public Intellectual, Oxford 2002, S. 62–88; zum Petrarca-Zitat ebd., S. 74–76. 20 John M. Lipski, A History of Afro-Hispanic Language. Five Centuries, Five Continents, Cambridge 2005, S. 16f.; Iris Origo, The Domestic Enemy. The Eastern Slaves of Tuscany in the Fourteenth and Fifteenth Centuries, in: Speculum 30 (1955), S. 321–366, hier S. 338f.; Mario Ferrara, Linguaggio di schiave nel Quattrocento, in: Studi di filologia italiana 8 (1950), S. 320–328; zur Sprache allgemein auch Barker, Merchandise, S. 41–45. 21 Juliane Schiel, Slaves’ Religious Choice in Renaissance Venice: Applying Insights from Missionary Narratives to Slave Baptism Records, in: Archivio Veneto 146 (2015), S. 23–45, hier S. 34f. Dagegen versuchte zuletzt Barker, Merchandise, S. 43f., zu argumentieren. Sie greift die unten noch anzusprechenden Fälle orthodoxer Sklaven auf, die bei ihrer Ankunft in Italien einen neuen (Tauf-)Namen erhielten. Ob das in der Tat seit Papst Martin V. (reg. 1417–1431) belegbare Verbot der (erneuten) Taufe orthodoxer Christen dabei jedoch eingehalten worden ist, kann sie nicht belegen. 22 Epstein, Slavery, S.  14–33; ebd., S. 27, Tab. 1, eine Übersicht über genuesische Sklavennamen des 15. Jahrhunderts. 23 Vgl. die Einleitung zu diesem Sammelband von Andreas Rutz, Fremdheit in städtischen Selbstzeugnissen und Chroniken. Methodische und quellenkundliche Vorüberlegungen, S. 13–28.

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hießen teilweise anders bzw. trugen Namen, die ihren ursprünglichen kulturellen Herkunftszusammenhang verschleiern sollten. Sicherlich verhielten sie sich auch anders. Vor allem aber waren sie fremd im zweiten Sinne: sie gehörten nicht dazu, hatten keine sozialen Verbindungen, konnten nicht auf ein verwandtschaftliches Netz zurückgreifen, das in der Welt der italienischen Kommunen so wichtig war.

3. Sklavinnen in Florentiner Selbstzeugnissen Vor allem diese Fremdheit im sozialen Sinne war für die mehr als prekären Lebensbedingungen der Sklavinnen verantwortlich. Die vollkommene Schutz- und Rechtlosigkeit führte regelmäßig zu sexueller Ausbeutung, oft unter grausamen Umständen, die sich dann zusätzlich auch noch im Umgang mit den Kindern der Sklavinnen fortsetzten.24 Die oben zitierten Register der Waisenhäuser sprachen bereits eine deutliche Sprache. Hier sollen aber nicht weitere Details zu den Lebensumständen der Florentiner Sklavinnen zusammengetragen werden, vielmehr soll im Sinne des Sammelbandes danach gefragt werden, wie diese fremden und rechtlich prekär lebenden Frauen innerhalb der Familien, von denen sie gekauft wurden und für die sie arbeiten mussten, wahrgenommen wurden. Wie wurde ihre Stellung innerhalb der familiären Konstellation verstanden, welche Einstellung legte man ihnen gegenüber an den Tag, wie hat man gegebenenfalls über Fälle sexueller Beziehungen oder den aus diesen hervorgehenden Nachwuchs gedacht? Für diese Fragen stehen im Florentiner Fall mehr Quellen zur Verfügung, als man vielleicht vermuten würde. Auch die Sklavinnen tauchen – wenngleich nicht immer – in den erhaltenen Selbstzeugnissen des Florentiner Spätmittelalters auf. Diese repräsentieren natürlich ausschließlich die Perspektive der Herren und ihrer Familien. Trotz der Dichte der Überlieferung bleiben die Stimmen der Sklavinnen auch im italienischen Spätmittelalter meist stumm.25 Unter diesen Selbstzeugnissen geraten Privatbriefe in den Blick, die durchaus ergiebig sind, wenn sie sich denn erhalten haben. Seit den 1950er Jahren wurde immer wieder der Briefwechsel des Florentiner Kaufmanns Francesco Datini (um 1335–1410) und seiner Frau Margerita herange24

Auf die rechtliche Stellung der Sklavinnen kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, gleiches gilt für die sich vor allem in Prozessakten und kommunaler Gesetzgebung niederschlagenden, vielfach schrecklichen Schicksale dieser Frauen; vgl. dazu ausführlich Epstein, Slavery, S. 62f., 114–139. Zur sexuellen Ausbeutung der Sklavinnen vgl. Ruth Mazo Karras, Unmarriages. Women, Men, and Sexual Unions in the Middle Ages, Philadelphia 2012, S. 68–114; McKee, Slavery, S. 319f.; erstaunlich neutral wird dies gesehen von Barker, Merchandise, S.  77–84; sehr engagiert hingegen Alessandro Stella, Des esclaves pour la liberté sexuelle de leurs maîtres. Europe occidentale, XIVe– XVIIIe siècles, in: Clio. Femmes, Genre, Histoire 5 (1997), http://journals.openedition.org/clio/419 [Stand: 03.01.2021]. 25 Ausnahmen sind die in Gerichtsprotokollen überlieferten Aussagen der Sklavinnen, die als indirekt überlieferte Selbstzeugnisse noch auf eine systematische Erforschung warten; vgl. etwa die bei Barker, Merchandise, S. 26–31, angeführten Fälle, in denen Sklaven ihre Freilassung vor Gericht einforderten.

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zogen, in dem es neben vielen anderen alltäglichen Dingen auch um die Konflikte geht, die Margerita mit der Sklavin Bartholomea auszustehen hatte.26 Das Problem der Datini-Briefe liegt jedoch darin, dass ihre Überlieferung einem extremen Zufall zu verdanken ist, sodass sie eine zwar bemerkenswerte, aber absolut vereinzelte und alles andere als repräsentative Stimme darstellen. Im Folgenden werden daher nicht diese Briefe herangezogen, sondern Formen innerfamiliärer Schriftlichkeit, für die sich in der deutschsprachigen Forschung seit einigen Jahren der Begriff ‚Familienbücher‘ eingebürgert hat.27 Diese sind aus den italienischen Städten – und hier vor allem aus Florenz – in großer Zahl erhalten.28 Sie sind durchaus auch als Vergleichsfall zu den Schriften Hermann Weinsbergs zu verstehen.29 Seit den Studien von Armando Petrucci lässt sich das italienische Material gut anhand eines Entwicklungsmodells strukturieren.30 Ende des 13. Jahrhunderts werden in den Rechnungs- und Kontobüchern der toskanischen Kaufleute immer wieder auch familiengeschichtliche Notizen festgehalten. Im Lauf der Entwicklung der kaufmännischen Schriftlichkeit gliedern sich aus den Rechnungsbüchern im engeren Sinne dann sogenannte Ricordanze aus. Bei diesen handelt es sich um Bücher, in denen meist knapp geschäftliche, aber auch private Inhalte eingetragen wurden, denen gemeinsam ist, dass der jeweilige Buchführende sie für relevant und bewahrenswert hielt. Die Ricordanze, die sich einem einheitlichen Schema aufgrund ihrer Vielfalt entziehen, enthalten regelmäßig ausführliche Nachrichten über familiäre Angelegenheiten: Geburten, Eheschließungen, Todesfälle usw. Sie gleichen damit den deutschsprachigen Familienbüchern, wie sie mit Ulman Stromers (1329–1407) Püchel Ende des 14. Jahrhunderts zuerst in Nürnberg entstehen, und die letztlich die frühen Vorläufer auch der Gedenkbücher Weinsbergs darstellen.31 An der Wende 26

Margherita Datini, Le lettere di Margherita Datini a Francesco di Marco, 1384–1410, hg. v. Valeria Rosati, Prato 1977. Ausgewertet wurden diese Briefe von Origo, Domestic Enemy. 27 Zur Gattung im deutschsprachigen Raum vgl. Birgit Studt, Haus- und Familienbücher, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hg.), Quellenkunde der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, Wien 2004, S. 753–766. 28 Zu diesen liegt mittlerweile neben zahlreichen Editionen eine breite Forschungsliteratur vor; vgl. den Forschungsüberblick von Fulvio Pezzarossa, Memoria e città. Vent’ anni di libri di famiglia, in: Schede umanistiche N.S. 16 (2002), S. 101–123. Grundlegend sind Christian Bec, Les marchands écrivains. Affaires et humanisme à Florence 1375–1434, Paris 1967; Angelo Cicchetti/Raul Mordenti (Hg.), I libri di famiglia in Italia. Geografia e storia, Rom 2001 u. Dies., I libri di famiglia in Italia. Filologia e storiografia letteraria, Rom 1985; Christof Weiand, „Libri di famiglia“ und Autobiographie in Italien zwischen Tre- und Cinquecento. Studien zur Entwicklung des Schreibens über sich selbst, Tübingen 1993; Giovanni Ciappelli, Memory, Family, and Self. Tuscan Family Books and other European Egodocuments (14th–18th Century), Leiden 2014; Raul Mordenti, Les livres de famille en Italie, in: Annales 59 (2004), S. 785–804. 29 Den Vergleich mit den italienischen Formen regt an Birgit Studt, Erinnerung und Identität. Die Repräsentation städtischer Eliten in spätmittelalterlichen Haus- und Familienbüchern, in: Dies. (Hg.), Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien, S. 1–31, insbes. S. 1f. u. 6. 30 Armando Petrucci (Hg.), Il libro di ricordanze dei Corsini (1362–1457), Rom 1965, S. LXII–LXIV. 31 Zu Stromers Püchel Ulman Stromer, Püchel von mein geslecht und von abentewr. Teilfaksimile der Handschrift Hs 6146 des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Kommentarband, bearb. v.

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vom 14. zum 15. Jahrhundert wandeln sich diese thematisch breiten Ricordanze als zweite Stufe zu Libri di famiglia, die sich wesentlich auf familiäre Ereignisse beziehen. Die dritte Stufe stellen veritable Familiengeschichten dar, Cronache familiari, durchgehend erzählende und durchkomponierte Texte, die die Geschichte einer Familie, in der Regel einem genealogischen Gerüst folgend, von den Anfängen in die Gegenwart der Autoren verfolgen. Ricordanze und Libri di famiglia haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie versuchen für die Familie relevantes Material schriftlich zu fixieren und dabei zugleich ein im zeitgenössischen Kontext möglichst positives Bild der jeweiligen Familie zu entwerfen. Sie werden vom Familienoberhaupt geführt, von Generation zu Generation weitergegeben und mitunter erweitert. Die angestrebte Funktion dieser Bücher formuliert prägnant Giovanni Morelli, Verfasser eines der bekanntesten Libri di famiglia, entstanden um 1400: „Ich will auch unsere Kinder oder eigentlich unsere Nachkommen durch wahre Exempel und Dinge, die uns zugestoßen sind, unterrichten; wenn sie sich dies alles selbst vor Augen führen, werden sie mit der Gnade Gottes heilsam vorankommen, wenn auch nicht in allen Dingen, da nicht alle von großer Bedeutung sind, so doch in einigen, teils durch die Hilfe Gottes, teils durch ihren scharfen Verstand.“32

Dabei waren diese Bücher vor allem für eine innerfamiliäre Kommunikationssituation bestimmt: „Ich schreibe das nicht zum Vergnügen auf, auch nicht, um es jemand außenstehendem zu zeigen, damit nicht diejenigen, die nicht zu uns gehören, damit ihren Spott treiben.“33

Aufscheinende Parallelen zum Werk Weinsbergs sind sicher kein Zufall.34 Lotte Kurras, Bonn 1990; Barbara Schmid, Schreiben für Status und Herrschaft. Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Zürich 2006, S. 67–71; Matthias Kirchhoff, Gedächtnis in Nürnberger Texten des 15. Jahrhunderts. Gedenkbücher, Brüderbücher, Städtelob, Chroniken, Nürnberg 2009, S. 23–54; Constantin Groth, Geschäftsbücher des ausgehenden Mittelalters als Ego-Dokumente. Vom Selbstverständnis Nürnberger Bürger in ihren ricordanze, in: Biuletyn Polskiej Misji Historycznej. Bulletin der Polnischen Historischen Mission 8 (2013), S. 469–504, hier S. 473–478. 32 Giovanni di Pagolo Morelli, Ricordi, bearb. u. hg. v. Vittore Branca, Florenz 1956, S. 85: […] volendo in parte ammaestrare i nostri figliuoli o veramente nostri discendenti per vero asempro e per casi intervenuti a noi; ne’ quai ispecchiandosi ispesso, ne riceveranno colla grazia di Dio salute di buono provvedimento, e se none in tutto, ché non sono cose di tanto valore, almeno in alcuna parte mediante l‘aiuto di Dio e il loro buono intelletto. Zur pädagogischen Grundhaltung vieler Familienbuchschreiber vgl. Deborah Pellegrino, „I buoni ammaestramenti che a ogni ora e sopra ogni caso e’ riceverà da lui“. Un nuovo archetipo di padre mercante nei ricordi di Giovanni di Pagolo Morelli, in: Quaderni d’italianistica 35 (2014), S. 27–40. 33 Morelli, Ricordi, S. 176: E questo non si fa per leggere a diletto né per mostrallo ad alcuna persona, che none appartenendosi ad altri che a voi, se ne sarebbe fatto beffe. 34 Vgl. zu Weinsbergs Werk in diesem Sammelband nur den Beitrag von Peter Glasner, geschriben und gemailt. Symbolisierungsformen von Ich- und Wir-Identität bei Hermann (von) Weinsberg (1518– 1597), S. 93–125.

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Ausgangspunkt der folgenden Ausführungen ist die Annahme, dass in dieser Familienbuchschreibung auch die Sklavinnen ihre Spuren hinterlassen haben. Sie lebten in den Haushalten der sozialen Schicht, aus der auch die Verfasser dieser Familienbücher stammten, zudem waren sie in einigen Fällen auch deren Konkubinen und die Mütter ihrer illegitimen Kinder. Erste Sondierungen – um mehr kann es sich hier noch nicht handeln – haben diese Annahme bestätigt.35 Die Sklavinnen kommen vor, wenn auch nicht so zahlreich, wie man es sich für die Forschung erhoffen würde. Die mit Abstand häufigste Form, in der Sklavinnen erwähnt werden, lässt sich aus der Ursprungsfunktion der Texte erklären, die ja vor allem Besitz, Einnahmen und Ausgaben festhielten. Als Besitz bzw. Investition und damit als Erträge erbringender Bestandteil des Familienvermögens werden auch die Sklavinnen in vielen Ricordanze immer wieder erwähnt. Als Beispiel sei aus den Ricordanze des Goro Dati (1362–1435) zitiert, der zum Jahr 1420 neben dem Tod seines Sohnes auch den seiner Sklavin Marta vermerkt: „Die Pest war in unserem Haus, da Gott es so wollte, der alle Dinge wohl versieht. Und sie nahm ihren Ausgang bei unserem Jungen, nämlich bei Ganino, der Ende Juni 1420 [aus diesem Leben schied], und drei Tage danach [starb] Marta, unsere Sklavin.“36

Mehr als den Todestag und die Todesursache erfährt man über die ansonsten nicht erwähnte Marta allerdings nicht. Vergleichbare Belege sollen hier aufgrund der Menge und der Nüchternheit des Materials nicht systematisch verfolgt werden, obwohl durchaus noch interessante Aspekte zu untersuchen wären.37 Einige Ricordanze gehen jedoch über die bloße Nennung des Erwerbs bzw. des Verlusts von Sklavinnen hinaus. So lässt sich etwa anhand der zwischen 1436 und 1485 geführten Ricordanze des Francesco Castellani (1418–1494) der Aufstieg der Sklavin Catherina zur selbstständig wirtschaftenden Bäckerin verfolgen.38 Ähnliche Sklavinnen-Biographien lassen sich aus vielen Städten der Toskana rekonstruieren, wenngleich diese quantitativ gesehen doch immer eine Ausnahme darstellten. Die meisten Sklavinnen hatten kein derart glückliches Schicksal.39 35

Der Beitrag fügt sich in den Zusammenhang eines größeren Forschungsprojektes zur Darstellung von Frauen in italienischen Familienbüchern ein, das am Historischen Institut der Universität Rostock entwickelt wird. 36 Dati, Libri di famiglia, S. 129: La pastilenzia fu in casa nostra, come permise Idio, che provede bene a tutte le cose. E cominciò dal fante, cioè Ganino, [che passò di nostra vita] a l’uscita di giugno 1420; e poi da indi a 3 dì la Marta nostra schiava. 37 Trotz ihrer jeweiligen Besonderheiten könnte man die Familienbücher auch quantitativ auswerten, da neben Preisen und weiteren Details der Erwerbung oft auch Funktionen und Beschäftigungs- bzw. Besitzdauer der Sklavinnen rekonstruiert werden können. 38 Francesco di Matteo Castellani, Ricordanze, hg. v. Giovanni Ciappelli, Florenz 1992, S. 91, Miete des forno durch die schiava 1444: Ànne dato a dì 6 di marzo 1444 lb. nove per lui da mona Catherina schiava, sta in una parte di detto forno a sua pigione; ebd., S. 145 (zu 1451) wird diese als Mieterin (pigionale) bezeichnet; zudem wird vermerkt, dass sie in dem Backhaus auch gewohnt habe (dove abita in detto forno). Im Gegensatz zum Eintrag von 1444 wird sie 1451 nicht mehr explizit als schiava bezeichnet, was darauf hindeuten könnte, dass sie in der Zwischenzeit freigelassen wurde. 39 Vgl. zur Freilassung Barker, Merchandise, S. 84–90.

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Insgesamt muss an dieser Stelle mit Blick auf die Bewertung der Sklaverei im spätmittelalterlichen Italien festgehalten werden, dass in den hier untersuchten Selbstzeugnissen der Sklavenhalter nahezu immer nur die positiven bzw. harmlosen Seiten der Sklaverei zur Sprache kommen. Die aus den Gerichtsakten bekannten, furchtbaren Gewalttaten gegenüber Sklavinnen und nicht zuletzt ihre mehr als prekäre Stellung in den städtischen Gesellschaften wird in den Libri di famiglia nicht angesprochen. Viel erfährt man aus den Erwähnungen von Sklavinnen als Investi­ tionsposten jedoch nicht. Insbesondere bleibt die Rolle der Sklavinnen in den Haushalten der Familienbuchführenden im Dunkeln. Dieser kommt man mit einer zweiten Reihe von Belegen näher, die an der Schwelle zwischen bloßer wirtschaftlicher Buchführung und Aufzeichnungen zur Familiengeschichte stehen.

4. Versklavte Ammen in den Familienbüchern Regelmäßig werden in den Ricordanze Ausgaben für Ammen aufgezählt, häufig mit genauer Beschäftigungsdauer, den anfallenden Kosten und vor allem den Namen und der Herkunft der entsprechenden Ammen.40 Unter diesen Ammen finden sich nun auch zahlreiche Sklavinnen, die interessanterweise in der Regel von den Familien nicht gekauft, sondern nur gemietet wurden. In Florenz scheint sich ein regelrechter Ammen-Markt mit signifikantem Anteil von Sklavinnen ausgebildet zu haben. So führen die dell’Antella in ihren Ricordanze zwischen 1375 und 1378 zahlreiche Ammen auf, die sie für das Stillen ihrer Kinder engagiert hatten. Unter diesen befanden sich auch drei Sklavinnen.41 Interessant ist dabei, dass der Preis für die Dienste der Sklavinnen der gleiche war, der auch für die freien Ammen gezahlt werden musste, wobei natürlich zu vermuten ist, dass die Zahlungen für die Sklavinnen an deren Besitzer gingen und nicht an die Sklavinnen selbst. Letztere wurden jedoch von Guido zusätzlich noch mit Schuhen und Kleidung ausgestattet, hatten also zumindest einen bescheidenen persönlichen Vorteil aus dieser Tätigkeit.42

40

Vgl. allgemein zu den Ammen für Florenz Christiane Klapisch-Zuber, Parents de sang, parents de lait. La mise en nourrice à Florence (1300–1530), in: Annales de démographie historique (1983), S. 33–64; für Genua Cluse, Slave Women. 41 In den von Guido dell’Antella und seinen Nachfahren geführten Ricordanze ist ein ganzer Abschnitt mit Serve, balie e schiave (Dienerinnen, Ammen und Sklavinnen) überschrieben; Ricordanze di Guido di Filippo di Ghidone dell’Antella, e de’ suoi Figlioli e Discendenti, hg. v. C. Milanesi, in: Archivio Storico Italiano 4 (1843), S. 3–24, hier S. 15–18. 42 Ebd., S. 15 (Margherita schiava), 16 (Maddalena schiava), 17 (Catherina schiava). Margherita erhielt pro Jahr 30 Lira, Maddalena 14 fl., Catherina 15 ½ fl.; die freien Ammen erhielten für den gleichen Zeitraum 6 fl., 16 fl., 8 ½ fl., 16 fl., 42 Lira bzw. 36 Lira. Wie es zu den unterschiedlichen Preisen kam, kann nicht bestimmt werden. Ein Unterschied zwischen versklavten und freien Ammen bestand aber offenbar nicht.

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Auch im Hause des schon erwähnten Francesco Castellani wurde im Mai 1450 die Sklavin Catherina für den nicht ungewöhnlichen Preis von 18 fl. pro Jahr als Amme für seine Tochter Maria engagiert.43 Erwähnt wird hier explizit, wie die Auswahl der Amme vonstattenging: Vermittelt wurde die Sklavin durch einen gewissen Rustico, einen Krämer (rigatiere), der offensichtlich auch auf dem Ammen-Markt tätig war. Ausgesucht – und wahrscheinlich zuvor begutachtet – wurde sie jedoch durch die Mutter Francescos, also durch die Großmutter des zu stillenden Kindes.44 Interessant ist im vorliegenden Fall, dass hier zumindest schemenhaft die Stellung dieser gemieteten Sklavin im Haushalt der Castellanis erkennbar wird. Castellani hat die Lebensumstände Catherinas auch über das Dienstverhältnis hinaus verfolgt. Auf der ersten Seite des ersten Bandes seiner Aufzeichnungen, die von 1436 bis 1459 reichen, hat er im November 1452 einen Nachtrag eingefügt, der die Freilassung der Catherina durch ihre Besitzerin sowie den das entsprechende Dokument ausfertigenden Notar vermerkt. Diesen Eintrag hat er später noch einmal korrigiert, ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung, die er der Freilassung Catherinas beimaß.45 Über die Motive, die ihn veranlassten, das Datum und die Umstände der Freilassung der (ehemaligen) Amme in die Ricordanze nachzutragen, kann man leider nur spekulieren. Naheliegend ist, von einem besonderen persönlichen bzw. affektiven Verhältnis zwischen der Familie bzw. den Eltern und der Amme auszugehen, die – soweit erkennbar – die Tochter innerhalb des Haushalts der Castellanis versorgt hatte. Eventuell steht dahinter zudem das auch aus anderen Zusammenhängen bekannte besondere Verhältnis zwischen Amme und gestilltem Kind. Sichere Aussagen kann man auf der Basis dieses einen Falles allerdings noch nicht treffen.

5. Mit Sklavinnen gezeugte Kinder in den Familienbüchern Die Frage der Relevanz des rechtlichen und sozialen Status der Frauen betrifft prinzipiell auch das am besten in den Familienbüchern zu fassende Phänomen: die mit Sklavinnen gezeugten illegitimen Kinder. Nicht alle diese Kinder wurden einem Hospital übergeben oder Pflegeeltern anvertraut, die sich außerhalb der Stadt um den unerwünschten Nachwuchs kümmerten. Vielmehr wuchsen viele von ihnen im Haushalt ihrer Väter auf.

43

Castellani, Ricordanze, S. 128: a nostro piacimento, e per quel più o meno bisognassi alla fanciulla, dandogli latte sano. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 63. Die Sklavin-Amme war bis zu diesem Zeitpunkt im Besitz der Ginevra d’Antonio Redditi, gehörte also nicht der Familie Castellani. Wahrscheinlich erfolgte der Eintrag zu einem Zeitpunkt, als seine Tochter nicht mehr von Catherina gestillt wurde. Durchschnittlich wurden Mädchen im spätmittelalterlichen Florenz 19,6 Monate lang gestillt (Jungen übrigens 21 Monate); Klapisch-Zuber, Parents de sang, S. 55. Ob die Amme Catherina identisch ist mit der oben erwähnten Mieterin des Backhauses, kann nicht zweifelsfrei belegt werden. Beide werden als schiava bezeichnet.

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Entsprechend wurden die Kinder auch in den Familienbüchern unterschiedlich behandelt. Während die in außerehelichen Beziehungen gezeugten Kinder in den meisten Fällen wohl schlicht verschwiegen wurden, lässt sich teilweise jedoch auch ein regelrecht offensiver Umgang mit dem illegitimen Nachwuchs beobachten. So vermerkt etwa der Kaufmann Goro Dati, dass er nach dem Tod seiner ersten Frau in Valencia einen illegitimen Sohn gezeugt habe: „In Valencia habe ich einen illegitimen männlichen Knaben mit der Tartarin Margherita gezeugt, die ich zuvor gekauft hatte. Er kam am 21. Dezember 1391 in Valencia am Tag des hl. Thomas zur Welt, sodass er von diesem den Namen bekam. Ich war damals in Spanien. Im März darauf sandte ich ihn mit dem Schiff des Felice del Pace nach Florenz. Gott lasse ihm Gutes widerfahren.“46

Gerade die temporär fern von ihren Familien im iberischen Raum lebenden toskanischen Kaufleute scheinen sich regelmäßig Sklavinnen als Konkubinen zugelegt zu haben; später wird noch ein weiterer in einem Familienbuch erwähnter Fall zu diskutieren sein. Im Falle Goro Datis ist neben der Erwähnung des illegitimen Nachwuchses vor allem interessant, was im Familienbuch ausgeblendet wird. Die Mutter des Kindes und ihr ethnischer Hintergrund werden zwar erwähnt, auch wird das weitere Schicksal des kleinen Tommaso angedeutet, der als dreimonatiges Baby mit einem Schiff nach Florenz geschickt wurde, während der Vater noch in Valencia blieb. Von der Mutter des Kindes erfährt man im weiteren Verlauf jedoch überhaupt nichts mehr, obwohl anzunehmen ist, dass sie zusammen mit dem Säugling in die Toskana reiste. Die Sklavin scheint Goro keine weitere Erwähnung wert gewesen zu sein. Der illegitime Nachwuchs gehörte so zwar trotz der Umstände seiner Zeugung irgendwie zur Familie, für die Mutter galt das jedoch nicht.47 Obwohl der am Ende des Eintrags stehende Segenswunsch den Eindruck erzeugt, als habe sich Goro später nicht weiter um das Kind gekümmert, nennt er jedoch Tommaso/Maso 1422 in einer Liste aller seiner Kinder:

46

Dati, Libri di famiglia, S. 104: Ebi a Valenza .J. fanciullo maschio non legittimo di Margherita tartera comperata per me; a dì .XXJ. di dicembre 1391 naque in Valenza il dì di santo Tommaso, e così ebbe nome. Io era in Spagna. Poi di marzo lo mandai a Firenze per la nave di Filice del Pace. Idio lo facci buono. 47 Dass es sich bei der 1420 an der Pest gestorbenen Sklavin Marta (>Margerita?) um die gleiche Person handelt, ist jedoch möglich; Dati, Libri di famiglia, S. 129. Eine andere Perspektive auf die Beziehungen zwischen Sklavinnen und ihren Herren, die die Handlungsmacht der Sklavinnen betont, findet sich bei Debra Blumenthal, Masters, Slave Women and Their Children. A Child Custody Dispute in 15th-Century Valencia, in: Stefan Hanss/Juliane Schiel (Hg.), Mediterranean Slavery Revisited (500–1800) / Neue Perspektiven auf mediterrane Sklaverei (500–1800), Zürich 2014, S. 229–256. Ihre Befunde werden durch die entsprechenden Passagen der Florentiner Familienbücher allerdings nicht bestätigt.

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„Die Kinder, die ich hatte. Der erste, wenn er auch illegitim ist (jedoch war ich nicht verheiratet), ist in Valencia geboren, wie vorne auf Blatt 4 zu lesen ist, am 21. Dezember 1391, und das war Maso. [Es folgen die weiteren Kinder.] Von diesen Kindern bleiben mir in diesem Jahr nur noch Maso und Bernardo und Girolamo sowie Ghita und Berta. Für alle sei Gott gepriesen, Amen!“48

Goro hatte also durchaus noch Kontakt zu Maso, der wahrscheinlich sogar im Haushalt seines Vaters lebte. Schon der Einschub Goros in seiner Kinderliste, er sei zur Zeit dieser Zeugung nicht verheiratet gewesen, relativiert in gewisser Weise die Illegitimität des Sohnes. Gänzlich verwischt sich dieser Geburtsmakel dann, wenn er Maso am Ende der zitierten Passage ohne weitere Kennzeichnung an der Spitze seiner noch lebenden Kinder aufführt und Gott ohne Unterschied für alle fünf dankt. Auch in dieser Kinderliste erscheint Masos Mutter nicht, während die der ehelichen Kinder durchgehend genannt werden. Vor allem wird nicht erwähnt, dass Maso Sohn einer Sklavin war.49 Dahinter steht sicher der Versuch Goros, die genauen Umstände der Geburt seines ersten Sohnes zu verschleiern, jedenfalls soweit sie für den Sohn negativ ausgelegt werden konnten. Die illegitime Geburt wird, wie bereits erwähnt, schon dadurch abgeschwächt, dass explizit gesagt wird, dass Goro zu diesem Zeitpunkt nicht verheiratet, Maso also nicht Ergebnis eines Ehebruchs war. Da die Abstammung von einer Sklavin zusätzlich ehrmindernd gewesen wäre, wird sie ebenfalls ausgeblendet. Hinzu kommt, dass die versklavte Mutter im Funktionszusammenhang des Familienbuchs auch gar nicht von Bedeutung war: Während es für seine legitimen Kinder hilfreich war, auch ihre mütterliche Verwandtschaft zu kennen und gegebenenfalls auf diese Verbindungen zurückgreifen zu können, fällt diese Möglichkeit für den Sklavinnen-Sohn aus. Als Sklavin war seine Mutter aus dem verwandtschaftlichen Netz ihrer Herkunftsfamilie herausgerissen, sodass diese als „sozial Tote“50 für den Sohn in diesem Sinne wertlos war. Insgesamt findet sich bei Goro Dati jedoch keine Scham über die außereheliche Verbindung, wie sie in dem oben zitierten Zettel ausgesprochen wurde, der einem ins Ospedale degli Innocenti abgeschobenen Sklavenkind mitgegeben wurde. Vergleichbares zeigt sich in den seit 1446 entstandenen Ricordanze des Bongianni Gian­

48

Dati, Libri di famiglia, S. 131: I figliuoli che ò avuti. Fu il primo, ben che non fosse legiptimo, ma io non avea donna, nato a Valenza, come appare adietro, cart .IIIJ°., l’anno 1391 dì 21 di dicembre, e questo è Maso. […] [zählt nun seine weiteren 20 Kinder aus drei Ehen auf] […] de’quali questo anno me ne resta Maso e Bernardo e Girolamo, e la Ghita e la Betta. Di tutti sia lodato Idio, amen. 49 Im Gegensatz zum römischen Recht, das den Sohn einer versklavten Mutter ebenfalls zum Sklaven gemacht hätte, hat sich in vielen Städten Italiens eine andere Rechtsvorstellung herausgebildet: die Kinder von Sklavinnen und freien Vätern erbten den freien Rechtsstatus ihrer Väter; vgl. Sally McKee, Inherited Status and Slavery in Renaissance Italy and Venetian Crete, in: Past and Present 182 (2004), S. 31–54; Cluse, Frauen, S. 7f.; Barker, Merchandise, S. 82f. Barker führt dies auf den Einfluss muslimischer Rechtspraxis zurück, der zufolge die anerkannten Kinder eines Freien mit einer Sklavin nicht nur frei, sondern auch legitim (und damit erbberechtigt) waren; ebd. S. 62, 82f. 50 Vgl. das Konzept des ‚social death‘ als zentrale Bestimmung des Sklaven-Status bei Patterson, Slavery, insbes. S. 5–9.

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figliazzi (1418–1484).51 Bongianni ging hier noch offensiver mit seinen illegitimen Kindern um, indem er diese als Liste an den Beginn seiner Ricordanze und damit noch vor die Aufzählung seiner ehelichen Kinder stellte: „Nicht legitime Kinder: Im Jahr 1444 hatte ich einen Bastard-Sohn mit Namen Giovanni auf Mallorca. Er starb im selben Jahr. 1445 hatte ich einen Bastard-Sohn auf Mallorca mit Namen Francesco. Er starb im selben Jahr. 1445 hatte ich eine Bastard-Tochter, die zusammen (als Zwilling) mit dem vorgenannten Francesco geboren wurde, und sie hieß Catherina. 1456 hatte ich einen Bastard-Sohn mit Namen Francesco auf Sizilien. Er starb im selben Jahr. 1461 hatte ich einen Bastard-Sohn in Florenz mit Namen Giorgio. Er wurde im Januar 1461 geboren. Er starb im Januar 1465.“52

Vier seiner unehelichen Kinder wurden außerhalb von Florenz gezeugt – auf Sizilien und Mallorca, jeweils Inseln, die für ihre großen spätmittelalterlichen Sklaven-Populationen bekannt sind.53 Von diesen illegitimen Kindern überlebte nur Catherina, die – wie man aus zahlreichen weiteren Einträgen erfährt – zunächst bei ihrem Vater in Florenz lebte.54 Später wurde sie von ihrem Vater sogar mit einer passablen Mitgift ausgestattet: „Erinnerung, dass ich am 15. April 1447 die Dos für eine meiner Töchter mit Namen Catherina auf dem Monte delle Doti hinterlegt habe. Diese ist zurzeit auf Mallorca, sie ist Tochter der Agniesa, meiner Serva, Tochter des Piero di Giovanni di Rossia.“55

Auch nachdem Catherina an einen Krämer verheiratet worden war,56 nahm Bon­ gianni weiter Anteil an ihrem Leben. So stattete er auch seine von Catherina zur Welt gebrachte Enkelin mit einer Mitgift aus.57

51

Il Libro rosso seghreto di Bongianni Gianfigliazzi. Famiglia, affari e politica a Firenze nel Quattro­ cento, hg. v. Luciano Piffanelli, Roma 2014, S. XI. 52 Gianfigliazzi, Libro rosso, S. 131: Figliuoli Non ligittimi. † Nel 1444 Ebbi uno figliuolo bastardo per nome Giovanni in Maiolicha. Morì in detto anno. † Nel 1445 Ebbi uno figliuolo bastardo in Maiolicha per nome Franciescho. Morì in detto anno. Nel 1445 Ebbi una figliuola bastarda e nacque a uno chorpo con Franciescho di sopra, per nome Chaterina. † Nel 1456 Ebbi uno figliuolo bastardo per nome Franciescho in Sigilla. Morì in detto anno. † Nel 1461 Ebbi uno figliuolo bastardo in Firenze per nome Giorgio. Nacque di Gennaio 1461. Morissi in 1465 di Gennaio. 53 Zu Sizilien vgl. Henri Bresc, Un monde méditerranéen. Économie et société en Sicile, 1300–1450, Rom 1986, S. 439–463; Laura Sciascia, Schiavi in Sicilia. Ruoli sociali e condizione umana, in: María Teresa Ferrer i Mallol/Josefina Mutgé i Vives (Hg.), De l’esclavitud a la llibertat. Esclaus i lliberts a l’edat mitjana, Barcelona 2000, S. 527–547; zu Mallorca Kevin Mummey, Women, Slavery, and Community on the Island of Mallorca, ca. 1360–1390, Minneapolis 2013; Ders., Paradise. 54 Gianfigliazzi, Libro rosso, S. 32. 55 Ebd., S. 134: Richordo che a dì 15 d’Aprile 1447 ò fatto dote sul Monte a una mia figliuola per nome Chaterina, che al presente è a Maiolicha, per madre figliuola d’Agniesa mia serva, figliuola di Piero di Giovanni di Rossia. 56 Ebd., S. 141. 57 Ebd., S. 147.

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Dass Catherinas Mutter eine Sklavin war, erwähnt Bongianni an keiner Stelle explizit. Er spricht nur – vermutlich bewusst uneindeutig – von einer seiner Dienerinnen (serva).58 Mehrere Indizien sprechen jedoch dafür, dass diese Serva eine Sklavin war. Zunächst deutet hierauf der genannte Geburtsort Catherinas hin. Wie bereits erwähnt, haben zahllose Italiener während ihrer Handelstätigkeit auf den Balearen und dem spanischen Festland Kinder mit dort erworbenen Sklavinnen gezeugt.59 Hinzu kommt der Name der Serva: Agniesa, figliuola di Piero di Giovanni de Rossia. Während das Patronym di Piero di Giovanni auch von einer Florentinerin geführt werden könnte, weist der Beiname de Rossia – also „aus Russland“ – in eine andere Richtung. Agniesa war wohl eine der zahlreichen russischstämmigen Frauen, die über die Sklavenmärkte der Krim in den mediterranen Sklavenhandel gelangt waren. Auch in den Florentiner Sklavenregistern finden sich viele Namen russischer bzw. tartarischer Sklaven, die auf eine ursprünglich christliche bzw. orthodoxe Herkunft hindeuten.60 Die hellhäutigen russischen Frauen erzielten auf den Märkten in der Regel Spitzenpreise.61 Nach dem, was die Analyse des Familienbuchs Goro Datis ergeben hat, überrascht natürlich nicht mehr, dass auch Bongianni den Status seiner mallorquinischen Konkubine verschwiegen hat. Die Abstammung von einer Sklavin stellte wohl einen Makel dar, der Catherinas Wert auf dem Heiratsmarkt neben ihrer ohnehin schon illegitimen Geburt noch zusätzlich geschmälert hätte. Daher nennt Bongianni Catherinas Mutter bloß seine Serva, obwohl der in dieser Zeit schon eingebürgerte Begriff ‚schiava‘ natürlich präziser gewesen wäre. Teilweise zielt auch die Nennung des Patronyms der Mutter Catherinas in diese Richtung. Hinzu kommt jedoch auch hier die oben schon angesprochene genealogische Isolierung der Sklavin: Die radikale Trennung der verschleppten Sklavinnen und Sklaven von ihren Herkunftsfamilien war nicht zuletzt ein entscheidender Nachteil bei der Anbahnung einer Heiratsverbindung auf dem Heiratsmarkt von Florenz, da dieser stark durch die Familienverbindungen der potenziellen Ehepartner geprägt war.62 Auch deshalb ‚erfindet‘ Bongianni einen toskanisch klingenden 58

Ebd., S. 134. Vgl. Origo, Domestic Enemy, S. 331f., zu Belegen aus den Datini-Archiven; zu Verbindungen zwischen Sklavinnen und Freien in Valencia Debra Blumenthal, Enemies and Familiars. Slavery and Mastery in Fifteenth-Century Valencia, Ithaca 2009, S. 173–192, 259–264. 60 Eindeutig wohl der Sklave de genere tartarorum, nomine in tartarescho Dimitri […] pelle et barba rubeis sowie die zusammen mit diesem eingetragene Sklavin nomine in tartarescho Margheretam, Livi, Schiavitù, S. 172, Nr. 131 u. 132. Zwei ‚tartarische‘ Sklavinnen heißen vor ihrer Umbenennung durch die italienischen Besitzer Erina, ebd., S. 153, Nr. 30 (Irina/Irene?); eine andere Nastasia, ebd., S. 188, Nr. 214, eine weitere Ysabette (Jelisabeta?), ebd., S. 189, Nr. 219. Auch in den oben bereits erwähnten Florentiner Sklavenregistern findet sich regelmäßig die Gleichsetzung de Rossia/aus Russland und tartarischer Herkunft: De progenie tartarorum sive de Rossia, Livi, Schiavitù, S. 154, Nr. 34 und öfter. Zu (russisch-)orthodoxen Sklaven vgl. Barker, Merchandise, S. 22f.; ebd. S., 24f. zu Argumentationen christlicher Sklavenhalter, die hierin keinen Gegensatz zum Verbot der Versklavung von Christen sahen. 61 Epstein, Slavery, S. 188–191; tabellarische Übersichten über die Preise der unterschiedlichen Phänotypen bzw. ethnischen Zugehörigkeiten bei Barker, Merchandise, S. 105–112. 62 Vgl. zum Zusammenhang zuletzt Cluse, Frauen, S. 11f. 59

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Namen, der zumindest die Fiktion der patrilinearen Verwandtschaft erzeugt, obwohl den meisten Zeitgenossen wohl klar sein musste, was mit „de Rossia“ gemeint war bzw. was diese Herkunft über den Status der mütterlichen Verwandtschaft Catherinas bedeutete. Wie Goro Datis Sohn Maso war auch Catherina trotz ihrer illegitimen Geburt Teil der Familie, in die sie durch ihren Vater hineingeboren worden war. Es gab eben nicht nur die in den Quellen besser zu fassenden tragischen Schicksale der ausgesetzten Kinder des Ospedale degli Innocenti. Zahlreiche Kinder von Sklavinnen wurden in die Familien ihrer Väter integriert. Vergleichsweise prominente Beispiele sind die Tochter, die der bekannte Francesco Datini (um 1335–1410) mit seiner Sklavin zeugte,63 oder der später eine geistliche Karriere einschlagende Carlo de’ Medici (1428/30–1492), den Cosimo de’ Medici (1389–1464) ebenfalls mit einer Sklavin gezeugt hatte.64 Gleichwohl zeigt gerade das zuletzt vorgeführte Beispiel der Tochter des Bongianni Gianfigliazzi in aller Deutlichkeit, dass mit der Abstammung von einer Sklavin doch ein Makel verbunden war, den man zu verbergen suchte. Dies dokumentiert auch der letzte Fall, der hier angesprochen werden soll. Eines der bekanntesten Florentiner Familienbücher sind die Ricordi des Giovanni di Pagolo Morelli (1371–1444), die dieser zwischen 1393 und 1411 verfasste. Morelli rekonstruiert in diesem Buch die Geschichte seiner Familie von den Anfängen im 12. Jahrhundert bis in seine Zeit. Dabei leitet ihn ein ähnlicher Wille zur Vollständigkeit wie Hermann Weinsberg, wenn auch seine Fantasie nicht ganz so starke Blüten getrieben hat. Giovanni Morelli berichtet neben vielem anderen auch von seinem Cousin Bernardo di Giovanni Morelli, der im Jahr 1400 ohne legitime Kinder verstorben war. Bernardo habe jedoch, so erfahren wir, einige illegitime Kinder gezeugt: „Er hatte niemals Kinder von Simona, seiner Frau, jedoch viele illegitime, zum Teil von einer recht angesehenen Frau, zum Teil von einer Sklavin, die ihm gehörte und die sehr schön war, und die er danach im Mugello [einem Landgebiet nördlich von Florenz] verheiratete: ich möchte sie [also die Kinder] nicht namentlich aufführen, denn eine solche Abstammung ist nicht ehrenhaft, auch wenn sie auf ihre Weise gute Leute sind.“65 63

Zu Datinis Tochter vgl. Iris Origo, „Im Namen Gottes und des Geschäfts.“ Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance, München 1985, S.  152f.; Joseph Patrick Byrne/Eleanor A. Congdon, Mothering in the Casa Datini, in: Journal of Medieval History 25 (1999), S. 35–56, hier S. 47f. 64 Franco Cardini, The Chapel of the Magi in Palazzo Medici, Florenz 2001, S. 43; Gaetano Pieraccini, La stirpe de’ Medici di Cafaggiolo, Bd. 1, Florenz 1924, S. 89f. Zu Carlo und seiner Mutter zuletzt James Henry Beck, Cosimo’s Four Slaves, in: Irene Cotta/Francesca Klein (Hg.), I Medici in rete. Ricerca e progettualità scientifica a proposito dell’archivio Mediceo avanti il Principato, Florenz 2003, S. 179–184; Barker, Merchandise, S. 81. Carlos Mutter wird als dunkelhäutige Tscherkessin beschrieben, Carlo selbst erscheint in einigen Bildwerken der Frührenaissance, so etwa auf Benozzo Gozzolis (ca. 1420–1497) „Zug der Heiligen Drei Könige“ in der Kapelle des Palazzo Medici; zudem hat sich ein Portrait Carlos aus der Hand Andrea Mantegnas (1431–1506) erhalten. 65 Morelli, Ricordi, S. 162f.: Non ebbe mai figliuoli della Simona, cioè della sua donna: ebbene molti non legittimi, parte d’una donna assai da bene, e parte d’una ischiava era sua, assai bella, e di poi la maritò in Mugello: non gli vo’nominare, perché non è onesto si fatta ischiatta, come ch’e’ sieno di buona condozione assai, secondo loro essere.

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Dass Giovanni Morelli die Namen dieser Kinder später dann doch noch nennt, ohne jedoch deren Mütter noch einmal zu erwähnen, fügt sich unmittelbar in das Bild ein, das die Analyse der Familienbücher Goro Datis und Bongianni Gianfigliazzis ergeben hat.66 Die illegitimen Kinder werden von den Autoren der Familienbücher trotz allem als Teil der Familie betrachtet. Gleiches gilt für deren Mütter wie selbstverständlich nicht. Bezüglich der Bewertung illegitimer Geburt im spätmittelalterlichen Florenz muss man jedoch noch einmal an die oben schon zitierten Aussagen Morellis zur Funktion und zum anvisierten Publikum der Familienbücher erinnern: diese waren ausschließlich für die innerfamiliäre Kommunikation gedacht. Man wird annehmen dürfen, dass nicht zuletzt dieses eingeschränkte Publikum dazu führte, dass die Väter, aber auch die anderen Verwandten der Sklaven-Kinder deren Existenz in ihren Familienbüchern dokumentierten. Sie wurden von der Familie als Teil der Familie betrachtet. Ob man sich in allen Fällen auch nach außen zu diesen Resultaten außer­ ehelicher Verbindungen mit Sklavinnen bekannt hätte, lässt sich zumindest auf der Basis des hier ausgewerteten Materials nicht sagen.

6. Zusammenfassung Die hier untersuchten Libri di Famiglia ermöglichen eine alternative Perspektive auf die Stellung der versklavten Frauen in den Florentiner Familien des 14. und 15. Jahrhunderts, als die bislang fast ausschließlich herangezogenen Gerichtsakten und sonstigen offiziellen Zeugnisse. In letzteren erscheinen die Sklavinnen durchgehend als Opfer, in selteneren Fällen auch als Täterinnen, immer jedoch im Zusammenhang mit Delinquenz. Die Familienbuchüberlieferung bietet hier ein wichtiges Korrektiv, das allerdings noch lange nicht ausgeschöpft ist. Zugleich ist zu bedenken, dass in den hier untersuchten Selbstzeugnissen der Sklavenhalter nahezu immer nur die positiven bzw. unproblematischen Seiten der Sklaverei zur Sprache kommen. Dementsprechend ist davor zu warnen, von diesem Material ausgehend ein vergleichsweise harmloses bzw. gar harmonisches Bild der Integration der Sklavinnen in die Florentiner Haushalte zu entwerfen. Nicht zuletzt aufgrund der Funktion dieser Texte konnten Skandale oder gar die aus anderen Quellen bekannten Misshandlungen der Sklavinnen in den Familienbüchern nicht zur Sprache kommen.

66

Ebd., S. 164: Morì di pistolenza in pochi giorni. Rimase di lui cinque figliuoli, tre maschi e due femmine: il primo de’ maschi è nominato Dino, il secondo Cetta e ‘l terzo Benedetto.

Sklavinnen im Spiegel der Florentiner Familienbuchüberlieferung

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Darüber hinaus seien drei Aspekte noch einmal hervorgehoben: 1. Die Sklavinnen lassen sich in den Familienbüchern oft nur schwer als solche identifizieren. In den meisten Fällen wird über sie nicht anders geschrieben als über die frei geborenen Dienerinnen und Mägde. Interessant ist dabei vor allem die Ammen-Funktion: Gerade die für freie und versklavte Ammen gleichen Preise zeigen deutlich, dass zumindest die Kunden hier keinen Unterschied sahen bzw. machten. 2. Insgesamt wird auch die Fremdartigkeit der Sklavinnen an keiner Stelle direkt angesprochen. Nur in zwei Fällen wird die ethnische Herkunft überhaupt erwähnt, ein fremdartiges Aussehen wird nie thematisiert. Vor diesem Hintergrund wären die bereits intensiv von der Forschung herangezogenen Datini-Briefe noch einmal neu zu lesen. In diesen wird regelmäßig der schlechte Charakter der Sklavin Bartholomea erwähnt. Ob dies – wie die bisherige Forschung angenommen hat – allerdings wirklich damit zusammenhängt, dass Bartholomea eine Sklavin war, oder ob hier nicht vielmehr ein allgemeines Problem mit charakterstarkem Dienstpersonal vorlag, müsste mit Blick auf die vorgestellten Befunde noch einmal diskutiert werden. 3. Die Kinder, die die Familienbuch-Schreiber mit ihren Sklavinnen gezeugt hatten, werden durch die Texte in die familiäre Solidargemeinschaft eingeschrieben. Zwar werden auffälligerweise die versklavten Mütter in der Regel nicht weiter erwähnt. Die illegitimen Kinder selbst werden aber durchaus nicht aus Scham verschwiegen, sondern teilweise sogar nahe an die ehelichen Kinder herangerückt. Der Preis hierfür war aber wohl notwendigerweise gerade das Ausblenden bzw. Verdrängen der Mütter, über deren weiteres Schicksal zumindest die Familienbücher nicht mehr berichten. Hier lässt sich der Kreis zu der eingangs zitierten Passage aus den Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs schließen. Auch der Kölner Chronist verliert im Laufe der Jahre nur wenige Worte über die Mutter seiner illegitimen Tochter, während er Engin selbst immer wieder erwähnt. Trotz aller Einschränkungen werden auch Hermanns private Aufzeichnungen ähnlich wie die hier vorgeführten italienischen Libri di famiglia zu einem Ort der Konstruktion familiärer Zugehörigkeit. Dass Anna/ Engin jedoch für Hermanns familiär-genealogische Zukunftsentwürfe keine Rolle spielt, markiert zugleich den Unterschied zur Situation in Florenz.

‚WELSCH‘ ODER ‚TEUTSCH‘? SPIELRÄUME DER IDENTIFIKATION UND ABGRENZUNG IN NÜRNBERGER SELBSTZEUGNISSEN ZUM ITALIENSTUDIUM UM 1500 Simon Siemianowski

1. Einleitung Als der siebzehnjährige Nürnberger Christoph Kress (1541–1583)1 im September 1559 Bologna erreichte, verkaufte er sein Pferd, kleidete sich von dem Erlös der landtsarth nach und suchte sich einen welschen meister, der ihm neben seinen anderen Studien jeden Tag eine Stunde lang in der Sprache unterrichten sollte.2 Bereits im Dezember des Vorjahres hatte Kress in einem Brief aus Leipzig seinen Vater in Nürnberg darum gebeten, er möge ihn bald aus Deutschlandt verschicken, damit er neben einer weiteren Sprache auch fremder leut sitten vnd geberdt erkennen vnd lernen mocht.3 Den ersten Eindruck von seinem neuen Studienort schilderte Christoph am Tag nach der Ankunft seinem Vater in einem kurzen Brief. Demnach habe Gott der Almechtig Italiam an etlichen orten gestraft, denn eine Dürre sorge derzeit für eine große Teuerung der Brotpreise, ansonsten aber gefalle ihm die gelegenheit des orts, auch die sprach, mores vnd sitten gut, nur vor der großen Prachtentfaltung müsse man sich hüten.4 1

Der spätere Nürnberger Ratsherr und Bürgermeister wird teilweise auch als Christoph III. Kress von Kressenstein zu Kraftshof und Rezelsdorf bezeichnet, um ihn von seinem Vater (1514–1560), seinem Großvater (1491–1529) und weiteren Trägern dieses Namens zu unterscheiden; vgl. Karl Friedrich von Frank zu Döfering, Die Kressen. Eine Familiengeschichte, Schloss Senftenegg 1936, zu Christoph III. Kress, ebd., Sp. 352–357. 2 Georg Kress, Briefe eines Nürnberger Studenten aus Leipzig und Bologna, in: MittVGNürnberg 11 (1895), S. 97–172, hier S. 142f. Die Edition beruht auf den im Familienarchiv Kress erhaltenen Originalen: Briefe an seinen Vater Christoph II. Kress 1556–1560; Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Kress-Archiv, XXXIII, N. Zur Kleidung von Kress vgl. jetzt Jutta Zander-Seidel, Appro­ priating the World through Clothing: Christoph Kress’s Foreign Dress Collection, in: Heike Jenss/ Viola Hofmann (Hg.), Fashion and Materiality. Cultural Practices in Global Contexts, London/New York 2020, S. 78–95, hier S. 82. 3 Kress, Briefe, S. 133. 4 Ebd., S. 141f.

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In den 19 überlieferten Briefen, die Christoph Kress bis zum August des Folgejahres aus Bologna nach Nürnberg schickte, verortet er viele seiner Erfahrungen, indem er sie welschen Menschen und Bräuchen oder Italien insgesamt zuschreibt.5 Direkte Vergleiche6 Bolognas mit seiner Heimatstadt Nürnberg oder seinem vorherigen Studienort Leipzig finden sich hingegen nicht, allerdings ist mehrmals von den Teutschen die Rede.7 Die Verwendung dieser Begriffe an sich ist im 16.  Jahrhundert nicht ungewöhnlich, doch gerade die Selbstzeugnisse reisender Studenten geben Anlass zu der Frage, ob und in welcher Weise derartige Zuschreibungen lange vor der Ausbildung moderner Nationalstaaten der Identifizierung und Abgrenzung dienten. Die Bedeutung von Begriffen wie ‚teutsch‘ oder ‚welsch‘ war schließlich stark kontextabhängig und meist nicht an konkrete Räume oder klar abzugrenzende Kollektive gebunden.8 Stattdessen manifestierte sich die Unterscheidung in konkreten Momenten und entlang bestimmter Grenzen. Nach Italien gelangten Reisende wie Christoph Kress durch das Überschreiten der Alpen, welche jedoch auch in der Frühen Neuzeit nicht von einer, sondern einer Vielzahl unterschiedlicher natürlicher, sprachräumlicher und rechtlicher Grenzen durchzogen waren.9 Sowohl die Begriffe als auch die tradierten Grenzen gewannen aber – zumindest im Diskurs der Bildungselite des 15. und 16. Jahrhunderts – neue qualitative Bedeutungen.10 Reinhard Stauber sieht hierbei klare Unterschiede zwischen den National­ diskursen nördlich und südlich der Alpen. Während italienische Gelehrte wie Flavio Biondo (1392–1463) sich bei ihrer Definition Italiens auf antike Grenzziehungen beriefen, hätten die deutschen Humanisten11 einen auf Expansion ausgelegten, eher 5

So schreibt er beispielsweise von den gelerten leuten in Italia, ebd., S. 145; über Essen und Sprache der Welschen, ebd., S. 152; die mores vnd gebrauch der Welschen, ebd., S. 156; sowie über das Klima und die Regenten in Italia, ebd., S. 168. Teilweise ist auch von den Wallen oder wahle[n] die Rede, ebd., S. 144 bzw. ebd., S. 148, und einmal auch vom Welschlandt, ebd., S. 147. 6 Viele der folgenden Überlegungen wurden durch die Diskussionen im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Bielefelder Sonderforschungsbereichs 1288 „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ (Teilprojekt C02, „Nonkommensurabel? Das sich vergleichende Selbst in Vormoderne und Moderne“) angeregt. 7 So sei es für Universitätsdoktoren eine besondere Ehre, am meinsten [!] theutsch zu discipeln zu haben, Kress, Briefe, S. 145; ein welscher herr suche einen Teuthschen zur Untermiete, ebd., S. 148. Die Wendung teuthtsch dauon zureden kündigt hingegen eine offene und direkte Ansprache von Problemen an, ebd., S. 168. 8 Zur Wortherkunft und dem Bedeutungswandel der Begriffe vgl. Wolfgang Haubrichs, Theodiscus, Deutsch und Germanisch – drei Ethnonyme, drei Forschungsbegriffe. Zur Frage der Instrumentalisierung und Wertbesetzung deutscher Sprach- und Volksbezeichnungen, in: Heinrich Beck u. a. (Hg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“, Berlin/New York 2004, S. 199–227; sowie Art. „welsch“, in: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, hg. v. Wolfgang Pfeifer u. a., 1993, digitalisierte und überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, www.dwds.de/wb/ etymwb/welsch [Stand: 03.01.2021]. 9 Reinhard Stauber, „Italia“ und „Germania“ – Konstruktionen im Alpenraum, in: Dieter Langewie­ sche/Georg Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 327–344, hier S. 337. 10 Zum Begriffswandel vgl. Haubrichs, Theodiscus, S. 213. 11 Unter Humanisten werden im Folgenden in einem engen Sinne die selbsterklärten Anhänger der ‚studia humanitatis‘ verstanden, die ein sprachlich-künstlerisches und auf Antikerezeption beruhendes Gelehrtenideal verband. Zur wesentlich problematischeren Definition des erst später geprägten Be-

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sprachräumlich bestimmten Deutschland-Begriff entwickelt.12 Trotzdem schreibt Stauber den humanistischen Landesbeschreibungen – die er in diesem Fall ebenfalls an Nürnberger Beispielen untersucht – eine inklusive Funktion zu. So seien sie trotz der Markierung von Unterschieden nicht politisch gewesen und hätten vor allem der „Beschreibung eines Kulturraums, eines Forums für gemeinsame Geschichte“ gedient.13 Einen stärker auf Exklusion zielenden Nationaldiskurs beobachtet hingegen Herfried Münkler. Aus der im Mittelalter noch vieldeutigen Vorstellung der ‚natio‘ habe sich ein „monosemische[r]“ Begriff entwickelt, der eine „identifikatorische Selbstzuordnung“ ermögliche und mit der christlich universalistischen Weltsicht breche.14 Als Ursprung dieser Bedeutungsverengung identifizieren Kathrin Mayer und er insbesondere die Unterscheidung zwischen Deutschland und Italien im humanistischen Diskurs. Das Eigene werde hier über das Fremde, „in herabsetzender Abgrenzung von den Nachbarn hergestellt“.15 Caspar Hirschi hat der Vorstellung einer Bedeutungsverengung des ‚natio‘-Begriffes widersprochen. Dieser sei in der Frühen Neuzeit sowohl in Deutschland als auch Italien und ebenso unter den von Münkler als Ausgangspunkt der Nationalisierung angeführten Universitätsabsolventen vieldeutig geblieben.16 Trotzdem zeigt auch Hirschis Arbeit in der Konsequenz, dass die Thematisierung eines ‚nationalen‘ Wettstreits in den geographischen, historiographischen und literarischen Werken humanistischer Gelehrter nördlich der Alpen einen zentralen Stellenwert besaß.17 Doch prägten diese agonalen Diskurse tatsächlich auch die Selbst- und Fremdwahrnehmung? Diese Frage soll im Folgenden anhand verschiedener Selbstzeugnisse aus der zweiten Hälfte des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts diskutiert werden, die Studenten aus Nürnberg entweder während ihrer Zeit an oberitalienischen Universitäten verfassten oder in denen sie nachträglich die Erfahrung des

griffes Renaissance-Humanismus sei zu Nürnberg insbes. verwiesen auf Dieter Wuttke, Deutscher Renaissance-Humanismus. Vorschlag für eine wesensgerechte Definition mit Nürnberg- und Wienfokus, in: Franz Fuchs (Hg.), Willibald Pirckheimer und sein Umfeld = Pirckheimer Jahrbuch 28 (2014), S. 105–116. 12 Vgl. Reinhard Stauber, „Auf der Grenzscheide des Südens und Nordens“. Zur Ideengeschichte der Grenze zwischen Deutschland und Italien, in: Reinhard Stauber/Wolfgang Schmale (Hg.), Menschen und Grenzen in der frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 76–115, hier insbes. S. 88f. 13 Reinhard Stauber, Hartmann Schedel, der Nürnberger Humanistenkreis und die „Erweiterung der deutschen Nation“, in: Johannes Helmrath/Ulrich Muhlack/Gerrit Walther (Hg.), Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, Göttingen 2002, S. 159–185, hier S. 185. 14 Herfried Münkler, Einleitung, in: Ders./Hans Grünberger/Kathrin Mayer, Nationenbildung. Die Nationalisierung Europas im Diskurs humanistischer Intellektueller. Italien und Deutschland, Berlin 1998, S. 13–28, hier S. 28. 15 Kathrin Mayer/Herfried Münkler, Die Erfindung der italienischen Nation in den Schriften der Humanisten, in: Münkler/Grünberger/Mayer, Nationenbildung, S. 75–161, hier S. 76. 16 Vgl. Caspar Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005, S. 129. 17 Vgl. ebd., S. 251–297.

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Studiums reflektierten.18 Stiftet die Markierung ‚welscher‘ Eigenschaften an einem italienischen Studienort tatsächlich Alterität und steht ihr eine ‚teutsche‘ Identität gegenüber? Und welche Vorteile bot diese Differenzkategorie für die Selbstverortung gegenüber den ebenfalls möglichen Zuschreibungen familiärer, korporativer oder ständischer Zugehörigkeit? Einen ähnlichen Untersuchungsfokus wählte vor einigen Jahren bereits Dieter Mertens, der in den studentischen ‚nationes‘ – etwa der ‚natio germanica‘ in Bologna – einen wichtigen Raum für die Ausbildung einer Nationalidentität sieht.19 Damit geht er noch einen Schritt weiter als Herfried Münkler und Hans Grünberger, die zwar die Universitätsabsolventen als mitentscheidende Faktoren der Nationalisierung identifizieren, aber in den studentischen ‚nationes‘ selbst die mittelalterlichen Institutionen einer universalistischen und inklusiven Identität sehen.20 Mertens betont, insbesondere die Schriften und Reden der Angehörigen der ‚nationes germanici‘ hätten „der Selbstidentifizierung vor Fremden, der Konstituierung von Identität durch Abgrenzung von anderen vor anderen“ gedient.21 Beruht die Selbstverortung am Studienort um 1500 aber tatsächlich auf einer derartigen Alteritätskonstruktion? Um Mertens' These zu überprüfen, sollen im Folgenden beispielhaft Textstellen diskutiert werden, die Funktion und Bedeutung der Unterscheidungen ‚teutsch‘/‚welsch‘ und ‚germanus‘/‚italus‘ für die Selbstverortung im Kontext des Studiums erklären könnten. Anders als Mertens bin ich jedoch zu der Auffassung gelangt, dass die Betonung der Differenz zwar durchaus der Markierung von Zugehörigkeit diente, aber keine feste Identifizierung mit einer der beiden Seiten voraussetzte und deshalb auch Alterität, wenn überhaupt, nur mittelbar eine Rolle spielte.

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Wichtiges Überblickswissen zu Nürnberger Studenten an italienischen Universitäten bieten u. a. Melanie Bauer, Die Universität Padua und ihre fränkischen Besucher im 15. Jahrhundert. Eine prosopographisch-personengeschichtliche Untersuchung, Nürnberg 2012; Agostino Sottili, Nürnberger Studenten an italienischen Renaissance-Universitäten mit besonderer Berücksichtigung der Universität Pavia, in: Volker Kapp/Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen, Tübingen 1991, S.  49–103; Karlheinz Goldmann, Nürnberger Studenten auf deutschen und ausländischen Universitäten von 1300–1600, in: Mitteilungen aus der Stadtbibliothek Nürnberg 12 (1963), S. 1–10. 19 Dieter Mertens, Auslandsstudium und ‚acts of identity‘ im Spätmittelalter, in: Elisabeth Vogel (Hg.), Zwischen Ausgrenzung und Hybridisierung. Zur Konstruktion von Identitäten aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, Würzburg 2003, S. 97–106, hier S. 100. 20 Eine Ausnahme sehen Herfried Münkler/Hans Grünberger, Die Anfänge ‚nationaler‘ Identitätsbildung an den Universitäten des Mittelalters. Zur Geschichte der nationes an den Universitäten Bologna, Paris und Prag 1150–1409, in: Münkler/Grünberger/Mayer, Nationenbildung, S.  29–73, hier S. 66, im Kuttenberger Dekret von 1409, das Prag „zur ersten nationalen Universität in Europa“ gemacht habe. 21 Mertens, Auslandsstudium, S. 103.

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2. ‚Welsch‘ und ‚teutsch‘ als Grenze zwischen fremd und eigen? Unter dem Attribut ‚welsch‘ thematisiert Christoph Kress neben der Sprache, dem Klima und dem reichhaltigen Essen vor allem die hohen Preise für Nahrungsmittel. So seien die Welschen dahin geneigt, das sie, ob es schon doppelt bezalt wirdt, dennoch nicht vil vberichs hinausgeben.22 Auch die Mieten für Unterkünfte seien zu hoch und wo sie einen Teutschen bekommen, neigten sie dazu, das ganze Hausgesinde von ihm allein zu ernähren.23 Bei genauerem Hinsehen verbirgt sich hinter diesen Klagen jedoch nicht unbedingt ein Urteil über „die welschen Hausherren und ihre Habgier“, wie Georg Kress 1895 im Vorwort der Briefedition schreibt.24 Vielmehr sah Christoph Kress neben der Dürre die Schuld vor allem beim päpstlichen Legaten und den adeligen Regenten der Stadt, welche zu Lasten der Armen mit dem Getreide spekulierten und sich dafür dereinst vor Gott zu verantworten hätten.25 Die Anderen in seiner Kritik waren also trotz des verwendeten Attributes ‚welsch‘ nicht die Bewohner Italiens, sondern im Sinne einer vormodernen Ständekritik vielmehr die Angehörigen der adeligen Oberschicht und des päpstlichen Regiments. Dem Verhalten des Stadtregiments und seiner Organe lastete Kress auch einen Konflikt an, den er ausführlich in seinem Brief vom 28. April 1560 schildert. Am Abend des 24. Aprils hätten demnach Schergen des Stadtregiments versucht, einen Teutschen vom adel, einem von Heim vs dem gewaltigsten adel auss Meissen bei Nacht zum hon vnd tratz [!] gefangen zu nehmen. Als sie diesen jedoch nicht antrafen, hätten sie das Haus, wo dieser samt 2 welschen scolarn gewonet mit Gewalt gestürmt und ausgeplündert.26 Der Grund für den Angriff auf den Studenten bleibt in der Darstellung von Kress unklar, widersprach aber in jedem Fall der Eigen­ gerichtsbarkeit der ‚natio‘.27 Dieser Umstand erklärt auch die bei Kress geschilderte Reaktion.

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Kress, Briefe, S. 152. Ebd. 24 Ebd., S. 106. 25 Ebd., S. 154: Allein kan ich euch nochmals nicht verhalten, das die teurung alhie dermassen vberhant nimbt, dass teglich erhort wirt, dass die armen leut, so ir brot teglich nicht kunnen gewinnen, for hunger ersterben vnd ferderben, daran die vornehmsten regenten der statt, die vom adel, schuldig sindt, welche das gedreidt dem armen man (in hoffnung, in grosserm werdt anzuwerden) verhalten, welchs inen dan gegen Gott (wie sie ein regiment furn) steht zuuerantworten. Hingegen lobte er den neuen Legaten (von Georg Kress als Kardinal Carlo Borromeo identifiziert), der im April 1560 in Bologna eintraf; vgl. ebd., S. 166. 26 Der Student von Heim wird hier von Georg Kress mit Otto von Heim bzw. Hoym identifiziert; ebd., S. 159. 27 Die Privilegien der ‚natio germanica‘ waren 1530 durch Kaiser Karl V. (reg. 1519/30–1556) anlässlich seiner Krönung in Bologna bestätigt und erweitert worden; vgl. dazu in Bezugnahme auf Kress bereits Gian Paolo Brizzi, Aspetti della presenza della Nazione germanica a Bologna nella seconda metà del XVI secolo, in: Maria Luisa Accorsi, La matricola. Die Matrikel. 1573–1602. 1707–1727, Bologna 1999, S. 31–38. Zu den Privilegien vgl. Winfried Dotzauer, Deutsches Studium in Italien unter besonderer Berücksichtigung der Universität Bologna, Wiesbaden 1976, S. 113. 23

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So habe sich der rector samt der ganzen universithet in beisein aller studenten gegen der hohen obrigkeit beklagt vnd der justicia nach solchen mutwillen zustraffen begert, vnter welchem fur den schein gehandelt, aber entlich durch die finger gesehen vnd der justicia nach nicht woln procediren, darob die welschen, so von natur hitzig vnd dolle kopf sindt, zugefarn, als inen die justicia mit honischen worten abgeschlagen und der schergen palast auss zorn mit gewerter handt angeloffen.28

Während dieses bewaffneten Auflaufes seien Personen auf beiden Seiten verletzt und ein Scolar, ein Niderlender durch einen Steinwurf getötet worden. Nach einem kurzzeitigen Einlenken habe das Stadtregiment am nächsten Tag versucht, studentische Privilegien aufzuheben. Erst als daraufhin die nationes gemeinsam mit ihren Waffen und Fahnen aus Bologna auszogen, um sich mit ihren alten Freiheiten in Ferrara niederzulassen und damit wiederum die Bürgerschaft gegen die Obrigkeit aufbrachten, habe letztere eingelenkt, die Privilegien erneuert und den verantwortlichen Schergen hingerichtet.29 Die Darstellung des Konfliktverlaufes bei Kress widerspricht in einigen wichtigen Punkten den Angaben in der Bologneser Überlieferung, der zufolge beispielsweise die Plünderung der Studentenwohnung bereits dem Einzug einer Strafgebühr und der Konfiszierung von unerlaubt auf der Straße getragenen Waffen diente. Zudem berichtet sie von dem Tod eines neapolitanischen Studenten, den Kress nicht erwähnt.30 Von Interesse für die Frage nach Identität und Alterität ist in diesem Fall aber vor allem die Beschreibung der Konfliktparteien. Wieder beruht der entscheidende Gegensatz nicht auf einer Unterscheidung zwischen ‚Welschen‘ und ‚Teutschen‘, sondern den studentischen ‚nationes‘ und den Bürgern auf der einen und der städtischen Obrigkeit auf der anderen Seite. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass für Kress mit dem Attribut ‚welsch‘ durchaus bestimmte Wesenszüge verbunden waren. Die Eskalation des Konfliktes wird der als natürlich definierten Hitzköpfigkeit der ‚Welschen‘ zugeschrieben, die durch die Bezeichnung dolle – hier zu verstehen als ‚toll‘ im Sinne von töricht – mit einem eindeutig negativen Werturteil belegt werden. Über dieses Urteil grenzt sich Kress ab, allerdings nicht so sehr von ‚den Welschen‘ an sich, die schließlich auf der eigenen Seite des Konfliktes verortet werden. Vielmehr scheint es um eine Distanzierung von innerstädtischer zwidracht vnd auflauf zu gehen.31 Die Verteidigung dieses topischen Ideals städtischer Eintracht32 schien auch sein Vater von ihm zu erwarten. 28

Kress, Briefe, S. 159f. Ebd., S. 160f. 30 Dazu im Abgleich mit der Darstellung bei Kress Luigi Aldrovandi, Commentario alle lettere di uno studente tedesco da Bologna (Cristoforo Kress, 1559–1560), in: Atti e memorie della R. Deputazione di Storia Patria per le Provincie di Romagna 14 (1896), S. 14–41, hier S. 31f. 31 Kress, Briefe, S. 160. 32 An dieser Stelle sei nur beispielhaft verwiesen auf Wilfried Ehbrecht, Konsens und Konflikt. Skizzen und Überlegungen zur älteren Verfassungsgeschichte deutscher Städte, Köln/Weimar/Wien 2001, hier S.  155–180 zu Eintracht und Zwietracht; sowie zur Diskrepanz zwischen dem Eintrachtsideal und der tatsächlichen Einheit der Stadt auf Franz-Josef Arlinghaus, Einheit der Stadt? Religion und 29

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In einem Antwortschreiben, das Christoph Kress in Bologna am 24. Mai erreichte, teilte dieser ihm offenbar mit, dass ihm solcher vnrath, so sich mit der vniversitet vnd dem regiment verloffen habe, sehr missfalle und er wünsche, dass aller vnrath vnd widerwill vermiden werde.33 Doch worauf verweist nun die Rede von den ‚Teutschen‘? Dass Kress gleich zwei Mal betont, der Konflikt sei von der ungerechten Behandlung eines Teutschen ausgegangen, könnte zunächst einmal nur die gemeinsame Zugehörigkeit zur ‚natio germanica‘ ausweisen, der es hier gelingt, ihr Recht in geschlossener Gemeinschaft mit den übrigen ‚nationes‘ zu verteidigen.34 Ähnlich sollte auch der Umstand bewertet werden, dass Kress in seiner Darstellung nur vom Tod des niederländischen, nicht aber von dem Tod des neapolitanischen Studenten berichtet. So standen die Angehörigen der ‚natio germanica‘ der flämischen ‚natio‘ aufgrund der in Bologna üblichen Trennung in eine ultra- und eine cismontane ‚universitas‘ korporativ wesentlich näher.35 Trotzdem scheint die Gegenüberstellung von ‚Teutschen‘ und ‚Welschen‘ an manchen Stellen durchaus einen besonderen Wert für die Selbstverortung besessen zu haben, der nicht unmittelbar mit den ‚nationes‘ in Verbindung gebracht werden kann. So berichtet Kress in einem Brief vom 30. Oktober 1559 seinem Vater, dass er täglich zu einem Doktor in die Vorlesung gehe, der nichts für seine Lektionen verlange und erklärt dies wie folgt: Dan es hat mit den gelerten leuten in Italia ein solch gestalt, dass sie zu herlich sindt etwass zunemen, vnd sindt mit hechster danksaguug vnd aller erbietung wol zufrieden, wan inen die theutsche studenten in die lection gehen, welchs sie dan, welcher am meinsten [!] theutsch zu discipeln hat, für die hochste vnd grosse ehr halten.36

Zu den ‚Teutschen‘ gezählt zu werden, scheint also aus Sicht von Kress in der Gelehrtenwelt mit einem besonderen Ansehen verbunden gewesen zu sein. Ein ähnliches Prestige wird aber auch vielen ‚welschen‘ Dingen zugeschrieben.37 Wie bei

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Performanz im spätmittelalterlichen Braunschweig, in: Werner Freitag (Hg.), Die Pfarre in der Stadt. Siedlungskern – Bürgerkirche – Urbanes Zentrum, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 77–96. Kress, Briefe, S. 166. Die ‚natio germanica‘ in Bologna hatte nicht zuletzt durch einen starken Mitgliederzuwachs in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an Einfluss gewonnen, vgl. Dotzauer, Deutsches Studium in Italien, Fig. 1. Ein neuerlicher Konflikt um die Bestrafung zweier Studenten 1562 führte jedoch nicht mehr zu einem Gemeinschaftshandeln der ‚nationes‘, stattdessen ging die ‚natio germanica‘ allein in ein bis 1573 andauerndes Exil; vgl. Brizzi, Aspetti, S. 33. Darauf wies bereits Luigi Aldrovandi hin, unterschied in diesem Zusammenhang jedoch nicht klar zwischen der studentischen ‚natio‘ und einer modern gedachten ‚nationalità‘; Aldrovandi, Commentario, S. 33. Kress, Briefe, S. 145. Zum steigenden Prestige des Begriffes ‚welsch‘ vor dem Hintergrund ‚deutscher‘ Sitten vgl. Thomas Eser, „Künstlich auf welsch und deutschen sitten“. Italianismus als Stilkriterium für die deutsche Skulptur zwischen 1500 und 1550, in: Bodo Guthmüller (Hg.), Deutschland und Italien in ihren wechselseitigen Beziehungen während der Renaissance, Wolfenbüttel 2000, S. 319–361.

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humanistischen Studienreisen des 16. Jahrhunderts üblich,38 war es nicht allein das berühmte Rechtsstudium, sondern auch das Erlernen von sprach [...] mores vnd gebrauch der Welschen sowie anderer adelicher exercitia, so in disen landen gebrauchlich sindt,39 was Christophs Vater veranlasste, dem Sohn nach dem dreijährigen Studium in Leipzig zusätzlich den teuren Aufenthalt in Bologna zu finanzieren.40 Trotzdem bleibt unklar, ob und in welcher Weise das Prestige der beiden Begriffe ‚teutsch‘ und ‚welsch‘ in Momenten der Selbstverortung tatsächlich dazu diente, Alterität zu markieren. Der Entstehungskontext der Briefe hätte durchaus Möglichkeiten für verallgemeinernde Grenzziehungen auf Grundlage städtischer oder ‚nationaler‘ Zuschreibungen geboten, schließlich befand sich Kress in Bologna nicht nur in einer deutschsprachigen, sondern sogar in einer von Nürnbergern bestimmten Umgebung. Aufgrund der hohen Zimmerpreise wohnte er für die Dauer seines Aufenthaltes im Haus seines Onkels Albrecht Scheurl41 und teilte sich die Unterkunft mit den Nürnberger Studenten Karl Pfinzing, Johannes Nützel sowie deren Privatlehrer (preceptor), dessen Dienste er ebenfalls in Anspruch nahm und von dem er sagte, er habe ihn zu Nurmberg von jugent vf gekennt.42

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Zur doppelten Motivation humanistischer Studienreisen vgl. Hilde de Ridder-Symoens, Mobility, in: Dies. (Hg.), A History of the University in Europe, Bd. 2: Universities in Early Modern Europe, Cambridge 1996, S. 416–448, hier S. 416f. 39 Mit diesen Worten versichert Kress seinem Vater gegenüber die eigenen Studienbemühungen; Kress, Briefe, S. 156. Eine ähnliche Versicherung findet sich auch ebd., S. 164. Von sonstigen Studieninhalten ist hingegen nicht die Rede. Zum engen Zusammenhang von ‚mores‘ und ‚lingua‘ im humanistischen Bildungsideal vgl. Berndt Hamm, Humanistische Ethik und reichsstädtische Ehrbarkeit in Nürnberg, in: MittVGNürnberg 76 (1989), S. 65–147, hier S. 118f. 40 Neben dem Erwerb der Sprache fordert der Vater auch die Fortsetzung der bereits in Leipzig begonnenen musikalischen Übungen. So erklärt Kress in Antwort auf ein vom Vater erhaltenes Schreiben: So ist darneben eur vermanung vnd befelch in meinem studiern, auch in begreiffung der sprach vnd fernere vbung vf dem instrument allen vleis anzuwenden, damit nicht vergebener vncost mit samt der zeit auf vnd hinweck gehe, welchem allem ich mit hochstem vleis meinen vorigen zusagen nach so vil, als Gott der Almechtig genadt verleicht, zum treulichsten vnd vleissigsten will nachkummen vnd aufwarten; Kress, Briefe, S. 155. 41 Albrecht VI. Scheurl (1525–1580), der Ehemann der älteren Schwester von Kress‘ Stiefmutter Katharina Imhoff (1531–1574), war selbst bereits 1544 zum Studium nach Bologna gekommen und hatte wie Christoph Kress zuvor in Leipzig studiert; vgl. Gustav Knod, Deutsche Studenten in Bologna (1289– 1562). Biographischer Index zu den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis, Berlin 1899, S. 488. Maria Teresa Guerrini (Università di Bologna), deren freundlichem Hinweis ich die Kenntnis der Briefe verdanke, sieht in Christoph Kress ein Beispiel für die Bedeutung von Familientraditionen bei Studienreisen des 16. Jahrhunderts; vgl. Maria Teresa Guerrini, La pratica del viaggio di istruzione verso i principali centri universitari italiani nel Cinquecento, in: Storicamente 2 (2006), Art. no. 11; Dies., Les jeunes en voyage: la mobilité étudiante au cours de l‘ère moderne à partir de l’exemple de Bologne, in: Gilles Bertrand, Voyage et représentations réciproques (XVIe–XIXe siècle). Méthode, bilans et perspectives, Grenoble 2009, S. 129–138, hier S. 133. 42 Kress, Briefe, S. 142. Karl Pfinzing und Johannes Nützel hatten sich bereits 1558 in Bologna imma­ trikuliert, vgl. Knod, Studenten, S. 382, 405.

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Trotzdem gibt es nur wenige Stellen in den Briefen, an denen Kress seinem Vater und den übrigen in den Briefen angesprochenen Verwandten43 die Unterschiede zwischen den beiden Aufenthaltsorten erläutert, etwa indem er mehrmals die Brotpreise vergleicht44 oder darauf verweist, dass die bewaffneten Amtsträger des Stadtregiments schergen oder schützen entsprächen.45 In den genannten Fällen wird Bologna als Komparatum jedoch weder Deutschland oder Nürnberg, sondern immer nur die vage Formulierung bei euch gegenübergestellt. Kress identifiziert sich also sprachlich gar nicht mit einem ‚bei uns zu Hause‘ in Abgrenzung von einem ‚hier in der Fremde‘, sondern geht lediglich von seinem Aufenthaltsort selbst aus, ohne diesen direkt als fremd zu markieren. Die selbstverständliche Verwendung der Zuschreibungen ‚teutsch‘ und ‚welsch‘ in den Briefen von Christoph Kress scheint also einerseits durchaus mit einem etablierten Prestige und bestimmten Stereotypen verbunden gewesen zu sein, war aber andererseits gerade in den vergleichenden Momenten abwesend und diente an keiner Stelle der klaren Grenzziehung zwischen einer deutschen Identität und einer italienischen Alterität.

3. Das Lob der ‚Itali‘ als neuer Zugehörigkeitsbeweis einer gelehrten Elite Die oben getroffene Feststellung wirkt zunächst paradox, schließlich war der humanistische Diskurs durchaus von einem starken Gegensatzdenken und klaren Stereotypen geprägt. Solche Gegensätze finden sich beispielsweise zwei Generationen vor Kress in den Aufzeichnungen des Nürnbergers Willibald Pirckheimer (1470–1530). In seinem Nachlass hat sich ein Quartheft erhalten, in welchem er als junger Mann Gedichte niederschrieb, welche mit teils drastischen Worten die Überlegenheit der ‚Germani‘ über die ‚Itali‘ betonen.46 Emil Reicke datiert die Abschrift noch in Pirckheimers Studienjahre in Padua und Pavia (1489–1495) und stützt sich in diesem Zusammenhang neben inhaltlichen Kriterien vor allem auf das Wasserzeichen, dem er

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Neben der Dienerschaft, den Geschwistern, seiner Stiefmutter Katharina und deren Bruder Endres (Andreas) II. Imhoff (1529–1597) ließ er stets fraw Kressin grüßen, womit Helene Kress, geborene Tucher (1494–1562) gemeint war, die Witwe von Christoph Kress zu Kraftshof, Schoppershof und Veilhof (1484–1535), einem entfernten Vetter seines Vaters; vgl. von Frank zu Döfering, Die Kressen, Sp. 302f. 44 Kress, Briefe, S. 141: so ist das brot zimlich deur, ich wolt vast vmb ein heller bei euch als vil brots kauffen, als hie vmb ein pfening; ebd., S. 157: Man kaufft alhie zu Bononia 1 brodt vmb 3 oder 4 pfennig. Ich wolt vmb einen heller bei euch sovil erhalten; ebd., S. 167: man hat ein gedreidmass, so sie alhinen ein corb nennen, alss ich gerechnet, ist nicht mehr, wo es anderst sovil ist, als vngeferdt ein halbs sumra korns bei euch sein mag. 45 Ebd., S. 159: die schergen oder schützen, wie ihrs bei euch nenhet, so alhie dem regiment zu Bononia vnterthenig. 46 Stadtbibliothek Nürnberg, Pirckheimer-Papiere 364, Umschlag 16, fol. 32r–v; in Teilen abgedruckt in: Willibald Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, hg. v. Emil Reicke, München 1940, S. 50f.

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nach Briquets einen Veroneser Ursprung zuschrieb.47 Diese Bestimmung konnte bei der Überprüfung am Original nicht bestätigt werden; die Maße des um 1500 häufig verwendeten Zeichens ähneln in den Piccard-Findbüchern eher jenen auf einem Vergleichsdokument, das 1506 in Venedig ausgestellt wurde.48 Eine direkte Verbindung der Abschrift mit Pirckheimers Italienstudium erscheint somit weniger wahrscheinlich, ist aber auch nicht ausgeschlossen. Die Verse stammen ursprünglich aus der Feder verschiedener Humanisten um Conrad Celtis (1459–1508) und Conrad Leontorius (1460–1511), die sie 1493 während eines Treffens in Regensburg verfassten, und finden sich mit leichten Abweichungen49 zu Pirckheimers Abschrift auch im ebenfalls handschriftlichen Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus von Hartmann Schedel (1440–1514), auf dem auch der Abdruck und die englische Übersetzung der Gedichte bei Ingrid Rowland beruhen.50 Der mit Abstand längste Beitrag wird in beiden Abschriften Conrad Leontorius zugeschrieben und trägt bei Schedel zusätzlich den Titel Confutatio Proverbii Italici de Germanos ebrietate In Pedicones Italos Carmen Impolitum phalenticum, ist also bereits als Gedicht gegen die den Germani in italienischen Sprichwörtern nachgesagte Trunksucht konzipiert. In dieser Gegenrede werden die Itali als Sodomiten diffamiert, die unnatürlichen Verkehr mit Knaben hätten (pueri futire culum) und von einer unreinen Mutter abstammten (te culo genuit cruenta mater).51 Die Germani hingegen seien Kinder der Venus (Germanos peperit Venus beata) und würden sich durch Trinkfestigkeit und ihren Verkehr mit Frauen als die wahren Verehrer des Bacchus erweisen (Germanos celebrare sacra Bacchi/Et cunnos futuisse non pudebit).52 Die folgenden Epigramme und Distichen stärken Leontorius durch ähnliche Argumente. Conrad Celtis etwa unterstrich, der Sexualverkehr der Itali widerspreche im Gegensatz zu der den Germani nachgesagten Trunkenheit jedem natürlichen und göttlichen Gesetz (naturae leges et pia iura negans), und ein bei Schedel mit 47

Ebd., S. 45. Außerdem sah Reicke in anderen Gedichten des Heftes Anspielungen auf das Jahr 1491, ebd., S. 47. 48 Das Wasserzeichen stellt eine Waage im Kreis mit gerundeten, an der Mittelbefestigung aufgehängten Schalen und einfach gezogener Balkenkontur dar. Das Beizeichen ist ein siebenzackiger Stern, der oberhalb der Aufhängung der Waage in Form einer einzelnen Öse anschließt. Grundlage der Beschreibung ist das Wasserzeichen auf der Lage: Stadtbibliothek Nürnberg, Pirckheimer-Papiere 364, Umschlag 16, fol. 32v/39r. Die Gestalt und Maße (71 x 37 mm, Abstand der Bindedrähte 61 mm) entsprechen fast genau Piccard-Nummer 117253, beruhend auf den Piccard-Findbüchern Online, www. piccard-online.de/ [Stand: 03.01.2021], im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Bestand J 340. 49 Die Distiche von Arbogasti Argentini in Schedels Abschrift fehlt bei Pirckheimer, die Überschriften sind zudem bei Pirckheimer kürzer; während Schedel immer einen Verfassernamen angibt, steht bei Pirckheimer teilweise nur Aliud. Auch die Abbreviaturen stimmen nicht immer überein. Trotzdem sprechen die ansonsten gleiche Abfolge und die Dopplung weiterer Gedichte für die Abstammung der beiden Abschriften von einer gemeinsamen Vorlage. 50 Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus, Bayerische Staatsbibliothek München [BSB], Clm 716, fol. 154v–155r; Ingrid Rowland, Revenge of the Regensburg Humanists, 1493, in: Sixteenth Century Journal 25 (1994), S. 307–322, hier S. 321f. 51 Rowland, Revenge, S. 311, übersetzt cruenta als ‚gruesome‘. Im Kontext der angesprochenen widernatürlichen Geburt meint cruenta aber eher ‚(blut-)befleckt‘ im Sinne von ‚unrein‘ als ‚schrecklich‘. 52 Stadtbibliothek Nürnberg, Pirckheimer-Papiere 364, Umschlag 16, fol. 32r.

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dem Pseudonym Dyonisius von Mainz bezeichneter Autor deutet an, die Theutones schrieben aufgrund ihrer Liebe zu Frauen bessere Gedichte als die knabenliebenden Itali.53 Rowland befasste sich auf Grundlage der Abschrift Schedels bereits eingehend mit der Sprache und den klassischen Motiven dieser Polemiken, insbesondere im Hinblick auf die Sexualmoral der Gelehrten des späten 15. Jahrhunderts.54 Welchen Wert aber hatte dieser vergleichende Überlegenheitsdiskurs für die Wahrnehmung des eigenen Studiums in Italien? Stiftete er bei Italienstudenten ein Zugehörigkeitsgefühl in Abgrenzung, wie es die klaren Werturteile zu implizieren scheinen? Während die wenigen erhaltenen Briefe aus Pirckheimers eigener Studienzeit kaum Schlüsse zulassen, scheinen Beispiele aus seinem späteren Briefwechsel diesen Verdacht zunächst zu bestätigen. Exemplarisch angeführt sei hier ein Brief vom 22. September 1501 an Anton Kress (1478–1513), dem späteren Nürnberger Propst von St. Lorenz, der sich zu diesem Zeitpunkt selbst zum Studium in Padua aufhielt. Darin berichtet Pirckheimer von politischen Neuigkeiten und Kriegsgerüchten in Nürnberg und erklärt, er selbst wolle überaus gerne gegen die Itali kämpfen, von denen man verachtet werde und die zu nichts anderem als Worten und Aufgeblasenheit fähig seien, weshalb ganz Italien von gerade einmal zehn Franzosen beherrscht werde.55 Ob das nos, gegen welches sich laut Pirckheimer die Verachtung der Itali richtet, hier aber mit den weiter oben im Brief angesprochenen Germani direkt in Beziehung zu setzen ist, bleibt offen. Bei genauerer Betrachtung scheint sich die Polemik zudem vor allem gegen die Venezianer zu richten, welche die Ursache für alles Schlechte in Italia seien.56 Die Funktion des Exkurses für die Selbstverortung Pirckheimers war indes vor allem, die eigene militärische Kompetenz auszustellen, welche er in derselben Passage mit Verweis auf seine Beteiligung am Kriegszug gegen die Schweizer drei Jahre zuvor noch einmal ausdrücklich unterstreicht.57 Die scheinbar unversöhnlich feindliche Haltung gegenüber den ‚Itali‘ verschwindet zudem, sobald Pirckheimer die Erfahrung des Studiums in Italien selbst in den Mittelpunkt seiner Selbstdarstellung stellt. Sein wahrscheinlich ab 1517 verfasstes, apologetisches Geschichtswerk De bello Suitense sive Eluetico befasst sich nicht nur mit dem als Schwaben- oder Schweizerkrieg bekannten Feldzug von 1499,58 son53

Ebd., fol. 32v: Fingimus extinctis carmen funebre puellis/Theutones at pueris Itale foede tuis; vgl. dazu wiederum Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus, BSB, Clm 716, fol. 155r. Nebenbei bemerkt ist hier der Wechsel zu Theutones nach zahlreichen Verwendungen von Germani ein Beleg für die teils synonyme Verwendung beider Begriffe. 54 „The ancient connotation of active dominance over another man has given way in the humanists’ lexicon to an image of aggressive homosexual attack“, Rowland, Revenge, S. 313. 55 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 138: Cuperem sumopere congredi Italis, qui, ut scis, nos contempnunt solumque verbis et ventositate militant perpessique sunt, totam Italiam subiugari a vix decem millibus Gallorum. Die Briefe Pirckheimers an Anton Kress erschienen bereits bei Georg Kress, Acht Briefe Willibald Pirkheimers, in: MittVGNürnberg 1 (1879), S. 67–90. 56 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 138: omnis ista turba in Venetos tandem effundetur, quibus om­ nium malorum, quibus Italia iam agitatur, causa sunt. 57 Ebd.: Nam nosti gentem Suitensium egoque, ut scis, expertus sum. 58 Zum historiographischen Teil vgl. Hermann Wiegand, Willibald Pirckheimers „Bellum Helveticum“ und die antike historiographische Tradition, in: Franz Fuchs (Hg.), Die Pirckheimer. Humanismus

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dern reflektiert in einem autobiografischen Teil auch die eigene Studienzeit in Padua und Pavia. Auch in diesem Zusammenhang formulierte Pirckheimer wieder klare Werturteile über Itali und Germani, die aber den eben zitierten Polemiken diametral widersprechen: Praecipuum autem illi tam Paduae quam Ticini cum Italici generis hominibus commercium fuit, ita ut ob eam rem a Germanis aliquando male audiret. Uerum ingeniis illorum, ciuilitate et eruditione oblectabatur, cum e contra mores Germanici, ludus, comissationes, potus ac immodestus sumptus admodum illi displicerent. Nec minus et ipse Italis carus erat non ideo solum, quod eorum se moribus accomodaret, sed quia praeter Germanorum consuetudinem illum humanitate praeditum esse cernerent.59

Entgegen der von ihm gesammelten und an anderen Stellen selbst geäußerten negativen Werturteile lobt Pirckheimer die Itali hier nicht nur ausdrücklich für ihre Bildung und Haltung, sondern grenzt sich gleichzeitig selbst in mehrfacher Weise von den Germani ab. Erstens habe er keinen Umgang mit ihnen gepflegt und sei deshalb bei ihnen in Verruf geraten, zweitens habe er sich der italienischen Lebensweise angepasst. Wirklich geschätzt sei er im Kreis der Itali aber drittens nicht aufgrund von Umgang und Lebensweise, sondern weil er dank seiner humanistischen Bildung den üblichen Sitten der Germani eben gerade nicht entsprochen habe. Bezeichnenderweise hatte er unmittelbar zuvor noch berichtet, die Entscheidung seines Vaters, ihn nach Italiam zu schicken, habe seinem Wesen zunächst widersprochen, da Gelehrsamkeit bei den Germanos unter Kriegsleuten als entehrend gelte.60 Der Vater habe ihn jedoch davon überzeugen können, um wie viel mehr die Gelehrsamkeit dem Kriegshandwerk überlegen sei.61 Pirckheimer präsentiert also eine klare Vorstellung davon, was dem Wesen eines Germani zu entsprechen habe, trotzdem verläuft seine Selbstverortung im Gegensatz zu dem oben zitierten Brief an Anton Kress nicht über die Identifizierung mit dem Stereotyp der kriegerischen Germani. Stattdessen gibt er sich einen besonders hohen Wert im Kreis der Gebildeten, indem er sich als Negativbild eines typischen Germani beschreibt. Auf diese Weise betont er nicht nur sein eigenes Prestige, sondern verortet sich mit Verweis auf den Vater auch in der humanistischen Bildungs­ einer Nürnberger Patrizierfamilie = Pirckheimer Jahrbuch 21 (2006), S. 63–71, zum apologetischen Charakter S. 65. 59 Zit. nach der Edition Willibald Pirckheimer, Der Schweizerkrieg. De bello Suitense sive Eluetico, hg. v. Fritz Wille, Baden 1998, S. 140f., aus der auch die folgende Übersetzung stammt: „Sowohl in Padua wie in Pavia verkehrte Willibald ausschließlich mit Italienern, wodurch er bei den Deutschen in Verruf geriet. Ihre geistreiche Unterhaltung, Zuvorkommenheit und Bildung erheiterten ihn, während die deutschen Lebensgewohnheiten mit Spiel, Kommers und Unmäßigkeit in Speis und Trank ihm missfielen. Dementsprechend war er bei den Italienern nicht nur deshalb geschätzt, weil er sich ihrer Lebensweise anpasste, sondern auch deshalb, weil er entgegen deutscher Art hochgebildet war.“ 60 Ebd., S. 140: Cum uero uigesimo appropinquaret anno, pater illum in Italiam mittere decreuit, ut ibi intermissa continuaret studia. Quae res inprimis animum eius offendit, quoniam non parua se ignominia notari censeret, siquidem literae apud Germanos militaribus hominibus dedecori esse putantur. 61 Ebd.: Uerum cum pater illi ostenderet, quantum literae militiae praestarent, commodumque ac incommodum ambarum ob oculos posuisset, persuasus obtemperauit.

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tradition der eigenen Familie, deren Ausweis in Nürnberg Ende des 15. Jahrhunderts zu einem neuen Distinktionsmerkmal innerhalb der städtischen Oberschicht geworden war.62 Willibalds Vater, der Jurist Johannes Pirckheimer (1440–1501), war bereits 1465 in Padua promoviert worden und hatte Willibald auf einem Merkzettel mit Maßregeln für das Studium ausdrücklich auch humanistische Studien verordnet.63 In Padua hatten aber auch schon Willibalds Großvater Hans Pirckheimer (1415–1492) und sein Großonkel Thomas Pirckheimer (1418–1473) studiert und humanistische Schriften gesammelt.64 Für Pirckheimer ist das der Angelpunkt seiner Selbstverortung: Bereits in den ersten Sätzen seiner Lebensbeschreibung weist er auf die zahlreichen gebildeten Frauen und Männer seiner Familie und insbesondere die berühmte Bildung seiner väterlichen Vorfahren hin: Quae licet longo tempore multis floruerit tam opibus quam honoribus, hoc tamen praecipuum semper habuit, ut quam plurimis ornata fuerit uiris, immo mulieribus etiam doctissimis. Nam quemadmodum Bilibaldi atauus omnes Nurenbergenses diuitiis superauit, ita proauus eius prae cunctis ciuibus suis doctrina enituit, cuius uestigia filius et auus Bilibaldi nostri insecutus eruditione nequaquam patri inferior fuit. Ceterum inter omnes maxime excelluit Johannes, pater Bilibaldi. Nam praeterquam quod iuris utriusque peritissimus fuit omnimodaque eruditione insignis, praecipue tamen apud multos Germaniae principes inclaruit.65

Die mit dem Studium in Italien fest verbundene Gelehrsamkeit seiner eigenen Familie dient also hier der Auszeichnung der Pirckheimer vor anderen Familien. Die Bezüge zur ‚Germania‘ und ‚Italia‘ ermöglichen zusätzlich, eine kontinuierliche, von Nürnberg ausgehende Steigerung des familiären Ansehens zu vermitteln, die in Willibald selbst mündet: Das Ansehen seines Urgroßvaters erstreckt sich noch auf alle Nürnberger Mitbürger (prae cunctis civibus suis doctrina enituit), das seines eigenen

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Zum Zusammenhang von Ehrbarkeit und humanistischer Bildung in Nürnberg vgl. Hamm, Humanistische Ethik; zum Sozialprestige der in Italien ausgebildeten Nürnberger Juristen ebd., S. 87, und zum Rat als Organisator humanistischer Projekte ebd., S. 101. 63 Diesen Merkzettel in der Hand von Johannes Pirckheimer fand Reicke unter den Briefen aus Willi­ balds Studienzeit; Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 1, S. 29: Audias lectiones in studiis humanitatis. 64 Zu den humanistischen Interessen von Hans und Johannes Pirckheimer in Padua vgl. Bauer, Universität Padua, S. 235. Zu Hans Pirckheimer vgl. außerdem Franz Fuchs, Hans Pirckheimer (†1492), Ratsherr und Humanist, in: Ders. (Hg.), Die Pirckheimer = Pirckheimer Jahrbuch 21 (2006), S. 944. Zu Thomas Pirckheimers Zeit in Padua vgl. Georg Strack, Thomas Pirckheimer (1418–1473). Gelehrter Rat und Frühhumanist, Husum 2010, S. 35. 65 „Willibald Pirckheimer entstammte dieser altehrwürdigen Familie, die während langer Zeit dank ihres Reichtums und ihrer Würden grosses Ansehen genoss und sich ganz besonders dadurch auszeichnete, dass ihr eine ausserordentliche Zahl von gelehrten Männern und auch Frauen angehörte. Wie Willi­ balds Urahn alle Nürnberger mit seinem Reichtum übertraf, so stach Willibalds Urgrossvater bei allen Mitbürgern durch sein Wissen hervor und dessen Sohn, Willibalds Grossvater, stand an Gelehrsamkeit keineswegs hinter seinem Vater zurück. Unter diesen allen war jedoch Johannes, Willibalds Vater, die grösste Leuchte der Wissenschaft. Abgesehen von seiner überragenden Kenntnis beider Rechte zeichnete er sich auch in allen Bildungszweigen aus und war dafür bei vielen deutschen Fürsten besonders angesehen“; Pirckheimer, Schweizerkrieg, S. 138f.

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Vaters bereits auf die Fürsten der ‚Germania‘ (Germaniae principes inclaruit) und sein eigenes erreicht schließlich in der oben zitierten Textstelle zum Studium sogar Italien (Italis carus erat). Die Itali sind in Pirckheimers Erzählung nur insofern die ‚Anderen‘, als dass sie als unabhängige Zeugen seiner ihnen selbst ähnlichen Lebens- und Wesensart auftreten. Hinter der Gegenüberstellung von ‚Germani‘ und ‚Itali‘ im Diskurs der Nürnberger Humanisten steht also nur auf den ersten Blick eine binäre Ego-Alter-Beziehung. So eindeutig die Werturteile im Einzelfall ausfallen, so variabel erweist sich die Identifizierung mit einer der beiden Seiten im Vergleich unterschiedlicher Kontexte. Dass diese flexiblen Zuschreibungen überhaupt verwendet wurden, hängt zumindest zum Teil am Prestige der neuen humanistischen Diskurse. Sowohl in den polemischen Gedichten als auch in Pirckheimers De bello Suitense zeigen sich ähnlich wie bei der von Kress erwähnten ‚welschen‘ Hitzköpfigkeit Zuschreibungen natürlich gedachter Wesenszüge. Viele dieser Eigenschaften, wie etwa die ‚deutsche‘ Trunksucht und Zügellosigkeit gehen auf lange etablierte Topoi zurück.66 Dennoch gewinnen diese Allgemeinplätze im Gelehrtendiskurs der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ähnlich wie bereits existierende sprachräumliche oder geographische Unterscheidungen an neuen Bedeutungen und zusätzlichem Prestige. Voraussetzung dafür war die Analogiebildung zwischen einem zeitgenössischen deutsch-italienischen und einem aus antiken Quellen gewonnenen germanisch-römischen Verhältnis. Vielfach wurde in diesem Zusammenhang bereits die Bedeutung von Vermittlerfiguren wie Enea Silvio Piccolomini (1405–1464) betont.67 Das Nürnberger Beispiel zeigt, dass diese Diskurse schnell aufgenommen wurden, zugleich aber erst schrittweise ihre Wirkung entfalteten. Einer der ersten durch die humanistischen Studien geprägten Nürnberger Gelehrten war der Arzt Hermann Schedel (1410–1485).68 Aus seinem erhaltenen Briefwechsel geht nicht nur hervor, dass er bereits 1459 Kopien einiger Schriften von Enea Silvio aus Wien erhielt,69 sondern auch, dass er Formulierungen italienischer Vorbilder teilweise wortgetreu in seine eigenen Briefe übernahm.70 Anzeichen einer durch die humanistischen Diskurse geprägten Neubewertung des Studiums in Italien finden sich bei Schedel bereits in einem Brief, den er 1459 oder 1460 an einen ehemaligen Lehrer aus seiner Leipziger Studienzeit, den Theologen Johannes de Ratisbona (gest. 1476) 66

Zum Stereotyp der Trunksucht vgl. Reinhold Kaiser, Trunkenheit und Gewalt im Mittelalter, Köln/ Weimar/Wien 2002, S. 62. 67 Vgl. beispielhaft Johannes Helmrath, „Vestigia Aeneae imitari“. Enea Silvio Piccolomini als ‚Apos­ tel‘ des Humanismus. Formen und Wege seiner Diffusion, in: Ders./Muhlack/Walther (Hg.), Diffusion, S. 99–141; sowie Martin Wagendorfer, Enea Silvius Piccolomini und die Wiener Universität. Ein Beitrag zum Frühhumanismus in Österreich, in: Franz Fuchs (Hg.), Enea Silvio Piccolomini nördlich der Alpen = Pirckheimer Jahrbuch 22 (2007), S. 21–52. 68 Hermann Schedel wurde 1442 an der Universität Padua bei Bartolomeo da Noale’ in Medizin promoviert; vgl. Bauer, Universität Padua, S. 59. 69 Hermann Schedels Briefwechsel (1452–1478), hg. v. Paul Joachimsohn, Tübingen 1893, S. 52. 70 Vgl. Paul Joachimsohn, Einleitung, in: ebd., S.  VIII. Reinhard Stauber sieht in Schedels Briefen direkte Einflüsse seiner Kontakte zu Frühhumanisten um Sigismund Gossembrot (1417–1493); das Briefwerk von Poggio Bracciolini (1380–1459) und Enea Silvio Piccolomini habe Schedel geradezu „ausgeschlachtet“; vgl. Stauber, Hartmann Schedel, S. 165.

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schrieb. Darin verteidigt er vehement seinen Plan, seinen drei Jahrzehnte jüngeren Vetter Hartmann Sche­del zum Studium nach Padua zu schicken.71 In einem vorausgegangenen Brief hatte Johannes de Ratisbona, welcher der älteren Generation angehörte und nie in Italien gewesen war,72 anscheinend die Befürchtung geäußert, das Essen in Ytaliam sei nicht gut gekocht und daher ein Risiko für die Gesundheit der Studenten.73 Darauf erwidert ihm Hermann Schedel in Erinnerung seines eigenen Studiums in Padua zwei Jahrzehnte zuvor, er selbst habe die Haltung und Bräuche beider Arten zu leben kennengelernt, aber nie eine größere Gefräßigkeit gesehen, als jene in Alemannia, wo die Menschen täglich danach strebten, sich voll zu fressen und daran teils tödlich erkrankten.74 Die Itali hingegen beschreibt Schedel in demselben Brief als Vorbilder der Enthaltsamkeit. So lebten sie nach den Vorschriften der Vernunft, die Genügsamkeit selbst sei ihre Lehrmeisterin und nie frönten sie ausschweifenden Gelagen oder anderen Genüssen, die Körper und Geist schwächten. Anders als viele der ‚Unsrigen‘ (plures ex nostris) seien die Itali nicht zur Fütterung und der Knechtschaft des Magens geboren (ad servitutem ventris natos), welche sie vermieden und hassten, da sie wüssten, dass jene eine der größten Hindernisse für ein lobenswertes Studium darstelle.75 Die zentrale Motivation für die Gegenüberstellung von ‚Germani‘ und ‚Itali‘ in dieser Reflektion des eigenen Studiums ist bei Schedel also letztendlich gar nicht die Betonung der Wesensunterschiede und ihrer Gegensätzlichkeit an sich, sondern die Identifizierung mit den von ihnen abgeleiteten Idealen einer richtigen und erstrebenswerten Lebensführung. Darin ähnelt Schedels Darstellung den bisher genannten Beispielen, in denen die Identifizierung mit einem bestimmten Stereotyp stark kontextabhängig bleibt und auf Zugehörigkeiten verweist, die nicht auf eine ‚nationale‘ Zuordnung angewiesen sind. Während Kress in dem Brief an seinen Vater vor allem seine Identifizierung mit einer städtischen und standesgemäßen Tugend

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Schedels Briefwechsel, S. 64ff. Dazu auch Franz-Josef Worstbrock, Art. „Johannes de Ratisbona (Johannes Mor-, Murman de Beireut)“, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 4, hg. v. Kurt Ruth, Berlin/ New York 1983, Sp. 715–718, hier Sp. 716. 73 Schedels Briefwechsel, S. 65: Ut autem patruus meus ad Ytaliam mittatur, improbare vos aliqualiter ex scriptis vestris sencio, certas allegans causas, presertim nostrates ad patriam sepenumero morbosos regredi propter cibos ibidem male coctos, necnon et plures intempestiva morte in Ytalia esse sepultos etc. 74 Ebd.: Novi, fateor, mores ac modestiam vite utrorumque et, dum bene me revolvo, nusquam umquam maiorem novi ingluviem, ubi et homines in dies plus se ingurgitare student, sicut in Alemannia, ex qua morbos diversi generis procreari et malo sepius fine terminari videmus. 75 Ebd., S. 66: Vivunt Itali ad prescriptum racionis, habend eciam ipsam frugalitatem magistram, numquam sumptuosis convivijs operam dant, collaciones serotine aput eos numquam fiunt, set eas despectissimas habent, non indulgent delicijs, que animos hominum et corpora dissolvunt, set temperato semper utuntur victu, ornato quidem, quo natura ipsa pro sui sustentacione contentatur. Non arbitrantur se ad pastum et ad servitutem ventris natos, ut plures ex nostris videmus, set ea omnia tamquam excialem ac pestem perniciosam detestantur et fugiunt. Sciunt enim, hec magni esse impedimenti ad studia laudabilia capescenda. 72

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ausstellt, geht es bei Hermann Schedel um das Einschreiben in eine gelehrte Elite. Das Lob der Itali dient hier in erster Linie dazu, den Anhängern der humanistischen Studien ein besonderes Prestige zuzusprechen.76 Dieses Prestige wirkt dann gleich in zweifacher Hinsicht auf Schedel selbst zurück, da er sich gegenüber dem Leipziger Gelehrten nicht nur als Italienstudent und Anhänger der neuen ‚studia humanitatis‘ darstellt, sondern diese Zugehörigkeit zugleich belegt, indem er in seinem medizinischen Exkurs die Ideale einer stoischen Lebensführung der Antike analog auf die ‚Itali‘ seiner eigenen Zeit überträgt.77 Wie schon bei Pirckheimer läuft die Selbstverortung also in diesem Fall nicht über Abgrenzung, sondern beruht auf einer Identifizierung mit den ‚Itali‘. Das Gegenbild der ‚anderen‘ Seite ist hingegen nur schwach ausgebildet. Anstelle des Begriffes ‚Germania‘ findet sich nur die Bezeichnung Alemannia, und das unspezifische patria könnte in diesem Fall auch nur Nürnberg meinen. Die Bezeichnungen für den Raum nördlich der Alpen waren auch unter italienischen Humanisten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch sehr variabel. Gerade der Kontakt mit Studenten aus dem Reich gab hier aber Anregung zu definitorischen Versuchen, wie sich an einem Text aus der Bibliothek Hartmann Schedels zeigen lässt. Dieser folgte nach einigem Zögern dem Rat seines Vetters und erlangte 1466 in Padua einen Doktorgrad in Medizin. Zu diesem Anlass hielt Hartmanns Lehrer, der aus Perugia stammende Humanist Matteolo Mattioli (gest. 1480) eine Lobrede, deren Niederschrift sich in einer Sammlung von Abschriften aus Hartmanns Studienzeit erhalten hat.78 Mattioli stellte darin in einem längeren Exkurs Germania, Allemannia und die Theutonum Regio als voneinander unabhängige Länder dar und erklärte neben Köln auch Schedels Heimatstadt Nürnberg zu einem Teil der Allemannia.79

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Die gegenseitige Zuschreibung ‚italienischer‘ Qualitäten war besonders in der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts ein gemeinschaftliches Identifizierungsmerkmal der Frühhumanisten nördlich der Alpen und findet sich so als Lob auch in den Briefen Enea Silvios; vgl. dazu Klaus Voigt, Italienische Berichte aus dem spätmittelalterlichen Deutschland. Von Francesco Petrarca zu Andrea de‘ Frances­ chi, Stuttgart 1973, S. 97. 77 Hier sichtbare Kennzeichen dieses Tugendideals sind die an den ‚Itali‘ gepriesene Selbstkontrolle, Affektdistanz, Mäßigung und Vernunftorientierung. Hamm konstatierte unter anderem in Bezugnahme auf die überlieferten Briefe Hermann Schedels, dass in Nürnberg „die Orientierung am Tugendkanon der popularisierten Stoa noch stärker hervortrete als ohnehin schon im europäischen Renaissance-Humanismus“; Hamm, Humanistische Ethik, S. 122. 78 Oratio Mathioli Perusini in Hartmanni Schedel Allemanni viri dignissimi in sua sacre medicine coronatione habita. Padua 17. April 1466, BSB, Clm 350, fol. 83r–85r; gedruckt bei Wilhelm Wattenbach, Hartmann Schedel als Humanist, in: Aus den Forschungen zur deutschen Geschichte 9 (1871), S. 349– 374, hier S. 368f. Daneben gibt es weitere Abschriften der Rede in anderen Bänden der Schedelschen Bibliothek: BSB, Clm 459, fol. 100r/v; sowie mit einer zusätzlichen Laudes Matheoli ebd., Clm 716, fol. 185v–187r. Letztere findet sich auch gedruckt bei Francesca Parisi, Contributi per il soggiorno padovano di Hartmann Schedel: una silloge epigrafica del codice latino monacense 716, in: Quaderni per la storia dell’università di Padova 32 (1999), S. 1–77, hier S. 53–57. 79 BSB, Clm 350, fol. 84r: Gallia omnis quam lata quamque ampla sit: apud Caesaris commentaria scriptum est: magnam enim habitabilis mundi partem Europa contentam in se habet: Inter partes autem eius Germania, Allemannia Et Theutonum regio site sunt; sowie ebd., fol.  84v: In Allemannia ergo regione nobilissima Hartmannus hic noster natus est.

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4. Das Lob der ‚Germani‘ als Städtelob Wie Dieter Mertens und Christopher B. Krebs bereits eindrücklich gezeigt haben, konkretisierte sich die synonyme Verwendung der Attribute ‚teutsch‘ und ‚germanus‘ erst langsam im Diskurs der folgenden Jahre, vor allem durch die Verbreitung der Germania des Tacitus, die Hermann Schedel 1459 noch nicht gekannt haben dürfte, die aber bereits 1472 in Bologna und nur zwei Jahre später auch in Nürnberg gedruckt werden sollte.80 Prägend für die Beschreibung der Deutschen wurden unter anderem die Kapitel 22 und 23, in welchen Tacitus die Trunkenheit und Zügellosigkeit zu typischen Elementen des germanischen Alltags und dem Ursprung ihrer Schwäche auf dem Schlachtfeld erklärte.81 Obwohl die antiken Werturteile über die ‚Germani‘ derart negativ ausfielen, sorgte ihre Einspeisung in den humanistischen Gelehrtendiskurs dafür, dass sie in der Folge nicht nur dafür dienten, die Überlegenheit des humanistischen Studiums in Italien auszustellen, sondern sogar dort rezipiert wurden, wo die Schreibenden gegen ein solches Studium und für eine Aufwertung der ‚Germani‘ argumentierten. Als Beispiel anzuführen ist etwa Johannes Cochläus (1479–1552), der von seinem Mentor Willibald Pirckheimer 1515 nach Bologna gesandt wurde, um dort seine theologischen Studien fortzuführen sowie als Tutor den Fortgang des Studiums von Pirckheimers Neffen Johann (1496–1557), Sebald (1498–1552) und Georg Geuder (um 1500–1551) zu begleiten. In seinen Briefen aus Bologna beschwert sich Cochläus regelmäßig über das aus seiner Sicht überbewertete Bologneser studio.82 In einem Brief vom 7. März 1517 versucht er daher, Pirckheimer davon zu überzeugen, ihn und die Geuder nach Germania zurückzuberufen. Die dortigen Griechischlehrer, etwa Johannes Caesarius (ca. 1468–1550), wären keinesfalls schlechter.83 Überhaupt sei nicht alles, was in Italia glänze, auch Gold. Nehme man den Germanis die Trunksucht, so seien sie den Italis in keiner Hinsicht unterlegen. Dieses Urteil begründet

80

Dieter Mertens, Die Instrumentalisierung der „Germania“ des Tacitus durch die deutschen Humanisten, in: Beck u. a. (Hg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“, S. 37–101, hier insbes. S. 78 zur „Take-off-Phase“ der deutschen Tacitus-Rezeption; Christopher B. Krebs, Negotiatio Germaniae. Tacitus‘ Germania und Enea Silvio Piccolomini, Giannantonio Campano, Conrad Celtis und Heinrich Bebel, Göttingen 2005, hier S. 111–156 zur negotiatio Germaniae. 81 Tacitus, Germania. Lateinisch und Deutsch, hg. v. Gerhard Perl, Berlin 1990, Kapitel 22.1, S.101f.: diem noctemque continuare potando nulli probrum. crebrae, ut inter vinolentos, rixae raro conviciis, saepius caede et vulneribus transiguntur; sowie ebd., Kapitel 23, S. 102: si indulseris ebrietati suggerendo quantum concupiscunt, haud minus facile vitiis quam armis vincentur. 82 So beklagt er etwa den Prunk und die seltenen Vorlesungen; vgl. Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 3, hg. v. Dieter Wuttke/Helga Scheible, München 1989, S. 61. 83 Ebd., S. 73f.: Sed ideo haec scribo, ut te praemoneam, si quando dominus meus seniores suos filios in Germaniam revocet, revocer et ego. [...] Quod si res esset mea, post alteram aestatem omnes in Germaniam rediremus. Nihil video, cur unus dimittatur, nisi forte propter graeculum unum interpretem, qui, cum doctus sit grece, latine tamen est ineptus tradendique gratiam nullam habet. Non dubito, quin foris vel Caesarius vel quivis mediocriter graece institutus fructuosius possit iuvenibus greca interpretari.

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er zusätzlich mit Verweisen auf die zahlreichen Morde und die starke Teuerung, aber auch auf die allgemeine Zügellosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Geringschätzung, die unter den Menschen herrsche.84 Dieses Beispiel zeigt, dass die Unterscheidung ‚italus‘/‚germanus‘ trotz ihrer Flexibilität hinsichtlich der mit ihr verbundenen Identifizierung nicht beliebig war, sondern immer auch eine Hierarchie beinhaltete, in welcher die ‚Itali‘ dem verehrten antiken Erbe prinzipiell näher standen. Wie bereits Rowland am Beispiel des oben zitierten polemischen Gedichts von Conrad Leontorius eindrücklich gezeigt hat, war das Ziel in Lobreden auf die ‚Germania‘ daher, die ‚Itali‘ als dekadente und unwürdige Erben der Latinität und die ‚Germani‘ als besser oder zumindest ebenbürtig zu präsentieren.85 Trotz der negativen Werturteile bei Tacitus wurde ihre Übertragung auf zeitgenössische Verhältnisse auch dort akzeptiert, wo es eigentlich um das Lob der ‚Germani‘ ging, weil sie eine Verbindung mit der antiken Welt herstellte und so eine Möglichkeit bot, sich unter Zurschaustellung des eigenen Wissens in die Kreise der humanistischen Gelehrten einzuschreiben. Eine derartige Ausstellung von Prestige bezeichnet Mertens zwar zurecht als „Elitenkonkurrenz“, verortet diese aber aus meiner Sicht durch die Einbettung in eine exklusiv gedachte „Konkurrenz der Völker“ an der falschen Stelle.86 Wie gerade Willibald Pirckheimers Selbstidentifizierung mit den ‚Itali‘ zeigt, ging es trotz der teils polemischen Gegenüberstellungen von Stereotypen im Kontext des humanistischen Gelehrtenstreits in konkreten Momenten der Selbstverortung gar nicht um die Identifizierung mit einer klar abgegrenzten Volksidentität, sondern um den Nachweis der eigenen und familiären Zugehörigkeit zu den humanistisch gebildeten Eliten. Die Selbstverortung über den Gegensatz zwischen ‚Itali‘ und ‚Germani‘ bestand daher häufig auch in einer gegenseitigen Zuschreibung von Ansehen. Der venezianische Humanist Giovanni Battista Cipelli (1478–1553), auch bekannt als Egnazio, schrieb beispielsweise am 15. September 1529 an Willibald Pirckhheimer, er beneide nicht nur dessen patria (also Nürnberg), sondern universae Germaniae um ihn, denn Italiae habe keinen, der mit Pirckheimer zu vergleichen wäre.87 In ähnlicher Weise funktioniert die gegenseitige Prestigezuschreibung zwischen ‚welschen‘ Lehrern und ‚teutschen‘ Studenten, die Christoph Kress in seinen Briefen andeutet.

84

Ebd., S. 74: Crede mihi: non totum est aurum, quot rutilat in Italia. Tolle a Germanis crapulam, nihilo erunt Italis inferiores. Sunt hic sumptus gravissimi, summa licentia vitae, religio frigidissima, armorum mille pericula, homicidia crebra, insidiae plurimae, hominum contemptus. 85 Rowland, Revenge, S. 315: „The extent to which the Italians have forfeited their birthright shows most explicitly in Leontorius’ claim that ‚blissful Venus bore the Germans’. Venus after all, was the traditional ancestress, through Aeneas and Ascanius, of the Julian clan, and by extension, of the Roman Empire itself.“ 86 Mertens, Auslandsstudium, S. 97f. 87 Pirckheimers Briefwechsel, Bd. 7, hg. v. Helga Scheible, München 2009, S. 245: Quodsi verum fateri tecum ingenue velim, invideo plane tantae virtuti tuae, invideo huic tuae laudi, invideo non solum patriae, quae te genuit, verum etiam universae Germaniae iam tuae, quae nostrae Italiae hoc alumno praefaerre et ostentare sese nobis suo iam iure potest. Neque enim illi iam superest quem tibi non modo praeponere se[d] ne[c] quem tecum conferre habeat.

‚Welsch‘ oder ‚teutsch‘

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Die scheinbar so klar umgrenzte Alterität in der Gegenüberstellung von ‚Itali‘ und ‚Germani‘ löst sich also bei genauerer Betrachtung auf. Der implizite ‚Andere‘ wäre in diesem Verhältnis allenfalls noch, wer nicht in der Lage wäre, die gelehrten Verweise zu erkennen und sich am Diskurs zu beteiligen. Damit soll jedoch ausdrücklich nicht gesagt werden, dass die Gegenüberstellung nicht auch dazu gedient hätte, soziale Hierarchien zu stärken. Die Verwendung der Unterscheidung zwischen ‚Itali‘ und ‚Germani‘ war mehr als ein universalistischer Zugehörigkeitsbeweis, gab sie doch auch Gelegenheit zur Distinktion. Nur beruhte diese Selbstauszeichnung nicht auf der festen Identifizierung mit einem der verwendeten ‚nationalen‘ Stereotype, sondern orientierte sich auch im humanistischen Diskurs weiterhin am Ansehen der eigenen Familie sowie dem der Herkunfts- oder Studienstadt.88 Gut zu sehen ist das in der Lobrede des Juristen Christoph Scheurl, die er am 1. Mai 1505 in San Domenico in Bologna anlässlich der Einführung des neuen Rektors Wolfgang Kettwig hielt und die er im Jahr darauf ebendort unter dem Titel Libellus de laudibus Germaniae et Ducum Saxoniae drucken ließ.89 Bereits Mertens beschrieb sie in seiner Analyse treffend als ein Beispiel für den „gentil, regional oder reichstädtisch, auf vorgestellte oder tatsächliche Gruppenstrukturen basierten und funktionalisierten Nationaldiskurs der Eliten.“90 Zu einseitig erscheint mir jedoch die auch hier von Mertens vertretene These, die Funktion dieses Diskurses bestehe vor allem in einer „Abgrenzung von anderen vor anderen“.91 Natürlich werden der Textform der Lobrede gemäß bei Scheurl vor allem die überlegenen Qualitäten der Germania vorgeführt. Diese Überlegenheit wird jedoch häufig nicht durch Gegensätze, sondern vielmehr durch die Ausstellung von Abhängigkeiten und übertragener Autorität im Sinne einer ‚translatio imperii‘ verdeutlicht, so etwa mit dem Hinweis, viele der Adelsfamilien der Itali stammten ursprünglich aus Germania.92 Das Lob der Germania bildet zudem den Rahmen für ein ausführliches Lob seiner Heimatstadt Nürnberg (quȩ mihi iucundissima patria est) und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner.93 Der Bezug zu ‚Germania‘ und ‚Italia‘ hat an diesen 88

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Hamm, Humanistische Ethik, S. 66: „Richtig ist auch, daß der Humanismus – trotz aller Beweglichkeit der Humanisten in geographischer Hinsicht und auf der sozialen Leiter – starke Bindungen an ein konkretes institutionelles/gesellschaftliches/politisches und regionales/lokales Bezugssystem mit einer spezifischen Atmosphäre, seinen Strukturelementen und Werten besitzt, z. B. die Bindung an ein bestimmtes Universitätsmilieu in einem bestimmten Fürstentum oder die Bindung an eine bestimmte Gesellschaftsschicht in einer ganz speziell geprägten Stadt.“ 89 Christoph Scheurl, Libellus de laudibus Germaniae et Ducum Saxoniae, Bologna 1506; Staatliche Bibliothek Regensburg, 999/4 Hist. pol. 836. 90 Dieter Mertens, Laudes Germaniae in Bologna und Wittenberg. Zu Christoph Scheurls „Libellus de laudibus Germaniae et Ducum Saxoniae“ 1506 und 1508, in: Fabio Forner (Hg.), Margarita amicorum: studi di cultura europea per Agostino Sottili, Mailand 2005, S. 717–731, hier S. 730. 91 Ebd., S. 726. 92 Scheurl, Libellus, Abschnitt E, fol. VIr. Ähnliche Argumente finden sich auch bei Hartmann Schedel, Conrad Celtis oder Jakob Wimpfeling; vgl. Franz Josef Worstbrock, Hartmann Schedels „Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus“. Zur Begründung und Erschließung des historischen Gedächtnisses im deutschen Humanismus, in: Dietmar Peil/Michael Schilling/Peter Strohschneider (Hg.), Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur, Tübingen 1998, S. 215–243, hier S. 242. 93 Scheurl, Libellus, Abschitt F, fol Vv–Abschitt G, fol. IIr.

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für die Selbstverortung entscheidenden Stellen erneut keine abgrenzende, sondern eine integrative Funktion: So würden die Nürnberger sprichwörtlich Händler genannt, denn sie sammelten große Reichtümer an, unter den Germanos gar so viele, wie die Venezianer unter den Italos. Aus diesem Grund werde Nürnberg auch das Venetiae Teutonicae genannt, in derselben Weise wie Lyon unter den Gallos, Cor­ doba unter Hispanos, Buda unter den Pannonios, Krakau unter den Polonos und Prag unter den Boemos.94 Scheurls Lob der Stadt Nürnberg trägt in diesen Passagen viele Züge des wesentlich älteren Städtelobs, das jedoch im humanistischen Diskurs eine neue Rahmung erhält: Der Vergleich der Qualitäten verschiedener Städte wird nun in eine Gegenüberstellung von ‚Italia‘ und ‚Germania‘ und diese wiederum in eine Aufzählung weiterer Länder und ihrer ‚ersten‘ Städte eingebettet.95 Scheurl betont hier nicht einfach Nürnbergs Ruf als Handelsmetropole, sondern gibt ihr ein zusätzliches Prestige, indem er sie zum Venedig der ‚Germani‘ erklärt. Auf diese Weise erhält das Lob der eigenen Stadt nicht nur zusätzliche Autorität vor seiner humanistisch gebildeten Zuhörerschaft, sondern erweitert auch das Publikum an sich. Ein derartiger Natio­ naldiskurs wurde schließlich nicht nur vor den versammelten ‚universitates‘ in San Domenico verstanden, sondern ließ sich auch an anderen Stellen gewinnbringend kommunizieren. Nach der Veröffentlichung in Bologna 1506 ließ Scheurl die Rede mit leichten Veränderungen ein weiteres Mal 1508 in Leipzig drucken.96 Das der Rede in beiden Druckversionen wahrscheinlich nachträglich hinzugefügte Lob auf den Ducum Saxoniae und die Widmung an Friedrich den Weisen zeigen klar, wo­ rum es Scheurl im Wesentlichen ging: Druck und Verbreitung der Rede dienten als Bewerbungsschreiben für die von ihm angestrebte Anstellung an der sächsischen Universität Wittenberg, über welche zur Zeit des ersten Druckes gerade verhandelt wurde.97 Dementsprechend verband Scheurl zum Ausweis seiner Eignung gelehrte Bezüge auf antike Schriften mit Hinweisen auf sein eigenes Studium in Italien, wobei er, wie bereits Carla Meyer bemerkte, Städte- und Personenlob eng verknüpfte.98 So zitiert er ungenannt Plutarch, indem er berichtet, Platon habe genio atque fortunae 94

Ebd., Abschnitt F, fol.  VIIr: Nurembergenses uero mercatores prouerbialiter cognominati sunt. [...] Vnde ciuitati maximae accedunt diuitiȩ: et tantum apud germanos nomen: quantum Ventetiis apud Italos: unde etiam Venetiae Teutonicae cognominata est: quantum Lungduno apud Gallos: Cordubȩ apud Hispanos: apud Pannonios Budae: apud Polonos Cracouiae: Pragae apud Boemos. 95 Laut Carla Meyer, Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500, Ostfildern 2009, S.  29, wählten die Nürnberger Humanisten bereits ab der zweiten Hälfte des 15.  Jahrhunderts zunehmend das Städtelob als Sujet mit dem Ziel, ihrer Stadt einen der antiken Städte vergleichbaren Nachruhm zu geben und begannen daher, „die Stadt als Ganze wahrzunehmen und systematisch in Bild und Schrift zu porträtieren“. 96 Libellus de Laudibus Germanie et ducum Saxonie editus a Christophoro Scheurlo Nurembergensi Juris utriusque Doctore, Leipzig 1508; Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, 4 NL 468. Auskunft über die Verbreitung der Rede gibt zudem der erhaltene Briefwechsel mit Sixtus Tucher, vgl. Scheurl’s Briefbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Reformation und ihrer Zeit, hg. v. Franz von Soden/J. K. F. Knaake, Potsdam 1867, hier insbes. der Brief aus Bologna vom 29.01.1506, S. 9. 97 Dazu ausführlich Mertens, Laudes, S. 722. 98 Meyer, Stadt, S. 293.

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dafür gedankt, als Mensch und nicht als Tier, als Grieche und nicht als Barbar sowie zu Lebzeiten des Sokrates geboren worden zu sein.99 Ebenso danke er, Christophoro, dafür, als Mann und nicht als Frau sowie als Nürnberger und nicht als Italus geboren worden zu sein (quod Nurembergensis natus sum et non Italus). Damit verbindet er jedoch unmittelbar den Dank, während seines siebenjährigen Studiums in Bologna der Schüler ‚unvergleichbarer‘ Lehrer gewesen zu sein (incomparabilibus praeceptoribus candidatum esse).100 Ausgerechnet im Moment der Abgrenzung von den ‚Itali‘ wählt Scheurl hier also nicht die angesichts der Textform naheliegende Identifikation mit den ‚Germani‘, sondern weist erneut auf seine Nürnberger Herkunft hin. Gleichzeitig ist, anders als im Fall der Gegenüberstellung von graecus und barbarus im Plutarchzitat, die Alterität von Italus keineswegs klar gefasst, schließlich stützt Scheurl sein Prestige direkt im nächsten Halbsatz auf das Lob seiner Bologneser Lehrer, welche er trotz der Unvergleichbarkeitsbehauptung indirekt auf eine Stufe mit Sokrates hebt, während er sich selbst in die Nähe von Platon stellt. In ähnlicher Weise lobt Scheurl auch seinen Onkel und wichtigsten Förderer Sixtus Tucher (1459–1507), der während seines Studiums in Pavia, Padua und Bologna großes Ansehen unter seinen Lehrern genossen habe.101 Die Feststellung, dass Scheurls Lob der ‚Germania‘ im Wesentlichen seine eigene Karriere befördern sollte, passt zu der bereits von Hirschi mit Blick auf die besonderen Bedingungen des humanistischen Elitenwettbewerbs vertretenen These, dass eine wesentliche Leitfunktion des humanistischen Nationalismus aus Sicht seiner Konstrukteure darin bestünde, „die soziopolitische Dynamik, der sie ausgesetzt waren, zu bewältigen und der eigenen Sozialisierung dienstbar zu machen“.102 Die Vorstellung einer Nachrangigkeit ‚nationaler‘ Loyalitäten lehnt Hirschi jedoch ab 99

Scheurl, Libellus, Abschnitt F, fol. VIIIv: Quemadmodum Plato suo genio atque fortunae trium maxime rerum gratias agebat. Primo quod homo et non bestia. z° quod graecus et non barbarus natus esset. 3°. quod per Socratis tempora aetatem ageret. Der Satz ist eine verkürzte Paraphrase aus Plutarchs Biografie des Gaius Marius, Kapitel 46,1; vgl. Plutarch’s Lives. IX Demetrius and Antony. Pyrrhus and Caius Marius, hg. v. Bernadotte Perrin, London/Cambridge 1968, S. 594f. 100 Scheurl, Libellus, Abschnitt F, fol.  VIIIv: Ita ego Christophoro op. maximo magno obstrictus sum beneficio: quod uir et non foemina. quod Nurembergensis natus sum et non Italus. et quod septem continuis annis me contigit Bononiae diuini humanique iuris sub Ludouico Gipso et Ioanne Monteferrato excellentissimis et incomparabilibus praeceptoribus candidatum esse. Scheurls eigener Dank ist wahrscheinlich wiederum ein Verweis auf die „Vitae philosophorum“, Kapitel 1,33 des Diogenes Laertios, der Thales von Milet ähnliche Worte in den Mund legt wie Plutarch Platon; nur fehlt bei Diogenes der Dank für die Geburt zu Lebzeiten des Sokrates, stattdessen dankt Thales dafür, als Mann und nicht als Frau geboren worden zu sein. Gleichzeitig weist Diogenes darauf hin, dass Hermippos das Zitat Sokrates zuschreibe; vgl. Diogenis Laertii, Vitae Philosophorum, Bd. 1, hg. v. H. S. Long, Oxford 1964, S. 13f. 101 Scheurl, Libellus, Abschnitt G, fol. Iv–IIr. Zur Beziehung zwischen Christoph Scheurl und Sixtus Tucher mit einer ausführlichen Analyse der Lobrede vgl. Antonia Landois, Gelehrtentum und Patri­ zierstand. Wirkungskreise des Nürnberger Humanisten Sixtus Tucher (1459–1507), Tübingen 2014, S. 303–309, sowie ebd., S. 307, Anm. 239, zu der wahrscheinlich nicht plausiblen Beziehung Tuchers zu den von Scheurl als Zeugen angeführten Lehrern. 102 Caspar Hirschi, Vorwärts in neue Vergangenheiten. Funktionen des humanistischen Nationalismus in Deutschland, in: Thomas Maissen/Gerrit Walther, Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, Göttingen 2006, S. 362–395, hier S. 374.

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und verweist darauf, dass ein Primat der nationalen Zuordnung auch in der Moderne zweifelhaft sei.103 Eine derartige Hierarchisierung unterschiedlicher Zugehörigkeiten liegt auch mir fern. Vielmehr lautet meine These, dass die Bezugnahme von Nürnberger Studenten auf ‚nationale‘ Stereotypen vorerst gar keine feste Form ‚nationaler‘ Zugehörigkeit konstruierte, sondern als wichtiger, aber flexibler Rahmen der Ausstellung anderer Zugehörigkeiten diente.

5. Ausblick: Die ‚nationale‘ Differenz als prestigereicher Diskursrahmen für die Selbstverortung Dass die Bezugnahme auf ‚Germania‘ und ‚Italia‘ neben der eigenen Zugehörigkeit zur humanistischen Gelehrtenwelt nicht ‚nationale‘ sondern weiterhin städtische und familiäre Identitäten reflektierte, ließe sich an vielen weiteren Werken demonstrieren, die aber nur indirekt im Zusammenhang mit dem Italienstudium ihrer Autoren stehen. Darunter fällt auch das Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus Hartmann Schedels.104 Der erste Teil der mehrmals überarbeiteten Handschrift entstand zwischen 1502 und 1504 und versammelt neben den bereits zitierten polemischen Gedichten vor allem antike Inschriften italienischer Städte. Grundlagen der Zusammenstellungen waren teilweise auch eigene Aufzeichnungen, welche ebenso wie die Sammlung der verwendeten Vorlagen laut Franz Josef Worstbrock und Francesca Parisi teilweise auf Schedels Studium in Padua (1463–1466) zurückgehen.105 Bis 1505 erweiterte Schedel das Werk dann um einen zweiten Teil, der seinerseits eine nach Städten geordnete Inschriftensammlung der ‚Germania‘ enthält. Ziel dieses Doppelwerkes war es, die ‚Germania‘ trotz der geringeren Überlieferung antiker Inschriften auf eine Stufe mit der ‚Italia‘ zu stellen, ein Vorhaben, das zu dem humanistischen Projekt einer ‚Germania illustrata‘ gezählt werden kann, welches sich an dem ebenfalls von Schedel für den italienischen Teil verwendeten Werk Flavio Biondos orientierte.106 Dieser ‚nationale‘ Wettstreit sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, wodurch diese „bipolare Komposition“107 zusammengehalten wird. Am Anfang des Werkes steht ein doppelseitiger Holzschnitt Roms, am Ende ein doppelseitiger Holzschnitt Nürnbergs – beide waren von Schedel schon 1493 in der 103

Vgl. ebd. sowie Ders., Wettkampf, S. 36. Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus, BSB, Clm 716. 105 Worstbrock, Hartmann Schedels „Liber antiquitatum“, hier insbes. S. 231 zu Schedels eigenen Aufzeichnungen und S. 233 zu den Vorlagen. Parisi identifizierte die bereits in Italien begonnene Sammlung in BSB, Clm 369, als wichtigste Vorlage des Abschnitts über Padua, Parisi, Contributi, S. 16f. 106 Vgl. beispielhaft Ulrich Muhlack, Das Projekt der „Germania illustrata“. Ein Paradigma der Diffusion des Humanismus?, in: Helmrath/Muhlack/Walther (Hg.), Diffusion, S. 142–158. 107 Worstbrock, Hartmann Schedels „Liber antiquitatum“, S. 229. 104

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Weltchronik verwendet worden.108 Und genauso wie der italienische Teil von der Beschreibung römischer Ruinen ausgeht, beginnt der Abschnitt zur ‚Germania‘ mit Nürnberg: Neben einigen Inschriften und Epitaphen berühmter Bürger besteht er größtenteils aus einem Städtelob, beginnend mit der auch von Scheurl rezipierten Legende von der römischen Gründung der Stadt.109 Auch hier diente die Gegenüberstellung von ‚Italia‘ und ‚Germania‘ also letztendlich wieder dem Prestige der eigenen Stadt, nur dass Nürnberg in diesem Fall nicht als das Venedig, sondern als das Rom der ‚Germania‘ und die erste Stadt in einer ganzen Reihe von bedeutenden Städten mit einem (angeblich) antiken Erbe dargestellt wird.110 Gleichzeitig bot dieser Hintergrund für den in Italien ausgebildeten Schedel auch wieder eine besondere Gelegenheit, seine eigene Autorität und Zugehörigkeit zu belegen. So weist er im Vorwort zu den Inschriften Paduas stolz darauf hin, dass er – nurembergensis artium – schließlich auch vtriusque medicine doctor patauinus sei.111 Nur wenig später kommt er in einem Abschnitt über die Geschichte der Universität Padua nochmals auf sein eigenes Studium dort zu sprechen und lobt in diesem Zusammenhang nicht nur seinen Lehrer Matteolo Mattioli, sondern zitiert erneut die bereits erwähnte Rede über die Lage von Germania, Allemannia et Theutonum regio, die Mattioli anlässlich der Verleihung seines Doktorgrades gehalten habe.112 Hier also zeigt sich der Vorteil der Rede von den ‚Itali‘ und ‚Germani‘ beziehungsweise den ‚Teutschen‘ und ‚Welschen‘ für die Selbstverortung gegenüber anderen denkbaren komplementären Zuschreibungen, wie etwa der direkten Gegenüberstellung städtischer Zugehörigkeiten. Sie war ein in vielerlei Hinsicht einsetzbares Verweismittel, eine wandelbare Referenz, die Zugehörigkeit zur humanistischen Gelehrtenwelt demonstrierte und es gleichzeitig ermöglichte, sich selbst, der eigenen Familie oder Stadt innerhalb dieses weithin verstandenen Diskurses besonderes Prestige oder besondere Autorität zuzuschreiben. Auf diese Weise ließe sich auch erklären, warum die Werturteile über ‚Itali‘ und ‚Germani‘ nicht nur in den untersuchten Beispielen, sondern im humanistischen Gelehrtendiskurs allgemein so stark schwankten,

108

Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus, BSB, Clm 716, jeweils vor und hinter der ursprünglichen Blattnummerierung, der archivalischen Blattnummerierung folgend Rom auf fol. 4v–5r sowie Nürnberg auf fol. 328v–329r. Im Vergleich dazu Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte Gesamtausgabe von 1493, hg. v. Stephan Füssel, Augsburg 2005, fol.  LIIv–LIIIr zu Rom und fol. XCIXv–Cr zu Nürnberg. 109 Ebd., fol. 291r–297v (nach Schedels Nummerierung). Im Vergleich dazu bei Scheurl, Libellus, Abschnitt F, fol. VIr. 110 Auch hier spielt das Argument der ‚translatio imperii‘ eine große Rolle, indem Nürnberg als das kaiserliche Rom erscheint, das gemeinsam mit dem päpstlichen Rom das Imperium bildet. Vgl. dazu Worstbrock, Hartmann Schedels „Liber antiquitatum“, S. 243. 111 Liber antiquitatum cum epitaphiis et epigrammatibus, BSB, Clm 716, fol. 177r: Ego Hartmannus Schedel nurembergensis artium ac vtriusque medicine doctor patauinus. 112 Vgl. ebd., fol. 184v–187r ab dem Abschnitt De gymnasio.

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derselbe Autor je nach Kontext entweder die eine oder die andere Seite lobte und die Ausstellung negativer Stereotype über die ‚Germania‘ bei italienischen Humanisten der positiven Bewertung einer Stadt wie Nürnberg nicht im Weg standen.113 Die Kombination aus weitreichendem Prestige und relativer Flexibilität begründete aber auch den Erfolg des Gegensatzpaares als diskursives Mittel, das im Verlauf des 16. Jahrhunderts neuen Grenzziehungen Autorität verleihen sollte. Die Gegenüberstellung von ‚Italia‘ und ‚Germania‘ bot einen naheliegenden Anschlusspunkt für reformatorische Kritik an der römischen Kirche.114 Inwiefern und in welcher Weise sich aber konfessionelle Zuschreibungen, die in den hier untersuchten Texten noch keine große Rolle spielten, in konkreten Momenten der Selbstverortung direkt mit ‚nationalen‘ Zuschreibungen verbanden, müsste an späteren Texten noch eingehender untersucht werden. Mögliche Spuren einer konfessionellen Konnotation der Zuschreibung ‚welsch‘ im Studienkontext zeigen sich beispielsweise in den Briefen, die Paul Behaim II. (1557–1621) zwischen 1575 und 1579 aus Padua an seine Mutter und Schwestern in Nürnberg schrieb.115 Aber auch in dem hier untersuchten Zeitraum zwischen der Mitte des 15. und der Mitte des 16. Jahrhunderts gibt es allein für das Fallbeispiel Nürnberg zahlreiche weitere Selbstzeugnisse, an denen sich die hier vorgestellten Thesen überprüfen ließen: Neben zusätzlichen studentischen Briefen116 kämen für weiterführende Untersuchungen auch Zeugnisse von Nürnbergern in Frage, die ihre Kaufmanns113

So konstatierte Giuseppe Lombardi, dass trotz der teilweise den ‚Germani‘ in den Werken italienischer Humanisten entgegengebrachten Verachtung das Städtelob Nürnbergs an keiner Stelle davon beeinträchtigt würde: Abbiamo visto che, nel caso di Norimberga, certo una delle più attraenti e ricche città dell’epoca, tale giudizio negativo nei confronti del mondo germanico è del tutto assente; Giuseppe Lombardi, Historia, descriptio, laudatio. Gli umanisti italiani e Norimberga, in: Kapp/Hausmann (Hg.), Nürnberg und Italien, S. 129–154, hier S. 141. 114 Auch dieser Aspekt ist durch die nationalistische Überhöhung der Reformation in der Moderne häufig missverstanden und überbetont worden. Eine ausgewogene Analyse des konfessionellen Nationaldiskurses und der Gegenüberstellung von Deutschland und Italien bei Martin Luther findet sich bei Hirschi, Wettkampf, S. 416–428. 115 Vgl. Wilhelm Loose, Deutsches Studentenleben in Padua 1575 bis 1578, in: Ders., Beiträge zur Schulund Universitätsgeschichte, Meißen 1879, S. 11–38. Am 19.10.1575 klagte Behaim in Bezug auf einen unaufgeklärten Diebstahl, die Welschen würden über seine Not nur lachen und spotten und es gebe auf der ganzen Welt keine ergere leuth [...] die da gottloser und wilder sein den die heiden, ebd., S. 19. Und am 03.01.1577 schreibt er nach langer Krankheit, Gott habe ihn bisher in Welschlandt an leib und gutt angriffen und gestrafft, er danke ihm aber für die Gnade, dass er im dazienige, so meiner seelen seligkeit betrifft, als nemblich sein göttlich wortt, welchs in diesen landen also misgebraucht wirdt, gantz und unversehrtt erhelt; ebd., S. 25. Mit Verweis auf die päpstliche Herrschaft in Bologna entscheidet er sich zudem gegen ein Studium dort, Hauptgrund für seine Ablehnung sind laut dem Brief vom 29.08.1577 jedoch weder das Regiment noch die Glaubenspraxis der Bevölkerung, sondern der Umstand, dass dort keine anderen Studenten mehr hinzögen den lauter Bayren, die da nun papistisch sein, also daz nicht gutt bei inen zu stehen ist; ebd., S. 34. Der gemeinsamen Identifikation über das Attribut ‚teutsch‘ sind hier durch die Konfessionalisierung der frühneuzeitlichen Universitätslandschaft also eher noch engere Grenzen gesetzt. 116 Zu nennen sind hier vor allem die Briefe aus der Studienzeit Christoph Scheurls, von denen nur ein geringer Anteil im 1867 herausgegebenen Briefbuch abgedruckt ist; vgl. Scheurl’s Briefbuch, S. 143. Laut Landois, Gelehrtentum, S. 301, stellen die 159 in der Scheurl-Bibliothek Bd. 361/310 überlieferten Briefe aus dem Zeitraum von 1499 bis 1505 „schlechterdings die umfangreichste Korres­pondenz eines Italienstudenten dieser Zeit dar“.

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lehre in Mailand oder Venedig absolvierten. So haben sich beispielsweise im Fall von Daniel Tucher (1530–1551) mehrere Briefe aus der Zeit seiner Kaufmannslehre in Mailand erhalten.117 Weitere Erkenntnisse zur Bedeutung der Unterscheidungen ‚teutsch‘/‚welsch‘ und ‚germanus‘/‚italus‘ verspricht zudem die bereits von Thomas Eser angestoßene Analyse dieser Zuschreibungen im Bereich des Kunsthandwerks und ihrer Reflexion in Texten wie Johann Neudörfers Nachrichten von Nürnberger Künstlern und Werkleuten von 1547.118 Eben jener Neudörfer gab übrigens zur selben Zeit dem eingangs zitierten Christoph III. Kress den ersten Schreibunterricht – nur eine von vielen Querverbindungen in dem hier nur ausschnittsweise betrachteten Nürnberger Elitendiskurs.119 Von einer exklusiven, also auf Abgrenzung beruhenden Nationalidentität um 1500 zu sprechen, ist meines Erachtens auf Grundlage der hier analysierten Beispiele wenig sinnvoll. Das soll nicht heißen, dass der humanistische Nationaldiskurs nicht durch die Naturalisierung von Stereotypen eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung moderner Nationalismen gewesen ist.120 Aber zumindest in den hier betrachteten Texten scheinen Nürnberger Studenten bei der Thematisierung ihres Lebens an italienischen Studienorten für ihre Selbstverortung nicht auf die Alteritätskonstruktionen ihrer an anderer Stelle polemisch verteidigten Nationaldiskurse angewiesen gewesen zu sein. Wenn überhaupt nutzten sie den Verweis auf ‚nationale‘ Stereotype in Momenten der Selbstverortung eher dafür, ihr eigenes Prestige und ihre damit verbundenen familiären, korporativen und ständischen Zugehörigkeiten vor einem breiten Gelehrtenpublikum effektiver zu kommunizieren.

117

Die Briefe Daniel Tuchers aus Mailand an seinen Vater Linhart Tucher finden sich im Stadtarchiv Nürnberg, E 29/IV, Nr. 106–116. Einen hilfreichen Überblick zu den Briefen von Nürnberger Patriziertöchtern und -söhnen im 16. Jahrhundert gibt zudem Robert Peter Ebert, Verbstellungswandel bei Jugendlichen, Frauen und Männern im 16. Jahrhundert, Tübingen 1998, insbes. S. 14–76. 118 Des Johann Neudörfer Schreib- und Rechenmeisters zu Nürnberg Nachrichten von Künstlern und Werkleuten daselbst aus dem Jahre 1547 nebst der Fortsetzung des Andreas Gulden, hg. v. Georg Wolfgang Karl Lochner, Wien 1875; vgl. dazu Eser, Italianismus, S. 339. 119 Vgl. von Frank zu Döfering, Die Kressen, Sp. 351. 120 So etwa die Argumentation bei Hirschi, Wettkampf, S. 501.

VORURTEILE UND EIGENE ERFAHRUNGEN. BESCHREIBUNGEN VON FREMDEN IN DER CHRONIK DES HANNOVERSCHEN KAMMERSCHREIBERS JOHANN HEINRICH REDECKER (1682–1764) Christian Schlöder

1. Einleitung Neben klassischen Selbstzeugnissen wie Memoiren und Briefen bieten auch viele Chroniken die Möglichkeit, die Gedanken- und Gefühlswelt des Autors zu unter­ suchen. Sogar die Schilderungen von kriegerischen und politischen Ereignissen, die der Chronist aus dritter Hand erfahren hat, lassen häufig Rückschlüsse auf die Einstellungen, Ansichten und sogar Gefühle des Chronisten zu. Aufschlussreicher sind jedoch in der Regel Berichte über eigene Begegnungen und Erlebnisse aus der Ich-Perspektive des Chronisten, die sich in einigen Chroniken finden. Eine dieser Chroniken ist die Historische Collectanea von der Königlichen und Churfürstlichen Residentz-Stadt Hannover des hannoverschen Kammerschreibers Johann Heinrich Redecker (1682–1764).1 Im vorliegenden Beitrag wird diese Quelle vorgestellt und im Hinblick auf die Beschreibung und Wahrnehmung von Fremden untersucht. Zunächst werden alle bekannten Informationen über den Autor zusammengetragen, bevor nach einer allgemeinen formalen und inhaltlichen Beschreibung der Quelle das methodische Vorgehen dargelegt wird. Im Anschluss werden Redeckers Beschreibungen von Fremden untersucht, die hierfür nach ihrer Herkunft in eindeutig voneinander abgrenzbare Gruppen eingeteilt werden. Dabei wird die Frage verfolgt, inwiefern Redeckers Beschreibungen von Vorurteilen geleitet sind und wie sich demgegenüber persönliche Erfahrungen auf seine Beurteilungen dieser Menschen und ihrer Eigenschaften auswirkten. Im Fazit folgt eine differenzierte Interpretation von Redeckers 1

Johann Heinrich Redecker, Historische Collectanea von der Königl(iche)n und Churfürstl(ichen) Residentz-Stadt Hannover, 2 Bde. u. Registerband, 1723–1762, Stadtarchiv Hannover, 1 AA 3, Nr. 8287 (Bd. 1); ebd., Nr. 8288 (Bd. 2); ebd., Nr. 8288 A (Registerband).

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Einstellungen und seinem Verhalten gegenüber fremden Menschen. Abschließend werden Perspektiven sowohl für zukünftige Untersuchungen dieser hannoverschen Chronik als auch für vergleichende Arbeiten aufgezeigt.

2. Johann Heinrich Redecker Über den Autor Johann Heinrich Redecker ist vergleichsweise wenig bekannt.2 Er war bei seinem Tod am 10. November 1764 82 Jahre und 3 Monate alt, sodass er im Sommer 1682 geboren sein muss. Ein Taufeintrag konnte jedoch bisher nicht ermittelt werden.3 Seine berufliche Laufbahn begann Redecker in Harpstedt. Mit der vor den Toren Bremens im Oldenburger Land gelegenen Stadt blieb er zeit seines Lebens eng verbunden. Er verfasste sogar eine Chronik von Harpstedt, die zwar im Zweiten Weltkrieg im damaligen Staatsarchiv Hannover verbrannte, aber in zwei maschinenschriftlichen Abschriften im Niedersächsischen Landesarchiv erhalten geblieben ist.4 Kürzlich ist eine Edition erschienen, die sowohl für die wissenschaftliche als auch für die heimatkundliche Forschung einen leichten Zugang zu dieser Quelle ermöglicht.5 Laut den autobiographischen Eintragungen in dieser Chronik lebte Redecker mindestens bis 1719 in Harpstedt, bevor er spätestens 1723 nach Hannover übersiedelte und als Hofkammerschreiber tätig war. Er heiratete 1726 in Hannover und erhielt 1733 das Bürgerrecht.6 In der Abteilung Hannover des Niedersächsischen Landesarchivs werden mehrere handgezeichnete Karten der Stadt Harpstedt aus der Feder Redeckers aufbewahrt.7 Vermutlich gibt oder gab es im Stadtarchiv Hannover sechs weitere handgezeichnete Pläne der Stadt Hannover, die ebenfalls von Redecker stammen.8

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Klaus Mlynek, Art. „Redecker, Johann Heinrich“, in: Stadtlexikon Hannover. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, hg. v. Dems./Waldemar R. Röhrbein, Hannover 2009, S. 517; Helmut Zimmermann, Hannoversche Porträts. Lebensbilder aus sieben Jahrhunderten, Hannover 1983, S. 55–57. 3 In den Kirchenbüchern aus Hannover findet sich kein Eintrag. Lediglich im Sterberegister der Schlosskirche zu Hannover von 1764 wird auf sein Alter von 82 Jahren und 3 Monaten hingewiesen; Zimmermann, Hannoversche Porträts, S. 55. Im Taufregister der Stadtpfarrei in Harpstedt findet sich für das Jahr 1682 ebenfalls kein Eintrag über eine Taufe Redeckers. 4 Johann Heinrich Redecker, Historische und Geographische Collectanea von der uralten Burg und Weichbilde Harpstädt auch umherliegendem Amt und deßen Nachbarschaft, 2 Bde., Niedersächsisches Landesarchiv – Abteilung Hannover [NLA HA], MS Nr. 100; ebd., Nr. 101. 5 Johann Heinrich Redeckers Historische und Geographische Collectanea von der uralten Burg und Weichbilde Harpstädt auch umliegendem Amt und dessen Nachbarschaft nach der Abschrift von Robert Grimsehl, hg. v. Herbert Bock, Kiel 2018. 6 Zimmermann, Hannoversche Porträts, S. 56. 7 NLA HA, Kartensammlung Nr. 12 l Harpstedt 37 pk; ebd., Harpstedt 38 pk; ebd., Harpstedt 39 pk. 8 Otto Jürgens, Ein geschichtlicher Atlas der Stadt Hannover, in: HannGbll 8 (1905), S. 193–206, hier S. 193.

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Was kennzeichnete die Stadt Hannover zur Lebenszeit Redeckers? Hannover war seit 1636 Residenzstadt des Fürstentums Calenberg, das 1692 zum Kurfürstentum erhoben wurde. Seit 1714 bis zum Ende der Personalunion mit Großbritannien im Jahr 1837 residierte der Fürst als König von Großbritannien in London. Trotz des Wegzugs von Kurfürst Georg Ludwig (reg. 1698–1727) als König Georg I. von Großbritannien nach London im Jahr 1714 florierte die Stadt im 18.  Jahrhundert weiterhin und wuchs stetig. Dies ist eine bemerkenswerte Tatsache, die auch auf die zunehmende Bedeutung der Hauptstadt verweist. Hannover hatte Ende des 17. Jahrhunderts ca. 10.500 Einwohner,9 wovon nur etwa 300 dem Hof angehörten.10 Damit war Hannover eine mittelgroße Residenzstadt. In der Altstadt durften auch während des 18.  Jahrhunderts keine Menschen leben, die nicht dem lutherischen Glauben angehörten. In der Neustadt, dem Regierungsviertel nahe dem Hof, konnten sich dagegen Menschen jeder Glaubensrichtung niederlassen.11

3. Vorstellung der Quelle Die handschriftliche Chronik umfasst zwei Foliobände mit zusammen 1.078 Seiten. Darin finden sich etwa 250 bildhafte, teilweise farbige Darstellungen der im Text behandelten Gegenstände, darunter Gebäude, Genealogien, Tiere, Karten sowie verschiedene Objekte wie Wappen und Urkunden. Diese Zeichnungen stammen überwiegend von Redecker selbst; er hat aber auch Drucke, besonders Städteansichten und Edikte, in die Chronik aufgenommen. Ob seine Darstellungen tatsächlich zeichnerisch nur „selten gelungen“ sind, wie die ältere Forschung behauptete,12 bedarf einer Überprüfung. Die hier gezeigten Beispiele machen das unterschiedliche Niveau der Zeichnungen deutlich (s. Abb. 1–3). Während die Zeichnung der Tafel lediglich eine grobe Skizze darstellt, handelt es sich bei der Abbildung der Kirche um eine detaillierte Illustration. Die Darstellung des Kamels – das Redecker fälschlicherweise als Dromedarius bezeichnet – besticht besonders durch ihre Detailtreue und die Verwendung vieler verschiedener Farbtöne. Die Beispiele machen deutlich, dass diese Quelle auch für kunsthistorische Forschungen viel Potenzial bietet.

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Carl-Hans Hauptmeyer, Die Residenzstadt, in: Klaus Mlynek/Waldemar Röhrbein (Hg.), Geschichte der Stadt Hannover, Bd.  1: Von den Anfängen bis zum Beginn des 19.  Jahrhunderts, Hannover 1992, S. 137–250, hier S. 190. 10 Ebd., S. 153. 11 Ebd., S. 196f. 12 Redeckers Hannoversche Chronik, in: HannGbll 8 (1905), S. 113–115, hier S. 115.

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Abb. 1: Darstellung einer Tafel Quelle: Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 846.

Abb. 2: Darstellung einer Kirche in Linden (bei Hannover) Quelle: Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 859.

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Abb. 3: Darstellung eines „Dromedarius“ Quelle: Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 815.

Die Chronik umfasst den Zeitraum von der Gründung Hannovers im Hochmittelalter bis zum Jahr 1762. Redecker begann mit dem Verfassen der Historische[n] Collectanea jedoch erst am 8. Juli 1723. Das Werk wurde am 19. November 1764 – vermutlich von Redeckers Schwiegersohn – dem Magistrat der Stadt Hannover übergeben. Die Chronik wurde über die Jahrhunderte sorgsam im Archiv der Stadt aufbewahrt und überstand sowohl den Zweiten Weltkrieg als auch das schwere Leine­hochwasser im Februar 1946 unbeschadet. Redeckers Chronik der Stadt Hannover ist für die Geschichte der Stadt von unschätzbarem Wert. Dennoch wird diese Quelle von der aktuellen historischen Forschung kaum rezipiert. Zu Beginn des 20.  Jahrhunderts wurden immerhin Transkriptionen einzelner Teile der Chronik in den Hannoverschen Geschichtsblättern veröffentlicht.13 Es fehlen jedoch weitgehend historische Einordnungen, Erläuterungen und Interpretationen dieser Quellenauszüge – abgesehen von einer naturgeschichtlichen Abhandlung über den hannoverschen Stadtwald Eilenriede.14 Deshalb können diese Arbeiten von der Forschung lediglich als Steinbrüche für einen schnelleren Zugang zu der umfangreichen Quelle genutzt werden. Eine wissenschaftliche Edition ersetzen diese Transkriptionen jedoch keineswegs. 13

Transkriptionen von Auszügen aus Redeckers Chronik finden sich in den Hannoverschen Geschichtsblättern: HannGbll 8 (1905); 9 (1906); 10 (1907); 11 (1908); 12 (1909); 14 (1911). Aber bereits 1899 erschien ein Aufsatz zur Geschichte Hamelns mit kurzen Auszügen aus Redeckers Chronik: Otto Jürgens, Einige Nachrichten zur Geschichte und Sage der Stadt Hameln, in: HannGbll 2 (1899), S. 205–206, 213, 220–221, 228. 14 Hermann Löns, Zu Redeckers naturgeschichtlichen Angaben, in: HannGbll 8 (1905), S. 176–184.

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4. Beschreibungen von Fremden bei Redecker In der Chronik dominieren die für diese Quellengattung typischen Aufzeichnungen über (welt-)politische Ereignisse, Naturkatastrophen und Wetterphänomene, Seuchen, Mord- und Totschlagfälle, lokalpolitische Ereignisse und die Errichtung von neuen Gebäuden in der Stadt – um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Für die Lebenszeit des Chronisten ist die Quelle aber auch reich an Berichten über eigene Erlebnisse, Begegnungen, Eindrücke und Erfahrungen. Damit handelt es sich um ein Ego-Dokument, das Auskunft über die Selbstsicht des Autors gibt.15 Doch selbst in den chronikalischen Aufzeichnungen von Berichten aus dritter Hand finden sich Aussagen, die teilweise in verdeckter Form Auskunft über die Selbstwahrnehmung des Autors geben. Nach der weiten Definition Winfried Schulzes können auch solche Aussagen und Aussagenpartikel als Ego-Dokumente gelten.16 Deshalb werden nicht nur die Erfahrungsberichte Redeckers in dieser Untersuchung berücksichtigt, sondern auch die klassischen chronikalischen Aufzeichnungen. Vor der Analyse ist zu definieren, wer überhaupt in der vorliegenden Untersuchung als Fremder gilt. Das zugrunde liegende Kriterium ist die Herkunft aus einem nicht-deutschsprachigen Territorium. Damit bleiben zahlreiche Fremde unberücksichtigt; darunter fallen in frühneuzeitlichen Städten grundsätzlich Nichtchristen und Menschen, die von außerhalb der Mauern in die Stadt kamen.17 Die Quelle bietet jedoch auch für die Untersuchung dieser Fremden viel Potenzial, besonders von Juden, über die Redecker ausführlich in seiner Chronik berichtet. Es wurden alle Einträge seit 1682 – dem Geburtsjahr Redeckers – bis zum letzten Eintrag der Chronik aus dem Jahr 1762 für die Analyse berücksichtigt. Damit umfasst der Untersuchungszeitraum von 80 Jahren fast die gesamte Lebenszeit des Chronisten. Dieser Zeitraum wurde aus zwei Gründen gewählt: Zum einen finden sich quantitativ mehr und umfangreichere Einträge als zu früheren Jahren, zum anderen berichtet Redecker teilweise über eigene Begegnungen und Erfahrungen, die mehr Aussagen über seine Selbstsicht und seine Gefühlswelt zulassen als Berichte über Ereignisse aus dritter Hand. Eine quantitative Auswertung der Einträge über die Fremden aus nicht-deutschsprachigen Territorien erfolgt nicht, weil sich die einzelnen Beschreibungen und Erwähnungen hinsichtlich ihres Umfangs und Aufbaus stark voneinander unterscheiden. Unberücksichtigt bleiben bei der Analyse Erwähnungen und Beschreibungen von Fremden in den Berichten Redeckers über politische oder kriegerische Ereignisse in Europa. In diesen meist längeren Abhandlungen werden besonders häufig Türken, Engländer und Franzosen erwähnt, ohne näher auf deren Herkunft oder Eigenheiten einzugehen. In die Untersuchung einbezogen 15

Definition von Jacob Presser nach Winfried Schulze, Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung „Ego-Dokumente“, in: Ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11–30, hier S. 14. 16 Ebd. S. 28. 17 Angelika Schaser, Städtische Fremdenpolitik im Deutschland der Frühen Neuzeit, in: Alexander Demandt (Hg.), Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995, S. 137–157, hier S. 143.

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werden hingegen Beschreibungen von sich in Hannover aufhaltenden Fremden aus nicht-deutschsprachigen Territorien. Somit werden weniger nationale Vorurteile als vielmehr die Beschreibungen und damit auch die Konstruktion von Fremden und Fremdsein durch den Autor in seiner Lebenswelt – der Stadt Hannover im 18. Jahrhundert – untersucht.

4.1 Menschen aus dem türkischen Kulturraum In der hannoverschen Chronik Redeckers finden sich zahlreiche Äußerungen über muslimische Menschen aus dem türkischen Kulturraum. Nach dem Sieg des christlichen Heeres über die Türken vor Wien im Jahr 1683 kamen zahlreiche sogenannte ‚Beutetürken‘ an die Höfe Europas, so auch nach Hannover. Dort lebten um 1700 zeitweise 10 bis 20 türkischstämmige Kinder, Männer und Frauen. In der Chronik wird über mehrere solcher Türken berichtet, die als Gefangene nach Hannover gelangt waren. Nachfolgend werden die Berichte Redeckers über diese ‚Beutetürken‘ vorgestellt und analysiert. Über den Türken Saly, der als Kammerdiener am Hof tätig war, urteilt Redecker, dass er bey seinem Unglauben blieb, ob er wohl sonst gutthätigen sittsamen Gemüths zu seyn erachtet, gut deutsch redete.18 Saly plagte offenbar großes Heimweh, weshalb er nicht nur vom hannoverschen Kurfürsten die Erlaubnis für seine Rückkehr in das Osmanische Reich, sondern sogar 300 Taler Reisegeld erhielt.19 Diese großzügige Tat des Kurfürsten kommentiert Redecker nicht weiter.

18

Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 739. Ebd., S. 740.

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Abb. 4: Grabstein des 1691 verstorbenen ‚Beutetürken‘ Hammet mit deutscher und arabischer Inschrift Quelle: Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 728.

In der Chronik sind Zeichnungen von zwei Grabsteinen des 1691 verstorbenen ‚Beutetürken‘ Hammet (Abb. 4) abgebildet. Auf dem linken Grabstein findet sich eine deutsche Inschrift, auf dem rechten eine osmanische. Die Zeichnungen verweisen auf die älteste bekannte islamische Grabstätte auf deutschem Boden.20 Hammet, 20

Daneben befindet sich das Grab eines weiteren Kriegsgefangenen namens Hassan; Günter Max Behrendt, Die osmanischen Gräber auf dem ehemaligen Neustädter Friedhof, in: HannGbll N. F. 60 (2006), S. 181–187, hier S. 181f.

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der eigentlich Mohammed hieß, durfte seinen Glauben während seines achtjährigen Aufenthaltes in Hannover behalten. Unter der Zeichnung ließ Redecker einige Zeilen für die Übersetzung der osmanischen Inschrift frei; eine solche Übersetzung fehlt jedoch in der Chronik. Der Chronist beschreibt ausführlich den Kopf- und Fußstein des muslimischen Grabes sowie dessen Ausrichtung nach Mekka. Dieser Bericht zeugt von seiner großen Neugier nicht nur an der fremden Sprache, sondern auch am muslimischen Bestattungsritus. Die Abschrift des leider verloren gegangenen Grabsteines mit der osmanischen Inschrift weist so viele Fehler auf, dass sie bis auf den Namen Hammet auch von Experten bis heute nicht vollständig entschlüsselt wurde. In den letzten Jahren versuchten sich mehrere Turkologen und Islamwissenschaftler daran.21 Während um 1700 häufig nicht zwischen Türken, Tartaren und Schwarzen unterschieden wurde,22 verweist Redeckers Beschreibung einer Taufe auf seine Unterscheidungsfähigkeit. Denn er spricht von einer geborne im Türkischen Glauben erzogenen Mohrin23 und setzt eben nicht ‚Mohr‘ und ‚Türke‘ gleich. Sein nüchterner Bericht der Taufe deutet darauf hin, dass diese Frau aufgrund ihrer Herkunft abwertend behandelt wurde: Nach einer Predigt zur Bibelstelle Jeremia 13,23 Kann auch ein Mohr seine Haut wandeln oder ein Parder (Panther) seine Flecken? wurde die geborene Türkin nach dem fünften Gebot gefragt. Sie antwortete, du sollst nicht totschlagen. Dazu erläuterte der Hofprediger, man könne ihr das Wort töten nicht beibringen und müsse sich deshalb mit ihrer Antwort zufriedengeben. Redecker selbst kommentiert weder die Bemerkung des Hofpredigers noch äußert er sich näher oder gar abwertend über die getaufte Schwarze.24 Schließlich berichtet Redecker über einen 1690 dem Erbprinzen Georg Ludwig geschenkten Türken namens Mustafa, den er im Gegensatz zu der eben erwähnten Frau nicht als ‚Mohren‘ bezeichnet.25 Dieser Türke wurde 1695 von dem Lindener Pastor Hermann Balthasar Vietken getauft und ist im dazugehörigen Kirchenbuch­ eintrag ausdrücklich als ‚Mohr‘ und nicht als Türke bezeichnet.26 Offensichtlich konnte dieser Pastor in einem Dorf vor den Toren Hannovers im Gegensatz zum unstudirten27 Chronisten Redecker nicht zwischen Türken und Schwarzen unterscheiden. Die Beispiele sind typisch für Redeckers Wahrnehmung und Aussagen über Türken in Hannover. Redecker bezeichnet als Kind seiner Zeit den Islam zwar an verschiedenen Stellen als türkischen Aberglauben oder türkischen Unglauben.28 Dabei bedient er sich aber – so meine These – vermutlich nur unreflektiert des allgemei21

Ebd., S. 185–186. Stephan Theilig, Türken, Mohren und Tartaren. Muslimische (Lebens-)Welten in Brandenburg-Preußen im 18. Jahrhundert, Berlin 2013, S. 36f. 23 Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 741. 24 Redecker verweist nur noch an einer anderen Stelle auf einen Schwarzen: 1730 kam ein bereits getaufter Junge namens Dick aus London nach Hannover; ebd., S. 893. 25 Ebd., S. 726. 26 F. Haase, Türkische Gefangene in Hannover, in: HannGbll 11 (1908), S. 348–350, hier S. 348. 27 Redecker, Historische Collectanea, Bd. 1, S. 2. 28 Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 712. 22

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nen Sprachgebrauchs seiner Zeit. Denn er leistet keinem klassischen Vorurteil über Türken Vorschub. Dazu gehören etwa Grausamkeit, Hinterlistigkeit und sexuelle Freizügigkeit.29 Diese Vorurteile waren weit verbreitet und erreichten über Flugblätter und Flugschriften sowie Predigten und Mundpropaganda sämtliche Bevölkerungsgruppen in der Frühen Neuzeit. Bei Redecker tritt vielmehr die Neugier am Fremden und Exotischen in den Vordergrund. Außerdem zeigt sich, dass er bereits über viel Wissen über die türkische Kultur verfügt. Leider geht aus seinen Ausführungen nicht hervor, woher er seine Informationen bezogen hat. Die Untersuchung der Beschreibungen Redeckers bestätigt die herrschende Meinung der Forschung, die einen Bruch in der Beschreibung und Wahrnehmung von Türken um 1700 als Folge der Schlacht am Kahlenberg im Jahr 1683 festgemacht hat. Türken werden nicht mehr als grausam, hinterlistig und angsteinflößend, sondern als exotisch, faul und hedonistisch veranlagt beschrieben.30 Man kann es auch auf die Formel verkürzen: Die Angst wurde von der Neugier und Faszination an dem Fremden verdrängt.

4.2 Menschen aus dem arabischen Kulturraum Besonders bemerkenswert ist der Bericht über eine persönliche Begegnung mit einem arabischen Prinzen namens Keisa im Jahr 1735. Redecker traf den Prinzen in der Rentkammer, als dieser dort einen Reisekostenzuschuss erhielt. Sowohl der Prinz als auch seine Bediensteten trugen rote türkische Kleidung.31 Redecker bat ihn, seine Unterschrift in arabischen Schriftzeichen auf einen Zettel zu schreiben. Diese Unterschrift des Prinzen, der dem christlichen Glauben angehörte, hat Redecker zusammen mit einem kurzen Bericht über diese Begegnung nachträglich in die Chronik hineingeklebt (Abb. 5):

29

Frank Matthias Kammel, Gefährliche Heiden und gezähmte Exoten. Bemerkungen zum europäischen Türkenbild im 17. und frühen 18.  Jahrhundert, in: Ronald G. Asch u. a. (Hg.), Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt, München 2001, S. 503–525, insbes. S. 508f. 30 Vladimir von Schnurbein, Einseitigkeiten, Fehleinschätzungen und Unkenntnisse. Zur gegenseitigen Wahrnehmung von Türken und Europäern in der Frühen Neuzeit, in: Jürgen Elvert/Jürgen Nielsen-Sikora (Hg.), Leitbild Europa? Europabilder und ihre Wirkungen in der Neuzeit, Stuttgart 2009, S. 71–80, hier S. 77; Kammel, Gefährliche Heiden, insbes. S. 524f. 31 Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 942.

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Abb. 5: Unterschrift eines arabischen Prinzen mit Erläuterung Quelle: Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 942.

Heute, den 7. Maji 1735, hat, auff Königlicher und Churfürstlicher Rent-Cammer alhir, der arabische Printz (oder nach einer Sprache Emir) Keisa, deßen Vatter, Emir Bashe (wie er durch einen arabischen Bedienten und noch einen Dolmetscher berichtete) regierender Fürste zu Kashir, zwo Tage-Reisen von Jerusalem, ist, seinen obstehenden Nahmen, Keisa, auff meine Bitte, mit vieler Höflichkeit geschrieben. Er machte zuerst den untersten Characterem und zwar von oben an, also von der rechtern hand zur linkern, hernach die beyden puncte auch von der rechtern zur linkern und letzlich den also dritten Characterem, von unten auff. Hannover ut supra. Johann Heinrich Redeker

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Der Bericht gibt Redeckers Neugier wieder und ist frei von Vorurteilen. Vielmehr beschreibt er detailliert den Fremden und seine Handlung, nämlich das Schreiben des Namens in einer fremden Schrift. Redecker erwähnt in seiner Chronik einen weiteren arabischen Prinzen, der 1728 bei seiner Tour durch Europa auch nach Hannover kam.32 Bis auf die Tatsache, dass er vom Kurfürsten einen Zuschuss zu seinen Reisekosten erhielt, berichtet Redecker nichts weiter über ihn. Vermutlich traf er ihn nicht persönlich. 1732 kam ein Perser namens Schin Achmet nach Hannover und reiste weiter nach Helmstedt, wo er ein Studium aufnehmen wollte. Redecker berichtet, er sei seinem Vorgeben nach33 ein Prinz. Diese Formulierung deutet eine gewisse Skepsis Redeckers an, die sich vermutlich auf seinen Erfahrungen durch Begegnungen mit anderen orientalischen Prinzen in den vergangenen Jahren gründet. Redecker berichtet weiter, der Perser käme aus Merwa in der Landschaft Chorasan und habe seinen Bruder getötet.34 Auf die durchaus bemerkenswerte Selbstbezichtigung des Brudermordes geht Redecker nicht weiter ein.

4.3 Beschreibung eines „Wilden“ aus Grönland Nach diesen Beschreibungen von Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis möchte ich die einzigartige, fast eine ganze Seite umfassende Beschreibung eines „Wilden“ vorstellen. Ein Niederländer brachte diesen Mann aus Grönland mit nach Hannover. Redecker beschreibt ausführlich sein Aussehen, seine Kleidung, seine Kommunikation mit dem Holländer, seine Herkunft, seinen Schlaf sowie die Ernährungsweise, Kindererziehung und Zeitrechnung in seinem Heimatland. Wie schon die ausführliche Darstellung der Unterschrift des Prinzen Keisa erinnert diese Textpassage an die dichte Beschreibung eines Ethnologen.35 Redecker fügt seiner Beschreibung sogar eine Zeichnung des Mannes bei (Abb. 6). Die im Text beschriebenen Attribute des Grönländers sind in der Zeichnung besonders hervorgehoben bzw. überspitzt wiedergegeben: die kleine, gedrungene Figur, die ernste Miene, die breite Nase sowie die asiatische Augenform.

32

Ebd., S. 868. Ebd., S. 901. 34 Ebd. 35 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983. 33

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Abb. 6: Darstellung eines „Wilden“ aus Grönland Quelle: Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 949.

Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Redeckers Überprüfung eines ihm bekannten Vorurteils: Ich frug den fertig französisch redenden Holländer in selbiger Sprache von diesem Grönländer, ob es wahr (was von seinen Landsleuten gesagt wird) quod certa parte corporis careant crinibus [dass ihnen an einem bestimmten Teil des Körpers die Haare fehlen]?36 Damit ist wohl der Intimbereich gemeint, weshalb auch der Rückgriff auf die lateinische Sprache erfolgt. An dieser für den gläubigen Chronisten schambehafteten Frage wird deutlich, dass Redecker solche Vorurteile über Fremde wohl bekannt waren. Er überprüfte jedoch diese Vorurteile durch eigene Beobachtungen und gezieltes Nachfragen.

36

Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 949.

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4.4 Fremde aus dem christlichen Europa Franzosen und Italiener waren in der pulsierenden Residenzstadt Hannover allgegenwärtig. Dies führte dazu, dass Redecker sie vor allem als Angehörige der katholischen oder der reformierten Konfession wahrnahm und weniger als Fremde aus fernen Ländern. Beispielsweise wird im Fall des hugenottischen Geistlichen Antoine Rougemont explizit auf seinen reformierten Glauben verwiesen, nicht jedoch auf seine französische Herkunft.37 Dies ist typisch für Redeckers Erwähnung von Franzosen und Italienern, die häufig mit Namen genannt werden, ohne auf ihre Nationalität bzw. Herkunft zu verweisen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie einen Beruf ausübten, der typisch für Menschen ihrer Herkunft war. Beispielsweise wird beim Hofmusikanten Benturini nicht auf seine italienische Herkunft verwiesen.38 Anders sieht dies aus, wenn Angaben zum Beruf fehlen oder die Tätigkeit der Person offensichtlich nicht üblicherweise mit ihrer Herkunft verbunden wurde. So weist Redecker bei zwei Taschenspielern ausdrücklich auf ihre italienische Herkunft hin.39 In manchen Fällen wird hinter dem Namen das Herkunftsland genannt, jedoch ohne weitere Hinweise oder Erläuterungen.40 Die Herkunft ist im Fall von Franzosen und Italienern – anders als bei Türken – demnach von untergeordneter Bedeutung. Bei Erwähnungen von Menschen aus nordeuropäischen Ländern wie Schweden, Dänemark, Irland und England fehlen ebenfalls weitgehend Wertungen und Aussagen über ihre Herkunft. Es wird aber regelmäßig auf das Herkunftsland hingewiesen.41 Dies deutet darauf hin, dass Redecker in der florierenden Residenzstadt Menschen aus diesen Ländern zwar regelmäßig, aber nicht so häufig wie Franzosen und Italienern begegnete. Auch bei Schweden, Dänen, Iren und Engländern stehen nicht deren Herkunft, sondern die Person und ihre Taten im Vordergrund. Redecker war jedoch auch nicht frei von nationalen Vorurteilen.42 Dies wird augenfällig in seiner Beschreibung des Besuches von Zar Peter I. (reg. 1682–1725) mit seinem Gefolge in Hannover im Jahr 1713: Die Moskoviter, als große Brantweins-Freunde, fanden auff dem Markt, woselbst ihre Fuhrleute ausspanneten, einige Fäßer solches und andern Getränks, da sie denn den Branntwein, gleich ob es Bier oder aber Waßer wäre, hinunter goßen.43 Aus der Beschreibung wird deutlich, dass sich seine eigene Beobachtung mit dem wohl auch ihm bekannten Vorurteil seiner Zeit über Russen und ihren Hang zu hochprozentigem Alkohol deckte. 37

39 40 41 42

Ebd., S. 914. Ebd., S. 778. Ebd., S. 967 u. 1038. Z. B. im Fall des ertrunkenen Italieners Giovanni Baptista; ebd., S. 896. Ebd., S. 816, 832f. u. 944. Zu den klassischen nationalen Vorurteilen in der Frühen Neuzeit vgl. Winfried Schulze, Die Entstehung des nationalen Vorurteils. Zur Kultur der Wahrnehmung fremder Nationen in der europäischen Frühen Neuzeit, in: Wolfgang Schmale/Reinhard Stauber (Hg.), Menschen und Grenzen in der Frühen Neuzeit, Berlin 1998, S. 23–49, hier insbes. S. 34–41. 43 Redecker, Historische Collectanea, Bd. 2, S. 786. 38

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Die hohe Anzahl an Ausländern aus dem europäischen Kulturraum war im 18. Jahrhundert gerade für Residenzstädte eine Auszeichnung: „Je größer der Anteil der Ausländer, desto größer das Ansehen der Hofkapelle“.44 Italienische Künstler, Kaufleute und Handwerker trugen zum Glanz einer Stadt bei und konnten daher bereits in vielen Städten innerhalb kurzer Zeit an die Spitze der Gesellschaft gelangen – besonders im Rheinland.45 Dies zeigen auch Redeckers Ausführungen, in denen insbesondere bei Franzosen und Italienern die Herkunft in den Hintergrund tritt, gerade im Vergleich zu Beruf und Konfession der betreffenden Personen.

5. Fazit Je unbekannter Redecker fremde Menschen und Kulturen waren, desto ausführlicher geht er auf ihre Herkunft in seiner Chronik ein. Deshalb finden sich auch besonders viele Berichte über Menschen aus dem türkischen und arabischen Kulturraum, während auf die Herkunft von Fremden aus anderen europäischen Territorien in der Regel nicht näher eingegangen wird. Grundsätzlich spielten in der Lebenswelt des gläubigen Protestanten konfessionelle Gesichtspunkte eine größere Rolle als die Herkunft oder sogar die Sprache eines Fremden. Damit waren für die Konstruktion des Fremden bei Redecker besonders Ethnie, Konfession und kulturelle Eigenheiten – wie eine andere Schrift oder Kleidung – entscheidend. In seinen Beschreibungen von Fremden finden sich häufig zeittypische Vorurteile, die er aber an seinen Beobachtungen und durch aktives Nachfragen überprüfte. Redecker beschreibt ähnlich einem modernen Ethnologen dicht und detailgetreu fremde Menschen und ihre Handlungen. Redeckers von Neugier und Offenheit geprägte Einstellung gegenüber Fremden war in der Frühen Neuzeit sicherlich nicht singulär. Es bleibt offen, inwiefern die Ansichten des einfachen Kammerschreibers, der selbst wohl niemals im Ausland gewesen war, als typisch für Bewohner von Städten um 1700 gelten können und welchen Einfluss der urbane Raum auf die Wahrnehmung und Beurteilung von Fremden hatte. Zumindest sein Wissen über fremde Kulturen war außergewöhnlich groß. Redeckers Einstellung gegenüber Juden zeigt sich in zahlreichen Einträgen und könnte in zukünftigen Arbeiten gezielt und vergleichend untersucht werden. Die ältere Forschung hat die Historische Collectanea überwiegend zur Ermittlung von lokalgeschichtlichen Fakten herangezogen. Dabei zeigte sich, dass viele dieser vom Chronisten genannten Fakten einer Überprüfung an amtlichen Quellen 44

Rainer A. Müller, Der Fürstenhof in der Frühen Neuzeit, München 2004, S. 46. Vgl. für das Rheinland und den Oberrhein Astrid Künzel, Fremde in Köln. Integration und Ausgrenzung zwischen 1750 und 1814, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 76–86; Martin Walter, Die italienische Kolonie in Baden-Baden und in Rastatt. Künstler, Architekten, Kaufleute und Handwerker im 18. Jahrhundert, in: Stadt Rastatt (Hg.), Der Friede von Rastatt. „dass aller Krieg eine Thorheit sey“. Aspekte der Lokal- und Regionalgeschichte im Spanischen Erbfolgekrieg in der Markgrafschaft Baden-Baden und der Friede von Rastatt – Auswirkungen und Folgen, Regensburg 2014, S. 98–108.

45

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Christian Schlöder

nicht standhalten. Dies ist wohl der Hauptgrund dafür, dass selbst die regionalgeschichtliche Forschung diese einzigartige Quelle in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend ignoriert hat. Die landesgeschichtlich orientierte Forschung sollte die Chronik künftig stärker für die Untersuchung von sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen nutzen. Hierfür bietet die Quelle viel Potenzial, nicht zuletzt auch für benachbarte Disziplinen wie die Ethnologie, Sprachwissenschaft oder Kunstgeschichte. Dabei können methodisch sowohl die zahlreichen Untersuchungen von klassischen Selbstzeugnissen aus der Frühen Neuzeit als auch von mittelalterlichen Chroniken als Vorbilder dienen.46

46

Mittelalterliche Chroniken wurden im Gegensatz zu frühneuzeitlichen für ähnliche Fragestellungen bereits herangezogen; vgl. etwa Volker Scior, Das Eigene und das Fremde, Identität und Fremdheit in den Chroniken Adams von Bremen, Helmolds von Bosau und Arnolds von Lübeck, Berlin 2002.

FEINDSELIGE MENSCH-TIERE IM LABYRINTH DER GROSSSTADT. DAS ELISABETHANISCHE LONDON IN DER WAHRNEHMUNG GIORDANO BRUNOS* Sergius Kodera

1. Einleitung 1584 berichtet ein Immigrant aus Italien über seine Erlebnisse mit der Londoner Bevölkerung: „Sobald sie erkennen, dass man in irgendeiner Art fremd (forastiero) ist, schneiden sie einem Gesichter, verlachen einen, grinsen einen an, verdrehen den Mund, und nennen einen in ihrer Sprache Hund, Verräter, Ausländer: und das ist bei ihnen eine unglaublich beleidigende Anrede, die den Betroffenen in die Lage bringt, alles Unrecht der Welt zu empfangen, egal ob es sich um einen Jungen, einen Alten, Beamten oder Waffenträger, geadelten oder Edelmann handelt […]. Wenn man nun aus irgendeinem Unglücksfall irgendjemanden von denen berührt, oder Hand an die Waffe legt, wird man sich im nächsten Augenblick entlang der ganzen Straße inmitten eines Heeres von Flegeln sehen: Wo, noch plötzlicher als es Dichter besingen, von den Drachenzähnen die Iason gesät, so viele Männer unter Waffen aufstehen, dass es scheint, als würden sie aus der Erde wachsen, aber ganz sicherlich aus den Läden herauskommen, und aus einem Wald von Knüppeln, Stangen, Hellebarden, Spießen und verrosteten Gabeln […] (die sie für solche und ähnliche Gelegenheiten immer bereit halten), eine hochehrenvolle und höflichste Perspektive herstellen. Diese wird man mit bäurischem Ungestüm auf sich niederhageln sehen, ohne Rücksicht […], ohne dass sich der eine beim anderen erkundigt, worum es geht. Um dem natürlichen Unmut gegenüber Fremden Luft zu machen, will dir jeder (wenn er nicht von den übrigen, die dasselbe vorhaben, daran gehindert wird) mit eigener Hand und eigener Maßrute die Wolle, und wenn du dich nicht in acht nimmst, dir auch noch den Hut auf dem Kopf zurechtrücken. Sollte zufällig ein ehrbarer Mann oder ein Edelmann dabei sein, dem solche Niederträchtigkeit missfällt, so bleibt ihm, (wäre er selbst Graf oder Herzog), nichts anderes übrig, als seinen Zorn zu verbergen und abseits das Ende abzuwarten, um nicht selbst Schaden zu nehmen, und ohne einem einen Dienst zu erweisen, (denn jene nehmen keine Rücksicht auf die Person, wenn sie sich auf solche Weise *

Wie so oft geht mein besonderer Dank an Marlen Bidwell-Steiner für ihre Lektüre, Kommentierung und wichtigen Hinweise.

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Sergius Kodera

bewaffnet sehen). […] Sie werden noch mit Fausthieben nachhelfen, die schlimmer sind als die Tritte eines Ochsens, Esels oder Maultiers, und sie lassen nicht von einem ab, bis sie einen ins Gefängnis gebracht haben, und dort me tibi comendo.“1

Diese Beschreibung des xenophoben Verhaltens der offensichtlich völlig vertierten Stadtbevölkerung des Elisabethanischen London aus der Außenperspektive des Immigranten steht mit ihrer geradezu schockierenden Drastik in einem präzisen historischen Kontext. Am 7. April 1583 berichtete der englische Botschafter in Paris nach London von der bevorstehenden Ankunft eines Dr. Johanno Bruno Nolano, a professor in philosophy [...] whose religion I cannot commend in England.2 Als der entsprungene Dominikaner Giordano Bruno (1548–1600) unter dem Schutz des französischen Botschafters Michel de Castelnau (ca. 1520–1592) nach London kam, war er in vieler Hinsicht ein europäischer ‚legal alien‘. Seine Flucht aus dem Konvent San Domenico Maggiore in Neapel (1576) hatte ihn bereits über viele Zwischenstationen und mehr als ein halbes Jahrzehnt lang durch Europa geführt.

1

Sämtliche italienischen Dialoge werden nach der folgenden Ausgabe zitiert: Giordano Bruno, Dialoghi italiani. Nuovamente ristampati con note da Giovanni Gentile, hg. v. Giovanni Aquilecchia, 2 Bde., Florenz 31985 [im Folgenden: DI]; die Übersetzungen stammen aus: Giordano Bruno, Das Aschermittwochsmal, übers. v. Ferdinand Fellmann, Frankfurt a. M. 1969. Cena, DI, S. 70–73: […] conoscendoti in qualche foggia forastiero, ti torceno il musso, ti ridono, ti ghignano, ti petteggiano co’ la bocca, ti chiamano, in suo lenguaggio, cane, traditore, straniero; e questo appresso loro è un titolo ingiuriosissimo, e che rende il supposito capace a ricevere tutti i torti del mondo, sia pur quanto si voglia uomo giovane o vecchio, togato o armato, nobile o gentiluomo. […] Or qua, se per mala sorte ti vien fatto che prendi occasione di toccarne uno, o porre mano a l’armi, ecco in un punto ti vedrai, quanto è lunga la strada, in mezzo d‘uno esercito di coteconi; i quali piú di repente che, come fingono i poeti, da’ denti del drago seminati per Iasone risorsero tanti uomini armati, par che sbuchino da la terra, ma certissimamente esceno da le botteghe; e facendo una onoratissima e gentilissima prospettiva de una selva de bastoni, pertiche lunghe, alebarde, partesane e forche rugginenti […] per questa e simili occasioni han sempre apparecchiate e pronte; cossí con una rustica furia te le vedrai avventar sopra, senza guardare a chi, perché, dove e come, senza ch‘un se ne referisca a l’altro: […] ognuno sfogando quel sdegno naturale c’ha contra il forastiero, ti verrà di sua propria mano (se non sarà impedito da la calca de gli altri, che poneno in effetto simil pensiero) e con la sua propria verga, a prendere la misura del saio; e se non sarai cauto, a saldarti ancora il cappello in testa. E se per caso vi fusse presente qualch’uomo da bene, o gentiluomo, al quale simil villania dispiaccia, quello, ancor che fusse il conte o il duca, dubitando, con suo danno, senza tuo profitto, d‘esserti compagno (perché questi non hanno rispetto a persona, quando si veggono in questa foggia armati), sarà forzato a rodersi dentro ed aspettar, stando discosto, il fine. […] a forza di bussate ti faran correre, aggiutandoti ad andar avanti con que’ fieri pugni, che meglio sarrebe per te fussero tanti calci di bue, d’asino o di mulo: non ti lasciaranno mai, sin tanto che non t’abbiano ficcato dentro una priggione, e qua, me tibi comendo. 2 Zit. nach John Bossy, Giordano Bruno and the Embassy Affair, New Haven/London 1991, S. 113. Ich beziehe mich im Folgenden, insbesondere was die Chronologie der Ereignisse betrifft, auf diese umfangreiche Studie, die den Aufenthalt Brunos in England wohl am genauesten rekonstruiert hat. Bossys These, wonach Bruno als Spion für die englische Königin gearbeitet hätte, soll hier nicht diskutiert werden.

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2. Ein Neapolitaner im London von Königin Elisabeth I. In England landete Bruno, weil für ihn als den Günstling Heinrichs III. (reg. 1574– 1589) auch in Frankreich der Boden zu heiß geworden war. In der Londoner Botschaft wird er in den kommenden zweieinhalb Jahren jene italienischen Dialoge über die Philosophie des unendlichen Universums verfassen, die seinen – posthumen – Weltruhm als Philosoph begründen.3 Diese über weite Strecken hinreißend komischen Texte berichten auch von negativen, ja verheerenden persönlichen Erfahrungen mit den Einwohnern der Metropole. Eines lässt sich über diese Berichte mit Sicherheit sagen: als gewissermaßen exterritorialer Beobachter lernte Bruno das Elisabethanische England rasch kennen. Castelnau schickte den neuen Mitbewohner nämlich umgehend, noch im Frühjahr 1583, auf eine Tour nach Oxford, auf der er den polnischen Fürsten Olbracht Łaski (†1604) und Sir Philip Sidney (1554–1586) begleitete.4 In der Universitätsstadt traf Bruno den Sohn eines italienischen Exilanten, John Florio (1553–1625), welcher bald danach Hauslehrer in der französischen Botschaft wurde.5 Im Juni, auf dem Rückweg nach London, besuchte die Gruppe den berühmten Geometer und Magus John Dee (1553–1625) in seinem Haus in Mortlake.6 Als Bruno wenig später erneut nach Oxford kam, um dort Vorlesungen über die Unsterblichkeit der Seele und über Astronomie zu halten, sorgte er für einen Eklat: Ihm wurde Plagiat vorgeworfen und er musste schleunigst nach London

3

Für eine hervorragende und gut lesbare deutschsprachige Einführung in diese Thematik vgl. Paul Richard Blum, Giordano Bruno, München 1999, S.  39–72 und passim; für eine einfühlsame, aber stellenweise deutlich spekulativere Darstellung vgl. Ingrid Rowland, Giordano Bruno. Philosopher/ Heretic, New York 2008, S. 139–159. Saverio Ricci, Giordano Bruno nell‘ Europa del Cinquecento, Rom 2000, S.  178–183, gibt eine ausführlich dokumentierte Darstellung auch der politischen Hintergründe. Zur literarischen Struktur der Texte vgl. Henning Hufnagel, Ein Stück von jeder Wissenschaft. Gattungshybridisierung, Argumentation und Erkenntnis in Giordano Brunos italienischen Dialogen, Stuttgart 2009, S. 23–39; zu Castelnaus Wohnsitz vgl. die Pläne in Bossy, Embassy Affair, S. 248–251. 4 Zu Sidney, dem Bruno die beiden Dialoge Spaccio della bestia trionfante und Eroici Furori zueignen wird, und um dessen Freundschaft der Nolaner offensichtlich bemüht war, vgl. Ricci, Giordano Bruno, S.  251–255; Tabea Strohschneider, Natur und höfische Ordnung in Sir Philip Sidneys „Old Arcadia“, Berlin/Boston 2017; zum Einfluss, den Brunos Werke auf den sog. Northumberland Circle, auf Marlowe und Shakespeare hatten vgl. Hilary Gatti, The Renaissance Drama of Knowledge. Giordano Bruno in England, London 1989. 5 Bossy, Embassy Affair, S. 13; zu John Florio vgl. Desmond O’Connor, Art. „Florio, John (1553– 1625)“, in: Oxford Dictionary of National Biography, https://doi.org/10.1093/ref:odnb/9758 [Stand: 03.01.2021]; zu Florio als Lexikograph allg. vgl. die Darstellung von Michael Wyatt, The Italian Encounter with Tudor England. A Cultural Politics of Translation, Cambridge 2005, S.  241–244; zu Florio und seinem Verhältnis zu Bruno siehe ebd., S. 157–243, und Frances A. Yates, John Florio. The Life of an Italian in Shakespeare‘s England, Cambridge 1934. 6 Vgl. Glyn Parry, The Arch-Conjuror of England. John Dee, New Haven 2011; als gut lesbare wissenschaftliche Biografie über John Dee vgl. William Howard Sherman, John Dee. The Politics of Reading and Writing in the English Renaissance, Amherst 1995.

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zurückkehren.7 So entstand ein erster Bruch in dieser so vielversprechenden Kette von neuen Beziehungen zu einflussreichen Zeitgenossen in einem fremden Land, die für das (Über-)Leben als Immigrant (fast) immer von großer Bedeutung ist. Der Nolaner, wie Bruno sich selbst gerne nannte, scheint sich in den folgenden Monaten des Jahres 1583 sehr intensiv in das Gesellschaftsleben in und um die französische Botschaft eingebracht zu haben. Im Absatz vor der eingangs zitierten Passage der Cena sind einflussreiche Persönlichkeiten des Elisabethanischen Zeitalters erwähnt: Sir Francis Walsingham (c. 1532–1590), der principal secretary der Königin und zukünftiger Schwiegervater des ebenfalls genannten Sidney, Robert Dudley (1532/3–1588), William Cecil (1520/21–1598) sowie Fulke Greville (1554–1628). Sie alle werden in den höchsten Tönen gelobt und daher in positivstem Gegensatz zur übrigen Bevölkerung des Gastlandes gestellt.8 Vielleicht hat Bruno in diesen Monaten sogar Königin Elisabeth (reg. 1558–1603) getroffen.9 Sein Verhältnis zur Königin wurde in der Forschungsliteratur im Zusammenhang mit Brunos politischen Absichten viel diskutiert. Die Monarchin hat jedenfalls in der Cena, ebenso wie im folgenden Dialog Della causa, principio ed uno geradezu elfenhafte Auftritte.10 Vielleicht fungierte Bruno, wie Bossy argumentiert, auch als Spion ihrer Majestät in der französischen Botschaft, und zwar in direktem Auftrag des bereits erwähnten Walsingham. Denn in diesen Monaten wurde ein Komplott gegen die Queen aufgedeckt, in das der französische Gesandte offensichtlich verwickelt war. Die Information kam offensichtlich von einem ‚Maulwurf‘ in der unmittelbaren Umgebung von Botschafter Castelnau. Letzterer hatte alle Hände voll zu tun, die Londoner ‚opinion leaders‘ durch zahlreiche Einladungen zu Abendessen, bei denen Bruno höchstwahrscheinlich zugegen war, zumindest ein wenig versöhnlicher zu stimmen.11 Dies alles ist für die vorliegende Darstellung insofern von Bedeutung, als es dokumentiert, dass Bruno zumindest das gesellschaftliche Umfeld in London recht genau gekannt haben muss, und dass er sich noch im Jahr 1583 in London erstaunlich gut ‚vernetzen‘ konnte. Allerdings machte er sich dabei nur wenige Freunde in der von ihm hofierten politischen und gesellschaftlichen Elite Londons.12 Dies 7

Für einen viel diskutierten zeitgenössischen Bericht von englischer Seite, nämlich von George Abbot, vgl. Bossy, Embassy Affair, S. 24; Frances A. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964, S. 207–210. 8 Bossy, Embassy Affair, S. 98. 9 Ebd., S. 99. 10 Hufnagel, Ein Stück von jeder Wissenschaft, S. 78. Vier der von Bruno in London verfassten italienischen Dialoge (Cena, Causa, Infinito, Spaccio) wurden der Queen in einem feinen Lederband überreicht, der sich heute in der British Library befindet; vgl. Bossy, Embassy Affair, S. 127. Allgemein zu Bruno und Elisabeth vgl. Ricci, Giordano Bruno, S. 78–92; zu den weiteren politischen Implikationen Gilberto Sacerdoti, Sacrificio e sovranità. Teologia e politica nell‘Europa di Shakespeare e Bruno, Turin 2002, S. 307–367 und passim. 11 Zur sog. Throckmorton Verschwörung vgl. Bossy, Embassy Affair, S. 102, 105; Ricci, Giordano Bruno, S. 249. 12 Bossy, Embassy Affair, S.  105; Mordechai Feingold, Giordano Bruno in England. Revisited, in: Huntington Library Quarterly 67/3 (2004), S. 329–346, untersucht das Oxforder Abenteuer genau. Er vertritt die These, dass Bruno weder Fulke Greville noch Sidney gut gekannt habe, sondern versuchte, den Kontakt mit diesen Personen publizistisch zu konstruieren, ihn sozusagen herbeizuschreiben.

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dürfte auch und gerade auf das drastisch negative Bild der Stadt und seiner Bewohner zurückzuführen sein, das Bruno in neuartiger literarischer Form in den Dialoghi entworfen hat.

3. Eine Odyssee durch das nächtliche London Wie zu zeigen sein wird, ist Bruno bemüht, seine Erfahrungen mit der fremden Stadt in einer für sein Schreiben insgesamt höchst eigenwilligen Weise zu rhetorisieren. Er bedient sich dabei einer Gattungshybridisierung, welche die sprachlichen und stilistischen Mittel des Dialogs, der Satire, des subversiven Gebrauchs von Zitaten aus ‚hoher‘ und ‚trivialer‘ Literatur und die medialen Ausdrucksformen des zeitgenössischen Theaters zu einer neuen literarischen Form verschmelzen lässt. Sie erlaubt es dem Autor, persönliche Erfahrungen durch eine Persona zu artikulieren, die sowohl Alter Ego als auch Bühnenfigur ist.13 In geradezu halsbrecherischer Weise gelingt Bruno damit der Entwurf eines erstaunlich differenzierten Bildes der zeitgenössischen metropolitanen Situation Londons und ihrer Verwerfungen: Und zwar aus eigenem, aber eben literarisch überformtem Erleben. Die daraus resultierenden, durchaus differenzierten Befunde (etwa zur sozialen Stratifikation Londons) wurden in der Forschungsliteratur bisher viel zu wenig beachtet. Die eingangs zitierte Passage stammt aus Brunos vielleicht berühmtestem Werk, dem Dialog La Cena delle ceneri (Das Aschermittwochsmahl). Hier kommt generell Brunos epochales literarisches Talent zum Ausdruck, eine radikal neue Philosophie in Form von oft grotesken und beißend polemischen Dialogen in italienischer Sprache zu präsentieren. Der Text wurde höchstwahrscheinlich um die Mitte des Jahres 1584 in London publiziert; dessen – fiktionales – Handlungsdatum ist der Aschermittwoch des Jahres, der nach dem Julianischen Kalender auf den 4.  März fiel.14 Das Eingangszitat ist dem zweiten Dialog der Cena entnommen. Hier ist zu lesen, unter welchen Schwierigkeiten Teofilo filosofo, im Dialog Brunos Alter Ego, sowie der bereits erwähnte John Florio und Matthew Gwinne (1558–1627)15 von der französischen Botschaft in Salisbury Court aufbrechen, um einer Einladung von Fulke Greville zum Aschermittwochsmal in Whitehall zu folgen: Der Nolaner soll 13

Zur Einführung in die komplexe Thematik der Selbstinszenierung des Autors durch verschiedene Personen bei Bruno, auch im Hinblick auf seine philosophischen Absichten, vgl. das Vorwort von Adi Ophir, in: Giordano Bruno, Le souper des Cendres. Cena delle Ceneri, Paris 1994, S. XXVIII– XXXIX. 14 Bossy, Embassy Affair, S. 39, hat die Chronologie dieser Ereignisse rekonstruiert und bemüht sich, den Zeitraum der Abfassung der Cena noch während der Fastenzeit desselben Jahres nachzuweisen. 15 Zu Gwinne, der ein alter Freund von John Florio war, vgl. Matthew Iain Wright, Art. „Gwinne, Matthew (1558–1627)“, in: Oxford Dictionary of National Biography, https://doi.org/10.1093/ ref:odnb/11813 [Stand: 03.01.2021]; Gwinne spielte die entscheidende Rolle bei der Übersetzung der lateinischen und griechischen Zitate für Florios Übersetzung von Montaignes Essays, vgl. Wyatt, Italian Encounter, S. 337, Anm. 152.

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hier seine Auffassung von der Kopernikanischen Astronomie vertreten. Der eigentlich kurze Weg entlang der Themse gerät dem Trio zur grotesken Odyssee durch eine labyrinthische, spätabendliche Metropole. Mit hoher topographischer Präzision beschrieben, erscheint London als Stadt von miserablen Transportmitteln und einer schockierend feindseligen Bevölkerung. Das Trio erreicht sein Ziel mit haarsträubender Verspätung, hat dort während des Essens eine kontroverse Diskussion über Brunos Lehre vom unendlichen Universum und muss, ebenso unbegleitet und schutzlos wie es gekommen ist, spätnachts wieder heimfinden.

Abb. 1: Der Weg von Salisbury Court nach Whitehall Quelle: Civitas Londinum ca. 1561, die sog. „Agas map“ (Ausschnitt), https://mapoflondon.uvic.ca/agas.htm [Stand: 03.01.2021], mit Ergänzungen durch den Verfasser.

Es lohnt sich, diesen Weg genauer zu beschreiben. Da es beim Aufbruch bereits dunkel wird und die Straßen unsicher sind, beschließen die drei Männer, ein Boot zu mieten, um auf der Themse ihr Ziel zu erreichen. Sie gehen zu den nahe gelegenen Bockhurst Stairs, und müssen dort sehr lange warten, bis sich auf ihre Rufe nach Oares (Ruder) langsam ein Kahn nähert, der von zwei alten Männern gerudert wird. Das Boot ist in einem beängstigend schlechten Zustand, das Trio geht nur mit Schaudern an Bord. Die beiden Fährmänner, Vater und Sohn, von denen der Ältere an Charon gemahnt, rudern so langsam, dass sie kaum gegen die Strömung ankommen. Nach wenigen hundert Metern, auf der Höhe vom Temple (der Fleet Street) werden die Reisenden auch schon wieder aus dem Kahn verwiesen, weil die

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beiden Fährmänner Feierabend machen. Die Fahrgäste zahlen und wagen es nicht, sich zu beklagen. Nach einigen Mühen gelingt es dem Trio, sich zu den Uferstiegen durchzuschlagen.16 Da die Themse Ebbe hat, geraten die drei Männer in den Morast des Flussufers; der Schlamm ist als geradezu infernalisches Chaos beschrieben. Aus diesem befreien sie sich nur mit äußerster Mühe, um sich nun, nur „zweiundzwanzig Schritte“ vom Ausgangspunkt entfernt, auf dem Londoner Strand wiederzufinden, der mit den Elysischen Feldern verglichen wird.17 Aber gerade dort werden die Männer von jenen Unmenschen misshandelt, die im Eingangszitat beschrieben sind. Kurz bevor das Trio endlich sein Ziel erreicht, wird Teofilo, das Alter Ego Brunos, bei der Pyramide in der „Mitte von drei Straßen“ von einer Gruppe von sechs „Edelmännern“ aufgehalten und erhält einen Schlag ins Gesicht, der so heftig ist, dass er „für zehn“ reicht. Teofilo bedankt sich höflich mit einem Tanchi, maester. Denn dies, so erfahren wir, sei die einzige Möglichkeit, weiteren Schlägen zu entgehen, und den Schädel ganz zu behalten.18 Bruno formuliert hier, wie schon im Fall der ‚inepten‘ Fährmänner, eine Maxime für den umsichtigen Londonbesucher: Man solle sich eher 16

Cena, DI, S. 53–57: Orsú, disse il Nolano, andiamo e preghiamo Dio, che ne faccia accompagnare in questa sera oscura, a sí lungo camino, per sí poco sicure strade. Or, benché fussemo ne la strada diritta, pensando di far meglio, per accortar il camino, divertimmo verso il fiume Tamesi, per ritrovar un battello, che ne conducesse verso il palazzo. Giunsemo al ponte de palazzo del milord Beuckhurst; e quinci, cridando e chiamando oares (id est gondolieri), passammo tanto tempo, quanto arrebbe bastato a bell‘agio di condurne per terra al loco determinato, ed avere spedito ancora qualche piccolo negozio. Risposero al fine da lungi dui barcaroli; e pian pianino, come venessero ad appiccarsi, giunsero a la riva; dove, dopo molte interrogazioni e risposte del donde, dove, e perché, e come, e quanto, approssimorno la proda a l’ultimo scalino del ponte. [...] A questo modo, avanzando molto di tempo e poco di camino, non avendo già fatta la terza parte del viaggio, poco oltre il loco, che si chiama il Tempio, ecco che i nostri patrini, invece d’affrettarsi, accostano la proda verso il lido. Dimanda il Nolano: – Che voglion far costoro? voglion forse riprendere un po’di fiato? E gli venne interpretato, che quei non erano per passar oltre; perché quivi era la lor stanza. Priega e ripriega, ma tanto peggio; perché questa è una specie de rustici, [...]. In conclusione, ne gittarono là; e dopo pagategli e resegli le grazie (perché in questo loco non si può far altro, quando se riceve un torto da simil canaglia), ne mostrorno il diritto camino per uscire a la strada. Or qua te voglio, „dolce Mafelina, che sei la musa di Merlin Cocaio“. Questo era un camino, che cominciò da una buazza, la quale né per ordinario, né per fortuna, avea divertiglio. 17 Cena, DI, S. 58–60: Ed ecco, non avea finito quel dire, che vien piantato lui in quella fanga di sorte, che non possea ritrarne fuora le gambe; e cossí, aggiutando l’un l’altro, vi dammo per mezzo, sperando che questo purgatorio durasse poco. Ma ecco che, per sorte iniqua e dura, lui e noi, noi e lui ne ritrovammo ingolfati dentro un limoso varco, il qual, come fusse l’orto de la gelosia, o il giardin de le delizie, era terminato quinci e quindi da buone muraglia; e perché non era luce alcuna che ne guidasse, non sapeamo far differenza dal camino ch’aveam fatto e quello che doveam fare, sperando ad ogni passo il fine: sempre spaccando il liquido limo, penetravamo sin alla misura delle ginocchia verso il profondo e tenebroso Averno [...]. sin tanto che, montando noi piú alto per il sentiero, ne rese a la cortesia d‘una lava, la quale da un canto lasciava un sí petroso spazio per porre i piedi in secco, che passo passo ne fe’ cespitar come ubriachi, non senza pericolo di romperne qualche testa o gamba. [...] In conclusione, „tandem laeta arva tenemus“: ne parve essere ai campi Elisii, essendo arrivati a la grande ed ordinaria strada; e quivi da la forma del sito, considerando dove ne avesse condotti quel maladetto divertiglio, ecco che ne ritrovammo poco piú o meno di vintidui passi discosti da onde eravamo partiti per ritrovar gli barcaroli, e vicino a la stanza del Nolano. 18 Cena, DI, S.  81: Or dopo ch’il Nolano ebbe riscosse da vinti in circa di queste spuntonate, particolarmente alla piramide vicina al palazzo in mezzo di tre strade, ne si ferno incontro sei galantuomini, de’ quali uno gli ne dié una sí gentile e gorda, che sola possea passar per diece; e gli ne fé donar un‘altra

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entschuldigen und bedanken, denn man sei stets mit einer Überzahl konfrontiert. Zusammenfassend rät Bruno, das Haus nicht ohne dringenden Grund zu verlassen, sich zu bekreuzigen, „mit einer Rüstung aus Langmut zu wappnen, die auch dem Gewehrschuss widersteht, und stets das kleinere Übel aus freien Stücken zu ertragen, um nicht das größere wider Willen erleiden zu müssen.“19 Die Beschreibung des Irrwegs durch das feindliche nächtliche London ist also topographisch präzise und exakt datierbar, aber gleichzeitig durch die Verwendung von Mythologemen ins Groteske, ins Satirische gesteigert, wie Bruno selbst schreibt.20 Zudem tauchen ernste Zweifel an der Historizität des beschriebenen Ereignisses auf – darüber, ob diese Einladung jemals stattgefunden hat.21 Die Forschungsliteratur hat daher auch stets und mit einer gewissen Berechtigung versucht, diesen Schilderungen einen allegorischen Sinn zu geben, und die verschiedenen, sehr konkreten Orte mit Brunos Gedächtniskunst in Verbindung zu bringen (Frances A. Yates),22 mit seinen politischen Absichten im Elisabethanischen England, mit einer komplexen dialogischen Struktur der Cena insgesamt, und daher mit Brunos Lehre vom infiniten Universum (Eugenio Canone, Henning Hufnagel).23 Steffen Schneider rekonstruiert den Parcours des Trios ausführlich und weist darauf hin, dass seine Struktur als Parodie auf die Queste der Ritterromane gelesen werden kann.24 Selbst für den Historiker John Bossy, der insbesondere den politischen Hintergrund von Brunos Londoner Zeit untersuchte, handelt es sich hier um Fiktion. Bossy betont allerdings einen weiter unten noch zu diskutierenden Aspekt, nämlich Brunos Hang zu einer ausgesprochen theatralischen Inszenierung der eigenen Biographie.25 Diese

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al muro, che possea certo valer per altre dice. Il Nolano disse: Tanchi, maester. Credo che lo ringraziasse perché li diè di spalla, e non di quella punta ch’è posta per centro del brocchiero o per cimiero de la testa. Cena, DI, S. 77f.: Sí che, quando ti piace uscir di casa, guarda prima di farlo senza urgente occasione, che non pensassi come di voler andar per la città a spasso. Poi sègnati col segno de la santa croce, àrmati di una corazza di pazienza, che possa stare a prova d’archibugio, e disponeti sempre a comportar il manco male liberamente, se non vuoi comportar il peggio per forza. In dem der Cena unmittelbar nachfolgenden Dialog Della causa, principio ed uno, in dem sich Bruno für seine Darstellung der Londoner zu entschuldigen versucht (s. u.), wird die Cena als satira bezeichnet; vgl. Causa, DI, S. 208. In der Forschungsliteratur wurde die Historizität dieser Wanderung und sogar die der Einladung stets infrage gestellt, weil Bruno Jahre später in Italien im Verhör mit der Inquisition ausgesagt hatte, dass das Aschermittwochsmal nicht bei Fulke Greville, sondern in den Räumen der französischen Botschaft stattgefunden habe. In dieser Debatte vertritt Feingold, Bruno Revisited, S. 245, die wahrscheinlich radikalste Position, wenn er schreibt: „Even less evidence exists to connect Bruno and Fulke Greville. If Greville showed Bruno some kindness, this, too, was extended during Łaski’s visit to Oxford. Bruno himself admitted the absence of further relations with Greville […] Furthermore, the setting of the Cena in Greville’s house was fictive, and there is no reason to assume that Greville, or any other courtier in London for that matter, invited Bruno to expound his views on Copernicus.” Frances A. Yates, The Art of Memory, London 1966, S. 311. Für einen wohl informierten Überblick dieser Interpretationen und der von Blumenberg, Jeanneret und Hefernan vgl. Hufnagel, Ein Stück von jeder Wissenschaft, S. 76. Vgl. Steffen Schneider, Kosmos, Seele, Text. Formen der Partizipation und ihre literarische Vermittlung. Marsilio Ficino, Pierre de Ronsard, Giordano Bruno, Heidelberg 2012, S. 356–365. Bossy, Embassy Affair, S. 139, schreibt in diesem Zusammenhang: „both his published writings and his appearances before the inquisitors were the public theatrical performances of a fictional person. Bruno was a genius of imaginative invenzione. What he said of his […] journey with Florio from Sa-

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verschiedenen Lesungen haben durchaus ihre Berechtigung: Bruno selbst hält nämlich explizit fest, dass der Leser den zweiten Dialog eher für poetisch oder gar allegorisch als für rein historisch halten wird. Aber er sagt damit eben gerade nicht, dass diese Einschätzung richtig ist, sondern setzt vielmehr hinzu, dass man sich dabei in eine moralische Topographie verirrt. Gleichzeitig betont Bruno nämlich, dass gerade dort, wo der Dialog satirische Form annimmt, Innehalten geboten ist: Denn hier gilt es, die Menschen mit jener verga, jener Rute zu messen, mit der man Samtstoffe misst und wie mit der (Fein-)Waage für (Edel-)Metall auch deren Seelen zu bestimmen. Wo es am trivialsten zuzugehen scheint, finde sich kein müßiges Wort, genauso wie bei der Kontemplation des großen Ganzen stets darauf zu achten sei, nicht über Lappalien und ‚kleine Steinchen‘ zu stolpern. Bruno warnt also davor, den Text als bloße Komödie oder Satire zu lesen. Er betont vielmehr, dass die Cena ein historischer Dialog ist und dass alle Dinge, insbesondere die scheinbar nebensächlichen, sich als wichtig für die Lehren, die der Text vermitteln und die der Zuseher oder Leser aus ihnen ziehen will, herausstellen.26 Als Zwischenresümee ist festzuhalten: Brunos Beschreibung der xenophoben Londoner Bevölkerung beansprucht durchaus historische Referenzialität, aber sie wird offensichtlich nicht wie in einem Reisejournal oder einer Chronik wiedergegeben, sondern im Modus der Ausdrucksformen eines Dialogs. Der Autor entwirft zudem sein Bild von der Stadt im Zusammenhang mit einer Diskussion des Kopernikanismus und seiner eigenen Lehre vom unendlich ausgedehnten, körperlichen Universum. Die Bezüge zum großen Ganzen wurden in der Forschungsliteratur eingehend dargestellt. Die von Bruno ebenfalls eingeforderte Aufmerksamkeit für die Stolpersteine des Realen, die zum gefährlichen Hindernis werden, sind bisher allerdings kaum thematisiert. Dies soll im Folgenden geschehen.

lisbury court to Whitehall – that its truth was not historical but tropological – may be equally said of the entire autobiographical burden both of his wrings and of his statements in Venice and Rome.” 26 Cena, DI, S. 10: Secondo una descrizzion di passi et di passaggi, che piú poetica, et tropologica forse, che istoriale sarà da tutti giudicata. Terzo come confusamente si precipita in una topografia morale: dove par che „con gli occhi di Linceo“ quinci, et quindi guardando (non troppo fermandosi) cosa per cosa, mentre fa il suo camino; oltre che contempla le gran machine: mi par che non sia minuzzaria, né petruccia, né sassetto, che non vi vada ad intoppare. Und ebd., S. 15: [...] il dialogo, è istoriale, dove mentre si riferiscono l’occasioni, i moti, i passaggi, i rancontri, i gesti, gli affetti, i discorsi, le proposte, le risposte, i propositi, et i spropositi remettendo tutto sotto il rigor del giudizio di que’ quattro: non è cosa che non vi possa venir a proposito con qualche raggione. Considerate ancora che non v’è parola ociosa: per che in tutte parti è da mietere, et da disotterrar cose di non mediocre importanza, et forse piú là dove meno appare. Quanto a quello che nella superficie si presenta, quelli che n’han donato occasione di far il dialogo, et forse una satira, et comedia, han modo di dovenir piú circonspetti, quando misurano gli uomini con quella verga con la quale si misura il velluto, et con la lance di metalli bilanciano gli animi. Quelli che sarrano spettatori o lettori, et che vedranno il modo con cui altri son tocchi: hanno per farsi accorti et imparar a l’altrui spese.

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4. Ein historischer Bericht? Wie also sedimentiert sich das von Bruno entworfene Bild der Londoner Stadtbevölkerung in historischer Perspektive? Zunächst ist festzuhalten, dass die hier zitierten Passagen über das ‚plebejische‘ London den Autor der Cena in Schwierigkeiten mit seinem Publikum gebracht zu haben scheinen. Bruno hat den Text der Cena in zwei verschiedenen Versionen publiziert. Offensichtlich war er mit heftiger Kritik konfrontiert, was ihn dazu veranlasste, bestimmte Passagen des bereits gesetzten Textes zu ändern und die Cena mit gleichem Titelblatt und ohne Hinweise auf Veränderungen in einer zweiten Version erscheinen zu lassen. In dieser Fassung korrigiert Bruno Passagen, indem er sie tendenziell enthistorisiert bzw. gänzlich streicht.27 Die hier wiedergegebenen Texte stammen aus der (höchstwahrscheinlich) ersten Textversion. Der Skandal, den die Cena in beiden Versionen hervorgerufen haben muss und der den Autor offensichtlich dazu zwang, das Botschaftsgebäude nicht mehr zu verlassen, ist explizit im unmittelbar danach erschienenen Dialog Della causa principio ed uno reflektiert.28 Hier beschreibt Bruno die Anfeindungen, denen er ob seiner Invektive gegen die Londoner Gesellschaft ausgesetzt war.29 Zudem sieht er sich veranlasst, seine Aussagen zu relativieren, indem er beteuert, dass er ja gerade nicht das höfische englische Publikum, für welches er wohl die Cena geschrieben hatte, sondern nur die xenophoben ‚Plebejer‘ gemeint hatte.

5. Die vertierten ‚Plebejer‘: Ladenbesitzer, Handwerker und vier Klassen von servi Aber wer ist eigentlich mit dem Wort ‚Plebejer‘ gemeint? Hier gibt uns die Cena präzise, gleichwohl überraschende Antworten. Denn zum Londoner Mob zählt Bruno nicht nur die Ärmsten der Armen, sondern sogar Ladenbesitzer, und er beschreibt diese breite Unterschicht unmissverständlich als den unzivilisiertesten Menschenschlag in ganz Europa: 27

Miguel Angel Granada gibt in der meisterhaften Einleitung zu seiner spanischen Übersetzung der Cena, in: Giordano Bruno, La Cena de las Cenicas, Madrid 2015, S. CCXXXV–CCXLV, einen rezenten, ausführlichen und v. a. luziden Überblick zur (komplexen) Forschungslage der beiden Textredaktionen, die höchstwahrscheinlich von Bruno selbst in der Druckerei überwacht bzw. unternommen wurden. Die Forschung zu diesem Thema ist insges. untrennbar mit dem Namen von Giovanni Aquilecchia verbunden; vgl. Ders., La lezione definitiva della ‚Cena delle Ceneri‘ di Giordano Bruno, in: Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, Classe di Scienze morali, storiche e filologiche, ser. 8 vol. 2 (1950), S. 209–243. 28 Causa, DI, S. 194: […] perché, per vostra pace e vostra quiete, la quale con fraterna caritade vi desio, non vorrei che di questi vostri discorsi vegnan formate comedie, tragedie, lamenti, dialogi, o come vogliam dire, simili a quelli che poco tempo fa, per esserno essi usciti in campo a spasso, vi hanno forzato di starvi rinchiusi e retirati in casa. 29 Bossy, Embassy Affair, S. 48f., diskutiert Brunos eher halbherzige Entschuldigungen; vgl. Causa, DI, S. 175–177, 194, 204–208.

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„Die Plebejer […] stammen aus einem derartigen Pfuhl, dass, wenn sie nicht wirklich ganz gehörig von den Anderen (Ständen) unterdrückt werden würden, einen derartigen Gestank und schlechten Dunst von sich geben würden, dass sie den Ruf aller Plebejer verdunkeln würden: Dass England sich rühmen könnte, Plebejer zu haben, die so respektlos, unzivilisiert, roh, bäurisch, hinterwäldlerisch und schlecht erzogen sind, dass sie darin allen anderen Plebejern überlegen wären, die die Erde in ihrem Schoß weiden lassen könnte. […] und wenn die Plebejer einen Fremden sehen, scheinen sie […] so sehr zu Wölfen, so sehr zu Bären zu werden, dass sie dem Fremden dieses Gesicht zeigen. Dieser unedelste Bevölkerungsteil ist in zwei Teile unterschieden, von dem ein Teil die Handwerker und Ladenbesitzer ausmachen“.30

Diese drastische Darstellung ergänzt Bruno durch weitere, präzise Beschreibungen der sozialen Verhältnisse Londons. Er teilt nämlich die Dienerschaft, den anderen Teil der Plebejer, in vier Klassen, cotte (das Wort bedeutet eigentlich Kutte, Überoder Wappenrock). Ihm zufolge ist nur die oberste Klasse, die sich aus verarmten Edelleuten und Grundbesitzern zusammensetzt, für den forastiero harmlos. Anders als die Diener der zweiten Klasse träg die prima cotta kein Wappen auf dem Rücken. Dienstboten der dritten Klasse dienen weniger mächtigen Häusern und dürfen daher nicht immer Wappen tragen (oder sie verdienen diese gar nicht). Die Diener der vierten Klasse schließlich gehen hinter den markierten und den nicht markierten Dienern her, und sie sind, als letzte Klasse, die „Diener der Diener“.31 Bruno teilt also die Dienerschaft nach äußerlichen Kriterien (Wappen/kein Wappen) und relativer Positionierung innerhalb der Gefolgschaft (vorne/hinten). Als Faustregel ließe sich für den umsichtigen Fremden folgende Maxime ableiten: Je weiter hinten in der Entourage und je weniger Hoheitszeichen, desto gefährlicher ist ein Individuum. Aber er geht noch weiter in seiner Analyse, wenn er schreibt, dass Angehörige der zweiten Dienerklasse entweder bankrotte Kaufleute und Handwerker sind oder solche, die nutzlos (senza profitto) Lesen und Schreiben gelernt haben, oder es sind aus einer „Schule, einem Warenlager oder aus irgendeinem Geschäft entflohene“ Individuen. Die dritte Klasse identifiziert Bruno als Nichtstuer (poltroni), die aus Faulheit ein freies Geschäft aufgegeben haben. Es sind entweder „wässrige Nichtstuer“, die man von den Schiffen geholt hat, also Matrosen, oder „erdige Nichtstuer“, die man von den Feldern geholt hat, also Landarbeiter. Die vierte und 30

Cena, DI, S. 70–73: […] la plebe […] è una sí fatta sentina che, se non fusse ben ben suppressa da gli altri, mandarebbe tal puzza e sí mal fumo, che verrebbe ad offuscar tanto il nome di tutta la plebe intiera, che potrebe vantarsi l’Inghilterra d’aver una plebe, la quale in essere irrespettevole, incivile, rozza, rustica, salvatica e male allevata non cede ad altra, che pascer possa la terra nel suo seno. […] che, quando vede un forastiero, sembra, per Dio, tanti lupi, tanti orsi, che con suo torvo aspetto gli fanno quel viso, ... Questa ignobilissima porzione, per quanto appartiene al proposito, è divisa in due specie; […] de quali l’una è de arteggiani e bottegari. 31 Cena, DI, S. 74: Oltre a questi s’aggionge l’ordine di servitori. Non parlo de quelli de la prima cotta, i quali son gentiluomini de’ baroni, e per ordinario non portano impresa o marca, […] la seconda cotta; e questi tutti portano la marca affibbiata a dosso. Altri sono de la terza cotta, li padroni de’ quali non son tanto grandi, che li convegna dar marca a’ servitori, o pur essi son stimati indegni ed incapaci di por­ tarla. Altri sono de la quarta cotta, e questi siegueno gli marcati e non marcati, e son servi de’ servi. In den letzen beiden Worten offenbart sich übrigens, wie so oft, Brunos Hang zum Schabernack: servus servorum ist seit Papst Gregor I. (reg. 590–604) der Titel der Päpste.

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letzte Klasse ist eine Mischung aus Verzweifelten, die „von ihren Herren verflucht wurden“, irgendwelchen Missgeschicken entronnen sind, Pilger, Nichtsnutze und Faulenzer, „die keine Gelegenheit mehr haben zu rauben, jene, die dem Gefängnis entronnen sind, die Pläne schmieden jemanden zu betrügen“.32 Was neben dieser (geradezu schockierend) menschenverachtenden Klassifikation auffällt, ist die detaillierte Beschreibung verschiedener Klassen von Dienern sowie die Behauptung, dass diese Diener verschiedener Grade eines gemeinsam haben, nämlich dass sie alle mehr oder weniger gescheiterte Existenzen sind, die offensichtlich nur zu faul waren, etwas aus sich zu machen. Im Fall der untersten Dienerklasse fügt Bruno eine präzise Angabe hinzu, wo diese Menschen in der Topographie Londons lokalisiert sind. Sie lungern nämlich vor den Säulen der (alten) Börse und den Toren der St. Paul’s Cathedral herum.33 Und nur im Fall der vierten Klasse erwähnt Bruno, dass solche Menschen auch in Metropolen Italiens und Frankreichs an bestimmten Orten in unbegrenzter Zahl anzutreffen sind.34 Dieser einzige direkte internationale Vergleich in Bezug auf die Verhältnisse der Dienerschaft legt die Vermutung nahe, dass Bruno nur die unterste Klasse auch in Italien und Frankreich wiederzuerkennen glaubte und dass ihm das darüber gelagerte System von ‚servicemen‘ der Dienerklassen eins bis drei in dieser Form nicht vertraut und daher beschreibenswert war. Dabei war für ihn offensichtlich irritierend, dass Diener nicht als solche geboren werden, sondern sich, seiner Wahrnehmung nach, aufgrund ihres persönlichen Versagens – ihrer Faulheit und Nichtsnutzigkeit – in diese Lage gebracht hätten. Was zunächst vielleicht befremdlich nach Anbiederung eines exkommunizierten katholischen Priesters an die protestantische Arbeitsethik klingen mag, hat in Brunos philosophischer Anthropologie eine methodische Begründung, die er in den kommenden Monaten und Jahren in London in mehreren Schriften, vor allem in den Dialogen Spaccio della bestia trionfante und Cabbala del cavallo pegaseo, ausführen wird. Hier argumentiert der Autor, dass die charakteristische kreative Tätigkeit der Menschen das Ergebnis von Fleiß, Erfindungsgabe und Schlauheit sei. Diese Qualitäten stellt Bruno in deutlichen Gegensatz zur Muße eines goldenen Zeitalters, welches seiner Ansicht nach die Menschen zu Tieren macht, indem es ihnen nicht zu dem zu kommen erlaubt, wofür sie eigentlich veranlagt 32

Cena, DI, S.  74f.: Quelli de la seconda cotta sono de’ mercantuzzi falliti o arteggiani, o quelli che senza profitto han studiato a leggere scrivere, o altra arte; e questi son tolti o fuggiti da qualche scuola, fundaco o bottega. Quelli de la terza cotta son que’ poltroni, che, per fuggir maggior fatica, han lasciato piú libero mestiero; e questi o son poltroni acquatici, tolti da’ battelli; o son poltroni terrestri, tolti dagli aratri. Gli ultimi, de la quarta cotta, sono una mescuglia di desperati, di disgraziati da’ lor padroni, de fuorusciti da tempeste, de pelegrini, de disutili ed inerti, di que’ che non han piú comodità di rubbare, di que’ che frescamente son scampati di priggione, di quelli che han disegno d’ingannar qualcuno, che le viene a tôrre da là. 33 Cena, DI, S. 75: E questi son tolti da le colonne de la Borsa e da la porta di San Paolo. Wie Giovanni Aquilecchia ebd., S. 75, Anm. 1, schreibt, meint Bruno mit Börse nicht das heutige Gebäude am Londoner Strand, sondern das Bauwerk aus dem Jahr 1566, das später Old Change genannt wurde. 34 Bruno nennt neben Paris, Neapel und Venedig – es ist eine bittere Ironie des Schicksals – auch den Campo dei Fiori in Rom, wo er bekanntlich im Jahr 1600 als Ketzer verbrannt werden sollte; Cena, DI, S. 75: De simili, se ne vuoi a Parigi, ne trovarai quanti ti piace a la porta del Palazzo; in Napoli, a le grade di San Paolo; in Venezia, a Rialto; in Roma, al Campo di Flora.

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wären: nämlich, sich in komplexen Staatsgebilden zu organisieren und sich dabei kontinuierlich weiterzuentwickeln. Dieser ethisch-politische Imperativ ist Ausdruck einer massiven Kritik an den Christen im Allgemeinen. Ihnen wirft Bruno in ziemlich unverhohlener Weise vor, passiv auf individuelle Erlösung zu warten, anstatt sich um das Wohl der Allgemeinheit zu kümmern.35 Neben dem durchaus radikalen, von messianischen Untertönen36 begleiteten Bild, das Bruno von den Londoner Unterschichten zeichnet, deutet seine Beschreibung auf eine gewisse Kenntnis der sozialen Hierarchien des Elisabethanischen England, und darauf, dass sie für Bruno, der im ‚Regno di Napoli‘ sozialisiert war, fremd gewesen sein muss. Immerhin lebte er als externer ‚legal alien‘ in der französischen Botschaft, und war des Englischen wohl nicht (sehr) mächtig, denn er war ja nur wenige Monate zuvor in London angekommen.

6. ‚Aliens‘, ‚apprentices‘, urbane Vagabunden und soziale Mobilität Bruno war nicht der einzige, der in der Stadt Zuflucht gesucht hatte. Denn im London der 1570er und 1580er Jahre war die Zahl der ‚aliens‘ – also jener Menschen, die nicht von der Insel stammten, sprunghaft angestiegen, sodass sie um 1600 zwischen 3,5 und 5,3 Prozent der Stadtbevölkerung ausmachten. Diese etwas mehr als 5.000 Menschen lebten meist in bestimmten Stadtteilen zusammen.37 In der Mehrzahl waren es protestantische Flüchtlinge aus den Niederlanden und aus Frankreich, die sich rasch und erfolgreich in das Leben im Exil einfügten, dabei aber auch enorme ökonomische und soziale Verwerfungen verursachten.38 Bedroht fühlten sich insbesondere die lokalen Handwerksgilden, die regelmäßig gegen die neu erwachsene und am

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Spaccio, DI, S. 740–744, 807, und Calala, DI, S. 904–906; vgl. Blum, Giordano Bruno, S. 41f.; Sergius Kodera, Einleitung, in: Giordano Bruno, Cabala del asino pegaseo. Kabala des pegaseischen Pferdes, Hamburg 2008, S. LXXXI–LXXXIV. 36 Vgl. dazu die folgende Passage aus der Cena, DI, S. 35: Con ciò un solo, benché solo, può e potrà vencere, ed al fine arà vinto, e trionfarà contra l’ignoranza generale; e non è dubio se la cosa de’ determinarsi, non co’ la moltitudine di ciechi e sordi testimoni, di convizii e di parole vane, ma co’ la forza di regolato sentimento, il qual bisogna che conchiuda al fine; perché, in fatto, tutti gli orbi non vagliono per uno che vede, e tutti i stolti non possono servire per un savio. Zur Hypothese, dass Bruno sich als Führer der Giordanisti, einer neuen Glaubensgemeinschaft, verstand, vgl. auch Yates, Giordano Bruno, S. 312f., 345. Für eine Ideensammlung zu den messianischen Erwartungen, die Bruno in die Regentschaft von Heinrich III. setzte, vgl. Nuccio Ordine, Contro il Vangelo armato. Giordano Bruno, Ronsard e la religione, Mailand 2007, S. 107–113; Bossy, Embassy Affair, S. 154f. 37 Vgl. Roger Finlay, Diversity and Difference. The Demography of London 1580–1650, Cambridge 1981, S. 67f.; die lokalen Autoritäten sahen sich veranlasst, die ihnen durchaus suspekten Immigranten möglichst genau zu zählen; vgl. auch Jeremy Boulton, London 1540–1700, in: The Cambridge Urban History of Britain, Bd. 2, hg. v. Peter Clark, Cambridge 2000, S. 315–346, hier S. 332; Ian Archer, The Pursuit of Stability. Social Relations in Elizabethan London, Cambridge/New York 1991, S. 70, 93–95. 38 Vgl. Finlay, Diversity, S. 67.

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etablierten System vorbei agierende Konkurrenz protestierten.39 Obwohl von den lokalen Eliten teilweise protegiert,40 wurden die ‚aliens‘ immer wieder zum Opfer von Angriffen, insbesondere durch Lehrlinge, die für die verschiedenen Gilden (trade bands) arbeiteten. Die Gruppe der apprentices machte um das Jahr 1600 zwischen 13 und 17 Prozent (in absoluten Zahlen 32.000 bis 40.000) einer Gesamtbevölkerung von etwa 200.000 Londonern aus.41 Viele von ihnen waren ‚strangers‘, also nicht in London geborene Engländer. Obzwar von den Gilden und ihren unmittelbaren Lehrherren diszipliniert, bestätigen zahlreiche Berichte das aufsässige Verhalten dieser außerordentlich heterogenen Gruppe vorwiegend junger Menschen.42 Mobs von apprentices verhielten sich oft extrem aggressiv gegenüber Minderheiten, indem sie regelmäßig Bordelle und Theater überfielen und auch ‚aliens‘ attackierten. Häufig berichteten ‚aliens‘ von der störenden Präsenz der apprentices im Stadtraum: Sie lungerten an den Eingängen der Geschäfte ihrer Herren herum und pöbelten auch in den Straßen Passanten an.43 Diese Gruppe ist ohne Schwierigkeiten aus Brunos Bericht erkennbar: es sind jene Flegel, die bewaffnet aus den Läden stürmen, um ‚strangers‘ zu attackieren. Bedeutsam für Brunos unmittelbare Wahrnehmung der xenophoben Aggression war wohl auch, dass insbesondere ausländische Botschafter (und deren Entourage) regelmäßig Opfer gewalttätiger Übergriffe wurden.44 Aber nicht nur die apprentices und die Ladenbesitzer, auch Studenten der Inns of Court galten als berüchtigte Unruhestifter. Dies legt die Vermutung nahe, dass sie in der Cena den Dienern der zweiten Klasse zugeordnet sind, nämlich als jene, die „ohne Gewinn Lesen und Schreiben gelernt“ hätten.45

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Finlay, Diversity, S. 62–75, hat die Beschwerden der Londoner Weber über die ‚aliens‘ untersucht. Er betont allerdings, dass die Ursachen für diese Spannungen nicht ausschließlich ökonomischer Natur waren, sondern beispielsweise der Lord Mayor 1580 ‚strangers‘ als infektiöse Inkubatoren der Pest diffamierte; ebd., S. 83–85. Archer, Pursuit, S. 259f., beschreibt, wie insbesondere in den 1580er und 1590er Jahren im Parlament Lobbying gegen die ‚aliens‘ betrieben wurde. Er vertritt die These, dass diese Loyalität der Eliten mit der Lokalbevölkerung deshalb ganz wesentlich zur Stabilisierung der Situation in London beigetragen hat, weil die mit ihm verbundene Kompensation der Unterschichten eine Eskalation des Konfliktes verhinderte. 40 Archer, Pursuit, S. 137f. 41 Vgl. Finlay, Diversity, S. 66f. 42 Patrizia Fumerton, London’s Vagrant Economy. Making space for ‚Low Subjectivity‘, in: Cowen Orlin (Hg.), Material London, ca. 1600, Philadelphia 2000, S. 206–225, schreibt S. 209f.: „Apprentices belonged to an elaborate guild system aimed at disciplining and socializing such youths, with the prospect of social ascent.“ 43 Archer, Pursuit, S. 77f., schreibt: „Foreigners regularly remarked upon the apprentices on the doors of their master’s shops and on the street distracting passer-by.“ Vgl. auch Caroline Barron/Christopher Coleman/Claire Gobbi, The London Journal of Alessandro Magno 1562, in: The London Journal 9 (1983), S. 136–152, hier S. 146. 44 Vgl. Archer, Pursuit, S. 4f., der auch feststellt, dass diese Tatbestände in den 1580er Jahren gehäuft vorkamen und sich insgesamt gegen marginalisierte Gruppen richteten. 45 Boulton, London 1540–1700, S. 335f.

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Es ist allerdings keineswegs einfach, die Häufigkeit der tätlichen Angriffe auf ‚aliens‘ zu quantifizieren.46 Zwar berichtet Bruno auch von einem konkreten, nur wenige Monate zurückliegenden Fall. Dabei wurde ein italienischer Immigrant, Alessandro Citolino, von einem johlenden Mob (offensichtlich von apprentices oder ehemaligen) hinterrücks angefallen und es wurde ihm die Hand gebrochen. Bruno beklagt, dass die zuständigen Behörden sich nicht um den Fall gekümmert hätten. Dieser Bericht findet sich so allerdings nur in der ersten Version der Cena. In der zweiten Fassung wird Citolini (wie er eigentlich hieß) nicht mehr namentlich genannt und es wird von einem „gebrochenen Fuß“ erzählt. Die gesamte Erzählung ist zudem auffällig vage. Ganz gegen die sonstigen Erzählkonventionen der Cena in beiden Versionen ist nämlich kein konkreter Ort genannt, an dem der Vorfall sich ereignet hätte. Ebenfalls unerwähnt bleibt, dass das Opfer zum Zeitpunkt des Übergriffs bereits etwa achtzig Jahre gewesen sein muss: ein Umstand, der ja die Drastik des Vorfalls und damit die polemischen Intentionen des Textes noch verstärkt hätte. Dies legt die Vermutung nahe, dass Bruno den Vorfall wohl nur vom Hörensagen kannte und die sich um Citolini rankende Geschichte tatsächlich eine ‚urban legend‘ war, die unter den Immigranten aus Italien zirkulierte.47 Was hier also eigentlich als weitere Evidenz über die Xenophobie der Londoner beigebracht wird, verfängt sich in ziemlich eklatanten faktischen Widersprüchen. Eine weitere kuriose Diskrepanz im Bericht über die Xenophobie der Londoner ergibt sich daraus, dass weder Florio noch Gwinne als ‚aliens‘, und wohl auch nicht sofort als ‚strangers‘ erkennbar waren, wie es Brunos Bericht nahelegt, und damit kein offensichtliches und unmittelbares Ziel xenophober Angriffe gewesen sein können. Hatte Bruno einfach etliche Erzählungen von (ja tatsächlich häufigen) Übergriffen auf Botschaftsangehörige gehört, diese Berichte literarisch kondensiert und als eigenes Erleben dargestellt? Ist der Bericht der Cena also doch insgesamt fiktiv, löst sich bei näherer Betrachtung sozusagen alles in bloßes Theater auf? Dieser Annahme ist entgegenzuhalten, dass sich die Beobachtungen der Cena über die Dienerklassen und ihren sozialen Abstieg als sehr präzise bestätigen: Selbst in einer permanent prekären Lebensrolle brach ein erstaunlich hoher Anteil der apprentices, nämlich etwa 60 Prozent, ihre Ausbildung und damit das Dienstverhält46

Vgl. Finlay, Diversity, S. 55f., der die These vertritt, dass die fremdenfeindliche Haltung der Londoner Bevölkerung überschätzt und keineswegs nur auf ökonomische Gründe zurückzuführen wäre. 47 Cena, DI, S. 77: Accuso, i quali talvolta fingendo di fuggire, o voler perseguitare alcuno, o correre a qualche negocio necessario, se spiccano da dentro una bottega; e con quella furia ti verranno da dietro o da costa a donar quella spinta che può donar un toro quando è stizzato, come pochi mesi fa accadde ad un povero messer Alessandro Citolino; al quale, in cotal modo, con riso e piacer di tutta la piazza, fu rotto e fracassato un braccio, al che volendo poi provedere il magistrato, non trovò manco che tal cosa avesse possuto accadere in quella piazza. Zu Alessandro Citolini, der seit Mitte der 1560er Jahre in London weilte, und seinen freundschaftlichen wie professionellen Verbindungen zu Florio, beides wichtige Theoretiker und Lexikographen der italienischen Sprache im englischen Exil, vgl. Wyatt, Italian Encounter, S. 205–210, 216f.; Dilwyn Knox, An Arm and a Leg. Giordano Bruno and Alessandro Citolini in Elizabethan London, in: Prue Shaw/John Took (Hg.), Reflexivity, Critical Themes in the Italian Cultural Tradition, London 2000, S. 161–176, diskutiert den Vorfall ausführlich. Knox bestreitet allerdings nicht die Faktizität des Berichts, sondern untersucht diesen im Hinblick auf eine mögliche Verbindung zwischen Bruno und Citolinis Sohn.

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nis mit dem Lehrherrn vorzeitig ab. Manche von ihnen kehrten in ihre Herkunftsorte zurück, andere fielen aus dem vergleichsweise sehr dicht geknüpften sozialen Netz der unmittelbaren Bevormundung und Disziplinierung durch die Lehrherren (bei denen die apprentices auch wohnten) heraus. Sie blieben als urbane Vagabunden in der Stadt.48 De facto kamen etwa drei Viertel der vagrants aus ihren Reihen.49 Als Vagabunden waren sie auch der strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Patrizia Fumerton hat in diesem Zusammenhang die anregende These vertreten, dass die apprentices nach den legislatorischen Kategorien des 16. Jahrhunderts insgesamt als Vagabunden zu bezeichnen seien, weil sie sich in einem „state of radical detachment“ fern von ihrem Ursprungsort, ohne Familienverband und viele von ihnen in pro­blematischen „nowhere positions“ befanden. Diese Situation habe nicht zuletzt auch deshalb bestanden, weil die Bindungen der apprentices an ihre Lehrherren außerordentlich instabil waren.50 Fumerton argumentiert, dass sich mit dem unsicheren und unsteten Lebenswandel dieser vorwiegend jungen Menschen neue, gleichsam vagabundierende Subjekte entwickelt hätten.51 Es waren wohl in der Mehrzahl diese aus dem Netz gefallenen apprentices, die Bruno als servi dei servi, als „Diener der Diener“ der vierten Klasse identifizierte. Zugleich scheint es allerdings auch einer beachtlichen Anzahl von entsprungenen apprentices gelungen zu sein, sich mit Gelegenheitsjobs außerhalb des Systems irgendwie über Wasser zu halten. Sie werden erstaunlich präzise in Brunos Beschreibung von Teilen der Diener der zweiten und vor allem der dritten Klasse charakterisiert. Die hier beschriebene soziale Mobilität der apprentices nach unten in ein Lumpenproletariat oder in prekäre Existenzen am Rande der Gesellschaft bzw. zurück in die Heimatorte war allerdings von einer gegenläufigen Mobilität nach oben begleitet. Vielen gelang nämlich auch der soziale Aufstieg und die Integration in die städtischen Hierarchien.52 In einer für das zeitgenössische Europa ungewöhnlichen Art bildeten die Londoner apprentices daher eine außerordentlich inhomogene Gruppe. Der Aspekt der sozialen Mobilität nach oben bleibt jedoch in der Cena ausgeblendet, und es steht zu vermuten, dass Bruno auch deswegen den Unmut des Publikums erregte. Ebenfalls anders als in der Cena dargestellt, reagierten die lokalen Autoritäten mit großer Besorgnis sowohl auf die regelmäßigen Übergriffe solcher ‚unruly youths‘, und zwar sowohl der apprentices als auch der urbanen Vagabunden. Die Übergriffe auf ‚aliens‘ wurden von den lokalen Autoritäten mit großer Aufmerksamkeit und – 48

Archer, Pursuit, S. 218, schreibt: „Many, perhaps the majority returned to their homes in the country, but others, hanging about the city, contributed to the problem of vagrancy and petty crime in the capital.“ 49 Fumerton, Vagrant Economy, S. 209. 50 Fumerton, Vagrant Economy, S. 209f. 51 Fumerton, Vagrant Economy, S. 212, spricht davon, dass diese neuen Identitäten das Ergebnis einer „new fluid economy“ waren, „that produced and was reliant upon mobile and intermittent labor“. Zudem beschreibt sie das daraus resultierende „vagrant subject – shifting from place to place, relationship to relationship, job to job, apprenticed in the range of different identities without even attaining the ‚freedom‘ of a whole and stable subject“; ebd., S. 218. 52 Boulton, London 1540–1700, S. 335.

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insbesondere im Lichte der religiösen Polarisierungen auf dem Kontinent – mit Nervosität wahrgenommen. Die Obrigkeit sah sich zwar de facto oft außerstande, diese Situationen zu kontrollieren bzw. gewalttätige Ausbrüche völlig zu unterdrücken. Dies scheint allerdings trotzdem vergleichsweise besser als in weiten Teilen Europas gelungen zu sein.53 Denn das soziale Netz und die damit verbundene Überwachung der Individuen, gepaart mit der Tendenz zur sozialen Mobilität und Durchdringung, produzierte eine vergleichsweise kohärente Gesellschaft, in der auch und gerade auf der lokalen Ebene ein hohes Potenzial zur Abfederung sozialer Spannungen bestand.54 Dies wird von den Zeitgenossen positiv wahrgenommen, etwa wenn die eigene urbane Hierarchie und Regierungsform manchmal sogar explizit in negativer Abgrenzung von den Verhältnissen in Neapel, dessen Bevölkerung unter einem grausamen spanischen Vizekönig und einer abgehobenen Adelsklasse zu leiden hätte, beschrieben wird.55 Tatsächlich ist also die von Bruno aufgezeigte Durchlässigkeit und gleichzeitige soziale Differenziertheit der Dienerschaft für das zeitgenössische London gut dokumentiert. Was Bruno aus der Perspektive des ‚alien‘ und von der Warte seines radikalen Elitendenkens allerdings nicht sehen konnte, war das Ausmaß der Kooperation, der gegenseitigen Verpflichtung, der, wie wir heute sagen würden, sozialen Kohärenz, welche aus solchen fluktuierenden gesellschaftlichen Beziehungen entstanden ist. Die von englischer Seite gefeierte soziale Kohärenz steht also in diametralem Gegensatz zur Wahrnehmung Londons in der Cena. Und hier macht Bruno diese kulturelle Besonderheit in einem Vergleich mit Italien fest. Er schreibt, dass das aggressive Verhalten der Londoner Stadtbevölkerung gegen ‚aliens‘ so in seiner Heimat unmöglich wäre: Wenn sich dort nämlich zwei Dummköpfe die Schädel einhauen würden, dann bilde sich ein Kreis von Zuschauern, der nur darauf warte, ob nicht vielleicht doch noch ein Ordnungshüter vorbeikomme, der die beiden ins Gefängnis bringt. Der schaulustigen Menge würde es aber nie einfallen, direkt einzugreifen, und deshalb könnten die Ganoven auch oft entkommen, wenn die Polizei nicht in der Überzahl sei.56 Wie schon in der Beschreibung im Eingangszitat wird der Stadtraum hier zur Schaubühne. In London scheint es für alle selbstverständlich zu sein, sich an der ‚Aufführung‘ beteiligen zu dürfen, während in Neapel das Publikum von den Schauspielern oder Akteuren, zu denen nicht nur die Streitparteien, sondern auch die Polizisten gehören, getrennt war. Die hier beschriebene Mentalität mag 53

Boulton, London 1540–1700, S. 336; Archer, Pursuit, S. 257f. Archer, Pursuit, S. 255: „The majority of Londoners were locked into a matrix of overlapping communities, each of which created a hold on their loyalties and contributed to the sense of identity.“ 55 Archer, Pursuit, S. 50f.: „Londoners were aware that their elite cared for the commoners.“ 56 Diese Passage ist nur in der ersten Version erhalten; vgl. Cena, DI, S. 71f.: Al che sono mossi dal desio di aver occasione di far a questione con un forastiero. Et in questo le assicura che non come in Italia s’avviene ch’un rompa il capo ad una de simil canaglia, si staranno tutti a vedere se per sorte viene qualche zaffo ufficiale ch’il prenda: et se pur è alcuno che si muova; lo fa per dividere ed appaccare, aggiutare l’impotente, et prendere specialmente la causa di un forastiereo. Et nisciuno che non è ufficial di corte, o ministero de la giustizia, id est birro, have ardire, né autortà di por mano sopra il delinquente: et se pur quello non sarà potente a prenderlo: si vergognerà ogn’uno di aggiutalo in simile ufficio. Et cossì il birro, et tal volta i birri perdeno la caccia. 54

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dem durch Jahrhunderte währenden Status von Neapel als innereuropäische, spanische Kolonialstadt und den damit einhergehenden sozialen Verwerfungen geschuldet sein.57 Es ist interessant zu beobachten, dass hier von Italien als einem gleichsam kulturell und sozial homogenen Gebiet die Rede ist, in dem sich die Menschen – zumindest in dieser Hinsicht – in sehr ähnlicher Weise zu verhalten scheinen. Die kulturelle und vor allem politische Heterogenität der Apenninhalbinsel ist dabei völlig ausgeblendet. Höchstwahrscheinlich bezieht sich die Cena in dieser Passage auf die Verhältnisse in Neapel, und nicht so sehr auf Rom, Venedig, Turin oder Mailand. 58 Tatsächlich definiert sich Bruno als Neapolitaner, der, selbst unter einem glücklicheren Himmel geboren (allevato sotto più benigno cielo), seine Perlen vor ein Oxforder ‚Pedantenschwein‘ (quel porco) geworfen hatte.59

7. Die Rhetorisierung des Londoner Stadtraumes Der Text der Cena verfolgt in beiden Fassungen eine spezifische literarische Form der Auseinandersetzung mit einem dem Autor fremden und feindseligen Stadtraum.60 Bruno thematisiert damit offensichtlich das von ihm erzeugte spannungsgeladene Verhältnis der Historizität seiner Erzählung über die Londoner Unterschichten im Zusammenhang mit einer konsequent betriebenen und ungewöhnlichen Rhetorisierung des metropolitanen Raumes. Auffällig ist zunächst, dass die komplexen raumzeitlichen Verhältnisse und Überlagerungen des urbanen Raums durch die kontinuierliche Verwendung von Sätzen mit schier endlosen Parataxen nachgebildet werden. Zudem koppelt Brunos Darstellung die Fährnisse im nächtlichen London mit Assoziationen von der klassischen Antike entlehnter Mythen (Iasons Zähne, Charons Kahn, Elyseeische Felder, um nur einige zu nennen), mit Bibelstoffen, den Irrfahrten aus Vergils Aeneis und Zitaten aus der Divina Commedia, die gleich (und ausgerechnet!) neben dem Meister der Verballhornung solch hoher Literatur steht: neben Teofilo Folengo (alias Merlino Coccai) und seiner zweifelhaften Muse Mafe-

57

Ich habe mich andernorts, allerdings in einem verwandten Zusammenhang, mit der Situation Neapels als Teil einer innereuropäischen, spanischen Kolonie befasst; vgl. Sergius Kodera, Giambattista Della Porta’s Histrionic Science, in: California Italian Sudies 3/1 (2012), http://www.escholarship.org/uc/ item/5538w0qd [Stand: 03.01.2021]. 58 Bruno kannte diese Städte aus eigener Erfahrung, weil er sich dort wenigstens kurzzeitig auf seiner Wanderung (oder besser Flucht) durch Italien in den Jahren 1576 bis 1578 aufgehalten hatte; vgl. dazu Eugenio Canone, Giordano Bruno. Gli anni napoletani e la ‚peregrinatio‘ europea, immagini, testi, documenti, Cassino 1992; Ricci, Giordano Bruno. 59 Cena, DI, S. 133f. 60 Solches hat er schon mit der Stadt Neapel in seiner 1582 in Paris publizierten Komödie Candelaio unternommen; vgl. dazu Sergius Kodera, Staging an Early Modern Metropolitan Labyrinth. The Experience of Place and Space in Giordano Bruno’s Candelaio, in: Massimiliano Traversino Di Cristo (Hg.), Giordano Bruno, Will, Power, and Being. Law, Philosophy, and Theology in the Early Modern Era, Paris 2021, S. 355–394, .

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lina. Auch Ariostos Orlando Furioso ist ganz am Ende des zweiten Dialogs zitiert.61 Dieses Pasticcio aus dem Fundus der mehr (oder weniger) hohen zeitgenössischen literarischen Kultur fungiert als groteske Folie, vor der London als ein abgründig-nokturnes Labyrinth erscheint, das von xenophoben, ja animalischen Einwohnern bevölkert ist. Der Weg von Salisbury Court nach Westminster ist topographisch allerdings zu exakt beschrieben, um gänzlich in das Reich der poesia macceronica des Teofilo Folengo (geschweige denn in Dantes Inferno)62 verwiesen oder auf das tendenziell völlig ahistorische Chronotopos des Orlando reduziert werden zu können. Es verhält sich vielmehr so, dass Bruno in der ihm eigentümlichen Weise Zitate aus der ‚hohen‘ literarischen Kultur zur gelehrten Evokation und gleichzeitigen Subversion63 oder genauer: zur Erosion der Autorität eben dieser Texte einsetzt. Dies geschieht in der Absicht, das literarische Imaginäre mit dem je Konkreten, in unserem Fall: der Londoner Straße, zu verbinden, und mit Brunos eigener Erzählinstanz. Die so konstru­ ierte, grotesk manieristische literarische Form drängt geradezu den Vergleich mit dem malerischen Chiaroscuro eines Caravaggio auf, der höchsten Illusionismus mit realistischer Darstellung und nächtlicher Lichtsituation verbindet.64 Wie Caravaggio, der das materiellen Elend und gesellschaftliche Außenseitertum seiner Modelle (Bettler, Vagabunden, Prostituierte) für seine Heiligendarstellungen skandalös zur Schau stellt, verliert auch Bruno nicht den Blick für die konkreten Londoner Verhältnisse. So betrachtet, fallen neben der topographischen Konsistenz und der Präzision, mit der Bruno das Sozialgefüge Londons charakterisiert, weitere akkurate Beobachtungen auf: Die beeindruckenden Gezeiten der Themse sind in der Cena ebenso erwähnt wie Brocken des Englischen in die Erzählung eingewoben werden (oraes, tanchi mester, milordes u. a.). Die namentlich erwähnten Personen sind allesamt identifizierbare historische Figuren. Es geht in dieser Beschreibung also offensichtlich gerade nicht darum, die frühneuzeitliche Metropole London zu allegorisieren. Brunos oben skizzierte Erzählstrategie inszeniert den Stadtraum als Bühne, auf der 61

Lina Bolzoni, Note su Bruno e Ariosto, in: Rinascimento 40 (2001) S. 19–43; Schneider, Kosmos, S. 360f., der hier allerdings die im Text deutlich markierte, komische Präsenz Folengos ausblendet. 62 Für eine wohlstrukturierte Diskussion dieser Reise aus literaturwissenschaftlicher Perspektive vgl. Hufnagel, Ein Stück von jeder Wissenschaft, S.  76–84; zur Evokation von Folengos Werken und insbesondere von Dantes Inferno II, 7 und 36, in Brunos Londondarstellung vgl. ebd., S. 78, mit zahlreicher weiterer Sekundärliteratur; vgl. auch die Diskussion in Ricci, Giordano Bruno, S. 246–256, aus biographisch-ideengeschichlicher Perspektive. 63 Miguel A. Granada, Giordano Bruno. Universo infinito, union con Dios, perfeccion del hombre, Barcelona 2002, S. 179, hat gezeigt, wie Bruno diese Strategie der Evokation und gleichzeitigen Subversion in vielen Fällen auf Philosopheme, von Denkern wie Marsilio Ficino, Nicolas von Kues oder Nikolaus Kopernikus anwendete; zu diesen Strategien intellektueller Aneignung vgl. auch Sergius Kodera, Timid Mathematicians vs. Daring Explorers of the Infinite Cosmos. Giordano Bruno, Literary Self-Fashioning, and De revolutionibus orbium coelestium, in: Wolfgang Neuber/Thomas Rahn/Claus Zittel (Hg.), The Making of Copernicus. Early Modern Transformations of a Scientist and his Science, Leiden 2014, S. 229–250, hier insbes. S. 248–250. 64 Zu den Affinitäten zwischen Bruno und Caravaggio vgl. Anna Maria Panzera, Caravaggio, Giordano Bruno e l’invisibile natura delle cose, Rom 2011.

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das literarische Imaginäre mit den konkreten individuellen Erfahrungen im Dialog unterschiedlicher Personen verschmilzt. In einer für Brunos Dialoghi italiani insgesamt charakteristischen literarischen Strategie zielt die Darstellung nicht ausschließlich auf die Evokation überzeitlicher, ideeller Realitäten. Bruno geht es vielmehr darum, Immanenz zu erzeugen, damit eine konkrete Situation in ihrer grotesken Körperlichkeit und so als Teil eines unendlichen materiellen Universums sichtbar wird. Dies wird insbesondere an den Beschreibungen der Londoner als Tiere offensichtlich.

8. Physiognomik oder: Die Tiere auf der Bühne der Großstadt Die Stadtbevölkerung, ja selbst die Professoren in Oxford scheinen in der Cena geradezu vertiert. Bruno beschreibt die Übergänge vom Menschlichen ins Bestialische fließend, etwa am Beispiel der monströsen Bier- und Ale-Träger, die einen umrennen, wenn man ihnen nicht ausweicht; diese Wesen entschuldigt er sogar: „Sie haben nämlich so viel Kraft, dass sie zur gleichen Zeit eine Last auf den Schultern tragen, eine andere vor sich herschieben und dazu noch einen ganzen Karren ziehen können […,] sie ähneln mehr dem Pferd, Maultier und Esel als dem Menschen. Aber alle übrigen klage ich an, die ein klein wenig Verstandes haben, und die mehr als jene Bierträger nach dem Bild und der Ähnlichkeit des Menschen gemacht sind.“65

Das ist im Kontext der Stadtbeschreibung der Cena nicht lediglich ein mythologischer Hinweis auf Circe und damit eine Anspielung auf die Kehrseite des Renaissance-Platonismus im Sinne eines Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494), der sowohl die Vergöttlichung als auch die Vertierung des Menschen postuliert hatte, sondern im konkreten Kontext durchaus wörtlich zu nehmen.66 Dies bezeugen nicht nur die zahlreichen anderen zeitgenössischen Texte, die physiognomische Theorien propagierten. Die Vorstellung, dass Menschen fließend ins Tierische übergehen, ist im Verständnis der Physiognomiker keine esoterische Doktrin, sondern vielmehr eine Herrschaftsstrategie, die es erlaubt, individuelle Neigungen vorherzusehen, Mitmenschen zu klassifizieren, und unliebsame Individuen auszusondern.67 65

Übersetzung aus Bruno, Aschermittwochsmal, S. 102 (modifiziert); Cena DI, S. 76–77: Cossí fanno ancora color che portan birra ed ala; i quali, facendo il corso suo, se per sua inavertenza te si avventaranno sopra, te faran sentire l’émpito de la carca che portano, e che non solamente son possenti a portar su le spalli, ma ancora abuttar una casa innante e tirar, se fusse un carro, ancora. […] hanno piú del cavallo, mulo ed asino che de l’uomo; ma accuso tutti gli altri, li quali hanno un pochettino de razionale, e sono, piú che gli predetti, ad imagine e similitudine de l’uomo. 66 Cabala, DI, S. 886f.; vgl. dazu Kodera, Einleitung, in: Bruno, Cabala, S. XCVI–CIII mit Anm. 27 auf S. 165. 67 Vgl. dazu z. B. Sergius Kodera, Humans as Animals in Giovan Battista della Porta’s scienza, in: Zeitsprünge 17 (2013), S. 414–432; vgl. auch den diesbezüglich außerordentlich einflussreichen Text

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Diese fließenden Übergänge zwischen Menschen und Tieren sind auch für das Elisabethanische Theater untersucht und dokumentiert. Andreas Höfele hat in einer für unseren Kontext unmittelbar relevanten Arbeit den topographischen Kontext zwischen der Bühne Shakespeares und den Lehren der Physiognomik herausgearbeitet. Es ist bekannt, dass das Globe Theatre in harter Konkurrenz zur Bärenhatz stand. Tatsächlich befand sich zumindest seit 1572 an dem Ort, wo später das Globe errichtet wurde, eine solche Arena und ihr unmittelbar gegenüber ein weiterer Zirkus für die Bären- bzw. Stierhatz. Die auf der Karte südlich der Themse gelegene Arena blieb auch nach der Eröffnung des Globe bestehen.

Abb. 2: Die Lage von Tierarena, bear- und bullbaiting, dem späteren Globe Theater, in Relation zu Salisbury Court Quelle: Civitas Londinum ca. 1561, die sog. „Agas map” (Ausschnitt), https://mapoflondon.uvic.ca/agas.htm [Stand: 03.01.2021], mit Ergänzung durch den Verfasser.

Andreas Höfele zeigt in seiner subtilen Analyse, dass die von wilden Hunden zu Tode gemarterten, blinden Bären für das Publikum in diesen Arenen anthropomorphe Züge trugen und wo diese grausamen Volksbelustigungen in Shakespeares Bühnenstücken gespiegelt sind. Das Gebrüll der Tiere und das Johlen der Menge muss während der Aufführungen von Shakespeares Theaterstücken unüberhörbar von Juan Huarte de San Juan, Examen de los ingenios para las ciencias (1575); dazu einführend Marlen Bidwell-Steiner, Das Grenzwesen Mensch. Vormoderne Naturphilosophie und Literatur im Dialog mit postmoderner Gendertheorie, Berlin/Boston 2017, S. 95–97, 166–169, der ich diesen Hinweis verdanke.

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gewesen sein, und es fand ein Echo auf der Bühne des Globe.68 Zwar hat Bruno das bear- und bullbaiting nicht direkt erwähnt und er kannte die beiden Theater vielleicht auch nicht aus eigener Erfahrung, aber er wird unweigerlich die Schreie der Tiere und die Grölerei des Publikums in Salisbury Court gehört haben. Denn die Residenz des Botschafters befand sich schräg gegenüber den beiden Theatern am anderen Themseufer. Ein Echo dieser grausamen Shows findet sich wohl in unserem Eingangszitat aus der Cena, wo Bruno die Londoner Unterschichten als bären- und wolfsgesichtig bezeichnet und auch sonst zwar nicht mit Stieren, immer wieder aber mit Ochsen, Eseln und Maultieren vergleicht.

9. All London is a stage Es wirkt also, als wäre der Londoner Stadtraum, genauer gesagt, der Strand, auf dem das Eingangszitat verortet ist, zur urbanen Bühne mutiert, auf der die aggressive Meute der ‚Plebejer‘ ihr feindseliges Spalier bildet: einen, wie Bruno es ironisch formuliert, „hochehrenvollen und anmutigsten Bühnenprospekt“ (onoratissima e gentilissima prospettiva). Und tatsächlich gehen die im vorigen Abschnitt dargestellten Affinitäten und wechselseitigen Transaktionen69 zwischen Bühne und dem von Bruno entworfenen Stadtbild noch weiter. Denn nicht nur im realen Leben, auch auf der Bühne Shakespeares ist Dienerschaft eine fluktuierende Kategorie, wie David Evett schreibt: „The ways in which ideals and attitudes of service apply to the behavior of social superiors as well as social inferiors, so that almost any Shakespearean character may act at some point in a service role, just as did the upper-class men and women of his time.70 Linda Anderson unterstreicht, „the correspondence between class and service is only approximate, since a character can only be a member of one class at any one time, whereas the kinds of service required of a character may be multiple and conflicting.”71 Auch Shakespeares Theater erlaubt es also, ein Bild der sozialen Situation zu rekonstruieren, das der Bühne der Cena durchaus kompatibel ist: Und zwar insbesondere dort, wo die erste Klasse der Diener als Edelleute und Grundbesitzer auftritt. Grundlegend unterschiedlich allerdings ist die negative Bewertung dieser sozialen Situation. Anders als Shakespeares Bühne charakterisiert Bruno diese erste Schicht als verarmt und daher implizit als Versager. Brunos servi della prima cotta bilden sozusagen die Spitze eines Eisberges aus defizienten Nichtsnutzen (poltroni). 68

Andreas Höfele, Stage, Stake, and Scaffold. Humans and Animals in Shakespeare’s Theatre, Oxford 2011, S. 3–12 und passim. 69 Ich entlehne den Begriff Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988, S. 89 und passim, der dort für die Bühne Shakespeares entwickelt ist. 70 David Evett, Discourses of Service in Shakespeare’s England, Basingstoke/New York 2005, S. 21. 71 Linda Anderson, A Place in the Story. Servants and Service in Shakespeare’s Plays, Newark 2005, S. 19.

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Was der Nolaner in seiner charakteristischen undiplomatischen Art bei seiner Invektive nicht bedacht hatte, war, dass sich gerade aufgrund der allgemeinen gesellschaftlichen Verflüssigung der sozialen Strukturen seiner Gaststadt viele seiner Leser (und Leserinnen) zumindest irritiert fühlten: Weil eben ‚service‘ im Elisabe­ thanischen England eine durchaus ehrenvolle Tätigkeit sein konnte und ‚servicemen‘ daher keineswegs und notwendigerweise als nichtstuerische Versager wahrgenommen wurden. Denn bedenkt man, dass Bruno im ‚Regno di Napoli‘ in einer zutiefst hierarchischen Gesellschaftsstruktur sozialisiert worden war, so ist es wenig verwunderlich, dass ihm die gesellschaftliche Permeabilität und Interaktion in London fremd erschien. Hinzu kommt, dass auch lokale Eliten die Diffamierung der verhältnismäßig kleinen Gruppe der italienischen Immigranten weitgehend tolerierten, um durch den Fokus auf diesen Sündenbock von den Spannungen mit den viel zahlreicheren Franzosen und Niederländern abzulenken. In das Bild passt, dass insbesondere Italiener im Zuge dieser Entwicklungen zu negativen Bühnenfiguren des populären Elisabethanischen Theaters stereotypisiert wurden. Das zeitgenössische Theater übernimmt hier offensichtlich eine wichtige Funktion in der Artikulation sozialer Verwerfungen innerhalb der Metropole.72 In einer geradezu halsbrecherischen Wendung scheint die Bühne Cena auf eben dieses ‚scapegoating‘ von Italienern auf der zeitgenössischen Elisabethanischen Bühne (und insbesondere seiner eigenen Person) direkt zu antworten. Denn in der Cena wird Teofilo, das Alter Ego des Autors, mit einem negativen Protagonisten aus dem Candelaio verglichen, jener Komödie, die Bruno 1582, also zwei Jahre vor dem Erscheinen der Cena publiziert hatte.73 Der Kerzenzieher spielt in Neapel. Hier wird der Schulmeister Mamfurio für seine verbohrte Dummheit auf der Bühne windelweich geprügelt. In der Cena ist es hingegen Teofilo, der Italiener, der auf der Londoner Bühne des Strand nun tatsächlich jene Schläge empfängt, die der Autor des Candelaio einem neapolitanischen Pendant lediglich auf den Leib geschrieben hatte.74 Brunos Selbstinszenierung auf der von ihm entworfenen Stadtbühne Londons entbehrt also keineswegs einer – literarisch sorgfältig als ‚mise en abyme‘ inszenierten – Selbstironie. Und wenn man nur einen Blick in den Candelaio wirft, so wird man Brunos Verteidigung, dass er Missstände

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Vgl. Finlay, Diversity, S.  54, für eine kurze Diskussion der Funktion solcher Theater­stücke, und Jean E. Howard, Women, Foreigners and the Regulation of Urban Space in Westward Ho, in: Orlin (Hg.), Material London, S. 150–167. 73 Vgl. als Einführung z. B. Sergius Kodera, Einleitung, in: Giordano Bruno, Candelaio. Der Kerzenzieher, Hamburg 2013, S. XI–CVII. 74 Cena (erste Fassung), DI, S. 140: Mi fate venir a memoria mastro Mamfurio, al quale certi marranchini ne ferno contare non so quante. […] Se costui avesse saputo, che ne dovea portar tanti; forse sarebbe stato curioso in contarle: ma lui sempre stimava che ogn’uno dovesse essere l’ultimo; ma era ben ultimo a rispetto de quelli ch’erano passati. In questo che lui dice esserno stati gli urti, quaranta; […] Et lascio che nel ricevere di queste spinte, urti, et ferute, non si prende quel piacere, che l’uomo può avere in racontarle: perché in corpo non si senteno senza dolore o cordoglio: et da la bocca escono con quella medessima facilità le due, che le dodici, che le quaranta, che le cento, che le mille. Ma siino quante si vogliano; io non ho possute contar le sue ma ben le mie.

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in Italien genauso anprangert wie in England, durchaus recht geben müssen.75 Denn wie London, so erscheint auch Neapel auf Brunos Bühne als ein topographisch exaktes, nächtliches Labyrinth voller korrupter Existenzen.76 Neapel ist im Candelaio allerdings ein von spaßigen Ganoven bevölkerter Irrgarten, die ihren Schabernack mit dümmlichen, gierigen und perversen, dabei aber stets sozial besser gestellten, autochthonen Protagonisten treiben. Die Verstrickungen der Charaktere im Netz der frühneuzeitlichen Metropole sind dabei im Genre der Tragikomödie dargestellt.

10. Schlussbemerkungen Bruno adaptiert für seine präzise Beschreibung Londons und seiner Bevölkerung Ausdrucksformen des Theaters, die er zu einem neuen literarischen Gattungshybrid entwickelt.77 Bei einer bloßen Übernahme von theatralischen Elementen bleibt es allerdings nicht. Diese verbindet er mit dem zeitgenössischen literarischen Imaginären in seiner ganzen Breite: Mit der im humanistischen Europa weitverbreiteten seriösen Kultur des versus Vergili bis hin zur spaßigen, typisch italienischen poesia maccheronica eines Teofilo – ein Name, der ebenso die Persona des Autors in der Cena wie Teofilo Folengo bezeichnet, also einen weiteren Autor, der sich wie Bruno über eben jene hohe Humanistenkultur erbarmungslos lustig macht. Sie wird mit dem Leben der von Bruno entwickelten Bühnenfiguren so verwoben, dass sich eine höchst instabile, eine vexierbildhafte, geradezu prismatische Erzählform ergibt. Das daraus entstandene neuartige Gattungshybrid ist, anders als die Chronik oder der auktoriale Prosatext hervorragend dazu geeignet, das komplexe Gefüge der frühneuzeitlichen Metropole darzustellen und mit ihm gleichzeitig die Spezifika des unendlich großen Universums zu beschreiben. Der Text der Cena verwebt in diesem Erzählmodus die Erfahrungen des Individuums in der explosionsartig wachsenden zeitgenössischen Metropole mit Brunos neuer Philosophie.

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Causa, DI, S. 205: Dicono di voi, Teofilo, che in quella vostra Cena tassate e ingiuriate tutta una città, tutta una provinzia, tutto un regno. Filoteo. Questo mai pensai, mai intesi, mai feci; [...] Or quai costumi son questi nominati, che simili, peggiori e molti piú strani in geno, specie e numero non si trovino in luoghi delle parti e provinze più eccellenti del mondo? Mi chiamerete forse ingiurioso e ingrato alla mia patria, s’io dicesse che simili e piú criminali costumi se ritrovano in Italia, in Napoli, in Nola? Verrò forse per questo a digradir quella regione gradita dal cielo e posta insieme insieme talvolta capo e destra di questo globo, governatrice e domitrice dell’altre generazioni, e sempre da noi ed altri è stata stimata maestra, nutrice e madre de tutte le virtudi, discipline, umanitadi, modestie e cortesie, se si verrà ad essagerar di vantaggio quel che di quella han cantato gli nostri medesimi poeti che non meno la fanno maestra di tutti vizii, inganni, avarizie e crudeltadi? 76 Kodera, Metropolitan Labyrinth. 77 Bruno artikuliert die Hybridität seiner Texte an vielen Stellen; vgl. z. B. Causa, DI, S. 194: comedie, tragedie, lamenti, dialogi, o come vogliam dire; vgl. dazu Hufnagel, Ein Stück von jeder Wissenschaft, und passim.

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Diese literarische Strategie erlaubt dabei feine Abstufungen zwischen dem Faktischen und dem Fiktionalen. So beginnt der Realismus von Brunos Darstellung des nächtlichen London an den Rändern eigenartig zu verfließen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Persona des Alessandro Citolino. Er hieß ja eigentlich Citolini, und ihm wurde vor Kurzem irgendwo ein Arm oder ein Bein gebrochen; der Bericht über den Vorfall nimmt die Gestalt einer ‚urban legend‘ an. Auch ist es merkwürdig, dass die Gefährten Teofilos, Gwinne und Florio, die doch beide im Land aufgewachsen waren und dem Mob sicherlich nicht sofort als ‚strangers‘, geschweige denn als ‚aliens‘ erkennbar waren, mit der Persona Brunos so offensichtliches Ziel für die oben beschriebenen xenophoben Attacken bilden konnten. Wie wir allerdings auch sehen konnten, erfüllen andere Aspekte von Brunos Stadtvedute, etwa die Beschreibungen der Londoner Unterschichten als Tiere einen unerwartet realistischen, ja geradezu protosoziologischen Anspruch. Sie fügen sich in das Geflecht aus zeitgenössischen physiognomischen Theorien ebenso nahtlos ein wie in die Theaterpraxis von Shakespeares Bühne. Mit einem scharfen Blick für das je Konkrete des Stadtraums rekonstruiert Bruno also die Metropole in ihrer Komplexität als mythologisches Labyrinth. Aber er verliert dabei nicht den Blick für die topographische und mentalitätsspezifische Charakteristik des konkreten Ortes, auch in Abhebung zu anderen urbanen Verhältnissen. Brunos Darstellung zeichnet dabei ein schonungsloses Bild der gesellschaftlichen Realität Londons. Dies geschieht aus der Perspektive eines italienischen Autors aus Neapel. Als in jeder Hinsicht verfolgtes ‚alien‘ verwundert es nicht, wenn Bruno mit allen ihm zur Verfügung stehenden literarischen und intellektuellen Registern eine Stadt anders beschreibt als in hyperbolischem Lob. Er hatte Ähnliches schon zuvor mit Neapel unternommen, allerdings in einer in Paris publizierten Komödie, dem Candelaio, und damit schonungslos die Missstände in seiner Heimat angeprangert. Wie so oft in seinem Leben hatte Bruno aber gerade mit der Cena, insbesondere mit der Beschreibung der vertierten Londoner Unterschichten und seiner unflätigen Beschimpfung der servi, in ein Wespennest getreten. Die lokale säkulare Elite bis hin zum Königshaus, an die sich die Cena wendet, war nämlich ostentativ und viel mehr um Kalmieren und sozialen Zusammenhalt als um soziale Abgrenzung nach unten bemüht.78 Zudem definierten sich die Londoner Eliten ja selbst als Diener und in persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, wie dies zumindest auf der Elisabethanischen Bühne vorgeführt wurde. Vielleicht hätten daher Brunos Rechtfertigungsversuche im folgenden Dialog, der Causa, einem adligen Publikum seiner Heimat genügt. In der von vergleichsweise flacheren hierarchischen Strukturen bestimmten Gesellschaft Englands scheinen sie wenig überzeugt zu haben, nicht zuletzt, da sie von einem Fremden, einem Anderen, der noch dazu aus katholischen Landen kam, artikuliert wurden. Bruno hatte mit seinem Rundumschlag gegen die Londoner Un-

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Archer, Pursuit, S.  18, beschreibt die Mediationsfunktion der lokalen Ratsherren (aldermen) und zeigt, dass sich die Elite generell außerordentlich besorgt über die Möglichkeit eines Volksaufstandes gegen die ‚aliens‘ zeigte.

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terschicht also wohl einen empfindlichen Nerv getroffen. Sein Lesepublikum konnte die radikale Kritik an den zeitgenössischen Verhältnissen offensichtlich nur allzu gut im manieristischen Zerrspiegel der Stadtvedute Londons wiedererkennen. Fasst man diese Befunde zusammen, so ergibt sich eine durchaus stringente, eigentlich wohlinformierte, aber auch persönliche Perspektive, aus der die Cena die Missgeschicke ihres Autors referiert. Sie lässt sich folgendermaßen charakterisieren: In der Cena experimentiert der Autor damit, sich selbst in die Handlung des Dialogs als Persona einzubringen, gerade so, als würde sich der Regisseur mit auf die Bühne stellen.79 Bruno thematisiert in dieser Form sein subjektives Erleben der fremden Metropole anhand der von ihm selbst gemachten Erfahrungen vor Ort. In London war der kleine dunkelhaarige Süditaliener Bruno ein auf der Stelle und weithin erkennbarer ‚alien‘. Er sprach wohl nur ein paar Brocken Englisch mit schwerem Akzent.80 Obendrein bewegte er sich ausgerechnet in der Entourage eines in jeder Hinsicht suspekten Botschafters aus katholischen Landen. Bruno gab also tatsächlich ein prominentes Ziel ab für xenophobe Übergriffe aller Arten und von allen Ständen. Auch wenn Brunos Befund zu London daher und verständlicherweise geradezu überwältigend negativ ist und ihn in Schwierigkeiten gebracht hat, bleibt sein Versuch, das je Konkrete nicht zu verlassen und es gleichzeitig mit dem literarischen Imaginären und dem kulturellen Gedächtnis auf neuartige Weise zu verweben, ein gelungenes Experiment.

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Auch im Candelaio begegnet der Autor, nämlich in der Figur des Gioan Bernardo; vgl. Kodera, Einleitung, in: Bruno, Candelaio, S. XXII–XXVII. 80 So wird Bruno vom Zeitgenossen George Abbot beschrieben; vgl. Bossy, Embassy Affair, S.  24; Yates, Giordano Bruno, S. 207–210.

VERFREMDUNG DES VERTRAUTEN. DANIEL DEFOES FIKTIVER ERLEBNISBERICHT ÜBER DIE PEST IN LONDON 1665 Manfred Groten

1. Einleitung The Face of London was now indeed strangely alter’d.1 Die Pestepidemie von 1665 hatte für die Londoner ihre vertraute Umwelt völlig verfremdet. Die sozialen Beziehungen, die das Leben in einer Großstadt regeln, wurden zunehmend als bedrohliche Verstrickungen wahrgenommen. Auch innerhalb von Familien sowie unter Freunden und Nachbarn verbreitete sich Misstrauen und es kam zu Distanzierungen und Ausgrenzungen. Was tun, wenn das Vertraute verändert, fremd wird? Der vorliegende Beitrag verfolgt zwei Ziele. Erstens soll ein neuer Aspekt des Tagungsthemas erkundet werden. In den meisten Beiträgen zu diesem Sammelband geht es um fremde Menschen, wie auch immer man ‚fremd‘ definieren will, mit denen sich eine Gemeinschaft auseinandersetzen musste. Hier wird eine andere Form von Fremdheit oder genauer Verfremdung ins Auge gefasst: Eine Epidemie droht, eine Gemeinschaft von innen heraus zu zerstören. Der Zerstörungsprozess wird von den Betroffenen als Verfremdung ihrer Lebenswelt wahrgenommen. Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Einbruch der Verfremdung in die Gemeinschaft werden bestimmte Reaktionsweisen und Verhaltensmuster aktiviert, die dem Gemeinschaftsleben inhärent sind, ohne bewusst wahrgenommen zu werden. Diese Grundmuster der Lebenswelt der Londoner Bürger gilt es zu analysieren. Zweitens will der Beitrag eine Debatte über die Frage anstoßen, ob und in welcher Weise fiktive Egodokumente als Quellen für die historische Forschung herangezogen werden können. Ist der methodische Umgang mit Egodokumenten auf solche Texte übertragbar?

1

Das Journal wird zitiert nach der Ausgabe: The Novels of Daniel Defoe, Bd. 7: A Journal of the Plague Year (1722), hg. v. John Mullan, London 2009, hier S. 36.

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Manfred Groten

Nach einem Überblick über die Auswirkungen der Pestepidemie soll untersucht werden, wie die Londoner nach Aussage der Quelle die Verfremdung ihrer Lebenswelt wahrgenommen haben. Schließlich soll herausgearbeitet werden, welche äußeren und inneren mentalen Ressourcen den völligen Zusammenbruch des sozialen Lebens verhindert und eine erstaunlich rasche Wiederherstellung von Normalität im Alltagsleben ermöglicht haben. Denn die Londoner Bevölkerung hat die Pest von 1665 genauso überlebt wie das große Feuer von 1666.2 Die ausgewertete Quelle stellt am Schluss – durchaus mit einem kritischen Unterton – fest, dass die Erfahrung der nahezu totalen Verfremdung bei den meisten Betroffenen kaum Spuren hinterlassen zu haben schien: it must be acknowledg’d that the general Practise of the People was just as it was before, and very little Difference was to be seen.3

2. Die Quelle Worum handelt es sich bei der jetzt schon mehrfach zitierten Quelle? Es ist ein scheinbar planlos zusammengeschusterter Text, der Mitte März 1722 wohl in großer Eile publiziert wurde.4 Wir kennen ihn heute als den Roman A Journal of the Plague Year von Daniel Defoe (1660/61–1731). Der Autor wurde 1660 (oder 1661) in London geboren und könnte somit die Pestepidemie, die in seiner Heimatpfarrei St Giles-without-Cripplegate früh wütete, als Kind erlebt haben.5 Vieles spricht aber dafür, dass seine Familie London im Juli 1665 verlassen hat und erst im Laufe des Jahres 1666 zurückgekehrt ist.6 Daniels Vater James Foe, ein Kerzenfabrikant und Kaufmann, war (wie seit 1688 Daniel selbst) Mitglied der Fleischergilde (Worshipful Company of Butchers) und damit wahlberechtigter Londoner Bürger.7 Konfessionell gehörte die Familie zu den protestantischen Dissentern, die zwischen 1662 und 1688 einschneidende Einschränkungen ihrer Religionsausübung hinnehmen mussten und von öffentlichen Ämtern und dem Besuch der Universitäten ausgeschlossen waren.8 Daniel, der 1695 seinen Familiennamen von Foe zu Defoe hochstilisierte,9 litt zeitlebens unter Minderwertigkeitskomplexen, weil er keine Universität, sondern (nur) 2

Beide Katastrophen behandelt der Schriftsteller und Sachbuchautor James Leasor, The Plague and the Fire, London 1962. 3 Defoe, Journal, S. 196. 4 Ebd., S.  243; Frank Bastian, Defoe’s Journal of the Plague Year Reconsidered, in: The Review of English Studies 16 (1965), S. 151–173, hier S. 173: „a book hurriedly written to catch a penny while the public interest in the Plague lasted“. 5 John Richetti, The Life of Daniel Defoe. A Critical Biography, Oxford 2005, S. 1f.; im Folgenden wird nach der Ausgabe Chichester 2015 zitiert; vgl. zu früheren Biographien ebd., S. 391; außerdem Frank Bastian, Defoe’s Early Life, Totowa/New Jersey 1981. 6 Bastian, Defoe’s Journal, S. 160. 7 Richetti, Life, S. 2, 9. 8 Ebd., S. 3–8. 9 Ebd., S. 18.

Daniel Defoes fiktiver Erlebnisbericht über die Pest in London 1665

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eine Dissenterakademie besucht hatte, ursprünglich um Geistlicher zu werden.10 Sein Biograph John Richetti bezeichnet ihn als “a flawed human being, at times even distinctly unattractive”.11 1684 heiratete Daniel Defoe eine Kaufmannstochter, mit der er sieben oder acht Kinder hatte.12 Nicht zuletzt die außerordentlich hohe Mitgift ermöglichte ihm den Aufbau eines zunächst erfolgreichen Handelsunternehmens, mit dem er allerdings 1692 Bankrott machte.13 Der Versuch, mit einer Ziegelei wieder zu Wohlstand zu kommen, scheiterte 1703.14 Besser als als Unternehmer ist Daniel Defoe natürlich als äußerst produktiver Publizist und Journalist bekannt, dem etwa 250 Texte sicher zugeschrieben werden können, die meisten davon Traktate und Pamphlete zu politischen, religiösen und gesellschaftlichen Fragen.15 Als Publizist betätigte sich Defoe allerdings erst ab 1697, nachdem 1694 das Zensurgesetz Act for preventing the frequent Abuses in printing seditious treasonable and unlicensed Books and Pamphlets ausgelaufen war, ohne vom Parlament novelliert zu werden.16 Dennoch wurde Defoe 1703 wegen eines Pamphlets inhaftiert und an den Pranger gestellt.17 Dieses Missgeschick trieb ihn in die Arme von Robert Harley (1661–1724), damals Speaker des Unterhauses, später Earl of Oxford und Schatzkanzler, der vor allem als Handschriftensammler in Erinnerung geblieben ist.18 Für Harley war Defoe bis zu dessen Sturz 1714 als Auftragsschreiber und Spitzel tätig.19 Unter dem neuen König Georg I. von Hannover (reg. 1714–1727) konzentrierte sich Defoe ganz auf seine Schriftstellerei, die er innovativ weiterentwickelte. Mit der Veröffentlichung von Robinson Crusoe (1719) wurde er postum weltberühmt. Der Autor starb am 26. April 1731 und wurde auf dem 1665 als Pestfriedhof außerhalb der City angelegten Friedhof in Bunhill Fields in Islington begraben.20 Dieser Friedhof stand Dissentern offen, die keinen Zugang zu den regulären Pfarrfriedhöfen hatten. Dort erinnert ein 1870 errichteter Gedenkstein an Defoes Grab. Heute wird Defoes Journal als frühes Beispiel für die Gattung des modernen Romans gehandelt. Ian Watt betrachtet Daniel Defoe neben Samuel Richardson und Henry Fielding als Erfinder dieser Literaturgattung.21 Kann das Journal, auf das

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Ebd., S. 5f. Ebd., S. VI. 12 Ebd., S. 9. 13 Ebd., S. 16. 14 Ebd., S. 17f. 15 Ebd., S. VII. 16 Ebd., S. 72. 17 Ebd., S. 22–26. 18 Elizabeth Hamilton, The Backstairs Dragon. A Life of Robert Harley, Earl of Oxford, London 1969; Brian W. Hill, Robert Harley. Speaker, Secretary of State and Premier Minister, New Haven 1988. 19 Richetti, Life, S. 26f.; zu Defoe zwischen 1704 und 1714 siehe ebd., S. 26–142. 20 Ebd., S. 360f. 21 Ian Watt, The Rise of the Novel. Studies in Defoe, Richardson, and Fielding, Berkeley/Los Angeles 1957. 11

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Watt übrigens nicht näher eingegangen ist, aber tatsächlich als realistischer Roman bezeichnet werden, als Londoner Sittenbild vergleichbar mit Defoes Moll Flanders? John Richetti spricht einschränkend von a pseudo-history and a protonovel.22 Darüber, dass es sich beim Journal um eine Fiktion handelt, besteht für den heutigen Leser im Unterschied zu den Käufern der Erstausgabe kein Zweifel. Erst seit 1753 finden sich jedoch Belege für die Autorschaft Daniel Defoes und erstmals 1778 wird das Journal als a Romance betitelt.23 Dem Leser der Erstausgabe von 1722 bot sich dagegen ein ganz anderes Bild. Auf dem Titelblatt wurde der Text in zeittypischer Manier angepriesen als A Journal of the Plague Year: being Observations or Memorials, of the most Remarkable Occurrences, as well Publick as Private, which happened in London during the last Great Visitation in 1665.24 Zum Verfasser heißt es Written by a Citizen who continued all the while in London mit dem Zusatz Never made publick before. Bevor man aber zu weitreichende Schlüsse aus der Tatsache zieht, dass Defoe hier seine Autorschaft unterschlägt, muss man zur Kenntnis nehmen, dass auf dem Titelblatt der Erstausgabe von Robinson Crusoe auch nur zu lesen ist Written by himself. Die Nennung des Verfassers unterblieb auf Titelblättern des frühen 18. Jahrhunderts gar nicht so selten. Der arglose Leser von 1722 musste jedenfalls glauben, einen Augenzeugenbericht vor sich zu haben. Wie hoch der Anteil des Faktischen in der Fiktion zu veranschlagen ist, war wiederholt Gegenstand von Untersuchungen.25 Für die hier folgenden Überlegungen ist das Problem der Faktizität des Journal von untergeordneter Bedeutung. Das soll nicht heißen, dass hier der Standpunkt Edgar Lawrence Doctorows übernommen werden soll, wonach es eigentlich keine ‚fiction‘ und ‚nonfiction‘ gebe, sondern nur ‚narrative‘. Die Fiktion betrachtet Doctorow als ‚a kind of speculative history‘ oder ‚superhistory‘.26 Soweit wird ein Historiker kaum gehen wollen. Dringlicher ist hier die Frage nach der Gattungszugehörigkeit des Journal. Im Journal zeichnet der Zeitzeuge und Ich-Erzähler am Schluss mit den Initialen H. F. Man hat ihn als Defoes Onkel Henry Foe (gest. am 28. Februar 1674 oder 1675), den unverheirateten jüngeren Bruder seines Vaters, identifizieren wollen.27 Im Text gibt der Ich-Erzähler über seine Lebensumstände genau Auskunft. Er wohnt without Aldgate about mid-way between Aldgate Church and White-Chappel-Bars, on the left Hand or North-side of the street.28 Er übt das Sattlerhandwerk aus und vertreibt seine Produkte hauptsächlich über Kaufleute in die amerikanischen Kolo-

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Richetti, Life, S. 301. Defoe, Journal, S. 1. Ebd., S. 23. Vgl. v. a. Watson Nicholson, The Historical Sources of Defoe’s Journal of the Plague Year, illustrated by Extracts from the Original Documents in the Burney Collection and Manuscript Room in the British Museum, Boston 1919; Bastian, Defoe’s Journal, S. 172: „Defoe […] constantly strives towards the factual“. 26 Vgl. dazu Richard Trenner (Hg.), E. L. Doctorow. Essays and Conversations, Princeton 1983, S. 16–27. 27 Bastian, Defoe’s Journal, S. 159f. 28 Defoe, Journal, S. 29.

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nien.29 Er hat ein Haus mit Dienstpersonal, einen Laden und ein Warenlager. H. F. ist also ein Angehöriger der wohlhabenden Londoner Mittelschicht, der middling People,30 wie Defoe selbst. Der von H. F. gezeichnete Bericht ist jedoch nicht 1665 verfasst worden, sondern – wie viele Angaben im Text belegen31 – zu einem nicht genauer bezeichneten, aber jedenfalls sehr viel späteren Zeitpunkt, angeblich auf der Grundlage von Memoran­ dums of what occured to me every Day.32 Wenn der ursprüngliche Autor tatsächlich Henry Foe gewesen wäre, müssten seine Aufzeichnungen von einem späteren Überarbeiter mit umfangreichen Zusätzen versehen worden sein. Henry Foe, der die Pest noch nicht einmal um zehn Jahre überlebte, konnte kaum über einen John Hayward schreiben, [he] never had the Distemper at all, but liv’d above 20 Year after it.33 Während Defoe die umwälzenden Veränderungen in der Medienlandschaft während seiner Lebenszeit sicher bewusst wahrgenommen hat, hätte sein Onkel kaum anmerken können: We had no such thing as printed News Papers in those Days.34 Solche Beobachtungen lassen es recht zweifelhaft erscheinen, dass Defoe Aufzeichnungen seines Onkels über die Pestzeit in größerem Umfang zur Verfügung standen. Dafür berichtet der Text zu wenig über das engere Umfeld Henry Foes.35 Daniel Defoe ging es offensichtlich nicht darum, ein getreues Bild seines Onkels zu zeichnen. Wichtig war ihm vielmehr die detailgetreue Einordnung seines Gewährsmanns H. F. in die Londoner Stadtgesellschaft. Seine Leser sollten keinen Zweifel daran haben, dass sie die Ereignisse von 1665 durch die Augen eines Vertreters der bürgerlichen Mittelschicht, der die meisten von ihnen selbst angehörten, sahen. Sehen wir den Text, so wie er 1722 veröffentlicht wurde, als authentisch an, handelt es sich um ein Egodokument, das in eigenem Erleben wurzelt, das aber gefiltert durch Jahrzehnte weiteren Lebens erinnert, reflektiert und durch die Einbeziehung von Dokumenten authentifiziert wird. Eine weitere Distanzierung tritt ein, wenn wir berücksichtigen, was der Text verschweigt, nämlich dass das Ganze von Daniel Defoe 1722, wie auch immer, aufbereitet worden ist. Vermutlich nutzte Defoe die um sich greifende Sorge vor einem neuen Pestausbruch, um sein Buch zum Thema im März 1722 auf den Markt zu bringen. Kurz vorher hatte er den Ratgeber Due Preparations for the Plague veröffentlicht, der auch schon narrative Passagen enthält.36

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Ebd., S. 31. Ebd., S. 137. Vgl. Peter Earle, The Middling Sort in London, in: Jonathan Barry/Christopher W. Brooks (Hg.), The Middling Sort of People. Culture, Society, and Politics in England, 1550–1800, Basingstoke 1994, S. 141–158. 31 Vgl. z. B. Defoe, Journal, S. 25, 67, 70, 91. 32 Ebd., S. 82. 33 Ebd., S. 91. 34 Ebd., S. 25. 35 Vgl. Bastian, Defoe’s Journal, S. 159f. 36 Richetti, Life, S. 302–308. 30

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Kann man mit einem solchen ‚Infotainment-Produkt‘ avant la lettre als Historiker etwas anfangen? Die Frage nach der Valenz der Fakten in der Fiktion ist weiter oben schon gestreift worden.37 Barbara Foley hat das Problem 1986 grundlegend behandelt.38 Sie unterscheidet den pseudohistorischen Roman vom historischen.39 Für unsere Fragestellung spielt, wie gesagt, die Faktizität des Journals und, welche Anteile des Textes jeweils H. F. oder Daniel Defoe zuzuweisen sind, nur eine untergeordnete Rolle. Hier soll das Journal aus mentalitätsgeschichtlicher Perspektive als ein Text betrachtet werden, der die Ereignisse des Jahres 1665 gefiltert durch die Wahrnehmung von Londonern für Londoner erzählt. Wichtig ist dabei die Zugehörigkeit sowohl des Autors oder der Autoren als auch der primär anvisierten Leser zur Londoner Stadtgesellschaft. Diese kommunikative Situation unterscheidet das Journal grundsätzlich vom Tagebuch des Londoner Schneidersohns und Beamten im Marineamt Samuel Pepys (1633–1703), in dem über das Jahr 1665 ebenfalls ausführlich berichtet wird.40 Pepys schrieb aber nur zur eigenen Erinnerung in einer auch für seine Zeitgenossen praktisch nicht lesbaren Stenographie und, wenn es spannend wurde, in einem Gemisch aus mehreren europäischen Sprachen.41 Sein erst seit 1825 in gekürzter Form öffentlich zugänglicher Text ist zweifellos ein klassisches Egodokument.42 Eine gängige Definition der Quellengattung Egodokumente lautet: „Gemeinsames Kriterium aller Texte, die als Ego-Dokumente bezeichnet werden können, sollte es sein, daß Aussagen oder Aussagepartikel vorliegen, die – wenn auch in rudimentärer und verdeckter Form – über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen in seiner Familie, seiner Gemeinde, seinem Land oder seiner sozialen Schicht Auskunft geben oder sein Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren.“43

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Vgl. oben bei Anm. 25. Barbara Foley, Telling the Truth. The Theory and Practise of Pseudofactual Documentary Fiction, Ithaka 1986. 39 Ebd., S. 107–142, 142–184. Vgl. auch Lennard J. Davis, Factual Fictions. The Origins of the English Novel, New York 1983. 40 Richard Ollard, Pepys. A Biography, London 1974. An ein breites Lesepublikum richtet sich Claire Tomalin, Samuel Pepys. The Unequalled Self, London 2002. 41 Die Aufzeichnungen zu 1665 füllen Bd. 6 der 11-bändigen Ausgabe The Diary of Samuel Pepys – A New and Complete Transcription, hg. v. Robert Latham/William Mattews, London 1970–1983. 42 Aus der inzwischen umfangreichen Literatur seien als Wegmarken im Hinblick auf das vorliegende Thema genannt Rudolf Dekker, Egodocumenten. Een literatuuroverzicht, in: Tijdschrift voor geschiedenis 101 (1988), S. 161–189; Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie. Kultur, Gesellschaft, Alltag 2 (1994), S. 462–471; Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996; Andreas Rutz, Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion. Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2, http://www.zeitenblicke.de/2002/02/rutz/index.html [Stand: 03.01.2021]. Zum städtischen Kontext vgl. Volker Depkat, Ego-Dokumente als quellenkundliches Problem, in: Marcus Stumpf (Hg.), Die Biographie in der Stadt- und Regionalgeschichte, Münster 2011, S. 21–32. 43 Schulze (Hg.), Ego-Dokumente, S. 28, zit. nach Rutz, Ego-Dokument, Abs. 2. 38

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Es verdient aber darüber hinaus hervorgehoben zu werden, dass die Inhalte von Egodokumenten nicht nur sprachlich oder symbolisch darstellbares bewusstes Handeln, Denken und Fühlen von Menschen wiedergeben, sondern ganz wesentlich auch von unbewussten Prägungen und Verhaltensweisen gestaltet sind. Gerade dieser Aspekt macht sie interessant für die Mentalitätsgeschichte, deren Forschungsansatz Peter Dinzelbacher wie folgt definiert: „Die Mentalitätsgeschichte konzentriert sich auf die bewußten und besonders die unbewußten Leitlinien, nach denen Menschen in epochentypischer Weise Vorstellungen entwickeln, nach denen sie empfinden, nach denen sie handeln. Sie fragt nach dem sozialen Wissen bestimmter historischer Kollektive und untersucht den Wandel von Kognitionsweisen und Vorstellungswelten, die jeweils historisches Sein auf intersubjektiver Ebene prägen“.44

Aus dieser Perspektive erscheint es sinnvoll, die Frage nach der Relevanz des Journal und ähnlicher Texte für die historische Forschung neu zu stellen. Das Journal lässt sich anhand seiner Gattungsmerkmale durchaus als ein Egodokument definieren, als eines jedoch, das – weil es fingiert ist – gerade nicht über Denken, Fühlen und Handeln einer bestimmten Person Auskunft geben kann. Gehört es deshalb unweigerlich in das Reich der Fiktion, in dem eigene Regeln herrschen? Nicht unbedingt. Das Journal lässt sich, wie gezeigt werden soll, als Dokument der Mentalität einer Gruppe oder eines Milieus, dem sowohl Daniel Defoe als auch sein Zielpu­blikum angehörten, auswerten. Dabei geht es um die Erfassung sehr tief verankerter Denkweisen und Wahrnehmungsmuster, die durchaus verschiedenen Londoner Lebensstilen zugrunde liegen konnten. Wie erwähnt war Defoe im Gegensatz zur Masse der Londoner Bevölkerung Dissenter. Auch H. F. gibt sich indirekt als Dissenter zu erkennen, ohne auf seine konfessionelle Haltung explizit einzugehen.45 Aber auch Dissenter waren ‚mit Themsewasser getauft‘ und zeigten dieselben Reaktionen auf elementare Bedrohungen wie brave Glieder der englischen Amtskirche.

3. Die Pest London war zur Zeit der Pestepidemie in alle Richtungen über die City hinaus­ gewachsen und umfasste, wie die Stadtpläne von Wenzel Hollar von 1666 und 1675 eindrucksvoll zeigen, im Westen Westminster, im Norden Teile der Grafschaft Middlesex und südlich der Themse Teile von Surrey.46 Das Konglomerat mit über 44

Peter Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 22008, S. IX. 45 Vgl. z. B. Defoe, Journal, S. 34 (Suche nach Gottes Willen im Bibeltext, hier Psalm 91, 2–7), 75f. (Erwählungsvorstellung), 76 (Gewissenserforschung, I fully try’d my own Heart). 46 Arthur M. Hind, Wenceslaus Hollar and his Views of London and Windsor in the Seventeenth Century, London 1922, Kat. S.  33–50. Vgl. auch online Wenceslaus Hollar, A New Map of the Citties of London, Westminster and the Borough of Southwarke […] 1675 (London, British Library,

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400.000 Einwohnern bildete keine Verwaltungseinheit mehr. Die City stand unter der Leitung des Lord Mayor, der Aldermen und des Common Council. In den Randgebieten amtierten Friedensrichter (magistrates). Die Pest, die seit 1348 auch in London immer wieder aufgeflackert war, wurde im Dezember 1664 aus den Niederlanden eingeschleppt.47 Dass alle früheren Dimensionen gesprengt werden würden, wurde erst im April 1665 ansatzweise erkennbar, und Defoe liefert uns eine lebendige Darstellung vom Verlauf der Epidemie: Die Opferzahlen, die in den wöchentlichen Bills of mortality erfasst wurden, lagen in der zweiten Augustwoche schon bei 3.880 und erreichten in der Woche vom 12. bis zum 19. September mit 7.165 ihren Höchststand.48 Die Sterbeglocke wurde unter diesen Umständen nicht mehr geläutet.49 Plague pits nahmen viele der von Fuhrleuten nachts herbeigekarrten Leichen auf, als die Kapazitäten der Pfarrfriedhöfe an ihre Grenzen stießen. Bei der Pfarrkirche St Botolph’s Aldgate, in deren Sprengel H. F. lebte, wurde ein Massengrab mit 1.114 Leichen gefüllt.50 Nach der zum 19. Dezember erstellten offiziellen Statistik starben im Jahr 1665 insgesamt 68.596 Personen an der Pest.51 Die tatsächliche Zahl dürfte deutlich höher gelegen haben, vielleicht bei 100.000. Die Pest hat also mindestens ein Fünftel der Londoner Bevölkerung dahingerafft. Die Epidemie löste eine große Fluchtwelle aus London aus; H.  F. spricht von 200.000 Menschen.52 Das Parlament hielt nach dem 2. März im Frühjahr und Sommer 1665 keine Sitzungen mehr in London ab.53 Die Inns of Court, die Anwaltskammern, wurden geschlossen: Every Body was at peace, there was no Occasion for Law­yers.54 Die Theater und Vergnügungsetablissements stellten den Spielbetrieb ein, dafür wurden Gebete und Fasten angeordnet.55 Charles II. (reg. 1660–1685) und sein Hof wichen im Juli zunächst nach Salisbury, dann nach Oxford aus. Der Adel, der im Sommer ohnehin aufs Land ging, verließ seine Londoner Paläste. Auch von den Londoner Bürgern entschieden sich viele zur Flucht. Die mit der Gentry verquickte Oberschicht besaß Häuser auf dem Land, in die man sich zurückziehen konnte. Angehörige der breitgefächerten Mittelschicht, zu der auch die Foes zählten, muss-

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Maps Crace, Port. 2.55), https://www.bl.uk/collection-items/a-new-map-of-the-citties-of-londonwestminster-­and-southwarke [Stand: 03.01.2021]. Vgl. dazu die ältere Darstellung von Walter George Bell, The Great Plague in London in 1665, London 1924. A. Lloyd Moote/Dorothy C. Moote, The Great Plague. The Story of London’s Most Deadly Year, Baltimore 2004, konzentrieren sich auf neun Zeitzeugen, darunter Samuel Pepys. Defoe, Journal, S. 98. Ebd., S. 89. Ebd., S. 69. Vgl. London’s dreadful visitation: or, a collection of all the Bills of Mortality for this present year: beginning the 27th of December 1664 and ending the 19th of December following: as also the general or whole years bill. According to the report made to the King’s most excellent Majesty, London 1665, https://wellcomecollection.org/works/txhefvvb [Stand: 03.01.2021]. Defoe, Journal, S. 79. Basil Duke Henning, The History of Parliament. The House of Commons 1660–1690, London 1983, S. 85. Defoe, Journal, S. 37. Ebd., S. 46.

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ten bei Verwandten Unterschlupf suchen. Wer keine Beziehungen nutzen konnte, hatte Probleme, denn Londoner waren auf dem Land als potenzielle Krankheitsüberträger nicht willkommen.56 Der Wegzug des Hofes und der Zusammenbruch des Handels entzogen vielen Londonern den Lebensunterhalt.57 Der Obrigkeit war allerdings daran gelegen, die Stadt nicht völlig verwaisen zu lassen. Der Hof und andere Geldgeber stellten hohe Summen für die Unterstützung von mittellosen Einwohnern der Hauptstadt zur Verfügung, zumal Betteln verboten wurde.58 Die Versorgung mit Lebensmitteln wurde, so gut es ging, aufrechterhalten. Es fehlte auch nicht an obrigkeitlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche. Ärzte wurden konsultiert und mit der Versorgung infizierter Armer beauftragt.59 Riesige Feuer auf öffentlichen Plätzen sollten die Luft reinigen.60 Der Lord Mayor und die Sheriffs erließen einen umfangreichen Verhaltenskodex, der auf früheren Erlassen basierte.61 Die einschneidendste Maßnahme war die Abschließung und Bewachung von Häusern, in denen Krankheitsfälle aufgetreten waren. H. F. kritisiert dieses shutting up of Houses scharf, weil es die meisten der in den Häusern eingesperrten Gesunden zum Tode verurteilte.62 Im Winter 1665/66 gingen die Opferzahlen deutlich zurück; die Pest hatte sich ausgetobt. Im Februar 1666 kehrte der König nach London zurück.

4. Die Wahrnehmung der Epidemie Kommen wir nun zu der Frage, welche Wahrnehmungsmuster das Journal erkennen lässt. Zunächst soll der Wahrnehmungshorizont von H.  F. umrissen werden. Der Hof Charles II. interessiert ihn nur am Rande und wenn, dann vor allem als Wirtschaftsfaktor. Der Wegzug des Hofes von London beeinträchtigte die Geschäfte der Hoflieferanten und machte zahlreiche Zuarbeiter arbeitslos.63 Beiläufig erwägt H. F. auch, ob nicht die Lasterhaftigkeit des Hofes (crying Vices) mit verantwortlich war für die von Gott verhängte Strafe der Pestepidemie, in bringing that terrible Judgment upon the whole Nation.64

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Ebd., S. 65. Ebd., S. 38, 97. Ebd., S. 58f., 183f., 192, 200. Ebd., S. 50f. Ebd., S. 190. Ebd., S. 53–59. Zu längeren Passagen über die Schließung von Häusern vgl. ebd., S. 52–65, 77–79, 141–144. Das Thema wird noch häufiger aufgegriffen. 63 Ebd., S. 38. 64 Ebd., S. 36; vgl. auch die vernichtende Kritik S. 200. 57

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Als politische Autorität respektiert H. F. den Lord Mayor, die Aldermen und den Common Council der City wie auch die magistrates der Außenbezirke. Nur wenige dieser Verantwortungsträger sollen die Stadt verlassen haben.65 Der Lord Mayor Sir John Lawrence (†1692), dessen Nachfolger, der Parlamentsabgeordnete Sir Thomas Bloodworth, auf dem Höhepunkt der Epidemie regulär an Michaelis (29. September) 1665 gewählt wurde, galt als Gegner der Einmischung des Hofes in die städtischen Angelegenheiten.66 Nach dem Bericht von H.  F. hielten der Lord Mayor und die beiden Sheriffs nahezu täglich Sitzungen for making such Dispositions as they found needful for preserving the Civil Peace.67 Die vom Lord Mayor und den Sheriffs publizierten Maßregeln zum Verhalten während der Pestepidemie hat H. F. vollständig in seinen Text aufgenommen.68 Sir Lawrence ließ im Audienzsaal der Guildhall eine kleine Galerie bauen, um bei Gesprächen mit Bittstellern einen gewissen Abstand halten zu können.69 Soweit es möglich war, zeigten die Stadtoberen also Präsenz. These things re-establish’d the Minds of the People very much, urteilt H. F.70 Gegen Diebe und Plünderer wurde hart eingeschritten.71 Der Lord Mayor und die Sheriffs ritten regelmäßig über die Märkte, um für Ordnung zu sorgen.72 Der Meister der Bäckergilde wurde angewiesen, sicherzustellen, dass die Bäcker ihre Öfen in Gang hielten und Brot nach den wöchentlich festgelegten Vorgaben buken.73 Streng wurde auf die Sauberkeit der Straßen geachtet.74 Das von H. F. gezeichnete Bild idealisiert gewiss die Fürsorglichkeit des Stadtregiments, aber gerade in dieser Verklärung artikuliert sich das ungebrochene Vertrauen in die selbstgewählte Obrigkeit, das die Verfremdung der städtischen Lebenswelt überdauert hatte. Dagegen musste H.  F. konstatieren, dass ein anderer Baustein der Sicherheits­ architektur der Stadt unter dem Ansturm der Pest weggebrochen war. Aufgrund von Flucht und Krankheitsfällen konnten die Traind-Bands der Bürgermiliz nicht mehr gegen Gewalttäter aufgeboten werden: neither if the Lieutenancy, either of London or Middlesex had ordered the Drums to beat for the Militia, would any of the Companies, I believe, have drawn together, whatever Risque they had run.75 Auch hier klingt wieder das Motiv der Opferbereitschaft an. Eine wahrnehmbare Größe ist für H.  F. auch die Kirche, allerdings nicht die Hierarchie, die er ignoriert, sondern die Londoner Pfarreien, auf die später noch einmal eingegangen werden muss. H. F., der sich selbst als gläubig schildert, ohne seine konfessionelle Haltung zu verraten, kommt nicht umhin festzustellen, dass es 65

Ebd., S. 162f. Zu Lawrence vgl. die von Phil Gyford betriebene Webseite The Diary of Samuel Pepys, https://www. pepysdiary.com/ [Stand: 03.01.2021]. 67 Defoe, Journal, S. 163. 68 Ebd., S. 53–59. 69 Ebd., S. 163. 70 Ebd. 71 Ebd., S. 36. 72 Ebd., S. 164. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 58. 75 Ebd., S. 77. 66

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der Kirche nicht gelungen ist, die Deutungshoheit über die Beurteilung der Pestepidemie zu behaupten.76 Manche Londoner sehen in ihr die Hand Gottes und deuten das Jahr 1665 als Season of Divine Vengeance,77 andere treten als Spötter und Atheisten auf und bestreiten die Heilswirkung von Gottesdienst und Gebet.78 H. F. äußert große Hochachtung vor dem Pfarrklerus, der mehrheitlich im Dienst ausharrt und seine Seelsorgepflichten auch gegenüber Kranken ausübt.79 Um den Gottesdienst aufrecht zu erhalten, wird im Fall von Vakanzen auch protestantischen Geistlichen das Predigen in Londoner Pfarrkirchen gestattet.80 Dass der Besuch von Gottesdiensten nicht ungefährlich war, zeigt eine Episode, die sich in St Botolph’s Aldgate, der Pfarrkirche von H. F., ereignete. Eine Frau nimmt einen merkwürdigen Geruch wahr, steht auf und schleicht sich aus dem Kirchengestühl, was einen größeren Exo­ dus zur Folge hat. Jeder Kirchenbesucher bringt sein spezielles Vorbeugemittel gegen Ansteckung mit: the whole Church was like a smelling Bottle.81 Der Besuch der Pfarrkirche erscheint in der Schilderung von H. F. als Bestandteil der Lebenspraxis vieler Londoner, an dem sie auch angesichts der Bedrohung durch die Pest festhalten. Gleichwohl kann es durch die Epidemie zu plötzlichen Brüchen in der vertrauten und damit beruhigenden Praxis kommen; sie wird unversehens verfremdet. Im Mittelpunkt der Wahrnehmung von H. F. steht ganz deutlich die städtische Wirtschaft. Die Flucht des Hofes, der Arbeitskräftemangel und die Einstellung des Land- und Seeverkehrs bringen Gewerbe und Handel zum Erliegen: all Trade, except such as related to immediate Subsistence, was, as it were, at a full Stop.82 H. F. beobachtet die Zusammenhänge genau und scheut sich nicht, in der Stadt umherzugehen, um sich über die Lage zu informieren.83 Dabei stellt er fest, dass die Börse geöffnet ist, aber kaum Besucher hat.84 Für die Versorgung der Londoner mit frischen Lebensmitteln werden die Märkte aufrechterhalten, aber gerade an diesen vertrauten Orten wird die Verfremdung der Lebensverhältnisse besonders wahrnehmbar. Am Stand eines Fleischers nimmt der Kunde sein Stück Fleisch selbst vom Haken.85 Er muss passend zahlen und die entsprechenden Münzen in einen mit Essig gefüllten Topf werfen. Jeder unnötige Körperkontakt, auch indirekt, wird vermieden. Natürlich hat, wer es sich leisten kann, wieder sein Riechfläschchen zur Hand. Die Beobachtungen auf den lokalen Märkten leiten über zur Wahrnehmung von Verfremdung in der engeren Lebenswelt von H. F. Wenn man die Verluste, die ihn am härtesten treffen, auf einen Begriff bringen will, dann ist es der der Kommunikation. 76

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Ebd., S. 39–44. Ebd., S. 75. Ebd., S. 74. Ebd., S. 102f. Ebd., S. 44, 102. Ebd., S. 181. Ebd., S. 95. Zum Aspekt der Bewegung in der Stadt vgl. Elizabeth Porter, A Metropolis in Motion. Defoe and Urban Identity in A Journal of the Plague Year, in: Digital Defoe. Studies in Defoe & His Contemporaries 7,1 (Fall 2015), http://digitaldefoe.org/wp-content/files/features/porter.pdf [Stand: 03.01.2021]. 84 Defoe, Journal, S. 154. 85 Ebd., S. 83. 77

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Kommunikation erweist sich als das Lebenselixier der urbanen Londoner Gesellschaft. Der Londoner kommuniziert mit seinen Nachbarn, mit Besuchern von Pubs und anderen öffentlichen Treffpunkten, mit Passanten auf der Straße. Für die scheinbar distanzlose Kommunikation gibt es selbstverständlich einen Verhaltenskodex, der durch die Pest außer Kraft gesetzt wird. Wenn man eine Ansteckung vermeiden will, kann man nicht mehr unbefangen auf Mitmenschen zugehen. They began to be jealous of every Body, […] and when they were oblig’d to converse at a Distance with Strangers, they would always have Preservatives in their Mouths, and about their Cloths to repell and keep off the Infection.86 H. F. beklagt: when it [the plague] was in the Extremity, there was no such Thing as Communication with one another, as before.87 For want of People conversing with one another88 ist es kaum noch möglich, sich ein Bild der allgemeinen Lage zu machen. Passanten weichen einander aus, gehen in der Mitte der Straße.89 It was a most surprising thing, to see those Streets, which were usually so thronged, now grown desolate.90 Die Reaktion auf diese Verfremdung bezeichnet H. F. als Despair.91 H. F. selbst stemmt sich gegen diese lähmende Verzweiflung und sucht neue Formen der Kommunikation. Ausführlich beschreibt er, wie er bei einem Ausflug in den Werftenbezirk von Blackwall östlich der City zaghaft mit einem Mann Kontakt aufnimmt, zunächst auf Abstand, dann – nach längerem Gespräch – in schrittweiser Annäherung.92 Hier wird neu entstandene Fremdheit improvisierend überwunden. Ein glückliches Zusammentreffen, bei dem aber nur momentan die Hoffnung auf eine Wiederherstellung sozialer Geborgenheit aufblitzt.

5. Die urbane Mentalität Fragen wir schließlich nach den Ressourcen, aus denen sich die Widerstandskraft der Londoner gespeist hat. Nach der Kommunikation erweist sich die Partizipation als die zweite tragende Säule der städtischen Lebensform. Die Londoner lebten in der Großstadt in kleinen Gemeinschaften, die das Zusammenleben im Nahbereich gestalteten und von da aus die Geschicke der gesamten Stadt mitbestimmten. Die kleinste und engste Gemeinschaft war die Nachbarschaft, eine Solidargemeinschaft, in der man sich kannte und half.93 Nachbarn verschwiegen und verschleierten Krankheitsfälle und verhalfen Infizierten zur Flucht aus behördlich ver-

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Ebd., S. 182. Ebd., S. 77. 88 Ebd., S. 148. 89 Ebd., S. 37. 90 Ebd. 91 Ebd., S. 153. 92 Ebd., S. 104–108. 93 Vgl. z. B. ebd., S. 91, 151. 87

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schlossenen Häusern.94 Im Journal heißt es schon im ersten Satz: I, among the Rest of my Neighbours, heard, in ordinary Discourse, that the Plague was return’d again in Holland.95 Discourse: in der Nachbarschaft wird kommuniziert,96 nicht selten getratscht, und der Zusammenbruch dieser Kommunikation ist die Erfahrung, die H. F. am tiefsten erschüttert. Orte dieser nachbarlichen Kommunikation sind nicht nur die einzelnen Häuser und die Straße, sondern auch, wie schon ausgeführt, die Pfarrkirche und die Wirtschaft, im Falle von H. F. die Pie Tavern, die er auch auf dem Höhepunkt der Epidemie noch aufsucht.97 Nicht lokal gebundene Berufsgenossenschaften bildeten die Gilden (livery companies), in denen die grundbesitzenden Bürger, die freemen und liverymen organisiert waren.98 Diese Gilden, die sich nur zu bestimmten Anlässen versammelten, werden von H. F. kaum wahrgenommen. Die Pfarrkirche war das Zentrum der kleinsten räumlichen Einheit öffentlichen Charakters in London. Die City war in 108 Pfarrbezirke unterteilt, die über ihre ursprünglich kirchliche Funktion hinaus weltliche Verwaltungsaufgaben erfüllten.99 Aus dem Kreis der Pfarrgenossen gewählte Kirchenvorstände, vestries genannt, waren vor allem für die Versorgung der in der Pfarrei unterstützungsberechtigten Armen zuständig – eine Aufgabe, die unter den Bedingungen der Pestepidemie von elementarer Bedeutung war. Die vestries wählten auch die Amtsträger der Pfarreien. Die churchwardens wachten über die kirchliche Disziplin und die öffentliche Ordnung. Der clerk hatte unter anderem die wöchentliche Statistik der Todesfälle nach Todesursachen sortiert für die Bills of mortality zu erstellen. Gewählt wurde auch ein Küster (sexton), der noch zu Beginn der Epidemie die Totenglocke läuten ließ und der den Totengräber (undersexton) beaufsichtigte. Alle diese Amtsträger erwähnt H. F. im Journal. Die administrative Bewältigung des Massensterbens und die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung war eine Aufgabe, die die Bewohner der Pfarreien in eigener Regie zu leisten hatten. Selbst ein Dissenter wie H. F. fühlte sich der Solidargemeinschaft seiner Pfarrei zugehörig und respektierte ihre Amtsträger. Die parish ist in seiner Wahrnehmung als primärer sozialer Interaktionsraum der Rahmen für die Lebenswelt des Alltags.

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Ebd., S. 64. Ebd., S. 25. Ein Dialogbeispiel findet sich ebd., S. 172. Ebd., S. 72. Zur Einführung eignet sich das ältere Standardwerk von George Unwin, Gilds and Companies of London, London 1908; vgl. außerdem Joseph P. Ward, Metropolitan Communities. Trade Guilds, Identity, and Change in Early Modern London, Stanford 1997. 99 Die beste Einführung in das Thema bietet die Datenbank „London Lives 1690–1800. Crime, Poverty and Social Policy in the Metropolis“ des Digital Humanities Institute der University of Sheffield = Tim Hitchcock/Robert Shoemaker/Sharon Howard/Jamie McLaughlin, London Lives, 1690– 1800, https://www.londonlives.org/ [Stand: 03.01.2021]. Zu den mittelalterlichen Verhältnissen vgl. Christopher Nugent Lawrence Brooke, London 800–1216. The Shaping of the City, Berkeley 1975, S. 122–148; eine Karte der parishes findet sich in Mary D. Lobel (Hg.), Historic Towns Atlas 3. The City of London from Prehistoric Times to c. 1520, Oxford 1989. 95

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Die mittlere städtische Verwaltungsebene bildeten 26 wards, Stadtviertel, die je nach Größe in mehrere precincts unterteilt waren.100 In der Wahrnehmung von H. F. tauchen die wards nur selten auf, weil sie im Alltag keine große Rolle spielten und vorwiegend anlässlich von Wahlen Beachtung fanden. Auch in den wards wurde nämlich bürgerliche Partizipation praktiziert. Im wardmote wurden ein alderman und dessen Stellvertreter sowie Mitglieder des common council gewählt. In den precincts wählte man constables, die in ihren Sprengeln Polizeiaufgaben erfüllten. Über die wards hatten alle Bürger Anteil am Stadtregiment. Eine Versammlung von liverymen der einzelnen wards wählten den Lord Mayor, die beiden Sheriffs und die vier Parlamentsabgeordneten der Stadt. Die wards schlugen Brücken zwischen den Nachbarschaften und den Pfarreien einerseits und der Gesamtstadt andererseits. Über die wards wurden auch Forderungen der Stadt an die einzelnen Bürger herangetragen. Dafür liefert auch H. F. ein Beispiel. Er wurde vom alderman des Portsoken Wards (dem Mitglied der Brauergilde Samuel Starling, Lord Mayor 1669/70)101 in seinem precinct zum examiner ernannt.102 Diese Kontrolleure hatten die Aufgabe, Krankheitsfälle aufzuspüren, damit die betroffenen Häuser geschlossen, mit einem roten Kreuz markiert und bewacht werden konnten. Eine lebensgefährliche Mis­sion, die H. F. schon allein deshalb nicht übernehmen wollte, weil er das Schließen von Häusern kategorisch ablehnte. Dennoch fügte er sich der Autorität des (theoretisch) auch von ihm gewählten Amtsträgers und versah zumindest drei Wochen lang das ungeliebte Amt. Mit einer Verweigerung hätte er sich aus der städtischen Solidargemeinschaft ausgegrenzt, was für ihn offensichtlich nicht infrage kam. Das Bewusstsein für die innerstädtischen Strukturzusammenhänge erzeugte, wie das Journal durchgängig zeigt, ein starkes Zusammengehörigkeits- und Verantwortungsgefühl, ein Wir-Gefühl, das alle Londoner umfasste und nach außen abgrenzte. Eingeschlossen waren auch die zahlreichen Armen, allerdings nur die eigenen, von den Pfarreien betreuten Armen. Das Beispiel des widerspenstigen H. F. bewahrt uns davor, dieses Wir-Gefühl zu idealisieren. Die parishes, precincts und wards erweisen sich im Bericht von H.  F. 1665 als Strukturen, die den Menschen auch im Katastrophenfall Halt geben. Sie funktionieren weiter. Die Bürger halten ihre Wahlversammlungen ab, ihre Amtsträger nehmen ihre Aufgaben wahr. In den innerstädtischen Strukturen bleiben die Grenzen bestehen, die das Eigene umhegen, das durch einen jähen Einbruch von Entfremdung bedroht ist. Das Eigene konnte sich aber auch das Andere, das Fremde durch Kommunikation und Partizipation aneignen. Die Foes, die aus Northamptonshire stammten und Londoner wurden, sind dafür ein Beispiel.103 100

Zur Einführung vgl. Hitchcock u. a., London Lives; Brooke, London, S. 149–184; eine Karte der wards in Lobel (Hg.), Historic Towns Atlas. 101 Der von Defoe nicht mit Namen genannte Alderman lässt sich als Samuel Starling identifizieren, er wurde 1667 geadelt; vgl. Alfred P. Beaven, The Aldermen of the City of London Temp. Henry III – 1912, London 1908, S.  179–188, http://www.british-history.ac.uk/no-series/london-aldermen/hen3-1912 [Stand: 03.01.2021]. 102 Defoe, Journal, S. 144. 103 Ebd., S. 31.

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Mit diesen Überlegungen soll die Untersuchung, die nur eine schmale Schneise in ein noch kaum erschlossenes Terrain schlagen soll, abgeschlossen werden. Sie hat versucht aufzuzeigen, dass sich aus dem fiktiven Egodokument A Journal of the Plague Year Grundzüge einer städtischen Mentalität rekonstruieren lassen, die auch noch im frühen 18. Jahrhundert in London lebendig war. Dass Kommunikation und Partizipation als Vehikel von Integration wirken können, mag eine über 1665 und 1722 hinausweisende Erkenntnis aus der Lektüre von Defoes Werk sein.

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Literatur und Quellen in Auswahl

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INDEX DER ORTS- UND PERSONENNAMEN

Aachen 145f. Abbot, George (1562–1633; engl. Prälat) 250, 272 Ackermann (15. Jh.; böhm. Verleger) 78 Afrika 26, 30 Agniesa (15. Jh.; Sklavin des Bongianni Gian­ figliazzi) 199f. Ägypten 26 Ahlhorn 29 Aich siehe auch unter Kuckelmann Aich, Joachim van (16. Jh.; Gesinde im Hause Weinsberg) 81 Aitzing, Michael von (ca. 1530–1598; österr. Gelehrter und Autor) 149 Alba (Álvarez de Toledo, Fernando; 1507–1582; 3. Herzog von Alba) 128, 130, 135f. Albanien 30 Algier 26 dell’ Antella (Fam.) 195 dell’ Antella, Guido Filippo (ca. 1254–1314; Florentiner Kaufmann und Chronist) 195 Antwerpen 62, 133–138, 150, 154 Ariost/Ariosto, Ludovico (1474–1533; Huma­nist) 265 Arsbach 160, 167, 180 Asien 26, 30 Augsburg 19, 54, 59f., 134 Ayrer, Marx (ca. 1455–nach 1506; dt. Buchdrucker) 78 Bamberg 78 Baptista, Giovanni (18. Jh.; in Hannover ertrunkener Italiener) 244 Bartholomea (14./15. Jh.; Sklavin des Francesco Datini) 192, 203 Basel 61, 63f., 76, 83f. Bashe (18. Jh.; Emir, Vater des arab. Prinzen Keisa) 241

Bayern 175, 177 Bayr, Katharina († 1540; Tochter Stefan Bayrs) 49 Bayr, Stefan (1488–1558; Verfasser einer Familien­chronik) 49 Behaim, Georg (* 1567; Sohn Paulus Behaims) 48 Behaim, Paulus (1519–1568; Nürnberger Kaufmann und Ratsherr) 48 Behaim, Paul II. (1557–1621; Reichs­schultheiß von Nürnberg) 228 Bellinghausen, Peter (1523–1543; Kanzler der Stadt Köln) 162 Benedetto (ca. 1500; ill. Sohn des Giovanni Morelli) 202 Benturini (ital. Hofmusikant) 244 Bernardo (Sohn des Goro Dati) 198 Bernardo di Giovanni Morelli († 1400; Cousin des Giovanni Morelli) 201 Bernecker, Hans (15. Jh.; Verleger) 78 Berta (15. Jh.; Tochter des Goro Dati) 198 Biondo, Flavio (1392–1463; ital. Humanist und Historiker) 206 Bloodworth, Sir Thomas (ca. 1620–1682; Londoner Kaufmann und Politiker) 282 Bohl, Elisabetha (17. Jh.; Frau Johann Bohls) 79 Bohl, Johann (17. Jh.; Konstabler in Frankfurt) 79 Böhmen 18, 78, 145f. Bologna 205–229 Bonn 8f., 14, 25, 140 Boppard 162 Borromeo, Carlo (1538–1584; Kardinal, Erzbischof von Mailand) 209 Brabant 137, 150, 152, 155 Bracciolini, Poggio (1380–1459; ital. Humanist) 218 Brackerfelders, Petri (16. Jh.; Gesinde im Hause Weinsberg) 81

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Index der Orts- und Personennamen

Brant, Sebastian (1457/58–1521; dt. Jurist und Humanist) 118 Bremen 232 Breußkau, Jacob (17. Jh.; Adeliger aus Sora) 32 Brühl 141 Bruno, Giordano (1548–1600; ital. Priester, Dichter und Astronom) 247–272 Brunsau 104 Bruyn d. J., Barthel (1523/25–ca. 1610; dt. Maler) 114, 120 Buda 224 Caesarius, Johannes (ca. 1468–1550; dt. Humanist) 221 Calenberg (Fürstentum) 233 Caravaggio, Michelangelo Merisi da (1571–1610; ital. Maler) 265 Castellani (Fam.) 196 Castellani, Francesco (1418–1494; ital. Chronist) 194, 196 Castelnau, Michel de (ca. 1520–1592; frz. Botschafter) 248–250 Catherina (14. Jh.; Sklavin der Fam. dell’Antella) 195 Catherina (15. Jh.; Sklavin des Francesco Castellani, Bäckerin) 194, 196 Catherina (15. Jh.; Sklavin des Francesco Castellani, Amme) 196 Catherina (15. Jh.; Sklavin des Giovanni Orlandini) 186f. Catherina (* 1445; ill. Tochter des Bongianni Gianfigliazzi) 199–201 Cecil, William (1520/21–1598; engl. Politiker, 1. Baron Burghley) 250 Celtis, Conrad (1459–1508; dt. Humanist und Dichter) 214 Cetta (ca. 1400; ill. Sohn des Giovanni Morelli) 202 Charles II. (reg. 1660–1685; König von England) 280f. Chemnitz 23f. Chorasan (hist. Landschaft in Zentralasien) 242 Cipelli, Giovanni Battista (1478–1553; ital. Humanist und Philologe) 222 Citolino/Citolini, Alessandro (ca. 1500–1582; ital. Dichter und Romanist) 261, 271

Cochläus, Johannes (1479–1552; dt. Humanist und Theologe) 221 Colmar 64 Cordoba 224 Dänemark 149, 244 Dangkrotzheim, Konrad (ca. 1372–1444; elsässischer Reimdichter) 76 Dante Alighieri (1265–1321; ital. Dichter und Philosoph) 265 Dati, Ganino († 1420; Sohn des Goro Dati) 194 Dati, Goro (1362–1435; ital. Kaufmann) 194, 197f. Datini, Francesco (ca. 1335–1410; ital. Kauf­ mann) 191f., 201, 203 Datini, Margerita/Margherita (14. Jh.; Frau des Francesco Datini) 192 Dee, John (1553–1625; Geometer) 149 Defoe, Daniel (1660/61–1731; engl. Schriftsteller) 273–287 Deutz 141, 147f. Dick (18. Jh.; schwarzer Junge aus London) 239 Dimitri (Spätmittelalter; tatarischer Sklave) 200 Dino (ca. 1400; ill. Sohn des Giovanni Morelli) 202 Diogenes Laertios (3. Jh. n. Chr.; Philosophie­ historiker) 225 Doctorow, Edgar Lawrence (1931–2015; USamerik. Schriftsteller) 276 Don Galzera de Cardona (16. Jh.; spanischer Adliger) 44, 131 Dormagen 141 Dreytwein, Dionysius (1498–1576; dt. Chronist) 68 Dudley, Robert (1532/33–1588; 1. Earl of Leicester) 250 Dyonisius von Mainz (Pseudonym eines bei Schedel genannten Autors) 215 Einbeck 54 Elisabeth I. (reg. 1558–1603; Königin von England) 249f. England 8, 244, 248f., 254, 257, 259, 269f. Eperade 118 Erasmus von Rotterdam (1466/69–1536; ndl. Humanist und Theologe) 109, 116, 157

Index der Orts- und Personennamen

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Erfurt 180 Erina (15. Jh.; tatarische Sklavin) 200 Ernst von Bayern (reg. 1583–1612; KurfürstErzbischof von Köln) 140 Esch 141 Esslingen 56, 61, 68 Europa 16, 26, 30, 38, 41, 134, 151f., 154, 156, 220, 236, 242, 244, 248, 256, 262, 270

Friedrich III., der Weise (reg. 1486–1525; Kurfürst von Sachsen) 224 Fugger, Jakob (1459–1525; dt. Kaufmann) 89 Fugger, Philipp Eduard (1546–1618; dt. Handelsherr) 55

Feigin (16. Jh.; Nichte Hermann Weinsbergs) 81, 151 Ferdinand I. (reg. 1521–1564; Erzherzog von Österreich, röm.-dt. König) 130 Ferrara 210 Ficino, Marsilio (1433–1499; ital. Humanist und Philosoph) 265

Geißler, Heinrich († 1569; dt. Drucker) 63 Genua 187–189, 195 Georg I. (Ludwig) (reg. 1714–1727; König von Großbritannien) 233, 239, 275 Geuder, Georg (ca. 1500–1551; Neffe Willibald Pirckheimers) 221 Geuder, Johann (1496–1557; Neffe Willibald Pirckheimers) 221 Geuder, Sebald (1498–1552; Neffe Willibald Pirckheimers) 221 Ghita (ca. 1400; Tochter des Goro Dati) 198 Gianfigliazzi, Bongianni (1418–1484; ital. Chronist) 198f., 201 Ginevra d’Antonio Redditi (15. Jh.; Sklaven­ halterin) 196 Giorgio (1461–1465; ill. Sohn des Bongianni Gianfigliazzi) 199 Giovanni (*/† 1444; ill. Sohn des Bongianni Gianfigliazzi) 199 Giovanni di Pagolo Morelli (1371–1444; ital. Chronist) 193, 201f. Gipso, Ludovico (16. Jh.; Lehrer Christoph Scheurls in Bologna) 225 Girolamo (14. Jh.; Sohn des Goro Dati) 198 Goslar 36 Gossembrot d. Ä., Sigismund (1417–1493; Augsburger Humanist und Kaufmann) 218 Gozzoli, Benozzo (ca. 1420–1497; ital. Maler) 201 Graziano di Bernaba (15. Jh.; Vater eines Findel­ kindes) 186f. Gregor I. (reg. 590–604; Papst) 257 Greville, Fulke (1554–1628; engl. Staatsmann und Schriftsteller) 250f., 254 Grimm, Jacob Ludwig Karl (1785–1863; dt. Sprach- und Literaturwissenschaftler, Jurist) 21

Fielding, Henry (1707–1754; engl. Schrift­ steller) 275 Fischer, Sebastian (* 1513; Ulmer Schuhmacher und Chronist) 56–68 Florenz 19, 186–203 Florio, John (1553–1625; engl. Übersetzer) 249, 251, 254, 261, 271 Foe siehe auch unter Defoe Foe, Henry / H. F. († 1674/75; Onkel Daniel Defoes) 276f. Foe, James (17. Jh.; Vater Daniel Defoes) 274 Folengo, Teofilo (1491–1544; ital. Dichter) 264f., 270 Folz, Hans (ca. 1435–1513; dt. Wundarzt und Schriftsteller) 78, 80 Francesco (*/† 1445; ill. Sohn des Bongianni Gianfigliazzi) 199 Francesco (*/† 1456; ill. Sohn des Bongianni Gianfigliazzi) 199 Frankfurt am Main 65, 148, 155 Frankreich 74, 137, 249, 258f. Franz von Anjou / François-Hercule de Valois (1555–1584; Herzog von Alençon) 137 Franz von Waldeck (reg. 1530/32–1553; Fürstbischof von Minden, Osnabrück und Münster) 162 Friedrich I. Barbarossa (reg. 1152/55–1190; röm.-dt. König und Kaiser) 111

Gebhard Truchsess von Waldburg (reg. 1577– 1583; Kurfürst-Erzbischof von Köln) 130, 136, 140

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Index der Orts- und Personennamen

Grimm, Wilhelm Carl (1786–1859; dt. Sprachund Literaturwissenschaftler) 21 Grönland 242f. Großenkneten 29 Grünberg 63 Guldenmund, Hans († 1560; dt. Buchdrucker) 72 Gwinne, Matthew (1558–1627; engl. Arzt) 251, 261, 271 Gymnich I., Johannes (ca. 1485–1544; dt. Drucker und Verleger) 180 Habsburg (Dynastie) 129f., 133, 136, 142 Halberstadt 180 Hall 66 Haller, Johannes (1523–1575; Schweizer Refor­mator) 65 Hameln 235 Hammet († 1691; in Hannover verstorbener türk. Kriegsgefangener) 238f. Hannover 26f., 231–246, 275 Harley, Robert (1661–1724; Earl of Oxford) 275 Harpstedt 232 Harxheim 56–60 Harz 36 Hassan (17. Jh.; in Hannover verstorbener türk. Kriegsgefangener) 238 Hätzlerin, Klara (ca. 1430–1476; Augsburger Lohnschreiberin, Kopistin) 75f. Hayward, John (ca. 1564–1627; engl. Historiker) 277 Hefftelmacher, Anthony (16. Jh.; Bürger zu Leuven) 62 Hefftelmacher, Margreta (16. Jh.; Frau Anthony Hefftelmachers) 62 Heiliges Römisches Reich 16, 26, 34–36, 220 Heim/Hoym, Otto von (16. Jh.; Adliger aus Meißen) 209 Heinrich III./Henri von Valois (reg. 1574–1589; König von Frankreich) 137, 259 Heinrich der Löwe (reg. 1142–1180; Herzog von Sachsen) 111 Helmstedt 242 Heresbach (Hirtzbach), Antonius (1544–1567; Kölner Sekretär) 162

Hermann von Wied (reg. 1515–1547; KurfürstErzbischof von Köln) 130 Hermippos (289/277–208/204 v. Chr.; griech. Biograph und Philosoph) 225 Hildesheim 25, 32–37, 41 Hoff, Johan (16. Jh.; Gesinde im Hause Weinsberg) 81 Hoffmann, Jakob (um 1600; Maler in Schwäb. Hall) 66 Hollar, Wenzel (1607–1677; böhm. Zeichner und Kupferstecher) 279 Horn, Thomas († 1588; ndl. Flüchtling in Köln) 150 Horns, Elisabeth (16. Jh.; Frau Gottschalk Weinsbergs) 118, 162 Hulz, Peter Mans von (16. Jh.; Notar) 81 Imhoff, Endres/Andreas II. (1529–1597; Reichs­schultheiß) 213 Imhoff, Katharina (1531–1574; Stiefmutter des Christoph Kress) 212 Indien 26 Irland 244 Isaac der Jude (16. Jh.; Arzt in Köln) 148 Islington 275 Italien 8, 150, 185–203, 205–229, 247, 254, 258, 261, 263f., 270 Jacomina, genannt Stamati (14. Jh.; Sklavin des Ugolino del fu Vicino de Judis) 189 Jerusalem 120, 241 Jülich-Kleve(-Berg) (Herzogtum) 16, 25, 135, 137, 141, 149 Junkersdorf 128, 136 Kachelofen, Konrad (ca. 1450–1529; Leipziger Buchdrucker) 8 Kaltenbrunn, Hans (* 1529; ‚Wundergeburt‘ aus Oberkirch) 60, 63f. Kaltenbrunn, Wolff (16. Jh.; Vater Hans Kalten­ brunns) 63 Karl der Große (reg. 768/800–814; König des Fränkischen Reiches; Kaiser) 15, 102 Karl der Kühne (reg. 1467–1477; Herzog von Burgund) 129

Index der Orts- und Personennamen

Karl V. (reg. 1519/30–1556; röm.-dt. König) 54, 127, 129–132, 209 Karl-Marx-Stadt siehe unter Chemnitz Kaube, Paulo von (16. Jh.; verstorbener Mann Ripgin Weisgins, der ersten Ehefrau Hermann Weinsbergs) 81 Kauf, Johann van (16. Jh.; Onkel des Stiefsohns Hermann Weinsbergs) 81 Kaufbeuren 60 Keisa (18. Jh.; arabischer Prinz, Emir) 240–242 Kettwig, Wolfgang (16. Jh.; Rektor in San Domenico in Bologna) 223 Keyser, Anthonius (16. Jh.; Drucker in Köln) 161 Kleve (Herzogtum) siehe unter Jülich-Kleve-Berg Klinger, Johann (Küfer in Frankfurt) 79 Kniebis 63 Koch, Hans (16. Jh.; Wirt in Leuven) 62 Köferlin, Anna († 1647; Puppenhausbesitzerin in Nürnberg) 80 Köln (Kurfürstentum) 128, 130, 132, 135–138, 140–142 Köln (Reichsstadt) 8f., 16f., 19, 21, 25f., 43f., 93–125, 127–143, 145–158, 159–185, 203, 220 Konstanz 61 Kopernikus, Nikolaus (1473–1543; Domherr, Astronom und Arzt im Ermland) 265 Korth, Sophia (Mutter Hermann Weinsbergs) 116 Krakau 224 Kress (von Kressenstein), Anton (1478–1513; Theologe und Jurist) 215f. Kress (von Kressenstein), Christoph (1484–1535; Nürnberger Bürgermeister, Politiker) 213 Kress (von Kressenstein), Christoph (1491–1529) (Großvater des Christoph [III.] Kress) 205 Kress (von Kressenstein), Christoph (1514–1560) (Vater des Christoph [III.] Kress) 205, 212f. Kress (von Kressenstein), Christoph III. (1541– 1583; Jurist und Ratsherr in Nürnberg) 205f., 209–213, 218f., 222, 229 Kress, Helene; geb. Tucher (1494–1562; Frau des Christoph Kress) 213 Kruft, Martin genannt Krudener (16. Jh.; Kirch­ meister von St. Jakob in Köln) 171

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Kuckelmann van Aich, Johann (Neffe Hermann Weinsbergs) 143 Kues, Nicolas von (1401–1464; dt. Philosoph, Theologe und Mathematiker) 265 Łaski, Olbracht († 1604; poln. Fürst) 249, 254 Lausitz 32 Lautenbach 63 Lawrence, John († 1692; engl. Kaufmann) 282 Leipzig 205f., 212, 218, 224 Leontorius, Conrad (1460–1511; Humanist aus Löwenberg) 214, 222 Leuven 60, 62, 68 Lindau 59 Linden 234, 239 Linn 141 Locke, John (1632–1704; engl. Arzt und Philosoph) 98 London 20, 27f., 233, 239, 247–287 Lucia (ca. 1400; Sklavin in Florenz) 186 Luther, Martin (1483–1546; Theologe und Reformator) 228 Lützenkirchen, Gerhard († 1588; Kirchmeister von St. Jakob in Köln) 171 Lycosthenes siehe unter Wolffhart, Conrad Lyon 224 Maastricht 133–135 Maddalena (14. Jh.; Sklavin in Florenz) 195 Mailand 111, 229, 264 Mallorca 199 Mantegna, Andrea (1431–1506; ital. Maler und Kupferstecher) 201 Marghereta (Spätmittelalter; tatarische Sklavin) 200 Margherita (14. Jh.; Sklavin) 195 Margherita (14./15. Jh.; Sklavin des Goro Dati, Tatarin) 197 Maria (15. Jh.; Tochter des Francesco Castellani) 196 Maria von Burgund (1457–1482; Herzogin von Burgund) 129 Marlowe, Christopher (ca. 1564–1593; engl. Dichter) 249 Marta († 1420; Sklavin des Goro Dati) 194, 197

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Index der Orts- und Personennamen

Martin V. (reg. 1417–1431; Papst) 190 Mattioli, Matteolo († 1480; ital. Humanist) 220, 227 Maximilian I. (reg. 1486/1508–1519; röm.-dt. König und Kaiser) 129 Maximilian II. (reg. 1562/64–1576; röm.-dt. König und Kaiser) 132f. Mecheln 133, 136 Medici, Carlo de’ (1428/30–1492; ital. Geist­ licher) 201 Medici, Cosimo de’ (1389–1464; Staatsmann, Bankier und Mäzen in Florenz) 201 Meißen 209 Melanchthon, Philipp (1497–1560; Theologe und Reformator) 176 Merkel, Georg (16. Jh.; Drucker) 72, 77 Merßheim, Hans von (Vater Johannes Merß­ heims) 57 Merßheim, Johannes (* 1550; ‚Wundergeburt‘) 57 Merwa 242 Mespelbrunn, Adolf Echter von (1543–1600; kurmainzischer Amtmann von Stadt­ prozelten am Main) 55 Middlesex (Grafschaft) 279, 282 Moers 142 Mohammed siehe unter Hammet Montaigne, Michel de (1533–1592; frz. Jurist, Philosoph, Humanist) 68 Monteferrato, Ioanne (16. Jh.; Lehrer Christoph Scheurls in Bologna) 225 Morelli siehe unter Bernardo und unter Giovanni Morhard, Johann (1554–1631; Stadtarzt und Chronist) 66 Mugello (Landgebiet bei Florenz) 201 München 22 Münster, Sebastian (1488–1552; Kosmograph) 61 Mustafa (17. Jh.; türk. Kriegsgefangener) 239 Naarden 133 Naher Osten 30 Nassau (Grafschaften) 136 Nastasia (Spätmittelalter; Sklavin) 200 Neapel 248, 258f., 263f., 269–271 Neudörfer d. Ä., Johann (1497–1563; Nürn­ berger Schreib- und Rechenmeister) 229

Neuss 130, 135, 140–142 Niederlande 21, 127–143, 146, 149–151, 153, 179, 211, 259, 280 Niederrheinisch-Westfälischer Kreis 136 Noale, Bartolomeo da (15. Jh.; ital. Arzt) 218 Nola 270 Northamptonshire 286 Nürnberg 19f., 27, 48, 62, 72, 76–78, 80, 128, 192, 205–229 Nützel, Johannes (16. Jh.; Nürnberger Student) 212 Oberkirch 63 Oberrhein 245 Olpe/Olup, Greitgin von (16. Jh.; Dienst­magd der Mutter Hermann Weinsbergs) 87, 185 Olpe/Olup, Johan von (Vater der Greitgin von Olpe/Olup) 87, 185 Orlandini, Giovanni (15. Jh.; Herr der Sklavin Catharina) 186f. Orsoy 135 Osmanisches Reich 237–239 Österreich 129, 131, 145f., 149 Overstolz, Werner (ca. 1390–1451; Mitglied einer Kölner Patrizierfamilie und Verfasser eines Hausbuchs) 159, 180 Oxford 249f., 264, 266, 275, 280 Pace, Felice del (14. Jh.; ital. Kapitän) 197 Padua 213, 215–228 Paffendorf 141 Papera (* 1399; Tochter der Sklavin Lucia) 186 Paris 248, 258, 264, 271 Paur, Hans (15. Jh.; Nürnberger Briefmaler) 76 Pavia 213, 216, 225 Pepys, Samuel (1633–1703; Beamter im Marineamt in London und Tagebuchautor) 278, 280, 282 Perugia 220 Peter I., der Große (reg. 1682–1725; Zar und Großfürst des Russ. Reiches) 244 Petrarca, Francesco (1304–1374; ital. Dichter und Historiograph) 190 Pfinzing, Karl (16. Jh.; Mitglied einer Nürn­ berger Patrizierfamilie) 212

Index der Orts- und Personennamen

Philipp II. (reg. 1556–1598; spanischer König) 130, 132f. Piccolomini, Enea Silvio (1405–1464; Humanist, Schriftsteller, Historiker und als Pius II. Papst) 218, 220f. Pico della Mirandola, Giovanni (1463–1494; ital. Philosoph) 266 Piero di Giovanni di Rossia (15. Jh.; Vater der Sklavin Agniesa) 199f. Pirckheimer (Fam.; Nürnberg) 217 Pirckheimer, Hans (1415–1492; Ratsherr und Humanist, Großvater Willibald Pirckheimers) 217 Pirckheimer, Johannes (1440–1501; Jurist, Vater Willibald Pirckheimers) 217 Pirckheimer, Thomas (1418–1473; Jurist und Humanist, Großonkel Willibald Pirckheimers) 217 Pirckheimer, Willibald (1470–1530; dt. Humanist, Jurist, Übersetzer, Künstler, Mäzen) 213–218, 220–222 Platon (428/427– 348/347 v. Chr.; griech. Philosoph) 224f., 266 Plutarch (ca. 45–ca. 125; griech. Schriftsteller) 224f. Portugal 154, 149 Prag 23, 208, 224 Ratisbona, Johannes de († 1476; dt. Theologe) 218f. Redditi siehe unter Ginevra d’Antonio Redecker, Johann Heinrich (1682–1764; Hanno­veraner Amts- und Kammer­ schreiber, Chronist) 20, 26, 231–246 Regensburg 63, 214 Rem, Berthold († 1530; Sohn Lucas Rems) 51 Rem, Jakob (1530–1533; Sohn Lucas Rems) 51 Rem, Lucas (1481–1541; Augsburger Kaufmann) 50f. Reschen, Conrat († 1547; ‚Wundergeburt‘) 62 Rheinberg 140 Rheinland 8f., 16, 129, 131, 136, 245 Richardson, Samuel (1689–1761; engl. Schrift­ steller) 275

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Ripgin, Weisgin (1512–1557; Frau Hermann Weinsbergs) 77, 81, 87 Rom 227, 255, 258, 264 Rostock 194 Rotterdam 133 Rougemont, Antoine (17./18. Jh.; ref. Geistlicher in Hannover) 244 Rudolf II. (reg. 1576–1612; dt.-röm. König und Kaiser) 153 Rumänien 30 Russland 26, 39, 200, 244 Rustico (15. Jh.; Krämer und Sklavenhändler in Florenz) 196 Rütiner, Johannes (1501–1556; Schweizer Kaufmann u. Ratsherr in St. Gallen, Chronist) 56 Ryff (Fam.) 83 Ryff, Andreas (1550–1603; Schweizer Kaufmann und Basler Ratsherr) 50, 83 Ryff, Peter (1552–1629; Rektor der Basler Universität, Mathematiker und Chronist) 83f. Sachs, Hans (1594–1676; Nürnberger Schuh­ macher und Dichter) 19, 72, 74, 77–81 Sackville, Thomas (1536–1608; 1. Earl of Dorset, Lord Buckhurst) 253 Salat, Hans (1498–ca. 1561; Schweizer Gerichts­ schreiber, Dramatiker und Chronist) 54 Salisbury 280 Saly (17. Jh.; türk. Kammerdiener in Hannover) 237 Scarperia 186 Schedel, Hartmann (1440–1514; dt. Arzt, Huma­ nist und Historiker) 214, 219f., 223, 226f. Schedel, Hermann (1410–1485; dt. Arzt und Humanist) 218–221 Scheurl, Albrecht (VI.) (1525–1580; süddt. Patri­ zier, Onkel Christoph Scheurls) 212 Scheurl, Christoph (1481–1542; dt. Jurist, Diplomat und Humanist) 48, 223–225, 227f. Schin Achmet (18. Jh.; persischer Reisender in Hannover) 242 Schwarzwald 63 Schweden 244

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Index der Orts- und Personennamen

Schweicker, Thomas (1541–1602; Schreiber und Kalligraph) 66 Schweinichen, Hans von (1552–1616; Liegnitz­ scher Hofmarschall und Autobiograph) 100 Schwelm 160 Shakespeare, William (ca. 1564–1616; engl. Drama­tiker) 249, 267f., 271 Sidney, (Sir) Philip (1554–1586; engl. Höfling, Soldat und Schriftsteller) 249f. Simona (14. Jh.; Frau des Bernardo di Giovanni Morelli) 201 Sizilien 199 Sokrates (469–399 v. Chr.; griech. Philosoph) 225 Sora (Lausitz) 32 St. Gallen 186 Stadtprozelten 55 Stammel, Trin von (16. Jh.; Gesinde im Hause Weinsberg) 81 Starling, Samuel (17. Jh.; Mitglied der Brauer­ gilde in London) 286 Steinwech, Drutgin uff dem (16. Jh.; Schätzerin bei Güterinventarisierung von Drutgin Weinsberg) 81 Straßburg 63, 75f., 134 Stromer, Ulman (1329–1407; Nürnberger Großhändler, Fabrikant und Ratsherr) 192 Stumpf, Johannes (1500–1577/78; Theologe, Kartograph und Chronist) 60f. Stupe, Peter (16. Jh.; der Zauberei bezich­tigter Bauer des Kölner Umlands) 118 Surrey 279 Sürth (bei Köln) 139 Tacitus, Publius Cornelius (ca. 58–ca. 120 n. Chr.; röm. Historiker und Senator) 221f. Tardaccorri (14. Jh.; Notar) 189 Thales von Milet (ca. 624/23–zw. 548 und 544 v. Chr.; vorsokratischer Naturphilosoph, Geometer und Astronom) 225 Tieck, Johann Ludwig (1773–1853; dt. Dichter, Schriftsteller, Übersetzer) 22 Tommaso/Maso (* 1391; ill. Sohn des Goro Dati) 197f., 201 Toskana 186, 189, 192, 194, 197, 200

Tucher, Daniel (1530–1551; Nürnberger Kauf­ mann) 229 Tucher, Linhart (1487–1568; Nürnberger Kauf­ mann und Ratsherr) 229 Tucher, Sixtus (1459–1507; Nürnberger Humanist) 224f. Tunis 26 Turin 22, 264 Ugolino del fu Vicino de Judis 189 Ulm 19, 56, 64f. Ungarn 26, 39, 146 Valencia 197f., 200 Valentin, Karl (1882–1948; dt. Komiker, Volks­ sänger, Autor) 22 Velius, Johannes (1545–1631; Pfarrer von Einbeck) 54 Venedig 188–190, 214f., 222, 224, 227, 229, 258, 264 Venlo 130 Vergil (70–19 v. Chr.; röm. Dichter) 264, 270 Vicenza 151 Vietken, Hermann Balthasar (17. Jh.; Pastor in Linden) 239 Walsingham, Sir Francis (ca. 1532–1590; erster Staatssekretär in England) 250 Weinsberg (Fam./Haus) 16, 83, 96, 107–109, 119–121, 123f., 164, 167, 181 Weinsberg, Anna (1546–1601; außereheliche Tochter Hermann Weinsbergs) 125, 185f., 203 Weinsberg, Christian (Vater Hermann Weinsbergs) 83, 156, 175, 177 Weinsberg, Drutgin (16. Jh.; Tante Hermann Weinsbergs) 81, 83 Weinsberg, Got(t)schalk (1532–1597; Bruder Hermann Weinsbergs) 43–45, 53, 58 Weinsberg, Hermann (1518–1597; Kölner Ratsherr und Chronist) 8f., 15–17, 19, 21, 25f., 43f., 47, 50, 53, 67, 71, 81f., 84, 87, 93–187, 201 Weinsberg, Hermann jun. († 1604; Sohn Hermann Weinsbergs) 125

Index der Orts- und Personennamen

Weinsberg, Mergen (16. Jh.; Tante Hermann Weinsbergs) 83 Widdig 139 Wieland, Christoph Martin (1733–1813; Dichter, Übersetzer, Herausgeber) 22 Wien 218, 237 Wilhelm IV. (1455–1511; Herzog von JülichBerg) 183 Wilhelm V., gen. der Reiche (reg. 1539–1592; Herzog von Jülich-Kleve-Berg) 94, 130, 183 Winzberg 175 Wittenberg 224 Wolf, Gerhart (16. Jh.; Onkel des Stiefsohns Hermann Weinsbergs) 81

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Wolf, Hieronymus (1516–1580; dt. Humanist und Philologe) 50 Wolffhart, Conrad gen. Lycosthenes (1518–1561; elsässischer Humanist und Enzyklopädist) 58–60, 63f. Worms 60f. Ysabette (Spätmittelalter; tatarische Sklavin) 200 Zerrer, Hans (15. Jh.; Großvater Hans Kalten­ brunns) 63 Zimmern, Froben Christoph von (1519–1566; Schreiber der Zimmerischen Chronik) 100 Zutphen 133

DIE GESCHICHTE ZUM BÜRGERLICHEN WAFFENBESITZ

Werner Freitag | Martin Scheutz (Hg.)

Ein bürgerliches Pulverfass? Waffenbesitz und Waffenkontrolle in der alteuropäischen Stadt Städteforschung. Reihe A: Darstellungen, Band 102 2021. 227 Seiten mit 19 z.T. farb. Abb., 2 Diagrammen u. 1 Tab., gebunden € 40,00 D | € 42,00 A ISBN 978-3-412-52108-0 E-Book € 32,99 D | € 34,00 A

Preisstand 1.3.2021

Nicht nur heute ist der zunehmende Waffenbesitz ein heikles Thema – bereits in der Frühen Neuzeit stellte die städtische Waffenkultur ein „Pulverfass“ dar. Einerseits trugen Waffen zum bürgerlichen Selbstverständnis bei, andererseits führten sie in den Händen der Bürger oftmals zu gewaltsamen Konflikten. Die Beiträge des Sammelbands decken ein breites Themenspektrum ab und beleuchten unter anderem den verpflichtenden Waffenbesitz durch das Bürgerrecht, Strategien des bürgerlichen Waffenerwerbs, die Bedeutung von Orten wie Schießstätten und Pulvertürmen sowie das Verhältnis städtischer Sondergruppen zum Umgang mit Waffen.