Die soziale Rolle des Okzitanischen in einer kleinen Gemeinde im Languedoc (Lacaune, Tarn) [Reprint 2017 ed.] 9783111329109, 3484522003, 9783484522008

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Die soziale Rolle des Okzitanischen in einer kleinen Gemeinde im Languedoc (Lacaune, Tarn) [Reprint 2017 ed.]
 9783111329109, 3484522003, 9783484522008

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkungen
1. Sprache, Dialekt, ‹patois› – Versuch einer Begriffsklärung
2. Okzitanien und okzitanische Bewegung – ein Überblick unter besonderer Berücksichtigung der Sprache
3. Okzitanisch und Französisch – zwei Sprachen in Kontakt und Konflikt
4. Untersuchung zur sozialen Rolle des Okzitanischen in Lacaune
4.1 Lacaune, Tarn
4.2 Interviews in Lacauner Familien
4.3 Schülerbefragung
4.4 Beobachtungen
5. Schlußbetrachtung
6. Literaturverzeichnis

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B E I H E F T E ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE

PHILOLOGIE

B E G R Ü N D E T VON GUSTAV GRÖBER F O R T G E F Ü H R T VON WALTHER VON WARTBURG H E R A U S G E G E B E N VON KURT B A L D I N G E R

Band 200

Trudel Meisenburg

Die soziale Rolle des Okzitanischen in einer kleinen Gemeinde im Languedoc (Lacaune/Tarn)

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1985

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Meisenburg, Trudel: Die soziale Rolle des Okzitanischen in einer kleinen Gemeinde im Languedoc (Lacaune, Tarn) / Trudel Meisenburg. - Tübingen : Niemeyer, 1985. (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie ; Bd. 200) NE: Zeitschrift für romanische Philologie / Beihefte ISBN 3-484-52200-3

ISSN 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1985 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Laupp &c Göbel, Tübingen 3 Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

VORBEMERKUNGEN

VII

1. SPRACHE, DIALEKT, - V E R S U C H EINER B E G R I F F S K L Ä R U N G

1

2. O K Z I T A N I E N U N D OKZITANISCHE B E W E G U N G - EIN Ü B E R B L I C K U N TER BESONDERER B E R Ü C K S I C H T I G U N G DER S P R A C H E

2.1 2.2

8

Zur Geschichte Okzitaniens und der okzitanischen Sprache Entstehung u n d Entwicklung der okzitanischen Bewegung

3. O K Z I T A N I S C H U N D FRANZÖSISCH - ZWEI S P R A C H E N IN

8 17

KONTAKT

U N D KONFLIKT

32

3.1 3.2

32

3.2.1 3.2.2 3.2.3

Zweisprachigkeit - Bilinguismus oder Diglossie? . . . . Das Okzitanische: Untersuchungen, Schätzungen, Meinungen - ein Überblick über Veröffentlichungen der letzten 200 Jahre Die Zahl der Okzitanischsprecher Fallstudien z u m Okzitanischen Autobiographische Berichte von Okzitanischsprechern .

36 36 57 79

4 . U N T E R S U C H U N G ZUR SOZIALEN R O L L E DES O K Z I T A N I S C H E N IN LACAUNE

4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.4.1

82

Lacaune, T a r n Zur sozialen Struktur Lacaunes Zur Geschichte Lacaunes Interviews in Lacauner Familien Vorbereitung und D u r c h f ü h r u n g der Interviews . . . . Erarbeitung des Codes und Auswertung der Untersuchung Die Ergebnisse der Sekundäranalyse - Die Rolle des Okzitanischen in den Lacauner Familien Die Ergebnisse der Interviews Erster Komplex: Sozialdaten

82 82 93 100 101 109 114 124 124 V

4.2.4.2 Zweiter Komplex: Okzitanischkenntnisse 128 4.2.4.3 Dritter Komplex: Anwendung des Okzitanischen . . . 144 4.2.4.3.1 Häufigkeit der Anwendung allgemein 144 4.2.4.3.2 Anwendung nach Domänen 158 4.2.4.3.2.1 Familie 158 4.2.4.3.2.2 Arbeit 177 4.2.4.3.2.3 Schule 187 4.2.4.3.2.4 Religion 189 4.2.4.3.2.5 «Erledigungen außer Haus» 189 4.2.4.3.2.6 Bekanntschaften 192 4.2.4.3.2./Tabellarische Zusammenfassung: Okzitanischanwendung nach Domänen 199 4.2.4.4 Zusammenfassung der Ergebnisse des zweiten und dritten Komplexes 201 4.2.4.5 Vierter Komplex: Einstellung zum Okzitanischen . . . 203 4.2.4.5.1 Bevorzugte Sprache 203 4.2.4.5.2 Schätzungen der Befragten über die Okzitanischkenntnisse der Einwohner von Lacaune . . . 206 4.2.4.5.3 Geographische Ausdehnung des Okzitanischen und Interkomprehensibilität seiner Dialekte . 207 4.2.4.5.4 Linguistischer Status des (mit einer Auswahl von Originalantworten) 215 4.2.4.5.5 Das Okzitanische als geschriebene Sprache . . 226 4.2.4.5.6 Einstellung zum Okzitanischunterricht . . . . 241 4.2.4.5.7 Soll man mit Kindern okzitanisch sprechen? . 246 4.2.4.5.8 Die Rolle des okzitanischen Chansons . . . . 253 4.2.4.5.9 Das Okzitanische in Radio und Fernsehen . . 256 4.2.4.5.10 Die Zukunft des Okzitanischen 263 4.2.4.5.11 Würde der Untergang des Okzitanischen bedauert werden? 268 4.2.4.5.12 Möglichkeiten zur Rettung des Okzitanischen . 272 4.2.4.6 Zusammenfassung der Ergebnisse des vierten Komplexes 273 4.3 Schülerbefragung 274 4.3.1 Die Schulen von Lacaune 274 4.3.2 Erstellung des Fragebogens und Durchführung der Untersuchung 275 4.3.3 Ergebnisse 278 4.3.4 Zusammenfassung der Ergebnisse der Schülerbefragung 307 4.4 Beobachtungen 315 5. SCHLUSSBETRACHTUNG

324

6. LITERATURVERZEICHNIS

327

VI

Vorbemerkungen

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die soziale Rolle des Okzitanischen in einer kleinen Gemeinde im Languedoc (Lacaune, Tarn) möglichst umfassend darzustellen. Die Notwendigkeit solcher soziolinguistischen Fallstudien ist häufig betont worden 1 . Ein möglichst engmaschiges Netz lokaler oder regionaler Untersuchungen könnte vielleicht endlich eine Gesamtdarstellung der sprachlichen Situation im okzitanischen Raum möglich machen 2 . Dazu möchte ich mit meiner Arbeit beitragen. Die zugrundeliegende Untersuchung wurde von Februar bis einschließlich Mai 1977 durchgeführt. Ich lebte zu dieser Zeit in Lacaune, beobachtete den Sprachgebrauch der Einwohner, interviewte 61 Familien und befragte Schulkinder. Dabei wollte ich zum einen Näheres über die Verbreitung des Okzitanischen erfahren - sowohl was den Besitz von Okzitanischkenntnissen als auch was deren Anwendung betrifft -, zum anderen versuchte ich, Aufschlüsse über Spracheinstellungen und Sprachbewußtsein zu gewinnen. Die Gründe, die zur Wahl Lacaunes für die Untersuchung führten, sind verschiedener Art. Die erste Anregung dazu bekam ich 1975, als ich nach einem Studienjahr in Toulouse, während dessen ich mich erstmals theoretisch mit der okzitanischen Frage auseinandergesetzt hatte, zwei Monate lang in einem Café in Lacaune arbeitete und dort mit der «okzitanischen Realität» konfrontiert wurde. Ich konnte bereits damals einige interessante Beobachtungen zum Gebrauch des Okzitanischen machen und erfuhr manches über das Leben der Menschen in Lacaune und Umgebung. Hinzu kommt, daß Lacaune durch seine Lage sowie seine demographische und wirtschaftliche Entwicklung besonders interessante Ergebnisse für eine soziolinguistische Untersuchung vorausahnen ließ. ' Siehe z. B. Georg Kremnitz, Versuche zur Kodifizierung des Okzitanischen seit dem 19. Jahrhundert und ihre Annahme durch die Sprecher, Tübingen 1974, S. IIf. ; ders., Sociolinguistiques antillaise et occitane, Mélanges de philologie romane offerts à Charles Camproux, Bd. 2, Montpellier 1978, S. 1026f. ; Brigitte Schlieben-Lange, Sociolinguistique-Rapport, Colloque International sur la Recherche en Domaine Occitan, Montpellier 1975, S. 126; und Jôrdi Blanc/Ives Codèrc, Per un estudi del comportament Hnguistic dels Occitans, Obradors 2, 1973, S. 39ff. 2 Vgl. dazu Georg Kremnitz, Enquèstas soció-linguisticas: experiéncias aplicablas a la situación occitana, Rev. Lang. Rom. 82, 1977, S. 346. VII

Die Arbeit besteht aus zwei Teilen. Dem großen Komplex der Untersuchungsergebnisse geht ein einführender Teil voran, der eine Auseinandersetzung mit der gebräuchlichen Terminologie, einen an der Sprache orientierten Abriß der Geschichte Okzitaniens sowie einen Überblick über bisherige Untersuchungen zum Okzitanischen enthält. Danken möchte ich den Einwohnern von Lacaune für ihre Hilfe und Kooperationsbereitschaft, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre, sowie dem DAAD, der durch ein Stipendium die finanzielle Grundlage für meine Untersuchung geschaffen hat. Mein Dank gehört außerdem all denen, die mir in irgendeiner Weise weitergeholfen haben, sei es durch Beratung, Auskünfte, Materialbeschaffung, Hinweise, Korrekturlesen oder sonstige Unterstützung. Ganz besonders habe ich schließlich Joachim Stübben für die kritische Durchsicht des Manuskripts zu danken. Bad Godesberg-Friesdorf, im Dezember 1981

VIII

Trudel Meisenburg

1.

Sprache, Dialekt, - Versuch einer Begriffsklärung

Langue occitane, Langue(s) d'oc, dialecte(s), patois - all das sind gängige Bezeichnungen für das, was im südlichen Drittel Frankreichs, im okzitanischen Raum, neben dem Französischen gesprochen wird. U n d Okzitanien wird im allgemeinen sprachlich definiert: Par Occitanie, nous entendons l'ensemble des régions où l'on parle un dialecte de la langue romane dite «langue d'oc». L'Occitanie sera donc définie sur la carte par des frontières linguistiques'. Es bleibt jedoch zu klären, was unter einer Sprache und was unter einem Dialekt zu verstehen ist - eine Frage, in der weder unter Linguisten noch unter Sprachsoziologen Einigkeit herrscht, da sehr unterschiedliche Kriterien, sowohl außer- als auch innersprachlicher Art, zur Definition dieser Begriffe in sich sowie zu ihrer Kontrastierung herangezogen werden 2 . So rechnet man, was die Romania betrifft, eine Reihe von Varietäten 3 zu den Sprachen, weil sie Ausdruck einer politischen, ethnischen oder kulturellen Einheit sind 4 . Ein anderes häufig benutztes Kriterium ist der Schriftsprachencharakter. Danach gilt eine Varietät erst dann als Sprache, wenn sie auch geschrieben wird, und zwar nach einer für das ganze Sprachgebiet verbindlichen N o r m bzw. Kodifikation 5 . Noch bessere Chancen, «Sprache» 1

Robert Lafont, Clefs pour 1'Occitanie, Paris 21977, S. 11. Harald Haarmann, Soziologie und Politik der Sprachen Europas, München 1975, S. 186. Einen Einblick in die Problematik gewähren die Bände Zur Theorie des Dialekts, Aufsätze aus 100 Jahren Forschung, Beiheft Nr. 16 der Zeitschr. f. Dialektol. u. Ling., Wiesbaden 1976; und Dialekt und Dialektologie, Ergebnisse des internationalen Symposions «Zur Theorie des Dialekts», Marburg/L., 5.-10. Sept. 1977, Beiheft Nr. 26 der Zeitschr. f. Dialektol. u. Ling., Wiesbaden 1980. 3 Varietät wird hier im Sinne von Fishman «als eine keine Wertung beinhaltende Bezeichnung» verwendet (siehe Joshua A. Fishman, Soziologie der Sprache, München 1975 [zuerst 1972], S. 25). 4 Kremnitz, Versuche. . ., S. 2; und Brigitte Schlieben-Lange, Okzitanisch und Katalanisch, Tübingen 21973, S. 3. Vgl. dazu die verschiedenen Handbücher zur romanischen Sprachwissenschaft, z. B. Heinrich Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft I, Berlin 31969, S. 39ff. ; Benedek Elemér Vidos, Handbuch der romanischen Sprachwissenschaft, München 1968, S. 305ff.; und Gerhard Rohlfs, Einführung in das Studium der romanischen Philologie, Heidelberg 21966, S. 6; alle mit zahlreichen weiteren Literaturhinweisen zu diesem Thema. s Kremnitz, Versuche. . ., S. 2; Schlieben-Lange, Okzitanisch. . ., S. 4. Zur (nicht durchgehenden) Anwendung dieses Kriteriums siehe Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft I, S. 40. 2

1

genannt zu werden, hat eine solche Varietät, wenn ihre Schriftsprache auch zur Produktion einer anerkannten Literatur verwandt wird 6 . Hat eine Varietät wieder aufgehört, als Schriftsprache zu existieren, so kann das Vorhandensein einer anerkannten Literatur dennoch ihre Zählung zu den Sprachen rechtfertigen 7 . Hier liegt also eine historische Betrachtungsweise vor. Es gibt aber auch romanische Varietäten, auf die keines der genannten Kriterien zutrifft und die dennoch im allgemeinen den Sprachen zugerechnet werden, und zwar aufgrund von rein linguistischen Kriterien 8 : Solche Varietäten unterscheiden sich so stark von den in ihrem Bereich geltenden oder mit ihnen verwandten Schriftsprachen, daß sie nicht mehr als Dialekte derselben angesehen werden können, sondern eigenständige Sprachen bilden, obwohl weder politische bzw. kulturelle Einheit noch Schriftsprache oder Literatur vorhanden sind 9 . Je nachdem, wie hohe Anforderungen man an die Individualität einer Sprache stellt, erhält man auf diese Weise mehr oder weniger Sprachen 10 . In diesem Zusammenhang spielt auch das Prinzip der Interkomprehensibilität eine Rolle, das häufig zur Unterscheidung von Sprache und Dialekt herangezogen w i r d " : on dira volontiers de personnes qui ne se comprennent pas qu'elles parlent des langues différentes 12 .

Inwieweit sich jedoch Personen, die verschiedene Varietäten sprechen, untereinander verständigen können, hängt in starkem Maße auch vom Thema, von der Situation, von den individuellen Fähigkeiten der Sprecher und von den stereotypen Vorstellungen, die sie von der Verständlichkeit bzw. Nicht-Verständlichkeit der anderen Varietät haben, ab 13 .

6

Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris 1972 (zuerst 1916), S. 278. 7 Unter anderem aus diesem Grunde z. B. das Provenzalische bei Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft I, S. 40. 8 So z. B. das Sardische und das Dalmatische. 9 Siehe Vidos, Handbuch. . . , S. 309; Lausberg, Romanische Sprachwissenschaft I, S. 40; Schlieben-Lange, Okzitanisch. . ., S. 5f.; Kremnitz, Versuche. . S. 2. 10 Kremnitz, Versuche. . ., S. 3. 11 Schlieben-Lange, Okzitanisch. . ., S. 4; Kremnitz, Versuche. . ., S. 2. 12 Saussure, Cours. . . , S. 278. Siehe z. B. auch Marcel Cohen: «Pour les subdivisions qui permettent l'intercompréhension d'emblée, ou une adaptation au moins relativement facile, on parle de dialectes (...)» (Matériaux pour une sociologie du tangage I, Paris 1971 [zuerst 1956], S. 93). 13 Nach Schlieben-Lange grenzt sich eine Sprachgemeinschaft, die im Bewußtsein der Identität ihrer Sprache existiert, durch Nicht-Verstehen nach außen hin ab, während sich innerhalb der Sprachgemeinschaft durch das gemeinsame Leben charakteristische Züge und neue Tendenzen der Sprache konsolidieren (Brigitte Schlieben-Lange, Soziolinguistik, Stuttgart 1973, S. 72f.). Siehe dazu auch André Martinet, Eléments de linguistique générale, Paris 1974 (zuerst 1960), S. 146ff. (5-3); und Kremnitz, Versuche. . ., S. 2.

2

Durch die Einführung der Begriffe Abstandsprache und Ausbausprache hat Heinz Kloss versucht, die linguistische Betrachtung der Problematik der Abgrenzung nach Sprachen oder Dialekten durch eine primär soziologische zu ersetzen 14 . Danach sind Abstandsprachen Varietäten, die schon allein aufgrund ihres sprachkörperlichen Abstandes, d. h. ihrer starken Unterschiede zu anderen Varietäten, als Sprachen anerkannt werden 15 ; Ausbausprachen dagegen sind «»16. Dieser Ansatz wird von Georg Kremnitz weiterentwickelt, der die zur Definition von Abstand- und Ausbausprachen verwendeten Komponenten kombiniert und durch eine dritte ergänzt. So wird nach Kremnitz die Grundlage einer Sprache durch die sogenannte objektive Komponente, nämlich ihre Struktur, ihre interne linguistische Dimension also, gebildet. Dazu kommen in enger Beziehung zueinander die funktionelle Komponente, d. h. die Kommunikationsfunktion, die die soziale Dimension ausmacht, und die subjektive Komponente, die durch das Bewußtsein der Sprecher zustandekommt, einer Sprachgemeinschaft anzugehören 17 : Eine Varietät muß ihre eigene linguistische Struktur besitzen, d. h. sich möglichst in Phonologie, Morphologie, Syntax und Lexikon von anderen Varietäten unterscheiden 18 , sie muß innerhalb einer Gesellschaft bestimmte Kommunikationsfunktionen erfüllen, und ihre Sprecher müssen das Bewußtsein haben, eben eine Sprache und nicht etwa einen Dialekt zu sprechen, damit sie als solche bezeichnet werden kann 19 . Was den Begriff Dialekt betrifft, so lassen sich ebenfalls diese drei Dimensionen unterscheiden, wobei Dialekt jeweils in Beziehung zu Sprache steht, Sprache immer der übergeordnete, Dialekt immer der untergeordnete Begriff ist20. 14

Siehe Heinz Kloss, Abstandsprachen und Ausbausprachen (1976), Zur Theorie des Dialekts, S. 301-322, besonders S. 301. Eine erste Darlegung seiner Theorie lieferte Kloss bereits 1952 in seinem Buch Die Entwicklung neuer germanischer Kultursprachen, München 1952; vgl. dazu auch ders., and , Anthrop. Ling. 9, 1967, S. 29-41; und ders., Völker, Sprachen, Mundarten, Europa Ethnica 1, 1969, S. 146-155. 15 Kloss, Abstandsprachen. . ., S. 301. 16 Ebda.. 17 Kremnitz, Versuche. . ., S. lf. 18 Es können aber auch «schon geringe Abweichungen von einer zweiten Sprache als Ansatz einer Struktur genügen, vor allem wenn auf Grund des vorhandenen Sprachbewußtseins diese Sonderzüge besonders hervorgehoben werden» (Kremnitz, Versuche. . ., S. 39). 19 Zur Bedeutung des Sprachbewußtseins siehe auch Georg Kremnitz, Das Okzitanische, Tübingen 1981, S. 36f. 20 Einar Haugen, Dialect, Language, Nation, in: The Ecology of Language, Essays by Einar Haugen, Stanford, Cal. 1972 (zuerst 1966), S. 239; Fishman, Soziologie. . ., S. 27. Siehe dazu auch Eugenio Coseriu, «Historische Sprache» und «Dialekt», Dialekt und Dialektologie, S. 108.

3

Linguistisch gesehen ist ein Dialekt eine Untergruppe einer als Sprache definierten Einheit 2 '. Hierbei ist zu beachten, daß es für den Sprachwissenschaftler «keinen natürlichen Unterschied [gibt] zwischen einem und einer , deren Verflechtung mit einer anderen Sprache man nachweisen kann, sei diese Verflechtung auch noch so weitläufig» 22 . Ein Dialekt kann sich durch Merkmale eines jeden Teils seiner linguistischen Struktur von anderen Dialekten wie auch von der Sprache, der er untergeordnet ist, unterscheiden 23 . Statt von einer «différence de nature» kann man hier eher von einer «différence de quantité» sprechen 24 : Je geringer der sprachkörperliche Abstand zwischen zwei Varietäten ist, desto eher wird der Linguist geneigt sein, eine als Dialekt der anderen oder aber beide als Dialekte einer ebenfalls der Struktur nach mit ihnen in engem Zusammenhang stehenden dritten Varietät anzusehen 25 . Voraussetzung ist, daß sie einerseits einen genügend ausgeprägten Eigencharakter besitzen, um noch als eigene Einheit gelten zu können, andererseits jedoch eng mit einer als Sprache definierten Einheit verwandt sind 26 . Die funktionale Bestimmung von Varietäten als Sprachen oder Dialekte läßt sich laut Fishman «nur aus der Beobachtung ihrer Verwendung in der Gesellschaft und der Beobachtung der Sprecher ableiten und nicht von irgendwelchen Eigenschaften der Kodes selbst» 27 . Dabei werden im allgemeinen diejenigen Varietäten als Dialekte bezeichnet, «die ursprünglich und im wesentlichen verschiedene geographische Herkunft repräsentieren» 28 . Als regionale Subsysteme sind sie in einem kleineren Gebiet gebräuchlich als die zugehörige Sprache, die immer mehrere Dialektgebiete umfaßt 2 9 . Während diese Sprache meist eine allgemeingültige durchgängige Kodifikation besitzt, unterscheiden sich Dialekte gewöhnlich von Ort zu Ort. Die Unterschiede betreffen zwar oft nur einzelne Punkte und behindern die Verständigung kaum, wachsen aber, je weiter man sich von einer Stelle aus in dieselbe Richtung fortbewegt 30 . 21

Schlieben-Lange, Okzitanisch. . ., S. 3; Kremnitz, Versuche. . ., S. 4. Edward Sapir, Dialekt (1931), Zur Theorie des Dialekts, S. 67. Siehe dazu auch Auguste Brun, Parlers régionaux, Paris-Toulouse 1946, S. 8; Jean Fourquet, Langue - Dialecte - Patois, in: André Martinet (Hrsg.), Le Langage, Paris 1968, S. 581 ; und Manuel Alvar, Langue et société, Trav. Ling. Lit. 14, 1/1976, S. 59. 23 Jean Dubois u. a., Dictionnaire de linguistique, Paris 1973, unter dialecte; und Pavle, Ivic, Dialekte (1974), Zur Theorie des Dialekts, S. 283. 24 Saussure, Cours. . ., S. 264. 25 Vgl. Kloss, Abstandsprachen. . ., S. 312f. 26 Kremnitz, Versuche. . ., S. 4. 27 Fishman, Soziologie. . ., S. 27. 28 Ebda., S. 25. 29 Ulrich Ammon, Probleme der Soziolinguistik, Tübingen 2 1977, S. 24; ders., Dialekt, soziale Ungleichheit und Schule, Weinheim 2 1973, S. 55. Siehe auch Norbert Dittmar, Soziolinguistik, Frankfurt am Main 1973, S. 136f. ; Schlieben-Lange, Soziolinguistik, S. 73f.; Fishman, Soziologie. . ., S. 27. 30 Vgl. Ivic, Dialekte, S. 285f. Siehe dazu auch Walther von Wartburg, Einführung in Problematik und Methodik der Sprachwissenschaft, Tübingen 3 1970, S. 12f. 22

4

Was die soziale Verteilung von Sprache und Dialekt auf die Sprecher anbelangt, so sind es aufgrund ihrer Führungspositionen hauptsächlich die Mitglieder der oberen Schichten, die eines weiträumig einheitlichen Kodes bedürfen und daher verstärkt die Sprache ( = Einheitssprache, Gemeinsprache oder Hochsprache) erlernen und verwenden. Die Angehörigen der unteren sozialen Schichten dagegen bewegen sich eher in kleinräumigen Kommunikationsradien, die sich durch den Gebrauch des Dialekts abdekken lassen. Durch diese historisch bedingte schichtenspezifische Verteilung erklärt sich die vor allem in der umgangssprachlichen Verwendung übliche unterschiedliche Konnotation der beiden Begriffe. Sie sind zu Symbolen für die entsprechenden Schichten geworden und besitzen demnach ein entsprechend größeres oder geringeres Prestige 31 . Dadurch daß die Sprache der oberen Schichten automatisch als die korrekte Ausdrucksform hingestellt wird 32 , betrachtet man häufig den Dialekt als ein Abweichen davon oder sogar als eine Verderbtheit dieser Standardnorm 3 3 . Ob aber nun eine Varietät als eigene Sprache oder als Dialekt einer anderen Varietät angesehen wird, ist auch eine Folge des Sprachbewußtseins der Sprecher. Im subjektiven Bereich unterscheidet sich ein Dialekt von einer Sprache dadurch, daß er ohne ausgeprägtes Sprachbewußtsein ist bzw. ein Teilsprachbewußtsein besitzt 34 . Demnach «gibt es ( . . . ) Dialekte nur in dem Maße, wie die Sprecher einer bestimmten Sprachform sich als Untergruppe einer Sprachgemeinschaft verstehen» 35 . Wenn die Mitglieder einer ursprünglich als Sprachgemeinschaft zu bezeichnenden Gemeinschaft - aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr das Bewußtsein haben, eine eigenständige Sprache zu sprechen, so wird ihre Varietät subjektiv und infolgedessen auch funktionell zum Dialekt einer anderen, ihr soziologisch übergeordneten Varietät - auch wenn aufgrund des sprachkörperlichen Abstandes zwischen den beiden Varietäten jede aus linguistischer Sicht als eigene Sprache gilt. Kloss spricht in solchen Fällen von «scheindialektalisierten Abstandsprachen» 36 . Ein solcher «Bewußtseinsschwund» - Schlieben-Lange spricht hier von falschem Sprachbewußtsein 37 , Maas von Schizophrenie des Bewußtseins 38 und Ninyoles von lin31

Siehe zu diesem Abschnitt Ammon, Probleme. . ., S. 22ff., wo die Genese dieser schichtenspezifischen Verteilung und ihre Folgen genau dargestellt sind. 32 Haugen, Dialect, Language, Nation, S. 241. 33 Sapir, Dialekt, S. 68. 34 Kremnitz, Versuche. . ., S. 4. 35 Schlieben-Lange, Soziolinguistik, S. 73. 36 Kloss, Abstandsprachen. . ., S. 305ff. Als Beispiel nennt Kloss hier u. a. das Verhältnis von Okzitanisch zu Französisch (S. 305). Die Scheindialektalisierung kann dann zu einer wirklichen Dialektalisierung werden, wenn die betroffenen Sprecher ihre Varietät so stark an die angesehenere übergeordnete Sprache angleichen, daß sie auch aus linguistischer Sicht nicht mehr als Abstandsprache gelten kann (ebda.). 37 Brigitte Schlieben-Lange, Metasprache und Metakommunikation, in: Dies.

5

guistischem Vorurteil39 - kommt jedoch nicht von ungefähr zustande, sondern ist meist das Ergebnis mehr oder weniger gezielter Sprachpolitik40. Sie beginnt in der Regel damit, daß eine bestimmte Sprache im Bereich der Schrift zunächst für administrative und literarische Zwecke bewußt durch die Sprache des Staates, d. h. in der Geschichte de facto die Sprache des Herrschers, ersetzt wird41. Die damit einhergehende soziale Abwertung wird verstärkt durch Bestrebungen, den Sprechern mehr oder weniger gewaltsam einzutrichtern, ihre Sprache sei in Wirklichkeit gar keine Sprache, sondern nur ein Dialekt der Staatssprache und daher von vornherein minderwertig42. Akzeptieren die Sprecher das Vorurteil vom unterschiedlichen Wert der beiden Sprachen, so werden sie sie auch unterschiedlich gebrauchen und die Funktionen ihrer untergeordneten Sprache gegenüber der übergeordneten Staatssprache reduzieren oder zumindest nicht weiter ausbauen43. Es bildet sich so eine Situation heraus, die heute im allgemeinen als diglossisch bezeichnet wird - ein Begriff, auf den in einem späteren Kapitel noch näher eingegangen werden muß44. Für Varietäten, die der Staatssprache in ihrer sozialen und demzufolge auch funktionellen Dimension untergeordnet sind, gibt es im Französischen einen Spezialausdruck, der in anderen Sprachen nur als Fremdwort existiert: Sie werden gewöhnlich patois genannt45. Zugrunde liegt hier ein soziolinguistisch definierter Begriff, insofern als allein die soziale Stellung einer Varietät dafür entscheidend ist, ob sie als bezeichnet wird oder nicht, unabhängig davon, ob sie nach linguistischen Kriterien als Sprache oder als Dialekt zu definieren wäre. Ähnlich dem Begriff Dialekt hat auch der Begriff in seiner umgangssprachlichen Verwendung eine stark negative Konnotation, die ebenfalls in der schichtenspezifischen Verteilung der Varietäten begründet ist46: Dadurch, daß die oberen Schich(Hrsg.), Sprachtheorie, Hamburg 1975, S. 199. Utz Maas, Argumente für die Emanzipation von Sprachstudium und Sprachunterricht, Frankfurt am Main 1974, S. 173. 39 Rafael Lluis Ninyoles, Idioma i prejudici, Palma de Mallorca 2 1975, S. 54ff. 40 Maas, Argumente. . S. 177. 41 Robert Lafont, Sur le procès du «patoisement», in: Albert Verdoodt/Rolf Kjolseth (Hrsgg.), Language in Sociology, Louvain 1976, S. 128f. 42 Kloss, Abstandsprachen. . ., S. 306. 43 Ninyoles, Idioma. . ., S. 55ff. 44 Siehe Kapitel 3.1 dieser Arbeit. 45 Kremnitz, Versuche. . . , S. 5f.; und ders., Sprachliche Minderheiten. Das Beispiel der Romania, Studium Ling. 3, 1977, S. 33f. Zur Etymologie von siehe John Orr, The Etymology of patois, Fr. Stud. 5, 1951, S. 349-352; Omer Jodogne, L'étymologie de patois, Mélanges de linguistique française offerts à M. Charles Bruneau, Genève 1954, S. 121-132; Jacques Thomas, Dialecte et Patois, Romanica Gandensia 1, 1953, S. 93-117; Walther von Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch, Bd. 8, Basel 1958, unter patt-\ und Otto Bloch/Walther von Wartburg, Dictionnaire étymologique de la langue française, Paris 6 1975, unter patois. 46 Zu den verschiedenen Definitionen von siehe Henri Boyer, Métalexi38

6

ten sich des Standardfranzösischen bedienen und die als minderwertige Sprachformen der unteren Schichten verachten, entstehen bei den Patoissprechern Minderwertigkeitsgefühle, die sie veranlassen, sich ihrer natürlichen Sprache zu schämen und diese so schnell wie möglich abzulegen - die Aufgabe des ist Voraussetzung für jeden sozialen Aufstieg. Eine solche Situation, die nach Kremnitz aus einer dem Rassismus gleichzusetzenden Anschauungsweise resultiert, da für sie nicht alle Sprachen den gleichen Wert haben, tendiert generell zum Verschwinden der als bezeichneten Varietäten 47 . Wegen seiner irrationalen Aufladung plädieren Kremnitz wie auch andere Sprachwissenschaftler dafür, den Terminus nicht mehr in der wissenschaftlichen Diskussion zu verwenden 48 . Im Rahmen dieser Arbeit soll die Bezeichnung Dialekt nur gebraucht werden, wenn eine linguistisch abgrenzbare Untergruppe des Okzitanischen gemeint ist. So gelten z. B. das Languedokische und das Provenzalische als Dialekte des Okzitanischen 49 . Das Okzitanische dagegen wird in Übereinstimmung mit der Auffassung fast aller Linguisten als Sprache definiert, da es einen großen Teil der für eine Sprache charakteristischen Merkmale besitzt: Es ist Ausdruck einer zumindest ursprünglich vorhandenen ethnischen und kulturellen Einheit, es ist verschriftet (wenn auch noch nicht nach einer allgemein akzeptierten Kodifikation), es besitzt eine anerkannte Literatur, und der sprachkörperliche Abstand zwischen ihm und den Nachbarsprachen ist so groß, daß es nicht als Dialekt etwa des Französischen oder des Kastilischen gelten kann. Was Kommunikationsfunktion und Sprachbewußtsein der Sprecher betrifft, ist die Zuordnung des Okzitanischen zu den Sprachen weniger eindeutig. Durch die Stellung des Französischen wird es in seinem Kommunikationsumfang eingeschränkt. Diese Einschränkungen nehmen ihrerseits Einfluß auf das Bewußtsein der Sprecher und dadurch letztlich auch auf ihre sprachlichen Fähigkeiten 50 . Kremnitz spricht in diesem Zusammenhang vom Okzitanischen als einer «potentiellen historischen Sprache», die «in der Vergangenheit auf dem Weg war, eine den anderen vergleichbare historische Sprache zu werden» 51 . Näheres über die Kommunikationsfunktion des Okzitanischen und das Sprachbewußtsein seiner Sprecher zu ermitteln, war unter anderem Ziel meiner Untersuchung in Lacaune.

47 48 49 50 51

cographie: «Dialecte», Rev. Lang. Rom. 81, 1974, S. 451ff. ; Charles Camproux, Les langues romanes, Paris 1974, S. 72f. ; Oswald Ducrot/Tzvetan Todorov, Dictionnaire encyclopédique des sciences du langage, Paris 1972, S. 80; Cohen, Matériaux. . . I, S. 93; André Martinet, Dialekt (1954), Zur Theorie des Dialekts, S. 84; Fourquet, Langue - Dialecte - Patois, S. 571; Albert Dauzat, Les patois, Paris 1927, S. 30f. ; Lothar Wolf, Zur Definition von «Patois» in Frankreich, Dialekt und Dialektologie, S. 65-71. Kremnitz, Versuche.. ., S. 6. Ebda., S. 7. Siehe z. B. auch Boyer, Métalexicographie:. . ., S. 453. Siehe Pierre Bec, La langue occitane, Paris 3 1973, S. 6. Kremnitz, Das Okzitanische, S. 53. Ebda.. 7

2.

Okzitanien und okzitanische Bewegung ein Überblick unter besonderer Berücksichtigung der Sprache

2.1

Zur Geschichte Okzitaniens und der okzitanischen Sprache52

Das Gebiet der okzitanischen Minderheit 53 deckt sich in ungefähr mit dem südlichen Drittel Frankreichs, umfaßt aber auch italienische Alpentäler im Osten und das zu Spanien gehörende Val d'Aran im Westen. Seine Grenzen sind, wie bereits erwähnt, Sprachgrenzen. Okzitanien wird definiert als Gesamtheit der Regionen, in denen Varietäten der okzitanischen Sprache, der «langue d'oc», gesprochen werden 54 . Das Okzitanische ist eine romanische Sprache, hat sich also, ebenso wie Französisch, Spanisch, Katalanisch, Italienisch usw. aus dem Latein der römischen Besatzer und Siedler entwickelt. Dafür, daß im Laufe dieses Prozesses im Süden der Galloromania eine andere Sprache entstanden ist als im Norden, gibt es verschiedene Begründungen, über deren Stichhaltigkeit in der Romanistik seit langem gestritten wird und auf die hier nicht näher eingegangen werden soll55. Bis zum Hochmittelalter ist die Entwicklung so weit fortgeschritten, daß es auf dem Boden des heutigen Frankreichs zwei große Sprachenkomplexe gibt: die «langue d'oil» oder das Altfranzösische und die «langue d'oc» oder das Altokzitanische. 52

Zu diesem Kapitel siehe besonders Bec, La langue occitane ; Kremnitz, Das Okzitanische ; Robert Lafont, La revendication occitane, Paris 1974 ; ders., Clefs pour l'Occitanie', ders. (Hrsg.), Le Sud et le Nord, Toulouse 1971; Institut d'Etudes Occitanes, Histoire d'Occitanie, Paris 1979; und Jean Larzac (Hrsg.), Le petit livre de l'Occitanie, Paris 2 1972. 53 Zu den Termini «sprachliche, ethnische bzw. nationale Minderheit» siehe Theodor Veiter, The Term «National Minority» and the Definition of «Ethnie Group», Sprachen und Staaten, Bd. II, Hamburg 1976, S. 257-285; Georg Kremnitz, Die ethnischen Minderheiten Frankreichs, Tübingen 2 1977; und ders., Sprachliche Minderheiten . . . 54 Vgl. Lafont, Clefs pour l'Occitanie, S. 11. Zur genauen Darstellung der Grenzen des Okzitanischen siehe Jules Ronjat, Grammaire istorique des parlers provençaux modernes, Bd. I, Montpellier 1930, S. 5ff.; und Bec, La langue occitane, S. lOff. 55 Siehe dazu Bodo Müller, La bi-partition linguistique de la France, Rev. Ling. Rom. 35, 1971, S. 17-30; und Christian Schmitt, Die Sprachlandschaften der Galloromania, Frankfurt am Main 1974.

8

Die Blütezeit der altokzitanischen Literatur setzt ziemlich genau mit dem 12. Jahrhundert ein, dem Zeitpunkt, zu dem der erste Trobador, Wilhelm VII. von Poitiers und IX. von Aquitanien, zu dichten beginnt. Zum erstenmal wird Lyrik im Abendland nicht mehr in Latein, sondern in einer der neuen Volkssprachen, in lenga romana, verfaßt 56 . Auffallend ist dabei die große Einheitlichkeit, die die Sprache der Trobadore von Anfang an zeigt. Dialektale Unterschiede sind minimal und geben keine Aufschlüsse über die Herkunft der Trobadore, die von vornherein die Koine, eine überregionale Ausgleichsprache, annehmen. Diese Koine scheint spontan durch die Nachahmung der Sprache der ersten großen Trobadore entstanden zu sein, beruht also nicht auf der politischen Vorherrschaft eines Dialekts über die anderen 57 . Es existieren zwar bereits verschiedene Dialekte, die im täglichen Umgang gesprochen werden, doch steht ihnen eine einheitliche Literatursprache gegenüber, in gewissem Sinne eine Kunstsprache, die bestimmten poetischen Gattungen vorbehalten ist58. Im 12. Jahrhundert erreicht nicht nur die altokzitanische Literatur ihren Höhepunkt; auch wirtschaftlich stehen die okzitanischen Regionen in voller Blüte. Ihnen fehlt jedoch die politische Einheit: drei mächtige, untereinander rivalisierende Häuser regieren das Gebiet. Die südliche Provence gehört den Grafen von Barcelona, die nördliche ist Teil des großen Territoriums zwischen Dordogne, Garonne und Camargue, das von den Grafen von Saint-Gilles beherrscht wird. An der Spitze Aquitaniens steht der Graf von Poitiers, dem auch die Auvergne unterstellt ist59. In dieser Zeit findet, aus dem Osten kommend, das katharische Gedankengut Eingang in den okzitanischen Raum. Die Sekte der Katharer, die Elemente des Manichäismus und des Christentums vereinigt, fällt im Languedoc auf fruchtbaren Boden. Ihre Anhänger kommen aus allen sozialen Schichten und werden von der übrigen Bevölkerung mehr oder weniger wohlwollend geduldet 60 . Die katholische Kirche, die durch die Häresie ihre Stellung gefährdet sieht, greift bald zu Gegenmaßnahmen. Nach vergeblichen Appellen zur 56

Larzac (Hrsg.), Le petit livre. . ., S. 40. Pierre Bec, Nouvelle anthologie de la lyrique occitane du moyen âge, Paris 1970, S. 7f. Siehe dazu auch Rupprecht Rohr, Untersuchungen über den Ausgangsdialekt der altprovenzalischen Dichtungssprache, Estudis Romànics 13, 1963-1968, S. 245-268. Das Altfranzösische gliedert sich dagegen viel stärker in Dialekte, von denen mehrere literarische Bedeutung erlangten. 58 Bec, La langue occitane, S. 70. 59 Vgl. Robert Lafont, Sur la France, Paris 1968, S. 87; und ders., La revendication. . ., S. 30ff. 60 Emmanuel Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc, Paris 3 1974, S. 35ff. Zur Sekte der Katharer, die im Languedoc aus unbekannten Gründen auch Albigenser genannt wurden, siehe Fernand Niel, Albigeois et Cathares, Paris '1974; René Nelli, Le phénomène cathare, Toulouse 1964; und Michel Roquebert, L'épopée cathare, Toulouse, Bd. I, 1971 ; Bd. II, 1977. 57

9

Umkehr ruft Papst Innozenz III. 1208 zum Kreuzzug gegen die Katharer auf, an dem Ritter aus Burgund, der Ile-de-France und der Normandie teilnehmen. Der ursprüngliche Glaubensfeldzug nimmt bald den Charakter eines Eroberungskrieges an. Aufgrund der Bedrohung von Toulouse kommt es dabei erstmals zu einem überregionalen okzitanischen Widerstand, der durch das Bündnis des Grafen von Toulouse mit dem König von Aragon, Peter II., noch verstärkt wird. Die okzitanisch-katalanische Koalition unterliegt jedoch 1213 in der Schlacht von Muret den Kreuzfahrern 61 . Nach Aufständen der okzitanischen Bevölkerung gegen die Besatzer greift 1226 auch der französische König in die Auseinandersetzungen ein und stellt die Weichen für die Eingliederung okzitanischer Gebiete in das französische Königreich 62 . So fällt 1271 das Languedoc endgültig an die französische Krone, und auch die übrigen Gebiete, in denen die okzitanische Sprache gesprochen wird, werden nach und nach annektiert 63 . Der Albigenserkreuzzug hat die Provinzen des Südens verwüstet und die sozialen Strukturen zerstört. Viele der okzitanischen Adelshäuser sind ruiniert. Das höfische Leben kann nicht mehr wie früher weitergeführt werden. Damit ist auch der okzitanischen Trobadorlyrik die Existenzgrundlage genommen. Die Trobadore ziehen fort - über die Alpen nach Italien und sogar bis nach Deutschland, über die Pyrenäen nach Katalonien oder Galicien. In Okzitanien beginnt für ihre Poesie die Phase der Agonie. Die Zeit der großen poetischen Sprache für das Okzitanische ist vorbei 64 . Auf die anderen Funktionen des Okzitanischen hat die Eroberung dagegen zunächst keinen direkten Einfluß genommen. In der Verwaltung und in der Justiz wird weiterhin okzitanisch geschrieben, und die Bevölkerung kennt im allgemeinen nur diese Sprache. Die neuen sozioökono61

Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc, S. 40ff. ; Philippe Wolff, Le Languedoc royal, in: Ders. (Hrsg.), Histoire du Languedoc, Toulouse 1967, S. 199ff. Vgl. auch Gaston Bonheur, Si le Midi avait voulu. . ., Paris 1972, S. 81ff. 62 Lafont, La revendication. . ., S. 35ff.; Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc, S. 42ff. ; Wolff, Le Languedoc royal, S. 203ff. 63 Bereits 1189 hatten die Engländer dem französischen König die Auvergne abgetreten. 1246 kommt die Provence durch Heiratspolitik unter französische Oberherrschaft. Als 1481 der letzte provenzalische Herrscher ohne Erben stirbt, wird sie endgültig in das französische Königreich eingegliedert. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wird nach und nach auch fast ganz Aquitanien erobert. Das Königreich Navarra kommt zu Frankreich, als 1589 sein König Heinrich III. als Heinrich IV. König von Frankreich wird. Das Comtat Venaissin mit Avignon, das im 13. Jahrhundert den Päpsten überlassen worden war, bleibt bis zur Französischen Revolution römische Provinz, schließt sich dann aber Frankreich an. Nizza schließlich, das im Laufe der Zeit abwechselnd zur Provence, zu Savoyen, zum Piémont oder zu Frankreich gehört hatte, bzw. freie Stadt war, entscheidet sich 1860 in einer Volksabstimmung für die Zugehörigkeit zu Frankreich (vgl. Lafont, La revendication. . ., S. 34ff.; und Larzac (Hrsg.), Le petit livre. . ., S. 12ff.). 64 Bec, La langue occitane, S. 75f.

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mischen Bedingungen wirken jedoch langsam in die entgegengesetzte Richtung. Nach dem politischen Zentrum verlagern sich auch die kulturellen Zentren nach Norden. Der Süden und damit auch die okzitanische Sprache verlieren an Prestige. Man beginnt, nach Norden zu schauen und sich verstärkt an der französischen Sprache zu orientieren. Seit dem 15. Jahrhundert dringen zunehmend Franzismen ins Okzitanische ein, und auch Graphie und Struktur dieser Sprache werden vom Französischen beeinflußt 65 . Das Ende des Hundertjährigen Krieges im Jahre 1453 bringt für die französische Krone eine politische Stabilisierung, die sie nutzt, um ihren Einfluß auf die peripheren Provinzen, der bisher oft nur nominell war, zu verstärken. Die Verwaltung wird zentralisiert, die Herrschaft der Könige festigt sich, der Trend der Monarchie zum Absolutismus ist eindeutig. Damit sind auch die materiellen Voraussetzungen für eine aktive Sprachpolitik gegeben, die im 15. Jahrhundert einsetzt. Diese wendet sich zunächst gegen den Vorrang des Lateinischen im offiziellen Schriftverkehr, fördert aber zugleich die Verbreitung des Französischen 66 . So werden im Laufe des 15. Jahrhunderts die Erlasse der französischen Könige, die den Süden, das Gebiet der «lingua occitana» betreffen, immer häufiger in Französisch statt, wie bisher üblich, in Latein verfaßt 67 . Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts ergehen verschiedene Ordonnanzen, die den Gebrauch des Lateinischen in offiziellen Akten verbieten und stattdessen das Französische oder die Muttersprache des betreffenden Gebietes vorschreiben 68 . Nicht nur gegen das Lateinische, sondern auch gegen das Okzitanische und die anderen Minderheitensprachen Frankreichs wendet sich das Edikt von Villers-Cotterêts, das 1539 unter Franz I. erlassen wurde. Es bestimmt, daß von nun an tous arrests ensemble toutes autres procédures, soient de registres, enquestes, contracts, commissions, sentances, testaments et autres quelconques, actes et exploicts, de justice ou qui en dépendent, soient prononcés, enregistrés et délivrés aux parties en langage maternel françois et non autrement''''.

65

Ebda., S. 76f. Kremnitz, Versuche. . ., S. 100 und 1 tOff. ; und Auguste Brun, Recherches historiques sur l'introduction du français dans les provinces du Midi, Paris 1923, S. 78ff. 67 Brun, Recherches. . ., S. 16. 68 Kremnitz, Versuche. . ., S. 100f. ; Michel Baris, Langue d'oïl contre langue d'oc, Lyon 1978, S. 14ff. 69 Zitiert nach Baris, Langue d'oïl. . ., S. 17. Siehe dazu auch Kremnitz, Versuche. . ., S. 101 ; Brun, Recherches. . ., S. 89ff.; und Robert Lafont, La diglossie en pays occitan, ou le réel occulté, in: Rolf Kloepfer (Hrsg.), Bildung und Ausbildung in der Romania, Bd. II, München 1979, S. 505f.

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11

Die Umstellung der Verwaltung auf das Französische als alleinige Schriftsprache erfolgt sehr rasch. Bereits um 1550 werden in einem Großteil der okzitanischen Gebiete offizielle Schriftstücke ausschließlich auf französisch redigiert. Das Sprachbewußtsein der oberen Schichten, die als einzige lesen und schreiben können, ist durch die allgemeine politische Situation und den Einfluß des Französischen als «königlicher Sprache» anscheinend bereits so geschwächt, daß sie seinem weiteren Eindringen in ihren Sprachraum keinen Widerstand entgegensetzen 70 . Damit ist die Rolle des Okzitanischen als geschriebene Sprache in größerem Umfange beendet, und im Bewußtsein der Sprecher beginnt allmählich sein Abstieg zu einem 71. Die okzitanische Literatur lebt jedoch weiter. Im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert kommt es sogar zu einer regelrechten literarischen Renaissance 72 . Aber ihre Vertreter haben kein gesamtokzitanisches Sprachbewußtsein mehr. Die verschiedenen Dialekte der Langue d'oc treten verstärkt in Erscheinung; die Kodifikation ist nicht mehr autochthon, sondern lehnt sich immer mehr an die Kodifikation des Französischen an, und die Produktion wird nach und nach inhaltlich einseitig 73 . Das 16., das 17. und der Anfang des 18. Jahrhunderts sind in einem großen Teil der okzitanischen Regionen durch Reformation, Gegenreformation und Religionskämpfe gekennzeichnet. Die religiösen Unruhen werden begleitet von sozialen und politischen Krisen, deren Ursachen in den ständig steigenden Steuern und Preisen sowie in der zunehmenden Zentralisierung zu sehen sind 74 . Der letzte große okzitanische Volksaufstand in diesem Zusammenhang ist die Revolte der Camisarden, die 1710 niedergeschlagen wird 75 . Die Revolution von 1789 wird im okzitanischen Raum zunächst vor allem von den «cadres des provinces», Teilen des aufgeklärten, liberalen Adels getragen. In den großen Handelsstädten - besonders in Bordeaux, Nimes und Marseille - entstehen starke girondistische Gruppierungen, die die Unternehmerfreiheiten verteidigen und sich gegen wirtschaftliche Reglementierungen wenden. Sie vertreten eher föderalistische Vorstellungen und verurteilen eine Machtkonzentration im politischen Zentrum Pa70

Kremnitz, Versuche.. ., S. 112ff. Ebda., S. 130 und 114. 72 Siehe Charles Camproux, Histoire de la littérature occitane, Paris 2 1971 (zuerst 1953), S. 83ff. 73 Kremnitz, Versuche. . ., S. 116. 74 Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc, S. 62ff. Siehe dazu auch ders., Les paysans de Languedoc, Paris 1969, besonders S. 169ff. und 303ff. ; und ders., Huguenots contre papistes, in: Wolff (Hrsg.), Histoire du Languedoc, S. 313-353. 75 Lafont. Clefs pour l'Occitanie, S. 109ff.; Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc, S. 81 ff. 76 Lafont, Clefs pour l'Occitanie, S. 116; ders., La revendication. . ., S. 61; Walter Markov/Albert Soboul, 1789. Die Große Revolution der Franzosen, Berlin 3 1977, S. 243ff. 71

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Als nach kurzer Regierungszeit die Girondisten im Mai 1793 von den Montagnards gestürzt werden, kommt es in Okzitanien zum Aufstand, der jedoch bis zum September desselben Jahres von den Truppen des Konvents niedergeschlagen werden kann. Für die Montagnards beweist diese Erhebung die Notwendigkeit, die Zentralisierung voranzutreiben und die Zentralgewalt in Paris zu verstärken. Folge ist die blutige Unterdrückung sämtlicher autonomistischer, föderalistischer und royalistischer Strömungen 77 . Das Französische wird im Verlauf der Revolution immer stärker als Nationalsprache herausgestellt, als Sprache der Freiheit und des Fortschritts, die die Einheit der Republik garantieren soll und der gegenüber alle anderen Sprachen als minderwertige abqualifiziert werden 78 . In der ersten Phase der Revolution ist jedoch die Haltung gegenüber den Minderheitensprachen eine andere. Sie werden ernst genommen, da sie für die Verbreitung der revolutionären Ideen von großer Bedeutung sind. So wird in einem Dekret vom 14.1.1790 die Übersetzung der Gesetze in «tous les idiomes qu'on parle dans les différentes parties de la France» beschlossen 79 . Die Anwendung dieses Dekrets stößt jedoch auf technische Schwierigkeiten: die linguistische Zersplitterung ist groß, für spezielle Gesetzestermini fehlt oft eine genaue Entsprechung, die Minderheitensprachen besitzen z. T. keine einheitliche Kodifikation, der bürokratische Apparat ist dieser Aufgabe nicht gewachsen 80 . Dieser Zweckliberalismus schlägt daher auch schon bald in die bekannte ideologisch begründete Ablehnung der Minderheitensprachen um. Im September 1791 bedauert Talleyrand in einem Bericht vor der verfassungsgebenden Versammlung das Überleben der und kommt zu dem Schluß, daß eine kostenlose, allgemeine Grundschule eingerichtet werden müßte, in der vor allem Französisch unterrichtet wird 81 . Die wachsende Gefahr der Konterrevolution von innen und von außen macht dann die Minderheitensprachen, die ja vor allem in den peripheren Regionen gesprochen werden und die man daher mit den feindlichen ausländischen 77

Lafont, Clefs pour l'Occitanie, S. 116f.; ders., La revendication. . ., S. 62; Marko v/Soboul, 1789. . . , S. 274ff. und 287ff. 78 Siehe dazu Louis-Jean Calvet, Linguistique et colonialisme, Paris 1974, S. 169ff. ; ders., Le colonialisme linguistique en France, Temps Mod. 324-326, 1973, S. 77ff.; Brigitte Schlieben-Lange, Von Babel zur Nationalsprache, Lendemains 4, Juni 1976, S. 31-44; Renée Balibar/Dominique Laporte, Le français national, Paris 1974; und Ferdinand Brunot, Histoire de la langue française des origines à 1900, Bd. IX, 1, Paris 1927. 79 Mathée Giacomo, La politique à propos des langues régionales: cadre historique, Langue française 25, 1975, S. 17, dort zitiert nach Brunot, HLF, Bd. IX, 1, S. 25. 80 Giacomo, La politique. . ., S. 17. Siehe dazu auch Brigitte Schlieben-Lange, Das Übersetzungsbüro Dugas (1791/92), in: Kloepfer (Hrsg.), Bildung..., Bd. II, S. 513-526. 81 Giacomo, La politique. . ., S. 18. 13

Mächten in Verbindung bringt, endgültig verdächtig 82 . Sie werden nun aktiv bekämpft: Im Oktober 1793 beschließt der Konvent die Einrichtung von staatlichen Grundschulen, in denen die Kinder Französisch lernen sollen. Im Januar 1794 wird ein Dekret erlassen, das die Entsendung eines frankophonen Lehrers in jede nicht-französischsprachige Gemeinde anordnet. Diese Maßnahmen erweisen sich in der Praxis als nicht durchführbar, da es einfach nicht genug Lehrkräfte gibt, die Französisch sprechen können - in einigen Regionen kann ein Großteil der Lehramtsanwärter sogar weder lesen noch schreiben 83 . Als schwerwiegende Folge dieser Sprachpolitik bleibt jedoch die unverhohlene Diskriminierung der Minderheitensprachen als Relikte des Ancien Régime, als minderwertige , derer man sich so schnell wie möglich entledigen muß. Die Verbreitung des Französischen wird auch das ganze 19. Jahrhundert hindurch vorangetrieben. Es ist einzige Unterrichtssprache - während des Second Empire wird den Lehrern der Gebrauch der Lokalsprachen in der Schule untersagt 84 . Politisch macht fast der ganze Süden Frankreichs im 19. Jahrhundert eine Wendung nach links mit. Der während der Revolution als royalistisch und konterrevolutionär verschriene «Midi blanc» wird zum republikanischen «Midi rouge». Bei Wahlen erhält die Linke - besonders im Languedoc - immer öfter die Mehrheit 8S . Ein permanenter Krisenherd ist das Weinbaugebiet des Bas-Languedoc und des Roussillon 86 . Durch forcierte Monokultur, Zuckerung und billige Weinimporte aus den Kolonien entsteht dort zu Beginn unseres Jahrhunderts eine ungeheure Überproduktion, die die Absatzbedingungen des okzitanischen Weins und damit die Lebensbedingungen der Weinbauern derart verschlechtert, daß die Bevölkerung mit massiven Protesten reagiert. 1907 kommt es zu Massendemonstrationen nie gekannten Ausmaßes. Die 82

Ebda., S. 19. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Bericht, den der Abbé Grégoire im Juli 1793 dem Konvent über seine Untersuchung zu den abgibt. Aus diesem Bericht, der später noch näher zu erörtern sein wird (siehe Kapitel 3.2.1), geht hervor, daß zur Zeit der Revolution nur ein sehr geringer Prozentsatz der Einwohner Frankreichs Französisch sprechen kann (siehe dazu Calvet, Linguistique. . ., S. 168 und 166; und Michel de Certeau/Dominique Julia/Jacques Revel, Une politique de la langue, Paris 1975, S. 11 f.). 83 Calvet, Linguistique. . . , S. 168f. Siehe dazu auch Christian Schmitt, Sprachengesetzgebung in Frankreich, Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 5, 1977, S. 109; und ebda., Dokumente zur französischen Sprachpolitik, zusammengestellt von Christian Schmitt, S. 118. 84 Giacomo, La politique. . ., S. 20f. 85 Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc, S. 104ff. ; Lafont, La revendication.. ., S. 75ff. 86 Siehe dazu Félix Napo, 1907: La révolte des vignerons, Toulouse 1971; Jaume Bardissa, Cent ans de guerre du vin, Paris 1976; und Pierre Bosc, Le vin de la colère, Paris 1976.

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städtischen Beamten des ganzen Gebietes treten zurück. Die Bevölkerung zahlt keine Steuern mehr. Als Reaktion auf den Aufstand sendet Clemenceau Truppen ins Languedoc, die die Revolte militärisch niederschlagen 87 . Gleichzeitig beginnt eine Ära protektionistischer Agrarpolitik, die, statt die Mißstände mit ihren Wurzeln zu beseitigen, den Forderungen der Bauern mit kleinen Reformen nachgibt. Diese Politik hat bis zur Einbeziehung des südfranzösischen Weins in die EG-Bestimmungen 1970 angedauert 88 . Die Revolte der Weinbauern von 1907 zeichnet sich durch ihren spezifisch okzitanischen Charakter aus. Ihre Sprache ist die Langue d'oc, und auch viele Plakate und Transparente sind auf okzitanisch verfaßt. Sie greifen den Widerspruch zwischen dem weiter entwickelten Norden und dem zurückgebliebenen Süden auf 89 . Denn in dieser Epoche ist Okzitanien bereits ein rückständiger, hauptsächlich landwirtschaftlicher Teil Frankreichs. Der Niedergang der okzitanischen Industrie hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen. Die okzitanische Bourgeoisie, die sich wirtschaftlich Paris angeschlossen hat, investiert im Norden. Sie geht in der «nationalen» französischen Bourgeoisie auf und hat daher nicht das notwendige politische Gewicht, um regionalistische und autonomistische Forderungen durchzusetzen, wie es z. B. die katalanische Bourgeoisie getan hat 90 . Was die okzitanische Sprache betrifft, so wird ihr durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ein harter Schlag versetzt. Alle nicht-französischen Sprachen, also auch das Okzitanische sind weiterhin vom Unterricht ausgeschlossen. Zwar war auch schon vorher das Französische einzige Unterrichtssprache gewesen, doch solange der Schulbesuch freiwillig war und Geld kostete, schickte nur ein kleiner Prozentsatz der Eltern ihre Kinder regelmäßig zur Schule. Die III. Republik braucht jedoch für die Verwaltung in der Hauptstadt und in den Kolonien eine große Zahl von Angestellten, die über ein Minimum an Bildung verfügen und eben die französische Sprache beherrschen müssen. L'école laïque, gratuite et obligatoire, répond à ce but tout en permettant à une partie des enfants du peuple d'accéder à l'instruction et à la culture. Mais en même temps, elle diffuse profondément l'idée que les langues locales doivent être impitoyablement pourchassées comme obstacle à la connaissance du français".

87

Vgl. Napo, 1907. . ., S. 20ff.; Michel Le Bris, Occitanie: Volerti viure!, Paris 1974, S. 13ff. 88 Karin Dietrich, Okzitanien, unveröffentlichte Zulassungsarbeit, Heidelberg 1977, S. 67. 89 Le Bris, Occitanie. . ., S. 25f.; Dietrich, Okzitanien, S. 67, Fußnote 81. 90 Lafont, La revendication. . ., S. 74f. 91 Giacomo, La politique. . ., S. 21. Siehe auch Calvet, Linguistique. . ., S. 173ff.

15

Wer in der Schule okzitanisch spricht, wird bestraft. Er bekommt ein Zeichen, das sogenannte «signe», «signal» oder «symbole», okz. serthal, eine durchlöcherte Münze, eine alte Sandale, eine Kaninchenpfote oder etwas ähnliches - umgehängt, das er nur wieder loswerden kann, wenn er einen Mitschüler beim Patoissprechen erwischt und denunziert. Dann erhält dieser das Zeichen. Wer bei Schulschluß das Zeichen trägt, bekommt noch eine besondere Strafe 92 . Aber die Schüler werden nicht nur ihrer Sprache entfremdet, die Schule vermittelt ihnen auch keinen Bezug zur okzitanischen Geschichte, Kultur und Tradition - im Unterricht wird nur die Geschichte des zentralistischen Frankreich behandelt 93 . Außerdem haftet dem Okzitanischen immer mehr der Ruch des Zurückgebliebenen an. Wer spricht, macht sich lächerlich, ist dumm und ungebildet. Jeglicher sozialer Aufstieg ist mit der Kenntnis des Französischen verbunden. Wer nur okzitanisch spricht, ist vom sozialen Leben außerhalb der Familie weitgehend ausgeschlossen 94 . Die allgemeine Wehrpflicht sowie die modernen Massenmedien, Zeitung, Film, Rundfunk und Fernsehen, die fast ausschließlich französischsprachig sind, tun ein übriges für die Verbreitung dieser Sprache in den okzitanischen Gebieten. Das Okzitanische dagegen wird immer stärker verdrängt. Dieser Prozeß spielt sich auf mehreren Ebenen ab: 1. territorial - der Gebrauch des Okzitanischen geht vor allem in den großen Städten zurück, weniger in den kleinen Orten und auf dem Lande; 2. sozial - die oberen und mittleren Schichten gebrauchen das Okzitanische immer weniger, es hält sich dagegen bei Bauern, Arbeitern und Handwerkern; 3. funktionell - das Okzitanische wird immer mehr aus offiziellen Bereichen ausgeschlossen und auf den familiensprachlichen Gebrauch reduziert 95 . Das Okzitanische wird jedoch nicht einfach durch Standardfranzösisch ersetzt, sondern die Sprecher übertragen bestimmte Züge ihrer alten Sprache auf die neu zu erlernende Sprache. Bedingt durch das okzitanische Substrat hat sich so eine weitere Varietät herausgebildet, das Regionalfranzösisch des Midi, «français d'oc» oder «francitan». Vom «français Standard» unterscheidet es sich hauptsächlich durch die Aussprache (den sogenannten «accent du Midi», der bekanntlich mehr als nur den «Akzent» umfaßt), ist aber auch in Lexik und Syntax dem Okzitanischen bisweilen 92

Baris, Langue d'oïl. . S. 45f.; Claude Marti, Homme d'oc, Paris 1975, S. 254; Calvet, Linguistique. . ., S. 175. 93 Kremnitz, Versuche. . ., S. 351 f. 94 Ebda., S. 351. 95 Schlieben-Lange, Okzitanisch. . ., S. 43ff.

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näher als dem Französischen. Um dieses Regionalfranzösisch, das keine einheitliche Varietät darstellt, sondern eine Vielfalt von Abstufungen zwischen Standardfranzösisch und Okzitanisch umfaßt, handelt es sich im allgemeinen, wenn die okzitanische Bevölkerung französisch spricht 96 .

2.2

Entstehung und Entwicklung der okzitanischen Bewegung 97

Die Verschüttung der okzitanischen Geschichte und Kultur und die Zurückdrängung der okzitanischen Sprache werden jedoch nicht widerstandslos hingenommen. Eine politische okzitanische Bewegung kristallisiert sich zwar erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts heraus, ihre kulturellen Vorläufer aber reichen bis ins beginnende 19. Jahrhundert zurück. Im Zuge der Romantik beschäftigen sich vor allem südfranzösische Dichter und Gelehrte mit der mittelalterlichen Geschichte und Literatur. Historiker wie Augustin Thierry, Fauriel und vor allem Mary-Lafon schreiben die Geschichte Okzitaniens neu; der Albigenserkreuzzug und seine Folgen für die okzitanische Kultur werden bearbeitet 98 . Es erscheinen altokzitanische Anthologien und Glossare 99 . Ausländische Gelehrte wie z. B. Friedrich Diez beschäftigen sich mit dem Okzitanischen aus sprachwissenschaftlicher Sicht und weisen ihm einen Platz unter den romanischen Sprachen zu 100 . Für die Versuche einer Neukodifikation des Okzitanischen sind die 96

Siehe dazu Jean Mazel, Français standard et Français d'Oc, Cahiers du G.R.D.F.O. 2, 1975, S. 17-44; Yves Couderc, A propos du /rancitan, ebda. 3, 1976, S. 1-17; ders., Le francitan et la question linguistique, ebda., S. 18-24; und Alain Nouvel, Le Français parlé en Occitanie, Montpellier 1978. 97 Siehe zu diesem Kapitel z. B. Kremnitz, Das Okzitanische, S. 70ff. ; Le Bris, Occitanie. ..; Atelier occitan Peire d'Auvernha, L'Occitanisme qu'es aquo?, Nîmes 1973; und Verein zur Förderung der deutsch-okzitanischen Freundschaft e. V., Das Faß ist voll, Neu-Isenburg 4 1980. 98 Lafont, La revendication. . ., S. 104ff. 1827 erschienen in Paris die Lettres sur l'Histoire de France von Augustin Thierry. 1836 folgt von Claude Charles Fauriel die Histoire de la Gaule méridionale sous la domination des conquérants Germains', 1837 gibt er in seiner Collection des documents inédits sur l'Histoire de la France den Text der «Chanson de la Croisade» heraus. 1842 bis 1845 veröffentlicht Jean Bernard Mary-Lafon seine Histoire politique, religieuse et littéraire du Midi de ta France depuis les temps les plus reculés jusqu'à nos jours. Siehe dazu auch Emile Ripert, La renaissance provençale (1800-1860), Paris-Aix 1918, Neudruck Marseille 1978. 99 Bec, La langue occitane, S. 93 f. Siehe z. B. Henri Pascal de Rochegude, Le parnasse occitanien, ou choix de poésies originales des Troubadours, Toulouse 1819; ders., Essai d'un glossaire occitanien pour servir à l'intelligence des troubadours, Toulouse 1819; François Juste Marie Raynouard (Hrsg.), Choix des poésies originales des Troubadours, 6 Bde., Paris 1816-1821 ; und ders., Lexique roman ou Dictionnaire de la langue des Troubadours, 6 Bde., Paris 1838-1844. 100 Camproux, Les langues romanes, S. 22ff. Siehe z. B. Friedrich Diez, Grammatik der romanischen Sprachen, 3 Bde., Bonn 1836-1843. 17

Werke von Fabre d'Olivet und das provenzalisch-französische Wörterbuch von Honnorat wichtig 101 . Zugleich beginnt auch in der Literatur eine Renaissance. Im Gefolge von Lamartine entsteht in Okzitanien die Bewegung der «poètes-ouvriers», kleiner Leute aus dem Volk, die sich Arbeiterdichter nennen, obwohl die meisten von ihnen Handwerker sind. Sie schreiben sowohl in Okzitanisch als auch in Französisch' 02 . Neben ihnen gibt es noch eine «bürgerlich-ästhetische» Bewegung, deren Aktivität sich aber größtenteils auf die Übersetzung klassischer Autoren wie Ovid und Horaz ins Okzitanische beschränkt 103 . Die okzitanische Renaissance ist also bereits im Gang, als sich im Mai 1854 sieben junge provenzalische Dichter zu einem Bund zusammenschließen, «pour poser sérieusement, et pour la première fois, les fondements d'une véritable restauration de la langue et de la littérature provençales» 104 . Sie nennen sich «Félibres», und ihre Organisation, der «Félibrige», wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur wichtigsten Verkörperung der okzitanischen Bewegung - eine Organisation, die ihre eigenen Gesetze und Riten hat, eine eigene Zeitschrift (Armana Provençau) herausgibt, eine eigene Kodifikation des Provenzalischen erstellt und deren Ideologie von Religiosität und Mystizismus geprägt ist105. Die Félibres wollen für das okzitanische Volk schreiben und seine kulturelle Emanzipation fördern. Dadurch, daß sie sich vorwiegend in höheren poetischen Sphären bewegen, isolieren sie sich jedoch vom Volk. Mit ihren Bauernepen und Schäferdramen erreichen sie nur die Bourgeoisie 106 . Diese allerdings liest sie mit Begeisterung - aber nicht so sehr im Süden als vielmehr in Paris und nicht im Original, sondern in der französischen Übersetzung 107 . Der bekannteste Vertreter des Félibrige, Frédéric Mistral (1830-1914), erhält 1904 den Nobelpreis für sein episches Gedicht Mirèio (veröffentlicht 1859) Der Nobelpreis für ein Werk in okzitanischer Sprache! Für ein Werk, das der Bevölkerung, die diese Sprache spricht, nicht nur mehr oder weniger unbekannt, sondern auch fremd bleibt, weil der Bezug zu ihrer Gegenwart und mündlichen Literatur fehlt; ein Werk, geschrieben in einer Sprache, die an keiner Schule unterrichtet wird108. 101

Kremnitz, Versuche. . ., S. 141ff. und 153ff. Siehe Antoine Fabre d'Olivet, Le troubadour. Poésies occitaniques du XIIIe siècle, 2 Bde., Paris 1803-04; und Simon-Jude Honnorat, Dictionnaire provençal-français ou dictionnaire de la langue d'oc, ancienne et moderne, 2 Bde., Digne 1846-48, Neudruck Marseille 1971. 102 Bec, La langue occitane, S. 95f.; Lafont, La revendication. . ., S. 70f. 103 Bec, La langue occitane, S. 96f. 104 Ebda., S. 99. 105 Ebda.; und Lafont, Clefs pour l'Occitanie, S. 131 f f. 106 Gaston Bazalgues, Les organisations occitanes, Temps Mod. 324-326, 1973, S. 142. 107 Lafont, Clefs pour l'Occitanie, S. 138; und ders., La revendication. . ., S. 74. 108 Lothar Wolf, Sprachlich-kulturelle Minderheiten in Frankreich. Das Beispiel Okzitanien, Politische Studien 230, 1976, S. 587. 18

Mistral, der in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts noch fortschrittliche Ideen von einem modernen republikanischen Föderalismus hatte 109 , macht - ebenso wie der ganze Félibrige - in den folgenden Jahren vor allem unter dem Einfluß von Charles Maurras eine deutliche Rechtsentwicklung mit, die bis zu monarchistischen Ansichten geht" 0 . 1907 verweigert er dem Aufstand der Weinbauern seine offene Unterstützung 1 ". Während des Zweiten Weltkriegs unterstützt der Félibrige die Kollaborationspolitik Pétains und wird seinerseits von diesem gefördert" 2 . Diese Politik bringt die aufstrebende okzitanische Bewegung allgemein in Mißkredit und macht es den Befürwortern des Zentralismus leicht, Forderungen nach Sprachautonomie usw. als Forderungen der Reaktion abzustempeln" 3 . Heute gibt es den Félibrige immer noch, vor allem in der Provence. Er versteht sich als vorwiegend literarischer Zirkel und hat sich in einen engen Provinzialismus zurückgezogen 114 . Der übrigen okzitanischen Bewegung steht er feindlich gegenüber" 5 . Bleibendes Verdienst Mistrals und des Félibrige ist die Belebung des Sprachbewußtseins in der Provence 116 . Auch international haben sie als Propagandisten des Okzitanischen eine große Rolle gespielt 117 . Zu den besonderen Leistungen Mistrals gehört die Erstellung eines monumentalen Wörterbuchs, des Tresor dôu Felibrige (1878ff.), der bis heute bei der Beschäftigung mit dem Okzitanischen ein unentbehrliches Arbeitsinstrument darstellt 118 . Die von Roumanille und Mistral geschaffene Kodifikation ist ein wichtiger Versuch, dem Okzitanischen eine Schriftsprache zu geben. Ihre zu enge Grundlage - sie basiert auf dem Unterrhonischen, das in Mistrals Heimatstadt Maillane gesprochen wird - hat jedoch ihre Verbreitung über die Provence hinaus verhindert" 9 . In den übrigen Regionen Okzitaniens befaßt man sich daher seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts mit anderen Kodifikationsmöglichkeiten für die Langue d'oc120. Auf die Graphie der Trobadore zurückgreifend, leistet der Abbé Joseph Roux wichtige Vorarbeit für die Kodifikation der beiden Volksschullehrer Perbosc und Estieu, die diese im Rahmen der 10

' Lafont, Clefs pour l'Occitanie, S. 120. Bazalgues, Les organisations. . ., S. 142. Lafont, Clefs pour l'Occitanie, S. 129. 112 Siehe René Nelli, Histoire du Languedoc, Paris 1974, S. 303. 1.3 Kremnitz, Die ethnischen Minderheiten. . ., S. 35. 1.4 Bazalgues, Les organisations. . ., S. 142f. 115 Siehe dazu auch Louis Bayle, Procès de l'occitanisme, Toulon 1975. 116 Kremnitz, Die ethnischen Minderheiten. . ., S. 35. 117 Kremnitz, Versuche. . ., S. 196. " 8 Bec, La langue occitane, S. 104. 1,9 Kremnitz, Versuche..., S. 193. Zur «graphie mistralienne» siehe S. 165-200. 120 Ebda., S. 200ff. 110

ebda.,

19

1919 von ihnen gegründeten Escola Occitana propagieren und die auch in der ab 1923 erscheinenden Zeitschrift Oc angewandt wird 121 . Kernpunkt dieser Kodifikation ist der weitgehende Rückgriff auf die etymologische Schreibung jedes Wortes, wodurch sich phonetische Differenzen zwischen den einzelnen Dialekten überbrücken lassen und die Morphologie durchsichtiger wird. Sie knüpft so an die große Zeit der okzitanischen Literatur und ihre für ganz Okzitanien verbindliche Norm an. Grundlage dieser «graphie occitane» ist das Languedokische, der zentralste und konservativste Dialekt des Okzitanischen 122 . Sie respektiert aber auch die anderen Dialekte und begünstigt die Verständigung zwischen ihnen 123 . Nach dem Vorbild des Institut d'Estudis Catalans in Barcelona wird 1930 in Toulouse die Societat d'Estudis Occitans gegründet. Sie will das Okzitanische zu einer modernen Verkehrssprache mit durchgehender Kodifikation ausbauen und die Verbreitung von Büchern in dieser Sprache fördern 124 . Ihre bedeutendste Leistung ist die Herausgabe der Grammatik von Louis Alibert, die auch zugleich einen neuen Beitrag zur Kodifikation darstellt 125 . Alibert, Schüler des großen katalanischen Kodifikators Pompeu Fabra, vervollkommnet die okzitanische Graphie nach dem katalanischen Beispiel und trägt so mit dazu bei, que les Occitans disposent aujourd'hui d'un instrument linguistique absolument adéquat à l'expression poétique, philosophique et scientifique, en même temps que parfaitement adapté à tous les besoins d'une langue véhiculaire 126 .

Zur gleichen Zeit kommen wichtige Anstöße für einen politischen Okzitanismus von der Zeitschrift Occitania, die in den 30er Jahren von Charles Camproux herausgegeben wird. Camproux baut auf den Thesen Proudhons auf und strebt «einen pazifistischen, katholischen, antikapitalistischen und antifaschistischen Autonomismus innerhalb eines reformierten Frankreich» an 127 . Der durch den Zweiten Weltkrieg und die Libération verstärkte französische Patriotismus macht die Fortsetzung der Föderalismusdiskussion zunächst jedoch unmöglich. 121

Bazalgues, Les organisations. . ., S. 143f. Siehe dazu Kremnitz, Versuche..., S. 200-211. 123 Bazalgues, Les organisations. . ., S. 144. 124 Kremnitz, Versuche. . ., S. 215. 125 Lo'is Alibert, Gramatica occitana segön los parlars lengadocians, Tolosa 1935. 126 Bec, La langue occitane, S. 111. Das heißt jedoch nicht, daß das Okzitanische von nun an ausschließlich in der «graphie occitane» geschrieben würde. Vor allem in der Provence gibt es noch zahlreiche Vertreter der «graphie mistralienne», und auch lokale Graphien, sogenannte «graphies patoisantes», in denen die okzitanischen Laute uneinheitlich nach französischen Orthographieregeln notiert werden, sind weiterhin in Gebrauch. Siehe dazu Kremnitz, Versuche. . ., S. 260 und 292ff.; ders., Zum augenblicklichen Stand der Kodifikationsdiskussion im Okzitanischen, Kloepfer (Hrsg.), Bildung..., Bd. II, S. 540-552; und Glanville Price, The Problem of Modern Literary Occitan, Arch. Ling. 16, 1964, S. 34-53. 127 Kremnitz, Versuche. . ., S. 369. 122

20

Weitergeführt werden dagegen die Versuche, dem Okzitanischen und den anderen Minderheitensprachen Frankreichs einen Platz in der Schule zu verschaffen 128 . 1947 legen kommunistische Abgeordnete dem Parlament die ersten Gesetzesentwürfe für die Erteilung von Baskisch-, Bretonisch- und Katalanischunterricht vor. Dazu kommt später das Okzitanische. Doch erst 1951 wird ein entsprechendes Gesetz, die sogenannte «Loi Deixonne», verabschiedet 129 . Sie gewährt bis zu einer Wochenstunde freiwilligen Unterrichts in den genannten Sprachen an Volksschulen, Gymnasien und Lehrerbildungsanstalten und fordert die Lehrer auf, den Schülern die regionalen Kulturen nahezubringen. Außerdem wird für das Abitur eine Zusatzprüfung in einer der Minderheitensprachen ermöglicht; die darin erreichten Punkte werden jedoch für das Bestehen des gesamten Abiturs nicht mitgewertet. An den Universitäten sollen im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten Lehrstühle für regionale Studien (Sprache, Literatur, Ethnographie, Geschichte) eingerichtet werden 130 . Das Gesetz, das für den französischen Staat das größtmögliche Zugeständnis darstellte, erfüllte nicht einmal die Minimalforderungen der Okzitanisten. Seine Folgen waren zunächst gering, denn es fehlte an Lehrkräften und Büchern, und oft sperrten sich auch die Behörden und Schulverwaltungen gegen die Durchführung der Vorschriften 131 . Inzwischen hat es einige Verbesserungen gegeben 132 , und immer mehr Schüler nehmen am Unterricht in den Minderheitensprachen teil133. Die Zahl der möglichen Wochenstunden ist geringfügig erhöht worden (je nach Schulart bis zu drei Stunden), doch wurde für die meisten Kurse eine Mindestteilnehmerzahl von zehn Schülern vorgeschrieben 134 . Auch behindern administrative Schikanen das Gesetz weiterhin und erschweren seine optimale Anwendung. So ist der Unterricht immer noch vor allem auf die höheren Schulen beschränkt; in den Volksschulen gibt es kaum Möglichkeiten, Okzitanisch zu lernen 135 . 128

Zu den Versuchen dieser Art während der III. Republik siehe Giacomo, La politique. . ., S. 21 f. 129 Giacomo, La politique. . ., S. 22f. ; Calvet, Linguistique. . S. 182f. 130 Kremnitz, Versuche. . ., S. 374, siehe dort auch den Text des Gesetzes S. 436f.; Giacomo, La politique. . ., S. 23. 131 Kremnitz, Versuche. . S. 374f. 132 Seit 1970 werden in der Abiturprüfung in den Minderheitensprachen überdurchschnittlich gute Ergebnisse (über 10 Punkte) für das ganze Abitur mitgewertet. Seit 1974 gilt die Loi Deixonne auch für das Korsische (siehe Giacomo, La politique. . S. 26; und La loi Deixonne et ses applications, Le Monde de l'éducation 20: Le réveil des langues régionales, September 1976, S. 4). 133 Zum zahlenmäßigen Erfolg der Einführung des Okzitanischen an den Schulen siehe Kremnitz, Versuche. . ., S. 379ff.; und Alain Nouvel, L'occitan, langue de civilisation européene, Montpellier 1977. 134 La loi Deixonne. . S. 4. 135 Kremnitz, Die ethnischen Minderheiten. . ., S. 51. Zum Okzitanischunterricht siehe auch Henri Giordan, L'enseignement de l'occitan, Langue française 25, 1975, S. 84-103.

21

Für die Vertreter der ethnischen Minderheiten ist die augenblickliche Praxis noch bei weitem ungenügend, und das Komitee «Défense et Promotion des langues de France» sowie andere Organisationen setzen sich weiterhin für eine stärkere Berücksichtigung der Sprachen und Kulturen der Minderheiten an den Schulen und Universitäten ein 136 . Zu diesen Organisationen gehört auch das 1945 von namhaften Schriftstellern wie René Nelli, Tristan Tzara und Max Rouquette gegründete Institut d'Etudes Occitanes (I.E.O.), das sich als eine vorwiegend kulturelle und sprachpflegerische Einrichtung versteht. Es wurde von Beginn an von inneren Widersprüchen gezeichnet, die sich aus den verschiedenen Tendenzen der okzitanischen Bewegung vor und während des Krieges erklären und die zu einer permanenten Kontroverse über das Selbstverständnis der Gruppe führten: Widerspruch zwischen dem alten Nationalismus des Félibrige und dem aufblühenden französischen Nationalismus, zwischen proudhonistischem Gedankengut und Marxismus, zwischen einem rein kulturellen Okzitanismus und der Einbeziehung sozioökonomischer und administrativer Gesichtspunkte 137 . Trotz dieser Widersprüche hat das I. E. O. bisher einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung okzitanischen Bewußtseins geleistet. Es hat die Geschichte Okzitaniens aufgearbeitet, gibt okzitanischsprachige Literatur und Lehrbücher heraus, veranstaltet Sprachkurse und Sommerschulen. 1977 leitete es eine Kampagne zur Anerkennung des Okzitanischen als Nationalsprache ein 138 . Eine politische okzitanische Organisation ist der 1959 von François Fontan gegründete Parti Nationaliste Occitan (PNO). Aufbauend auf Fontans Definition der Ethnie allein nach dem Kriterium der Sprache fordert der PNO eine Neuaufteilung Europas nach Sprachen und damit auch einen autonomen okzitanischen Staat, in dem das Okzitanische einzige offizielle Sprache sein soll139. Ansonsten ist das theoretische Programm des PNO wenig kohärent. Es enthält Elemente des Marxismus-Leninismus, der Sexuallehren Reichs und des Ethnismus Fontans. Züge der extremen Linken mischen sich mit Forderungen der äußersten Rechten. Die Bedeutung dieser nur sehr wenige Mitglieder zählenden Partei ist äußerst gering, ihre Existenz zwingt jedoch anderen okzitanischen Gruppen die Auseinandersetzung mit politischem Okzitanismus und Nationalismus auf 140 . 136

Kremnitz, Die ethnischen Minderheiten. . ., S. 51. Siehe dazu auch Joan Dorandeau, A propos des langues régionales, Les dossiers de l'histoire 4, 1976, S. 132-135. 131 Lafont, La revendication. . ., S. 255ff.; Bazalgues, Les organisations. . ., S. 146f. 138 Siehe dazu die Broschüre des Institut d'Etudes Occitanes, Lettre ouverte sur l'occitan langue nationale, Toulouse 1977. 139 Bazalgues, Les organisations. . ., S. 147f. Siehe auch François Fontan, La Nation occitane, ses frontières, ses régions, Bagnols-sur-Cèze 1969; und ders., Orientation politique du nationalisme occitan, Bagnols 1970. 140 Kremnitz, Versuche. . ., S. 252 und 412; und Bazalgues, Les organisations. . ., S. 148f.

22

1961/62 finden im Kohlenbecken von Decazeville im Rouergue große Streiks gegen die geplante Schließung der Bergwerke statt. Die Aktionen der Bergarbeiter bleiben zwar ohne Erfolg, doch kommt es zum erstenmal zu einer starken regionalen Solidarität im languedokischen Raum, gegen die sich das Desinteresse des Nordens, z. B. der nordfranzösischen Minen, deutlich abhebt. Auch materielle Unterstützung erhalten die Bergleute fast ausschließlich von der okzitanischen Bevölkerung 141 . Vielen Okzitanisten wird durch diesen Streik die spezifische ökonomische Situation Okzitaniens bewußt. Er veranlaßt sie, sich verstärkt mit der aktuellen Politik zu beschäftigen, und stellt so einen Wendepunkt in der Geschichte der okzitanischen Bewegung dar 142 . Erste Konsequenz dieses neuen politischen Bewußtseins ist die Gründung des Comité Occitan d'Etudes et d'Action (COEA) Anfang 1962. Die neue Organisation versteht sich als « - B ein rein fiktives idealisierendes S c h e m a B > A gegenübergestellt. Im emotionalen Bereich erfährt B eine Aufwertung, während A abgewertet wird 2 0 6 . So läßt sich die sozial niedrige Stellung des Okzitanischen durch seine Verbrämung als Sprache der Mutter, des Blutes, des « t e r r o i r » u. ä., oberflächlich gesehen, ausgleichen. Das Okzitanische sei die « n a t ü r l i c h e » Sprache, das Französische demgegenüber künstlich und kalt. Diese Flucht in die «Natürlichkeit» bedeutet zugleich eine A b l e h n u n g jeglicher Kodifizierungsund Normalisierungsbestrebungen. Die dialektalen Unterschiede werden besonders hervorgehoben und verteidigt, wodurch wiederum der Auffassung Vorschub geleistet wird, das Okzitanische sei gar keine Sprache, sondern nur eine Vielzahl ganz verschiedener 207. Sogar die Selbstverspottung kann als Mittel dienen, durch das der wirkliche K o n f l i k t zwischen den Sprachen entschärft wird. Eine solche F u n k t i o n haben bestimmte okzitanische Zeitungschroniken, Theaterstücke und G e s c h i c h t e n , die in der Tradition der b e r ü h m t e n G a s k o n n a d e n stehen und die nordfranzösischen Vorurteile den Südfranzosen gegenüber - faul, d u m m , aber verschlagen und angeberisch - vollständig ü b e r n e h m e n 2 0 8 . Seit in Südfrankreich eine französisch-okzitanische

Diglossiesituation

besteht, hat das Okzitanische i m m e r m e h r Boden an das Französische verloren und viele seiner F u n k t i o n e n eingebüßt. W i e aus dem folgenden Überblick über Untersuchungen zur R o l l e des Okzitanischen in den letzten 200 J a h r e n ersichtlich wird, läßt sich eine eindeutige T e n d e n z in Richtung Substitution - Ersetzung des Okzitanischen durch das Französische aufzeigen. O b noch eine U m k e h r u n g dieser T e n d e n z in R i c h t u n g auf die andere Auflösungsmöglichkeit einer Diglossiesituation - die «Normalisierung» des Okzitanischen - e r r e i c h b a r ist, kann hier nicht vorausgesagt werden. Bestrebungen dazu bestehen. Inwieweit sie Erfolg haben werden, hängt wohl vor allem von dem E i n f l u ß ab, der auf das Bewußtsein - in diesem

Fall das Sprachbewußtsein

-

der okzitanischen

Bevölkerung

ausgeübt werden kann.

posició determinada entre eis distints idiomes» (ebda., S. 55). Siehe auch Couderc, D'après Ninyoles. . ., S. 5. 206 Ninyoles, Idioma. . ., S. 68ff.; Couderc, D'après Ninyoles. . ., S. 5f. 207 Couderc, D'après Ninyoles. . ., S. 6f. 208 Ebda., S. 7. 35

3.2

Das Okzitanische: Untersuchungen, Schätzungen, Meinungen - ein Überblick über Veröffentlichungen der letzten 200 Jahre209

Die bisherigen Untersuchungen zum Okzitanischen lassen sich nach ihren verschiedenen Ausrichtungen aufgliedern. Zum einen interessierte und interessiert immer wieder die Zahl der Okzitanischsprecher. Da in Frankreich keine offiziellen Sprachstatistiken geführt werden, ist man in dieser Frage auf Schätzungen angewiesen, die oft sehr stark voneinander abweichen. Den anderen großen Untersuchungsbereich bilden die Fallstudien, in denen die sprachliche Situation eines Dorfes, einer Stadt, einer Region o. ä. erforscht wird. Während es früher meist darum ging, einen bestimmten Dialekt des Okzitanischen in sich möglichst genau zu beschreiben, interessieren heute mehr und mehr die soziologischen Faktoren der Sprachverwendung, vor allem der Konflikt zwischen Französisch und Okzitanisch. Zu einem dritten Bereich können die autobiographischen Berichte von Okzitanischsprechern zusammengefaßt werden, in denen diese oft exemplarisch die Rolle der beiden Sprachen in ihrem Leben und die daraus entstehenden Konflikte für sich und ihre Umwelt darstellen.

3.2.1

Die Zahl der Okzitanischsprecher

Die Frage nach der Zahl der Okzitanischsprecher steht, wie erwähnt, schon lange im Zentrum des Interesses. Während man heute wissen will, wieviele der in Südfrankreich lebenden Menschen (noch) Okzitanisch sprechen, stellte sich dieses Problem früher eher umgekehrt: Man wollte in Erfahrung bringen, wieviele Einwohner des betroffenen Gebietes des Französischen mächtig waren. Für die Zeit vor der Französischen Revolution gibt es wenig genaue Auskünfte über die Verbreitung der beiden Sprachen. Zwar ist seit dem Edikt von Villers-Cotterets (1539) Französisch für offizielle schriftliche Texte vorgesehen, woraus geschlossen werden darf, daß gebildete, des Schreibens kundige Menschen auch Französisch können, aber das Okzitanische bleibt die einzige Sprache der großen Masse der Analphabeten 210 , und auch für weite Teile der oberen Gesellschaftsschichten ist Französisch noch lange eine Fremdsprache. Aufschlußreich sind in diesem Zu209

Vgl. zu diesem Kapitel auch die Überblicke in Kremnitz, Das S. 11 ff. und 55ff. 2,0 Siehe Brun, Recherches. . S. 428.

36

Okzitanische,

sammenhang die Berichte von Reisenden (z. B. La Fontaine, Racine), die vergeblich versuchten, sich in Südfrankreich zu verständigen 2 ". Es läßt sich jedoch ein langsames, aber kontinuierliches Eindringen des Französischen vor allem in die oberen Schichten feststellen 212 . Die erste Untersuchung zur sprachlichen Situation in Frankreich ist die Enquête des Abbé Grégoire von 1790213. Um Genaueres über die Verbreitung des Französischen, die Existenz von , deren linguistische Beschreibung, ihre Ausdehnung, ihre eventuelle Verschriftung, ihre Rolle in der Kirche etc. zu erfahren, verschickt Grégoire einen umfangreichen Fragenkatalog und veröffentlicht ihn in zwei Zeitschriften 214 . In den Jahren 1790 bis 1792 erhält er 49 Antworten auf seine Umfrage. Davon stammen allein 17 aus dem Gebiet der Langue d'oc, woraus geschlossen werden kann, daß Sprachprobleme hier eine besondere Rolle spielen 215 . Die wichtigsten Ergebnisse seiner Untersuchung faßt Grégoire 1794 in einem Bericht vor dem Nationalkonvent zusammen, den er bezeichnenderweise «rapport sur la nécessité et les moyens d'anéantir les patois et d'universaliser l'usage de la langue française» nennt 216 : Danach kann man, ohne zu übertreiben, versichern, qu'au moins six millions de Français, surtout dans les campagnes, ignorent la langue nationale; qu'un nombre égal est à peu près incapable de soutenir une conversation suivie; qu'en dernier résultat, le nombre de ceux qui la parlent n'excède pas trois millions, et probablement le nombre de ceux qui l'écrivent correctement encore moindre 217 .

Französisch ist also die Sprache einer nationalen Minderheit: fünf Jahre nach der Revolution sind nur ca. drei der 27 Millionen Franzosen in der Lage, sich ihrer angemessen zu bedienen. Von den damals ca. sechs Millionen Okzitanischsprechern dürfte kaum mehr als eine halbe Million das Französische beherrscht haben 218 . Der Französisierungsprozeß, der bereits vor der Revolution eingesetzt hatte, läuft nun jedoch verstärkt weiter 219 . Auch die Untersuchung von Charles-Etienne Coquebert de Montbret aus den Jahren 1806-12 ist von der Idee inspiriert, daß die dem 2.1

Siehe Brunot, HLF, Bd. V, Paris 1917, S. 44-49. Siehe ebda., Bd. VII, Paris 2 1947, S. 301ff. 213 Siehe zu dieser Enquête vor allem Certeau u. a., Une politique. . .. 214 Ebda., S. 22ff. Der vollständige Fragenkatalog ist S. 12ff abgedruckt. 215 Ebda., S. 28. 2.6 Dieser Bericht ist a.a.O., S. 300ff. vollständig abgedruckt. 2.7 Ebda., S. 302. Nach Louis-Jean Calvet sind diese Zahlen vermutlich noch durch übergroßen Optimismus verfälscht, da die Untersuchung in den Départements großenteils von frankophonen Funktionären durchgeführt wurde, deren Methoden wahrscheinlich einiges zu wünschen übrig ließen (Calvet, Le colonialisme. . ., S. 75). 218 Jörn Gruber, Zur Geschichte der occitanischen Sprache und ihrer Sprecher, in: Sprachen und Staaten, Bd. I, S. 143f. 219 Siehe dazu Brunot, HLF, Bd. IX,1, S. 407ff. 2.2

37

Fortschritt im Wege seien und verschwinden müßten 220 . Das Interesse dieser Studie ist dennoch eher als sprachwissenschaftlich zu bezeichnen, denn Coquebert will die verschiedenen Sprachen und Dialekte und ihre Grenzen besser kennenlernen und analysieren, um damit der allgemeinen Grammatik, der Sprachgeschichte, der Etymologie, der Geschichte der Völkerwanderungen und der Geographie nützlich zu sein221. In seiner Funktion als Direktor des Bureau de Statistique und unter der Obhut des Innenministeriums wendet er sich an Präfekten und Unterpräfekten des Empire mit der Bitte, das Gleichnis vom verlorenen Sohn in die entsprechenden Regionalidiome zu übersetzen bzw. übersetzen zu lassen. Außerdem fordert er sie auf, die Sprach- bzw. Dialektgrenzen in ihrem Département aufzuzeigen222. Mit Hilfe des erhaltenen Materials fertigt Coquebert Karten an, die die geographische Ausdehnung der verschiedenen in Frankreich gesprochenen Sprachen und Dialekte wiedergeben. Während auf diesen Karten die Linie, die Französisch und Okzitanisch voneinander trennt, vermerkt ist223, fehlt das Okzitanische in den von Coquebert aufgrund dieser Karten berechneten Sprecherzahlen («Relevé général de la population de l'empire (français) selon les différentes langues que parlent ses habitons, énoncé en nombres ronds et sans y comprendre les militaires»)22*. Die Okzitanischsprecher sind anscheinend alle unter die 27 926 000 Sprecher der «langue française» subsumiert worden; Italienisch (4 079 000), Deutsch (2 705 000), Flämisch (2 277 000), Bretonisch (967 000) und Baskisch (108 000) erscheinen dagegen gesondert, so daß sich eine Gesamtbevölkerungszahl von 38 062 000 ergibt225. Die verschiedenen Varietäten des Okzitanischen werden folglich von Coquebert als Dialekte des Französischen aufgefaßt. Aus dieser Auffassung läßt sich jedoch keinesfalls schließen, daß die Bewohner Südfrankreichs zu dieser Zeit bereits alle frankophon gewesen seien. Ganz im Gegenteil : die Zahl der französischsprechenden Okzitanen ist weiterhin gering, wie auch die Enquête des Ministers für Schulwesen, Victor Duruy, aus dem Jahre 1864 zeigt. In einem Fragebogen zur Statistik des Grundschulunterrichts, der an die Départementsprâfekten verschickt wurde, hatte Duruy unter anderem nach den «idiomes et patois en usage» gefragt: in wievielen Schulen der Unterricht ganz oder teilweise in stattfinde, wieviele Kinder noch kein Französisch könnten, was dagegen 220

Siehe Sever Pop, La Dialectologie, Bd. 1, Louvain et Gembloux 1950, S. 25 f. Siehe Brunot, HLF, Bd. IX, 1, S. 528. 222 Siehe ebda., S. 525ff. ; und Pop, La Dialectologie, Bd. 1, S. 19ff. Eine Antwort auf Coqueberts Umfrage stellt Hans-Erich Keller in seinem Aufsatz L'Enquête de Coquebert de Montbret dans la Lozère dar (Mélanges de philologie romane offerts à Charles Camproux, Bd. 2, Montpellier 1978, S. 939-960). 223 Pop, La Dialectologie, Bd. 1, S. 25. 224 Brunot, HLF, Bd. IX, 1, S. 598. 225 Ebda..

221

38

zu unternehmen sei u. ä. 226 . Aufgrund der Antworten, die noch erschöpfend auszuwerten wären, wurden Karten erstellt, die den Prozentsatz der Bevölkerung, der 1864 nicht Französisch sprach, und den der Kinder von 7 bis 13 Jahren, die das Französische weder sprechen noch schreiben konnten, wiedergeben. Sie zeugen sowohl von der Stärke des Widerstandes gegen die sprachliche Vereinheitlichung als auch von der destruktiven Rolle der Schule gegenüber den Dialekten 2 2 7 .

Prozentsatz der Bevölkerung, der 1864 nicht Französisch sprach (nach Certeau u. a., Une politique. . ., S. 271) 226 227

Siehe dazu Certeau u. a., Une politique. . ., S. 270. Ebda.. Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Schätzungen, die Claude Duneton zur Zahl der Französischsprecher um die Jahrhundertwende aufstellt: danach dürften 1896 nur ca. 14 Millionen der 39 Millionen Einwohner Frankreichs frankophon gewesen sein. Subtrahiere man davon noch die Sprecher «authentischer Patois» und das Proletariat der Städte, das auch nicht am Hochfranzösischen teilhatte, so blieben nur einige hunderttausend Menschen hauptsächlich das Bürgertum der Städte - die das «wahre» Französisch sprachen (Claude Duneton, Parier croquant, Paris 1973, S. 26f.). 39

über 50% Prozentsatz der Kinder von 7 bis 13 Jahren, die das Französische weder sprechen noch schreiben konnten (nach Certeau u. a., Une pohtique. . ., S. 272)

Außer diesen drei besprochenen Untersuchungen zur Verbreitung des Französischen, die aufgrund der angewandten Verfahren kaum als wissenschaftlich zu bezeichnen sind, gibt es nur Schätzungen zur Zahl der Okzitanischsprecher in Vergangenheit und Gegenwart. Diese beruhen entweder auf persönlichen Erfahrungen und Eindrücken der Forscher oder werden von ihnen aus mehr oder weniger glaubwürdigen Quellen übernommen 228 . So ist es üblich, linguistischen Abhandlungen über die , die Dialekte, das Okzitanische/Provenzalische, die romanischen Sprachen o. ä. einen Abschnitt über die Verbreitung der besprochenen Varietäten voran- oder nachzusetzen. Wenig aufschlußreich ist in dieser Hinsicht der Atlas Linguistique de la France129, der um die Jahrhundertwende erstellt wurde. Er bringt kaum 228

Eine Übersicht über deutsche Buchpublikationen, die sich mit allgemein kulturellen, literarischen und soziolinguistischen Problemen der neueren Okzitanistik befassen, liefert Tilbert Stegmann, Deutsche Publikationen (1900-1975) auf dem Gebiet der neueren Okzitanistik, Rom. Forsch. 87, 1975, S. 679-692. 229 Jules Gillieron/Edmond Edmont, Atlas Linguistique de la France, Bd. 1 ff., Paris 1902ff.

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soziolinguistische Angaben und praktisch nichts zur allgemeinen Verbreitung der untersuchten ; allerdings werden die Städte in den Untersuchungen ausgespart, da die dort bereits verschwunden seien 230 Joseph Anglade spricht in den Vorbemerkungen zu seiner 1921 erschienenen Grammaire de l'ancien provençal ou ancienne langue d'oc von 12 oder 14 Millionen Franzosen, die zu seiner Zeit einen der zahlreichen und untereinander sehr verschiedenen Dialekte der Langue d'oc sprächen 231 . Diese Schätzung scheint zu hochgegriffen, denn nach den Berechnungen von L. Tesnière, die auf den Ergebnissen der Volkszählung von 1926 beruhen, belief sich die Bevölkerung der Regionen, in denen «patois de type méridional» gesprochen werden, damals nur auf annähernd 10,5 Millionen Menschen 232 . Das sagt jedoch laut Tesnière aus, daß die Zahl derer, die Okzitanisch sprechen (Tesnière gebraucht den Terminus «parlers provençaux»), unter zehn Millionen liegt. Genauere Aussagen seien aufgrund fehlender Sprachstatistiken nicht möglich. Viele Menschen in den betreffenden Gebieten sprächen nur Französisch, und die Abstufungen zwischen reinem und reinem Französisch seien zahlreich 233 . Da die Sprachgrenze zwischen Okzitanisch und Französisch nicht eindeutig auszumachen ist, gibt es auch hinsichtlich der Einwohnerzahl der okzitanischen Regionen Unstimmigkeiten. Jules Ronjat geht in seiner 1930 erschienenen Grammaire istorique des parlers provençaux modernes von 9 500 000 Bewohnern der okzitanischsprachigen Gebiete aus. Um zur Zahl der Okzitanischsprecher zu gelangen, müsse man einen Teil der Bevölkerung der großen Städte und in geringerem Maße auch der kleinen Städte, der den «langage naturel» aufgegeben hat, abziehen und außerdem die Fremden, die nordfranzösischen Beamten usw. ausklammern. Andererseits kämen aber viele Provenzalischsprecher aus Nordfrankreich, den französischen Kolonien und dem Ausland dazu: On ne risque pas de commettre une erreur importante en évaluant à dix millions environ le nombre de gens qui parlent notre langue (pour neuf environ ce peut être la langue la plus usuelle), soit à peu près le quart de la population de la France (.. ,)234

Die Annahme, daß ca. zehn Millionen Menschen Okzitanisch sprechen, ist auch 20 Jahre später noch aktuell. So wird sie z. B. von Sever Pop in seinem Werk über die Dialektologie (erschienen 1950) aufgegriffen 235 . Bei 230

Siehe dazu Pop, La Dialectologie, Bd. 1, S. 123ff. Joseph Anglade, Grammaire de l'ancien provençal ou ancienne langue d'oc, Paris 1921, Nachdruck Paris 1977, S. 5. 232 Antoine Meillet, Les langues dans l'Europe nouvelle avec un appendice de L. Tesnière sur la statistique des langues de l'Europe, Paris 1928, S. 386f. 233 Ebda., S. 387f. 234 Ronjat, Grammaire. . ., Bd. 1, S. 26. 235 Pop, La Dialectologie, Bd. 1, S. 281. Pop greift explizit auf Ronjat und Brun zurück. 231

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Meillet/Cohen ist ungefähr zur gleichen Zeit von 9 500 000 Okzitanischsprechern die Rede 236 . Zu Beginn der fünfziger Jahre plante das I. E. O. eine umfassende Untersuchung zum «état actuel de la langue d'oc». Zu diesem Zweck wurde ein umfangreicher Fragebogen erstellt, mit dessen Hilfe in jeder Gemeinde Südfrankreichs der Bevölkerungsteil ermittelt werden sollte, der die okzitanische Sprache verwendet - aufgeschlüsselt nach Geschlecht, Alter und Grad der Sprachbeherrschung. Außerdem wollte man die Position des Okzitanischen in der Gesellschaft untersuchen, die Einstellung der verschiedenen Berufsgruppen zur Langue d'oc, den Einfluß von Touristen und Zugereisten aus anderen Gegenden, die Rolle von Radio, Theater, Kino usw.. Der zweite Teil des Fragebogens sollte ermitteln, wodurch sowohl auf kultureller als auch auf sozioökonomischer Ebene die Sprachbewahrung bzw. der Sprachwandel gefördert wird 237 . Aber die Untersuchung wurde nie durchgeführt. Es fehlte an den notwendigen Mitteln, und: «Sembla que los quites occitanistas ajan agut paur que l'enquista desviste una situacion que serviga d'argument contra eles» 238 . Es bleibt also weiterhin bei Schätzungen, Vermutungen, Tendenzangaben. Dabei mehren sich in den folgenden Jahren die Hinweise auf den Rückgang des Okzitanischen, vor allem in den Städten. So stellen z. B. nach Bodo Müller die großen Zentren des Midi weiße Flecken im provenzalischen Sprachraum dar, da sie zum praktisch alleinigen Gebrauch des Französischen übergegangen seien, während sich diese Sprache in den kleinen Orten und Dörfern des Languedoc und der Gaskogne erst langsam durchsetze 239 . Verhängnisvoll habe sich die Vorliebe der Frauen für das Französische ausgewirkt, da sie so die Sprache des Nordens an die Kinder weitergäben und nicht ihre eigentliche Muttersprache 240 . Als sprachbewahrend erweise sich dagegen das Anliegen der Kirche, die Traditionen zu hüten und die Landbevölkerung direkt, nämlich in ihrer eigenen Sprache, anzusprechen 241 . Bernard Pottier schätzt in seiner 1968 erschienenen Abhandlung zur sprachlichen Situation in ganz Frankreich 242 die Zahl derer, die Okzita236

Antoine Meillet/Marcel Cohen (Hrsgg.), Les langues du monde, Paris 1952, S. 49. Questionnaire sur l'état actuel de la langue d'Oc, An. Inst. Et. Occ. 11, 1952, S. 39-41. Siehe dazu auch den programmatischen Artikel von Robert Lafont, Remarques sur les conditions d'une étude rationnelle du comportement linguistique des Occitans, ebda., S. 41 -45. 238 Jôrdi Blanc/Ives Codèrc, Per un estudi del comportament linguistic dels Occitans, Obradors 2, 1973, S. 39. 239 Bodo Müller, Das Provenzalische in neuerer Zeit - Ein Überblick über die Entwicklung der sprachlichen Situation in Südfrankreich, N. Spr. 1964, S. 420. 240 Ebda., S. 421. 241 Ebda., S. 424f. 242 Bernard Pottier, La situation linguistique en France, in: André Martinet (Hrsg.), Le Langage, Paris 1968, S. 1144-1161.

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nisch sprechen können, auf sieben bis acht Millionen, weist aber zugleich auf die allgemeine Tendenz zur Französisierung, besonders in den mittelgroßen Städten (in den großen ist sie bereits vollzogen) und entlang wichtiger Verkehrswege hin243. Die Zweisprachigkeit werde durch viele verschiedene Faktoren charakterisiert, wodurch Zahlenangaben erschwert würden. Ob Sprecher sich des «parier local» bedienten, hänge von der Sprechsituation, der geographischen Lage und der Größe ihres Wohnortes, ihrer «classe sociale», ihrem Alter und ihrem Geschlecht ab244. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt Johannes Klare in seinem Aufsatz Der Bilinguismus in Südfrankreich2*5. Was die Zahl der Okzitanischsprecher betrifft, so führt er an, daß diese mit Sicherheit kleiner sei als die oft erwähnten zehn bis zwölf Millionen. Es sei jedoch schwierig, Schätzungen vorzunehmen, da die meisten Sprecher zwei Sprachsysteme zur Verfügung hätten, die sie abwechselnd je nach Milieu verwendeten, wodurch eine komplexe Situation entstünde246. Die heute außerhalb der großen Städte noch vorherrschende französisch-okzitanische Zweisprachigkeit sei im Begriff, sich langsam zugunsten einer französischen Einsprachigkeit aufzulösen247. Hans-Erich Keller sieht 1970 bereits die Zeit kommen, in der der Sprachwissenschaftler gezwungen sein werde, sich anderen lebenden Sprachen zuzuwenden, da das Okzitanische dann nur noch unter dem Gesichtspunkt der Spracharchäologie und der Literatur interessieren werde248. Auch Brigitte Schlieben-Lange weist 1970 in einem Vortrag zum Sprachbewußtsein der Okzitanen 249 darauf hin, daß die Occitania weit davon entfernt sei, ein geschlossenes Sprachgebiet zu bilden. Im allgemeinen müsse man von den großen Städten, den Industriezentren und einigen breiten Einflußzonen des Französischen, wie dem Rhönetal, absehen, und auch dort, wo die Mundarten noch lebendig seien, gebe es keine okzitanische Einsprachigkeit mehr, vielmehr könnten alle Okzitanischsprecher auch Französisch. Gewisse Bereiche seien völlig dem Französischen vorbehalten. Das gelte vor allem für Schule, Massenmedien, Politik, Wissenschaft - praktisch für die gesamte Teilnahme am öffentlichen Leben250. 243

Ebda., S. 1155. Ebda., S. 1148ff. 245 Johannes Klare, Der Bilinguismus in Südfrankreich, Wiss. Z. Humboldt-Univ. 18, 1969, S. 707-717. 246 Ebda., S. 713. 247 Ebda., S. 717. 248 Hans-Erich Keller, La linguistique occitane aujourd'hui et demain, Rev. Ling. Rom. 34, 1970, S. 278. 249 Brigitte Schlieben-Lange, La conscience linguistique des Occitans, Rev. Ling. Rom. 35, 1971, S. 298-303; bzw. Das sprachliche Selbstverständnis der Okzitanen im Vergleich mit der Situation des Katalanischen, in: Interlinguistica, Tübingen 1971, S. 174-179. 250 Schlieben-Lange, Das sprachliche Selbstverständnis. . ., S. 175. Ähnlich, nur ausführlicher behandelt Schlieben-Lange diese Thematik in ihrem Buch Okzitanisch und Katalanisch, Tübingen 21973 (zuerst 1971), S. 43ff. 244

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In dem ebenfalls 1970 von Manfred Straka herausgegebenen Handbuch der europäischen Volksgruppen werden die Vertreter der Langue d'oc in Frankreich nicht als Volksgruppe bzw. ethnische Minderheit aufgefaßt251. Auf Strakas Übersichtsskizze der Wohngebiete europäischer Volksgruppen erscheinen jedoch die in Italien (Piémont) lebenden Okzitanen, und ihre Zahl wird auf 100 000 beziffert 252 . In mehreren Arbeiten zur Minderheitenproblematik ist diese Karte insofern verfälscht wiedergegeben, als die Beschriftung «Okzitanen 100 000» weit nach Frankreich hineingerutscht ist, so daß sie zu der Annahme verleitet, die Gesamtzahl aller Okzitanen beliefe sich auf 100 000, was wohl die geringste Schätzung in diesem Zusammenhang sein dürfte 253 . Eine differenzierte Betrachtung des «usage de l'occitan», auf die auch in späteren Behandlungen des Themas häufig zurückgegriffen wird, veröffentlichte Robert Lafont 1971 in seinem Buch Clefs pour l'Occitanie254. Seine Aussagen, die sich in Ermangelung einer großen Enquête auf «divers sondages et évaluations raisonnables» berufen 255 , basieren auf der Aufteilung der okzitanischen Sprachgemeinschaft in fünf verschiedene Kategorien von Sprechern256: Die erste Kategorie wird von den «usagers » den eigentlichen oder habituellen Sprechern einer Varietät des Okzitanischen, gebildet, die sich des Französischen nur außerhalb der Familie bedienen. Die zweite Kategorie, die «usagers partiels», die gelegentlichen oder okkasionellen Sprecher, verfügen über gute Okzitanischkenntnisse, machen jedoch nur gelegentlich davon Gebrauch. Zur dritten Kategorie gehören die «usagers éventuels» oder potentiellen Sprecher, die zwar nur Regionalfranzösisch sprechen, das Okzitanische aber gut verstehen und unter Umständen auf Aufforderung hin auch anwenden können. Die beiden letzten Kategorien bestehen aus Nicht-Sprechern, von denen die «post-usagers» noch ein artikulatorisches und morphosyntaktisches Substrat des Okzitanischen besitzen und die Sprache mit einem Minimum an Anstrengung verstehen, während die «non-usagers» z. T. sogar dieses Substrat verloren haben. Die Anzahl der habituellen Sprecher der Kategorie 1 dürfte laut Lafont ungefähr ein bis zwei Millionen ausmachen, die ersten drei Kategorien 251

Manfred Straka (Hrsg.), Handbuch der europäischen Volksgruppen, Wien-Stuttgart 1970, S. 3. 252 D e m Buch lose beiliegendes Faltblatt. 253 Siehe z. B. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (Hrsg.), Nationale Minderheiten in Westeuropa, Bonn 1975, S. 48f.; Tintenfisch 10: Thema: Regionalismus, Berlin 1976, S. 2. 254 Lafont, Clefs pour l'Occitanie, Paris 2 1977, S. 54ff. 255 Ebda., S. 57. 256 Ebda., S. 56.

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zusammen ca. acht Millionen 2 5 7 . N o c h sei offen, wie sich die bestehende Situation auflösen werde: ou bien la reconquête réussira ( . . . ) et l'on peut espérer qu'un bilinguisme conscient remplace la diglossie douloureuse et honteuse; ou bien le français parachèvera sa victoire niveleuse, et la culture d'Oc comme l'occitanophonie ne seront plus que l'affaire de cercles nostalgiques258. D i e modernen Mittel zur Verbreitung rein französischsprachiger Kultur (Kino, Radio, Fernsehen) seien jedoch im Begriff, das Okzitanische auch noch aus den letzten Winkeln zu verdrängen: «La lutte du français contre l'occitan est près de s'achever par la victoire totale du premier» 2 5 9 . Die Lafontschen Zahlen übernimmt Sergio Salvi in seinem Buch Le nazioni proibite (erschienen 1973) 260 . In seiner eigenen Übersicht zu Beginn des Okzitanienkapitels läßt er jedoch nur die «usagers » als Okzitanischsprecher gelten, die nach ihm zehn Prozent der 11 850 000 Einwohner Okzitaniens ausmachen 2 6 1 . Okzitanisch werde in dialektaler Form von einer Minderheit aus alten Leuten und Bauern, in seiner I. E. O.-Standardform von einer Minderheit aus jungen Leuten und Okzitanisten gesprochen. In Städten mit mehr als 20 000 Einwohnern sei der Gebrauch des Okzitanischen gänzlich geschwunden, auf d e m Lande und in den Bergen werde es dagegen noch im Hause und auf dem Markt benutzt 262 . Sehr differenziert und ausführlich wird die gegenwärtige Verbreitung des Okzitanischen in Georg Kremnitz' Dissertation Versuche zur Kodifizierung des Okzitanischen und ihre Annahme durch die Sprecher (erschienen 1974) behandelt 263 . 257

Ebda., S. 56f. Siehe dazu auch Kremnitz, Versuche. . ., S. 358f.; und Gruber, Zur Geschichte. . ., S. 150f. Solche Zahlenangaben sind jedoch laut Lafont leblos, da sie die Konfliktsituation, in der sich das okzitanische Bewußtsein befindet und die von dem Willen zur Rettung und Rückgewinnung genährt wird, nicht in Betracht ziehen (ebda., S. 57). 258 Ebda., S. 58. 259 Robert Lafont, Deux types ethniques, in: Ders. (Hrsg.), Le Sud.. ., Toulouse 1971, S. 119. Ähnliche Zahlen wie 1971 gibt Lafont allerdings auch noch 1977 in seiner Antwort auf einen Fragenkatalog der Zeitschrift Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) zur sprachpolitischen Situation in Okzitanien: «On estime actuellement à 12 millions les habitants des régions occitanes. Sur cet ensemble il n'y a plus guère que 2 millions pour qui un dialecte d'oc est la langue constante. Mais environ 6 millions sont des usagers éventuels et 2 millions sont en possession d'un français hybride (Jrancitan) qui leur permettrait de revenir facilement à l'occitan. Ces chiffres sont approximatifs, aucune enquête n'ayant jamais été faite en France sur l'usage linguistique» (Robert Lafont, Occitanie/langue occitane. Réponse au questionnaire, OBST 5, 1977, S. 136f., Fragenkatalog ebda., S. 8-10). 260 Sergio Salvi, Le nazioni proibite, Firenze 1973, S. 473. 261 Ebda., S. 456; siehe auch S. 473. 262 Ebda., S. 473. 263 Kremnitz, Versuche. . S. 327-361. 45

In seinen Betrachtungen, die aufgrund fehlenden Zahlenmaterials nur ungefähre Angaben enthalten, unterscheidet er zwischen Sprachkenntnis und aktivem Sprachgebrauch und weist darauf hin, daß die Kenntnis der Sprache erheblich weiter verbreitet sei als ihr aktiver Gebrauch. Sie hänge von einer ganzen Anzahl von Umständen ab, die sich in objektive (Geschlecht, Lebensalter, soziale und geographische Herkunft, Verkehrslage und Sprachzugehörigkeit der Eltern) und subjektive Faktoren (Bildungsniveau, Beruf - Klassenzugehörigkeit, Seßhaftigkeitsgrad, Größe und geographische Lage des Wohnortes und politische Anschauungen) gliedern ließen 264 . Die von Kremnitz im Rückgriff auf andere Untersuchungen und eigene Beobachtung ermittelten Einflüsse dieser Faktoren auf Sprachkenntnis und Sprachverhalten der okzitanischen Bevölkerung sollen hier kurz zusammengefaßt werden, da sie ähnlich in anderen Arbeiten immer wieder angeführt werden. Was die Geschlechtszugehörigkeit betrifft, so gibt es nicht nur weniger Okzitanischsprecherinnen als -Sprecher; hinzu kommt, daß die weiblichen Sprachkenner die Sprache kaum verwenden, was nach Kremnitz mit der unvollständigen Emanzipation der Frau und daher mangelndem Selbstbewußtsein bei der Anwendung einer verpönten Sprache zusammenhängen dürfte 265 . Je früher jemand geboren wurde, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er mit dem Okzitanischen vertraut ist. Für die Mehrzahl der nach 1945 Geborenen ist das Okzitanische nicht mehr die Muttersprache, sondern die zweite Sprache, die erst allmählich gelernt wird 266 . In bezug auf die Zusammenhänge zwischen Spracherlernung und sozialer Herkunft steht ein weitgehend «desokzitanisiertes» Bürgertum einer agrarischen Bevölkerung gegenüber, die dem Okzitanischen noch immer am stärksten verhaftet ist, und zwar um so mehr, je ländlicher der Charakter eines Gebietes ist und je kleiner die Siedlungen sind. Zwischen diesen beiden Polen sind die übrigen Bevölkerungsschichten anzusiedeln. Dabei stehen die kleinen Gewerbetreibenden und Handwerker in ihrem Sprachverhalten im allgemeinen der bäuerlichen Bevölkerung näher als die Industriearbeiterschaft, die besonders in den großen Städten kaum noch eine Beziehung zum Okzitanischen hat. Ein zwiespältiges Bild liefern hier die Intellektuellen, die auf der einen Seite begonnen haben, ein okzitanisches Bewußtsein zu entwickeln, auf der anderen Seite aber die völlige Assimilation an die französische Sprache und Kultur vorantreiben 267 . 264

Ebda., S. 329f. Ebda., S. 331. Siehe hierzu auch Christine Bierbach/Claudia Hartmann, Zur Debatte um Regionalismus und sprachliche Minderheiten - Ein Forschungsbericht, Lendemains 17/18, Juni 1980, S. 25f. 266 Kremnitz, Versuche.. S. 332. 265

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Die geographische Verbreitung des Okzitanischen läßt sich durch die folgende Tendenz charakterisieren: « j e weniger zugänglich und j e weniger entwickelt ein Gebiet ist, desto größer ist sein Anteil an Okzitanischsprechern, desto eher wird die Sprache von denen, die sie beherrschen, wirklich verwendet» 268 . Groß- und Mittelstädte sind fast völlig desokzitanisiert. In den Kleinstädten finden sich noch okzitanische Elemente, aber die «Hochburgen» des gesprochenen Okzitanisch sind die drei großen Gebirgsräume (Alpen, Pyrenäen, Zentralmassiv) mit ihren schwach besiedelten, oft nur schwer zugänglichen, wirtschaftlich zurückgebliebenen kleinen Ortschaften, sowie andere abgelegene und unerschlossene Gebiete 269 . Liegt ein Ort in der Nähe einer großen Verkehrslinie und wird diese noch dazu häufig von den Bewohnern benutzt, so wirkt sich dieser Faktor negativ auf den Fortbestand des Okzitanischen in diesem Ort aus 270 . Die Sprachzugehörigkeit der Eltern ist wichtig für die Weitergabe der Sprache an die Kinder. Können nicht beide Eltern Okzitanisch sprechen, so sinken die Chancen, daß die Kinder die Sprache von ihnen lernen. Entscheidend sind aber größtenteils die Großeltern, über die die meisten jüngeren Okzitanischsprecher Kontakt zu dieser Sprache bekommen haben 271 . Unter den subjektiven Faktoren, die das Sprachverhalten der okzitanischen Bevölkerung mitbestimmen, spielt das Bildungsniveau eine große Rolle. Ein niedriger Bildungsgrad läßt vor allem auf dem Lande im allgemeinen gute Okzitanischkenntnisse erwarten. Vertreter des mittleren Bildungsstandes lehnen die Sprache häufig ab; wenn sie sie beherrschen, sprechen sie sie nicht. Die Haltung der sogenannten gebildeten Schichten ist zwiespältig. Besonders die Lehrer haben sich sowohl durch ihren Kampf gegen die als auch durch eine Bewegung zugunsten des Okzitanischen hervorgetan 272 . Ähnlich wie das Bildungsniveau beeinflussen Beruf bzw. Klassenzugehörigkeit die Einstellung zum Okzitanischen. Es wird von den Gruppen abgelehnt, die einem extremen sozialen Aufstiegsdruck unterliegen und daher zu Konformismus neigen. In den Oberklassen dagegen ist häufig eine sentimentale Zuneigung zum Okzitanischen zu finden 2 7 3 . Wohnortwechsel von Okzitanischsprechern wirkt sich meist ungünstig auf die Sprache aus, da durch die Entfremdung von der gewohnten Umwelt im allgemeinen die entscheidende Motivierung zu ihrer Verwendung verloren geht 274 . 267 268 269 270 271 272 273 274

Ebda., Ebda., Ebda., Ebda., Ebda., Ebda., Ebda., Ebda.,

S. S. S. S. S. S. S. S.

333f. 337. 334f. 337. 337f. 338f. 339. 340.

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Was für die geographische Lage des Geburtsortes gesagt wurde, gilt auch für die Größe, geographische Lage und Verkehrslage des Wohnortes" 5 . Uber die Zusammenhänge zwischen politischen Anschauungen und Okzitanischkenntnissen bzw. sprachlichem Verhalten ist wenig bekannt. Während die Parteien der linken Mitte aufgrund ihrer jakobinischen Tradition den Minderheitensprachen früher eher kritisch gegenüberstanden, war die Verbindung zwischen dem Felibrige und der Rechten eng. Dieses eindeutige Bild zeigt jedoch seit einiger Zeit Modifizierungen. Außerdem hat sich inzwischen ein Spektrum okzitanischer politischer Auffassungen gebildet, die im Rahmen eigener politischer Gruppierungen zum Wiedererstarken der okzitanischen Sprache und Kultur beitragen könnten 276 Unter Heranziehung der hier aufgeführten Faktoren lassen sich laut Kremnitz Aussagen über die Wahrscheinlichkeit machen, mit der jemand die okzitanische Sprache beherrscht, erst in zweiter Linie darüber, ob er sie auch wirklich verwendet277. Außerdem weist Kremnitz auf die Rolle hin, die der Komplex Bilinguismus-Diglossie für die heutige Situation des Okzitanischen spielt 278 . Die Langue d'oc ist eine Sprache, die in bestimmten Situationen von bestimmten Gruppen für bestimmte Themen verwandt wird279. Die Zahl der bewußten Sprecher, die versuchen, den Gebrauch des Okzitanischen auf alle Lebensbereiche auszudehnen, nimmt jedoch zu. Entscheidend für das Weiterleben des Okzitanischen ist, ob es rechtzeitig gelingen wird, das Sprachbewußtsein der primären oder «naiven» Sprecher dahingehend zu beeinflussen, daß sie wieder zum vollen Gebrauch der Sprache übergehen 280 . Was konkrete Zahlen zum Okzitanischen betrifft, so ist es nach Kremnitz am klügsten, den vielen Schätzungen keine neuen hinzuzufügen, sondern sich mit den Annäherungen Lafonts (ca. acht Millionen) und Pottiers (sieben bis acht Millionen) zu begnügen, allerdings in dem Bewußtsein, daß Sprachkenntnis und Sprachgebrauch oft nicht parallel gehen. Lafonts Aufgliederung der Okzitanischsprecher in fünf Gruppen wird von Kremnitz übernommen 281 . Ebda.. Ebda., S. 340ff. 277 Ebda., S. 342. 278 Ebda., S. 342ff. 279 Ebda., S. 343f. 280 Ebda., S. 345f. und 358. 281 Ebda., S. 358f. Sieben bis acht Millionen Okzitanischsprecher, «zu denen noch zahlreiche oder Sprecher zu zählen wären», gibt Kremnitz auch in Die ethnischen Minderheiten Frankreichs (Tübingen 1975, 2 1977, S. 14) an. In seinem 1975 geschriebenen Aufsatz Katalanisch und Okzitanisch - Elemente zu einem Vergleich ihrer Lage fehlen Zahlen. Es wird nur darauf hinge275

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Sehr kritisch setzt sich Jörn Gruber in seinem Aufsatz Zur Geschichte der occitanischen Sprache und ihrer Sprecher (erschienen 1976) mit den Schätzungen zur Zahl der Okzitanischsprecher - besonders denen von Salvi und Kremnitz - auseinander 282 . Auch er akzeptiert die Lafontschen Sprecherkategorien, meint aber, daß die Zahlenangaben Lafonts von Salvi zu eng und von Kremnitz zu weit ausgelegt würden. Lafont habe von einer «residuellen» Sprachgemeinschaft gesprochen, was nicht, wie bei Kremnitz wiedergegeben, sieben bis acht Millionen Sprecher bedeute. Eine solche Zahl sei illusorisch 283 . Andererseits dürfe man jedoch auch nicht - wie Salvi - die okkasionellen Sprecher («usagers partiels») unterschlagen, die in bestimmten Kommunikationssituationen regelmäßig auf das Okzitanische zurückgreifen. Diese bilden nach Gruber zusammen mit den eigentlichen Sprechern, den «usagers », die Gruppe der tatsächlichen, spontanen Okzitanischsprecher, und ihre Zahl dürfte nach ihm drei bis vier Millionen kaum überschreiten (ein bis zwei Millionen in jeder der beiden Kategorien). Die Zahl der potentiellen Sprecher schätzt Gruber auf knapp eine Million, da nicht jeder, der eine Sprache verstehe, deshalb auch bereits ein aktives Sprachvermögen besäße. Auch hält er es für illusorisch, anzunehmen, daß zwei Drittel der Bevölkerung Okzitaniens die autochthone Sprache verstünden, da in den großen Städten nicht oder kaum okzitanisch gesprochen werde und damit dort nicht einmal Gelegenheit zum passiven Erlernen der Sprache bestehe 284 . Spontane und nicht-spontane Sprecher zusammenfassend, kommt Gruber in seinen Schätzungen auf maximal fünf Millionen Okzitanischsprecher - eine Zahl, die er weiterhin schrumpfen sieht, falls sich die französische Sprachpolitik nicht bald grundlegend ändern sollte285. wiesen, daß die Zahl der Sprecher und der Anwendungsbereich der Sprache sich in diesem Jahrhundert gewaltig verringert hätten, erstere wohl im Augenblick nicht mehr abnähme, die Bedingungen für eine Rückgewinnung von Sprechern in größerem Umfang jedoch nicht vorhanden seien (S. 167 und 180f.). Von virtuell zwölf Millionen Okzitanen spricht Kremnitz in Sprachliche Minderheiten. Das Beispiel der Romania (1977, S. 30), erklärt jedoch in einer Anmerkung, daß es sich bei den Zahlen um reine Übersichts- und Näherungswerte handele, die längst nicht in jedem Falle belegbar seien (Anm. 9, S. 42). In seinem Buch Das Okzitanische (erschienen 1981) stellt Kremnitz schließlich dar, daß es derzeit praktisch unmöglich sei, «eine auch nur annähernd genaue Zahl der Okzitanischsprecher anzugeben, zumal man zunächst den Begriff des Okzitanischsprechers definieren müßte» (S. 11 f.). Dazu sei es sinnvoll, zwischen primären (oder naiven) und sekundären Sprechern zu unterscheiden. Während erstere das Okzitanische aus einer subjektiven Notwendigkeit heraus verwendeten, hätten letztere sich bewußt für diese Sprache entschieden. Die Zahl der primären Sprecher habe stark abgenommen, die der sekundären sei seit einiger Zeit im Steigen begriffen (S. 14f.). 282 Gruber, Zur Geschichte. . S. 150ff. 283 Ebda., S. 151 f. 284 Ebda.. S. 153f.

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Es gibt jedoch auch weiterhin optimistische Einschätzungen der okzitanischen Sprachsituation, die ebenfalls auf die Angaben Lafonts zurückgehen. Bei Mondner/Barlet beruht diese aber eher auf einer ungenauen Wiedergabe Lafonts. In ihrem Buch Südfrankreich/Occitanien? (erschienen 1978) führen sie an, daß laut Lafont ein bis zwei Millionen Menschen daheim und in der Familie okzitanisch sprechen und zwölf Millionen zumindest ein Verständnis von der Sprache haben - was auch immer darunter zu verstehen ist 286 . In J. P. Baldits Occitanie (erschienen 1978) ist die geschätzte Zahl der Okzitanischsprecher o h n e Angabe von Verfahrenskriterien oder Quellen nach den einzelnen Kategorien Lafonts aufgeschlüsselt. Danach gäbe es ca. 1,5 Millionen «usagers coutumiers», 2,5 bis 3,5 Millionen «usagers partiels», 3 bis 4,5 Millionen «usagers éventuels» und 4 bis 6 Millionen «post-usagers» und «non-usagers». Alles in allem könne man die Zahl der Menschen, die fließend Okzitanisch sprechen, oberhalb der Fünf-Millionen-Grenze ansiedeln 2 8 7 . D i e große Zahl der übrigen in den siebziger Jahren erschienen Arbeiten, die die Situation des Okzitanischen behandeln, läßt sich in drei Gruppen aufteilen. D i e erste bilden die optimistischen, z. T. sogar zur Euphorie verleitenden Einschätzungen der Lage: l'Occitan (...) compris par 10 millions de personnes dont cinq le parlent quotidiennement 288 . On peut donc fixer en gros à une douzaine de millions les gens qui, s'ils ne parlent pas coutumièrement la langue d'oc, en sont du moins assez imprégnés pour la comprendre aisément et la réapprendre dans un minimum de temps: soit le quart de la population française pour une superficie équivalent approximativement au tiers du territoire national 289 . C'est la langue parlée par près de 15 millions de Français dans 34 départements situés au sud de la Loire (.. .)290. De 8 à 10 millions de Provençaux, de Languedociens, d'Auvergnats, de Limousins, de Gascons ont en commun, sous ses diverses formes, une langue au passé prestigieux et qui connaît depuis un siècle une renaissance remarquable 291 . 285

Ebda., S. 155ff. Katarina Mondner/Olivier Barlet, Südfrankreich/Occitanien?, München 1978, S. 28. 287 J. P. Baldit, Occitanie, Verviers 1978, S. 32. 288 Atelier occitan..., L'occitanisme. . ., Nîmes 1973, S. 5. 289 Bec, La langue occitane, Paris 1963, 31973, S. 14. 290 Alain Nouvel, L'occitan sans peine, Chennevières-sur-Marne 1975, S. XVIII. Vorsichtiger, aber immer noch sehr optimistisch ist Alain Nouvel in seinem Aufsatz Situation politico-culturelle de la langue d'oc, XIV Congresso internazionale di linguistica e filologia romanza, Atti-Bd. II, Napoli-Amsterdam 1976, S. 335-339 (ohne konkrete Zahlenangaben) und in seinem Buch L'occitan, langue de civilisation européenne, Montpellier 1977. Hier spricht er von acht bis zwölf Millionen, die ihre Sprache kennen, und von einer wachsenden Zahl junger Leute, die sie heute wieder lernt (S. 119 und 121). 291 Les dossiers de l'histoire 4, 1979, S. 19. 286

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About fifteen million people live in Occitanie (...). Of these around ten million have some knowledge of Occitan, if we count also the 5,000 inhabitants of the Val d'Aran (...) and the 200,000 who speak the Occitan dialect of Provençal in the Piedmont Valleys of Italy. It is estimated that about two million people use Occitan in their daily lives292. In Harald Haarmanns Soziologie und Politik der Sprachen Europas (erschienen 1975) steht das Okzitanische mit veranschlagten elf Millionen Sprechern unter den 67 behandelten Sprachen an 13. Stelle. Haarmann erhält diese Sprecherzahl, indem er zu den 1928 von Tesnière angegebenen 10,5 Millionen ein nicht näher erläutertes Wachstum von 4,8% addiert 293 . Er scheint dabei übersehen zu haben, daß die von Tesnière genannte Zahl sich nicht auf die Sprecher des Okzitanischen bezieht, sondern auf die Bewohner der Gebiete, in denen okzitanisch gesprochen wird. Über die Zahl derer, die wirklich Okzitanisch sprechen, sagt Tesnière nur, daß sie unter zehn Millionen liege, daß genauere Angaben aber aufgrund fehlender Sprachstatistiken nicht möglich seien 294 . Sehr viel vorsichtiger äußert Haarmann sich in seinem 1980 erschienenen Artikel Wie viele Bewohner Südfrankreichs sprechen Occitanisch?295: Südfrankreich ist eine der wenigen Regionen in ganz Europa, über deren multilinguale Verhältnisse nur in sehr eingeschränktem Umfang Aussagen gemacht werden können. Eine synoptische Gesamtanalyse der Sprachkenntnisse und des Sprachgebrauchs der Bevölkerung Südfrankreichs scheiterte bislang daran, daß es nicht einmal einigermaßen verläßliche Schätzungen über die Sprachverteilung gibt296. Anhand einer Tabelle, in der er einige der wichtigsten Schätzungen aus Sekundärquellen nach den verschiedenen Kriterien, auf denen sie basieren, zusammengestellt hat - darunter auch seine eigene von 1975 - zeigt er auf, wie stark diese voneinander abweichen, und kommt zu dem Schluß, daß solchen Unstimmigkeiten nur mit dem Instrumentarium einer Sprachenzählung begegnet werden kann 297 . 292

Meie Stephens, Linguistic Minorities in Western Europe, Dyfed Wales 1976, S. 297. 293 Haarmann, Soziologie. . ., S. 16f. Siehe dazu auch ders., Die Sprachen Frankreichs - Soziologische und politische Aspekte ihrer Entwicklung, Festschrift Wilhelm Giese, Hamburg 1972, S. 300. 294 Siehe Meillet, Les langues. . ., S. 386f. Siehe auch S. 41 dieser Arbeit. 295 Harald Haarmann, Wie viele Bewohner Südfrankreichs sprechen Occitanisch?, Europa Ethnica 2, 1980, S. 74-76. 296 Ebda., S. 74f. 297 Ebda., S. 75f. Haarmann erklärt hier, daß er mit seiner Elf-Millionen-Schätzung von 1975 nicht den aktuellen Sprachgebrauch, sondern den Spracherwerb gemeint habe, für den es ausschlaggebend sei, ob das Okzitanische als Primärsprache erworben wurde (ebda., S. 75, Fußnote 5). Demnach müßte also noch 1975 für elf Millionen Bewohner Südfrankreichs das Okzitanische die Muttersprache gewesen sein. - Inwieweit die immer wieder geforderten offiziellen 51

Auf die optimistischen Darstellungen der Lage des Okzitanischen trifft sicherlich zu, was Riccardo Petrella zu den geschätzten Sprecherzahlen europäischer Regionalsprachen im allgemeinen sagt: «Les estimations nous semblent pécher par une certaine tendance à la surévaluation ( . . . ) » und: «ces chiffres donnent une impression faussement positive sur la vitalité des langues considérées» 298 . Ihnen gegenüber stehen einige pessimistisch wirkende, aber der Realität wohl näherkommende Einschätzungen der sprachlichen Verhältnisse, zu denen auch die Schlußfolgerung gehört, die Petrella aus seinen Untersuchungen zieht und die sicher auch für das Okzitanische zutrifft: il faut dire que, par rapport à cette période [le début de ce siècle], le nombre des locuteurs a diminué partout, malgré l'accroissement de la population ( . . . ) . Au rythme de ces dernières décennies et si des mesures appropriées ne sont pas prises, il est à craindre pour certaines langues leur totale extinction 299 .

Auch der bekannte okzitanische Schriftsteller René Nelli kann sich nur schwer vorstellen, daß das Okzitanische je wieder zur «langue d'usage» werden könnte. Seiner Meinung nach wird es heute nur noch von zwei oder drei Millionen Südfranzosen gesprochen, unter denen viele seien, die es nur schlecht könnten, und andere, die es «comme une sorte d 'esperanto» gelernt hätten 300 . Nach Lars Olsson wird das Okzitanische in seinen verschiedenen Formen von zwei bis acht Millionen Einwohnern der Provence, des Languedoc, der Gaskogne, der Auvergne und des Limousin gesprochen oder verstanden 301 . Er weist auf das steigende Interesse für die Regionalsprachen hin, warnt aber vor Illusionen, da die Französisierung der Bevölkerung unvermindert weitergehe und die Zukunft der anderen Sprachen ernsthaft bedroht sei302. Schlicht für aus der Luft gegriffen hält Dirk Gerdes die Schätzungen zur Zahl der Sprecher des Okzitanischen. Da sich fehlende Einigkeit über die Grenzen des Gebietes, hohe Verstädterungsquote und hoher AuslänSpracherhebungen die Frage nach der Zahl der Okzitanischsprecher beantworten könnten, bleibt dahingestellt. Es müßte zunächst einmal festgelegt werden, welcher Grad von Sprachkenntnissen und/oder Anwendung derselben die Bezeichnung «Sprecher des Okzitanischen» rechtfertigen würde (siehe dazu Brigitte Schlieben-Lange, Ein Vorschlag zur Aufdeckung «verschütteter» Sprache, Grazer Linguistische Studien 11/12, 1980, S. 280f.). 298 Riccardo Petrella, La renaissance des cultures régionales en Europe, Paris 1978, S. 210 und 211. 299 Ebda., S. 211. 300 René Nelli, Mais enfin qu'est-ce que l'Occitanie?, Toulouse 1978, S. 32. Nelli hält es für erstrebenswert, daß die okzitanischen Dialekte für diejenigen, die es wünschen, wieder zu Kultursprachen werden (ebda.). 301 Lars Olsson, La politique culturelle de la France à l'égard de ses minorités linguistiques, Mod. Sprâk 24, 1980, S. 239. 302 Ebda., S. 251.

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der- und Zuwandereranteil einer realistischen Schätzung in den Weg stellten, verzichtet er auf eigene Zahlenangaben, vermutet jedoch in Abgrenzung von den vorliegenden Zahlen, (er zitiert Schätzungen zwischen zehn und zwölf Millionen), daß selbst deren Halbierung noch eine Höchstschätzung bedeuten würde 303 . Die Autoren der meisten übrigen Arbeiten, in denen die Situation des Okzitanischen behandelt wird, verhalten sich vorsichtig in bezug auf Sprecherzahlen, zitieren zum Teil die unterschiedlichen Schätzungen anderer Forscher und begnügen sich selber mit Tendenzangaben, die mal optimistisch, mal pessimistisch ausfallen. So weist Lothar Wolf in seinem Aufsatz Sprachlich-kulturelle Minderheiten in Frankreich. Das Beispiel Okzitanien nur darauf hin, daß das Okzitanische das flächenmäßig größte Gebiet umfasse und mit bis zu zehn Millionen geschätzten Sprechern an der Spitze der nationalen Minderheiten Frankreichs liege304. Ohne Zahlen zu nennen, zeichnet André Dupuy in seiner Petite encyclopédie occitane ein sehr optimistisches Bild von der augenblicklichen Situation des Okzitanischen, das wohl eher seinen Wunschvorstellungen als der Realität entspricht: Actuellement langue des campagnes mais aussi des lycées et des facultés, l'occitan retrouve une nouvelle jeunesse. Ceux qui l'avaient oublié le reparlent et ceux qui ne le connaissent pas l'apprennent puisqu'il n'est plus interdit à l'école et à nouveau enseigné 305 .

Pessimistischer ist Jan Sabrsula in seinem Artikel L'état actuel des études occitanes et franco-provençales : Die Südfranzosen seien heute bestenfalls zweisprachig, und die neue Generation werde voraussichtlich einsprachig aufwachsen. Große Städte, Industriezentren und einige vielbenutzte Verkehrswege wie z. B. das Rhônetal müßten bereits ganz aus dem okzitanischen Sprachraum ausgeklammert werden 306 . Sehr skeptisch werden die Überlebenschancen des Okzitanischen auch in dem von Grulich und Pulte herausgegebenen Handbuch Nationale Minderheiten in Europa gesehen: Das größte nichtfranzösische Gebiet Frankreichs (.. .) ist das sprachlich und national am meisten gefährdete und zudem das am wenigsten bekannte ( . . . ) . Heute ist das Okzitanische mehr denn je in seiner Substanz bedroht; zwar erscheinen bereits mehr Bücher und Zeitschriften in dieser Sprache, aber ihr Rückhalt in der breiten Bevölkerung ist gering 307 . 303

Dirk Gerdes, Frankreich - « Vielvölkerstaat» vor dem Zerfall?, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/80, Bonn, 22. März 1980, S. 11. 304 Wolf, Sprachlich-kulturelle Minderheiten. . ., S. 582. 305 André Dupuy, Petite encyclopédie occitane, Montpellier 1972, S. 208. 306 Jan Sabrsula, L'état actuel des études occitanes et franco-provençales, Philol. Prag. 17, 1974, S. 198. 307 Rudolf Grulich/Peter Pulte (Hrsgg.), Nationale Minderheiten in Europa, Opladen 1975, S. 25f.

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Der unter dem Pseudonym «Jean» schreibende Autor des Buches Elsaß: Kolonie in Europa meint dagegen in seinem Vorwort, daß Okzitanien Zeit genug habe, zu erwachen und sich seiner bewußt zu werden, «denn noch leben genug Leute auf dem Land, die ihre Sprache sprechen, ihr Leben leben und erfahren werden, daß dies die occitanische Sprache ist, und entdecken können, daß sie eigentlich keine Franzosen, sondern Occitanen sind»308. Der Verein zur Förderung der deutsch-okzitanischen Freundschaft beschränkt sich in seiner Broschüre Das Faß ist voll auf die Bemerkung, daß es der französischen Verwaltung gelungen sei, das Okzitanische aus den Städten hinaus und immer weiter aufs Land zurückzudrängen 309 . In ihrem Aufsatz Die Okzitaner weisen Svea Deimel und Karin Dietrich darauf hin, daß es keine zuverlässigen Zahlen über die aktuelle Sprachsituation in Okzitanien gebe. Es gelte festzuhalten, daß noch eine Anzahl von Primärsprechern besonders unter der älteren ländlichen Bevölkerung zu finden sei und die Zahl der Sekundärsprecher wieder ansteige, der Verbreitung der Sprache jedoch eine erzwungene Migrationsbewegung entgegenstehe, da gerade aus der Gruppe der potentiellen Okzitanischsprecher viele nur außerhalb der Region Arbeit fänden 310 . Philippe Gardy stellt in seinem Aufsatz Les territoires de la langue dar, wie das Okzitanische, das durch geographische, soziale und kulturelle Spezialisierung zu einer «langue occasionelle» geworden ist, nun dazu dient, die Lücken zu füllen, die die herrschende Sprache läßt311: Langue du rire, du rire gras: le patois au terme du processus diglossique, permet de dire, parce qu'il est, dans les deux sens du terme, une langue spéciale, ce que le français ne saurait supporter 312 .

Die Sprache, die dagegen heute von der Mehrheit der Bewohner Okzitaniens gesprochen werde, sei ein «français teinté d'occitan», das «francitan»313. Nach Karl Gebhardt kann im Jahr 1978 vom Tod der okzitanischen Sprache keine Rede mehr sein; die Wiederbelebung der Langue d'oc mache sich immer deutlicher bemerkbar. Zur Stützung dieser These, mit der er seinen Aufsatz Okzitanische Renaissance?Zur soziolinguistischen Situation im heutigen Südfrankreich einleitet314, führt er jedoch nur die stei308

Jean, Elsaß: Kolonie in Europa, Berlin 1976, S. 23. Verein zur Förderung..., Das Faß ist voll, S. 89, siehe auch S. 31. 310 Svea Deimel/Karin Dietrich, Die Okzitaner, in: Jochen Blaschke (Hrsg.), Handbuch der westeuropäischen Regionalbewegungen, Frankfurt am Main 1980, S. 217. 311 Philippe Gardy, Les territoires de la langue, Pluriel 16, 1978, S. 25, 28 und 31. 312 Ebda., S. 28. 313 Ebda., S. 32. 314 Karl Gebhardt, Okzitanisch Renaissance? Zur soziolinguistischen Situation im heutigen Südfrankreich, Festschrift Kurt Baldinger zum 60. Geburtstag, Bd. II, Tübingen 1979, S. 890. 309

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gende Zahl der Schüler an, die sich im Abitur im Fach Okzitanisch prüfen lassen315. Dennoch erwartet er für die kommenden Jahre «in allen Provinzen Frankreichs, die über eine Regionalsprache verfügen, eine Entwicklung zur Wiederbelebung lokal eingewurzelter Dialekte (...), also eine Entwicklung zur Zweisprachigkeit (Diglossie) (.. .)»316. Der Ausgang des Versuchs der Wiedereinbürgerung des Okzitanischen sei aber noch völlig offen 317 . Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ergebnisse einer Umfrage zu den Regionalsprachen Frankreichs, die das Meinungsforschungsinstitut Sofrès vom 2. bis zum 6. Juni 1978 im Auftrag der Zeitschrift Le Pèlerin durchführte 3 1 8 . Dabei antworteten auf die Frage «Pouvez-vous me dire si vous parlez ou comprenez une langue régionale ou un patois?» 21% der Befragten mit «Oui, tout à fait bien», 14% mit «Oui, plutôt bien», 11% mit «Non, pas très bien» und 52% mit «Non, pas du tout» 319 . Bei den 35% der beiden ersten Kategorien, die eine Regionalsprache oder ein gut bis sehr gut sprechen oder verstehen, handelt es sich hauptsächlich um Menschen vom Land (50%), um Über-FünfzigJährige (46%) und um Landwirte (51%). Aber auch 35% der Einwohner von Städten mit über 100 000 Einwohnern sollen zu dieser Gruppe gehören, und nur die jungen Leute von 18 bis 24 sind hier mit 17% schwach vertreten. Weiterhin wurden den Befragten zwei verschiedene Meinungen zu den Regionalsprachen vorgelegt. Der Auffassung, daß der Gebrauch dieser Sprachen beibehalten werden müsse, «car elles correspondent à des traditions régionales qu'il faut absolument sauvegarder», schlössen sich 72% an, während die Meinung «Il faut éviter l'utilisation des langues régionales ou des patois car cela pourrait nuire à l'unité de la France» von 17% geteilt wurde 320 . Für den Erhalt der Regionalsprachen waren dabei vor allem die jungen Leute (78%) und die Führungskräfte («cadres») (80%). Nach Ansicht des Pèlerin erklärt sich das daraus, daß diese beiden Bevölkerungsgruppen eben keine Regionalsprachen können und daher ahnen, was ihnen fehlt. Die dritte und letzte Frage betraf die Einstellung der Befragten zu einer Ausweitung des Regionalsprachenunterrichts in den Schulen. 47% der Befragten sprachen sich für, 42% gegen eine größere Rolle der Regionalsprachen an den Schulen aus 321 . Zu den Befürwortern gehören auch hier 315

Ebda., S. 891. Ebda., S. 902. 317 Ebda., S. 909. 318 Veröffentlicht im Rahmen des dossier «Langues régionales: agonie ou renaissance», Le Pèlerin 4992 (6.8.1978), S. 34. Es wurde eine landesweite Stichprobe von 1000 Personen im Alter von 18 Jahren und darüber befragt. 319 2% der Befragten gaben keine Antwort. 320 1 1% der Befragten äußerten keine Meinung. 321 16% waren «très favorable», 31% «plutôt favorable», 26% «plutôt défavorable», 16% «très défavorable». 11% der Befragten äußerten keine Meinung. 316

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wieder überdurchschnittlich viele junge Leute unter 35 (58%) und Führungskräfte (52%). Zurückhaltender waren die Leute vom Land, die Bauern, die kleinen Gewerbetreibenden und Handwerker, was damit erklärt wird, daß man zu lange über ihr gespottet habe. Die Ergebnisse dieser Umfrage werden im Pèlerin als überraschend gewertet. Man hatte wohl nicht damit gerechnet, daß immer noch so viele Franzosen eine Regionalsprache sprechen und daß die überwältigende Mehrheit diesen Sprachen gegenüber positiv eingestellt ist. Wenn man jedoch bedenkt, daß in der ersten Frage sprechen oder verstehen zusammengefaßt wurde und daß nicht klar ist, um welche Regionalsprachen bzw. es sich jeweils handelt322, so verringert sich die Aussagekraft der ermittelten Zahlen erheblich. Überdies ist eine positive Einstellung zu den Regionalsprachen noch lange nicht gleichbedeutend mit aktivem Einsatz für ihr Weiterleben. Daß sich 42% der Befragten gegen eine Ausweitung des Regionalsprachenunterrichts ausgesprochen haben, dürfte eher nachdenklich stimmen. Zustimmung gebührt daher dem Satz, mit dem die Artikelreihe zu den Regionalsprachen endet: Une chose est sûre: pour que renaissent vraiment ces langues, il y faudra plus que l'action des élites intellectuelles, une mobilisation populaire, plus que la neutralité de l'Etat son soutien et son aide 323 .

Zum Abschluß dieser Darstellung von Arbeiten, die sich mit der Verbreitung des Okzitanischen befassen, soll noch auf eine Untersuchung von Georg Kremnitz hingewiesen werden, in der er versucht hat, die Situation der Langue d'oc anhand der Rolle deutlich zu machen, die sie in den Massenmedien spielt324. Zu diesem Zweck schickte er im Jahre 1972 Fragebögen an alle französischen Radio- und Fernsehsender, an die französischsprachigen Tageszeitungen auf okzitanischem Boden, an alle französischen Universitäten, an die Verleger, die okzitanische Titel veröffentlichen, und an die Herausgeber okzitanischer Periodika.

322

Es ist anzunehmen, daß hier auch verschiedene Varietäten des Französischen mit einbezogen wurden. 323 Ebda., S. 40. In dem das Okzitanische betreffenden Artikel dieses dossier ist die Rede von «12 millions d'hommes, de femmes et d'enfants qui entendent peu ou prou la vieille langue des troubadours, qui ont conservé, sans parfois le savoir, son rythme, son accent et son esprit derrière le paravent des mots français» (Christian Rudel, Occitan: unité et diversité, ebda., S. 39). Auf Seite 35 wird dagegen in einer Gesamtübersicht unter dem Titel Statistiques - Combien sont-ils? die Zahl derer, die täglich okzitanisch sprechen, auf über zwei Millionen geschätzt. Diese Angabe übernimmt Heinz Jürgen Wolf in seinem Buch Französische Sprachgeschichte (Heidelberg 1979) und weist darauf hin, daß die Sprecherzahl mit zehn bis zwölf Millionen gemeinhin zu hoch angegeben werde (S. 14). 324 Georges Kremnitz, La situation de la langue d'oc à travers une enquête sur les mass media, Rev. Lang. Rom. 80, 1973, S. 249-315. Siehe dazu auch ders., Versuche. . ., S. 416ff.

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Etwas mehr als die Hälfte der Adressaten ( = 133) antworteten auf die Umfrage, darunter jedoch nur ein Drittel ( = 16) der Sender und nur sieben der 38 angeschriebenen Tageszeitungen 325 . Nur eine einzige Rundfunkstation - die aus Montpellier - gab an, okzitanische Sendungen auszustrahlen, und zwar jede Woche 30 Minuten lokale und regionale Nachrichten, Folklore, Chansons u. ä., auf die sie ein positives Echo erhält 326 . Von den Zeitungen antworteten fünf, daß sie mehr oder weniger regelmäßig okzitanische Artikel veröffentlichten. Diese sind aber nach Kremnitz eher als Zugeständnis an einen Teil der Leserschaft zu sehen; sie werden von Laien gemacht und folgen keinem bestimmten sprachwissenschaftlichen Konzept 327 . Alle südfranzösischen Universitäten erklärten, Okzitanischunterricht durchzuführen 328 . Was die okzitanischen Periodika betrifft, so ermittelte Kremnitz, daß ihre Gesamtauflage 1972 nicht mehr als 100 000 Exemplare betragen haben dürfte. Sie würden hauptsächlich von jungen Intellektuellen aus den Städten gelesen und erreichten kaum andere Schichten 329

3.2.2

Fallstudien zum Okzitanischen

Neben diesen Arbeiten - in den meisten Fällen Schätzungen bzw. Meinungen - zur Situation des Okzitanischen, die ganz Südfrankreich betreffen, gibt es, wie gesagt, die große Vielzahl der Fallstudien, die sich mit dem Okzitanischen oder bestimmten Aspekten dieser Sprache innerhalb eines geographisch enger begrenzten Gebietes befassen. Auch hier ist es erst in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer Häufung der Untersuchungen gekommen. Aus dem Zeitraum vor 1960 sind nur wenige Arbeiten zu nennen, für die zudem die Verwendung des Okzitanischen meist nur einen nebensächlichen Gesichtspunkt darstellt. In seinem Aufsatz Des instituteurs du Languedoc-Roussillon parlent du patois en 1860m analysiert Gérard Cholvy Bemerkungen zum , die Volksschullehrer dieser Region im Rahmen einer Untersuchung des Ministeriums für Schulwesen machten. In ihren Antworten zu dieser Enquête, die die Anforderungen an den Grundschulunterricht in ländlichen Gemeinden zum Thema hatte und keine Fragen zum beinhaltete, 325

Kremnitz, La situation. . ., S. 250f.; ders., Versuche. . ., S. 417. Ders., La situation. . ., S. 253ff. Der Eindruck, den die Umfrage über den Platz der Minderheitensprachen in Radio und Fernsehen vermittelt: «elle ne saurait être plus modeste (...)» (ebda., S. 255). 327 Ebda., S. 256ff. 328 Ebda., S. 263. 329 Ebda., S. 288ff.; ders., Versuche. . ., S. 418f. 330 Gérard Cholvy, Des instituteurs du Languedoc-Roussiilon parlent du patois en 1860, Lengas 3, 1978, S. 47-58.

326

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äußerten sich 10 bis 15% der Lehrer im Languedoc-Roussillon spontan zu Sprachproblemen 331 . Ihren Aussagen kann entnommen werden, daß das Okzitanische bzw. das Katalanische damals die einzige auf dem Lande übliche Sprache war und daß die Kinder oft kein Französisch konnten, wenn sie in die Schule kamen 332 . Auffallend ist, daß kein einziger Lehrer irgendwelche Sympathie für die Muttersprache der Kinder aufbrachte. Alle sahen in ihr ein Hindernis, das es beiseite zu schaffen galt, und sie machten Vorschläge, wie das geschehen könnte (Verbot des in der Schule und auch auf dem Schulhof, Einrichtung von Kindergärten, damit die Kleinen schneller Französisch lernen u. ä.)333. Detaillierte Beobachtungen zur Entwicklung des Provenzalischen schildert Pierre Pansier im vierten Band seiner Histoire de la langue provençale à Avignon du XIIme au XIXme siècle, der 1927 erschien 334 . Pansier hat den Sprachgebrauch von drei Familien aus verschiedenen Gesellschaftsschichten in Avignon über vier Generationen hinweg verfolgt 335 . Aus der «famille bourgeoise urbaine» ist das Provenzalische im Laufe der vier Generationen restlos verschwunden. Sprach die erste Generation es noch regelmäßig mit den Hausangestellten und den Leuten aus dem Volk, so verwendet die zweite Generation es kaum noch, die dritte versteht es zwar, aber spricht es schlecht, die vierte schließlich spricht und versteht nur Französisch. In der Familie der Vorstadtarbeiter verstand die erste Generation zwar Französisch, sprach aber nur Provenzalisch, die zweite ist ausgewogen zweisprachig, die dritte ist ebenfalls zweisprachig, bezeichnet aber das Französische als ihre gängige Sprache, und die vierte Generation kann zwar Provenzalisch verstehen und sprechen, macht aber kaum Gebrauch davon. In der Pächterfamilie schließlich konnte die erste Generation kaum Französisch sprechen. Die zweite ist zweisprachig, doch das Provenzalische dominiert; der Pächter spricht immer provenzalisch mit dem Verpächter. Die dritte Generation ist ebenfalls zweisprachig, doch hier spricht der Pächter mit dem Verpächter französisch. Die Kinder des Pächters sprechen untereinander provenzalisch, wechseln jedoch zum Französischen, wenn sie mit den Kindern des Verpächters sprechen. Für Pansier sind die Schlüsse, die aus diesen Beobachtungen zu ziehen sind, eindeutig: Innerhalb einiger weiterer Generationen wird das Französische das Provenzalische endgültig verdrängt haben. Dieser Prozeß werde zwar auf dem Lande länger dauern als in den Städten, da das Proven331

Ebda., Ebda., 333 Ebda., 334 Pierre siècle, 335 Ebda., 332

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S. 47 und 49. S. 49f. S. 51ff. Pansier, Histoire de la langue provençale à Avignon du XUmc au XIX"" Bd. 4, Avignon 1927, S. 16-25. S. 19ff.

zalische dort fester verwurzelt sei, doch trügen Landflucht und Zuwanderung ausländischer Arbeiter ihr Teil dazu bei, den Sprachwechsel auch dort unvermeidbar zu machen. Die zur Zeit häufig anzutreffende ausgewogene Zweisprachigkeit stelle nur ein Stadium in dem Zerfallsprozeß dar, den die provenzalische Sprache durchmache 336 . Auguste Bruns 1931 erschienene Studie Le Français de Marseille337 ist zwar in erster Linie dem Regionalfranzösischen gewidmet, liefert jedoch auch einige interessante Hinweise auf den Gebrauch des Provenzalischen. So sind nach Bruns Beobachtungen die Frauen von Marseille, besonders die älteren, aufgrund ihrer Lebensweise weniger von dem «snobisme linguistique» berührt, der die Männer veranlaßt, «français populaire» und Argot zu verwenden. Während letztere sich für sprachliche Neuerungen sehr empfänglich zeigen, bewahrt die Sprache der Frauen mehr von der «saveur locale» 338 : souvent, la femme, moins cultivée que le mari, provençalise plus que lui, cependant que lui argotise plus qu'elle 339 .

Brun hält es durchaus für möglich, daß die neue Sprache, das Regionalfranzösisch der Provence, das sich zwischen dem Provenzalischen und dem offiziellen Französisch abzeichnet, die beiden herkömmlichen Sprachen eines Tages endgültig ablösen könnte 340 . In der Einleitung zu seiner Dissertation über die Mundart von Camarès (Aveyron) (erschienen 1934)341 äußert sich August Buckenmaier auch kurz über die Verbreitung dieser Mundart und ihre Aussichten auf Weiterexistenz. Seine Beobachtungen stimmen ihn pessimistisch. Früher habe in dem kleinen Ort im Süden des Départements Aveyron ausschließlich das geherrscht, heute gebe es viele, die nur noch wenig oder gar kein mehr sprechen könnten. Vor allem die Schuljugend sei mit der heimatlichen Sprache im allgemeinen nicht mehr vertraut, und es stelle sich die Frage, ob diese in nicht zu ferner Zeit aussterben werde 342 . Sehr viel positiver für die Dialekte erscheinen die Ergebnisse, die Jean Boutière 1934 in einer Untersuchung zu Rückgang und Veränderung der «patois méridionaux» ermittelte 343 . Dazu wiederholte er in zwei kleinen 336

Ebda., S. 21 ff. Auguste Brun, Le Français de Marseille, Marseille 1931. 338 Ebda., S. 15. 339 Ebda., S. 16. 340 Ebda., S. 9 und 23f. 341 August Buckenmaier, Die Mundart von Camarès (Aveyron), Tübingen 1934. 342 Ebda., S. 5f. Anstelle einer Antwort auf die Frage beschreibt Buckenmaier, wie ein vom baldigen Untergang des überzeugter Einwohner ihm zu beweisen versuchte, wie wenig die kommende Generation die Mundart kenne. Doch dieser hatte zu schwarz gesehen, denn der herbeigerufene zehnjährige Junge wußte die mundartliche Bezeichnung für seinen Kreisel auf Anhieb (ebda., S. 6). 343 Jean Boutière, Dans quelle mesure y a-t-il recul et altération des dialectes de la France méridionale?, Rev. Ling. Rom. 12, 1936, S. 266-269. 337

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südfranzösischen Orten, in Eyguières (Bouches-du-Rhône) und in Masd'Azil (Ariège), die Enquête, die Edmont 1902 für den Atlas Linguistique de la France durchgeführt hatte. Er befragte mehrere Personen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen, darunter auch Kinder. In beiden Orten kam er zu dem Schluß, daß der Rückgang der Mundarten unbedeutend sei. Das sei weiterhin die einzige gebräuchliche Sprache. Die Leute vom Lande redeten nur französisch, wenn sie müßten, und die Kinder sprächen nach Verlassen der Schule sofort wieder provenzalisch. In Mas-d'Azil hätten sogar die meisten Einwohner immer noch Schwierigkeiten, französisch zu sprechen, und auch für manche Jüngere sei es eine Fremdsprache 344 . Veränderungen in den Mundarten konnte Boutière ebenfalls kaum verzeichnen. In Eyguières seien inzwischen von den nahezu 2 000 Wörtern der ^¿F-Enquête lediglich einige Dutzend durch französische Entsprechungen ersetzt worden, während sich in der Mundart von Mas-d'Azil gar nichts geändert habe 345 . Auf fast dreißigjähriger Beobachtung der Toulouser Sprecher (1920-1947) beruht Jean Séguys Buch Le français parlé à Toulouse, aus dem auch Schlüsse über den Gebrauch des Okzitanischen gezogen werden können 346 . Danach ist das Französisch von Toulouse eine importierte Sprache, die phonetisch stark vom heimischen Substrat geprägt wird. Während es als lächerlich angesehen werde, in einem Satz halb französisch, halb zu sprechen, sei es durchaus üblich, ganze languedokische Sätze in die französische Rede einzufügen 347 . Das Okzitanische breche oft durch, um die verschiedenen Emotionen wie Überraschung, Wut, Enttäuschung u. ä. auszudrücken. Es sei darüber hinaus die Sprache des «bas peuple», werde für Trivialitäten und für das Burleske gebraucht 348 . Die allgemeine Tendenz laufe auf eine Unterdrückung des Substrats hinaus, auf einen Rückgang der Besonderheiten des Südens, der unter anderem auch auf den starken Zuzug von Nordfranzosen zurückzuführen sei349. Ähnliche Beobachtungen machte Claude Costes in seiner Untersuchung L'occitan dans les rues de Toulouse en 1956350. Er notierte okzitanische Wörter und Sätze, die Toulouser in ihren Gesprächen auf der Straße verwendeten. Dabei unterschied er zwischen bewußtem und unbewußtem Okzitanischgebrauch. Der erstere sei der weitaus seltenere (nicht einmal 344

Ebda., S. 266f. Ebda., S. 267f. 346 Jean Séguy, Le français parlé à Toulouse, Toulouse 1950, 3 1978. Ich zitiere aus der zweiten Auflage von 1951. 347 Ebda., S. 8f. 348 Ebda., S. 82ff. Séguy spricht hier von der «puissance libératoire [du langage affectif] que n'offre pas le vocabulaire officiel» (ebda., S. 89). 349 Ebda., S. lOlf. 350 Claude Costes, L'occitan dans les rues de Toulouse en 1956, An. Fac. Toulouse Domitia 4, 1957, S. 27-81. 345

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10% der Fälle). Ein Sprecher spreche nur dann bewußt okzitanisch, wenn er sicher sei, daß sein Gesprächspartner ihn verstehe. Das könne geschehen, um über irgendetwas zu scherzen, aber auch, um von weiteren Anwesenden nicht verstanden zu werden 351 . Meistens sei der Gebrauch des Okzitanischen unbewußt und stehe dann, wie auch bei Séguy beschrieben, unter dem Einfluß verschiedener Emotionen, zu deren Ausdruck den Betroffenen die entsprechenden französischen Vokabeln fehlten oder unpassend erschienen 352 . Auch nach Costes Ansicht dominiert das Französische, die Kultursprache, immer stärker und hat das Languedokische in die untersten Gesellschaftsschichten zurückgedrängt 353 . Nur ganz am Rande wird der Sprachgebrauch in Laurence Wylies Buch Dorf in der Vaucluse behandelt 354 . Wylie hat 1950/51 ein Jahr lang mit seiner Familie in dem Dorf Roussillon (Peyrane) in der Vaucluse gelebt, um den Alltag einer französischen Gemeinde zu beobachten und so Einblick in die französische Lebensweise zu gewinnen 355 . Roussillon scheint bereits damals weitgehend französisiert gewesen zu sein, denn laut Wylie sprach fast jeder in der Gemeinde auch korrektes Französisch, so daß es für ihn nicht unbedingt notwendig gewesen sei, Provenzalisch zu sprechen, aber nützlich, es zu verstehen, was ihm auch mit der Zeit gelang 356 . Ansonsten beschränken sich seine Bemerkungen zur Sprache auf die Hinweise, daß beim abendlichen Apéritif im Café vorwiegend Provenzalisch gesprochen wurde, die Unterhaltung dort sich vor allem um Jagd, Kriegserinnerungen, Klatsch und Politik drehte 357 , daß die Männer, die beim Boulespiel provenzalisch sprachen, immer zum Französischen wechselten, wenn es um die Spielregeln ging 358 , und daß bei Auseinandersetzungen im Jagdclub mit einer solchen Wut provenzalisch gesprochen wurde, daß es kaum zu verstehen war 359 . Düster werden die Zukunftsaussichten des Provenzalischen in Aufsätzen von W. Th. Elwert und C. Rostaing Anfang der fünfziger Jahre dargestellt. Elwert hatte im Herbst 1951 eine Reise durch die Provence gemacht und schildert seine Beobachtungen und Eindrücke in dem Artikel Della vitalità del provenzale e del felibrismo™. Demnach hört man in der 351

Ebda., S. 31 f., 38ff. und 74. Ebda., S. 44ff. Ebda., S. 31. 354 Laurence William Wylie, Dorf in der Vaucluse, Frankfurt am Main 21978 (zuerst 1957). 355 Ebda., S. XIII. 356 Ebda., S. XXI. 357 Ebda., S. 252. 358 Ebda., S. 259. 359 Ebda., S. 306. 360 Wilhelm Theodor Elwert, Delta vitalità del provenzale e del felibrismo, in: Ders., Aufsätze zur provenzalischen, französischen und neulateinischen Dichtung, Wiesbaden 1971 (zuerst 1952), S. 10-39. 352

353

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Provence praktisch nirgends mehr provenzalisch sprechen, und selbst die Alten auf den Dörfern sprächen mit den Kindern lieber schlechtes Französisch als Provenzalisch 361 . Überhaupt werde diese Sprache laut kompetenter Informanten heute nur noch von ca. 40% der Bevölkerung beherrscht (gegenüber 80% zu Zeiten Mistrals), und es handele sich dabei durchweg um Menschen, die über 45 Jahre alt seien 362 . Das Regionalfranzösisch ziehe, von den großen Zentren ausgehend, immer weitere Kreise, und das Provenzalische halte sich nur noch in abgelegenen, wenig bevölkerten, ländlichen Gebieten 363 . Durch Provenzalischunterricht in den Schulen werde höchstens die Literatursprache weiter fortbestehen, den allgemeinen Rückgang des Provenzalischen könne man dadurch nicht mehr aufhalten 364 . Nicht ganz so pessimistisch äußert sich Charles Rostaing in seinem Artikel Les conditions actuelles de la langue provençale, der 1954 erschienen ist365. Seiner Meinung nach besteht noch Hoffnung für das Provenzalische, falls es gelingt, die Minderwertigkeitskomplexe der Sprecher erfolgreich zu bekämpfen 366 . Aber auch er konstatiert, daß der Gebrauch des Provenzalischen überall zurückgeht und daß selbst auf dem Lande im Zuge der Mechanisierung der Landwirtschaft viele provenzalische Wörter verschwinden 367 . Nach Rostaings Erfahrungen aus seinem Heimatdorf (SaintMitre, im Einzugsbereich von Aix und Marseille) ist nur für die ÜberSechzig-Jährigen das Provenzalische die Haupt- und Muttersprache. Die Vierzig- bis Sechzigjährigen haben bereits das Französische als Muttersprache gelernt, beherrschen aber das Provenzalische noch relativ gut, während die jungen Leute und die Frauen gar kein Provenzalisch sprechen wollen, obwohl sie es meist verstehen 368 . In den sechziger und siebziger Jahren häufen sich dann die Einzeluntersuchungen zum Okzitanischen. Dabei handelt es sich meist um kleinere Fallstudien, deren Ergebnisse in Zeitschriften oder Sammelbänden veröffentlicht werden, doch es gibt auch weiterhin große sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu einzelnen Dialekten des Okzitanischen. Zu den letzteren gehört André Lanlys Enquête linguistique sur le ableiten 516 . 511

Siehe Yvonne Boyer-Hérail, Le chant des bruyères, Vabre (Tarn) 1972, S. 86 und 120. 512 Siehe zu diesem Kapitel auch Wolff (Hrsg.), Histoire du Languedoc; und Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc. 513 Histoire. . ., S. 8; Broschüre Lacaune, Tarn, S. 2. Siehe dazu auch René Escaich/Thierry Bordas, Le réveil de l'Occitanie, Les dossiers de l'histoire 4, 1976, S. 28: «Deux tribus gauloises vont quand même s'installer en Languedoc: les Votques Tectosages dans la région de Toulouse et les Arécomiques dans la région de Nîmes». 514 Histoire. . ., S. 7 ; Broschüre Lacaune, Tarn, S. 2. 5.5 So laut Histoire. . ., S. 7. 5.6 Ernest Nègre, Les noms de lieux du Tarn, Paris M972, S. 78, § 194. Auch das FEW erwähnt unter dem Stichwort calma apr. calm mit Ableitungen wie calmetha , calmelh, calm il, calmisa {FEW, Bd. 2,1, S. 100b). Dauzat/Rostaing schreiben unter Calm (la)\ «Bas lat. calmis, d'origine pré-celt., dér. du préindo-eur. *Kal-, pierre, rocher, hauteur dénudée» und weisen auf zahlreiche regionale Formen hin (Albert Dauzat/Charles Rostaing, Dictionnaire étymologique des noms de lieux en France, Paris 1963, S. 132b).

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Auch die Etymologie von Lacaune aus keltisch Acauti 517 dürfte falsch sein. Nègre zählt Lacaune zu den okzitanischen Bildungen aus dem Wohnbereich. Es sei aus okz. cauna entstanden 518 . Cauna wiederum läßt sich auf lat. *cavo zurückführen 5 1 9 . Schon früh kam die Gegend des heutigen Lacaune unter römische Herrschaft und wurde der Provincia Narbonensis angegliedert. Als im fünften Jahrhundert die Westgoten große Teile Südfrankreichs erobern, muß auch Lacaune unter ihre Herrschaft und später unter die der Franken gekommen sein 520 , doch erst seit dem 11. Jahrhundert gibt es genauere Angaben über die Geschichte der Stadt 521 . Vom 13. Jahrhundert an sind viele Ereignisse aus Lacaune in dem sogenannten Livre Vert zusammengefaßt 522 . Es enthält ca. 100 Urkunden, hauptsächlich aus dem 13. und 14. Jahrhundert, die die Stadt betreffen und meist von ihren Herrschern (den Grafen oder Königen) stammen 523 . Die erhaltenen Dokumente stellen Abschriften aus dem 15. Jahrhundert dar, die von zwei Notaren unterschrieben sind 524 . Die Urkunden sind bis auf wenige Ausnahmen in Okzitanisch abgefaßt. Dazu die Herausgeber: Le texte [du Livre Vert] est en langue romane, langue qui, au V e siècle, se substitua au latin vulgaire et qui n'est autre qu'un débris de celui-ci mêlé à des éléments celtiques et germaniques. Cette langue parlée et écrite durant le Moyen Age eut dans le Midi différents dialectes: provençal, limousin, gascon et languedocien. C'est à ce dernier encore useté dans la partie orientale du département qu'appartient notre texte. Malgré le temps, la différence entre notre patois et le roman languedocien du Livre Vert n'est pas très sensible. C'est à peine si nous avons trouvé quelques mots d'un usage aujourd'hui inconnu: conils pour lapins, entremia, etc. Et encore n'est-il pas bien sûr que ces termes ne soient pas employés dans quelques coins retirés de la montagne 525 .

Nur fünf Dokumente sind nicht in Okzitanisch abgefaßt, zwei französische, die aus dem 17. Jahrhundert stammen und an die Sammlung angehängt wurden, und drei lateinische Urkunden 526 .

517

So laut Jules Coffe, Lacaune, Reine des Basses-Cévennes, Saint-Pons 1964, S. 3. Nègre, Les noms de lieux. . ., S. 92, § 252. 519 Vgl. Wilhelm Meyer-Lübke, Romanisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 3 1935, unter *cavo, -öne (1794); und FEW, Bd. 2, unter *cavo, S. 558b. 520 Siehe dazu Hubert Gallet de Santerre, L'empreinte romane, in: Wolff (Hrsg.), Histoire du Languedoc, S. 75-119, besonders S. llOff.; und Philippe Wolff, Le Midi franc et seigneurial, ebda., S. 121-146. 521 Siehe dazu Histoire..., S. lOff. 522 Seinen Namen erhielt es wegen seines ehemalig grünen Einbands (Livre Verl..., S.V). 523 Livre Vert..., S. V. 524 Ebda., S. X. 525 Ebda., S. VIII. Wegen der Ähnlichkeit wurde in der Ausgabe auch auf eine Übersetzung verzichtet (S. XII). 526 Ebda., S. VIII. 5,8

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D a ß im 15. Jahrhundert noch solch umfangreiche Textsammlungen auf okzitanisch zusammengestellt wurden (Lacaune ist kein Einzelfall, ähnliche Kartularien gibt es z. B. in Cordes, Rabastens, Saint-Sulpice, Vaour und Viane 527 ), führt Auguste Brun auf die Abgeschiedenheit des Albigeois und der Grafschaft von Castres zurück: la population, éloignée qu'elle est d'un centre comme Toulouse, et d'une grande voie passagère (la vallée de la Garonne, route de Toulouse à Nîmes), met une lenteur sensible à céder à la langue nouvelle. Au XVe et au début du XVIe siècle le parler local demeure usuel, dans les coutumes (...); dans les cartulaires: Livre vert de Lacaune (rassemblé au XVe siècle); (...) dans les compoix (.. .)528. In der Tat hält sich das Okzitanische in den «compoix» (Steuerfestlegungen) von Lacaune noch sehr lange, nach Kremnitz bis 15 3 7 529 , ja diese sind bis 1601 noch stark von Okzitanischem durchsetzt 530 . Alle späteren Akten sind nur noch in Französisch abgefaßt. Das Livre Vert berichtet von den Privilegien, die die Stadt Lacaune von den Grafen von Montfort, den Herren von Castres, erhielt. Dazu gehören z. B. die «liberté individuelle» von 1269, nach der die Einwohner für kleinere Vergehen nicht nach Castres vor Gericht geholt werden dürfen 5 3 1 , und die Befreiung von verschiedenen Diensten und Steuern, wie der «leude», einer Abgabe auf ge- oder verkaufte Waren, die 1236 fällt: Conoguda causa sia a totz que nos, Philip de Montfort, a las pregarias del nostre amat Guilhem Miquel e dels homes nostres de la Cauna e per la utilitat de la dicha vila, benignamen quitan e remetem als digz homes nostres de la Cauna totz los dregz que de la vielha leuda a nos de dregz se aperteno (.. .)532. Dazu k o m m e n Berichte über Prozesse mit den Nachbargemeinden, meist über die Benutzung von Weideland 5 3 3 , A b k o m m e n mit der Kirche über den zu entrichtenden Zehnten 5 3 4 und zahlreiche interne Regelungen.

527

Ebda., S. VI. Brun, Recherches. . ., S. 235. 529 Kremnitz, Versuche. . ., S. 106. - Das «compoix» von 1537 beginnt mit den Worten: «In nomine domini. Amen. L'an de la Incarnation de Nostre Senhor que om compta mil cinq cens trenta-sept, Mossieur Frances per la grâce de Dieu Rey de Fransa renhan, a douze de mes de novembre, en la villa de la Cauna des comptât de Castras, coma es de bona coustuma longamen observada, fouc cridat publicamen per Guilhem Nicholau, de mandamen dels messieurs consolz deldit an, que cascuna persona se apparella de rendre bo et leal compte de totz sos bes mobles et immobles davan los satges homes (...).» Es folgen die Erklärungen der Einwohner (Archives départementales du Tarn, Albi). 530 Siehe Archives départementales du Tarn, Albi, «compoix» von 1543 und 1601. 531 Livre Vert. . ., S. 8ff. 532 Ebda., S. 1. 533 So z.B. 1293 und 1319 mit der Nachbargemeinde Gijounet (Livre Vert..., S. 147ff.). 534 Z. B. 1297 mit dem Prior von La Capelle (Livre Vert. . ., S. 144ff.). 528

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Lacaune wird in dieser Zeit und noch bis zur Revolution von vier Konsuln verwaltet, die jeweils von den vorhergehenden Konsuln bestimmt und von den Beamten des Königs und den herrschenden Grafen bestätigt werden 535 . Mit zunehmender Zentralisierung (Ende 17., Anfang 18. Jahrhundert) werden die Rechte der Konsuln jedoch eingeschränkt. Der König bestimmt jetzt einen Bürgermeister auf Lebzeiten und setzt auch fest, wer Konsul wird 536 . Vom Hundertjährigen Krieg scheint Lacaune weitgehend verschont geblieben zu sein. Die Engländer durchstreifen die Gegend, greifen aber das befestigte Lacaune nicht an 537 . Zu größeren Unruhen kommt es jedoch während der ganzen Reformationszeit. Seit 1550 breitet sich der Protestantismus in Lacaune sehr schnell aus, und die Stadt entsendet Delegierte zu allen calvinistischen Versammlungen der Umgebung. Um 1620 sind alle wichtigen Ämter in Lacaune von Protestanten besetzt, und protestantische Truppen aus Lacaune greifen aktiv in den Bürgerkrieg ein 538 . Nach dem Frieden von Alès (1629) verringert sich der Einfluß der Protestanten mehr und mehr. Lacaune muß wie alle protestantischen Gemeinden seine Festungen abtragen. Am 27. Juni kommt Richelieu persönlich ins Languedoc, um festzustellen, ob diesem Befehl Folge geleistet wird 539 . Nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 wird die protestantische Kirche von Lacaune abgerissen, und die Protestanten sind gezwungen, in den Untergrund («au désert») zu gehen 540 . Viele kehren auch zur katholischen Konfession zurück 541 . Heute leben noch knapp 100 Protestanten in Lacaune, die von dem Pastor der Nachbargemeinde Viane, wo das zahlenmäßige Verhältnis von Protestanten und Katholiken ungefähr ausgeglichen ist, betreut werden. Welche Rolle das Okzitanische bei der Verbreitung des Protestantismus in Lacaune gespielt hat, ist aus den vorhandenen Unterlagen nicht zu entnehmen. Im allgemeinen hat der Protestantismus die Rolle des Französischen verstärkt, da die Bibel nur auf französisch übersetzt war 542 . Deshalb 535

Histoire. . ., S. 46f. Ursprünglich unterstand Lacaune den Grafen von Castres. 1639 erkennen die Konsuln den König als den einzigen Herrscher über die Stadt an. Ihm müssen nun die Steuern und Abgaben gezahlt werden (Histoire. . ., S. 62f.). 536 Ebda., S. 49f. 537 Ebda., S. 24f. 538 Ebda., S. 27ff. 539 Ebda., S. 36. 540 Siehe dazu die vereinzelten Erwähnungen Lacaunes bei Louis Dermigny, De la révocation à la Révolution, in: Wolff (Hrsg.), Histoire du Languedoc, S. 355-436, besonders S. 365, 372 und 374. 541 Histoire. . ., S. 39ff. 542 Brun, Recherches. . ., S. 426.

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verbreitet er sich auch zuerst in den Universitätsstädten. Die Reformationspropaganda bedient sich des Französischen. Das gibt ihr einen modernen Zug, führt jedoch im Kontakt mit der Landbevölkerung zu Verständigungsproblemen 543 . So haben die protestantischen Pfarrer von Lacaune sicherlich auch auf okzitanisch predigen müssen, um von der ganzen Gemeinde verstanden zu werden. Die Histoire de Lacaune berichtet sogar, daß bei einem gestellten «Wunder» zur Wiederbekehrung von abtrünnig gewordenen Protestanten der angebliche Engel «en langage du pays» zur Gemeinde sprach 544 . Ob man daran gemerkt hat, daß es kein echter Engel war? Zu neuen Unruhen kommt es in Lacaune während der Revolution. Das Languedoc ist zwar kein revolutionäres Zentrum, aber die Auswirkungen der Revolution sind dort frühzeitig zu spüren 545 . Zuerst verschwindet die Provinz als solche. Im Zuge der Aufteilung Frankreichs in 83 Départements werden aus dem Languedoc acht Départements gebildet 546 . Das Département Albigeois, bald in Tarn umgenannt, wird in die Distrikte Albi, Castres, Lavaur, Gaillac und Lacaune aufgeteilt 547 . Wie in ganz Frankreich hemmt auch im Languedoc der Gegensatz zwischen Stadt und Land den Fortschritt der Revolution. Während die revolutionären Ideen in den Städten auf fruchtbaren Boden fallen, spielt das Land bei der Entwicklung des revolutionären Geistes nur eine untergeordnete Rolle, und die Royalisten finden dort ihren Rückhalt 548 : Certes en brisant la vieille unité de la province, en portant atteinte aux biens, au prestige de l'Eglise catholique, de la noblesse et de tous les privilégiés, le nouveau régime allait se faire en Languedoc des ennemis irréductibles, qui devaient souvent trouver un appui dans les masses rurales pauvres et ignorantes 549 .

So muß es auch in Lacaune gewesen sein, wo besonders die Zivilverfassung des Klerus und die Angriffe der Revolutionäre gegen die Kirche die Bevölkerung schockieren. Die Lacauner Pfarrer weigern sich, den Schwur auf die Verfassung zu leisten, und finden dabei Unterstützung bei der Bevölkerung: Lacaune, à cette époque était regardée comme «la Vendée du Tarn» et le lieu de refuge des prêtres réfractaires, qui s'y cachaient grâce à la connivence des habitants550. 543

Jean-B. Séguy, Deux comportements religieux, in: Lafont (Hrsg.), Le Sud. . ., S. 165ff. 544 Histoire. . ., S. 42. 545 Le Roy Ladurie, Histoire du Languedoc, S. 99. 546 Jean Sentou, Révolution et Contre-Révolution, in: Wolff (Hrsg.), Histoire du Languedoc, S. 440ff. 547 Histoire. . ., S. 78. Siehe dazu auch Anarchasis Combes, Statistique de l'arrondissement de Castres (Tarn), ¡834, Castres 1834, S. 12. 548 Sentou, Révolution et Contre-Révolution, S. 446. 549 Ebda., S. 437. 550 Histoire. . ., S. 83.

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Aber es gibt auch die andere Seite. Als am 29.4.1793 die beiden Bevollmächtigten des Konvents, Bo und Chabot, nach Lacaune kommen, um den revolutionären Eifer anzustacheln, werden sie unter großem Beifall empfangen und halten zwei öffentliche Versammlungen ab, bei denen zahlreiche Gegenstände für die Revolution gespendet werden. Der Tag endet mit einer allgemeinen Farandole in allen Straßen der Stadt 551 . Nach dem Staatsstreich Napoleons 1799 hört Lacaune auf, «chef-lieu de district» zu sein, und wird einfacher «chef-lieu de canton», was es auch heute noch ist. Distriktverwaltung, Revolutionskomitee, «société populaire» und Gericht haben ihren Sitz nicht mehr in Lacaune. Die Kirchen werden wieder geöffnet, und die Ruhe scheint zurückgekehrt zu sein 552 . Über sprachliche Auswirkungen der Revolution, über die zunehmende Französisierung des okzitanischen Raumes berichtet die Histoire de Lacaune nichts, obwohl nach Lafont der sprachliche Faktor entscheidend zur ablehnenden Haltung der okzitanischen Bevölkerung gegenüber der Revolution beigetragen hat: «la nouvelle classe bourgeoise, marquée par la philosophie française des , s'étant dangereusement coupée, par la langue qu'elle adopte, de la culture vécue par les masses» 553 . Jeweils einige Zeilen werden dem Okzitanischen jedoch in Massols Description du Département du Tarn von 1818 und in Combes' Statistique de l'arrondissement de Castres (Tarn) von 1834 gewidmet 554 . Das «idiome du département» ist nach Massol «un mélange de quelques expressions celtiques et d'un latin corrompu», dessen «richesse», «douceur» und «vivacité» durch einen unerschöpflichen Vorrat an Diminutiven und Augmentativen zu erklären sei555. Die gebildeten und auch viele weniger gebildete Männer würden übrigens mehr oder weniger reines Französisch sprechen, und wer schreibe, sei auf der Hut vor Ausdrücken und Redewendungen, «qui pourraient sentir le terroir» 556 . Für Combes ist das «patois Languedocien intermédiaire» vom Lateinischen und von der romanischen Sprache (was immer darunter zu verstehen ist) korrumpiert. Er betont besonders die Uneinheitlichkeit des . Selbst in der näheren Umgebung von Castres seien Akzent und Intonation von Ort zu Ort verschieden. In den Städten begänne das Französische, das alte Idiom auch als gesprochene Sprache allmählich zu ersetzen, doch hinterließe letzteres tiefe Spuren:

551

Ebda., S. 84f. Ebda., S. 109f. ; und Combes, Statistique. . ., S. 17. 553 Lafont, La revendication. . ., S. 63. 554 Massol, Description du Département du Tarn, Albi 1818, S. 170-172; und Combes, Statistique. . ., S. 176. 555 Massol, Description..., S. 170f. 556 Ebda., S. 171f. 552

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Aussi encore dans l'accent, qu'elle âpreté! Dans les écrits, quelles expressions triviales, quelles tournures de mauvais goût! Dans les plaidoyers, dans les sermons, dans les improvisations de toute nature, combien de phrases qui ne sont qu'une traduction littérale de la pensée primitivement revêtue des mots patois557.

Deshalb fordert Combes auch, daß alle Französischlehrer für den Bezirk Castres aus Nordfrankreich kommen sollen. Durch ihren «accent pur et sévère» könnten sie vielleicht die Spuren dieser «habitudes grossières et rudes» mildern, von denen die geschriebene wie die gesprochene Sprache seiner Mitbürger gegen deren Willen durchsetzt sei558. Ebenfalls mit dem Ziel, seinen Mitbürgern eine bessere Beherrschung des Französischen zu ermöglichen, veröffentlicht Léger Gary 1845 sein Dictionnaire patois-français à l'usage du département du Tarn et des départements circonvoisins559. Denn: Quel est celui en effet qui n'ignore point un grand nombre de mots de la langue française, et qui ne soit, pour cette raison, souvent obligé de se servir de longues et obscures périphrases, s'il ne veut avouer son ignorance, en terminant en langage vulgaire une phrase commencée en français 560 ?

Abbé Gary bedauert herzlich, daß in Frankreich nicht nur eine Sprache gesprochen wird, denn dann könnte man sich genauer ausdrücken, und es wäre leichter, sich zu verständigen: L'on ne trouverait point alors de ces personnes, comme on en voit tant aujourd'hui, qui croient avoir bien dit, lors-qu'elles ont donné une terminaison française, à un mot appartenant à l'idiome vulgaire 56 '.

1860 werden die alten Thermen von Lacaune wieder aufgebaut. Das Wasser von Lacaune genießt schon seit grauer Vorzeit den Ruf, eine heilende Wirkung für alle möglichen Krankheiten zu haben. Zu Ende des 19., Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich Lacaune zum Kurort, der zahlreiche Badegäste anzieht 562 . Nach 1914 wird die Badeanstalt jedoch in ein Kinderheim umgewandelt 563 . Nur eine der Quellen wird heute noch kommerziell genutzt, ihr Wasser für die Zubereitung von Säuglingsnahrung empfohlen 564 . Daran, daß Lacaune einmal ein Kurort war, erinnert nur noch der Name Lacaune-les-Bains, den man auf den meisten Ansichtskarten findet.

557

Combes, Statistique. . ., S. 176. Ebda., S. 127. 559 Léger Gary, Dictionnaire patois-français à l'usage du département du Tarn et des départements circonvoisins, Castres 1845 (Nachdruck, Genève 1978). 560 Ebda., S. Vf. 561 Ebda., S. VI. 562 Histoire. . S. 181ff. 563 Coffe, Lacaune, Reine. . ., S. 72. 564 Broschüre Lacaune, Tarn, S. 7. 558

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Badegäste kommen nicht mehr nach Lacaune. Dennoch wird die Zahl der Touristen pro Jahr auf ca. 1 000 geschätzt. Sie kommen fast ausschließlich im Sommer und wohnen in den drei großen Hotels oder den beiden kleinen Familienpensionen. Auch ein Campingplatz für 20 Zelte steht zur Verfügung, dessen Erweiterung seit Jahren auf dem Programm des Gemeinderats steht. Wieviele Ferienhäuser es in Lacaune und Umgebung gibt, war nicht zu erfahren, aber ihre Zahl steigt ständig. Immer mehr Leute bauen sich verlassene Höfe aus, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Auf einem Hof leben sogenannte Hippies aus Paris, eine Art Landkommune, die von der übrigen Bevölkerung zwar nicht ernst genommen, aber mehr oder weniger wohlwollend geduldet wird. Die Touristen kommen meist aus Südfrankreich. Viele sind aus Béziers, Montpellier oder anderen Küstenstädten und ziehen sich, wenn dort der große Touristenstrom einsetzt, für einige Wochen in die Stille der Lacauner Bergwelt zurück. Nur selten verlieren sich Ausländer in die abgelegene Gegend, jedoch haben in den letzten Jahren zwei holländische Familien ein Ferienhaus in der Nähe von Lacaune gekauft.

4.2

Interviews in Lacauner Familien

Meine Untersuchung zur sozialen Rolle des Okzitanischen in Lacaune begann im Februar 1977 und endete Anfang Juni desselben Jahres. Während dieser vier Monate wohnte ich in Lacaune und bemühte mich, möglichst weitgehend am Leben der Lacauner und an ihren Aktivitäten teilzunehmen, um durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung Schlüsse über das Sprachverhalten der Menschen zu ziehen und so die Ergebnisse meiner Umfragen ergänzen oder verifizieren bzw. berichtigen zu können 565 . Außerdem versuchte ich, nach der von Schlieben-Lange als «provokative Interaktion» bezeichneten Methode 566 mit möglichst vielen Leuten über das ins Gespräch zu kommen. Dazu gehörten auch Diskussionen mit Lehrern, Pfarrern, Ärzten, Gendarmen, Stadtverordneten, Bankangestellten, Kaufleuten usw.. Da ich 1975 zwei Monate lang in einem Café in Lacaune gearbeitet hatte, kannte ich bereits einen Teil der Einwohner. Es sprach sich dann bald herum, daß ich wieder nach Lacaune 565

566

Zur Methode der teilnehmenden Beobachtung im allgemein soziologischen Sinne siehe besonders Wylie, Dorf in der Vaucluse; und William Foote Whyte, Street Corner Society, Chicago 2 1955. - Zu den angewandten Methoden im einzelnen siehe Jürgen Friedrichs, Methoden empirischer Sozialforschung, Reinbek bei Hamburg 1973; und Elisabeth Noelle, Umfragen in der Massengesellschaft, Reinbek bei Hamburg 7 1976. Schlieben-Lange, Bagnols-sur-Céze. . ., S. 241 f.

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gekommen war, um nun, wie die meisten Leute meinten, das zu lernen. Um mir dabei zu helfen, gaben sie mir bereitwillig Auskunft auf meine Fragen, sprachen mich sogar häufig von selbst darauf an. Besonderen Spaß machte es ihnen, mich auf okzitanisch anzureden, um zu testen, ob ich auch Fortschritte machte, und sie waren stets begeistert, wenn ich sie verstand oder sogar versuchte, auf okzitanisch zu antworten. Von diesen Gesprächen fertigte ich Gedächtnisprotokolle an, die einen Teil der Untersuchungsergebnisse bilden. Neben diesen beiden Formen der Interaktion mit den Menschen in Lacaune (Teilnahme an ihrem Leben, soweit das möglich war; bewußte Herausforderung zum Gespräch, bedingt durch meine Rolle als «Patoisstudentin»), die ich während der ganzen vier Monate fortsetzte 567 , führte ich zwei andere Arten der Untersuchung durch: Interviews in einer Reihe von Lacauner Familien und eine Fragebogenaktion in den Lacauner Schulen.

4.2.1

Vorbereitung und Durchführung der Interviews

Für die Interviews hatte ich nach umfangreicher Lektüre über soziolinguistische Umfragen einen Fragebogen vorbereitet. Darin sollten zuerst die aus den bisherigen Untersuchungen und Arbeiten über das Okzitanische ableitbaren Hypothesen überprüft werden. Diese sind: - Okzitanisch ist die Sprache der Familie und der freundschaftlichen Beziehungen unter Nachbarn und bei der Arbeit, besonders für die ältere Generation und die Männer. - Französisch ist die Sprache der Fremden, der offiziellen Einrichtungen, der «großen Welt» und damit des sozialen Weiterkommens 568 . - Okzitanisch ist die Sprache der Landarbeit, die Sprache «vom Lande» überhaupt, und damit die grobe, ungeschliffene Sprache, während Französisch die «vornehme» Sprache, die Sprache der Stadt, aber auch schon die Sprache der Ortschaften ist, in denen vorwiegend Fabrikarbeiter wohnen 569 . Daraus ergeben sich als Hauptparameter Geschlecht, Alter, Beruf bzw. Schichtzugehörigkeit, geographische Herkunft, Wohnort, Arbeitsort, Wohndauer in Lacaune, eventuelle frühere Wohnorte, Schulabschluß bzw. Ausbildungsniveau, Herkunft der Eltern und ihr Beruf bzw. ihre Schichtzugehörigkeit 570 . 567

Hierin folgte ich eng dem Verfahren von Brigitte Schlieben-Lange, das sie in ihrer Untersuchung in Bagnols-sur-Cèze anwandte (a.a.O., S. 242). 568 Maurand, Contribution. . ., S. 375f.; Schlieben-Lange, Okzitanisch. . S. 44ff. 569 Maurand, Contribution. . ., S. 375f.; Tabouret-Keller, A Contribution. . S. 37If. 570 Dieselben Faktoren, aufgeteilt in objektive und subjektive, erwähnt auch Kremnitz als ausschlaggebend für die Okzitanischkenntnisse eines Südfranzosen (Kremnitz, Versuche. . ., S. 330f.; siehe auch S. 45ff. dieser Arbeit). 101

Die Fragen nach dem Sozialstatus der Gewährspersonen bilden den ersten Teil des Fragebogens (4.2.4.1)571. Der zweite Teil betrifft die Okzitanischkenntnisse der Familien 572 mit den Fragen: - Savez-vous parler patois? - Qu'est-ce que vous savez dire en patois? - Comprenez-vous le patois quand vous l'entendez parler?51* -

Vos parents/grands-parents

parlent-ils

patoisF1*

- Comment avez-vous appris le patois? - Quand avez-vous appris le patois? Die Fragen «Savez-vous parler patois?» und «Comprenez-vous le patois quand vous l'entendez parler?» sind die beiden einzigen, für die ich eine Antwortskala vorformuliert hatte. Alle anderen sind offene Fragen, d. h. sie enthielten keine Antwortvorgaben (4.2.4.2)575. Der dritte Komplex versucht, nach der Fishmanschen Fragestellung «Wer spricht welche Sprache mit wem und wann» 576 die verschiedenen Anwendungsbereiche und -häufigkeiten des Okzitanischen festzustellen. Es wurden dabei besonders die Domänen Familie, Arbeit, Schule, Religion, «Erledigungen außer Haus» und Bekanntschaften berücksichtigt (4.2.4.3)577. Die Fragen lauteten: - Quand parlez-vous patois?57* (4.2.4.3.1) - Avec qui parlez-vous Domäne Familie

571

579

patois?

(4.2.4.3.2.1):

Die in Klammern eingefügten Zahlen verweisen auf das jeweilige Kapitel dieser Arbeit, in dem die dazugehörenden Antworten dargestellt werden. 572 Hier konnten nicht die objektiven Sprachkenntnisse getestet werden - dazu verstehe ich selbst zu wenig Okzitanisch - sondern es wird nur die Selbsteinschätzung der Menschen in bezug auf ihre Okzitanischkenntnisse wiedergegeben. 573 Diese und die erste Frage dieses Teils werden auch in allen anderen mir bekannten Umfragen über das Okzitanische gestellt. 574 Diese Frage stellten auch Kirsch, Studien. . ., S. 160; und Gagin, Enquête. . ., S. 2. 575 Zur Erarbeitung des Codes siehe Kapitel 4.2.2 dieser Arbeit. 576 Joshua A. Fishman, Who speaks what language to whom and when?, Linguistique 2, 1965, S. 67-88. 577 Zu den Domänen siehe Fishman, Soziologie.. ., S. 50ff. 578 Eine ähnliche Frage stellte auch Moulins, Etude. . ., S. 79. " ' Ä h n l i c h e Fragen wie in dieser Domäne und den folgenden finden sich mehr oder weniger differenziert in den meisten der dargestellten Untersuchungen (siehe Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit).

102

- avec votre

époux/se?

- avec vos parents? - avec vos grands-parents ou d'autres vieux parents? - avec vos

frères/sœurs/cousins/cousines/beaux-frères/belles-sœurs?

- avec vos enfants? - avec vos petits

enfants?

Domäne Arbeit (4.2.4.3.2.2): - Parlez-vous patois avec vos collègues de travail? - Parlez-vous patois avec les clients (ou d'autres gens auxquels vous avez affaire par votre travail)? - Quelle langue parlez-vous aux bêtes? Domäne Schule (4.2.4.3.2.3): - Le patois a-t-il joué/joue-t-il

un rôle à l'école?

Domäne Religion (4.2.4.3.2.4): - Parlez-vous patois avec le

curé/pasteur?

Domäne Erledigungen außer Haus (Behördengänge, Einkäufe etc.)580 (4.2.4.3.2.5): - Parlez-vous patois à la mairie/la poste/la - En faisant vos courses, parlez-vous

banque?

patois?

Domäne Bekanntschaften (4.2.4.3.2.6): - Avec quelles gens que vous connaissez bien parlez-vous

patois?

Sollten in diesen ersten drei Fragenkomplexen bereits bestehende Hypothesen überprüft werden, so diente der im folgenden behandelte vierte Komplex dem eher beschreibenden, explorativen Teil der Untersuchung 58 '. Hier wird versucht, Erkenntnisse über das Sprachbewußtsein der Lacauner zu gewinnen. Es sollte festgestellt werden, was sie über ihre Sprache wissen, wie sie sie einschätzen, wie sie sie geographisch einordnen, 580

581

Hier eine einheitliche Domäne zu etablieren, ist an sich nicht möglich, da innerhalb der Beziehungen des Bürgers zu den in Frage kommenden Einrichtungen zahlreiche Abstufungen bestehen, so z. B. in der Kette Rathaus - Bank - Post - Supermarkt - kleine Bäckerei an der Ecke. Diese alle einzeln zu untersuchen, würde jedoch zu einer zu großen Aufsplitterung führen und so die Ergebnisse unbrauchbar machen. Zur Unterscheidung zwischen beschreibenden (deskriptiven) und analytischen (Hypothesen prüfenden) Untersuchungen siehe Friedrichs, Methoden. . ., S. 107ff.

103

inwieweit sie von der gegenwärtigen okzitanischen Bewegung Kenntnis genommen haben, wie sie zu ihr stehen und welche Überlebenschancen sie ihrer Sprache geben (4.2.4.5)582. Ein erster Appell an das Sprachgefühl der Interviewten ist die Frage (4.2.4.5.1): - Quelle est la langue que vous parlez avec plus de plaisir, le français ou le patois?SSi Wie die Lacauner die Okzitanischkenntnisse ihrer Mitbürger einschätzen, sollte mit den nächsten beiden Fragen festgestellt werden (4.2.4.5.2): - Combien de gens y a-t-il à peu près à Lacaune qui savent parler patois? - Combien de gens y a-t-il à peu près à Lacaune qui comprennent le patois? Um Kenntnisse über die geographische Ausdehnung des Okzitanischen und die Interkomprehensibilität seiner Dialekte geht es in den folgenden Fragen (4.2.4.5.3): - Jusqu'où peut-on se faire comprendre en parlant le patois de LacaunefM - Avez-vous fait l'expérience de parler ou entendre parler patois ailleurs qu'à Lacaune? Die nächste Frage sollte Aufschluß über das Sprachbewußtsein der Lacauner geben (4.2.4.5.4): - Qu'est-ce que c'est d'après vous, le patois; qu'est-ce qu'il représente pour vous? Wichtig für das Prestige einer Sprache und ihre Anerkennung als Sprache ist das Vorhandensein einer Schriftsprache und einer Literatur 585 . Iii einer diglossischen Gesellschaft wie der okzitanischen sind jedoch schriftliche Kommunikation und Literatur fast ausschließlich der A-Varietät, hier dem Französischen, vorbehalten 586 . Die okzitanische Bewegung hat daher die Durchsetzung der «graphie occitane» sowie die weite Verbreitung okzitanischer Literatur und Gebrauchsprosa und die Ausdehnung des Okzitanischunterrichts zu ihren Zielen gemacht 587 . Inwieweit darin in Lacau582

Solche Untersuchungen werden besonders gefordert von Schlieben-Lange, La conscience linguistique. . S. 303; und dies., Sociolinguistique-Rapport, Colloque International sur la Recherche en Domaine Occitan, Montpellier 1975, S. 123ff. Siehe dazu auch Robert Lafont, Un problème de culpabilité sociologique: la diglossie franco-occitane, Langue française 9, 1971, S. 97ff. 583 Maurand, Contribution. . ., S. 373. 584 Eine ähnliche Frage stellten auch Gagin, Enquête. . . , S. 2; Moulins, Etude..., S. 83; und Derdevet, Essai d'étude. . ., S. 69. 585 Siehe dazu S. 1 f. dieser Arbeit. 386 Vgl. Lafont, Un problème. . ., S. 93ff. 587 Siehe Gaston Bazalgues, L'occitan ièu-lèu eplan, Paris 1975, Vorwort von Robert

104

ne bereits Erfolge erzielt worden sind, sollte durch die folgenden Fragen festgestellt werden (4.2.4.5.5): - Lisez-vous le patois?™ - Qu'est-ce que vous lisez en patois?5*9 - Ecrivez-vous le patois?590 In den Lacauner Schulen gibt es keinen Okzitanischunterricht. Das I. E. O. fordert jedoch, daß in allen Schulen des Midi Okzitanischunterricht angeboten wird591. Die nächsten beiden Fragen sollten erkunden, wie die Lacauner zu der Möglichkeit eines solchen Unterrichts stehen. Ihre Antworten spiegeln zugleich ihre Einstellung zum Okzitanischen überhaupt wider (4.2.4.5.6): - Qu'est-ce que vous pensez des cours

d'occitan?92

- Est-ce qu'il faudrait donner des cours d'occitan à Lacaune? Für das Weiterleben einer Sprache ist es wichtig, daß sie auch im Umgang mit Kindern gebraucht wird. Die Einstellung der Befragten zu diesem Thema sollte durch die folgende Frage angesprochen werden (4.2.4.5.7): - Doit-on parler patois aux

enfants?91

Die Rolle des okzitanischen Chansons für die Schaffung eines okzitanischen Bewußtseins ist oft betont worden 594 . Ob es auch in Lacaune bekannt geworden ist und gehört wird, sollten die beiden nächsten Fragen ermitteln (4.2.4.5.8): - Connaissez-vous des chansons en patois? - Passe-t-on des chansons en patois à la radio/à la télé? Eine breite Vertretung des Okzitanischen in den Massenmedien Radio und Fernsehen wird meist als Möglichkeit zur Wiederbelebung bzw. Stärkung dieser Sprache angesehen. Deshalb fordert das I. E. O. drei Stunden okzitanische Sendungen pro Woche sowohl im Radio als auch im regionalen Fernsehen 595 . Die folgende Frage betrifft die Meinung der Lacauner zu solchen Sendungen (4.2.4.5.9): Lafont, S. 5f.; und J. Rouquette, La littérature. . ., S. 5ff. Zu den Kodifikationsp r o b l e m e n siehe besonders Kremnitz, Versuche. . .. 588 Wird auch gefragt von Moulins, Etude. . ., S. 77; und Gagin, Enquête. . ., S. 2. 589 Wird auch gefragt von Derdevet, Essai d'étude. . ., S. 69. 590 Wird auch gefragt von Kirsch, Studien. . ., S. 161 ; und Moulins, Etude. . ., S. 7. 591 I.E.O., Lettre ouverte. . ., S. 7f. 592 Wird auch gefragt von Gagin, Enquête. . ., S. 2. 593 Wird auch gefragt von Gagin, Enquête. . ., S. 2. 594 Siehe z. B. Wolf, Sprachlich-kulturelle Minderheiten. . ., S. 590; u n d Le Bris, Occitanie. . ., S. 233ff. 595 1.E.O., Lettre ouverte. . ., S. 9f.

105

- Aimeriez-vous que la radio/la télé diffuse régulièrement des émissions en patois?596 Auch die letzten Fragen betreffen direkt oder indirekt die Einstellung der Lacauner zu ihrem : - Qu'est-ce que vous pensez de l'avenir du patois?591 (4.2.4.5.10) - Si le patois se perdait, le regretteriez-vous? (4.2.4.5.11) - Qu'est-ce qu'il faudrait (4.2.4.5.12)

faire

pour

maintenir

ou sauver le

patois?

Für diese endgültige Fassung des Fragebogens waren die einzelnen Fragen in zahlreichen ungezwungenen Gesprächen mit Lacauner Bürgern auf ihre Verständlichkeit und Ergiebigkeit hin vorgetestet worden. So entschied ich mich z. B. aufgrund dieser Gespräche dazu, in den Fragen für das Okzitanische durchgehend die Bezeichnung zu verwenden und nicht «occitan» oder «langue d'oc», weil ich festgestellt hatte, daß viele meiner Gesprächspartner damit nichts oder nur sehr wenig anfangen konnten und sie häufig nicht mit «ihrem patois» assoziierten. Indem ich nach dem Verfahren der Wahrscheinlichkeitsauswahl 598 im Rathaus von Lacaune aus den Volkszählungslisten von 1975 jeden 15. Haushalt notierte, erhielt ich eine Stichprobe von 65 Adressen. Dabei wurden auch die ausländischen Familien berücksichtigt, da ich bei meinen Beobachtungen festgestellt hatte, daß die Ausländer nach längerem Aufenthalt in Lacaune meist etwas Okzitanisch verstehen und manchmal auch sprechen. Damit hatte ich von den knapp 1 000 Haushalten in Lacaune ca. 6,5% erfaßt. Mit dem Fragebogen in der Tasche besuchte ich die so ermittelten Familien 599 , erklärte, daß ich eine Studie über das machen müsse, und bat um ein Interview 600 , das mir fast überall nach kurzem Zögern bereitwillig gewährt wurde. Nur vier der 65 Familien weigerten sich, mir Auskunft zu geben. In dreien von diesen vier Fällen handelte es sich um ältere Ehepaare (Rentner), die meinten, daß sie zu alt seien, um meine Fragen zu beantworten, daß diese sie auch nicht interessierten. Im vierten Falle erklärte mir der Familienvater (geboren 1930), daß er nicht 596

Wird auch gefragt von Gagin, Enquête. . ., S. 2. Ähnliche Fragen wie diese und die folgende stellte auch Kirsch, Studien..., S. 160. 598 Zu diesem Auswahlverfahren siehe Friedrichs, Methoden. . ., S. 135ff.; und Noelle, Umfragen. . ., S. 114ff. 599 In drei Fällen handelt es sich um Einpersonenhaushalte. Ich hoffe, man wird mir verzeihen, daß ich der Einfachheit halber und wegen des angenehmeren Klanges durchgehend von Familien spreche. 600 In sechs Fällen stellte sich heraus, daß die betroffene Familie aus Lacaune fortgezogen war. Ich ersetzte sie dann durch die Familie, die die Wohnung übernommen hatte. 597

106

intelligent genug sei für ein Interview und sowieso genug eigene Probleme habe. Ich solle doch kompetentere Leute fragen. Das war überhaupt häufig die erste Entgegnung der Leute, wenn ich mein Anliegen vorgetragen hatte. Fast alle meinten erst einmal, mir dazu gar nichts sagen zu können; die Jüngeren wollten mich zu den alten Leuten schicken, weil die viel besser sprächen, die Älteren wiederum empfahlen mir, doch lieber die jungen Leute aufzusuchen, weil die sich eher für solche Probleme interessierten. Wenn ich dann jedoch erklärte, daß ich ein repräsentatives Bild darüber haben wollte, wieviele Menschen in Lacaune sprechen bzw. verstehen und was sie darüber denken, waren sie bereit, sich meine Fragen anzuhören. Es erwies sich dann, daß sie mir meist sogar sehr viel dazu sagen konnten. Die Interviews dauerten im Schnitt eine knappe Stunde, das kürzeste war nach 20 Minuten beendet, die längsten erreichten zwei Stunden und endeten dann mit Kaffee und Gebäck oder beim Apéritif. Leider war es mir aus technischen Gründen nicht möglich, die Interviews auf Tonträger aufzunehmen. Zwei Tage vor Beginn der Interviews trat an dem dafür vorgesehenen Kassettenrekorder ein Defekt auf, der kurzfristig nicht repariert werden konnte. Um nicht zu viel Zeit zu verlieren, entschloß ich mich deshalb, auf die Aufnahmen zu verzichten und stattdessen so viel wie möglich mitzuschreiben. Ich glaube auch, daß es schließlich besser so war, denn dem anfänglichen Mißtrauen der Menschen nach zu urteilen, hätten sicherlich angesichts eines Tonbandgerätes viel mehr Familien ein Interview verweigert. Ein großes Problem bildete die unterschiedliche Anwesenheit der Familienmitglieder bei den Interviews. Ideal wäre es gewesen, wenn sich jeweils die ganze Familie hätte versammeln können und jeder auf jede Frage geantwortet hätte. Das war jedoch praktisch gar nicht durchführbar, und ein solcher Aufwand wäre auch von den Befragten als unangemessen im Verhältnis zu meinem Anliegen angesehen und deshalb abgelehnt worden 601 . Ich war also weitgehend auf die Bereitschaft zur Zusammenarbeit angewiesen und in erster Linie darauf, wer gerade zu Hause war, wenn ich schellte. Ich hatte zwar vorgehabt, beim ersten Besuch immer nur einen Termin für das Interview auszumachen, aber meist war es den Leuten lieber, gleich meine Fragen zu beantworten. Ich versuchte daher, soweit es ging, zu einem Zeitpunkt bei den Familien einzutreffen, zu dem möglichst viele Mitglieder zu Hause waren. Am günstigsten erwies sich dabei der Samstagnachmittag oder die Zeitspanne zwischen 18.00 Uhr und 19.30 Uhr, wenn die Leute von der Arbeit zurückgekehrt waren, aber noch nicht 601

«Die Befragten gewähren ein Interview ( . . . ) , aber sie lassen sich nicht kommandieren, sie fühlen sich zu nichts verpflichtet, sie haben keinen Grund, einem Interviewer zu erlauben, sie zu strapazieren, sie geistig turnen zu lassen» (Noelle, Umfragen. . ., S. 84).

107

mit dem Essen begonnen hatten, obwohl es natürlich häufig vorkam, daß dann der Mann zum Apéritif im Café war und die Frau noch gerade einkaufen mußte oder das Essen vorbereitete 602 . Und selbst wenn alle Familienmitglieder zu Hause waren und Zeit hatten, so wurde es doch häufig als klare Aufgabe der Frau oder der Großeltern angesehen, auf meine Fragen zu antworten. Eine gewisse Überrepräsentierung von Frauen und alten Leuten ließ sich daher trotz aller Bemühungen nicht vermeiden 603 . Die Personen, mit denen ich die Interviews schließlich durchführen konnte, bat ich, mir, soweit es ihnen möglich war, in den ersten drei Teilen des Fragebogens auch über die restlichen Familienmitglieder Auskunft zu geben, d. h. ob z. B. der Mann, die Mutter oder der Sohn auch spreche oder verstehe, wie er es gelernt habe, wann er es anwende usw.. Es ist klar, daß diese Antworten über das Sprachverhalten Dritter subjektiv sind und sicherlich von den Einstellungen des Antwortenden zum Okzitanischen beeinflußt wurden. Deshalb wurde auch in der Auswertung bei den Grundauszählungen zwischen direkten und indirekten Antworten unterschieden. Ähnliche Vorbehalte gelten jedoch generell auch für Angaben, die Befragte über sich selbst, ihren eigenen Sprachgebrauch, machen. Ein Problem soziolinguistischer Umfragen liegt darin, daß durch Interviews immer nur ermittelt werden kann, was für Vorstellungen die Befragten von ihrem Sprachverhalten haben bzw. geben wollen - Vorstellungen, die wiederum beeinflußt werden von den vermeintlichen oder auch tatsächlichen Erwartungen der Fragenden. Wie weit diese Darstellungen jeweils von der sprachlichen Realität abweichen, ist schwer festzustellen, da letztere nicht immer ohne weiteres zugänglich ist. Ich habe versucht, diese eventuelle Diskrepanz in den Antworten durch die Konfrontation mit meinen Beobachtungen und mit Antworten auf andere Fragen so weit wie möglich aufzudecken und zu erklären, um sie so in das Bild der sozialen Rolle des Okzitanischen in Lacaune mit eingehen zu lassen - denn auch die Darstellung der sprachlichen Situation durch die Beteiligten trägt ja ihr Teil zu diesem Gefüge bei. Die Interviews wurden nach Möglichkeit in der Form einer zwanglosen Unterhaltung durchgeführt. Ich hatte zwar den Fragebogen zu meiner eigenen Orientierung (um keine Fragen zu vergessen) vorliegen, er konnte jedoch von den Interviewten nicht eingesehen werden. Ich hielt mich auch nicht streng an die Fragenformulierung und -reihenfolge, sondern bemühte mich eher, meine Interviewpartner zum Reden zu bringen, was mir 602

603

Während des Essens selbst oder noch später, während der Fernsehzeit, zu kommen, wäre als unhöflich angesehen worden. U m diesen Mangel auszugleichen, bemühte ich mich, in den Phasen der provokativen Interaktion besonders mit Männern und jüngeren Leuten über das ins Gespräch zu kommen, was mir auch gelang. Die Gruppe der zehn- bis fünfzehnjährigen Kinder wurde durch die Schülerbefragung gesondert untersucht.

108

meist auch gelang. Sie erzählten dann freimütig über ihre Erfahrungen mit dem , beantworteten so manche Frage, bevor ich sie überhaupt gestellt hatte, und fügten noch viele interessante Details und Erklärungen hinzu, auf die leider im Rahmen dieser Arbeit nur vereinzelt in Nebenbemerkungen eingegangen werden kann. Die Fragen stellte ich in dem in Lacaune üblichen «français régional» den südfranzösischen «accent» hatte ich mir inzwischen angewöhnt. Die Tatsache, daß ich als Ausländerin und Deutsche nach Lacaune kam, hat meiner Untersuchung, soweit ich das beurteilen kann, nicht geschadet und wurde auch, besonders bei den Interviews, nicht immer sofort bemerkt. Zum Teil wunderten sich die Leute darüber, daß sich ausländische Studenten mit ihrem beschäftigen, worin sie keinen Sinn sahen, zum Teil erfüllte sie das jedoch auch mit Stolz, wenn sie darin eine Aufwertung ihrer Sprache erblickten. Im allgemeinen hatte ich das Gefühl - und das ist in diesem Zusammenhang sicher auch nicht unwichtig - , daß mir offen und vorbehaltlos geantwortet oder besser berichtet wurde.

4.2.2

Erarbeitung des Codes und Auswertung der Untersuchung

Die Formulierung der Antworten auf die Fragen war, wie erwähnt, nicht vorgegeben. Ich wollte bewußt die Befragten nicht auf wenige stereotype Antwortmöglichkeiten festlegen, sondern sie dazu stimulieren, eigene, von bisherigen Untersuchungsergebnissen und von meiner Meinung unbeeinflußte Antworten zu geben. Dies gilt besonders für die Fragen nach der Einstellung zum Okzitanischen; aber auch bei den anderen Teilen des Fragebogens war den Befragten freier Lauf gelassen. Die gewonnenen Informationen wurden erst nach Beendigung der Untersuchung klassifiziert und kodiert. Nur für die Antworten auf die Fragen «Savez-vous parier patois?» und «Comprenez-vous le patois quand vous l'entendez parler?» hatte ich von vornherein die Vier-Punkte-Skala von Andrée TabouretKeller übernommen 6 0 4 :«je le parle couramment/moyennement/un peu/ pas du tout» und «je comprends tout/moyennement/un peu/rien». Ich stellte immer zuerst die oben zitierte grundsätzliche Frage. Wenn der Interviewte antwortete, er könne sprechen, zählte ich ihm die ersten drei Antworten der erwähnten Skala auf französisch auf und bat ihn, mir die für ihn zutreffende zu nennen, um eine genauere Einteilung zu erhalten. Gab der Befragte an, er spreche kein , so fragte ich, ob er wirklich gar nichts auf sagen könne oder ob er vielleicht doch einige Sätze zustandebekäme. Es stellte sich dabei oft heraus, daß die Befragten zuerst mit «nein» geantwortet hatten, weil sie keine komplizierten 604

Tabouret-Keller, A Contribution.

. ., S. 368.

109

Gespräche auf okzitanisch führen konnten, obwohl sie durchaus einige Grundkenntnisse in dieser Sprache hatten. Auch bei einigen anderen Fragen bat ich die Befragten des öfteren um Präzisierung. Antworteten sie z. B. auf die Frage «Quand avez-vous appris le patois?» nur mit «très tôt» oder «quand j'étais petit», bat ich sie, mir möglichst genau mitzuteilen, wie alt sie damals waren und ob sie schon sprechen konnten, bevor sie Französisch lernten. Für Antworten wie «le patois était ma première langue», «j'ai appris le français à l'école» oder «quand j'étais tout petit, je ne parlais que patois» bildete ich für die Auswertung die Antwortkategorie «als einzige Muttersprache». Antworten wie «j'ai appris les deux à la fois» oder «j'ai toujours entendu parler patois et français à la maison» kamen in die Kategorie «gleichzeitig mit dem Französischen». In die Kategorie «mit weniger als zehn Jahren» ordnete ich Antworten wie «j'ai d'abord appris à parler français, mais je comprenais déjà le patois avant de commencer l'école» oder «j'étais petit, j'avais pas encore dix ans» und in die Kategorie «zwischen zehn und zwanzig Jahren» Angaben wie «on n'a pas vraiment commencé à me parler patois que quand j'avais douze ou treize ans» oder «j'ai appris le patois au chantier, quand j'ai commencé à travailler; j'avais seize ans». Wer noch später Okzitanisch gelernt hat, etwa weil er erst in den «Midi» kam, als er schon über zwanzig Jahre alt war, kam in die Kategorie «später». Für die allgemeine Frage «Quand parlez-vous patois?», die den dritten Teil des Fragebogens zum Gebrauch des Okzitanischen einleitete, bildete ich eine ziemlich eng gestufte Skala von Antwortkategorien, um die Vielfalt der Antworten möglichst genau wiederzugeben. Dabei fielen Angaben wie «pratiquement toujours» oder «presque tout le temps» in die Kategorie «fast immer». Antworten wie «souvent», «très souvent» oder «assez souvent» wurden zu «oft» zusammengefaßt, während «de temps en temps», «parfois» u. ä. die Kategorie «manchmal» bilden. In die Kategorie «selten» ordnete ich Antworten wie «rarement» oder «pas souvent», und die Angaben «pratiquement jamais» bzw. «jamais» machen schließlich die Kategorien «fast nie» bzw. «nie» aus. Für die folgenden Fragen dieses Teils erwies sich eine so weit differenzierte Einteilung der Antworten als unhandlich und unübersichtlich. Die Anzahl der Kategorien wurde deshalb in den meisten Fällen auf drei reduziert: «fast immer», «manchmal», «nie». Dabei faßte ich unter «manchmal» all die Antworten zusammen, die in der vorigen Frage auf die Kategorien «oft», «manchmal», «selten» und «fast nie» verteilt worden waren, also z. B. Angaben wie «assez souvent», «de temps en temps», «parfois», «pas souvent», «rarement» u. ä.. Der Umfang der Kategorien «fast immer» und «nie» wurde dagegen nicht erweitert. Antworteten die Befragten z. B. auf Fragen wie «Parlez-vous patois avec votre épouse?» nur mit «oui», so versuchte ich, sie durch die Rückfrage «toujours?» zu einer Präzisierung ihrer Angabe zu bringen. So erhielt ich dann eine der oben 110

angeführten Antworten, die ich später in eine der dargestellten Kategorien einordnen konnte. Auf die Fragen «Parlez-vous patois avec le curé/pasteur?» und «Parlezvous patois à la mairie/la poste/la banque?» erhielt ich neben negativen Antworten nur Angaben wie «rarement», «parfois», «ça m'arrive, mais c'est plutôt rare» u. ä., so daß sich die Kategorie «fast immer» erübrigte und ich nur nach «manchmal» und «nie» ordnete. Eine Einteilung nach Anwendungshäufigkeit war nicht für alle Domänen durchführbar. So ergänzten die Interviewpartner, die die Frage «Parlez-vous patois avec les clients (ou d'autres gens auxquels vous avez affaire par votre travail)?» bejahten, ihre Antwort meist durch eine Charakteristik der Kunden, mit denen sie sprechen. Sie sagten z. B. «oui, avec les anciens qui sont du coin», «oui, avec les gens âgés et les paysans» oder «oui, avec les gens de la campagne et les personnes âgées». Für diese Antworten bildete ich die Kategorie «mit alten Kunden und mit Kunden vom Land» 605 . Antworten wie «oui, avec les vieux de la campagne» oder «oui, avec les vieux paysans» kamen in die Kategorie «mit alten Kunden vom Land». Nur wenige Befragte machten keine solchen Eingrenzungen, sondern antworteten z. B. «oui, autant que possible» oder «oui, avec tous ceux qui le comprennent». Die Antworten wurden in die Kategorie «mit allen, die es verstehen» geordnet. Die Interviewpartner, die diese Frage verneinten, fragte ich, ob sie auch nie auf angesprochen würden. Angaben wie «oui, ça arrive, mais dans ce cas, je réponds en français» erlaubten mir die Aufteilung der negativen Antworten auf die Kategorien «nein, auch dann nicht, wenn der Kunde okzitanisch fragt» für diejenigen, die die Nachfrage bejahten, und «nein, alle Kunden sprechen mich auf französisch an» für diejenigen, die auch diese verneinten. In der Domäne Bekanntschaften waren ähnliche Antworten wie in der Frage nach den Kunden durch die Fragestellung gewissermaßen vorgegeben: «Avec quelles gens que vous connaissez bien parlez-vous patois?» Hier war wegen der Fülle der Personengruppierungen in den Antworten eine Klassifizierung derselben besonders schwierig, und ich mußte schließlich fünf Kategorien bilden, um die Vielfalt einigermaßen wiedergeben zu können. Angaben wie «si je sais que les autres comprennent, je parle toujours patois» oder «je parle patois avec tous ceux qui le comprennent» bilden die Kategorie «mit allen, die es verstehen». Die meisten schränkten jedoch wieder nach Alter und Herkunft (Stadt/Land) ein und sagten z. B. «on le parle avec quelques voisins âgés», «je parle patois avec les personnes âgées du quartier et avec les gens de la campagne», «je le parle avec les 605

In insgesamt drei Fällen waren nur alte K u n d e n oder nur K u n d e n v o m Land g e n a n n t worden. D i e s e A n t w o r t e n ordnete ich der Einfachheit halber auch der Kategorie «mit alten K u n d e n und mit K u n d e n v o m Land» zu.

111

vieux du village», «c'est avec les gens dans les fermes qu'on parle patois». Eine weitere wichtige Gruppe waren die Freunde, die «copains». Häufig kamen Antworten wie «entre copains on parle souvent patois» oder «parfois on échange quelques mots en patois entre copains, pour rigoler». Um den Kombinationen dieser drei Personengruppen - den alten Leuten, den Leuten vom Land und den Freunden -, die in den Antworten tatsächlich vorkamen, gerecht zu werden, hätte ich dafür fünf Kategorien aufstellen müssen. Da jedoch nur drei Befragte nur die Leute vom Land und nur neun Befragte nur die alten Leute genannt hatten, faßte ich diese mit den 33 Befragten, die beide Personengruppen gemeinsam aufgeführt hatten, zu der Kategorie «mit alten Leuten und/oder mit Leuten vom Land» zusammen. Die beiden anderen Kategorien sind: «mit alten Leuten, mit Leuten vom Land und mit meinen Freunden» und «mit meinen Freunden». Die Antwort «avec personne» schließlich wird durch die Kategorie «mit gar keinen Bekannten» wiedergegeben. Die Angaben darüber, wie oft die Befragten im Umgang mit diesen Personengruppen sprechen, konnten für die Auswertung leider nicht berücksichtigt werden, da sich sonst die Anzahl der Kategorien noch vervielfacht hätte und die Ergebnisse wegen zu kleiner Besetzungszahlen in einigen Kategorien unbrauchbar geworden wären. Die Antworten auf die Frage «Le patois a-t-il joué/joue-t-il un rôle à l'école?» ließen keine der bisher dargestellten Klassifikationen zu. Sie lauteten «Oui, l'instituteur s'en servait pour nous expliquer l'orthographe française» oder «Il était interdit de parler patois à l'école» oder «Le patois ne jouait/ne joue aucun rôle à l'école; tout le monde parlait/parle français». Erhielt ich die zweite dieser drei Antworten, so fragte ich zurück, ob denn ein Verstoß gegen dieses Verbot geahndet wurde, ob die Schüler, die sprachen, bestraft wurden. Darauf gab es einmal Verneinungen wie «non, c'était pas très strict, on le parlait quand même» oder «non, l'instituteur n'y faisait pas trop attention» und zum anderen Bejahungen wie «oui, l'instituteur nous faisait écrire des lignes» oder «oui, on avait quelques heures de colle, si l'instituteur nous attrappait». Diesen vier Antworttypen entsprechend bildete ich für die Auswertung vier Kategorien: «ja, der Lehrer benutzt(e) es, um die französische Rechtschreibung zu erklären», «es war verboten, zu sprechen, aber Verstöße gegen dieses Verbot wurden nicht bestraft», «es war verboten, zu sprechen, und Verstöße wurden bestraft», «nein, das spielt(e) keinerlei Rolle, alle sprechen/sprachen französisch» 606 . Vorgegebene Antworten hätten sicherlich übersichtlichere, einheitlichere und einfacher zu interpretierende Ergebnisse geliefert, hätten aber andererseits ein fertiges Schema gebildet, in dem für unerwartete Antwor606

Wie die Antworten auf die Einstellungsfragen kodiert wurden, wird im einzelnen bei der Besprechung der Ergebnisse dieses Teils (4.2.4.5) dargestellt.

112

ten wenig Spielraum gewesen wäre, der Befragte ja auch nicht dazu angeregt worden wäre, andere als die aufgezählten Antworten zu geben. Die Auswahl und Formulierung der Antworten und somit auch die Ergebnisse wären sicherlich durch frühere Untersuchungen und durch meine eigene Einstellung eingeengt worden. Deshalb habe ich es vorgezogen, die Antworten erst nach Durchführung aller Interviews zu klassifizieren und zu kodieren. Nachdem ich jeder Antwortkategorie eine Codezahl zugeordnet hatte, übertrug ich die so verschlüsselte Information auf IBM-Lochkarten und wertete sie nach dem Datatext-Programm 607 maschinell aus. In einer Grundauszählung wurden zunächst die Häufigkeiten, aufgeteilt in direkte und indirekte Antworten, wiedergegeben. Dann wurden in zahlreichen Kreuztabellen verschiedene Variablen miteinander kombiniert, um Zusammenhänge und Beziehungen zwischen ihnen zu untersuchen. So wurde z. B. geprüft, welche Rolle Geschlecht, Alter, Berufsgruppe bzw. Schichtzugehörigkeit usw. für die Wahl der Sprache und die Einstellung zu ihr spielen. Erhebungseinheit für diese Umfrage waren Haushalte bzw. Familien in Lacaune. Untersuchungszinheilzn dagegen waren jeweils Familienmitglieder als Einzelpersonen. Es ist anzunehmen, daß statistisch gesehen der Sprachgebrauch in einem größeren Haushalt, in dem zwei oder mehr Generationen leben, ein anderer ist, als in einem Haushalt, in dem nur eine Generation lebt. Zwischen Größe und Zusammensetzung des Haushalts einerseits und der Verwendung des Okzitanischen durch die Familienmitglieder andererseits können also Korrelationen bestehen. Deshalb können Antworten von Personen, die ich auf der Grundlage einer Stichprobe von Haushalten befragt habe, nicht als uneingeschränkt repräsentativ für die Gesamtheit der Einwohner von Lacaune angesehen werden, doch dürfte der durch die Ergebnisse vermittelte Eindruck nur geringfügig von den tatsächlichen Gegebenheiten abweichen. Uneingeschränkt verallgemeinern lassen sich diese Aussagen jedoch auf die Grundgesamtheit der Familien in Lacaune 608 . Es wurde deshalb auf der Grundlage der gewonnenen Daten eine Analyse durchgeführt, in der die Information über jede Familie nach folgenden Variablen zusammengestellt, kodiert und ausgewertet wurde (Sekundäranalyse) 609 : 1) Wohnort der Familie: 2) Schichtzugehörigkeit610

Lacaune-Stadt/Weiler - ältere

Generation611: Landwirtschaft/Arbeiterschaft/Mittelschicht

607

Siehe J. D. Armor/A. S. Couch, The Datatext Primer, New York 1971. Zu den Begriffen Erhebungs-, Untersuchungs- und Aussageeinheit sowie Grundgesamtheit siehe Friedrichs, Methoden. . ., S. 126ff. 609 Zur Sekundäranalyse siehe ebda., S. 353ff. 6,0 Die Kriterien, nach denen die Einteilung in Schichten vorgenommen wurde, werden auf S. 125f. dieser Arbeit dargestellt. In jeder Familie wurden nach Möglichkeit Großeltern, Eltern und Kinder unterschieden. Der Schnittpunkt zwischen älterer und mittlerer Generation liegt 608

113

3) Schichtzugehörigkeit

- mittlere

Generation: Landwirtschaft/Arbeiterschaft/Mittelschicht 4) Okzitanisch sprechen können - ältere Generation: fließend/durchschnittlich/wenig/gar nicht 5) Okzitanisch sprechen können - mittlere Generation: fließend/durchschnittlich/wenig/gar nicht 6) Okzitanisch sprechen können - jüngere Generation: fließend/durchschnittlich/wenig/gar nicht 7) Okzitanisch verstehen - ältere Generation: alles/durchschnittlich/wenig/gar nichts 8) Okzitanisch verstehen - mittlere 9) Okzitanisch verstehen - jüngere

Generation: alles/durchschnittlich/wenig/gar nichts Generation: alles/durchschnittlich/wenig/gar nichts

10) Okzitanisch praktizieren - ältere Generation: regelmäßig/manchmal/selten/nie 11) Okzitanisch praktizieren - mittlere

Generation: regelmäßig/manchmal/selten/nie

12) Okzitanisch praktizieren - jüngere

Generation: regelmäßig/manchmal/selten/nie

13) Gebrauch des Okzitanischen in der Familie: regelmäßig/manchmal/selten/nie Auf die Ergebnisse dieser Sekundäranalyse soll nun als erstes eingegangen werden.

4.2.3

Die Ergebnisse der Sekundäranalyse - Die Rolle des Okzitanischen in den Lacauner Familien

Für die Umfrage in den Familien war, wie erwähnt, eine Stichprobe von 65 Haushalten gezogen worden. Von diesen befinden sich 55 im Ort selbst, während die restlichen zehn in den zu Lacaune gehörenden Weilern und H ö f e n angesiedelt sind. Dieses Verhältnis von 5,5 zu 1 entspricht auch in etwa der wirklichen Verteilung der Lacauner Haushalte auf Stadt und Land: In den Volkszählungslisten von 1975 zählte ich 843 Familien, die im Ort selbst wohnen, gegenüber 148 aus den Weilern. Das Verhältnis in der Untersuchung verschiebt sich jedoch etwas zugunsten der Haushalte auf dem Lande, da die vier Familien, die nicht zu einem Interview bereit dabei um 1920, der zwischen mittlerer und jüngerer Generation um 1955. Überschneidungen, die sich dadurch ergeben, daß z. B. der älteste Sohn einer Familie schon 1950 geboren wurde, aber noch unverheiratet zu Hause lebt oder daß die Großmutter erst 1925 geboren ist, sind selten. In diesen Fällen wurde der Sohn dennoch zur jüngeren Generation und die Großmutter zur älteren Generation gezählt. In den drei Fällen, in denen der Haushalt nur aus einer alleinstehenden Person besteht, wurde diese je nach Alter (vor 1920 oder zwischen 1920 und 1950 geboren) zur älteren bzw. mittleren Generation gerechnet. 114

waren, alle in der Stadt leben. Es stehen hier also letztlich nur noch 51 Familien aus Lacaune-Stadt den zehn Familien vom Lande gegenüber. Was die Variablen 2 und 3, die Schichtzugehörigkeit der Familien, betrifft, so spiegelt sich auch hier sehr deutlich die Veränderung der sozialen Struktur in Lacaune wider, wie sie bereits im einleitenden Teil zu diesem Kapitel dargestellt wurde (4.1.1). Stammen die Mitglieder der älteren Generation noch in 35 Familien aus der Landwirtschaft, so bewirtschaften in der mittleren Generation nur noch sechs Familien einen Bauernhof. 27 sind zur Arbeiterschaft zu zählen (ältere Generation 16) und 28 zur Mittelschicht (ältere Generation 10). Tabelle 2: Okzitanischkenntnisse und deren Verwendung nach Generationen sowie Gebrauch des Okzitanischen in der Familie; alle Familien (N = 61) ältere Generation

mittlere Generation

jüngere Gebrauch des Okz. Generation 6 ' 2 in der Familie

32 12 12 5

(52,5%) (19,7%) (19,7%) (8,2%)

4 (7,6%) 4 (7,6%) 18 (34,0%) 27 (50,9%)

48 7 5 1

(78,7%) (11,5%) (8,2%) (1,6%)

16 8 13 16

29 (47,5%) 18 (29,5%) 10 (16,4%) 4 (6,6%)

13 15 17 16

(21,3%) (24,6%) (27,9%) (26,2%)

2 (3,8%) 16 (30,2%) 35 (66,0%)

10 10 12 29

N = 61

N = 61

N = 53

N = 61

Okzitanisch sprechen können fließend durchschnittlich wenig gar nicht

Okzitanisch

verstehen

alles durchschnittlich wenig gar nichts

Okzitanisch regelmäßig manchmal selten nie

51 (83,6%) 5 (8,2%) 2 (3,3%) 3 (4,9%)

55 (90,2%) 3 (4,9%) 3

(4,9%)

(30,2%) (15,1%) (24,5%) (30,2%)

praktizieren (16,4%) (16,4%) (19,7%) (47,5%)

In der älteren Lacauner Generation ist das Okzitanische noch recht lebendig. Nur in drei Familien können die alten Leute weder Okzitanisch sprechen noch verstehen. Es handelt sich dabei um ausländische Familien. In fast allen übrigen Familien kann die ältere Generation fließend Okzitanisch sprechen und alles verstehen. Auch was die Anwendung des Okzitanischen betrifft, stehen die alten Menschen weit an der Spitze. Nur in 14 Familien sprechen sie nie oder selten okzitanisch, in 18 dagegen manchmal und in 29 Familien regelmäßig. 612

Da in acht der Familien keine jüngere Generation vorhanden ist, liegen hier nur 53 Einheiten vor. 115

In der mittleren Generation sieht dieses Bild schon ganz anders aus. Zwar gibt es unter den 61 Familien nur eine, in der die Menschen dieser Altersgruppe gar kein Okzitanisch verstehen, und nur fünf, in denen sie es gar nicht sprechen können, dagegen aber auch nur 13 Familien, in denen sie es regelmäßig praktizieren, während sie es in 33 Familien selten oder nie verwenden. Die jüngere Generation schließlich spricht in keiner Familie mehr regelmäßig okzitanisch, obwohl sie es in 24 Familien durchschnittlich oder besser versteht und in acht Familien fließend oder durchschnittlich sprechen kann. Insgesamt wird in je zehn Familien regelmäßig oder manchmal okzitanisch gesprochen, in zwölf Familien selten und in 29 Familien nie. Ob in einer Familie okzitanisch gesprochen wird oder nicht, hängt, wie in der folgenden Auswertung klar sichtbar wird, vom Wohnort und der Schichtzugehörigkeit der Familie ab 613 . In der älteren Generation haben diese Faktoren zwar, was die Okzitanischkenntnisse betrifft, k a u m einen Einfluß, da ja sowieso fast alle alten Leute Okzitanisch sprechen und verstehen können, ein solcher Einfluß läßt sich jedoch nachweisen, sobald es u m die praktische Anwendung dieser Kenntnisse geht. Tabelle 3: Verwendung des Okzitanischen in der älteren Generation nach Wohnort; alle Familien (N = 61) 1) Wohnort Lacaune -Stadt

Weiler total

10) Okzitanisch praktizieren - ältere Generation regelmäßig

43,1% 22

70,0% 7

47,5% 29

manchmal

29,4% 15

30,0% 3

29,5% 18

selten

19,6% 10

16,4% 10

7,8% 4

6,6% 4

nie

51 total in Prozent 83,6% 613

10 16,4%

61 100,0%

Zwischen Wohnort und Schichtzugehörigkeit bestehen insofern Verbindungen, als die in der Landwirtschaft tätigen Familien zum größten Teil - aber nicht durchgehend - in den Weilern leben. Einige Bauernhöfe befinden sich noch auf

116

In 70% der Familien, die auf dem Lande leben, spricht die ältere Generation regelmäßig okzitanisch, in der Stadt jedoch nur noch in 43,1% der Familien 6 1 4 . Tabelle 4: Verwendung des Okzitanischen in der älteren Generation nach Schichtzugehörigkeit; alle Familien (N = 61) 2) Schichtzugehörigkeit - ältere Generation Landwirtschaft 10) Okz. - ältere

Arbeiterschaft

Mittelschicht

total

praktizieren Generation

regelmäßig

74,3% 26

12,5% 2

10,0% 1

47,5% 29

manchmal

20,0% 7

43,8% 7

40,0% 4

29,5% 18

selten

2,9% 1

25,0% 4

50,0% 5

16,4% 10

nie

2,9% 1

18,8% 3

35 total in Prozent 57,4%

16 26,2%

6,6% 4 10 16,4%

61 100,0%

In 26 der 35 Familien, deren ältere Generation aus der Landwirtschaft kommt, praktiziert diese noch regelmäßig ihr Okzitanisch. Das trifft nur für zwei der 16 Familien zu, in denen die ältere Generation der Arbeiterschaft zuzurechnen ist, und nur für eine der zehn Familien, in denen sie aus der Mittelschicht stammt. Vergleicht man jedoch die Prozentzahlen, so bestehen zwischen Arbeiter- und Mittelschicht in den Kategorien «regelmäßig» und «manchmal» nur geringfügige Unterschiede. Auffallend ist dagegen, daß, prozentual gesehen, die alten Leute aus der Mittelschicht in doppelt so vielen Familien (50%) das Okzitanische selten praktizieren wie diejenigen alten Leute, die aus der Arbeiterschicht k o m m e n . Letztere sprechen in 18,8% der Familien nie okzitanisch 6 1 5 . dem Stadtgebiet von Lacaune, während andererseits längst nicht mehr nur Bauern auf dem Lande leben. 6,4 Es muß dazu bemerkt werden, daß in einigen Fällen die zur Familie gehörende ältere Generation noch auf dem Lande lebt, während die Jüngeren in die Stadt gezogen sind. Diese Fälle sind hier nicht gesondert behandelt worden, wodurch sich das Verhältnis in den Ergebnissen für die ältere Generation etwas zugunsten des Okzitanischen in der Stadt verschiebt. 615 Es muß jedoch beachtet werden - und das gilt auch für alle folgenden Tabellen -, daß Prozentzahlen, die auf niedrigen Bezugszahlen beruhen, wenig aussagekräftig sind und deshalb nicht überinterpretiert werden dürfen. 117

Ähnliche Gegensätze finden sich auch in der mittleren und der jüngeren Generation. Bei den Jüngeren zeigen sich dazu eindeutige Zusammenhänge zwischen Okzitanischkenntnissen und Wohnort sowie Schichtzugehörigkeit der Eltern.

Tabelle 5: Okzitanischkenntnisse der jüngeren Generation nach Schichtzugehörigkeit der Eltern und Wohnort; alle Familien mit jüngerer Generation (N = 53) 3) Schichtzugehörigkeitmittlere Generation ( = Elterngeneration)

1) Wohnort

Landwirt schaft

Lacaune Weiler -Stadt

Arbeiterschaft

6) Okz. sprechen können jüngere Generalion

Mittelschicht

total

4,4% 2

25,0% 2

7,5% 4

12,0% 3

4,4% 2

25,0% 2

7,5% 4

43,5% 10

24,0% 6

31,1% 14

50,0% 4

34,8% 18

47,8% 11

64,0% 16

60,0% 27

30,4% 7

16,0% 4

22,2% 10

durchschnittlich

17,4% 4

16,0% 4

17,8% 8

wenig

26,1% 6

28,0% 7

24,4% 11

gar nichts

26,1% 6

40,0% 10

35,6% 16

23 43,4%

25 47,2%

45 84,9%

fließend

40,0% 2

8,7% 2

durch20,0% schnittlich 1 wenig

40,0% 2

gar nicht

50,9% 27

9) Okz. verstehen jüngere Generation alles

total in Prozent 118

100,0% 5

5 9,4%

75,0% 6

30,2% 16 15,1% 8

25,0% 2

24,5% 13 30,2% 16

8 15,1%

53 100,0%

In keiner der Familien, die auf dem Lande leben, kann die jüngere Generation gar kein Okzitanisch sprechen oder verstehen. Das gleiche gilt für die Familien, die in der Landwirtschaft tätig sind. Dort versteht die jüngere Generation alles, was auf okzitanisch gesagt wird, während das in der Mittelschicht nur noch in 16% der Familien der Fall ist und dort in keiner der Familien die jungen Leute mehr fließend Okzitanisch sprechen können.

Tabelle 6: Verwendung des Okzitanischen in der jüngeren Generation nach Schichtzugehörigkeit der Eltern und Wohnort; alle Familien mit jüngerer Generation (N-53)

3) Schichtzugehörigkeitmittlere Generation ( = Elterngeneration)

1) Wohnort

Landwirtschaft

Lacaune Stadt

Mittelschicht

Arbeiterschaft

12) Okzitanisch praktizieren jüngere Generation

Weiler

-

regelmäßig

0,0% 0

manchmal

40,0% 2

selten

40,0% 2

34,8% 8

24,0% 6

nie

20,0% 1

65,2% 15

5 9,4%

23 43,4%

total in Prozent

total

25,0% 2

3,8% 2

26,7% 12

50,0% 4

30,2% 16

76,0% 19

73,3% 33

25,0% 2

66,0% 35

25 47,2%

45 84,9%

8 15,1%

53 100,0%

Am deutlichsten werden die Gegensätze wieder, wenn es u m die praktische Anwendung des Okzitanischen geht. Die beiden Familien, in denen die jüngere Generation manchmal okzitanisch spricht, leben in einem Weiler und arbeiten in der Landwirtschaft. Im Ort selbst sprechen in 73,3% der Familien die jungen Leute nie okzitanisch. Das ist auch in 76% der Mittelschichtsfamilien der Fall. 119

Tabelle 7: Verwendung des Okzitanischen in der mittleren Generation nach Schichtzugehörigkeit und Wohnort; alle Familien (N = 61) 3) Schichtzugehörigkeit -mittlere Generation

1) Wohnort

Landwirtschaft

Lacaune Weiler -Stadt

Arbeiterschaft

11) Okzitanisch praktizieren mittlere Generation

Mittelschicht

total

-

18,5% 5

7,1% 2

15,7% 8

50,0% 5

21,3% 13

manchmal

25,9% 7

28,6% 8

23,5% 12

30,0% 3

24,6% 15

selten

25,9% 7

35,7% 10

29,4% 15

20,0% 2

27,9% 17

nie

29,6% 8

28,6% 8

31,4% 16

27 44,3%

28 45,9%

51 83,6%

regelmäßig

total in Prozent

100,0% 6

6 9,8%

26,2% 16 10 16,4%

61 100,0%

D i e Verhältnisse in der mittleren Generation sind ähnlich wie in den anderen Generationen, die Unterschiede zwischen Land und Stadt, Bauern und anderen Bevölkerungsschichten sind auch hier stark ausgeprägt. In 50% der Familien, die auf dem Lande leben, und in allen Familien, die in der Landwirtschaft tätig sind, spricht die mittlere Generation regelmäßig okzitanisch. In der Arbeiterschicht tut sie das nur in 18,5% und in der Mittelschicht gar nur in 7,1% der Familien. In 60,8% der Familien, die im Ort selbst wohnen, spricht die mittlere Generation selten oder nie okzitanisch.

Tabelle 8: Okzitanischkenntnisse (sprechen können) und ihre Verwendung in der mittleren Generation nach Schichtzugehörigkeit der älteren Generation; alle Familien (N = 61)

120

2) Schichtzugehörigkeit - ältere Generation Landwirtschaft

Arbeiterschaft

Mittelschicht

total

5) Okzitanisch sprechen können mittlere Generation fließend

74,3% 26

25,0% 4

20,0% 2

52,5% 32

durchschnittl.

11,4% 4

37,5% 6

20,0% 2

19,7% 12

wenig

14,3% 5

18,8% 3

40,0% 4

19,7% 12

18,8% 3

20,0% 2

8,2% 5

gar nicht

11) Okzitanisch praktizieren mittlere Generation

-

regelmäßig

34,3% 12

6,3% 1

21,3% 13

manchmal

34,3% 12

12,5% 2

10,0% 1

24,6% 15

selten

20,0% 7

43,8% 7

30,0% 3

27,9% 17

nie

11,4% 4

37,5% 6

60,0% 6

26,2% 16

total in Prozent

35 57,4%

16 26,2%

10 16,4%

61 100,0%

Eindeutige Beziehungen bestehen auch zwischen der Schichtzugehörigkeit der älteren und den Okzitanischkenntnissen der mittleren und der jüngeren Generation. Angehörige der Mittelschicht sprechen offensichtlich viel seltener mit ihren Kindern und Enkeln okzitanisch als Angehörige der anderen Schichten, besonders aus der Landwirtschaft. So kann nur in zwei der zehn Familien, deren ältere Generation der Mittelschicht zuzurechnen ist, die mittlere Generation noch fließend okzitanisch, dagegen in 26 der 35 Familien, deren ältere Generation aus der Landwirtschaft kommt. In diesen Familien spricht die mittlere Generation auch tatsächlich häufiger okzitanisch, als dies in anderen Familien üblich ist. 121

Tabelle 9: Okzitanischkenntnisse und ihre Verwendung in der jüngeren Generation nach Schichtzugehörigkeit der älteren Generation; alle Familien mit jüngerer Generation (N = 53) 2) Schichtzugehörigkeit - ältere Generation Landwirtschaft

Arbeiterschaft

Mittelschicht

6) Okzitanisch sprechen können - jüngere fließend

9,7% 3

total

Generation

6,7% 1

7,5% 4

durchschnittlich

12,9% 4

wenig

45,2% 14

20,0% 3

14,3% 1

34,0% 18

gar nicht

32,3% 10

73,3% 11

85,7% 6

50,9% 27

9) Okzitanisch

verstehen - jüngere

alles

48,4% 15

6,7% 1

30,2% 16

durchschnittlich

22,6% 7

6,7% 1

15,1% 8

wenig

16,1% 5

40,0% 6

28,6% 2

24,5% 13

gar nichts

12,9% 4

46,7% 7

71,4% 5

30,2% 16

12) Okzitanisch manchmal

7,5% 4

Generation

praktizieren - jüngere Generation 6,5% 2

3,8% 2

selten

45,2% 14

13,3% 2

nie

48,4% 15

86,7% 13

100,0% 7

66,0% 35

total in Prozent

31 58,5%

15 28,3%

7 13,2%

53 100,0%

122

30,2% 16

Für die jüngere Generation zeigt sich ein ähnlicher Zusammenhang. Sie kann in acht Familien noch fließend oder durchschnittlich okzitanisch sprechen, und in sieben dieser Familien waren die Großeltern Bauern, in der achten Arbeiter. Stammen die Großeltern aus der Mittelschicht, so verstehen die Enkel nur wenig oder gar kein Okzitanisch, waren sie jedoch in der Landwirtschaft tätig, so verstehen die jungen Leute in 71% der betreffenden Familien durchschnittlich viel oder sogar alles, was auf okzitanisch gesagt wird. Sie sind auch fast die einzigen, die es, wenn auch meist nur selten, praktizieren. Kombiniert man die Variable 13, den Gebrauch des Okzitanischen in der Familie, mit den Variablen 1, Wohnort, und 3, Schichtzugehörigkeit mittlere Generation, so zeigen sich noch einmal ähnliche Ergebnisse, wie in den bisherigen Kreuztabellen.

Tabelle 10: Gebrauch des Okzitanischen in der Familie nach Schichtzugehörigkeit der mittleren Generation und Wohnort; alle Familien (N«=61) 3) Schichtzugehörigkeit -mittlere Generation LandArbeiMitwirttelterschaft schicht schaft

13) Gebrauch des Okzitanischen der Familie

1) Wohnort Lacaune Weiler -Stadt

total

in

regelmäßig

83,3% 5

14,8% 4

3,6% 1

11,8% 6

40,0% 4

16,4% 10

manchmal

16,7% 1

18,5% 5

14,3% 4

17,6% 9

10,0% 1

16,4% 10

selten

22,2% 6

21,4% 6

13,7% 7

50,0% 5

19,7% 12

nie

44,4% 12

60,7% 17

56,9% 29

27 44,3%

28 45,9%

51 83,6%

total in Prozent

6 9,8%

47,5% 29 10 16,4%

61 100,0%

In fünf der sechs Bauernfamilien wird regelmäßig okzitanisch gesprochen, in der sechsten manchmal. Während in der Arbeiterschaft noch 14,8% der Familien regelmäßig und 18,5% manchmal okzitanisch sprechen, spricht es in der Mittelschicht eine Familie ( = 3,6%) regelmäßig, 14,3% sprechen 123

es manchmal. Auch der Unterschied zwischen Stadt und Land wird wieder ganz deutlich: In den Weilern gibt es keine Familie, in der nie okzitanisch gesprochen wird, im Ort selbst ist das in über 50% der Familien der Fall. Durch diese Analyse der gesammelten Daten haben sich bereits mehrere Aspekte der vorher aufgeführten Hypothesen bestätigt: Okzitanisch ist die Sprache der in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung, die Sprache, die auf dem Land gesprochen wird. Sie wird vor allem von den alten Leuten verwandt. Ob sich die übrigen Aspekte der Hypothesen 616 auch bestätigen werden, soll die weitere Auswertung der Interviews zeigen.

4.2.4

D i e Ergebnisse d e r I n t e r v i e w s

4.2.4.1

Erster Komplex: Sozialdaten

Durch die Interviews, die ich in 61 Familien durchführte, wurden insgesamt 200 Personen erfaßt. Dabei sprach ich mit 101 von ihnen persönlich. Diese gaben mir Auskunft über Okzitanischkenntnisse und -Verwendung der übrigen 99, so daß die Auswertung der ersten drei Fragenkomplexe auf Daten von 200, die des vierten Komplexes (Fragen zur Einstellung zum Okzitanischen) auf Daten von 101 Personen basiert. 6t der direkten Interviewpartner waren Frauen, 40 Männer 617 . In der erweiterten Gruppe ist das Verhältnis ausgeglichener. Dort stehen 102 Angehörige des männlichen Geschlechts 98 des weiblichen gegenüber. Nach ihrem Alter faßte ich die Befragten in fünf Gruppen zusammen. Die jüngste bilden 23 Drei- bis Zehnjährige. Sie waren in keinem Fall persönliche Interviewpartner; ich berücksichtigte sie jedoch für die Auswertung, um festzustellen, inwiefern das Okzitanische im primären Spracherwerb noch eine Rolle spielt. Aus der Gruppe der 26 Elf- bis Achtzehnjährigen interviewte ich sieben Jugendliche persönlich. Nach dem 18. Lebensjahr haben die Jugendlichen meist ihre Ausbildung abgeschlossen und treten ins aktive Berufsleben. Deshalb wurde hier ein Einschnitt gemacht. Diese beiden ersten Gruppen werden des öfteren auch zu einer zusammengefaßt. Die mit 67 Befragten (40 persönlich, 27 indirekt) größte Gruppe bilden die Neunzehn- bis Vierzigjährigen. In Gesprächen war mir oft gesagt worden, daß es hauptsächlich die Leute über 40 seien, die noch okzitanisch sprächen, und auch Maurand teilte 1975 seine «sujets» danach ein, ob sie über oder unter 40 Jahre alt waren 618 . Die nächste Gruppe setzt 6,6 617

6,8

Vgl. S. 101 dieser Arbeit. Auf die Gründe für die Überrepräsentation von Frauen wurde bereits hingewiesen (siehe S. 107f. dieser Arbeit). Siehe Maurand, Contribution. . ., S. 374.

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sich aus 65 Einundvierzig- bis Fünfundsechzigjährigen (42 persönlich, 23 indirekt befragt) zusammen, während die letzte und kleinste Gruppe von 19 Menschen gebildet wird, die über 65 Jahre alt sind. Zwölf von ihnen interviewte ich persönlich. Besondere Schwierigkeiten bereitete mir die Zuordnung der Befragten zu verschiedenen Berufsgruppen bzw. Schichten. Fast jede Studie zur sozialen Schichtung verwendet andere Untersuchungskategorien und -methoden. Die Forscher bilden meist von sich aus Berufsgruppen, die sie dann aufgrund ihrer Alltagserfahrung als höher oder tiefer einstufen 619 . Auch sind vorgefertigte Schichtenskalen im allgemeinen nicht nach soziolinguistischen Fragestellungen ausgerichtet 620 . Um ein möglichst differenziertes Bild des Sprachverhaltens der Befragten nach ihrem Beruf geben zu können, gruppierte ich sie - meinen Beobachtungen und z. T. den Darstellungen Kremnitz' entsprechend 621 nach einer großen Zahl verschiedener Berufskategorien. Dazu faßte ich die un- bzw. angelernten Arbeiter aus dem Schieferbruch, der Molkerei, dem Schlachthof und den verschiedenen Betrieben der Wurst- und Schinkenindustrie zur Gruppe der zusammen (=24 Personen). Eine weitere Gruppe bildeten Lastwagenfahrer, Facharbeiter und nicht-selbständige Handwerker (=12). Selbstständige Handwerker dagegen wurden getrennt aufgeführt (=14), ebenso selbständige Händler und Geschäftsleute (=12). Zur Gruppe der e i n f a c h e n Angestellten und Dienstleistenden) faßte ich Verkäuferinnen, Nachtwächter, Putzfrauen und ähnliche Berufe zusammen ( = 13), zu gehobenen Angestellten dagegen Beschäftigte von Banken, Versicherungen, Finanzamt u. ä. ( = 9). Je eine weitere Gruppe bildeten die Lehrer ( = 7), die Inhaber kleinerer Industrie- und Dienstleistungsbetriebe («Unternehmer») ( = 7) und die in der Landwirtschaft arbeitenden Menschen ( = 14)622. 619

in: R e n é K ö n i g (Hrsg.), Karl Martin B o l t e / H e l g a Recker, Vertikale Mobilität, Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 5, Stuttgart 2 1976, S. 50 und 82. 620 W e n i g hilfreich sind auch die s o z i o p r o f e s s i o n e l l e n Kategorien, in die die erwerbstätige Bevölkerung Frankreichs für die o f f i z i e l l e n französischen Statistiken des Institut National de la Statistique et des Etudes E c o n o m i q u e s ( I N S E E ) aufgeteilt wird. M a n unterscheidet z w i s c h e n agriculteurs exploitants / salariés agricoles / patrons de l'industrie et du c o m m e r c e / professions libérales - cadres supérieurs / cadres m o y e n s / e m p l o y é s / ouvriers / personnels de service / autres catégories d'actifs - Kategorien, die z u m Teil sehr heterogen sind (siehe dazu Les Cahiers Français 184, 1978, La France et sa population aujourd'hui, notice 3, La population active: ventilation socio-professionnelle). 621 Kremnitz, Versuche. . ., S. 333f. u n d 339f. Er erörtert dort die Rolle der Faktoren und