Die Selbstdarstellung des Staates: Vorträge und Diskussionsbeiträge der 44. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428438594, 9783428038596

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Die Selbstdarstellung des Staates: Vorträge und Diskussionsbeiträge der 44. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428438594, 9783428038596

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 63

Die Selbstdarstellung des Staates Vorträge und Diskussionsbeiträge der 44. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Helmut Quaritsch

Duncker & Humblot · Berlin

Die Selbstdarstellung des Staates

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 63

Die Selbstdarstellung des Staates

Vorträge und Diskussionsbeiträge der 44. Staatswissenschaftlichen Fortbildungstagung 1976 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

herausgegeben von

Professor Dr. Helmut Quaritsch

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed In Germany

ISBN 3 428 08859 2

Inhalt Vorwort des Tagungsleiters, Prof Dr. Helmut Quaritsch ................

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Begrüßungsansprache des Prorektors, Prof. Dr. Frido Wagener ..........

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Eröffnung durch den Justizminister des Landes Rheinland -Pfalz, Otto Theisen, Mainz ..................................................... 13 Von der Staatspflege überhaupt Von Prof. Dr. Herbert Krüger, Hamburg

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Der symbolische Aspekt des Staatsdienstes in der Demokratie Von Prof. Dr. Harry Pross, Berlin .................................. 51 Aussprache zu den Referaten von Herbert Krüger und Harry Pross Bericht von Assessor Ulrich Starost, Speyer .......................... 64 Unbeabsichtigte Folgen staatlicher Selbstdarstellung als gesellschaftliches Stabilitätsrisiko Von Prof. Dr. Helmut Klages� Speyer ................................ 73 Kulturelle Außenpolitik und Wirtschaftsstaat - Aspekte und Methoden auswärtiger Kulturpolitik Von Rüdiger Altmann, Bonn ........................................ 93 Aussprache zu den Referaten von Helmut Klages und Rüdiger Altmann Bericht von Dipl.-Polit. Marie-Therese Junkers, Speyer .............. 104 Sporterfolge als Mittel der Selbstdarstellung des Staates Von Prof. Dr. Hans-Joachim Winkler, Hagen ........................ 109 Aussprache zum Referat von Hans -Joachim Winkler Bericht von Dipl.-Polit. Dr. Albrecht Nagel, Speyer .................. 133 Ein Januskopf sucht ein Gesicht - Die Rationalisierung des visuellen Erscheinungsbildes der Deutschen Bundespost Von Prof. Kurt Weidemann, Stuttgart .............................. 137

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Inhalt

Aussprache zum Referat von Kurt Weidemann Bericht von Dipl.-Polit. Dr. Albrecht Nagel, Speyer .................. 141 Bemerkungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung Von Staatssekretär a.D. Conrad Ahlers, Mitglied des Deutschen Bun destages, Bonn ..................................................... 145 Aussprache zum Referat von Conrad Ahlers und zum Gesamtthema Bericht von Assessor Ulrich Storost, Speyer .......................... 158

Vorwort des Tagungsleiters Um die richtige Selbstdarstellung bemühen sich die Staaten, solange es Staaten gibt. Dennoch läßt sich bis heute nichts finden, was einer „Theorie der staatlichen Selbstdarstellung" auch nur ähnelte; es fehlt schon eine Schilderung ihrer Erscheinungsformen. Das mag seine Grün­ de haben: Selbstdarstellung ist eine Aufgabe, die jeder Mensch wahr­ nimmt, um sich in seiner Umwelt als Person zu behaupten, ist also eine Sache von Psychologie und Verhaltensforschung. Selbstdarstellung be­ treibt indes auch jede soziale Organisation; sie muß ihr Dasein, ihre Ziele und ihre Zielverwirklichungen dauernd vorweisen, um sich gegen­ über Mitgliedern und Umwelt als sinnvoll, vertrauenswürdig und er­ folgreich zu präsentieren. Dieses Organisationsinteresse ist kongruent den Interessen der Mitglieder, denen Ansehen und Erfolg ihrer Or­ ganisation in aller Regel nicht gleichgültig ist. Hinzu tritt das Interesse der jeweiligen Führungsgarnitur, die persönlichen Verdienste und Leistungen zu demonstrieren, ein Bestreben, das insbesondere dann realisiert wird, wenn der Besitz der Führungspositionen von dem Wohl­ wollen Dritter abhängt, mögen das Aktionäre, Vereinsmitglieder oder Wahlbürger sein. Diese Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten ge­ hören mit der ganzen Komplexität ihrer Erscheinungsweisen in den Bereich der Organisationssoziologie, ihre Ursachen sind aber wohl nicht weniger komplex in einem Bereich verwurzelt, für den die Sozialpsy­ chologie zuständig ist. Die einschlägigen Wissenschaften sind noch wenig entwickelt, man wird daher keine zusammenfassenden Auskünfte zu unserem Thema erwarten können. Außerdem: Die Interessen, An­ lässe und Mittel der Selbstdarstellung sozialer Einheiten sind zwar strukturell weithin gleich oder doch ähnlich, inhaltlich jedoch zu ver­ schieden, daß eine gemeinsame Beschreibung schwer fallen dürfte. Die Technik der Selbstdarstellung gehört daher immer noch zu den arcana imperii, nimmt man die aus der Wirtschaft bekannte Image­ Pflege durch Werbung und sog. Public Relations einmal aus. Die Fort­ bildungstagung konnte unter diesen Umständen schwerlich mehr er­ bringen als Einführungen in das Allgemeine und das Besondere, die Formen und die Probleme der staatlichen Selbstdarstellung. Meinungs­ verschiedenheiten waren zu erwarten, sie wurden auch nicht aufgelöst. Wer gehört z. B. zu den Trägern staatlicher Selbstdarstellung? Ein deutscher Kulturpolitiker fragt in der „Äußeren Mongolei", was dort

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mit dem Stichwort „Bundesrepublik Deutschland" verbunden werde. Der Gastgeber nennt drei Namen: Mercedes, Beckenbauer und den eines deutschen Schriftstellers, der kurz vorher via Goethe-Institut aus seinem Werk gelesen hatte. Kein Zweifel, das Bild eines Staates kann der auswärtigen Umwelt stärker vermittelt sein durch Auto­ marken, Sportler, Dichter oder andere Eigenheiten als durch Staats­ besuche und offiziöse Rundfunksendungen. Dennoch wird man die Erörterung generell auf die Aktivitäten der staatlichen Instanzen selbst beschränken müssen. Touristen, Monteure und Missionare, prominente Gewerkschaftler und Unternehmer, vor allem die Führer politischer Parteien mögen nach außen wie nach innen noch so bunte Farben zum Gesamtbild „Bundesrepublik" beitragen: Der Staat kann diese Re­ präsentanten des Privaten und des Öffentlichen allenfalls mittelbar beeinflussen oder steuern, ihr Darstellungsverhalten bleibt außerhalb der staatlichen „Wirkungs- und Entscheidungseinheit", wie H. Heller den Staat in einer Weise definierte, die gerade in diesem Zusammen­ hang ihren Wert bestätigt. Die Grenze zwischen staatlicher Selbst­ darstellung und derjenigen, die dem öffentlichen und privaten Bereich entfließt, muß jedoch der Sache wegen gelegentlich aufgehoben werden. Das ist z. B. dann notwendig, wenn sich Staat, Privates und Öffentliches gegenseitig so in Dienst nehmen, wie es der Fall ist beim Hochleistungs­ sport und seinen Institutionen (s. Hans Joachim Winkler, S. 109 ff.). Zur „Selbstdarstellung des Staates" rechnen nur solche Erscheinun­ gen, die zu diesem Zweck bewußt als Mittel eingesetzt werden. Der Staat stellt sich immer irgendwie dar, ob er will oder nicht. Aber das eigentliche Thema läßt sich nicht mehr greifen, wenn die Erörterung über die „Selbst"-Darstellung hinausgeht. Wer sich hier nicht auf die bewußte Präsentation des gewünschten eigenen Seins beschränkt, ver­ liert sich in der Fülle und Vielfalt aller staatlichen Äußerungen. Die Folgen von Selbstdarstellungen gehören indes unmittelbar zum Unter­ suchungsgegenstand, mögen sie einkalkuliert sein oder überraschen. Den Überraschungsfall hat Helmut Klages am Beispiel der Selbst­ darstellung als „Sozialstaat" geschildert (S. 73 ff.). - Den Unterschied zur „Staatspflege" sieht Herbert Krüger u. a. im Adressaten: Selbst­ darstellung wolle über die Anschauung und auf das animal emotionale wirken, Staatspflege hingegen habe das animal rationale im Visier (S. 21 ff., 25, 27). Oft werden diese Empfänger gleichzeitig angezielt, semantische und ästhetische Informationen laufen parallel. Die ratio­ nale Botschaft wird emotional so eingekleidet, daß Aufmerksamkeit und Sympathie gesichert sind. - Es läßt sich weiter nach symbolischen und nichtsymbolischen Darstellungen fragen. Eine solche Unterschei­ dung stößt freilich auf Schwierigkeiten, weil die Kommunikations­ wissenschaft eine allgemeine Zeichenhaftigkeit des sozialen Lebens ent-

Vorwort des Tagungsleiters

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deckt hat (s. Harry Pross, S. 51 ff.). - An „Auswärtiger Kulturpolitik" lassen sich die verschiedenen Arten der Selbstdarstellung aufzeigen, z.B. direkter und indirekter Präsentation, wie sie etwa tendenziell typisch ist für französische und deutsche Kulturpolitik im Ausland (s. Rüdiger Altmann, S. 93 ff., 98). Selbstdarstellung hat viele Objekte. Die Auswärtige Kulturpolitik präsentiert die geistige Seite von Staat und Gesellschaft in der Bundes­ republik, der Bundespräsident steht für den Gesamtstaat, weiß-blaue Grenzpfähle künden vom Freistaat Bayern, das Rathaus ist für den Bürger seine Gemeinde. Der geographische Umkreis bestimmt die Möglichkeiten der Darstellung, mehr noch die verschiedenen Aufgaben. Die Probleme kommunaler Selbstdarstellung wurden in der Diskussion mehrfach angesprochen (S. 104 ff., 158 ff.). - Begrenzung und Bestim­ mung durch die Aufgaben gelten vor allem für die sachspezifischen Institutionen. Die Selbstdarstellung der Bundespost ist dafür exem­ plarisch (s. Kurt Weidemann, S. 137 ff.). Freilich hat es die Bundespost mit ihrer visuellen Tradition leichter. Dasselbe gilt für die Armee, seit altersher Instrument gesamtstaatlicher Repräsentation, aber auch ge­ wohnt, sich selbst in Szene zu setzen. Die allgemeine Verwaltung er­ scheint demgegenüber gehandicapt: ihr fehlt das Posthorn, sie besitzt nicht einmal ein Musikkorps. Die Finanzämter präsentieren durch Ärmelschoner und Billigmöbel öffentliche Armut. (Der Steuerzahler, der durch seinen ältesten Anzug individuelle Armut vorzeigen will, macht den Betrugsversuch gegenseitig). ,,Florentinische Großzügigkeit", die R. Altmann für das Verhältnis des Wirtschaftsstaates zur Kultur fordert (S. 103), ist eher in modernen Schulzentren anzutreffen. Presse- und Informationsämter der Regierungen sind die bekann­ testen Träger von Selbstdarstellungen. In dieser Institution muß der organisationssoziologisch vorprogrammierte Konflikt zwischen Darstel­ lung der Organisation selbst und den Verdiensten seiner jeweiligen Führungsgarnitur immer wieder ausgetragen werden. Aber das ist sicher nur eines seiner vielen Probleme (s. Conrad Ahlers, S. 145 ff.). Der „Öffentlichkeitsarbeit" werden zahlreiche Aktivitäten zugerechnet, viele dienen unmittelbar der Selbstdarstellung, manche nur mittelbar. Bei der „Verbraucheraufklärung" z.B. ist dieser Charakter zweifelhaft wie überhaupt bei allen Aufklärungen, die zur Annahme konkreter Verhaltensweisen überreden sollen, die staatlich verordnet oder emp­ fohlen worden sind. Ein Mittel, das seit Jahrtausenden der Selbstdarstellung diente, die

Staatsarchitektur, blieb auf der Tagung unerörtert, wenn auch, im

Zusammenhang mit dem gerade aktuellen Einzug in das neue Kanzler­ amt, nicht unerwähnt; in ihm hätte nach Meinung des Kanzlers „auch eine rheinische Sparkasse residieren können" (S. 11). Offenkundig ist

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der Staat für die Architektur kein besonderes Bezugssystem mehr. Das ist ein hochinteressantes Phänomen, das noch zu erklären ist, will man es nicht nur auf die Bodenlosigkeit der zeitgenössischen Architektur zurückführen. Undiskutiert blieb auch die Ansicht von Prass, nicht „die mythische Größe" Staat, sondern die Verfassungsurkunde gebe Grundlage und Maß für die Darstellung (S. 60, 63). Damit wird eine nordamerikanische der kontinental-europäischen Denktradition gegenübergestellt. Die Ur­ sachen können an dieser Stelle nicht dargelegt werden. Ob die geforderte Umstellung überhaupt nötig und möglich ist, bedürfte sorgfältiger Über­ legungen. Es lag wohl nur an der Zusammensetzung des Teilnehmerkreises, daß niemand die Notwendigkeit staatlicher Selbstdarstellung prinzipiell bestritt. Zwei Einwände seien deshalb wenigstens angesprochen. Zu­ nächst könnte der staatlichen Selbstdarstellung vorgeworfen werden, sie steigere die Macht des Leviathans, sie ersticke demokratische Kritik schon im Ansatz, indem das eingesetzte Instrumentarium der geheimen Verführer den Bürger entmündige und ihn in einen angepaßt loyalen Untertanen verwandle. Solche Konsequenzen sind nicht von vornherein falsch. Man kann sie ernsthaft jedoch nur im Rahmen einer konkreten Staats- und Gesellschaftsordnung diskutieren. Solche Mutmaßungen sind unbegründet, wo das Fernsehen als das einflußreichste Medium der autonomen staatlichen Selbstdarstellung praktisch verschlossen ist, dieses wirksamste Instrument der Meinungsbildung vielmehr der Kritik des Staates weithin offensteht. Das aber ist die Lage in der Bundes­ republik. Im pluralistischen Gemeinwesen muß der Staat trotz seiner Monopolstellung ständig um die positive Aufmerksamkeit seiner Bürger kämpfen. - Der sicher richtigen Feststellung, Selbstdarstellung sei ein Mittel der „Systemstabilisierung", läßt sich nur entgegnen, daß auch die besten Darstellungsmittel nicht nützen, wenn die Darsteller selbst versagen, und daß jede staatliche Selbstdarstellung den Willen zum Staat voraussetzt; einem Praktiker und Beobachter staatlicher Selbstdarstellung wie Canrad Ahlers wird man das glauben müssen (S. 150, 157). Selbstdarstellungen verkünden Selbstverständnisse. Das kann vor­ rangige Aufgabe sein, wie etwa im Falle des von H. Prass erwähnten Schloßportals am Staatsratgebäude der DDR (S. 66). In anderen Fällen ist die Verkündung des Selbstverständnisses mit mehreren Zwecken verbunden. Die Feiern am 17. Juni und am 20. Juli dienen auch dem trauernden und ehrenden Gedenken der Opfer, nicht nur der jährlich wiederkehrenden Distanzierung von den Siegern jener Tage. Ist eine Selbstdarstellung auf die freiwillige Mitwirkung der Bürger angewiesen, so kann das verkündete Selbstverständnis auf seine Ver-

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Vorwort des Tagungsleiters

breitung und Geltung überprüft werden. Ein von bürgerlicher Mit­ wirkung unabhängiges Darstellungsmittel, dessen Erscheinung überdies frei gestaltet werden kann, läßt sich als Botschafter des Selbstverständ­ nisses besonders gut verwenden. Werden in der Militärparade die Inter­ kontinentalraketen durch Flugabwehrgeschosse ersetzt, dann gewiß nicht absichtslos. Allerdings richtet sich eine solche Botschaft weniger an die Regierungen fremder Länder; sie ist wohl eher an die eigene Bevölkerung adressiert. Möge die Tagung dazu anregen, einen Gegenstand weiter zu er­ forschen, dessen Bedeutung die Wissenschaften von Staat und Ver­ waltung bislang unterschätzt haben. Helmut Quaritsch

Begrüfiungsansprache des Prorektors Professor Dr. Frido Wagener Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Sie an einem solchen Frühjahrstag in den Räumen der Hochschule Speyer zu begrüßen, fällt leicht. Es ist alles getan worden, und die Natur hat den besten Teil hinzugegeben, um uns und unsere Umgebung darzustellen. Es wäre übertrieben zu sagen, daß sich öffentliche Einrichtungen immer so freundlich zeigen. Es hat sich in eigentümlicher Weise herausgestellt, daß das Thema der heute beginnenden traditionellen Frühjahrstagung der Hochschule Speyer in den letzten Monaten und Wochen immer aktueller geworden ist, unterschwellig war es natürlich seit langem aktuell. Dennoch hat es den Anschein, daß es im staatlichen Bereich, zu dem ich hier einmal auch den kommunalen Bereich hinzurechnen darf, wenig Fachleute gibt, die sich mit Fragen der Selbstdarstellung be­ fassen. Auf unsere Tagung bezogen, bedeutet das, daß wir diesmal keine Mammuttagung haben, so daß unsere Veranstaltung mehr den Charak­ ter eines arbeitsamen wissenschaftlichen Seminars annehmen wird. Dies wünsche ich dieser wichtigen Frühjahrstagung wenigstens. Nach dieser Vorbemerkung darf ich nun zunächst erklären, weshalb ich als Prorektor hier stehe und nicht Klaus König als Rektor der Hochschule. Dies hat wieder einmal mit der Selbstdarstellung öffent­ licher Institutionen zu tun. Vor einigen Wochen, als der Termin unserer Tagung nicht mehr veränderbar war, bekam der Rektor eine Einladung der Amerikanischen Gesellschaft für öffentliche Verwaltung und der Amerikanischen Vereinigung der Verwaltungshochschulen zu einer Konferenz nach Washington. Er muß dort zusammen mit dem Präsidenten Stassen vom Internationalen Institut für Verwaltungs­ wissenschaft die Verwaltungsausbildung in Europa repräsentieren. Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür, daß der Konflikt der Selbstdar­ stellung der Hochschule Speyer in Speyer oder in Washington zugunsten Washingtons gelöst wurde, wobei die Institution des Prorektors ja aus­ drücklich als Konfliktslösungsinstitution für solche Fälle vorgesehen ist. Meine Damen und Herren, vor die Aufgabe gestellt, unsere Gäste zu begrüßen, fühle ich immer eine schwere Bürde. Man muß dann nämlich eine Auswahlentscheidung treffen. Wer ist namentlich zu begrüßen? Wessen Institution wird aufgerufen? Wer gehört zu den „übrigen"?

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Begrüßungsansprache des Prorektors

Beim Blick auf die Teilnehmerliste scheint es mir gerechtfertigt, alle Namen einzeln vorzulesen, denn alle Teilnehmer sind mir lieb, und alle, so scheint es mir, sind bedeutsam. Das Fatale ist nur, daß Sie dann die Vorstellung haben könnten, daß ich der Meinung wäre, Sie könnten nicht lesen. Also erlauben Sie mir, daß ich niemanden einzeln begrüße. Es ist jedoch keine Regel ohne Ausnahme. Sehr herzlich möchte ich Sie, Herr Minister Theisen, als den Justizminister des Landes Rhein­ land-Pfalz begrüßen und Ihnen dafür Dank sagen, daß Sie unsere Tagung über die Selbstdarstellung des Staates eröffnen werden. Weiter darf ich zwei ausländische Gäste begrüßen. Wir freuen uns, daß Sie, Herr Sektionschef Dr. Grüner, aus Österreich, und Sie, Herr Professor Modeen, aus Finnland, zu uns gekommen sind. Wir wünschen, daß Sie Anregungen von unserer Tagung nach Hause nehmen können. Nicht erst am Ende der Tagung, sondern bereits jetzt möchte ich ein Wort des Dankes sagen an die Mitarbeiter der Hochschule, die wie immer die Hauptlast der Vorbereitungen und der Durchführung der Tagung haben. Nicht zuletzt gilt mein Dank Herrn Kollegen Helmut Quaritsch, der die wissenschaftliche Leitung der Tagung übernommen und damit das Zustandekommen erst ermöglicht hat. Ich meine, daß es richtig wäre, daß derjenige, der Sie begrüßt, sich auch selber kurz vorstellt. Ich meine damit keine persönliche Vor­ stellung, sondern ich sollte Ihnen vielleicht ein paar Worte über die neueren Entwicklungen an der Hochschule Speyer sagen. Daß wir modern sind, das brauche ich nicht zu betonen. Wir haben, nicht zuletzt für Sie, in der Eingangshalle eine kleine Kunstausstellung pfälzischer Maler und Bildhauer arrangiert. Auf die Initiative von Herrn Kollegen Peter Eichhorn möchte ich hier ausdrücklich hinweisen und auch ihm dafür danken. Da Sie, meine Damen und Herren, ganz überwiegend alte Freunde und Bekannte der Hochschule sind, brauche ich Sie auf unseren Studienbetrieb im einzelnen, also auf die Referendarausbil­ dung, nicht hinzuweisen. Ich darf nur soviel sagen, daß die Referendar­ zahlen wieder erheblich steigen. Wichtiger ist jedoch, daß wir ab Mai dieses Jahres einen neuen Studiengang eingerichtet haben, nämlich ein verwaltungswissenschaftliches Aufbaustudium. Wir werden in einem ersten Probelauf rund 50 Teilnehmern ein Jahr lang ein spezielles Aufbaustudium bieten, das mit einem schriftlichen und mündlichen Examen abschließt und zu einem „Magister der Verwaltungswissen­ schaften" führt. Wir nehmen an, daß von dieser Spezialisierung bei der zunehmend erschwerten Möglichkeit, in den öffentlichen Dienst aufge­ nommen zu werden, in den nächsten Jahren reger Gebrauch gemacht wird. Hinzuweisen wäre darauf, daß unsere sogenannten Führungs­ seminare im Frühjahr und im Herbst weiterhin mit großem Erfolg laufen und daß rund 450 Beamte des höheren Dienstes solche Seminare

Begrüßungsansprache des Prorektors

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bei uns pro Jahr absolvieren. Das Forschungsinstitut der Hochschule befindet sich auf dem Wege der personellen und finanziellen Konsolidie­ rung. In Kürze soll das Forschungsinstitut von Bund und Ländern gemeinsam nach Artikel 91 b Grundgesetz getragen und gefördert werden. Das bedeutet wohl auch eine gewisse Verselbständigung und Vergrößerung des Forschungsinstituts. Was für uns hocherfreulich ist, haben Sie vielleicht bei einem ersten Rundgang festgestellt. Wir haben eine Baugrube auf unserem Grundstück. Ende des Jahres oder Anfang des nächsten Jahres werden die Professoren und Assistenten in einen Neubau einziehen können, so daß das Wohnheim wieder ganz seiner ursprünglichen Bestimmung dienen kann. Wir hoffen, daß die Lei­ stungsfähigkeit der Hochschule damit weiter steigen wird. Meine sehr verehrten Damen, meine Herren, man braucht nicht Soziologe zu sein, um festzustellen, daß es mit der Selbstdarstellung des Staates bei uns in der heutigen Zeit seine Schwierigkeiten hat. Da wird ein neues Kanzleramt gebaut, und der Kanzler hält es für zu landläufig geschäftsmäßig. Es hätte darin auch eine rheinische Spar­ kasse residieren können. Da wird eine deutsche Nationalstiftung auf den Weg gebracht, die die Rolle eines öffentlichen Mäzens für kulturelle Projekte überregionalen Ranges übernehmen soll; das Ganze gerät aber (nicht nur finanziell) immer kleinkarierter. Unter dem Zwang der leeren Kassen werden generell Zweifel an der Berechtigung der Selbstdarstellung in der Demokratie angemeldet. In keinem öffent­ lichen Bereich stößt das Gerücht von der Vergeudung auf weniger Widerspruch als bei den Haushaltstiteln mit der Bezeichnung „Reprä­ sentation". Gleichzeitig gerät das Bild des Staatsdieners auf einen nega­ tiven Tiefstand. Man spricht von der „Besoldungsrepublik Deutschland". Man fragt: Fressen uns die Beamten auf? Dabei hat jeder das Bild des muffigen und inkompetenten Schalterbeamten, ob auf dem Postamt oder dem Einwohnermeldeamt, vor sich. Nebenbei, ich habe mich schon häufig gefragt, warum ein Einwohnermeldeamt, ein Finanzamt, ein Straßenverkehrsamt, also die Stellen des Staates, die unmittelbar mit dem Bürger zu tun haben, nicht den äußeren einheitlichen Eindruck eines Lufthansabüros haben könnten. In den Verwaltungen gibt es doch so viele hübsche Mädchen. Warum findet man sie so selten an dieser Nahtstelle zum Bürger. Also an der Stelle, wo der Staat sich selbst darstellt. Zur Beantwortung dieser Frage und auch der vorausgehen­ den Fragen bin ich jedoch fachlich nicht kompetent. Lösungsvorschläge können Sie also nicht von mir erwarten. Ich darf der Tagung wünschen, daß sie wissenschaftlich und praktisch einige Leitlinien auf diesem ungemein schwierigen Terrain geben möge.

Eröffnung durch den Justizminister des Landes Rheinland-Pfalz Otto Theisen Herr Prorektor, meine sehr verehrten Damen, sehr geehrte Herren! Das Generalthema der 44. Fortbildungstagung dieser einzigartigen und berühmten Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, ,,Selbst­ darstellung des Staates", leitet den ersten Blick auf die Öffentlichkeits­ arbeit des Staates. In einer auf Zustimmung angewiesenen öffentlichen Ordnung ist die Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Staatsaufgabe, und Sie haben ja auch ein Referat speziell diesem Thema zur Verfügung gestellt. Gewiß ist aber der Rahmen Ihrer Tagung viel weiter gezogen. Er umfaßt die gezielte, als bloße Selbstdarstellung begriffene Infor­ mation und Propaganda ebenso wie die Repräsentation und die Sym­ bolik, er umgreift auch die Selbstdarstellung, die mit jeder Staats­ tätigkeit oder mit jeder Unterlassung staatlich gebotenen Handelns so­ zusagen als Nebenprodukt verbunden ist. Auch die Wechselwirkung auf der Adressatenseite, der Eindruck also des Staatsbürgers, das Bild, das ihm eingeprägt wird durch das Verhalten der staatlichen Repräsen­ tanten, erscheint mit einbezogen. Die Hochschule für Verwaltungs­ wissenschaften Speyer behandelt damit einmal mehr einen besonders wichtigen Teil des Verhältnisses Bürger Staat, j a des heutigen Staats­ verständnisses überhaupt. Die mir dazu aufgetragenen politischen Be­ merkungen - und es sollten kurze Bemerkungen sein, worauf ich auch Rücksicht nehme - möchte ich mit dem Freimut eines politisch Ver­ antwortlichen hier vortragen, der von dem Vorhandensein verschie­ dener und gegenläufiger Auffassungen überzeugt ist, aber nicht nur vom Vorhandensein, sondern von der Notwendigkeit solch gegenläufiger Auffassungen. Ich werde dazu hier nur einige Bemerkungen machen und nicht den Versuch unternehmen, das Thema insgesamt zu analysieren. Es sind Bemerkungen zur Selbstdarstellung des Staates, und ich möchte be­ ginnen mit der Verflochtenheit von politischen Parteien und Staat. Von manchen, gerade auch von dem Politiker, wird beklagt, daß sich der Bürger mit seinem Staat zu wenig identifiziere. Es scheint so zu sein, daß dabei der eigene Anteil an diesem beklagten Mangelzustand und an der entsprechenden Entwicklung übersehen wird. Ich werfe zu-

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nächst die Frage auf, ob die weitgehende Inanspruchnahme des Staates durch die politischen Parteien der Wirkkraft verläßlicher Staatlichkeit entgegensteht, weil sich der Staat als ein Erfüllungsgehilfe bei der Durchsetzung von Parteiprogrammen darstellen könnte. Bei der starken parteipolitischen Akzentuierung unseres staatlichen und gesellschaft­ lichen Lebens kann es wohl nicht ausbleiben, daß der Staat als solcher aus dem Zentrum der Bürgerinteressen etwas verdrängt wird. Das Interesse konzentriert sich auf den Kampf der Parteien um Erlangung oder Verteidigung der Regierungsverantwortung, der Macht, und so wird die Regierungsverantwortung leicht mit der Macht der Partei gleichgesetzt. Von der Interessenlage der Parteien aus gesehen er­ scheint eine solche Ablenkung desBürgerbewußtseins nicht als anormal. Dies scheint mir jedenfalls solange zu gelten, wie die Parteien in der Regierungsverantwortung stehen und bleiben und die Chance haben, dort zu bleiben. Denn die im Bewußtsein der Bürger sich entwickelnde Identifizierung sichert nicht zuletzt einen gewissen Bonus für die Be­ stätigung der Parteien bei kommenden Wahlen. Wen sollte es da wun­ dern, daß die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung zur Parteilichkeit gedrängt wird und eben deswegen auch des ständigen argwöhnischen Interesses der Opposition gewiß sein kann. Gerade in Wahlkampfzeiten ist die Versuchung, staatliche Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit mehr oder weniger direkt für die Öffent­ lichkeitsarbeit der Parteien zu verwenden, besonders groß. Es ist, das will ich hier nicht in Zweifel ziehen, gewiß das Recht und sogar die Pflicht einer Regierung, die Bürger über die Absichten und Ergebnisse der Regierungstätigkeit zu informieren. Es zeugt aber von einem be­ denklichen Selbstverständnis des Staates, wenn Veränderungen oder Initiativen als Ergebnisse nur der einen oder anderen Partei oder Gruppierung oder Koalition durch den Staat dargestellt werden, ohne den vielfachen Sachbeitrag anderer auch nur eines positiven Wortes zu würdigen. Ich möchte mich dann einem anderen Aspekt kurz zuwenden und auch dazu nur einige politische Bemerkungen machen, nämlich dem Thema der Medien. Gelegentlich werden die Medien als vierte Gewalt bezeichnet. Daß sie machtvolle Institutionen sind, wird niemand in Zweifel ziehen, der auf dieser Erde lebt. Daß ihre Macht so weit ginge, die Gleichsetzung von veröffentlichter Meinung mit öffentlicher Mei­ nung zu unternehmen, werden Kenner des Meinungsmarktes dagegen nicht annehmen. Die Medien tragen zur politischen Meinungs- und Willensbildung in starkem Maße bei. Sie nehmen dabei Staat und Ge­ sellschaft in Kontrolle. Ich gebe hier nicht der sicher interessanten Frage nach, wieweit das Aktionsfeld der Medien reichen sollte. Insbe­ sondere klammere ich die Frage nach der Informationsverpflichtung

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der Rundfunkanstalten aus. Für die Selbstdarstellung des Staates heute spielt es auch keine Rolle, ob eine der Pressefreiheit entsprechende Rundfunkfreiheit des einzelnen Rundfunkjournalisten überhaupt existiert und ob rechtliche Instrumente geschaffen werden sollten, um die Informationsverpflichtung der Rundfunkanstalten zu gewährleisten. Das alles ist wohl nicht Gegenstand Ihrer Tagung und wird an anderer Stelle der allerdings notwendigen Klärung näher gebracht werden müssen. Hier erscheint mir allein die tatsächlich angetroffene Lage von Gewicht. Danach hat der Staat seine eigene Darstellung letztlich nicht in der Hand. Er ist ebenso wie die Bürger und die gesellschaftlichen Gruppen mehr oder weniger auf dasBild verwiesen, das die Medien von ihm zeichnen. Ich beklage das nicht, sondern stelle es nur im Rahmen des Themas fest. In einer offenen, freien Gesellschaft wird das nicht anders sein können. Eine staatlich initiierte Selektion des Informations­ und Meinungsangebotes würde die Freiheit vernichten. Aber es würde auch zu unabsehbaren Schäden führen, wenn dem Staat nicht belassen würde, was des Staates ist. Staat und Meinungsmacht sind in einer funktionsfähigen freien Gesellschaft aufeinander angewiesen. Im ge­ genseitigen Kontakt mit den Institutionen von Presse und Rundfunk und mit den einzelnen Journalisten, was auch ganz wichtig ist, muß die gemeinsame Verantwortung wahrgenommen und ausgebaut, ent­ wickelt werden. Persönlich würde ich es begrüßen, wenn Fortbildungs­ veranstaltungen gemeinsam mit Journalisten zu einem entsprechenden Thema durchgeführt werden könnten. Zum Bild vom Staat trägt auch die Art und Weise bei - ich komme damit zu einem nächsten Punkt - wie sich gesellschaftliche Organisa­ tionen am Prozeß der Meinungs- und Willensbildung beteiligen. Daß nicht nur der Staat in gesellschaftlichen Bereichen interveniert, son­ dern sich auch umgekehrt die GeselJschaft über kollektive Zusam­ menschlüsse des Staates annimmt, ist eine Binsenweisheit. Der Staat stellt sich deshalb auch dar als ein Schauplatz des Ringens organisierter gesellschaftlicher Kräfte um die Durchsetzung von Interessen und um die Macht. Es scheint dabei bisher nicht gelungen, die Grenzen zwischen legitimer Interessenbehauptung und illegitimer politischer Macht ver­ läßlich zu ziehen. Eine solche Grenzziehung könnte im Interesse der Freiheit des Bürgers und der Handlungsfähigkeit der Verfassungs­ organe notwendig werden. Tatsächlich sieht sich der Staat gehalten, politische Macht mit gesellschaftlich organisierten Kräften zu teilen, wenn von den tatsächlichen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird. Unter solchen Voraussetzungen könnte er ein schwacher Staat sein. Er könnte sich tatsächlich als zu schwach erweisen, um Freiheit und Sicherheit in einem solchen Fall zu garantieren.

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Diffuse Grenzen der Staatlichkeit, ein Mischgebilde aus Staat, Par­ teien, Institutionen der Medien und gesellschaftlichen Gruppen, prägen also das Erscheinungsbild, das der Staat heute abgibt. Mit diesem Aus­ gangspunkt möchte ich keinesfalls die These von der Einheit von Staat und Gesellschaft übernehmen oder ihr begegnen. Ich möchte auch überhaupt nicht in Zweifel ziehen, daß der Staat auch im gesellschaft­ lichen Bereich zu handeln hat. Er hat dort wichtige Aufgaben zu erfül­ len. Er hat sich diesen Aufgaben nach Kräften gestellt und wird das auch in Zukunft tun müssen. Allerdings haben die Jahre wirtschaft­ lichen Aufschwungs, der Vollbeschäftigung, des allgemeinen Wohlstan­ des denjenigen Argumente geliefert, die den Zweck des Staates haupt­ sächlich darin sehen, die Ansprüche der Bürger zu erfüllen. Es wird ja von der Bevölkerung als selbstverständlich hingenommen, daß der Staat die Verantwortung zu tragen hat für Vollbeschäftigung, für all­ gemeine Lebenssicherung, für die Versorgung mit Energie, für all das, was wir in unserem täglichen Leben nicht mehr entbehren wollen. So nimmt es nicht wunder, daß sich der Staat demBürger weniger darstellt in seiner geistigen, moralischen und rechtlichen Qualität. Solange nur den Ansprüchen Genüge getan werden kann, sind schädliche Auswirkun­ gen des materiellen Anspruchsdenkens nicht deutlich hervorgetreten. Für die Inanspruchnahme des Staates als geistiger und moralischer Ord­ nungskraft hat man deshalb keine Dringlichkeit gesehen. Das Zusam­ menspiel von Staat und gesellschaftlichen Gruppierungen hat sich in der Staatspraxis auch mehr oder weniger als funktionsfähig erwiesen. Es kann dabei nicht übersehen werden, daß die Verbände in der Bundes­ republik Deutschland ein beträchtliches Maß an Verantwortung nach­ gewiesen haben. Im Zustand des Gleichgewichts von staatlicher Macht und gesellschaftlichen Kräften hat sich so nur wenig Sinn entwickelt für die Verstärkung der speziellen Staatsbelange. Das ändert sich erst, wenn Anforderungen an den Staat etwa in An­ betracht zerrütteter öffentlicher Kassen mit den herkömmlichen Mitteln nicht mehr zu bewältigen sind. Das wachsende Bedürfnis nach einer besseren Staatsqualität hat zwar gewiß nicht allein wirtschaftliche Ursachen, entspricht aber mindestens in seinem zeitlichen Eintreten dem Verlauf der wirtschaftlichen Rezession und dem Rückgang staat­ licher Leistungskraft, wie wir sie in den letzten Jahren leider haben erleben müssen. Das Bild des Staates heute entspricht daher dem Bild eines Schönwetterstaates. Eine Schlechtwetterperiode kann er so nicht gut überstehen. Ein vorsichtiger Hausvater sollte das bedenken und die Neubesinnung vornehmen, und dies müßte sein nach meinem Stand­ ort eine Neubesinnung auf die geistigen, moralischen Grundlagen des Staates. Sie müßten in den Mittelpunkt aller Bemühungen gestellt werden. Auch dazu nur einige Stichworte. Staatliche Bildungsträger

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und die Vertreter der veröffentlichten Meinung sind dabei beide be­ sonders angesprochen. Die bloße Vermittlung staatlicher Handlungs­ techniken und Organisationsstrukturen, wie sie gelegentlich vorkom­ men im Rechtsunterricht an Schulen, reichen dafür nicht aus. Das Grundverständnis von Staat und Bürger muß wieder belebt werden. Es muß wieder an den jungen Menschen, besonders an den jungen Men­ schen, aber über die Medien auch an das gesamte Volk herangetragen werden. Ich kann leider nicht annehmen, daß diese wichtige Aufgabe staatlicher Selbstdarstellung überall zufriedenstellend erledigt wird. Justizminister - und diese Aufgabe ist mir nun mal im Augenblick übertragen - erleben es beispielsweise nicht nur in diesem Lande, auch in anderen, daß in staatlichen Schulen die Berechtigung staatlichen Strafens von der Grundlage her verneint wird. Wie soll ein junger Mensch ein vertretbares Verhältnis zu seinem Staat vermittelt erhal­ ten, wenn ihm im Schulunterricht beigebracht wird, daß dieser Staat mit völlig untauglichen Mitteln und sozusagen böswillig einem ein­ zelnen Bürger heimzahle, was die Gemeinschaft verschuldet habe. Es geht also um die Inhalte. Es ist die Frage, wer inhaltlich bestimmt, was den Bürgern als Staat vorgestellt wird. Nach meinem Verständnis können die Inhalte nur durch Rückbesinnung auf die im Grundgesetz wirkende Wert- und Verfassungsordnung gefunden werden, die auch der Politik Grenzen setzt und Richtung gibt. Darüber sollte es unter Demokraten keinen Streit geben. Unter Juristen wird es diesen Streit kaum geben können. Damit sind allerdings keinesfalls alle Inhalts­ fragen gelöst. Soweit diese Erkenntnis verlorengegangen ist, sollte sie zurückgewonnen werden. Es geht also um die Realisierung, um die Aktualisierung der Wertordnung. Es geht um eine funktionsfähige Ordnung. Aktualisierung der Wertordnung der Verfassung ohne Be­ rücksichtigung dessen, was finanzierbar, was verkraftbar, was funk­ tionell einfügbar ist, wäre Politik für einen anderen Stern. In dem Rahmen, der sich damit anbietet, ist viel Raum gegeben für das Ringen um den richtigen Weg. Für die Selbstdarstellung des Staates erscheint mir das Recht von ganz besonderer Bedeutung. Das Recht ist der eigentliche Ausdruck des Staates, nicht nur das Gerippe, auch das Gesicht, das Herz, der Kreis­ lauf. Es soll eine gerechte und dauerhafte Ordnung schaffen. Dafür genügt es nicht, daß es von einer gerade gegebenen Mehrheit getragen wird. Um dauerhaft zu sein, sollte es auf dem breitestmöglichen Kon­ sens der politischen Willensträger stehen. Nur dann hat es die Chance, zugleich von allen Bürgern angenommen zu werden. Recht ist nicht das Hausgut - ich habe das an verschiedenen Stellen bereits gesagt, bringe es aber auch hier zum Ausdruck als meine Überzeugung und die Über­ zeugung der Landesregierung von Rheinland-Pfalz - Recht ist nicht 2 Speyer 63

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das Hausgut einer Koalition, sondern muß Gemeingut des ganzen Volkes sein. Wer das Recht nach den Maßstäben seines Parteiprogram­ mes gestaltet oder den Inhalt des Rechts nach den Vorstellungen nur einer Gruppe bestimmt, der nimmt in Kauf, daß mit der Verschiebung der Machtverhältnisse die an sich auf Dauer angelegten Ordnungsstruk­ turen zur Disposition gestellt werden. Eine solche Haltung wäre ver­ antwortungslos. Sie verwiese den Staat und die Rechtsordnung, die ihn ausmacht, in die Rolle eines bloßen Erfüllungsgehilfen. Für eine ver­ tretbare Selbstdarstellung des Staates ist es somit von höchster Bedeu­ tung, die Rechtsordnung aus der Parteilichkeit herauszuhalten. Wir müssen uns daher in der Rechtspolitik stets um eine breite Konsens­ grundlage bemühen und sind hier von einer solchen Haltung bestimmt. Wir haben uns in schwierigsten Aufgaben der Rechtspolitik um ver­ tretbare Kompromisse mit Erfolg bemüht, ich nenne hier beispielhaft das Strafvollzugsrecht und das Ehe- und Familienrecht - es war nicht einfach, zum Konsens zu kommen. Wir haben keine Mühe gescheut und hatten Erfolg. In anderen Fragen hatten wir diesen Erfolg nicht, wir haben gar kein Gehör gefunden beispielsweise in der Frage der Er­ neuerung des § 2 1 8 StGB, der Novellierung des Strafprozeßrechts in ver­ schiedenen Fragen - in anderen ist es gelungen. Wir werden in den vor uns liegenden Aufgaben der Rechtspolitik um eine breite Gemein­ samkeit bemüht bleiben müssen. Gerade hier gilt : Der Staat ist mehr als die Organisation jener 50 °/o von Wählern, die sich für die jeweilige Regierungspartei oder Regierungsgruppierung entschieden haben. Mein letztes Wort zum Erscheinungsbild des Staates in der Öffent­ lichkeit gilt der Durchsetzung des Rechts. In unserem Staat heute gilt gleiches Recht für alle als eine bare Selbstverständlichkeit, es ist Gott sei Dank so, das mußte im Laufe der Geschichte errungen werden. Aber der Staat ist in der heutigen Situation nicht immer Herr der Lage. Er ist nicht immer in der Lage, das Recht gegen jedermann in gleicher Weise zur Durchsetzung zu bringen. Immer wieder verstehen es einzelne oder Gruppen, für sich Privilegien in der Anwendung des Rechts zu erringen. Es ist kein gutes Zeichen für unseren Staat und gibt kein gutes Bild ab, daß er der großen Masse straffällig gewordener Mitbürger zumutet, sich in einem schnellen, fairen Verfahren dem Strafanspruch des Rechts zu unterwerfen, wenn er sich nicht gerüstet zeigt, auch mit j enen Täterkreisen fertig zu wer­ den, die den Gerichtssaal mit dem Schauplatz revolutionärer Entwick­ lungen verwechseln. Der Staat ist es seinen Bürgern schuldig, daß er das angekratzte Bild von seiner Durchsetzungskraft wieder zurechtrückt, indem er die Verfahrensordnung und die Rechtsanwaltsordnung mit Instrumenten ausstattet, die einen Mißbrauch der freiheitlichen Rechts­ stellung von Beschuldigten, Angeklagten und Verteidigern verhindert.

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Wohl bemerkt, es geht hier nicht um den kurzen Prozeß. Es geht darum, in einem fairen Verfahren auch jenen kleinen Teil unseres Volkes unter das Gesetz zu stellen, der die Meinung vertritt, das Gesetz sei nicht für ihn, sondern nur für andere da. Ich habe nur einige Gesichtspunkte hier vortragen können, die mir im Zusammenhang mit der Selbstdarstellung des Staates bemerkens­ wert erscheinen. Ich bitte um Nachsicht, daß ich manchen Gesichtspunkt, etwa Unterlassungen auf der Seite des Staates, hier nicht besonders herausgestellt und mit Beispielen belegt habe. Ich bitte um Nachsicht dafür, daß ich das Thema der Symbolik, auf das Sie mich, verehrter Herr Prorektor, vor der Sitzung angesprochen haben, nicht behandelt habe. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihrer Tagung einen fruchtbaren Verlauf und der Hochschule für Verwaltun�swissenschaften eine gute Zukunft. Herzlichen Dank!

Von der Staatspflege überhaupt Von Herbert Krüger Das Thema „Staatspflege" mag auf den ersten Eindruck überraschen, ja befremden. Es bedarf daher als erstes der Erläuterung. Dazu ist einmal festzustellen: Staatspflege hat mit der Propaganda totalitärer Staaten nichts zu tun. Solche Staaten sind Weltanschauungs­ oder Ideologiestaaten. Da sie sowohl ihren Zusammenhang als Verband wie ihre Rechtfertigung auf solche „geistigen Grundlagen" stützen, müssen sie unablässig auf deren Erhaltung und Festigung, nicht zuletzt auch Verbreitung bedacht sein1 • Diese Notwendigkeit sehen sie als so bedeutend an, daß sie besondere, dieser Aufgabe gewidmete In­ stitutionen wie z. B. ein Propaganda-Ministerium zu errichten oder einen „Chef-Ideologen" zu bestellen pflegen. Demgegenüber ist Staats­ pflege die Angelegenheit eines Staates, der sich gerade nicht mit einer Weltanschauung oder Ideologie identifiziert, der also in beiden Hin­ sichten neutral ist und deswegen eine Pluralität von solchen Welt­ anschauungen, Ideologien, insbesondere auch Religionen zu dulden vermag. Es muß daher hier der Staat selbst und als solcher sein, der Gegenstand der Staatspflege ist. Befremdlich mag erscheinen, daß der Staat, dieser scheinbar mäch­ tigste und gefährlichste Feind der Freiheit, auch noch gehegt und gepflegt statt kurzgehalten werden soll. Es kann hier nicht noch einmal klargelegt werden, daß Freiheit ohne Sicherheit Freiheit nicht sein kann, daß es daher der im Staat zusammengefaßten und gesteigerten Kraft aller Bürger bedarf, um die Sicherheit der Freiheit unbedingt, vor allem gegen auswärtige Gefahren, zu gewährleisten. Es ist daher letztlich die Freiheit, die gepflegt wird, wenn der Staat gepflegt wird oder vielmehr sich pflegt. Drittens - positiv gewendet -: Staatspflege ist eine notwendige praktische Folgerung aus der neueren wissenschaftlichen Erkenntnis vom Sein des Staates. Selbstverständlich bedarf es einer Pflege nicht, wenn man die Existenz des Staates sich in seiner Eigenschaft als juristischer Person erschöpfen läßt. Dasselbe gilt von der offenbar 1 Vgl. Alex Inkeles / David H. Smith, Becoming Modern. Individual change in six developing countries, Harvard University Press (UP) 1974, S. 79 : Sinn der Propaganda-Ministerien ist der Kult einer Mystik,

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unsterblichen Drei-Elementen-Lehre, der zufolge der Staat aus Staats­ volk, Staatsgebiet und Staatsgewalt besteht: Diese drei Elemente sind entweder gegeben oder nicht gegeben, auf ihre Vitalität oder gar deren Intensität, wenn etwas derartiges überhaupt denkbar sein sollte, kann es nicht ankommen, wie es allerdings der Fall ist, wenn man das Sein des Staates im Bewußtsein seiner Bürger verortet. Als Beleg für die Staatsauffassung, die einer Staatspflege entraten kann, sei kein ge­ ringerer als Alb ert Haenel2 genannt: ,,Abgesehen von seinen Organen hat der Staat keinerlei Realität, sondern ist nur eine einseitige Abstrak­ tion, die wir uns in gewissen Zusammenhängen zur Erleichterung unseres Denkens und Sprechens bilden." I. 1. Ausgangspunkt einer Umschreibung von „Staatspflege" 3 muß sein die wesentlichere Erkenntnis vom Sein des Staates, wie sie in Deutsch­ land vor allem Rudolf Smend begründet hat4. Hiernach ist das Sein des Staates nicht ein natürliches, sondern ein geistiges. Als geistiges erschöpft es sich jedoch nicht, wie es die Reine Rechtslehre gewollt hat, in einem System von Rechtsnormen -, es gehört hierzu viel mehr, vor allem ein gemeinsames Bewußtsein seiner Bürger, das die Staat­ lichkeit ihrer gesellschaftlichen Existenz weiß, bejaht und verwirklicht. Staat ist daher nicht ein selbständiges Gebilde außerhalb oder gar jenseits der Gesellschaft. Er ist vielmehr diejenige ihrer Gestalten, in die sie sich bringt, um sich so sicher und so erfolgreich wie möglich mit denjenigen inneren und vor allem äußeren „Lagen" auseinander­ setzen zu können, die Jedermann angehen und daher von der Allgemein­ heit in ihrer hierfür am besten geeigneten Gestalt, eben als Staat, zu bewältigen sind. 2. Anders als Natur oder Normen ist eine Geistesverfassung nicht einfach „da", sie muß vielmehr gebildet und erneuert werden, die Gesellschaft hat sich ihrer Staatlichkeit immer wieder bewußt zu werden, sie sich zu vergegenwärtigen und sie zu verlebendigen. Jeden­ falls in einer Demokratie muß der Anstoß zu alledem aus den Bürgern selbst frei hervorgehen: Sich selbst immer wieder zu Staatlichkeit der Gesinnung zu bilden, ist geradezu die erste Bürgerpflicht. Anders jedoch als die Marktwirtschaft rechnet sie nicht mit einem Automatismus, sondern verlangt Spontaneität und Aktivität der Bürger. 2

Alb ert Haenel, Studien zum Deutschen Staatsrecht, Bd. II, Leipzig 1880,

s. 231.

a Vgl. hierzu ein für allemal Herb ert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 217 - 231. 4 Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, jetzt in: ders., staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff.

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Wenn die Marktwirtschaft sich auf den Marktmechanismus glaubt verlassen zu können und jeden „Eingriff" in denselben für geradezu schädlich hält, dann beruht dies zusammengerafft auf folgendem Ge­ dankengang: Der Mensch soll nicht von Menschen. sondern von Gesetzen beherrscht werden; insofern Gesetze immer noch von Menschen ge­ geben werden, müssen sie durch Naturgesetze ersetzt werden; der Mensch befolgt die Naturgesetze nicht kraft deren Normativität, es sind vielmehr seine natürlichen Triebe, die ihn diese Gesetze von sich aus befolgen lassen5 • Demgemäß sagte die Theorie der Marktwirtschaft: Der Markt bewegt sich nach Naturgesetzen, der Mensch befolgt sie auto­ matisch dank seiner natürlichen Triebe, hier des Erwerbstriebes. Es kann in einem Gemeinwesen, in dem das marktwirtschaftliche Denken weit über die eigentliche Wirtschaft hinaus vorgedrungen ist, nicht oft genug entschieden hervorgehoben werden, daß der Staat weder ein Naturprodukt ist noch sich nach natürlichen Gesetzen bewegt, geschweige denn, daß diese Bewegung eine automatische wäre. Es gibt für den Staat nichts, was sich dem Erwerbstrieb der Marktwirtschaft vergleichen ließe, insbesondere gibt es keinen dem Erwerbstrieb auch nur annähernd vergleichbaren Staatstrieb. Als Wirtschaftssubjekt der Marktwirtschaft braucht der Mensch nur seinen natürlichen Trieben zu folgen, um letzten Endes das auch gesamtheitlich Richtige zu be­ wirken, als Bürger muß er sie im Gegenteil überwinden, wenn er sich zum Bürger bilden und als solcher richtig in seinem und im gesamt­ haften Sinne verhalten will. Man sieht: Für die Marktwirtschaft ist der Staat bereits „ abgestorben", während er für den Marxismus erst in der Zukunft absterben wird, wenn er zuvor die Welt und den Menschen gründlich verändert haben wird. Dies muß mit aller Schärfe hervorgehoben werden, um deutlich zu machen, daß dies alles für den Staat nicht gilt, daß er vielmehr ganz und gar auf einer naturüber­ windenden Spontaneität und Aktivität der Bürger beruht, daß ihm also solche „Pflege" ebenso wesentlich wie notwendig ist. 3. Sind Wesentlichkeit und Notwendigkeit der Staatspflege hiermit festgestellt, dann bedarf es als nächstes der Abgrenzung dieses Instituts von verwandten Erscheinungen. a} Der erste dieser Verwandten, zwar keineswegs auf den Staat beschränkt, aber auch für ihn als geboten anerkannt, ist das, was man die „Selbstdarstellung" von Personen und Gebilden nennt6 • Damit ist zweierlei ausgesprochen: & Zur Geistesgeschichte dieser Vorstellung vgl. Condorcet bei Keith Michael Baker, Condorcet, Chicago UP 1975, S. 65, 217, 290 f., 298, 303, 325, 334, 339, 370, 374, 379, und Jean Jacques Rousseau, Emile, Ausg. Bibliotheque de la

Plejade, Paris 1969, S. 311. e Der Ausdruck „Selbstdarstellung" (oder auch „Image-Pflege" und dergl.) hat sich in kurzer Zeit überall durchgesetzt. Vgl. etwa aus den zahllosen

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Selbstdarstellung meint einmal Sichtbarmachung geistiger Gebilde in der Welt der Sinne. Gerade der Staat als das hervorragendste solcher Gebilde bedarf vor allem der Selbstdarstellung. Hierin liegt der Grund dafür, daß der Staat vor allem durch seine Staatsoberhäupter stattlich und ansehnlich auftreten soll, wie es vor allem die Monarchen mit ihren Höfen gehalten haben7 • Eine wichtige Rolle fällt in dieser Hinsicht sowohl in West wie in Ost den Wehrmachten zu, vor allem wenn sie an Festtagen paradieren. In den Entwicklungsländern fehlt zwar ein echter militärischer Bedarf nach einer Armee, um so mehr legt man jedoch Wert auf eine solche, weil sie die neu errungene Souveränität so sichtbarlich zum Ausdruck bringt8• In diesem Zusammenhang sind auch die Bauten zu nennen: Der Staat kann sie errichten lediglich zum Zwecke seiner Selbstdarstellung - etwa als Denkmal, das einem großen geschichtlichen Erfolg gewidmet ist -, es ist jedoch für ihn eine Obliegenheit, auch dann, wenn er um sachlicher Zwecke willen baut, nicht lediglich einen charakterlosen Zweckbau, sondern einen Staatsbau zu errichten, was etwa verlangt Monumentalität, Verschönerung durch Kunstwerke u. ä. m. Die Deutschen haben zur Zeit mit dem neuen Bundeskanzleramt in Bonn und dem Palast der Republik in Ost-Berlin Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob der staatliche Bauherr über­ haupt von einer staatlichen Absicht geleitet worden ist und ob ihm die Verwirklichung dieser Absicht geglückt ist9 • Die Entwicklungsländer sind auch in dieser Hinsicht lebhaft darauf bedacht, sich als Staaten zur Darstellung zu bringen: Dieserhalb errichten Monarchen Paläste10 und Republiken vor allem Parlamentsgebäude11 , die sich sollen sehen lassen können12 • Beispielen : Rainer Gruenter, Repräsentation. Über öffentliche Selbstdarstel­ lung in der Demokratie, FAZ v. 10. 2. 1976, S. 15. 1 Es ist das Verdienst Walter Bagehots, einen der Selbstdarstellung des Staates gewidmeten Teil der Verfassung als „dignified part" erkannt und unterschieden zu haben ; vgl. ders., The English Constitution, 1876, Ausg. The World's Classics, Oxford UP 1955, S. 4. Die dazu gehörenden Verfassungs­ bestandteile „excite and preserve the reverence of the population . . . The dignified parts of government are those which bring it force - which attract its motive power. The efficient parts only employ that power." e Vgl. die Nachweise bei Herb ert Krüger, Über Militärregime in Entwick­ lungsländern, Beiheft 8 zur Zeitschrift „Verfassung und Recht in Übersee" (im Druck). 9 Die Pressestimmen lassen nicht eben Begeisterung erkennen. 1 0 Vgl. ,,Siams Königtum in der Bewährung", Neue Zürcher Zeitung vom 17. Dezember 1975 : ,,Wie niemand anders hat in Thailand der König im letzten Jahrzehnt die von ethnischen Minderheiten und Bergstämmen be­ siedelten Randgebiete seines Reichs bereist und sich dort bemüht, durch Gesten und Entwicklungshilfe ein politisch integrierendes Fanal zu setzen. Er errichtete außerhalb von Chiang Mai im Norden Thailands ein Palais . . . In Windeseile läßt der Herrscher jetzt auch in Nordostthailand einen Palast bauen. Das soll seine Präsenz und seinen Willen dokumentieren, die thai­ ländische Souveränität . . . gegen die laotischen Irredentaforderungen zu behaupten . . . "

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Man mag sich fragen ob man in solcher Selbstdarstellung des Staates nicht lediglich eine Art von Staatspflege zu sehen hat. Mir scheint, daß man sie zwar in diesen Zusammenhang zu stellen hat, ohne jedoch den zwischen beiden bestehenden Unterschied einzuebnen, selbst wenn er etwas gewollt wirkt. Selbstdarstellung des Staates setzt die Existenz des Staates voraus, während es der Staatspflege um deren Hervorbrin­ gung geht. Naturgemäß kann man zwischen Hervorbringung und Festi­ gung nicht scharf unterscheiden, vor allem ist jede Festigung auch Mitwirkung an der Hervorbringung. Die Staatspflege findet ihre Be­ sonderheit darin, daß sie rational an den Intellekt appelliert, während die Staatsdarstellung über die Anschauung hin wirken will. b) Ein zweiter Nachbar der Staatspflege ist die sog. Öffentlichkeits­ des Staates1 3• Mit ihr nimmt es der Staat selbst in die Hand, seine Bürger über sich zu unterrichten1 4 • Sie ist notwendig gerade auch unter dem Blickwinkel der Staatspflege: Wenn der Staatsangehörige sich zum Bürger steigern soll, dann muß er nicht nur wissen, was der Staat und warum er ist, er muß auch wenigstens in großen Zügen darüber im Bilde sein, was er tut und was er leistet, und zwar ob er insbesondere auch das vollbringt, worin seine ratio essendi liegt: die Bewältigung der die Allgemeinheit vital angehenden Lagen. Hierin erschöpft sich jedoch der staatliche Sinn der Öffentlichkeitsarbeit nicht: Sie soll ferner dem Bürger die Möglichkeit verschaffen, während der Wahlen durch die ihm von der Verfassung hierfür zur Verfügung ge­ stellten Möglichkeiten, insbesondere die Öffentliche Meinung, die Re­ gierung zu beeinflussen und vor allem am Wahltag richtiges und arb eit

So Zambia nach William Tordoff (ed.), Politics in Zambia, California UP S. 196, und Botswana nach Anthony Sillery, Botswana - A Short Politi,­ cal History, London 1974, S. 159. In Kamerun werden die alten deutschen Amtsgebäude für diesen Zweck eingesetzt; vgl. Willard R. Johnson, The Cameroon Federation : Laboratory for Pan-Africanism, in: New States in the Modern World, hrsg. v. Martin Kilson, Harvard UP 1975, S. 89 ff. (90). 12 Diese künstlerische Selbstdarstellung beschränkt sich selbstverständlich nicht auf Bauwerke; vgl. hierzu den Grafen Armansperg nach Th. Schieder, Partikularismus und Nationalbewußtsein, in : Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, hrsg. v. Werner Conze, 1962, S. 9 ff. (30) : Er bezeichnet es als Zweck der Freskomalereien in den Arkaden des Münchener Hofgartens, dem gerechten Nationalstolz der Bayern zu huldigen und der Feier der Nationalehre zu dienen. 1s Vgl. für Frankreich : Allain Claisse, Le Premier Ministre de la V. Re­ publique, Paris 1972, S. 245 ff. 1 4 Literaturhinweise gibt Michael Kloepfer, Information als Intervention in der Wettbewerbsaufsicht, 1973, S. 6, Anm. 4. Neuerdings vor allem : Otto Ernst Kempen, Grundgesetz, amtliche Öffentlichkeitsarbeit und politische Willens­ bildung, 1975. Aus der älteren Literatur ist hervorzuheben : Gisela Sänger, Funktionen amtlicher Pressestellen in der demokratischen Staatsordnung, 1966; Für die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Pressestellen auch: Günter Hermann, Fernsehen und Hörfunk in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 267. 11

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gerechtes Gericht über die Regierung zu halten. Der Streit, der sich im Wahljahr 1976 um die „Tätigkeitsberichte" der Bundesregierung ent­ zündet hat, die sie mit nicht unerheblichem Aufwand in Gestalt von Zeitungsanzeigen erstattet, weist auf eine Gefahr hin, gegen die auch die eigentliche Staatspflege nicht unbedingt gefeit ist15 : Das, was sich als Staatspflege ausgibt, mag sich bei Lichte besehen als Regierungspflege oder gar als Parteipflege erweisen. Wenn man sich jedoch für die Parteidemokratie und insbesondere eine parlamentarische Regierung entschieden hat, dann muß man sich darüber klar sein, daß das Volk in der Wahl den Staat konkret für vier Jahre konstituiert und daß er in dieser Zeit in solcher Gestalt der Staat ist. Im Grundsatz läßt sich daher auch in Wahljahren der Regierung die Kompetenz zu Öffentlich­ keitsarbeit nicht abstreiten. Ob und vor allem in welcher Weise und in welchem Maße dies geschieht, ist eine Frage von Stil und Takt gerade wenn die Regierung Staat ist, darf sie als Regierung den Staat nicht zerstören. II. Notwendigkeit und Ansatz der Staatspflege ergeben sich, wie wir gesehen haben, aus der Erkenntnis des staatlichen Seins als eines Prozesses der Integration, der ein ständiger und aktiver aller Bürger sein sollte. Gerade das Moment der Aktivität muß vor allem hervor­ gehoben werden: Wenn die Marktwirtschaft ihren Prozeß als Automatis­ mus sich vollziehen läßt, wenn ferner diese Auffassung (,,le monde va de lui-meme") sich weit über den Bereich der Wirtschaft ausgedehnt hat, so daß man sie geradezu als alles beherrschend und durchdringend ansehen muß, dann kann nicht oft genug betont werden, daß der Staat weder sich bildet noch daß er arbeitet de lui-meme, daß er hierfür vielmehr der unablässigen Anstrengung aller Bürger bedarf, daß er zum Unterschied von der „Natur" der Marktwirtschaft durchaus „Kunst" ist. 1. Mitwirkung an der Staatsbildung erweist sich damit als die allgemeinste der mancherlei Rollen, die der Bürger nach dem von der Verfassung entworfenen Programm spielen kann und spielen sollte. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, ein Bild des Rollenträgers zu ent­ werfen, wie er in diesem Zusammenhang von der Verfassung voraus­ gesetzt ist. Die große Alternative lautet hier: Ist der Bürger für diese 1 5 Vgl. hierzu 0. E. Kempen, S. 16 f. : Öffentlichkeitsarbeit bewirkt mög­ licherweise Pervertierung der politischen Willensbildung des Volkes. Hierzu M. Kloepfer, S. 13, Anm. über eine etwas seltsame Art von Öffentlichkeits­ arbeit berichtet Josef Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 25. Anm. 4 : Er sieht in der wissenschaftlichen Tätigkeit der Mitglieder des Bundesfinanz­ hofes eine solche Arbeit. Wichtig für das Thema ist noch immer Walter Leisner, Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Rechtsstaat, 1966.

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seine erste und vornehmste Rolle als animal rationale oder als animal emotionale konzipiert? Die Frage kann offensichtlich nur gemäß der

Deutung des Staates beantwortet werden, von der die Staatspflege ausgeht. Wie schon früher dargelegt, ist der Staat zu verstehen als der Entschluß der Bürger, die sie als Allgemeinheit angehenden Lagen durch Selbststeigerung der Gesellschaft in einer Gestalt zu bewältigen, die ein Höchstmaß von Geschlossenheit, Festigkeit und vor allem Leistungsfähigkeit verbürgt - eben in staatlicher Gestalt. Es ist also im Grunde eine neue Art der alten Lehre vom Staatsvertrag, der hiermit gehuldigt wird, die sich jedoch von ihren Vorgängern vor allem dadurch unterscheidet, daß sie nicht aus einem als Arbeitshypothese gesetzten, apriorischen und eben deswegen überall und jederzeit gleichen Naturstand, sondern aus konkreten Lagen argumentiert18 , womit nicht zuletzt auch eine Aubstufung der Intensität der Staat­ lichkeit möglich wird. Der Einsatz eines modernen Modells „Staats­ vertrag" steht im übrigen nicht allein: Zwei bedeutende neuere Werke setzen die klassische Fassung ein, um den Umfang der Staatstätigkeit feststellen, insbesondere auch die Grenzen des Wohlfahrtsstaates be­ stimmen zu können1 7 • Es folgt hieraus, daß der Aufruf zur Mitwirkung an der Staatsbildung sich an den Bürger als animal rationale richten muß : Mit diesem Aufruf wird er aufgefordert, gewissermaßen jeden Tag den Abschluß des Staatsvertrages für sich nachzuvollziehen und sich gemäß den Bedingungen dieses Vertrages zu bestimmen und zu verhalten -, zuerst also wegen der Eigenschaft des Staates als Frie­ densverband sich der Anwendung von Gewalt zu enthalten (insbeson­ dere des Gewaltverbrechens als Vertragsbruchs !). Alles dies kann weder gefordert noch geleistet werden, wenn dem Bürger die Idee des Staatsvertrages unbekannt ist. Die erste Aufgabe der Staatspflege liegt somit darin, ihm eine solche Bekanntschaft zu vermitteln. Dieser Schluß wird bestätigt durch die Feststellung, daß Thomas Hob b es die Aufklärung der Bevölkerung über den Sinn der Staatsgewalt für notwendig erklärt1 8• Es wäre dies heute der erste Sinn, dem die vor allem in den Vereinigten Staaten für notwendig erklärte Sozialisation des Menschen zu genügen hätte19 • 1e Vgl. Herbert Krüger, Zur Bestimmung des geistesgeschichtlichen Stand­ ortes von Staatstheorien, Verfassung und Recht in übersee 1974, S. 55 ff. 11 John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1974 ; Robert Nozick, Anarchy, State and Utopia, New York 1974. 1s Thomas Hobbes, Leviathan, 1670, Ausg. Everyman's Library Nr. 691, S. 179 ; hierzu: C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive In­ dividualism. Hobbes to Locke, Oxford 1962, S. 99. 19 Technology and Social Change in Amerika, hrsg. v. Edwin T. Layton, New York 1973.

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2. Wenn man den Grundsatz der Nicht-Identifikation, dem zufolge sich der Staat nicht mit einer Religion, Weltanschauung oder Ideologie identifizieren darf, so hoch wertet, wie es seine Bedeutung für die Freiheit des Bürgers verlangt, dann kann Staatspflege nur einen Inhalt haben, in dem alle Bürger dadurch übereinstimmen, daß sie dem Staat angehören, also ihre Staatsangehörigkeit nicht aufgeben - eine Mög­ lichkeit, die ihnen ja eben deshalb gewährleistet wird. Hierin liegt erstens einer der Gründe, die es verbieten, Gefühle zum Gegenstand der Staatspflege zu machen: In Gefühlen kann man nicht überein­ stimmen. Aber auch Weltanschauungen und Ideologien sind nicht in einem solchen Maße einsichtig zu machen, daß man von Jedermann deren Bejahung allein deswegen annehmen kann, weil er die Staats­ angehörigkeit nicht aufgibt. Es bleibt hierfür allein die nüchterne Überlegung des freiheitsliebenden Menschen, daß er seine Freiheit allein nicht zu schützen vermag, daß er sich daher mit Seinesgleichen zu einer Mächtigkeit verbinden und steigern muß, die einer jeglichen Bedrohung dieser Freiheit gewachsen ist. Diese Überlegung scheint wieder in Frage gestellt, wenn man sich daran erinnert, daß das Bundesverfassungsgericht in einem Grundrecht eine Wertentscheidung, in der Gesamtheit derselben ein Wertsystem sieht20 • Offenbar kann es sich gemäß dem Grundsatz der Nicht-Identi­ fikation nur um Werte handeln, um deren Schutzes willen sich eine Gesellschaft zur Staatlichkeit entschließt -, nicht um Werte, die sie nach diesem Vorgang annimmt. Nur von der ersten Alternative nämlich kann angenommen werden, daß Jedermann sich ihrethalben zur Staat­ lichkeit entschlossen hat, während sich dies von der zweiten (man denke an die Kriegsdienstverweigerung) gewiß nicht sagen läßt, die daher eben deswegen auch nicht Thema der Staatspflege sein kann. 3. Man wird bezweifeln, ob eine an den rationalen Menschen mit intellektuellen Themen sich wendende Staatspflege bei der Mehrzahl der Menschen „ankommen" wird. Das älteste und erfolgreichste Strate­ gem, mit dessen Hilfe man solchen Zweifeln zu begegnen gesucht hat, besteht darin, die Staatlichkeit nicht allein als Gedanken oder Über­ legung, sondern als Geschichte vorzustellen: Große geschichtliche Ereig­ nisse und Persönlichkeiten werden eingesetzt, um den Staat sichtbar und erlebbar zu machen21 und hierdurch wenn auch vielleicht nicht Kenntnis, aber doch Bejahung des Staatsvertrages zu bewirken. Dieser Weg kann in der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls einstweilen 20 Vgl. zuletzt etwa BVerfGE 33, S. 1 ff. (10 f.) : ,,Das Grundgesetz ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt . . . " 2 1 Als Beispiel sei auf Mexico verwiesen ; vgl. Vincent Padgett, The Mexican Political System, Boston, Mass., 1976, S. 1 ff. : "The Bases of Legitimacy."

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allenfalls in kleinen Schritten betreten werden: Das Verhältnis der Bundesbürger zu ihrer nationalen Geschichte ist noch nicht entstört. Hinzu kommt eine grundsätzliche Anzweiflung des Wertes von Be­ schäftigung mit eigener Geschichte überhaupt: Wenn ihr noch ein Wert beigemessen wird, dann allenfalls deswegen, weil sie den Blick dafür schärfen soll, daß alle Geschichte nichts anderes ergibt als Ausbeutung der Schwachen durch die Starken und daß es sich vor allem in der Gegenwart nicht anders verhält. Man darf aber auch nicht übersehen, daß unsere Geschichtswissenschaft sich allzusehr mit zudem unpoliti­ schen Details beschäftigt. Gewiß soll alles dies nur „Vorarbeit" sein, aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es zur großen Darst�llung vor lauter Vorarbeit nur noch allzu selten kommt22 • 4. Mit dem letzten ist angeschnitten die geistige und seelische Situation der Nation, die sich Staatspflege als Aufgabe gestellt hat. Zwei Ge­ gebenheiten sind es, die hier vor allem zu nennen sind: a) Paradoxerweise ist es einmal eine weitverbreitete intellektuelle Gestimmtheit, die einer vernünftigen Darlegung und Erläuterung der Staatlichkeit entgegentritt. Diese Gestimmtheit mag durch den Typus des Intellektuellen und der Herrschaft dieses Typus gekennzeichnet sein. Der „Geist der Prüfung" hat hier den Modus der Unfruchtbarkeit angenommen, insofern er allein der Materie Wesentlichkeit auch für immaterielle Gebilde zuerkennt (Entmythologisierung, Entlarvung usw.), vor allem aber vergißt, daß gerade eine kritische Prüfung erst durch positive Erkenntnisse ihre Rechtfertigung erhält, die natürlich nicht lediglich in einigen vagen Formeln bestehen darf. Nichts mehr gelten zu lassen und zu nichts mehr zu kommen, scheint darüber hinaus zu einer Angelegheit des Prestiges geworden zu sein. Das Märchen von dem Kaiser und seinen Kleidern mag verdeutlichen, was hiermit ge­ meint ist. Das vornehmste Opfer dieser Art von Intellektualität ist der Staat: Es soll wohl vor allem dies festgestellt sein, wenn Ernst Nolte23 von der Bundesrepublik als einer „Gesellschaft ohne Staatlichkeit" spricht. b) Es ist zweitens die Wohlstandsgesellschaft, deren Gestimmtheit der Staatspflege entgegensteht. Es handelt sich nicht nur um das Element der Anstrengungslosigkeit, wie es ihr insbesondere durch die Vor­ stellung vom Automatismus infiltriert wird und wie es gerade die Grundrechte um ihren Sinn als Position freier und selbstbestimmter Mitwirkung an den Angelegenheiten der Allgemeinheit zu bringen geeignet ist. Es ist vielmehr diejenige Gestimmtheit, die der Erschei22 Von einer zweiten Möglichkeit, die Staatsidee sichtbar und erlebbar zu machen, dem Symbol, wird später ausführlich die Rede sein. 2a Ernst Nolte, Deutschland und der Kalte Krieg, 1974, S. 371 ff.

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nung entspricht, welche man die „Revolution der steigenden Erwartun­ gen" nennt. Sie erzeugt einmal eine Pleonexie, die eine Befriedigung, die nicht eine lediglich vorläufige und alsbald durch eine noch bessere zu überholen wäre, nicht kennt, ja nicht einmal duldet24 • Es bleibt jedoch nicht bei Pleonexie, statt der von ihr zu erwartenden Zu­ friedenheit stellt sich überall das Gegenteil ein: "The revolution of rising expectations is also the revolution of rising ressentiment25 ." Es ist hier nicht der Ort, diese Art von „Gestimmtheit" weiter auszumalen. Es genügt, die Wirkung auf die nationale Integration festzuhalten: Ressentiment "is the chief political fuel of disruption and conflict"2 8 • Dies ist nicht gerade die Lebensluft, in der Staatspflege gedeihen könnte: Wer von ihr erfüllt ist, wird geneigt sein, die Staatspflege als den Versuch zu entlarven, die Vorenthaltung dessen, was den Erwartungen ihrer Meinung nach von Rechts wegen zukommt, ziemlich plump und durchsichtig zu tarnen.

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Es ist die erste, für die Wirksamkeit der Staatspflege entscheidende Frage, wer für sie verantwortlich ist. Zwar ist wohl kaum jemals zuvor so nachdrücklich hervorgehoben worden, daß dem mündigen Bürger ein Recht auf Teilhabe und Teilnahme an der Staatlichkeit zustehe. Sehr viel weniger stark wird jedoch betont, daß dieses Recht vor allem eine Verantwortlichkeit begründet und daß die so hoch eingestufte Teilhabe und Teilnahme als erstem der Hervorbringung des Staates verpflichtet ist. Es folgt dies daraus, daß beides nicht sein kann, was es in einer Demokratie sein sollte, wenn es sich lediglich um Teilhabe und Teil­ nahme an einem außerhalb oder oberhalb der Gesellschaft stehenden, etwa von Gott, von Eroberern oder sonstwie von dritter Seite vor­ gesetzten Staat handeln würde: Ihren vornehmsten Sinn und ihre eigentliche Würde finden sie darin, daß es der Staat selbst ist, der aus ihnen entspringt und dank ihrer besteht. Es gilt gerade an dieser Stelle dem alten Untertanen„geist" entgegenzutreten, der es immer noch vorzieht, eine unerläßliche Staatlichkeit durch andere hervor­ bringen zu lassen, anstatt sie selbst hervorzubringen. Der Wohlfahrts­ staat scheint nicht unbedingt geeignet, den Bruch mit einer solchen Geistesverfassung zu fördern. 24 Auch ihr liegt die Auffassung zugrunde, daß das Maximum zugleich das Optimum ist. 2s Daniel BeU, The Coming of the Post-Industrial Society. A Venture in Social Forecasting, London 1974, S. 451. Wie Fritz W. Scharpf, Planung als politischer Prozeß, 1973, S. 135 ff., richtig bemerkt, ist kein Staat mehr in der Lage, den Wahn des Wachstums auch nur zu dämpfen, insbesondere einem jährlichen Einkommenszuwachs von mindestens 5 0/o etwa wegen drohender Erschöpfung der Rohstoffvorräte, Unzulänglichkeit der Investitionen und an­ deren entscheidenden Gründen entgegenzutreten. 2 8 D. BeU, S. 437.

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Diese Verantwortlichkeit der Gesellschaft selbst für ihre Staatlichkeit trifft sie sowohl in ihren einzelnen Mitgliedern wie in ihrer Gesamt­ heit. Es gehört daher zu den wesentlichen Themen jedenfalls einer sich freiheitlich nennenden Verfassung, diese Verantwortlichkeiten fest­ zustellen und Vorkehrung dafür zu treffen, daß ihnen genügt werden kann und in der Tat genügt wird. 1. Die Verfassungen scheinen expressis verbis der eben umschrie­ benen Aufgabe nicht zu genügen; es ist dies jedenfalls der Eindruck, den der erste Blick hinterläßt. Hiermit darf man sich jedoch nicht zufriedengeben : Der Theorie ist unter diesen Umständen die Aufgabe gestellt, eine von ihr ins Auge gefaßte Verfassung als „Programm der Nationalen Integration" zu erweisen27 • Hierbei ist als erstes davon auszugehen, daß die Verfassung selbst als Ganzes zu den staatlichen Veranstaltungen der Staatspflege gehört: Hiervon wird daher die Rede sein müssen, wenn vom (institutionellen) Staat als Träger von Staats­ pflege gehandelt werden wird. Jetzt geht es erst einmal um den Bürger als einzelnen. Es sind daher diejenigen Verfassungskapitel und -sätze zu ermitteln, wo man zu suchen hat, ob und wie die Verfassung sich die Hervorbringung des Staates durch Mensch und Bürger vor­ stellt -, m. a. W. ob und wie sie dort Staatspflege aufgegeben hat und voraussetzt. Unter diesem Blickwinkel sind es die Menschen- und Bürgerrechte, wo man dergleichen als erstes vermuten muß28• Durchaus verneint wird die Möglichkeit - von einer Notwendigkeit kann gar nicht erst die Rede sein -, die Grundrechte, jedenfalls soweit siP Bürgerrechte sind, auch als verfassungsmäßige Indienstnahme der Bürger für freie Staatshervorbringung zu sehen, von jenem Verständnis der Grundrechte, das ihren Sinn sich in der Abwehr des Staates, und zwar nicht nur des falsch, sondern gerade auch des richtig handelnden Staates erschöpfen läßt. Trotz aller Verwahrungen muß man damit rechnen -, ohne daß hierfür die Belege in der erforderlichen Zahl vorgeführt werden könnten -, daß diese Auffassung nach wie vor im Grunde die herrschende ist29 • Insofern solche Abwehr dem Menschen eine „staatsfreie Sphäre" sichern soll, ist auch die Staatspflege aus ihr verbannt. Das gilt sicher, 2 1 Vgl. Herbert Krüger, Die Verfassung als Programm der Nationalen Integration, in: Festschrift für Friedrich Berber, 1973, S. 247 ff. 2s Hierzu vgl. vor allem: E. W. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grund­ rechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff. Zu meiner These von den Grund­ rechten auch als Vehikeln der Staatshervorbringung vor allem kritisch H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 49 f. 2 9 Daß diese Grundrechtsauffassung etwas mit dem Mangel an längerer demokratischer Tradition zu tun haben mag, zeigt ein Blick in Ernest Baker, Reflections on Government, Oxford UP 1942, S. 4: "Liberty is not negativism. lt is a positive doctrine of the free man, freely holding its own position in the community, not in the teeth of the State, which secures to him the rights . . ."

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insofern der Staat als Institution auf die Festigung seiner Existenz in den Bürgern bedacht ist, und zwar trotz des Umstandes, daß Staats­ pflege selbstverständlich nicht mit hoheitlichen Mitteln, sondern allein mit „persuasion" und dergl. betrieben werden kann. Möglich bliebe trotzdem spontane Staatspflege durch den Bürger selbst, ja es könnten vielleicht sogar in diesem Zusammenhang die Grundrechte der Abwehr deswegen gewidmet sein, damit der Staat als Institution sich gerade hier nicht an die Stelle der Bürger selbst setzt. Aber von der Erwägung einer solchen Möglichkeit habe ich nirgendwo auch nur Spuren be­ merken können, und zwar um so weniger, je mehr man den von den Grundrechten umwallten Raum nicht nur negativ als „staatsfrei", son­ dern zudem positiv als „privat" beschreibt. An alledem ändert auch die neuerdings immer weiter vordringende Theorie nichts, die die Grundrechte zu einer für jedermann realisierbaren Chance zu erheben sucht und den Staat verpflichtet, für eine solche gleiche Realisierbarkeit (,,Chancengleichheit") zu sorgen, indem man aus der Verfassung die hierfür erforderlichen „Verfassungsaufträge" heraus- oder richtiger wohl (qua „Sozialstaatsgebot") hineinliest30 , wenn sie nicht sogar das „Ressentiment" fördern sollte, von dem soeben die Rede gewesen ist. Gewiß kann ein Mensch ohne soziale Sicherheit nicht Bürger sein. Aber ob soziale Sicherheit Bürgerlichkeit zur Folge haben muß, scheint doch recht zweifelhaft. Gehört nämlich zu bürger­ licher Staatspflege Wille zur Initiative und Verantwortungsfreudigkeit, so ist die Art und Weise, in der die Chancengleichheit verwirklicht wird oder verwirklicht werden muß, nicht unbedingt geeignet, persönliche Initiative zu fördern und bürgerliche Selbstverantwortung zu steigern: Nicht der Mensch verschafft sich durch eigene Tätigkeit diese soziale Sicherheit -, sie wird ihm durch den Staat verschafft, ja auferlegt. Zeichnet sich ferner der mündige Bürger durch eigenes Denken aus, dann ist auch die Argumentation aus Verfassungsaufträgen nicht eben tauglich, eigenes Denken anzuregen. Denn die schlichte Behauptung eines Verfassungsauftrages - und wer wird geneigt sein, die Vater­ schaft eines so hehren Ideals wie dessen des Sozialstaates an der un­ endlichen Kinderschar der Verfassungsaufträge in Zweifel zu ziehen! ersetzt das eigene Denken desjenigen, der einen solchen Auftrag be­ hauptet, durch den Befehl des Verfassunggebers und erspart ihm damit zugleich Substantiierung und vor allem Begründung -, und dem an einem solchen Verfassungsauftrag Zweifelnden wird von vornherein der Mund verschlossen, wenn er nicht der Verfassungs­ widrigkeit geziehen werden will. Diese allseitige Ersetzung von Ar­ gumentation und Entscheidung durch den Befehl des Verfassunggebers so Vgl. hierzu vor allem P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. Walter Krebs, Vorbehalt des Gesetzes und Grund­ rechte, 1975, s. 110 ff.

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wird geschlossen durch diejenige Rechtsprechung, die - jedenfalls in der Sache - eine Verurteilung des Gesetzgebers zur Ausführung eines Verfassungsauftrages kennt, und zwar unter der Drohung der Ersatz­ vornahme durch die Rechtsprechung im Falle der Säumnis31 • Gibt daher auch eine vom Staat verwirklichte reale Chancengleich­ heit für die Staatspflege so gut wie nichts her, so kommt lediglich noch die Auffassung der Grundrechte als Wertentscheidung32 als tauglich für bürgerliche Staatspflege in Betracht. Sie wirken in der Tat insofern als staatspflegend, als sie sich als eine „geistige Grundlage" des Staates darstellen, durch deren gemeinsame Bejahung sich die Bürger ver­ bunden fühlen und mit gleichem Stolz erfüllen können. Werte sollen jedoch nicht allein mit Worten, sondern vor allem durch Taten bejaht werden. Ist dies richtig, dann müssen als Wertentscheidungen verstan­ dene Grundrechte den Impuls zu aktiver Verwirklichung enthalten. Es ist vor allem Art. 19 Abs. 2 GG mit den Worten: ,,In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden", der - so seltsam, ja abwegig dies auf den erstenBlick erscheinen mag -, als eine Anweisung für den rechten Gebrauch der Grundrechte angesehen wer­ den muß33 • Er gehört seiner Stellung nach zu den „Wertentscheidungen" des Grundgesetzes, solche Entscheidungen aber gelten ihrer Natur nach nicht allein dem Staat als Institution, sondern sprechen Jedermann an. Für ihn sagt dieser Verfassungssatz, daß er einmal die Grundrechte überhaupt mit Gehalt zu erfüllen habe und daß zweitens dieser Gehalt ein wesentlicher sein müsse. Wenn aber eine Verfassung in erster Linie einen Staat verfaßt, insbesondere als Programm der Nationalen Integration34 zu sehen ist, dann kann „wesentlich" nicht nur privat, es muß auch öffentlich verstanden sein. Art. 19 Abs. 2 GG weist somit den Bürger an, von seinen Grundrechten auch im Sinne der Staatspflege Gebrauch zu machen -, davon daß der Nicht-Gebrauch ebenso positiv gewertet ist wie der Gebrauch, kann insbesondere an dieser Stelle keine Rede sein. Dieser generelle Nachweis einer verfassungsmäßigen lnpflichtnahme des freien Bürgers für eine selbstbestimmte Staatspflege sei durch eine entsprechende Durchleuchtung eines einzelnen, hierfür repräsentativen Grundrechts vervollständigt. Es handelt sich um das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Es kann insofern als das „Grundrecht der Grund31 Es kann hier nur die Vermutung geäußert werden, die Lehre von den Verfassungsaufträgen sei in der Sache nichts anderes als der Automatismus der Marktwirtschaft : Auch sie ersetzt die Entscheidung durch das Gesetz, und zwar das durch die Rechtsprechung sich selbst vollziehende Gesetz. 32 Vgl. oben Anm. 20. 33 Vgl. Herb ert Krüger, Der Wesensgehalt der Grundrechte, in: Die Ein­ schränkung der Grundrechte (Schriftenreihe der niedersächsischen Landes­ zentrale für politische Bildung), 1976, S. 35 ff. 34 Vgl. oben Anm. 27.

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rechte" bezeichnet werden, als kein anderes Grundrecht recht gebraucht werden kann, wenn man sich nicht vorher eine Meinung über den rechten Gebrauch gebildet hat35 • Die Meinungsfreiheit steht der Staats­ pflege von Hause aus besonders nahe, weil sie das Sein des Staates im Bewußtsein der Bürger findet und ein solches Bewußtsein als erstes eine Meinung, und sei es eine negative Meinung vom Staate voraussetzt. Es gilt dies zweitens von der Meinungsfreiheit insofern sie Freiheit ist: Die Pflege des Staates durch den Bürger trägt erst dann rechte Frucht, wenn sie eine selbstangestoßene und selbstbestimmte ist. Insbesondere kann man sich die Idee des Staatsvertrages nur in Freiheit zu eigen machen - wie es im übrigen das Institut „Vertrag" verlangt, und zwar nicht allein für den Abschluß, sondern auch die tägliche Bestäti­ gung. In diesem Sinne sind auch Informationsfreiheit und Pressefreiheit zu sehen : Sie sollen den Bürger um seiner Staatspflege willen über die hierfür wesentlichen Tatsachen unterrichten und ihm Anregungen zu deren Wertung vermitteln. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Meinungsfreiheit ausschließlich um eines solchen Gebrauches willen konstituiert sei. Aber über alledem darf nicht übersehen und vergessen werden, daß die Verfassung hiermit bürgerliche Staatspflege von Verfassungs wegen möglich macht und aufgibt. 2. Wir haben den Staat als eine Gestalt der Gesellschaft definiert, in die sie sich selbst immer wieder bringt, um in ihr und durch sie die sie angehenden „Lagen" erfolgreicher und sicherer bewältigen zu können als insofern gestaltlos. Hiermit ist gesagt, daß der Staat nicht zuletzt auch als eine Veranstaltung der Gesellschaft gegen sich selbst ver­ standen werden muß, insofern er da, wo sie nicht entsprechend veranlagt ist oder es an dem Notwendigen fehlen läßt, die Gesellschaft über solche Schwächen hinweghebt36 • Hiermit allein läßt es jedoch die Gesell­ schaft nicht bewenden. Sie bringt vielmehr innerhalb ihrer selbst solche Veranstaltungen hervor. Die Staatspflege ist hiervon nicht ausgenom­ men: Gerade in dieser Hinsicht ist die Gesellschaft selbst darauf bedacht, daß der Bürger an der Staatsbildung mitwirkt37 • Der Vorgang, in dem eine Gesellschaft sich als Staat gestaltet, vollzieht sich nicht mit einem Schlage -, sondern in sich gegenseitig steigernden Bildungen, deren letzte das Parlament ist -, Gebilden, die zugleich und mitein­ ander wirken. Die Richtung dieser Wirksamkeit, die der Verfasser als ,,Repräsentation" im Sinne von „Aufbereitung" oder „Vergütung" 3 5 In diesem Sinne sagt bereits John Milton, Areopagitica, 1643, Ausg. Everyman's Library Nr. 795, S. 35 : "Give me the liberty to know, to utter and to argue freely according to conscience, above all liberties." 3 6 Hiermit ist keineswegs das sog. Subsidiaritätsprinzip angesprochen. 37 Es handelt sich um dieselbe Art von List, die der einzelne Mensch gegen sich selbst anzuwenden pflegt; beispielsweise: Wen die Natur nicht weckt, der stellt sich einen Wecker.

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bestimmt hat, bewegt sich nicht nur „von unten" nach oben, sondern auch „von oben" nach unten: Was an höherer Repräsentation gewonnen ist, soll zurückwirken auf einen weniger fortgeschrittenen Grad der Repräsentation, letztlich also immer auf das Volk in seiner Unmittel­ barkeit. a) In diesem Lichte muß als erstes die sog. ,,Führende Schicht" ge­ sehen werden38, obwohl man weit entfernt von einer Einigkeit darüber ist, wie man sie zu bestimmen hat. Hierzu sei hier lediglich bemerkt, daß man sie nicht identifizieren darf mit irgendeiner amtlichen oder formierten Gruppe, also etwa den hohen Beamten, den Generaldirek­ toren, oder was sonst immer als Führende Schicht vorgestellt werden mag. Sie ist vielmehr ihrer Zusammensetzung nach wenig faßlich, weil ganz unorganisiert, wie es ebenfalls für die Öffentliche Meinung zutrifft: Was die Führende Schicht personaliter ist, stellt die Öffentliche Meinung realiter dar. Ebensowenig zu umschreiben ist die Gefolgschaft, die einer solchen Führenden Schicht entspricht. Es läßt sich nach alledem nur sagen, daß eine Führende Schicht sich aus denjenigen Persönlich­ keiten zusammensetzt, an deren Auffassungen und Verhalten eine erhebliche Menge von Menschen ihre eigenen Auffassungen und Ver­ halten zu orientieren pflegt, und zwar nicht als Ergebnis einer Prüfung, sondern in Anerkennung von deren Autorität oder Maßgeblichkeit. Mit einer solchen Anerkennung können Führende Persönlichkeiten nur rechnen, wenn sie in entscheidenden Dingen mehr von sich ver­ langen, als es der Durchschnitt tut. Was insbesondere die Grundrechte angeht, so hätten sie die von ihnen umschriebenen Freiheiten wesent­ licher zu verstehen, als dies die Mehrheit zu tun pflegt, ihr Gebrauch von diesen Positionen müßte sich deren gesellschaftlichem und natio­ nalem Sinn stärker verpflichtet fühlen, als es der durchschnittliche Mensch von sich fordert. Hierzu gehört vor allem auch diejenige Funk­ tion der Grundrechte, die wir früher herausgearbeitet haben: Ihre Rolle als freie Faktoren der Staatshervorbringung im allgemeinen und als Angebot freier Übernahme und ebensolcher Bewältigung von Öffent­ lichen Aufgaben. Daß es sich hierbei nicht um eine Verstiegenheit handelt, zeigen die Klagen darüber, daß sich allzuwenig Mitglieder der Führenden Schicht der Politik verschreiben, also z. B. als Abgeordnete, und dadurch als Vorbilder auf ihre Mitbürger wirken, indem sie diese wenigstens zur Teilnahme an der Staatshervorbringung veranlassen. as Genannt wird immer noch der aus den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammende Klassiker : Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, dt. Ausg. 1950. Ferner vgl. etwa : Political Leadership. Readings for an emerging field, hrsg. v. Glenn D. Paige, New York 1972 ; Robert Presthus, Elites in the Policy Process, Cambridge UP 1974 ; Governing Elites. Studies in Training and Selection, hrsg. v. Rupert Wilkinson, New York 1969 ; Nikolaus von Preradovich, Die Führungsschichten in Österreich und Preußen (1804 - 1918), 1955,

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Wenn die Führende Schicht diesen Anforderungen nicht voll genügt, so wird man dies vor allem der Leistungsgesellschaft zuzuschreiben haben, die die hierfür erforderliche „Muße" nicht duldet und daher den „Berufspolitiker" hervorgebracht hat, der die hier zur Diskussion gestellte Funktion einer Führenden Schicht und die hierfür erforder­ liche Vorbildlichkeit nicht immer in genügendem Maße prästiert. Mit dem zuletzt Angedeuteten stellt sich eine Frage, die uns auch bei den folgenden Selbstveranstaltungen der Gesellschaft gegen sich selbst begegnen wird. Offenbar sind solche Selbstveranstaltungen von der Verfassung, ja von der Staatlichkeit selbst vorausgesetzt, ohne sie zeigt also der Vorgang der Staatshervorbringung nicht dasjenige Maß an Staatlichkeit, dessen die Allgemeinheit zur Bewältigung der sie angehenden „Lagen" bedarf. Damit stellt sich die Frage, ob der Staat als Institution zur Behebung einer solchen Schwäche einspringen darf, und dies womöglich nicht nur ganz vorübergehend. Es fehlt nicht an Beispielen dafür, daß der Staat sich in solchen Fällen zum Einspringen veranlaßt gesehen hat. Was die Führende Schicht angeht, so ist in diesem Zusammenhang das Ordenswesen zu nennen39 • ,,Orden" meint ja ursprünglich nicht eine Dekoration, sondern eine ausgezeichnete Gruppe: Die Dekoration oder die Tracht ist lediglich der Ausweis der Zugehörigkeit. Das Ordenswesen der Katholischen Kirche kennt ein Ordenswesen in diesem ursprünglichen und wesentlichen Sinne. In Frankreich ist es die „Ehrenlegion", die man in diesem Lichte zu sehen hat40• b) Als zweite Selbstveranstaltung der Gesellschaft gegen sich selbst, um zu Staatspflege zu gelangen, ist die „Öffentliche Meinung" 41 zu nennen. Sie ist ebensowenig faßlich wie eine Führende Schicht, und dennoch zweifelt niemand daran, daß es sie gibt und daß es sie geben muß. Sie ist nicht allein der Inbegriff allen dessen, was in einem Volk gedacht, geäußert und beherzigt wird: Wie „Öffentlich" anzeigt, soll sie etwas Gesteigertes im Verhältnis zu einem solchen Inbegriff sein. Diese Steigerung gilt allen öffentlichen Anliegen eines Volkes bis zur großen Politik hin. Hier handelt es sich um die Staatshervorbringung und deren Anregung durch Staatspflege. Wenn die Öffentliche Meinung ein Element solcher Staatshervorbringung durch Repräsentation ist und wenn die höheren Elemente dieses Prozesses auf die weniger re­ präsentativen im Sinne besserer Repräsentation zurückzuwirken haben, dann allerdings kann man auch die Öffentliche Meinung nicht von der Obliegenheit entbinden, auch ihren Beitrag zur Staatspflege zu leisten, indem sie den Bürger daraufhin anspricht. so Vgl. Lorenz von Stein, Die Verwaltungslehre, T. 1/1, 2. Aufl. 1869, Ndr. 1962, s. 168 ff., 173. 40 Vgl. Jacques Etlul, Histoire des lnstitutions, 6. Aufl. Paris 1969, S. 183 f. 41 Vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 437 ff.

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Heute bildet sich die Öffentliche Meinung nicht mehr unmittelbar auf der Agora oder auf dem Forum, auch dieser Vorgang wird viel­ mehr vermittelt, und zwar vornehmlich durch die sog. Massenmedien. Das bedeutet für uns: Die Massenmedien sind zu verstehen auch als Selbstveranstaltungen der Gesellschaft gegen sich selbst42 : Sie sollen das Staatsbewußtsein der Bürger wecken, orientieren und steigern. Hiermit ist gerade auch die „Kritik" bejaht, deren Organe zu sein sich die Massenmedien so oft berühmen. Es setzt alles dies als erstes voraus, daß die Massenmedien sich nicht ausschließlich erwerbswirtschaftlich verstehen dürfen: Damit wird nicht der Bürger, sondern der Kunde angesprochen, und zwar der marginale Kunde, und Kunden werden es sich verbitten, als Bürger zur Erfüllung ihrer Pflichten angehalten zu werden, kommerzielle Massenmedien müssen also hierauf von vorn­ herein und gänzlich verzichten43 • Auch der als Allheilmittel geltende „Wettbewerb" vermag hier nichts auszurichten. Er fördert vielmehr die Orientierung am Kunden statt am Bürger und damit eine Senkung des Niveaus auf den bereits erwähnten marginalen Kunden. Der Gesellschaft unserer Zeit ist es nicht gelungen, diese Selbst­ veranstaltung von einer Verwirtschaftung freizuhalten, die sie um jene Funktion zu bringen droht, wenn nicht sogar schon weithin ge­ bracht hat. Hier stellt sich somit mit besonderer Dringlichkeit die oben bereits aufgetretene Frage, ob die Kunst des Staates das zu ersetzen oder zu ergänzen hat, was die Natur der Gesellschaft nicht leistet genauer: ob die Gesellschaft sich an dieser Stelle ihrer Staatlichkeit zu bedienen hat, um eine Leistung zu erbringen, die sie an sich als Gesell­ schaft unmittelbar erbringen sollte. Im Grunde genommen hat die Bundesrepublik Deutschland diese Frage bereits bejaht, indem sie Rundfunk und Fernsehen Öffentlichen Anstalten vorbehält, deren Unabhängigkeit vom Staat als Institution sie als mittelbare gesell­ schaftliche Veranstaltungen ausweist oder jedenfalls in die Nähe derselben rückt44 • Es bleibt diese Frage allein offen bezüglich von Zeitungen und Zeitschriften: Sie hat sich nicht etwa dadurch erledigt, daß es Rundfunkanstalten gibt, weil diese die Zeitung nicht ersetzen können. Damit ist das Problem von Staatszeitungen45 aufgeworfen, und zwar nicht allein nach der Seite ihrer Wirksamkeit für die Staatspflege, 4 2 Hierin liegt einer der Gründe dafür, daß Art. 5 GG sie durch die Ge­ währleistung der Pressefreiheit privilegiert und daß diese Privilegierung zu rechtfertigen ist. 43 Vgl. Herbert Krüger, Die öffentlichen Massenmedien als notwendige Er­ gänzung der privaten Massenmedien, 1965. 44 Ich bin nicht der Meinung, daß sie ihrer Aufgabe der Staatspflege so genügen, wie es sein sollte : Auch sie nehmen zuviel Rücksicht auf den ,,Kunden" und zu wenig Rücksicht auf den „Bürger". 45 Vgl. hierzu G. Hermann (Anm. 14), S. 80 f.; Peter Saladin, Grundrechte im Wandel, 2. Aufl. Bern 1975, S. 35.

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sondern auch nach ihrer verfassungsmäßigen Zulässigkeit. Die letzte kann jedenfalls solange nicht verneint werden, wie die Pressefreiheit nicht angetastet wird, also Jedermann eine Zeitung herausbringen und verbreiten darf und zwar auf der Grundlage von persönlichem Eigen­ tum. Sie würde dann die gleiche Rolle zu spielen haben wie sie dem Öffentlichen Unternehmen im allgemeinen in einer freien Gesellschaft, insbesondere auch in einer Marktwirtschaft zukommt: Anregung der gesellschaftlichen Kräfte zum Spiel und vor allem zu sinnvollerem Spiel der Rollen, mit denen sie von der Verfassung eingeplant sind. Hiernach liegt es bei diesen Kräften selbst, ob eine solche Lösung notwendig wird. c) Sehr viel ausgesprochener und offener als im Falle von Führender Schicht und Öffentlicher Meinung zeigt sich der Charakter einer Selbst­ veranstaltung der Gesellschaft gegen sich selbst auch im Dienste der Staatspflege in Gestalt der Politischen Parteien46 • Hiervon ist allerdings noch nicht die Rede, wenn kein geringerer als Heinrich Triepel die Poli­ tische Partei definiert „als eine in fester Form vereinsmäßig gestaltete Kampfgenossenschaft, die zur Erreichung politischer Ziele eine Macht über den Staat zu gewinnen strebt" 46a. Denn hiermit erscheint der Staat als der Gesellschaft vorgegeben, wenn nicht sogar vorgesetzt, und die Gesellschaft vermag sich daher folgerichtig nur dadurch zu verstaa­ ten, daß sie sich eines solchen Staates bemächtigt und dieserhalb die erforderlichen „Kampfgenossenschaften" bildet. Sieht man im Staat hingegen eine selbsthervorgebrachte Gestalt der Gesellschaft, dann müssen die Parteien statt als Eroberer als Bildner oder jedenfalls Mit­ bildner solcher Staatlichkeit angesehen werden. Völlig richtig hat schon vor Triepel Richard Schmidt41 gesagt: ,,Die Parteien sind die staats­ bildenden Kräfte des Gesellschaftslebens . . . " Aus den Vereinigten Staaten seien mit der gleichen Auffassung zitiert Theodore Lowi und W. D. Burnham. Ersterer meint47a : " • • • party performs a constituent or constitutional function in the polity . . . The term 'constituent' may rea­ sonably be defined as 'necessary in the formation of the whole; forming; composing; making an essential part." Im Anschluß an diesen Autor formuliert W. D. Burnham4 7b : "The first (sc. : function of democratic 46 Hierzu vgl. Heinrich Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, 1928 ; Karl Heinz Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975 ; Frank J. Sorauf, Party Politics in America, 2. Aufl. Boston, Mass., 1972 ; The American Party Systems. Stages of political development, hrsg. v. William Nisbet Chambers u. Walter Dean Burnham, 2. Aufl. New York 1975. 46a H. Triepel (Anm. 46), S. 13. 47 Richard Schmidt, Allgemeine Staatslehre, Bd. I, 1901, S. 243. Ich verdanke diese Stelle dem Hinweis von K. H. Seifert (Anm. 46), S. 62, Anm. 1 1. 47a Theodore J. Lowi, Party, Policy, and Constitution in America, in : The American Party Systems (Anm. 46), S. 238 ff. (239).

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parties) is a nation-building, integrative, or in Lowi's term, 'constituent' function." Schließlich und vor allem ist in diesem Zusammenhang Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG zu erwähnen, demzufolge die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Da ein Staat ohne Wollen schwerlich als existent gedacht werden kann, ist Mitwirkung an der Willensbildung notwendig auch Mitwirkung an der Staatsbildung. Diese Erkenntnisse bedürfen der Erläuterung. Mittels der Politischen Parteien bringt sich der Bürger zu einer wirksamen Mitwirkung an der Staatswillensbildung, zu der er als einzelner mangels Mächtigkeit, Orientierung u. ä. m. nicht in der Lage wäre. Die Parteien erschließen ihm hiermit zugleich eine Möglichkeit der Mitwirkung an der Staats­ bildung. Dies gilt bereits für die Freiheit, Mitglied einer Partei zu werden: Vor allem wenn sich mehrere Parteien hierfür anbieten, be­ darf es einer Entscheidung; die Auswahl zwingt zu Überlegungen, die staatspolitischer Natur jedenfalls sein können, aber auch sollten. Hat der Bürger derartige Überlegungen angestellt und stellt er sie weiter­ hin an, wie es die Konkurrenz der Parteien an sich voraussetzt, dann ist ein erster möglicher Schritt zur Selbststeigerung vom Staatsangehörigen zum Bürger zurückgelegt. Ist die Mitgliedschaft erworben, so kommt zu den politischen Überlegungen hinzu der Anstoß zu politischer Tätig­ keit, ein Anstoß, dem sich allerdings nicht allzuviele Bürger aussetzen. Die Parteien als Ganzheiten schließlich wirken staatsbildend vor allem gelegentlich von Wahlen, wenn man sie nicht falsch versteht als einen individuellen Vorgang, der dem Bürger gestattet, seine politische Auf­ fassung den Staatsorganen kundzutun und vor allem private Forderun­ gen anzumelden, sondern sie als einen nationalen Gesamtakt begreift, in dem das Volk seine Staatlichkeit für die nächsten vier Jahre formiert, und zwar sowohl konkret wie überhaupt: Die Wahl muß nicht zuletzt als ein Institut der Staatspflege angesehen werden48• Insofern eine Wahl ohne Parteien zu nichts führen, insbesondere vom Volk nicht schon auf möglichst zwei große Positionen vereinigt praktiziert würde, erweisen sich die Parteien abermals als Gebilde, mittels deren die Gesellschaft sich selbst zur Mitwirkung an der Staatspflege, anzuhalten sucht. Man könnte hiergegen einwenden, daß Partei per definitionem „Teil" meint und daher zur Gewinnung einer Ganzheit, m. a. W. zum „nation47b Walter Dean Burnham, Party Systems and the Political Process, in : The American Party Systems (Anm. 46), S. 277 ff. (278). 48 Dies ist z. B. verkannt, wenn man es für richtig hält, daß eine Partei, die eine relative Mehrheit kurz vor der absoluten Mehrheit erhalten hat, um die Früchte ihrer Anstrengungen gebracht wird dadurch, daß sich vier Parteien mit je 13 0/o gegen sie zusammentun : Handelt es sich bei der Wahl um eine Konstituierung der Nation und ihres Staates, dann sincl 48 0/o beidem er­ heblich näher als 13 0/o,

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building", nichts beizutragen vermag, ja vielleicht sogar die Zerrissen­ heit eines Volkes noch fördert. Daß dieser Einwand nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen ist, zeigt der Einparteienstaat vor allem in Afrika49, und zwar vornehmlich dann, wenn die eine Partei nicht als Kader-, sondern als Massenpartei eingesetzt ist. Denn die Einzigkeit der Partei soll verhindern, daß sich eine Partei mit einer vor allem stammlichen oder regionalen Partikularität identifiziert und dadurch die noch überaus schwache Einheit dieser neuen Staaten aufs Spiel setzt. Als Massenpartei verwirklicht sie diese Überlegung positiv: Würde sie sich mit einer Elite begnügen, dann würde die Einheit der Nation hierdurch nicht gefördert werden. Ein pluralistisches Parteiwesen setzt einmal ein Mindestmaß von Gemeinsamkeit der Überzeugungen, einen „bloc des idees incon­ testables" (Maurice Hauriou) voraus, wie ihn z. B. die Bundesrepublik in den Grundrechten als Wertsystem kennt. Zweitens: Ein solcher Pluralismus kann jedoch nur dann einheitsstiftend und staatspflegend wirken, wenn die Parteien sich und ihr Programm als auf der gemein­ samen Grundlage mögliche Varianten von Auffassungen über das ver­ stehen, was das Gemeinwohl fordert. Dies ist das Merkmal, das sie von allen anderen Vereinigungen unterscheidet und das verlangt, daß ihr derBürger und nicht der Mensch in irgendeinem Sonderstatus angehört, wie es für andersartige Verbände nicht nur zulässig, sondern sogar wesentlich ist50 • Erst dann vermag der Agon der Parteien immer wieder jene Katharsis hervorzubringen, die sein Ziel ist, also staatspflegend zu wirken. Es sind daher das Gemeinwesen und das Gemeinwohl, womit sich der Bürger befaßt, wenn er einer Partei angehört. d) Von Ver bänden ist jedenfalls dann Staatspflege zu verlangen, wenn sie die Verfassung als Mitwirkende in ihr Programm aufgenom­ men hat. Das Hauptbeispiel hierfür bilden die Vereinigungen zur Wah­ rung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen des Art. 9 Abs. 3 GG. Hier wird erklärt, daß der Staat auf eigene Ordnung dieser Bedingungen verzichtet und die Herstellung solcher Ordnung jenen Vereinigungen aufträgt. Man kann bereits hierin eine Instituie­ rung auch zu Zwecken der Staatspflege sehen: Es ist nicht denkbar, daß eine delegierte staatliche Aufgabe, vor allem wenn es sich um Friedens­ stiftung handelt, ohne inzidente Staatspflege bewältigt werden dürfte. 49 Vgl. Ahmed Mahiou, L'Avenement du Parti Unique en Afrique Noire, Paris 1969 ; Hartwig Rogge, Die Verfassung des afrikanischen Einparteien­ staates, 1973. ao Vgl. hierzu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 367 ff. Dies sagt im übrigen bereits die älteste und berühmteste Definition der Politischen Partei, wie sie Edmund Burke formuliert hat : "Party is a body of men united, for promoting by their joint endeavours the national inter­ est (sie !), upon some particular principle in which they all agreed."

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Dasselbe ergibt sich, wenn man diese Frage von der Seite des Delegaten her betrachtet: Als solcher darf er sich nicht mehr ausschließlich als Vertreter von Sonder- oder gar von Privatinteressen verhalten; min­ destens der Modus der Erledigung einer solchen Beauftragung muß staatspflegerisch gestimmt sein. Das Bundesarbeitsgericht ist daher mit Recht der Auffassung, daß vor allem die Arbeitskämpfe das Gemein­ wohl jedenfalls nicht schädigen dürfen, wie es nicht anders sein kann, wenn ein Staat, dem ein Vertrag mit allseitigem und unbedingtem Gewaltverzicht zugrundeliegt, gewissermaßen vertragswidrig nicht­ staatlichen Gebilden den Einsatz von Gewalt gestattet51 • IV. Auch die Staatspfiege durch den Staat als Institution ist Staatspflege durch die Gesellschaft, insofern diese sich auch hier in eine gesteigerte Gestalt bringt, um das leisten zu können, was sie unmittelbar entweder überhaupt nicht oder nicht unbedingt gut und sicher genug zu leisten vermag. Es ist auch hier vor allem das Amt mit seinen Eigenschaften der Ständigkeit, Gewißheit (Amtsmaxime!) und Nachhaltigkeit seiner Tätigkeit, auf das auch in Hinsicht Staatspflege gesetzt wird. Das Maß und die Intensität solcher Verstaatlichung der Staatspflege ist umge­ kehrt proportional dem, was die Gesellschaft selbst in dieser Hinsicht leistet : Je apathischer die Bürger, um so aktiver der Staat! Dafür, wie es skh hiermit verhält, sei Walter Schmitt Glaeser zitiert52 : ,,Nun mag ein gewisses Maß an politischer Apathie für die ,Gesundheit' einer Demokratie unerläßlich sein; ist sie aber die vorherrschende Haltung in politicis, dann bleibt eine Demokratie unerfüllt. Das ist unsere Situation. Speziell für die demokratisch motivierte Partizipation bedeutet dies: Solange das Apathieproblem nicht gelöst ist, gibt es in Wahrheit keine bürgerschaft­ liche Partizipation, sondern allenfalls eine Partizipation politischer Aktivisten als Instrument der Eliten . . . " Man sieht: Es gibt auch hier einen horror vacui, und das heißt: Die Bürger haben es selbst in der Hand, dieses Vacuum so klein zu halten wie möglich, damit es nicht auf eine Art und Weise ausgefüllt werden muß, die ihnen nicht die beste zu sein scheint. Die Staatspflege durch den Staat als Institution ist entweder eine

beiläufige oder eine hauptsächliche. Jede Staatstätigkeit, insbesondere

auch die Selbstdarstellung des Staates53 , muß sich zugleich in den Dienst

61 Hierzu: Karl-Heinz Gießen, Die Gewerkschaften im Prozeß der Volks­ und Staatswillensbildung, 1976. Vgl. auch jene Lehre, der zufolge eine Ver­ sammlung sich mit „Öffentlichen Angelegenheiten" beschäftigen muß, wenn sie den Schutz des Art. 8 GG genießen will ; hierzu Egon Crombach, Die öffentliche Versammlung unter freiem Himmel, 1976, S. 19. 6 2 Walter Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), S. 179 ff., 240.

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der Staatspflege stellen. Insbesondere muß der Bürger nach jeder Begegnung mit den Ämtern einen guten Eindruck mitnehmen und seine Zugehörigkeit zu diesem Staat stärker bejahen, als es vorher der Fall gewesen ist. Es sind daher die Vorschriften über die Umgangsformen der Beamten vor allem im „Publikumsverkehr" ein wesentliches Stück der staatlichen Staatspflege. In diesem Zusammenhang sei auch sogleich das Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit genannt: Bekanntlich verdrießt nichts den Menschen mehr, als wenn ihm etwas zu tun geboten wird, was offensichtlich nicht erforderlich ist. Dies und vieles andere wird zusammengefaßt zum Ausdruck gebracht, wenn Samuel P. Hun­ tington sagt54 : "In more complicated societies a primary, if not the primary function of political institutions is to make the community more of a community." Im weiteren beschränken wir uns auf die hauptsächliche Staatspflege, also die vom Staat als Institution bewußt und gezielt ausgesandten Anstöße, die die Staatsbildung in den Bürgern und durch dieselben anregen und anleiten sollen, ohne daß diese Dar­ stellung Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. 1. Wenn jede Staatstätigkeit auch staatspflegerisch gehalten sein muß, dann gilt dies sogleich für den ersten und wichtigsten Staatsakt, die Schöpfung einer Verfassung. Diese Forderung muß sowohl von der Ver­ fassung als ganzer wie von ihren einzelnen Sätzen erfüllt werden. a) Als erstes muß man sich darüber klar sein, daß eine Verfassung ganz etwas anderes ist als jede andere Rechtsmaterie. Hieraus folgt, daß sie in Gestalt, Sprache, Gestimmtheit und vielem weiteren mehr nicht „j uristisch" gehalten sein kann wie etwa eine Konkursordnung. Sie ist eher als ein Katechismus, ein Brevier, eine Hauspostille oder dergl. zu sehen, das nicht nur bei Bedarf, sondern täglich zur Hand genommen werden will. Die Verfassungssätze sind daher nicht wie sonst als Ober­ sätze gemeint, unter die man gegebenenfalls Sachverhalte zu subsumie­ ren hat. Sie sind Anrufe, die eine staatsbürgerliche Gesinnung und ein ebensolches Verhalten anregen wollen. Sie können daher nicht als hypothetische Urteile strukturiert sein, sie stellen sich dar als eine un­ bedingte Ansprache. Es folgt hieraus als erstes, daß Verfassungssätze nicht technisch, sondern volkstümlich gefaßt sein müssen, und zwar in einem feierlichen, getragenen Ton. Das gilt insbesondere für die ein­ zelnen Begriffe, die sie verwenden: Nicht Genauigkeit oder „Scharf­ kantigkeit" ist hier am Platze, sondern die Fähigkeit, anzusprechen und 53 Vgl. hierzu soeben Walter Henkels, ,, . . . hat sich um das Vaterland verdient gemacht", FAZ v. 15. 7. 1976 : ,,Der Mangel an Selbstdarstellung dieser Republik wird seit Jahren beklagt." - Im übrigen ist dieser Artikel ein gutes Beispiel dafür, daß und wie eine Tageszeitung Staatspflege zu treiben vermag. 54 Samuel P. Huntington, Political Order in Changing Societies, Yale UP 1968, s. 237.

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zu gewinnen56• Dies ist von der Praxis insbesondere dann zu beachten, wenn die von einer Verfassung verwendeten Begriffe sprachlich diesel­ ben sind wie die in anderen Rechtsmaterien: Sie sind eben nicht diesel­ ben56. b) Eine Verfassung soll einmal als ganze staatspflegend wirken. Sie kennt jedoch auch Elemente, die dieser Aufgabe stärker gewidmet sind, als dies im allgemeinen der Fall ist. In dieser Sicht ist vor allem die Präambel zu nennen. Heute hält man sie nicht mehr für „unverbindlichen Gesetzesinhalt", sondern wertet sie als einen verbindlichen, ja vor allem verbindlichen Teil des Textes57 • Eine Verfassungslehre wird im einzelnen herauszuarbeiten haben, was in den Verfassungsvorspruch aufgenommen werden sollte58. Hierbei gehört m. E. auf jeden Fall die Staatsform- und Staatszielbestimmung, der allerdings eine Bekundung des Entschlusses zu Staatlichkeit über­ haupt vorauszuschicken wäre. Die Staatszielbestimmung nämlich legt das Wertsystem fest, das sich später in den einzelnen Verfassungssätzen entfaltet, wie etwa die Festlegung des Rechtsstaates das enthält, was später über die Freiheitsrechte, den Rechtsschutz usw. im einzelnen ge­ sagt wird. Nicht angemessen ist es, hieran gemessen, wenn man dem Grundgesetz sein Bekenntnis zum Sozialstaat mit sehr kühner, wenn auch gewiß richtiger Interpretation entlocken muß, weil dieses Bekennt­ nis lediglich in zwei Adjektiven Ausdruck gefunden hat. In die Prä­ ambel gehören auch die Parolen, die eine Verfassung ausgibt, wie etwa den berühmten Dreiklang „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" 59 • 5 5 Als ein Beispiel, in dem man dies, wie ich meine, nicht recht getroffen hat, verweise ich auf § 1 des Entwurfs einer Verfassung des Kantons Aargau : „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird durch die Stimmberechtigten und die Behörden ausgeübt." Ich hätte folgende Formulierung des zweiten Satzes vorgezogen : ,,Sie wird von den Bürgern und durch die Ämter aus­ geübt." Damit würde zugleich der Bürger angehalten, seine Bürgerschaft sich nicht in der Wahl erschöpfen zu lassen, und zweitens würden auch die Parlamente und ihre Mitglieder erfaßt, insofern es sich zwar nicht um Behörden, sicher aber um Ämter handelt. 5 8 Dies hat als erster Martin Wolff herausgearbeitet ; vgl. ders., Reichs­ verfassung und Eigentum, in : Festgabe der Berliner juristischen Fakultät für Wilhelm Kahl, 1923, S. IV/1 ff. 57 So hat bekanntlich BVerfGE 36, S. 1 ff. (17 f.), aus einem Satz der Präambel des Grundgesetzes ein „Wiedervereinigungsgebot" abgeleitet. 5 8 Dies gehört zu einer Lehre von der Kunst der Verfassungsgebung. 59 Vgl. z. B. Kamerun, Verfassung von 1972 : ,,Le peuple Camerounais . . . affirma sa volonte inebranlable de construire la patrie camerounaise sur la base de fraternite, de justice et de progres . . . (nach Annee Africaine 1972, Paris 1972, S. 18). Ferner Conga (Brazzaville), Verfassung vom 12. 7. 1973, Art. 6 : ,,La devise de la Republique Populaire du Conga est : Travail Democratie - Paix. Son principe est le Gouvernement du peuple, par le peuple et pour le peuple. Son Hymne est ,Les Trois Glorieuses' " (nach Annee Africaine 1973, Paris 1973, S. 21 ; diese Verfassung hat auf eine Präambel verzichtet). Schließlich Burundi, Verfassung vom 11. 7. 1974 : In

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Eine Verfassung mag aber auch Institutionen konstituieren, denen sie eine gesteigerte Rolle für die Staatspflege zuspricht, ohne dies je­ doch ausdrücklich zu sagen - eine Technik, die beinahe zwangsläufig dazu führt, daß die Bedeutung dieser Institutionen für die Staatspflege verkannt wird. Von den zwei Institutionen, die in solchem Zusammen­ hang zu erwähnen sind - das Staatsoberhaupt und das Parlament trifft diese Kritik weniger für die erste als für die zweite zu. Wir be­ schränken uns daher darauf, diese These für das Parlament zu erhärten. Die Funktion der Parlamente wird heute in der Gesetzgebung ge­ sehen, wozu ja die herkömmliche Auffassung von der Theorie der Ge­ waltenteilung geradezu nötigt. Verfassungsgeschichtlich ist dies nicht richtig: Die alte Literatur pflegt die Gesetzgebung unter den Aufgaben des Parlaments erst an vierter oder fünfter Stelle zu erwähnen. Wenn sie heute den Primat genießt, so hat man dies weniger der Ausweitung der Staatstätigkeit als dem Erfordernis des Gesetzes möglichst auch für die gewährende Verwaltung zuzuschreiben. Das Grundgesetz steht dieser Auffassung nicht fern, wie Art. 20 Abs. 3 und vor allem Art. 80 zeigen: Es entlastet nicht etwa das Parlament von dem Unmaß an tech­ nischer Gesetzgebung, ja nicht einmal dann, wenn man sich über deren Inhalt einig ist60 • Würde man diesen Artikel vielmehr genau nehmen, so könnte es Verordnungen nicht mehr geben, in denen sich auch nur die geringste Entscheidung des Verordnunggebers fände. Auch hier scheint man dem Irrtum verfallen zu sein, daß das Maximum das Optimum verbürge, wenn es sich nicht sogar um einen Übertritt des Automatismusgedankens vom Wirtschaftsleben in den Raum des Staates und der Politik handelt, indem die Auflösung der Staatstätigkeit in Gesetzgebung - vor allem wenn diese Ausführung von Verfassungs­ aufträgen ist - und Gesetzesvollziehung das Element der Entscheidung so weit zurücktreten läßt, daß man sich einem Automatismus zum mindesten stark nähert61 • Demgegenüber ist entschieden zu betonen: Das Parlament ist nicht Gesetzgebungsmaschine. Im Parlament vielmehr repräsentiert, ver­ gegenwärtigt und veranschaulicht sich die Nation, um mit sich selbst über die großen Angelegenheiten der Nation zu sprechen und zu beraten. Solche Angelegenheiten können natürlich auch Gesetze sein, aber nicht der Präambel bekundet das Volk seine Entschlossenheit, ,,de faire triompher la Uberte, la egalite et la fraternite", und erklärt in Art. 1 : ,,Le Burundi est une Republique unitaire, indivisible, lai:que et democratique. Son principe est : Gouvernement du peuple, pour le peuple et par le peuple. Sa devise est : Unite, Travail, Progres" (nach Annee Africaine 1974, Paris 1974, S. 19). 60 Der 7. Deutsche Bundestag hat von 515 Gesetzen nicht weniger als deren 482 einmütig verabschiedet ; vgl. Di� Welt vom 5. Juli 1976. 61 Hiergegen neuerdings trefflich Rupert Scholz, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 34 (1976), S. 145 ff.

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jedes Gesetz ist eine solche Angelegenheit, und es gibt deren auch noch andere Arten, die mindestens ebenso erheblich sind wie selbst das wichtigste Gesetz. Georges Burdeau62 sagt daher mit Recht: „Bien sur il ne s'agit plus de commander, a peine de contröler, mais d'etre la pour signifier la presence du peuple . . . Il est de ces presences qui n'ont pas besoin d'agir pour compter, si bien qu'a la question qu'il est de mode de poser: un Parlement, pourquoi faire? On pourrait, a la limite, repondre: a rien, sinon a etre la." Für das Parlament gilt also als erstes: ,,Dasein ist Pflicht." Daß dies richtig ist, zeigt sich in der lebhaften und häufigen Kritik daran, daß selbst bei wichtigen Beratungen das Plenum abwesend ist und die An­ wesenheit sich auf ein kleines Häuflein beschränkt. Solche Kritik ver­ gißt natürlich, daß sie selbst die Abgeordneten zu einem solchen Ab­ sentismus genötigt hat, indem sie selbst für das technischste Gesetz die Arbeitskraft des Bundestages in Anspruch nimmt und dadurch die Ab­ geordneten nötigt, statt im Plenum in den Ausschüssen ihre Pflicht zu erfüllen. Im übrigen: Wenn in den Ausschüssen bereits alles ausdisku­ tiert ist und der Bundestag sich darauf beschränkt, dem Ergebnis der Ausschußarbeit womöglich ohne jede Diskussion seine Zustimmung zu geben, dann beraubt sich das Parlament damit selbst der Möglichkeit, mittels Gesetzgebung, vor allem mittels eines ihr vorausgehenden dramatischen Verfahrens, Staatspflege zu treiben. Im übrigen ergibt sich aus alledem zwangsläufig, daß der Abgeordnete nicht mehr als Reprä­ sentant des ganzen Volkes auftritt, sondern als ein parteipolitisch ge­ färbter Fachmann, was technisch wirkungsvoller sein mag, aber die Staatspflege zurücktreten läßt. Im Parlament diskutiert das Volk durch Repräsentanten - also seine besten Mitbürger - über die großen nationalen Angelegenheiten mit dem Ziele, über sie zu einem Konsensus63 zu gelangen, der Veran­ lassung für die Allgemeinheit gibt, ihre Staatlichkeit erneut zu bejahen. Zur vollen Erfüllung dieser Funktion müssen mehrere Voraussetzungen gegeben sein, deren Gegebenheit sehr zweifelhaft erscheint. Die erste ist die parlamentarische Rhetorik64 : Im Parlament müssen Reden von 62 Georges Burdeau, Traite de Science Politique, Bd. IX, 2. Aufl. Paris 1976, S. 164 f. 63 In diesem Sinne spricht schon Lorenz von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, 1852, Ndr. 1961, S. 8, von einem „staatsbildenden Element in der Volksvertretung". 6 4 Dem Verfasser ist nur eine Monographie zu diesem Thema bekannt, deren Erscheinen schon lange zurückliegt : Theodor Mundt, Die Staatsbered­ samkeit der neueren Völker, nach der Entwicklung ihrer Staatsformen dar­ gestellt, Berlin 1848. Vgl. auch G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, Ausg. Lasson 1930, S. 169 : ,,Durch Reden müssen Menschen zu Handlungen gebracht werden; und solche Reden machen dann einen wesentlichen Teil der Geschichte aus." Neuerdings vgl. das Referat von Jean Starobinski über die Zusammenhänge von Freiheit und Beredsamkeit im Frankreich der Auf-

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Rednern gehalten werden, die beide dieses Prädikat verdienen. Es bedarf keiner Darlegung, daß dieses Erfordernis nur sehr unvollkom­ men erfüllt wird. Obwohl es die Geschäftsordnung verbietet, wird durchweg abgelesen, und selbst wenn die Kunst des Ablesens so weit verbessert worden ist, daß sie beinahe freie Rede vortäuscht, so ist doch die durch die Rede zu bewirkende Staatspflege um ihre beste Kraft gebracht, und zwar nicht nur im Saal, sondern im ganzen Volke: Die unerhörte Gelegenheit, die das Fernsehen der Staatspflege durch das Parlament eröffnet, ist - um nur das Mindeste zu sagen - nicht so genutzt, wie sie genutzt werden könnte. Zweitens muß in diesem Zusammenhang von Öffentlichkeit die Rede sein65 • Die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen scheint mir nicht allein dazu bestimmt, dem Volk die Kenntnisnahme von ihnen und eine Beurteilung des Parlaments im Ganzen und in seinen einzelnen Mitgliedern zu ermöglichen. Sie soll auch in der entgegengesetzten Richtung wirken : Sie soll die Gegenwart des Volkes im Parlament be­ wirken. Damit ist keineswegs an das imperative Mandat gedacht, im Gegenteil: In der Auseinandersetzung mit solchem gegenwärtigen Volke sollen sich Parlament und Abgeordnete als dessen Repräsentan­ ten steigern, z. B. Entwicklungshilfe bewilligen, die das Volk in der Abstimmung verweigert hat. Diese Öffentlichkeit ist gemindert, wenn die Abgeordneten nicht im Plenum, sondern in den Ausschüssen agieren. Selbst wenn dort die Verhandlungen öffentlich sind, hat dies mit der Öffentlichkeit, um die es hier geht, nichts zu tun: Schon ein Parlaments­ saal und ein Beratungszimmer sind ganz etwas anderes. Noch weniger ve1mag Öffentlichkeit Staatspflege zu bewirken, wenn das Volk unter dem Eindruck steht, daß die großen Entscheidungen nicht einmal in den Ausschüssen, sondern bereits außerhalb des Parlamentes gefällt sind, so daß das Parlament die Entscheidung von nicht demokratisch legiti­ mierten Kräften lediglich zu besiegeln hätte. Zu der Politischen Erziehung durch eine große Versammlung, von der Robert von Mohl66 gesprochen hat, kann es dann erst recht nicht kommen. c) Schließlich pflegen die Verfassungen, und zwar auch diejenigen der neuen Staaten in Übersee, Bestimmungen zu enthalten, die ausklärung, gehalten auf dem III. Schweizerischen Historikertag (nach Neue Zürcher Zeitung v. 21. 10. 1975). Wegen ihrer Qualität nicht unerwähnt bleiben kann die weithin unbekannte Kritik an den Reden Kaiser Wilhelms II. bei Ludwig Thoma, Die Reden Kaiser Wilhelms, in : Das große Ludwig-Thoma­ Buch, 1974, S. 241 ff. 65 Hierzu vgl. Leo Kißler, Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bun­ destages, 1976 ; Fritz W. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970, S. 23. 66 Robert von Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. II, Tübingen 1862, s. 38.

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schließlich oder doch ganz überwiegend der Staatspflege gewidmet sind. Es handelt sich um diejenigen Verfassungssätze, die sich mit den Staatssymbolen61 beschäftigen. Sie finden sich vor allem als Flaggen und als Hymnen. Schon die Vertreter der Theorie vom Staatsvertrag sind sich dessen bewußt gewesen, daß eine ihr entsprechende Staats­ pflege zwar den Menschen als animal rationale ansprechen muß, daß sich aber hieraus nicht die Notwendigkeit ergebe, daß auch die Mittel dieser Ansprache unbedingt und ausschließlich intellektuelle sein müß­ ten. Um vielmehr sicher zu gehen, daß die Staatsidee zu Kopf und Herz von möglichst vielen Bürgern Zugang finde, hat man von vorn­ herein Wege ins Auge gefaßt, die über die Sinne des Adressaten zu wirken bestimmt sind68• Natürlich genügt hierfür nicht irgendeine Vergegenständlichung der Staatsidee: Soll sie den Menschen gewinnen, so muß sie Eigenschaften aufweisen, die den Menschen dazu veran­ lassen, sich ihnen und ihrem Gehalt zuzuwenden und zu öffnen. Die Fahnen allerdings wirken weniger durch ihre künstlerische Gestaltung als durch das, was sie darstellen, setzen also im Grunde bereits einen gewissen Bestand an derjenigen Gesinnung voraus, die sie bestätigen und kräftigen wollen. Worauf es demnach ankommt, sagt die Verfas­ sung des Congo (Brazzaville)69 in Art. 6 II 1 : ,,Le drapeau est de forme rectangulaire, de couleur rouge vif . . . " (vom Verf. gesperrt). Daß die Fahnen etwas bedeuten und wie erheblich dies ist, zeigen die großen Flaggenstreite der Geschichte, etwa in Frankreich zwischen Lilien­ banner und Trikolore, in Deutschland zwischen Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot-Gold zu Zeiten der Weimarer Republik. Was den Flag­ gen an eigener und unmittelbarer Wirkung abgehen mag, wird durch­ weg ausgeglichen durch das Zeremoniell, mit dem man sie umgibt (Flaggenhissung, Flaggenparade u. ä. m.). Hymnen hingegen können von vornherein sehr viel stärker durch sich selbst wirken, weniger durch den Text als durch die Melodie. Beides darf vor allem nicht allzu 67 Die Literatur ist weder zahlreich noch gar erschöpfend ; vgl. als Mono­ graphie Truman W. Arnold, The Symbols of Government, Yale UP 1935. Dieses Buch sieht allerdings nach Helmut Steinb erger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, 1974, S. 166, als beste Regierungsform diejenige an, die den Staat als eine Art von Nervenheilanstalt versteht. Her­ vorzuheben ist heute Thomas Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, 1969, S. 141 ff. ; A. Friedel, Deutsche Staatssymbole. Herkunft und Bedeutung der politischen Symbolik in Deutschland, 1968. 68 Vgl. das Zitat Condorcets bei K. M. Baker (Anm. 5), S. 319 : "The first (= public instruction) must confer enlightment, the second (= national education) virtue ; the first adds luster to the society, the second brings solidarity and force. Public instruction demands lycees, colleges, academies, books, instruments, calculations, methods ; it is confined within walls. National education demands circuses, gymnasia, weapons, public games, national fetes, the fraternal participation of all ages and both sexes, and the imposing, sweet spectacla of human society gathered together." 69 Vgl. oben Anm. 59.

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kunstvoll oder gar gekünstelt sein. Man erinnere sich des Versuchs des ersten Präsidenten der Bundesrepublik, sie mit einer textlich und musikalisch in der Retorte gezeugten Hymne zu versehen : Dieser Ver­ such ist gescheitert, weil sich das Deutschlandlied wegen der Musik Haydns durch nichts übertreffen läßt, und zwar vielleicht weniger wegen deren Schönheit als deren Getragenheit und Feierlichkeit. Es scheint so als ob die Staatssymbole nicht nur weniger „ankämen", sie sind auch offener Anfeindung nicht wegen ihres Gehaltes, sondern als Symbole ausgesetzt. Die Hemdsärmeligkeit, ja das Naturburschen­ turn des unfeierlichen, vor allem durchaus leger angezogenen Menschen vermag wenig Sinn für die Feierlichkeit zu entwickeln, mit der der Staat auftreten und sich in Gestalt setzen sollte. Den Intellektuellen sind alle Mythen von Grund auf zuwider, zu denen auch die Staats­ symbole für sie gehören, insofern sie die wahre Natur des Staates als Herrschaft, Ausbeutung u. ä. m. lediglich verschleiern70 • Einer Aus­ nahme erfreuen sich allein die Rote Fahne und die Internationale. Wenn die Notwendigkeit des Staates nicht überall recht einsichtig ist, wenn man annimmt, Freiheit ohne staatlichen Schutz innehaben und genießen zu können, wenn gar Widerstand gegen die Staatsgewalt als erste Bürgerpflicht gepriesen werden konnte, dann ist dies eine Geistesver­ fassung, der Staatspflege nicht abzuhelfen vermag, sie wird hierdurch vielmehr selbst in Mitleidenschaft gezogen. Alles dies gilt auch für andere Veranstaltungen, mit deren Hilfe der Staat sich mittelbar zu pflegen sucht. Genannt seien etwa die Bürger­ weihen der Schweiz - die Aufnahme der mündig gewordenen Staats­ angehörigen in die Bürgerschaft: Obwohl man diese Art von Staats­ pflege durch mancherlei Dinge wie sie heute der Jugend gefallen, zu würzen gesucht hat, nimmt die Zahl der Teilnehmer weiter ab. Was die nationalen Fest- und Feiertage angeht, so genügt es in der Bundes­ republik Deutschland, auf den 17. Juni zu verweisen : Man „feiert" ihn durchweg durch Autoausflüge, wertet ihn also lediglich als eine Gele­ genheit zur Vermehrung der Freizeit und ihrer Genüsse. Auch die Feier des 25. Geburtstages des Grundgesetzes war eher kunstvoll als populär. überall lassen sich aber auch Beweise des Gegenteils finden : In Frankreich der 14. Juli71 , in den kommunistischen Staaten der 1. Mai7', und zwar vor allem wohl deswegen, weil diese Feiern mit 10 Vgl. hierzu Robert H. Wiebe, The Segmental Society, New York Oxford UP 1975, S. 1 10. 11 Hierzu vgl. Neue Zürcher Zeitung v. 17. 7. 1976 : ,,Die 25 000 Bürger zählende französische Kolonie in Genf hat den Quatorze Juillet mit einem großen Umzug durch die Stadt und mit einem Volksfest im Stadion Les Vernets gefeiert. Majorettes, Musikzüge, Karussels und Tanzvergnügen fehlten nicht. überall herrschte gute Laune, und mehrere tausend Schau­ lustige waren auf den Beinen • . . "

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militärischen Paraden verbunden sind. Daß die Staatssymbole als ein notwendiges Element einer jeden Staatlichkeit anzusehen ist, zeigt die Strategie, sie zu zerstören, wenn man ein Volk oder ein System zer­ stören will73 •

12 Ober das politische Fest in Afrika vgl. Ikenna Nzimiro, Studies in Ibo Political Systems. Chieftaincy and politics in four Niger states, California UP 1972, s. 151 ff. 73 In diesem Sinne äußert sich Oliver Cromwelt zu Algernon Sidney über die Hinrichtung König Karls I. : "I tel1 you, we will cut off his head with the crown on it" (nach Michael Walzer, Regicide and Revolution, Cambridge UP 1974, S. 4). Über Staatssymbole als Ziel der Kriegführung vgl. Thomas C. Schelling, Arms and Infl.uence, Yale UP, 10. Aufl. 1976, S. 3. Erst recht ge­ hören die Staatssymbole zu den Zielen, gegen die sich die psychologische Kriegführung richtet. Staatspflege erweist sich damit als ein Stück Ver­ teidigung im psychologischen Krieg.

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Der symbolische Aspekt des Staatsdienstes in der Demokratie Von Harry Pross

I. Der kommunikationswissenschaftliche Ansatz, den ich hier vorzu­ tragen habe, geht von der Annahme aus, daß menschliches Verhalten weithin symbolorientiert ist. Nicht physische Gewalt, sondern bedeu­ tungsträchtige Zeichen bestimmen in erster Linie, wie die Leute miteinander umgehen, wie und welche und ob Gruppen, Parteien, Nationen, Klassen sich bilden, und Zeichen bestimmten auch, welche dieser Personen und Gruppen ihre Absichten gegenüber anderen durchzusetzen vermögen. Das Verhalten der Geschlechter zueinander ist ebenso symbolkontrolliert, wie Absonderung und Vereinigung über Zeichen geschehen. Diese Zeichenhaftigkeit des sozialen Lebens ist keine neue Entdeckung. Sie gehört zum Wissen aller Epochen; aber sie wurde unterschiedlich bewertet. Bis in die jüngste Gegenwart hinein wurde und wird sie als Geheimwissen gehütet, weil auf sie angewiesen ist, wer Herrschaft über Menschen ausüben will. Physische Gewalt kommt in aller Regel erst dort vor, wo die psychische Gewalt der Zeichen nicht hinreicht. Sei es, daß Zeichen nicht erkannt, nicht beachtet oder mißachtet werden. Umgekehrt werden Zeichen dort eingesetzt, wo physische Zusammenstöße vermieden werden sollen. Als Zeichen gilt etwas, das für etwas anderes steht. Nach dieser Definition kann nahezu jedes Ding, aber auch jede Bewegung, jede Äußerung von Lebewesen zum Zeichen werden, wenn sie in dieser Relation auf etwas anderes interpretiert werden. Der Alltag ist voller Zeichen mit beschränkter Reichweite. Denken Sie an die vielen Dinge, die private Beziehungen symbolisieren, und an die mit Fetisch-Charak­ ter, wie Anhängsel, Autopuppen, Schreibtischgarnagen und dergleichen. Tatsächlich sind wir so darauf eingestellt, daß um uns etwas für „etwas anderes" steht, daß wir auch dort nach dem anderen suchen, wo es nicht da ist. Das Interpretationsmuster gilt einer triadischen Relation aus dem materiellen modus des Zeichens, dem Zustand, Ding oder Lebewesen, auf das es verweist, ,,für" das es steht, und dem Inter­ pretierenden

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Der heikle Punkt der Interpretation ist deren Willkürlichkeit. Es ist eine Sache des Herkommens, der Überlieferung, der Gewöhnung oder, etwa in den wissenschaftlichen Codes, der Setzung, die erlernt werden muß, ob das „etwas" erschlossen werden kann, für das ein Zeichen steht. Wenn wir Überlieferung, Herkommen, Gewöhnung sagen, wissen wir schon, auch sie sind ohne Zeichen nicht denkbar, und diese Zeichen, welche die Interpretation bestimmen, reichen von den Mitteln des körperlichen Ausdrucks bis zum Eingeweihtsein in besondere sprachliche oder bildliche Symbolisierungen. Die steife Haltung, ruckartige Körperbewegungen und lakonisch verkürzte Sprache des Offiziers „alter Schule" waren ebenso ein Interpretationsmuster wie die schlacksige, gelangweilte und zottelige Erscheinung in der jungen Generation heute. Wer auf das eine Muster festgelegt ist, kann das etwas, für das etwas anderes steht, nicht aus dem anderen Muster erschließen. Mit anderen Worten: Das etwas, das als Ding oder Lebewesen wahrgenommen wird, vereinigt die unterschiedlichen Interpretationen auf sich, und darin liegt die integrierende Bedeutung der Symbole. Sie vereinigt Widersprüche, die letztlich nicht auflösbar sind, in der Annahme, dies oder jenes Zeichen solle für dies oder jenes stehen, ohne daß die letzten Unterschiede auseinandergesetzt werden. Eine solche Interpretation gleicht einer Brücke, über die viele laufen, die weder Herkunft noch Ziel gemeinsam haben. Es ist nicht der Zweck dieses Vortrages, die theoretische Aufmerksam­ keit zu rekapitulieren, die das Symbol im Laufe der Jahrhunderte gefunden hat. Ich möchte aber doch auf den geistesgeschichtlichen Zusammenhang hinweisen, der zwischen der heutigen sozialwissen­ schaftlichen Beschäftigung mit dem Mitteilungsaspekt des geselligen Lebens und der früheren theologischen Fragestellung zu bestehen scheint. Die deutsche Mystik des 13. Jahrhunderts hat durch konse­ quente Anwendung des Symbolbegriffes die Verwandlung objektiver transzendenter Wesenheiten in Symbole vorbereitet, die dann zur Grundlage der Reformation im 16. Jahrhundert geworden ist. Bis ins 19. Jahrhundert hat es gedauert, bis der symbolische Aspekt nicht nur in Beziehung der Menschen zu ihren Göttern, sondern auch im „Bau des sozialen Körpers" (Albert Schäffle, 1876) als konstituierend an­ erkannt wurde. Das im Zuge der europäischen Expansion anfallende Material aus anderen Kulturen hat dann besonders Ethnologie und Anthropologie mit dieser Thematik befaßt. Die Tiefenpsychologie von Freud und Jung differenzierte sich über den Symbolbegriff. In der Soziologie haben die französische Durkheim­ Schule wie der amerikanische Interaktionismus betont, daß ohne Symbolverkehr Gesellschaft nicht vorstellbar sei, und in der Philoso­ phie haben der Engländer Whitehead, Ernst Cassirer und dessen

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amerikanische Schülerin S. Langer die Unentbehrlichkeit wie die Zwang­ haftigkeit von Zeichen thematisiert. Als Semiotik, Semiosologie etc. wurde das Thema zur Spezialdisziplin, und, was für unseren Zusam­ menhang wichtig erscheint, schon im Amerika der zwanziger Jahre zur Volksbewegung, ,,General semantics", die der Verführbarkeit durch Propaganda entgegenwirken wollte wie mit anderen Methoden im deutschen Sprachgebiet Karl Kraus. Wo immer der Symbolbegriff in das Zentrum theoretischer Erörte­ rungen trat, wurden die Erhaltung von überkommenen Zeichen­ vorräten wie deren Revision zum Problem. Whitehead erklärte 1927 kategorisch : ,,Die Kunst der freien Gesellschaft besteht erstens im Aufrechterhalten des symbolischen Codes, und zweitens in der Furcht­ losigkeit, zu revidieren, um zu garantieren, daß der Code solchen Zwecken dient, die eine aufgeklärte Vernunft befriedigen. Solche Gesellschaften, die Achtung vor ihren Symbolen nicht mit der Freiheit, zu revidieren, vereinigen können, müssen schließlich entweder durch Anarchie oder durch langsame Atrophie eines Lebens zu Grunde gehen, das nutzlose Schatten verdunkeln1 . " Ich weiß nicht, ob Whitehead bei der Niederschrift dieser Sätze das zeitgenössische Deutschland vor Augen hatte, in dem offensichtlich weder die Achtung vor erhaltenswerten Symbolen noch die Freiheit, zu revidieren, kräftig genug waren. Es scheint aber, daß der Unglücks­ mensch Hitler in Beobachtung der kommunistischen und faschistischen Massenregie diese Schwäche erspähte. Er hat in „Mein Kampf" entsprechende Ausführungen gemacht und auch selber Einzelheiten der symbolischen Präsentation des Nationalsozialismus verordnet. 1945 zog Ernst Cassirer im amerikanischen Exil die Konsequenz aus dieser Erfahrung „vom Mythos des Staates", das Neue sei, Mythen könnten gemacht werden und eingesetzt wie Maschinengewehre. Weitere 30 Jahre später sehen wir die Mythenfabrikation mit eigens dafür angestellten wissenschaftlichen Kräften in Wirtschaft und Politik, in Ost und West in vollem Gange. In Umkehr zu der geschilderten geistesgeschichtlichen Entwicklung zielt sie darauf ab, die Differen­ zierung, die der Symbolbegriff erlaubt und bei allgemeinem Gebrauch verbreitet, durch Bündigkeit scheinbar objektiver Wesenheiten zu reduzieren. Es wäre aber irreführend, diese Tendenz zur Versimpelung einigeri Machern allein anzulasten, die über das entsprechende Arcanum ver­ fügen. Sie ist eine Begleiterscheinung der immer komplizierter wer­ denden sozialen Verhältnisse, die durch die erleichterten Kommunika­ tionen bedingt sind. Das Potential an Reibungen und Mißverständ1 A. N. Whitehead, Symbolism. Its Meaning and Effect, New York 1927, S. 8 f.

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nissen hat sich im Zeichen des globalen Verkehrs so ungeheuer ver­ größert, daß das Sicherheitsbedürfnis fast jede Vereinfachung als stillend akzeptiert, sofern sie nur eindeutig genug erscheint. Diesem Anspruch genügt vor allem das Bild, das seine Teile gleichzeitig präsentiert, im Hinsehen entlastet und nicht die diskursive Abfolge einzelner Elemente erfordert wie die Sprache. zusammengefaßt: Menschliches Verhalten ist symbolkontrolliert. Diese Tatsache wird ambivalent benützt: einmal zur Differenzierung und Präzisierung der Verhältnisse, zum anderen zur Verabsolutierung und Verunklarung. Während einerseits immer neue intellektuelle Bereiche durch neue Codes erschlossen werden, drängt andererseits das Allgemeine sich in grobrastrige Bilder, die dann von Ungezählten für die Sache selber genommen werden. Und man kann nicht einmal feststellen, daß dies Einerseits-Andererseits gruppenhaft oder klassen­ mäßig verteilt wäre. Es geht vielmehr durch alle Gruppierungen und über die Grenzen der Arbeitsteilung hinweg. Die Fachsprachen von Industriearbeitern sind Außenseitern so wenig verständlich wie die von Diplomaten und Finanzbeamten, und wer den Sportteil einer Tageszeitung lesen will, muß verbale Vorkenntnisse mitbringen.

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Von dieser skizzenhaft umrissenen Annahme ausgehend, kann die Kommunikationswissenschaft der Staatslehre nicht folgen, wenn sie ausführt, der Staat müsse sich in Zeremonien, Präsentationen, Sprachen selbst darstellen. Die Perspektive ist eine andere. Wir fragen, welche Zeremonien, Präsentationen, Sprachen aus dem Umfeld einer in Raum und Zeit vereinten Population dem Schlüssel­ symbol „Staat" zugerechnet werden. Nicht „der Staat" muß sich selbst darstellen, sondern welche Selbstdarstellungen sind mit dem Etikett „Staat" versehen, welche versehbar, welche unmöglich? Der Staat wird also nicht als handelnde Person vorgestellt, sondern als Name für Kommunikationen, die unter dieser Bezeichnung statt­ finden, teils spontan, in der Regel institutionalisiert, in Übereinstim­ mung mit diskursiven Vorschriften oder gegen sie, die Körper­ symbolik der damit befaßten Subjekte einschließend, etwa beim Militär, beim Schalterbeamten, beim Diplomaten, oder sie auslassend. Kommunikationswissenschaft hat den Mitteilungsaspekt des sozialen Lebens zum Gegenstand und bezieht den Staat in diesen Aspekt ein. Sie kann also nicht leisten, was die Staatslehre leistet ; aber es scheint mir, daß die Betrachtung von der Kommunikation her der Gefahr der gedanklichen Absonderung des Staates, die ihn voraussetzt, um auf ihn zurückzukommen, entgegenwirkt, indem sie Staatlichkeit als eines

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unter anderen Kommunikationsverhältnissen betrachtet. In der Praxis bricht ja auch der „Staat" zusammen, wenn gewisse Kommunikationen nicht mehr funktionieren oder gar nicht mehr stattfinden. Der Befehl, welcher Gehorsam findet oder nicht, der in Max Webers Definitionen von Macht, Herrschaft und Disziplin die ausschlaggebende Rolle spielt, ist eine solche Kommunikation. Ihre Bewertung als Prinzip freilich muß schon im Zusammenhang des deutschen Staatsdenkens des 19. Jahrhunderts gesehen werden. Von der Kommunikation her wäre zu fragen, worauf diese Auffassung des Befehls eine Antwort ist; welche Vorfragen liegen ihr zugrunde, und schließlich, was ist das für ein politisches Verständnis, das auf Befehl und Gehorsam gründet? Welche Symbole ermöglichen seine Konkretisierung in der Praxis? Es hat sich doch im geschichtlichen Ablauf gezeigt, daß dieser postulierten Folgsam­ keit ein großes Potential von Freiwilligkeit entsprochen hat, das bis zur Selbstaufgabe ging im Namen des Staates. Und dann, im Mai 1945, das Meer von roten Fahnen in Berlin, aus denen die Hakenkreuze herausgetrennt waren, wie Robert Havemann in seinen Memoiren schreibt? Da in den Jahren vorher niemand auf die Straße gehen konnte, ohne in Gruß und Gegengruß ein politisches Ritual zu voll­ ziehen, scheint die kollektive Abkehr nicht verwunderlich, sondern eine Fortsetzung der „staatlichen" Dressur. Unter dem symbolischen Aspekt betrachtet, sind die Diskussionen der Nachkriegsjahre Versuche gewesen, in möglichst freier Auseinander­ setzung herauszufinden, was am symbolischen Code zu revidieren war und was aufrechtzuerhalten. Staat und Staatsdienst waren kompro­ mittiert. Die Praxis mußte ergeben, was darunter verstanden sein konnte, und diese Praxis folgte den allgemeinen Verkehrsbedingungen, in die die Reste des Deutschen Reiches durch unterschiedliche Besat­ zungsmächte einbezogen wurden. Die sowjetische Zone, dann „deutscher Arbeiter- und Bauernstaat" DDR, nahm deutlich russische Züge an, die im Laufe von drei Jahrzehnten sich mit der alten deutschen Lehre von Befehl und Gehorsam vertragen lernten. Es wäre leichtfertig, dieses Amalgam zu unterschätzen, auch wenn es nicht den hiesigen Vorstellungen von einer „aufgeklärten Vernunft" entspricht. Zwar lassen sich Spitzenfunktionäre der DDR bei West-Berliner Schneidern englische Maßanzüge machen; aber es gibt auch West-Berliner Studen­ ten, die ihre Jeans ausziehen, weil sie in der DDR verboten worden sind. Die Kleinigkeiten zählen, indem sie mit den großen Konzeptionen korrespondieren oder nicht. Während in der sowjetischen Zone traditionalistische Staatsauffas­ sungen ein anderes Vorzeichen erhielten, gewann in den Westzonen das angelsächsische Demokratieverständnis Boden, das government und administration zu sagen pflegt, wo bei uns landläufig vom Staat

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die Rede ist. Ich möchte auf die Bedeutung dieser semantischen Diffe­ renz nicht weiter eingehen, im politologischen Bereich aber der Max Weberschen Kategorie „Befehl" den Satz des David Hume aus dem Jahre 1740 gegenüberstellen. Er schrieb in seinen „First Principles of Govern­ ment", daß die Regierung auf der Meinung der Regierten beruhe und sonst auf nichts, da die physische Gewalt immer bei der Mehrzahl sei und nicht bei den wenigen, die diese Mehrzahl regieren. Wie immer die Vorfragen zu beurteilen sind, die diesem Satz vorausgingen, so besteht doch ein wesentlicher Unterschied darin, ob Befehl oder Meinung als Grundlage des Staates gelten. Die Aufmerksamkeit der politischen Klasse geht in gegensätzlicher Richtung. Es macht einen gewissen Unterschied, ob sie gewohnt ist zu sagen - und auf das Sagen, nicht nur das Denken kommt es an! -: ,,was, der Kerl gehorcht nicht, haut ihm den Kopf ab!" oder: ,,was, der Kerl meint etwas anderes als ich, das muß ich mir überlegen!" In den westlichen Demokratien hat sich die herrschende Klasse an diese Umkehr früh gewöhnt, was u. a. das reiche Gewerbe der Meinungsforscher im Gefolge gehabt hat. Theoretisch kann die Ableitung nur in jeweils einer Richtung erfolgen, entweder von der Meinung der Regierten oder vom Befehl der Regierenden her. Die Ableitung ist aber in keiner Richtung problemlos, weil sie, wie immer auch begründet, kommunikativ um­ gesetzt werden muß, und Kommunikation hat eine Tendenz zur Mehrseitigkeit, zur Offenheit. Selbst der ideale „Meinungsstaat" kommt nicht ohne Befehle aus; und der „Befehlsstaat" kann doch die Existenz von Meinungen nicht verleugnen, wofür die DDR ein lehrreiches Beispiel bietet, studiert man die Schwankungen der Befehle, die dennoch Befehle bleiben. Die Gegenüberstellung der Theoreme Meinung undBefehl, Meinungs­ staat und Befehlsstaat, bezeichnet zunächst unterschiedliche Kommuni­ kationsformen als Voraussetzungen der jeweiligen Gemeinwesen. Die daran anschließende Frage nach der jeweiligen Empirie muß auf die landesüblichen Bräuche und Sitten zurückgehen, um zu ergründen, was aus der prinzipiellen Einstellung zu Befehl und Meinung in der Praxis wird und werden kann. Kleists „Prinz von Homburg" und Haseks „braver Soldat Schwejk" stehen beide in der Befehlstradition, aber der eine in Böhmen, der andere in Brandenburg. Die verinnerlichte Art, zu gehorchen, die Max Weber als Disziplin definiert hat, ent­ scheidet am Ende darüber, welchen körperlichen Ausdruck das Prinzip annimmt. Ehrenkompagnien und dergleichen haben in der ganzen Welt die Funktion, die Umsetzbarkeit des jeweiligen Prinzips in minutiöse Präsentation zu demonstrieren, um dem, dem Achtung bezeugt wird, Achtung abzunötigen. Da die Übung ein hohes Maß an Konzentration erfordert, ist sie überall von dem freundlichen Gesichtsausdruck weit

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entfernt, der sonst Entgegenkommen und Gastlichkeit, etwa bei Stewardessen, symbolisiert. Mit anderen Worten: die Durchsetzung des Prinzips stößt an die Grenze der Disziplin, unabhängig von den zugrunde liegenden Mustern Befehlsstaat und Meinungsstaat. Disziplin ist der subjektive Faktor, in dem das jeweilige Prinzip sich realisiert. Es ist deshalb irrig, zu meinen, der Meinungsstaat als der Ausdruck der Abhängigkeit der Regierenden von den Regierten und deren Ver­ ständigung durch Meinungsaustausch erfordere keine Disziplin. Im Gegenteil verlangt sie ständige Reflexion, die dem bloßen Befehls­ empfänger erspart bleibt. Insofern ist der Befehlsstaat der bequemere Zustand, was ihm ja auch das überleben garantiert, nicht nur in den zahllosen Diktaturen dort, wo keine bürgerliche Revolution statt­ gefunden hat, einschließlich Ost- und Südeuropa, sondern auch in seiner Wiederkehr in den erklärten Meinungsstaaten. Er liegt dort dauernd auf der Lauer, und die andere Orientierung muß ihm abge­ rungen werden durch subjektive Anstrengung. Die Disziplin des Meinungsstaates ist auch deshalb schwer zu leisten, weil sie, auf die Meinung anderer gerichtet, stets im Zweifel enden muß. Sie ist im Prinzip Zweiwegkommunikation, und sie erreicht deshalb nicht die Abgeschlossenheit, die Einwegkommunikationen haben, indem sie Widerspruch übergehen und ausschalten. Der Zweifel richtet sich nicht nur auf den Inhalt der fraglichen Meinung, sondern auch darauf, wie, wann und warum sie geäußert wurde. Er läßt sich nur scheinbar durch das abgekürzte Verfahren statistischer Ermittlun­ gen beschwichtigen. Eine auf Statistiken und Demoskopien allein oder hauptsächlich bauende classe politique bewegt sich in einem Abstrak­ tionsraum, der sie als ein symbolisches Gehäuse umgeben und auch schützen mag; aber sie läuft Gefahr, diese wissenschaftliche Konstruk­ tion von Wirklichkeit für die Sache selber zu nehmen. Die Bündigkeit der Aussage und das Bedürfnis, sich durch sie zu entlasten, wirken dabei zusammen. Nehmen wir an, daß daran gedacht sei, die Meinung der Regierten zu respektieren und die Regierung abhängig davon zu führen, so ist damit zwar ein Prinzip, aber noch keine Kommunikation gewonnen. Die Regierten sind die Vielen, die Regierer die wenigen. Die Umsetzung des Zahlenverhältnisses in Willensbildung geschieht durch Wahlen auf Zeit als konstituierenden Kommunikationsakt. Aber ehe von ihnen die Rede sein kann, müssen zu diesem Behufe Identifikationen statt­ gefunden haben, vor denen andere und so fort bis zu den primären Begegnungen des täglichen Umgangs. Und schon in dieser Notwendig­ keit liegt eine empirische Beschränkung für den Meinungsstaat. Zwar verfügen . die Subjekte, sofern sie bei Sinnen sind, über gleiche Mittel des Ausdrucks. Sie können alle die Zunge herausstrecken, sich ab-

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wenden, sich verneigen, Fratzen ziehen und sprechen, aber sie haben diese natürlichen Gaben künstlich unterschiedlich ausgebildet. Sie gehören überdies unterschiedlichen Sprachklassen an und verstehen sich unterschiedlich auf die Deutung von Bildern. Sie sind von un­ gleicher „kommunikativer Kompetenz"2, und diese ungleiche Kompetenz wird tagaus tagein strapaziert, da es nicht im Belieben des Menschen steht, sich dem natürlichen Kommunikationszwang zu entziehen. Ver­ suche, zu entkommen, sind Gegenstand der Neurosenlehre und Psychia­ trie, aber Anpassung macht den Zwang erträglich, indem sie die un­ gleiche Kompetenz überspielt. Das hat in der Politik alternative Kon­ sequenzen : der Befehlsstaat neigt dazu, unangepaßte Leute von kom­ munikativer Kompetenz für verrückt zu erklären. Im Meinungsstaat gehört es zur Anpassung, kommunikative Kompetenz zu zeigen, ent­ weder im diskursiven Bereich oder in dem der optisch wahrnehmbaren Präsentation. Zwanghaft sind beide Konsequenzen. Bleibt im primären Bereich bei Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Gebärde, Stimmklang, Beweglichkeit doch noch ein gewisser gemein­ samer Vorrat an Kommunikationsmitteln erhalten, so verliert sich diese Gemeinsamkeit schon auf der nächsten Stufe der Medien, die Geräte erfordern. Hier werden die Unterschiede der Verfügbarkeit und damit die soziale Ungleichheit noch deutlich: nur wer drucken lassen kann, vermag die Vorteile zu nutzen, die es haben mag, Raum und Zeit durch die Technik der Druckerpresse zu überwinden und sich damit an viele zugleich zu wenden. Wer das kann, setzt eine Einweg­ kommunikation in Gang, der allenfalls andere Einwegkommunikationen entgegengesetzt werden können mit zeitlicher Verschiebung, wenn derselbe technische Effekt der Raum- und Zeitüberwindung und der sozialen Reichweite erzielt werden soll. Natürlich kann man gegen eine Druckschrift reden; aber das bleibt auf einer anderen Kommuni­ kationsebene. Je mehr sich die Technik differenziert hat und mit dem Funk zu immateriellen Übermittlungswegen gelangt ist, desto mehr komplizierten sich die Verhältnisse der Zugänglichkeit, das heißt, um so ungleicher wurde die kommunikative Kompetenz. Presse und Rundfunk sind ihrer Technik nach Verteilungssysteme. Das schließt ein, daß nicht die vielen an die wenigen sich wenden, sondern immer wenige Verfügungsgewaltige an die vielen. Mit dem Vorhandensein unter­ schiedlicher Kommunikationsmittel stellt sich die Frage nach Gerechtig­ keit und Ungerechtigkeit der durch sie ermöglichten Verteilung von Symbolen immer aufs Neue, und die historische Betrachtung zeigt, daß die damit verbundene kommunikative Kompetenz sich akkumuliert. Sie bewirkt Folgsamkeit zwar nicht nach dem Muster des Befehls, 2 Harry Pross, Politische Symbolik. Theorie und Praxis der öffentlichen Kommunikation, 1974, S. 88 ff.

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aber doch dadurch, daß sie Meinungen ausschließt, deren Kommunika­ tionsmittel nicht weit reichen. So kommt auch in dem angenommenen „Meinungsstaat" die Meinung der Regierten nur durch Zugänglichkeit zu Medien gefiltert an die Regierer. Die berufsmäßigen Kommunika­ toren, die sich im Zuge der technischen Vervollkommnung etabliert haben, bilden eine Art von Zwischenträgern; denn sie berichten nicht nur, was die vielen an die wenigen zu adressieren haben, sondern auch und hauptsächlich, was die wenigen an die vielen für mitteilungswert halten. Dieser Verkehr spielt sich über die einfachen symbolischen Kategorien oben - unten, innen - außen, hell - dunkel ab, weil diese Koordinaten sowohl in der individuellen Entwicklung der Subjekte wie in der Stammesgeschichte vor den Urteilen liegen. Dabei sind dunkel, unten, außen negativ belegt, oben, innen, hell dagegen positiv. Die diskursive Argumentation, die man den rationalen Inhalt nennen könnte, ist vorbewertet durch den Platz, den sie in diesem Koordinaten­ system einnimmt. Seitdem es den übersichtlichen Bildschirm des Fernsehens gibt, ist dieses Muster noch deutlicher hervorgetreten, als es vorher in der Werbung, die verkaufen will, in der Propaganda, die Gefolgschaft erzeugen will, in der Öffentlichkeitsarbeit, die Insti­ tutionen darstellen will, und in der periodischen Berichterstattung durchschien. Für den Staatsdienst in der Demokratie der westlichen Prägung hat die Filterung der Meinungen durch Medien und die Koordination der Inhalte auf simple Grundmuster erstens die Ver­ suchung, diese symbolischen Verhältnisse für die Sache selber zu halten, zweitens, sie macchiavellistisch einzusetzen, drittens, den ganzen Komplex zu ignorieren durch andere Kommunikationswege. In diesem Zusammenhang muß in Erinnerung gerufen werden, daß die öffentlichen Verteilungsmedien nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Ensemble der Kommunikationsmittel bilden. Die Vermittlungs­ techniken, die jeden mit jedem verbinden, Brief, Telegraph, Telefon etc., sind überwiegend in öffentlicher Hand und Voraussetzungen von Meinungs- wie Befehlstransport. Die Entwicklung der Telekommunika­ tion zu Breitbandtechnologien, die vermehrte Übertragungen ermög­ lichen, zeigt, daß mit dem Verlegen solcher Netze alle die direkter sozialer Kontrolle zugänglich werden, die an sie angeschlossen sind, weil sie angeschlossen sind. Die Verstrickung des Menschen in die Netze seiner Symbole, von der Philosophie lange erkannt, wird hier als politische Praxis sichtbar. Sollen Volksabstimmungen über „Heim­ terminals" stattfinden? Darf das „Auge des Gesetzes" über verkabelte Fernsehkameras ganze Stadtteile bewachen und dabei einen Blick hinter die Gardinen riskieren? Fragen über Fragen, die den Gesetz­ geber aufrufen, zu entscheiden, was sein soll. Es könnte der Fall ein­ treten, daß die Kommunikationstechnik, die ist, das Verhalten der Benutzer den Regierenden so transparent macht, daß die Meinungen

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keine Rolle mehr spielen und Datenbanken gerechnet, nicht nicht mit Regierten, die durch Straßen und im Beruf darauf

Hume widerlegt wird. Er hat nicht mit mit Fernsehüberwachungssystemen, und Tausende von hinweisenden Zeichen auf gedrillt sind, sich lenken zu lassen.

m. Die durch neue Technologien erweiterten Manipulationsmöglichkeiten stellen die „reflektierende Disziplin" , die vom öffentlichen Dienst in der Demokratie verlangt werden muß, auf eine harte Probe. Auch auf dem Gebiet der Kommunikation gilt, was die Atomwissenschaftler vor zwei Jahrzehnten - sehr spät und für viele zu spät - für sich entschieden, daß nicht alles gemacht werden darf, was gemacht werden kann, ja dieser Satz ist der eigentliche Grundsatz der Kommunikation. Andererseits muß dafür gesorgt werden, daß der öffentliche Dienst nicht aus der Kommunikation herausfällt. Bei diesbezüglichen Überlegungen wäre zunächst das Gemeinsame hervorzuheben : Erstens die Verfassung als Begründung des öffentlichen Dienstes. Wenn ich richtig beobachte, ist in der Diskussion die Verfas­ sung als diskursives Symbol, dessen Text vorliegt und das der Inter­ pretation rationale Grenzen setzt, durch Gebrauch von „Staat" als einer personifizierten Größe beiseite gedrängt worden. Solche Bedeu­ tungsverschiebung muß verwirren, weil sie die Begründung der öffent­ lichen Dienste aus der Verfassung verdeckt. Nicht ein „ Staat" genannter Handelnder, sondern die Ableitung aus der Verfassungsvorschrift läßt die Logik des Staatsdienstes inmitten und neben anderen kommuni­ kativen Verhältnissen plausibel erscheinen. Eine mythische Größe „ Staat" erzwingt einen dauernden Darstellungszwang von etwas, das nur in der Darstellung ist. Die Ableitung und Begründung von Tätig­ keiten aus der Verfassung auf die Verfassung hin enthält das Angebot rationaler Überprüfung am Verfassungstext, insbesondere an den unveränderlichen menschenrechtlichen Postulaten, die in die Grund­ rechte eingegangen sind. Es ist nicht so einfach, wie in einer früheren Krise ein Bundesinnenminister gesagt hat, man könne nicht dauernd mit dem Grundgesetz in der Tasche herumlaufen. Das Grundgesetz in der Tasche wäre für die Darstellung des öffentlichen Dienstes zu wenig. Für eine überzeugende Darstellung dessen, was öffentlicher Dienst sein kann, wäre es nötig, das Grundgesetz im Kopf zu haben und es in Verhalten umzusetzen. Unter den geschilderten Kommunika­ tionsbedingungen könnte dies eine integrierende Wirkung haben. Zweitens, die in der Verfassung vorgesehenen Ablösungen der Regierenden und die Kontinuität der öffentlichen Dienste. Die Wieder­ holung von Wahlakten in vorgeschriebener · zeitlicher Folge ist ein

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soziales Ritual, das der Kontinuität dient. Nicht, wer die Wahl gewinnt, ist das Primäre an diesem Vorgang, sondern die Beziehung zwischen Regierten und Regierern, die er stiftet, und die er mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederholt. Der Machtwechsel, den er impliziert, ist das Interesse der Parteien, die auf Veränderung drängen, das Interesse des Ganzen liegt in der rhythmischen Wiederholung des Vorganges, der durch seine Verläßlichkeit die Befriedung verschafft, die dem Menschen auch sonst durch Rituale zukommt. Die Einhaltung der Wahlperioden garantiert die Dauer des demokratischen Staatswesens. Der Ritualisierungsgewinn ist der Grund, warum auch undemokra­ tische Staaten sich als Demokratien auszugeben streben und Wahlen abhalten, in denen keine Parteien konkurrieren. Es würde diesem Verfassungsmechanismus zuwider laufen, wollte der öffentliche Dienst jedes Mal die Farben wechseln und nach den jeweiligen Parteien seine Codes revidieren. ,,Furchtlosigkeit der Revision" (Whitehead) ist etwas anderes als Opportunismus, der in einer funktionierenden Demokratie sowieso kurzatmig sein muß. Was der öffentliche Dienst für das Ganze repräsentieren kann, sind nicht die jeweiligen Begrün­ dungen des jeweiligen Regierungswechsels, sondern die Dauer des kalendarischen Rituals, das die Widersprüche kompromißhaft bindet. Wie eine durchgehend gleichartige überzeugung aller Bürger unmög­ lich ist, so auch die Gleichartigkeit des Ausdrucks und die der Aus­ drucksmittel. Demokratie, sofern sie menschenrechtlich begründet ist, läßt die Bekenntnisse frei. Das Umfassende, der öffentliche Dienst an der Demokratie, kann nicht in diesen Bekenntnissen liegen, sondern darin, deren geregelte Chance zu wahren, sie zu äußern und mit anderen zu messen. Wo dieser Dienst versäumt wird, kann von Mehr­ heitsabsolutismus, aber nicht mehr von Demokratie im Sinne der Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte die Rede sein. Im Bereich der Kommunikation führt die Unterdrückung der Bekenntnisse zu pathologischen Erscheinungen, weil sie die Aus­ drucksfähigkeit der Subjekte reduziert. Werden die demokratischen Staatsdiener auf diese Weise als Verwalter des gemeinsamen Rituals verstanden, so ergibt sich daraus, daß die Tendenz zur Verbeamtung der Parlamente und zur parteilichen Oligarchisierung von Beamten­ stellen die symbolische Darstellung der Kontinuität des Gemeinwesens im Wahlritual beeinträchtigen muß. Die Versuchung, ,,zween Herrn zu dienen", führt erfahrungsgemäß zu psychischen Beschwerden und zum Vertrauensverlust bei der Umwelt. Die zentrale Rolle des kalendarischen Rituals der Wahl wird leicht unterschätzt, weil aus dem Bewußtsein gerückt ist, daß der Kalender selbst ein Mittel sozialer Kontrolle ist, dem keiner von uns entgeht. Die Tyrannei der Terminkalender hat System, die neuesten beginnen im November und enden im April des übernächsten Jahres. Aber

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schon Julius Caesar führte seinen Kalender ein, um der Bestechlichkeit der Pontifices entgegenzuwirken, welche die Staatsgeschäfte verun­ sicherte, und die protestantischen Herrschaften haben sich lange gegen den Kalender des Papstes Gregor gewehrt. In der Bundesrepublik sind die beiden verunglückten Staatsfeiertage 17. Juni und 20. Juli ein Beispiel dafür, daß politische Symbolisierungen ohne Übereinstimmung mit kalendarischer Vorbestimmung nicht gelingen können. Hier setzt sich nicht die Meinung, sondern die Gewohnheit der Regierten durch, die in präsentativen Symbolismen, nicht in verbalen Bekundungen sich äußert. Drittens, die Differenzierung der öffentlichen Dienste. Sind Verfas­ sung und Wahl Regierten und Regierenden gemeinsam, so umfaßt doch der Ausdruck Staatsdienst oder öffentlicher Dienst ganz unter­ schiedliche Dienste, die sich verschieden darstellen müssen, weil sie Verschiedenes tun. Alle, die Dienstleistungen verkaufen, werden sich zu diesem Zweck Werbe- und Marketingstrategien bedienen müssen, weil sie Käufer ansprechen wollen. Bei anderen steht die Partizipation des Bürgers zur Debatte. Sie muß propagiert, nicht verkauft werden. Wieder andere haben die Sorge um ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, schließlich gibt es im öffentlichen Dienst der Verfassung nach keine privaten, der öffentlichen Kontrolle entzogenen Domänen, auch wenn es so merkwürdige Sachen gibt wie „Privatstraße der Forstverwaltung" oder „Privatparkplatz der Abteilung XY im Staats­ ministerium des Inneren", auf dem dann der Sachbearbeiter für Öffentlichkeitsarbeit noch einen ausgeschilderten Privatparkplatz haben mag, ich kann es nur vermuten. Welche publizistischen Formen von Werbung, Propaganda und Public Relations dann im einzelnen adäquat sind, was und wann die Tagesberichterstattung von Presse und Rund­ funk gesucht werden muß, ergibt sich aus dem Amt und seiner Korrespondenz mit dem Bevölkerungsteil, der von seiner Tätigkeit näher betroffen ist als die anderen. Auch Ämter haben „Zielgruppen". Wenn sie sich mit ihnen zu gut verstehen, besteht die Gefahr, daß aus der Public-Relations-Arbeit Korruption erwächst. Auch daran muß ,,reflektierende Disziplin" sich beweisen. Symbole stehen nie für sich, auch nicht diejenigen, die eine Behörde zu ihrer Selbstdarstellung verwendet. Sie stehen in einer hierarchischen Beziehung zu anderen Symbolen. Jedes gilt in seiner Relation zu dem Gegenstand, für den es steht; aber es verweist auf das ganze Symbol­ netz, zu dem es gehört. Insofern hat die Wahl eines Symbols normative Verbindlichkeit über das gewählte Symbol hinaus. Sie äußert sich in Worten, in Farben, in Positionen, die scheinbar beliebig sind. Sie sind es nicht, und deshalb müssen vor aller Öffentlichkeitsarbeit die Impli­ kationen studiert werden, die der Gebrauch einzelner Symbole hat.

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Der Philosoph Hermann Lübbe hat im Verlaufe der „Dezisionismus"­ Diskussion unlängst darauf hingewiesen, daß die Anerkennung einer Mehrheitsentscheidung für die unterlegene Minderheit unerträglich würde, wenn sie „mit der bindenden Verpflichtung verbunden wäre, nun auch noch die Wahrheitsansprüche anerkennen zu sollen, von deren Geltung die siegende Mehrheit überzeugt war" 3 • Der symbolische Aspekt des Staatsdienstes in der Demokratie verweist auf den Bereich der Zeichensetzung, die jeder Diskussion über Entscheidungen voraus­ gehen muß, damit sie stattfinden kann. Von der Geltung der Zeichen ist ein langer Weg bis zu den Wahrheiten, die man mit ihrer Hilfe erschließen kann, aber kein Weg zu denen, die schon die Zeichen­ setzung ausschließt. Darum ist die Verfassungsurkunde das einzig denkbare diskursive Symbol, auf das sich der öffentliche Dienst gründen kann. Sie gibt in den Grundrechten den unterschiedlichen kommunikativen Kompetenzen die Chance, sich zu einigen.

s Hermann Lübb e, Dezisionismus - eine kompromittierte politische Theorie, in : Schweizer Monatshefte 55 (1976), S.960.

Aussprache zu den Referaten von Herbert Krüger und Harry Pross Bericht von Ulrich Storost Im Mittelpunkt der von Professor Dr. Helmut Quaritsch geleiteten Aussprache über die Referate von Krüger und Pross stand die Frage, welche praktischen Folgerungen aus den eher theoretisch gehaltenen Überlegungen der Referenten zur Staatspflege und politischen Sym­ bolik zu ziehen seien (II.). Nur wenige Diskussionsteilnehmer behandel­ ten das grundsätzlichere Problem, ob, warum und unter welchen Be­ dingungen staatliche Selbstdarstellung in der Bundesrepublik Deutsch­ land notwendig und möglich sei (I.). I.

1. Gleich eingangs stellte Professor Dr. Carl Hermann Ule, Speyer, die Frage nach dem „Was tun" in das Zentrum des Interesses. Diese habe allerdings zur Voraussetzung, daß Klarheit über die Notwendig­ keit und den Grund von „Staatspfiege" bestehe. Ule vertrat hierzu die Ansicht, daß nur in einem „kranken oder schwachen Staat" die Frage nach der Staatspflege aufgeworfen werden könne und müsse. Er fand insoweit Widerspruch bei Krüger: Die Wortprägung „Staats-Pflege" sei zwar insoweit etwas mißverständlich, doch verstehe man ja unter einer gepflegten Erscheinung gerade keine kranke Erscheinung. Staatspflege solle keine Krankheiten heilen, sondern überhaupt erst die Existenz der menschlichen Gruppe „Staat" als solche hervorbringen. Staatspflege sei - genauer gesagt - Pflege des vinculum, des geistigen Bandes, das die Staatsbürger von sich aus als Gruppe zusammenhalten lasse und diese Gruppe von einer äußerlichen Juxtaposition beliebiger Individuen unterscheide. Ähnlich wie etwa bei der Ehe sei dieses vinculum die eigentliche Grundlage der staatlichen Gruppe und bedürfe deshalb ständiger Pflege, während seine juristischen Sanktionierungen wie Staatsangehörigkeit und Staatsgewalt insoweit nur sekundären Charak­ ter trügen. Früher habe die christliche Religion die Rolle des vinculum der Staatsbürger gespielt, heute müsse sich dagegen im Zeichen der Meinungsfreiheit Staatspflege weltanschaulich neutral verhalten. Dies schließe für die Bundesrepublik Deutschland die Herstellung und Pflege eines vinculum in der Form des „Einigseins in einer offiziellen Mei-

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nung" eigentlich aus, während im Osten die kommunistische Weltan­ schauung für die Staatspflege bis hin zum „proletarischen Inter­ nationalismus" eingesetzt werden könne. Das Problem der westlichen Staaten bestehe also in der Antinomie zwischen der praktischen Not­ wendigkeit einer gewissen staatspflegerischen Aktivität des Staates und der Freiheit der Bürger. 2. An Krügers Bemerkung, die Staatspflege sei als „Anstoß" das „voluntaristische im Gegensatz zum automatistischen Element" im Prozeß der Staatshervorbringung, knüpfte der Beitrag von Dr. Gerd Schmidt-Eichstaedt, Berlin, an. Er sah als automatistisches Element der Staatshervorbringung einen angeborenen Mechanismus des Menschen wirksam, der - durch bestimmte Schlüsselreize ausgelöst - die not­ wendige Selbstorganisation der Menschen zum Staat ohne weiteres veranlasse. Ein Beweis für die Existenz dieses Mechanismus sei die historische Erfahrung, daß die Menschen auf bestimmte Arten von Demagogie deutlich im Sinne einer Selbstorganisation zu reagieren pflegen. Zwar habe das Dritte Reich diesen angeborenen Hang zur Selbstorganisation bewußt manipulativ mißbraucht. Bleibe er jedoch ganz ohne Inanspruchnahme von Seiten des Staates, so komme es zu irgendwelchen Nebenentladungen, die sich etwa am Beispiel der „Fußballhysterie" mit ihren „Ersatzkönigen" zeigten. Der Staat sei heute nicht mehr in der Lage, diesen angeborenen Mechanismus des Menschen durch ein Angebot von staatspflegenden Symbolen und Organisationsformen anzusprechen und auszulösen, sondern präsentiere im Gegenteil ein Gefühl der öffentlich dargestellten Feigheit, indem sich etwa seine Ministerien dem Bürger hinter gerollten Drahtzäunen darböten. Regierungsvizepräsident Alfred Gaertner, Düsseldorf, wider­ sprach dem und meinte, die Schutzmaßnahmen für Ministerien gegen Terroranschläge hätten mit staatlicher Selbstdarstellung nichts zu tun. Pross wollte demgegenüber zwar negative Nebenfolgen von Stachel­ drahtabsperrungen für die staatliche Selbstdarstellung sub specie der „Zugänglichkeit" staatlicher Behörden nicht ausschließen. Er sah jedoch im Gegensatz zu Schmidt�Eichstaedt den organisierten Fußballsport nicht als bloßes Surrogat für fehlende staatliche Symbolik, sondern wegen seiner nationalstaatlichen Organisationsformen gerade als einen Ver­ such, den menschlichen Spieltrieb durch und für die staatliche Ordnung einzufangen. Krüger wies in seinem Schlußwort darauf hin, daß auch er automatische Spontaneität nicht etwa ablehne. Er wehre sich nur da­ gegen, den laissez-faire-Gedanken der Marktwirtschaft, der nur in der Theorie überwunden, in der Praxis der Abwehr gezielter staat­ licher Wirtschaftspolitik aber noch sehr lebendig sei, in das allo genos der Politik zu übertragen. Die Wirtschaft als Marktwirtschaft unterscheide sich vom staatlichen Vergemeinschaftungsprozeß dadurch, 5 Speyer 63

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daß sie - der Vorstellung nach - ihre natürlichen Gesetze automatisch verwirklicht. Diese gesetzmäßige Selbstverwirklichung setze voraus, daß man das einzelne Wirtschaftssubjekt auf sein ökonomisches Interesse reduziert, das ihn die ökonomischen Entwicklungsgesetze erkennen und befolgen läßt. Der Mensch des marktwirtschaftlichen Denkens sei also im Grunde nur Vollstrecker objektiver Marktgesetzlichkeiten und nicht autonome sittliche Persönlichkeit. Die Übertragung dieser schon in der Wirtschaft an sich unhaltbaren Vorstellung in das politische Leben erzeuge nicht nur politische Apathie, sondern auch den Irrglau­ ben, daß auch dort die Dinge sich am besten arrangieren, wenn man sie ,, sich selber gehen läßt". Das aber sei das Ende des ständigen Verge­ meinschaftungsprozesses der staatlichen Gruppe; denn dieser setze Aktivität voraus, die auch der Staat selbst wiederum mittelbar zu be­ wirken habe. 3. Ausdrücklich hob Ule hervor, daß die besondere Art jedes einzel­ nen Staatswesens auch eine je eigene Art der Staatspflege bedinge. So

sei es folgerichtig, wenn etwa die DDR an die Stelle des königlich-kur­ fürstlichen Berliner Schlosses den modernen Palast der Republik als Zeichen eigenständiger architektonischer Selbstdarstellung des dortigen neuen Staates gesetzt habe oder wenn sie ihrer Volksarmee eine ganz andere Rolle in der staatlichen Selbstdarstellung zumesse, als sie etwa die Bundeswehr in der Bundesrepublik Deutschland erhalte. Ober­ regierungsrat Günther Heidkämper, Berlin, wies aber auch darauf hin, daß gerade die DDR heute in erhöhtem Maße um den Wiederaufbau historischer Gebäude bemüht sei, um sich historische Traditionen staatspfl.egerisch nutzbar zu machen. Hierzu erwähnte Pross, daß das moderne Staatsratsgebäude der DDR durch ein Portal des alten Schlos­ ses zu betreten sei, ein architektonischer Kunstgriff, dem er tiefe symbolische Bedeutung beimaß. Ähnlich wie die thronähnlichen Schreib­ tische von Mussolini und Hitler sei auch die Einbeziehung eines könig­ lichen Schloßportals in die Residenz des Staatsoberhaupts eines republi­ kanischen Diktatursystems ein Beleg für die Kontinuität gewisser pri­ märer Umgangsbedingungen politischer Herrschaft, hier für die Regu­ lierung der „Zugänglichkeit" des Machthabers durch Verunsicherung der Eintretenden mittels symbolhafter Zeichen. II, 1. Zur praktischen Staatspflege durch Vermittlung und Pflege des Staatsverständnisses sahen Ule und Heidkämper in erster Linie die Schulen berufen. Hier liege - so Ule - der wichtigste Ansatzpunkt, über die Jugend hinaus zu einem Staatsverständnis zu gelangen, das im gegenwärtigen Zeitpunkt vielleicht nicht vorhanden sei. Sie fanden

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insoweit grundsätzlichen Widerspruch bei Krüger, der vor übereilten Versuchen, das Problem der Staatspflege durch konkrete Aktivitäten zu lösen, eindringlich warnte. Die Frage nach praktischen Konsequenzen aus seinen theoretischen Erörterungen müsse sehr vorsichtig und um­ sichtig angegangen werden. Ihre Beantwortung setze eine Ergründung der unterschwelligen Mentalitäten, gerade in der Jugend, voraus, damit der Staat sich nicht etwa da lächerlich mache, wo er sich die Herzen seiner Bürger erobern will. Folgerungen für den Schulunterricht könn­ ten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch gar nicht gezogen werden. Der positivistische Verfassungsunterricht an den Schulen der Weimarer Republik sei jedenfalls ein Beispiel für den falschen Weg. Es gelte viel­ mehr zunächst, ein Verständnis der verfassungsrechtlichen Institu­ tionen, der Tätigkeit der Verfassungsorgane und der Einstellung des Bürgers zu gewinnen, das Voraussetzung für das Wirksamwerden staatspflegerischer Aktivitäten sei. Solange die Bürger ihre Grund­ rechte als bloße Abwehrrechte statt als Mitwirkungsrechte verständen, sei jede Bemühung um Staatspflege vergebens und nach den Erfahrun­ gen mit der verordneten Staatsbürgerschaft im Dritten Reich eher prekär. Insoweit sei Staatspflege in erster Linie eine Angelegenheit der Erwachsenen selbst, die zu einem Minimum an aktiver Mitarbeit am Prozeß der Staatshervorbringung bewegt werden müßten. Ganz ähnlich sah auch Gaertner die Schulen überfordert, wenn ihnen das Problem der Staatspflege aufgebürdet würde. Staatspflege beschränke sich nicht auf politische Bildung und sei mit dem Schulabgang nicht abgeschlossen, sondern sei ein ständig ablaufender dynamischer Prozeß vom Staats­ bürger her. In diesem Rahmen seien auch die Verbände und Parteien aufgerufen, Staatspflege zu betreiben. Differenzierend äußerte sich Pross in seinem Schlußwort: Zwar nicht die Erzeugung von Patriotis­ mus, aber doch die Vermittlung von Kenntnissen über die Geschichte des staatlichen Aufbaus sei ein Teil Staatspflege, der von der Schule zu leisten wäre. 2. Heidkämper knüpfte an Krügers Bemerkung über zeremonielle „Bürgerweihen" in der Schweiz den Hinweis auf die Jugendweihe der DDR als ein objektiv bedenkenswertes Beispiel praktischer Staats­ pflege. Pross legte dazu in seinem Schlußwort dar, daß Initiationsrituale in allen Gesellschaften fester Bestandteil der politischen Ordnung seien - in der Bundesrepublik sublimiert etwa in der Form von Staatsexamina. 3. Im Anschluß an die entsprechenden Ausführungen Krügers stellte Ule den Gedanken an Einführung einer Wahlpfiicht zur Diskussion.

Jedenfalls in einer repräsentativen Demokratie sei Wählen die erste Bürgerpflicht. In der Teilnahme an der Wahl liege ein unverzichtbares 5•

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Bekenntnis des Bürgers zu seinem Staat. Das Beispiel anderer Staaten zeige, daß technische Schwierigkeiten bei der Durchsetzung einer Wahlpflicht nicht unüberwindbar seien. Auch im Bereich der studen­ tischen Hochschulselbstverwaltung habe man ja die Einführung einer Wahlpflicht erwogen, um zu einer richtigen Repräsentanz zu gelangen, das Aktivitätsmonopol bestimmter politischer Gruppen zu brechen und eine engere Bindung aller Studenten an die Fragen der Selbstverwal­ tung herbeizuführen. Krüger stimmte dem insoweit zu, als auch er die Teilnahme an Wahlen als Rechtspflicht eines jeden Bürgers betrachten wollte. Die Bewehrung dieser Rechtspflicht mit irgendwelchen juristi­ schen Sanktionen lehnte er jedoch ab, weil in einem freiheitlichen Staat auf jeden Zwang im Zusammenhang mit der Staatspflege verzichtet werden müsse. 4. Gegen die von Krüger übernommene These Smends, die Institu­ tion der Verfassungsbeschwerde sei ein Integrationsfaktor, machte Ule Bedenken geltend. Verfassungsbeschwerden würden durchweg aus recht eigennützigen Beweggründen erhoben, nicht dagegen, um der Allge­ meinheit und dem Staatswesen eine Klärung problematischer Rechts­ fragen zu bringen. Ähnlich fragwürdig seien unter dem Aspekt der Staatspflege die positive Bewertung von Bürgerinitiativen und die institutionalisierte Beteiligung von Bürgerverbänden im Verwaltungs­ verfahren. Zu überlegen sei, ob damit mehr Verständnis für die Probleme des Staatswesens erreicht oder nur ein weiteres Einfallstor für eigensüchtige Interessen gefunden werde. Krüger hielt demgegen­ über daran fest, daß das Wissen um die Möglichkeit rechtlichen und sachlichen Gehörs das staatsbürgerliche Interesse des einzelnen stärken und festigen könne. Er betonte aber auch, daß darüber hinaus noch andere, politischere und nationalere Staatsziele gesetzt werden müß­ ten, um den Menschen wirklich für den Prozeß der Staatshervorbrin­ gung zu eröffnen. Auch Gaertner schätzte die Förderung kritischen Staatsbürgerbewußtseins durch Bürgerinitiativen grundsätzlich positiv für die Staatspflege ein. Professor Dr. Hans-Joachim Winkler, Hagen, stellte in diesem Zusammenhang generell die Frage, wie die von Pross erwähnte geringe Kompetenz vieler Bürger zur Kommunikation in politicis verbessert werden könne. Eine Vervollkommnung des Schul­ unterrichts sei hierzu kein Mittel, da erfahrungsgemäß auch zahl­ reichen hochgebildeten Menschen die soziale und politische Kommuni­ kationskompetenz fehle. Pross sprach in seinem Schlußwort insoweit vom „Informationsdefizit", das in der Vielzahl von Bürgerinitiativen und Verfassungsbeschwerden zum Ausdruck komme und einen Mangel an Staatspflege darstelle. Man könne die kommunikative Kompetenz der Bürger staatlicherseits nur dadurch verbessern, daß man den Betrof­ fenen Informationen über Gegenstände gebe, mit denen sie sich be-

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schäftigen können, und sie außerdem in die spezifischen Konstellationen einweihe, unter denen diese Gegenstände überhaupt nur zu behandeln sind. Aufgabe der Praxis sei es also, Informationen nicht massiv und unvermittelt auszuschütten, sondern die Empfänger von Informationen zugleich aufzuklären, wie diese Informationen zustandegekommen sind, wie man sie entschlüsseln kann und welchen Stellenwert sie haben. Dies sollte aber nicht durch Professionalisierung des staatlichen Informations- und Auskunftswesens mittels Public-Relations-Agentu­ ren geschehen; denn dadurch werde nur eine absichtsvolle Filterung der Informationen erreicht, die an den wirklichen Problemen und Be­ dürfnissen der Bürger leicht vorbeigehe. 5. Unterstützung durch Gaertner fand Krügers Kritik an der Über­ lastung des Parlaments mit Gesetzgebungsarbeit. Hierunter leide ins­ besondere die volle Wahrnehmung des Budgetrechts, dessen Durch­ setzung in der Parlamentsgeschichte eine ganz zentrale Rolle gespielt habe. Ein Parlament, das zu einer Gesetzgebungsmaschine denaturiert sei, komme nicht mehr zu seiner eigentlichen Aufgabe der Kontrolle über die Finanzmittel und der Überwachung ihrer Verteilung. Zu der damit angesprochenen Problematik des Art. 80 GG erwähnte Ministe­ rialrat Dr. Eckart Busch, Bonn, daß das Bundesverfassungsgericht nahezu die Hälfte aller Verordnungen mangels substantiierter gesetz­ licher Ermächtigung aufgehoben habe. Der Gesetzgeber müsse hier zwischen der Scylla einer übermäßigen Einengung des Regierungser­ messens und der Charybdis des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG hindurch.steuern. In Kenntnis dieser Problematik habe sich die Enquete-Kommission Verfassungsreform fast ein Jahr lang mit diesem „Angelscharnier des deutschen Parlamentarismus" befaßt. Das Ergebnis sei der Vorschlag, die bisherige Trias von „Inhalt, Zweck und Ausmaß" in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG auf ein einziges Kriterium, den „Inhalt", zu reduzieren. Ein selbständiges Verordnungsrecht der Regierung habe sich deshalb nicht durchsetzen können, weil Parlamentarismus heute eben nicht nur die große politische Rede im Parlament und vor dem Fernsehen bedeuten wolle und könne, sondern auch die Profilierung im Wahlkreis und in den Ausschüssen mit detaillierten Einzelheiten sachtechnischer Gesetz­ gebungsfragen. Krüger äußerte demgegenüber in seinem Schlußwort Zweifel, ob die Einführung eines selbständigen Verordnungsrechts der Regierung - etwa nach dem Vorbild der französischen Verfassung von 1968 - wirklich eine große Veränderung gegenüber dem jetzigen Zu­ stand darstellen würde. Er frage sich manchmal, ob die Dokumente, die als Gesetze erscheinen, nicht in Wirklichkeit schon heute Verordnun­ gen der Regierung seien, die nur Brief und Siegel des Parlaments be­ kommen haben. Jedenfalls dürfe das Parlament nicht in nichtpolitischer Arbeit ersticken, sonst könne es seine Funktion als Forum, in dem die

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Nation mit sich selbst über große Fragen spricht, nicht erfüllen. Auch das Budgetrecht sei insoweit nicht Selbstzweck, sondern von den poli­ tischen Mitgliedern der Parlamente immer wieder als Aufhänger für große politische Aktionen benutzt worden. 6. Die äußerliche Selbstdarstellung des Parlaments bezeichnete Gaert­ ner als ein entscheidend negatives Beispiel von Staatspflege. Wenn auch

die Parlamentsarbeit heute im wesentlichen in Ausschüssen vor sich gehe, so sei es jedenfalls unverständlich, wenn an einem Freitag, an dem nachweislich keine Ausschußsitzungen stattgefunden hätten, der Bun­ destag beschlußunfähig gewesen sei. Wenn die Präsenz der Abgeordne­ ten an Freitagen nicht gewährleistet werden könne, müsse man eben auf Plenarsitzungen an diesem Tage verzichten. Busch übernahm hierzu aus der Enquete-Kommission Verfassungsreform den Vorschlag, die Beschlußfähigkeit des Parlaments zumindest bei der dritten Lesung eines Gesetzes immer von Amts wegen feststellen zu lassen. 7. Auf eine Frage von Heidkämpfer präzisierte Krüger seine These daß die Sozialstaatlichkeit im Hinblick auf die Staatspflege ambi­ valente Wirkung entfalte. Nur solange Sozialstaatlichkeit die Voraus­ setzung für eine soziale Sicherheit schaffe, die überhaupt erst Bürger­ tum ermögliche, habe sie eine sittliche Dimension und sei staatspflege­ risch unbedenklich. Auch bei solchem Verständnis reiche sie jedoch allein oder gemeinsam mit der Rechtsstaatlichkeit als Staatszielbestim­ mung nicht aus, um die Bürger im notwendigen Maße zur Staatshervor­ bringung anzustoßen. 8. Eine Ehrenrettung des „Befehlsstaates", den Pross in seinem Referat dem „Meinungsstaat" gegenübergestellt hatte, lieferte Busch mit einer Explikation der staatspflegerischen Bedeutung der Streit­ kräfte. Das politische Vorverständnis für die teilstaatliche Organisation „Streitkräfte" liege allein in der Funktionsfähigkeit einer Armee zur Erfüllung ihres Auftrages. Auch dort sei aber der freien Meinungs­ bildung Raum gegeben, wie die preußische Militärgeschichte zeige. Es gebe eine Fülle von Beispielen, in denen oberste preußische Generale ihren Rücktritt eingereicht hätten, um dort nicht weiter zu dienen, wo der Dienst zur Unehre gereichte. Das Korrektiv für den persönlichen Gehorsam sei die Ehre gewesen, an die auch der preußische König bei seinem Offizierscorps nicht herangekommen sei. Deshalb bestehe heute das vinculum zwischen Staat und Bürger als Objekt der Staatspflege nicht zuletzt in der allgemeinen Wehrpflicht unseres Staates.

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m. 1 . Pross nannte in seinem Schlußwort zwei Punkte, an denen die Selbstdarstellung des Staates vor allem verbessert werden müsse. Zum einen gehe es um größere „ Zugänglichkeit" des Staates, nicht nur im räumlichen Sinne, sondern auch im Sinne größerer Publikums­ freundlichkeit der staatlichen Amtsträger. Zum anderen gehe es darum, aus dem quantitativen Informationsüberfluß dem Bürger diejenigen Informationen gezielt zu vermitteln, die ihn unmittelbar betreffen, weil sie sich auf sein nächstes soziales Umfeld beziehen. 2. Krüger wies in seinem Schlußwort auf die besondere Schwierigkeit hin, die für die Staatspflege aus der akzelerierenden Inanspruchnahme des Menschen durch den Zwang zur sozialen Integration immer neuer technischer Veränderungen erwachse. Die Frage sei, ob Menschen, die sich mit einer ständig neuen Umwelt auseinandersetzen müssen, ,,nicht so absorbiert sind, daß sie irgendwo abschalten müssen, um nicht irgendwie wahnsinnig zu werden", und das, was sie abschalten, sei dann eben oft die Politik. Dieses vorgegebenen psychologischen Umstandes müsse sich alles staatspflegerische Bemühen heute bewußt bleiben.

Unbeabsichtigte Folgen staatlicher Selbstdarstellung als gesellschaftliches Stabilitätsrisiko Von Helmut Klages

L Wenn man von der „Selbstdarstellung" des Staates spricht, dann denkt man unwillkürlich vorrangig an die Verwendung staatlicher Symbole, an staatliche Repräsentanz, wie auch an staatliche Öffentlich­ keitsarbeit. Dieses auf bewußte Selbstdarstellungs-Handlungen des Staates zugeschnittene Begriffsverständnis, das sich in einer Reihe von Beiträgen zu dieser Tagung dokumentiert, hat seine guten Gründe. Die „Selbstdarstellung" des Staates vollzieht sich jedoch keineswegs nur als bewußte und intendierte, in Maßnahmen zum Tragen gelangende Tätigkeit. Vielmehr haben grundsätzlich, wie gestern nachmittag schon einige Male deutlich geworden ist, alle Existenz- und Handlungselemen­ te des Staates eine mehr oder weniger ausgeprägte Selbstdarstellungs­ bedeutung und -wirkung. Es gibt somit neben der intendierten und vom Staat her bewußt gestalteten auch eine nicht-intendierte, nicht bewußt gestaltete und oftmals nicht oder kaum kontrollierte staatliche Selbstdarstellung. Ich möchte die These aufstellen, daß diese Art der: staatlichen Selbstdarstellung durch die eigene Existenz und Verfassung wie auch durch das politische Handeln und Wirken hindurch an­ gesichts ihrer Wirkung auf das Staatsbild der Staatsangehörigen be­ deutender ist als die intendierte und bewußt gestaltete staatliche Selbst­ darstellung. Wir müssen von Anfang an in Betracht ziehen, daß es zwischen der intendierten und der nicht-intendierten staatlichen Selbstdarstellung fließende Übergänge gibt. Gehen wir davon aus, daß die nicht-inten­ dierte - oder sagen wir lieber: funktionale - staatliche Selbstdarstel­ lung vor allem über die Befriedigungswirkung staatlicher Leistungen und Programme, über das „Charisma" von Personen, über die Ver­ trauenswürdigkeit von Institutionen und über die Abschreckungs­ wirkung von staatsinternen Konflikten und Krisen vermittelt wird, dann sehen wir schon, daß dem Staat diesbezüglich keine „reine Un­ schuld" zukommt. Mit Leistungen und Programmen wird ja auch um Wählerstimmen geworben, Personen werden auch im Hinblick auf ih:ue

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Außenwirkung „herausgestellt" und Konflikte werden manchmal „in­ szeniert", um die eigene Position im Wahrnehmungsfeld politisch relevanter Zielgruppen zu verbessern. Angesichts der Komplexität des Staates sind Leistungen, Programme, Personen, Institutionen und Kon­ fliktvorgänge allerdings nur begrenzt im Hinblick auf Selbstdarstel­ lungswirkungen steuerbar. Selbstdarstellungsaktionen einzelner staats­ tragender Gruppen kreuzen sich mit denen anderer Gruppen und mischen sich überdies mit Handlungen, die sich aus „Sacherfordernissen" ableiten. So ergibt sich ein Wirkungsgefüge, das dem einzelnen Selbst­ darstellungsträger nur sehr bedingt verfügbar ist, ja das von ihm nur sehr bedingt durchschaut werden kann. Aus dem Geflecht der Motive und Zwecksetzungen, die am Werke sind, entsteht ein Selbstdarstel­ lungskonglomerat, das im ganzen von niemandem geplant, beschlossen, durchgeführt und verantwortet wird und dessen Folgen zumindest insofern unbeabsichtigt sind, als sie den Absichten, die im Spiele war�n, nicht entsprechen. Das kompakte Ursache-Wirkungs-Denken, das normalerweise im Hintergrund steht, wenn man sich mit staatlichen Selbstdarstellungs­ maßnahmen beschäftigt, muß also, sobald man sich der funktionalen Selbstdarstellung zuwendet, differenziert werden. Die Kausalstränge, die zwischen der Ursachenseite und der Wirkungsseite verlaufen, er­ scheinen hier aufgesplittert und in eine netzartige Struktur verwandelt. Hinzu kommt nun aber auch, daß die Rezipienten, die Bürger also, das Bild des Staates, das auf diese Weise entsteht, über Medien zugeführt erhalten, die vom politischen System selbst wenig kontrolliert werden. Literatur, Presse, Rundfunk und Fernsehen genießen bei uns den Sonderstatus freier Meinungsbildner. Ungeachtet vieler Querverbin­ dungen politischer Natur unterwerfen sie die Informationen, die ihnen der Staat im Wege der funktionalen Selbstdarstellung zuspielt, einem Selektionsvorgang, der immer in irgend einer Weise „gerichtet" ver­ läuft. Bei dieser „gerichteten" Informationsausfilterung und -hervor­ hebung - beide Seiten sind in Betracht zu ziehen - spielen die politische Orientierung, die fachlich-intellektuelle Qualifikation und die problembezogene Meinung der Autoren und Redakteure eine Rolle. Daneben wird von den Medienverantwortlichen meist auch der „Auf­ merksamkeitswert" von Informationen in Betracht gezogen und als Entscheidungsgrundlage für deren Aufnahme oder Weglassung ver­ wendet. Dabei kommen nun aber Vermutungen oder reale Kenntnisse über die Informationsinteressen und -erwartungen der Adressaten ins Spiel. Die als „König Kunde" auftretenden Bürger nehmen auf diesem Umweg ungewollt und indirekt und grundsätzlich ohne ihr Wissen Einfluß auf die Selbstdarstellung des Staates, auf das Staatsbild also, das ihnen dann wiederum selbst vor Augen geführt wird.

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Der erweiterte Ausblick auf die staatliche Selbstdarstellung, dem wir hier auf der Spur sind, ist noch nicht vollständig. Neben der Eigen­ komplexität des politischen Systems und der Selektionswirkung der Medien muß er drittens auch noch die unmittelbare Mitwirkung der Rezipienten, der „Bürger" also, berücksichtigen, um realistisch zu werden. Der Bürger wirkt nicht nur an der staatlichen Selbstdarstellung mit, indem er den Medien und den Parteien Vermutungen über das vermittelt, was „ankommt" und somit herausgestrichen oder unter­ drückt werden muß. Wie das bei den Menschen wirksame Staatsbild oder Staatsimage letztlich aussieht, entscheidet sich vielmehr in der „Rezeption" dessen, was an Informationen über die Medien vermittelt wird. Wie uns die bei den Medien ansetzende „Wirkungsforschung" zeigt, kommen dabei nochmals „Selektions"-, d. h. Ausfilterungs- und Hervorhebungsvorgänge ins Spiel. Man liest, sieht und hört vorwiegend das, was die eigenen Interessen „betrifft", was also für das eigene Leben „relevant" ist. Neben Ausfilterungen und Hervorhebungen eige­ ner Art finden sich bei den Rezipienten aber auch mehr oder weniger ,,fertig" vorgeprägte Interpretationsmuster, durch die das Wahrge­ nommene eine bestimmte Bedeutung oder Färbung erhält. Wie das, was man am Staat wahrnimmt, gefärbt ist, wird nun erstens in starkem Maße durch den Vergleich der „Ansprüche" an den Staat mit der gegebenen und für die Zukunft erwartbaren Realität bestimmt. Zweitens spielt ein Faktor mit, den man als „Vertrauen" bezeichnet. Natürlich beeinflußt der Staat das „Anspruchsniveau" der Menschen ihm gegenüber selbst mit, indem er - gewollt oder un­ gewollt - eine Selbstdarstellung betreibt, die zur Erhöhung des Anspruchsniveaus ermutigt oder die den umgekehrten Effekt auslöst. Er beeinflußt auch das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird, indem er sich in seinen Existenz- und Handlungsäußerungen - über die Vermittlung der Medien - als solide, potent, stabil und konsolidiert oder aber als gebrechlich, konfliktbeladen, krisenbedroht und hand­ lungsunfähig „darstellt". II, Es wird an dem Punkt, den wir hier erreicht haben, möglich, die durch den Titel dieses Vortrages nahegelegte Frage aufzuwerfen, wieso eigent­ lich „unbeabsichtigte Folgen staatlicher Selbstdarstellung" zu einem „gesellschaftlichen Stabilitätsrisiko" werden können. Generell kann hierzu festgestellt werden, daß die Stabilität eines Gemeinwesens grund­ sätzlich mit davon abhängt, ob ein Gleichgewicht zwischen den an den Staat gerichteten Ansprüchen und den Erwartungen vorhanden ist, die man hinsichtlich der Erfüllung dieser Ansprüche hegt, und ob ein ausreichendes Maß an Staatsvertrauen gegeben ist. Die beiden

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Dinge hängen eng zusammen ; denn leben die Menschen im Gefühl oder Bewußtsein eines solchen Gleichgewichts, dann werden sie normaler­ weise auch ein verhältnismäßig hohes „Vertrauen" in den Staat setzen. Dieses Vertrauen hat aber noch eine andere, eine gewissermaßen „historische" Grundlage, die man in der Wissenschaft mit dem Begriff der „politischen Kultur" zu fassen versucht. Grob gesagt sind Menschen, die zu ihrem Staat ein intensives, von konkretem Interesse und aktiver Mitwirkungsbereitschaft bestimmtes Verhältnis haben, dazu bereit, ihm in schwierigen Situationen, dann nämlich, wenn sich Widersprüche zwischen Ansprüchen und Erwartungen einstellen, einen Vertrauens­ vorschuß zu geben. Menschen, die zu ihrem Staat ein „schwaches", von Uninteressiertheit und Passivität gekennzeichnetes Verhältnis haben, entwickeln demgegenüber eine schwache und labile, jederzeit zerfalls­ fähige Vertrauensfähigkeit, die leicht in Mißtrauen und Angst um­ schlägt, wenn Probleme oder Fehlschläge drohen oder eintreten, von denen man sich „betroffen" fühlt. Mißtrauen und Angst verbinden sich aber unmittelbar mit „Frustrations"-Gefühlen gegenüber dem Staat (oder doch zumindest gegenüber den jeweils Regierenden), sobald man nur das Gefühl haben kann, dort die „Verantwortlichen" für eine Misere, in der man sich selbst befindet oder zu befinden glaubt, finden zu können. Wo aber erst einmal Frustrationsgefühle vorzuherrschen be­ ginnen, ist grundsätzlich auch der Weg frei für negative Reaktionen, d. h. für die Entwicklung von Ressentiment, von Unlust und ständiger Vorwurfshaltung, für die Aufkündigung der politischen Folgebereit­ s�haft und Legitimitätsgewährung, für Protestwählertum und anar­ chische Selbsthilfeaktivität, für die Ablehnung verantwortlicher Mit­ wirkung, für die Zurückweisung staatsbürgerlicher Pflichten und für die Übernahme von Ideologien, welche dies alles rechtfertigen. Das Staatsimage, das Bild, das die Menschen vom Staat haben, wirkt dabei als Auslöser und als Verstärker, wobei besonders fatal ist, daß die „politische Kultur" , d. h. also das Verhältnis der Menschen zum Staat, schon wesentliche Grundzüge dieses Bildes vorwegbestimmt. Uninteressiertheit und Passivität begünstigen in besonderem Maße die Einschnürung des Staatsbilds auf eine Ansammlung von „highlights" mit dramatischem Aufmerksamkeitswert, die nun ihrerseits insbesondere in Problemsituationen zu einer Quelle von ständigen Informations­ schocks werden, aus denen sich eine kontinuierliche Mißtrauenshaltung und Angstneigung aufzubauen vermag. Menschen, die dem Staat un­ interessiert und passiv gegenüberstehen, sind somit tendenziell auch mißtrauische und ängstliche Bürger, deren Vorstellungen hinsichtlich dessen, was vom Staat zu erwarten ist, verhältnismäßig pessimistisch Hegen und die in übertriebenem Maße gegenüber Informationen, welche Pröbleme aufzeigen, empfindlich sind.

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m Man mag nun fragen, welche Bedeutung solche Modellüberlegungen für die politische Wirklichkeit in der Bundesrepublik haben. Dabei mag unwillkürlich der Gedanke ins Spiel kommen, daß die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland über eine längere Reihe von Jahren hinweg von einer relativ hohen Stabilität gekennzeichnet gewesen seien, die z. B. an den verhältnismäßig geringen Streikaktivitäten wie auch an einer niedrig liegenden Zahl der politischen Morde ablesbar sei. Entstabilisierende Folgen staatlicher Selbstdarstellung im Sinne problematischer Wirkungen staatlicher Existenz- und Handlungsäuße­ rungen im Wahrnehmungsbild der Bürger scheinen von daher nur eine geringe Rolle zu spielen. Länder wie Italien oder Großbritannien, die von heftigen politischen und ökonomischen Krisen geschüttelt werden, scheinen in dieser Hinsicht viel dankbarere Beobachtungsobjekte zu sein. Gegenüber einer solchen plausibel klingenden Annahme muß nun allerdings angesichts der Ergebnisse der empirischen Forschung Wider­ spruch angemeldet werden. Wie sich aus einer Vergleichsstudie ablesen läßt, die zu Anfang der 60er Jahre von den Amerikanern Almond und Verba in 5 Ländern durchgeführt wurde, war jedenfalls zu dieser Zeit die Problematik der funktionalen staatlichen Selbstdarstellung durchaus aktuell. Es zeigte sich damals, daß in der Bundesrepublik viel weniger Menschen als in Großbritannien und in den USA auf dem Standpunkt standen, der Durchschnittsmensch solle am politischen Leben seiner Gemeinde aktiv teilnehmen. Im Gegensatz zur Bevölkerung dieser Länder meinte die Mehrzahl der befragten Bundesbürger, sie würden persönlich niemals versuchen, Einfluß auf ihre Regierung zu nehmen. Es ließ sich an diesen und anderen Indikatoren ablesen, daß die Aktivitätsbereitschaft der Menschen gegenüber dem politischen System in der Bundesrepublik deutlich niedriger war als in Großbritannien und in den USA. Aber es ließ sich noch etwas anderes feststellen: Im Gegensatz zu Großbritannien und den USA war in der Bundesrepublik nur eine Minderheit der Befragten der Auffassung, man könne gegen ungerechte administrative Entscheidungen auf der örtlichen oder über­ örtlichen Ebene etwas unternehmen. Neben einer ausgeprägten Passivi­ tät stand also auch eine beträchtliche Mißtrauenskomponente. Zusätzlich fanden die amerikanischen Forscher heraus, daß in den USA 85 °/o und in Großbritannien 63 °/o, in der Bundesrepublik aber nur 7 °/o der Befragten auf die politischen Institutionen des Landes „stolz" waren und darin eine Bereitschaft zur Identifikation mit den Strukturen und Einrichtungen des politischen Systems offenbarten. Aus weiteren In­ formationen, die eine weitverbreitete Unkenntnis und Uninteressiert­ heit bezüglich der spezifischen Merkmale der demokratischen Insti-

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tutionenwelt sichtbar werden ließen, folgerten die amerikanischen Forscher, die Deutschen hätten ein verhältnismäßig äußerliches Ver­ hältnis zu ihrem Staat. Insgesamt, so stellten sie fest, seien die Deut­ schen in erster Linie am „output" des politischen Systems, also am aktuellen Ausstoß von Programmen und Leistungen interessiert, und sie seien auch bereit, eine hohe Output-Effektivität durch Zufriedenheit mit den gegebenen Verhältnissen zu honorieren. Die Deutschen hätten jedoch, wie die Amerikaner fortfuhren, mehrheitlich kein intensives Verhältnis zum politischen System selbst, zu seinen Institutionen, zu seinen Spielregeln, zu seinen Arbeits- und Funktionsbedingungen und zu seinen Problemen. Sie würden vielmehr eine hochgradig pragma­ tische, unverbindliche und nahezu „zynische" Einstellung zur Politik zur Schau stellen, die für die Stabilität der Demokratie in der Bundes­ republik Schlimmes befürchten lassen müsse, falls einmal Krisenzeiten eintreten sollten. Legt man die Forschungsergebnisse dieser Studie zugrunde, dann ergibt sich hinsichtlich der funktionalen Selbstdarstellung des Staates und ihrer möglichen Folgen überraschenderweise eine verhältnismäßig negative Diagnose. Das Vertrauen in den Staat, so besagen diese Er­ gebnisse nämlich, hing Anfang der 60er Jahre in der Bundesrepublik überwiegend von der Wahrnehmung der aktuellen Befriedigungswir­ kung staatlicher Leistungen und Programme ab, da die „politische Kultur", d. h. also die „historisch" bedingte Einstellungsgrundlage, kaum ein aktiv-vertrauensvolles Verhältnis zum Staat einschloß. Anders ausgedrückt läßt sich aufgrund der Ergebnisse der Studie feststellen, daß die gesellschaftliche Stabilitätsgrundlage des Staates in der Bun­ desrepublik vom jeweiligen Verhältnis zwischen den an den Staat gerichteten „Ansprüchen" und den „Erwartungen" hinsichtlich der Erfüllung dieser Ansprüche, oder, genauer gesagt, vom „Bild", das man sich hinsichtlich der Erfüllbarkeit von Ansprüchen machte, und von der entsprechenden Selbstdarstellungswirkung des Staates abhing, d. h. also an einem „seidenen Faden" schwebte. Man muß sich nun natürlich fragen, ob die Ergebnisse dieser Studie auch heute noch aktuell sind oder ob nicht vielmehr die zwischen­ zeitliche gesellschaftliche und politische Entwicklung die Selbstdarstel­ lungssituation des Staates verändert habe. Man muß sich insbesondere fragen, ob denn nicht die langjährige Prosperität der 60er und beginnen­ den 70er Jahre als „Leistung" staatlicher Selbstdarstellung gewürdigt und wirksam werde und eine neue „politische Kultur" aufgebaut habe. Man muß in diesem Zusammenhang weiter an den Ausbau des Sozial­ staates denken, der sich in diesem Zeitraum abgespielt hat und der der Bevölkerung der Bundesrepublik u. a. mehr Bildung, verbesserte Arbeitsbedingungen, mehr Mitbestimmung, eine verkürzte Arbeitszeit,

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verbesserte Freizeitchancen und eine gravierende Verbesserung der medizinischen Versorgung gebracht hat. Auch diese Entwicklung könnte oder sollte eigentlich, so mag man meinen, das Verhältnis der Bürger zum Staat gewandelt haben und den Staat hinsichtlich der Bedingungen seiner funktionalen Selbstdarstellung in eine verbesserte Situation ver­ setzt haben. Man könnte versucht sein, zum Beleg einer solchen Vor­ stellung darauf hinzuweisen, daß die Ölkrise ja schließlich keine be­ sonderen gesellschaftlichen Stabilitätsprobleme mit sich gebracht habe und daß sich schon hierin die Diagnose der beiden Amerikaner wider­ lege. Ich möchte versuchen, die Frage, die sich hier auftut, aufgrund aktueller Daten, die aus der Umfrageforschung stammen, zu beant­ worten. Ich möchte dabei zunächst auf einige Ergebnisse hinweisen, welche in der Tat auf einen Wandel der politischen Kultur hinzudeuten scheinen. Dabei muß an erster Stelle die Tatsache erwähnt werden, daß sich während der Jahre, die bis heute seit der Studie von Almond und Verba verstrichen sind, eine fast gradlinige Erhöhung des in der Bevölkerung vorhandenen „Interesses an Politik" abgezeichnet hat. Während das Institut für Demoskopie in Allensbach im Jahre 1960 nur 27 °/o der Befragten auf die Frage „Interessieren Sie sich für Politik?" ein „Ja" entringen konnte, antworteten im Jahre 1973 schon 49 °/o der Befragten mit „Ja". Mit dem gesteigerten politischen Interesse ging, wie Ergebnisse desselben Instituts zeigen, auch eine Annäherung an gewisse demokratische Grundvorstellungen Hand in Hand. Im Jahr 1960 lag das zahlenmäßige Verhältnis der Menschen, die sich für pluralistische politische Verhältnisse aussprachen, gegenüber denen, die autoritären Lösungen zuneigten, bei 62 : 21. Dieses Verhältnis lag im Jahre 1972 bei 66 : 20, was eine langsame aber dennoch spürbare Ver­ stärkung der schon 1960 sehr starken pluralistischen Einstellungs­ komponente erkennen läßt. Nun aber die Gegenrechnung, die damit beginnen muß, daß sich in der Zeit seit 1960 die Zahl derer, die nachweislich dazu bereit waren, sich im politischen Bereich aktiv zu engagieren, nicht vermehrt hat. Ähnlich wie 1960 waren es 1973 nur 3 0/o der Befragten, die angaben, sich auf irgendeine Weise aktiv politisch zu betätigen, während der überwältigende Rest dies verneinte. Wachsendes „Interesse" für Politik blieb also mit Passivität gekoppelt. Das Bild wird jedoch noch problematischer, wenn man zur Kenntnis nimmt, daß innerhalb des Zeitraums, den wir betrachten, in der Bevölkerung der Bundesrepublik durchschnittlich gesehen eine wachsende Nei­ gung zu grundsätzlich gelagerter Kritik an den bestehenden Verhältnissen eingetreten ist. Auf die vom EMNID-Institut gestellte Frage, ob die Gesellschaftsordnung „gerecht" sei, ob es benachteiligte

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Menschen gebe, oder ob eine gänzlich „ungerechte" Ordnung bestehe, entschieden sich 1967 29 0/o der Antwortenden für die Antwortkategorie ,,gerecht". 54 0/o meinten, daß es Menschen gebe, die benachteiligt seien, während 8 0/o erklärten, daß eine „ganz ungerechte" Ordnung bestehe. Im Jahre 1974 hatten sich die Zahlenwerte, die sich bei der Beant­ wortung derselben Frage einstellten, deutlich ins Negative verschoben. Nur noch 19 0/o der Befragten entschieden sich für die Antwortkategorie ,,gerecht", während die beiden kritischen Kategorien mit 63 0/o bzw. 10 0/o der Antworten besetzt waren. Ähnliche Verschiebungen stellten sich ein, wenn z. B. nach der Chancengleichheit von Frauen und Männern gefragt wurde. 1967 meinten 40 0/o der Befragten, Frauen hätten in der Bundesrepublik die gleichen Chancen wie Männer, 1972 waren es bei einer vom Allensbacher Institut durchgeführten Wiederholungs­ befragung nur noch 21 0/o, die diese Meinung hatten, während sich die entgegengesetzte Auffassung, Männer würden bevorzugt, von 44 auf 64 0/o der Befragten erhöht hatte. Dieselbe Negativtendenz ergab sich bei Sondierungen in den Tiefen­ schichten des Verhältnisses der Bevölkerung zu den herrschenden politischen Eliten. Solange wir uns nur die Entwicklung der Populari­ tätsindices einzelner Politiker vor Augen führen, fällt uns diesbezüglich nichts Besonderes auf. Wir finden nur individuelle Niveauunterschiede und Schwankungen, wobei die Verluste eines Politikers meist durch Gewinne eines anderen aufgewogen werden. 1970 wurde aber vom Allensbacher Institut die provozierende Frage gestellt: ,,Man hört oft die folgende Meinung : Bei uns kann zwar jeder alle Jahre mal wählen, aber im Grunde kümmern sich die Politiker doch gar nicht darum und tun doch nur das, was sie wollen. Würden Sie sagen, das stimmt voll und ganz, teilweise oder stimmt nicht? " 22 0/o der Befragten stimmten „voll und ganz", 52 0/o der Befragten „teilweise" zu - eine enorme Menge von Menschen also, die insgesamt drei Viertel der Befragten ausmachten. Im Jahr 1971 hatte sich jedoch bei einer Wiederholungsbefragung der Prozentsatz der ganz oder teilweise Zustimmenden noch weiter an­ gehoben. Er lag nunmehr bei 25 0/o bzw. 58 0/o und war insgesamt auf 83 0/o der Befragten hochgeklettert. Angesichts dieser Entwicklung wundert es einen schon kaum mehr, daß innerhalb der letzten Jahre der Prozentsatz der Menschen, die meinten, ,,Klassenkampf" sei not­ wendig, ständig anstieg und wenn immer mehr Menschen den Wunsch nach der Herstellung „sozialistischer Gesellschaftsverhältnisse" aus­ drückten, womit sie allerdings offensichtlich nur gerecht geordnete, die Ansprüche des einzelnen angemessen berücksichtigende Verhältnisse meinten. Wenn ich dazu ansetze, solche sehr nachdenklich stimmenden Ergeb­ nisse zu interpretieren, dann muß ich eine Einschränkung voraus-

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schicken: Die empirischen Daten, über die wir augenblicklich verfügen, sind unvollständig und lückenhaft. Man muß sie mit Mühsal aus den Archiven und Einzelveröffentlichungen verschiedener Umfrageinstitute zusammensuchen und wird auch dann immer wieder auf Dunkelfelder und diffuse Zonen stoßen. Dies liegt u. a. auch daran, daß die Pro­ blematik, um die es in diesem Vortrag geht, bisher kaum mit der wünschenswerten Eindeutigkeit gesehen und behandelt worden ist, so daß kein entsprechender Datenbedarf geltend gemacht werden konnte. Wenn wir uns jedoch von den bestehenden Begrenzungen nicht schrecken lassen, sondern den Mut zu einer Interpretation aufbringen, die sich vorerst mit einer verbesserungsfähigen empirischen Grundlage zufrieden gibt, dann können wir folgendes sagen: Die Aktualität der Untersuchungsergebnisse von Almond und Verba aus dem Jahre 1960 ist keineswegs geschwunden. Die Bevölkerung steht dem Staat auch heute noch mehrheitlich passiv und verhältnismäßig distanziert gegen­ über. Sie besitzt, wie man folgern kann, nach wie vor ein Staatsbild, in welchem aktuelle Leistungen und Angebote im Vordergrund stehen, und sie hat somit, wie man weiter folgern kann, ein Staatsvertrauen, welches von einem Gleichgewicht zwischen den aktuell an den Staat gerichteten Ansprüchen und den erlebten oder erwarteten Erfüllungen abhängt. Im Gegensatz zum Jahr 1960, in welchem dieses Gleichgewicht offenbar bestand, entwickelt sich nun aber seitdem trotz Prosperität und Sozialstaatsausbau ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen Ansprüchen und Erwartungen, das sich in einem anschwellenden Miß­ trauen und in einer zunehmenden Kritikneigung niederschlägt. Das wachsende politische „Interesse" verliert vor diesem Deutungshinter­ grund seinen scheinbar positiven Charakter und fügt sich - zumindest teilweise - selbst in ihn ein. Wir haben Grund für die Annahme, daß dieses „Interesse" in erster Linie ein Indikator für das Gefühl wachsen­ der Betroffenheit durch den Staat und für eine Aufmerksamkeits­ zuwendung ist, die aber nicht staatsbürgerlicher Beteiligungsbereitschaft im Sinne der Demokratietheorie entspringt, sondern dem Bewußtsein einer ansteigenden Relevanz des Staates für die Verwirklichung eigener Ansprüche, wie auch der Angst vor Schädigung oder Benachteiligung und dem Mißtrauen denen gegenüber, die verfügen und anordnen. Wer entdeckt oder zu entdecken glaubt, daß er von einem anderen etwas zu erwarten hat, das ihm zusteht, wird ihm unwillkürlich mehr „Interesse" schenken. Dieses „Interesse" wird sich noch steigern, wenn zu befürchten ist, der andere könnte einem etwas vorenthalten. So oder ähnlich scheinen die Dinge weitverbreitet auch im Großen zu liegen. Es würde gewaltsam sein, das wachsende politische Interesse ausschließlich so zu interpretieren, aber es wäre pure Selbsttäuschung, wenn man die Einschlägigkeit einer solchen Interpretation ablehnen wollte. 6 Speyer 63

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Nun, wenn man erst einmal eine Deutung neuen Typs in der Hand hat, sieht man die Welt in einem veränderten Licht, Auch diejenige Deutung, die ich eben entwickelt habe, beleuchtet die Tatsachen auf eine bestimmte Weise. Viele Dinge, die man vielleicht eben noch anders interpretieren wollte, fügen sich dann dem neu entstehenden Bild ein und reichern es weiter an. So „fügt" sich z.B. die Tatsache gut in das skizzierte Bild, daß die allgemeine Lebenszufriedenheit der Bevölke­ rung, wie wir aus Umfragen schließen können, noch bis gegen Ende der 60er Jahre wuchs, um dann aber zu stagnieren und endlich - noch vor der Ölkrise - rückläufig zu werden. Ebenso fügen sich aber au·ch gänzlich andersartige Fakten wie z.B. die Tendenz zu einer wachsenden Zahl von Bürgerinitiativen, die wir seit dem Ende der 60er Jahre beobachten können, in dieses Bild. Von der hier vorgetragenen Deutung her gesehen sind die Bürgerinitiativen weder begrüßenswerte Lebens­ regungen des aus der Apathie erwachenden „mündigen" Staatsbürgers noch verdammenswerte Ausgeburten linker Systemzerstörung, sondern defensive Akte pragmatischer Selbsthilfe, die zur Abwehr vermuteter oder drohender Störungen oder Schädigungen in Anbetracht eines zur Interessenwahrnehmung nicht ausreichend fähigen Staates unternom­ men werden. Ebenso wie die uns Hochschullehrern wohlbekannte Jugendunruhe fügen sich aber noch zusätzliche Phänomene in dieses Bild, so z, B. die ansteigende Kriminalitätsrate und die Zunahme des Drogen- und Alkoholkonsums. Alle diese Erscheinungen, die man mit dem Sammelnamen „Anomie" (wörtlich: Normlosigkeit) belegen kann, lassen sich als vorpolitische Reaktionen auf tiefgreifende Ungleich­ gewichte zwischen persönlichen Aspirationen und faktischen Gegeben­ heiten und Aussichten begreifen. Prosperität und Sozialstaatsausbau haben, so kann man abkürzend zusammenfassen, paradoxerweise im Endeffekt dazu beigetragen, die „subjektive Lebensqualität" zu senken und eine Tendenz zur „Unregierbarkeit" zu fördern, welche schwer­ wiegende gesellschaftliche Stabilitätsprobleme und -gefahren mit sich bringt. IV. Resümieren wir kurz: Wir sind am Anfang dieses Vortrags von der Unterscheidung zwischen einer intendierten, in Maßnahmen zum Aus­ druck gelangenden und einer nicht-intendierten oder funktionalen staatlichen Selbstdarstellung ausgegangen. Diese nicht-intendierte staat­ liche Selbstdarstellung vollzieht sich, wie wir festgestellt haben, über die Entstehung eines Staatsbildes, zu der grundsätzlich alle staatlichen Existenz- und Handlungsäußerungen des Staates beitragen, die aber durch Medien gefiltert und durch Wahrnehmungsmuster, die bei den Rezipienten vorhanden sind, beeinflußt wird. Wie diese Wahrneh-

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mungsmuster aussehen, hängt, wie wir sagten, erstens davon ab, inwieweit der Staat dazu in der Lage ist, eine gegenseitige Angleichung von Ansprüchen und Erwartungen zu vollbringen. Zweitens spielt aber auch, so stellten wir fest, eine Rolle, ob und inwieweit dem Staat Vertrauen entgegengebracht wird. Je weniger konsolidiert, so sagten wir, die Vertrauensgrundlage ist, desto mehr ist das Staatsbild von der aktuellen Staatsleistung, genauer gesagt: vom Ausgleich von An­ sprüchen und Erwartungen, abhängig. Für die Bundesrepublik stellten wir ein Vertrauensdefizit mit historischer Tiefendimension, gleichzeitig aber auch eine wachsende, zur Prosperität und zum Sozialstaatsaus­ bau in flagrantem Widerspruch stehende Unzufriedenheit mit dem Staatsoutput fest. Diese Unzufriedenheit wird, wie wir zuletzt noch sagten, von Mißtrauen, gleichzeitig aber auch von einer wachsenden Neigung zu „anomischem" Verhalten begleitet. Diese Problemdiagnose ist nun natürlich noch sehr grob. Sie weist insbesondere eine Reihe von Punkten auf, an denen die kausalen Verknüpfungen zwischen den Größen, die in Beziehung gebracht werden, noch nicht eindeutig genug sichtbar sind. Was hat, so könnte man z. B. einwenden, eine abnehmende Lebenszufriedenheit denn eigentlich mit dem Staat zu tun? Und inwiefern kann man überhaupt Tendenzen zur „Anomie" dem Staat (oder: dem Verhältnis der Menschen zum Staat) in die Schuhe schieben? Sind das nicht vielmehr zwei oder mehrere Paare Stiefel? Spielen hier nicht staatsexterne Faktoren wie die allgemeine Wirtschaftsentwicklung eine entscheidende Rolle? Ist nicht vielleicht die Wirtschaftswerbung verantwortlich zu machen? Hat man nicht primär an die Rolle der freien Medien oder auch an die von Ideologien zu denken, durch die den Menschen falsche Leitbilder und Wertorientierungen vermittelt werden? In der Tat müssen wir unsere Diagnose an einigen Punkten differen­ zieren und mit einem verstärkten Auflösungsvermögen ausstatten, wenn wir zu einem kompletten und tragfähig durchstrukturierten Bild ge­ langen wollen. Man wird bei einer solchen differenzierenden Diagnose zunächst davon auszugehen haben, daß ganz offenbar die gesellschaft­ liche Befriedigungswirkung der Prosperität (oder, wie man heute allgemein sagt : des ökonomischen Wachstums) seit dem Ende der 60er Jahre im Abnehmen gewesen ist. Für diese Tatsache, die sich aus einer Reihe von Indikatoren erschließen läßt, gibt es heute zwei Deutungsmodelle. Dem ersten Deutungsmodell zufolge war die Be­ völkerungsmehrheit der Bundesrepublik gegen Ende der 60er Jahre an einem Punkt angelangt, an dem ihre materiellen Wohlstandsbe­ dürfnisse so weitgehend „abgesättigt" waren, daß das weiterlaufende Wachstum nur noch „sinkende Ertragszuwächse" (d. h. aber auch: sinkende Zufriedenheitsgewinne) erbringen konnte. Die Bevölkerung

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fand, diesem Modell zufolge, in dieser Situation aufgrund verharschter Strukturen nicht die Chance, zur Befriedigung „höherer" Bedürfnisse (so z.B. latenterBedürfnisse nach politischer Partizipation) überzugehen. Deshalb kam es dann auch zu wachsender Anomie und zunehmender Systemkritik. Dem zweiten Deutungsmodell zufolge ist die sinkende Befriedigungs­ wirkung der Prosperität grob gesagt damit zu erklären, daß die Aspirationen schneller wuchsen als die faktischen Befriedigungsmöglich­ keiten, so daß eine „Schere" zwischen dem, was man erhoffte und verlangte, und dem, was man hatte und erwarten konnte, entstand, die sich zunächst in stagnierender Zufriedenheit, dann in wachsender Unzufriedenheit niederschlug. Diesem Modell zufolge, dem ich selbst eindeutig zuneige, war der Staat von den Folgen der subjektiven Verarmung inmitten der Prosperität insofern mitbetroffen, als er sich zunehmend als Garant der Wirtschaftsentwicklung dargestellt hatte. Diese Neigung des Staates, sich im Zusammenhang mit seiner Ziel­ setzung und Aufgabendefinition die Verantwortung für den Wohlstand zuzurechnen, kann nicht mit einzelnen Parteien identifiziert werden. Sie war während der Phase der Großen Koalition bereits deutlich ausgeprägt, wuchs jedoch beim Regierungsantritt der Sozial­ liberalen Koalition weiter an. Die Tatsache, daß der Zufrieden­ heitsabschwung 1969 besonders spürbar war, daß um diese Zeit Alkoholismus und Drogenkonsum in die Höhe schnellten, daß gleich­ zeitig aber auch Bürgerinitiativen, Jugendunruhen und Wehrdienst­ verweigerungsanträge Höhepunkte erreichten, verliert, wenn wir diesen Faktor würdigen, ihren Zufälligkeitscharakter. Wenngleich der Staat für die anwachsenden Enttäuschungsgefühle natürlich keineswegs wirk­ lich verantwortlich war, wurde er für viele unvermeidlicherweise zum Sündenbock. Er hatte nämlich, ohne dies zu wollen und zu wissen, mit dem forcierten Bekenntnis zur Sicherstellung von Daseinsvorsorge und Lebensqualität eine Selbstdarstellung betrieben, die ihn in die Risiko­ zone des Ressentiments aufgrund unerfüllter Wünsche und Ansprüche schob. Er machte sich damit zum probaten Adressaten für Schuldzu­ rechnungen, wie sie immer dann, wenn berechtigt erscheinende Hoff­ nungen unerfüllt bleiben, in der Luft liegen. Das Bekenntnis zur umfassenden staatlichen Daseinsvorsorge und zur staatlichen Sicher­ stellung der Lebensqualität hatte, pointiert ausgedrückt, in einer Situation abnehmender „subjektiver" Befriedigungserfahrungen die unbeabsichtigte Folge, daß sich das Staatsbild verdunkelte und daß Mißtrauen, Kritik und Feindseligkeit gegen den Staat um sich zu greifen begannen. Fakten und Deutungen dieser Art erscheinen uns paradox und müssen dies wahrscheinlich sogar tun, weil sie gewohnte Schemata der Ver-

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knüpfung von Ursachen und Wirkungen auf den Kopf stellen (weil sie also „kontra-intuitiv" sind). Zwar gibt es im Sprichwortgut älterer Zeiten eine Fülle von Feststellungen, in denen solche Paradoxa ein­ gefangen und dem Schatz des alltäglichen Erfahrungswissens zuge­ schlagen wurden, aber wir haben diese Feststellungen weitgehend ver­ gessen. Wenn wir sie hören, neigen wir dazu, in ihnen den Ausfluß ärmerer Zeiten zu sehen, die wir anscheinend eben durch die ökono­ mische Expansion und die Sozialstaatsentwicklung überwunden haben. Wenn man so will, dann zwingen die Dinge, die als Paradoxa erscheinen, also zu einem Durchbruch zu weit zurückreichenden, situationsüber­ greifenden Wissensbeständen, um in ihrer „Logik" erkannt und ver­ ortet werden zu können. Nicht-intendierte negative Folgen staatlicher Selbstdarstellung lassen sich nun aber nicht nur auf der Ebene der staatlichen Zielsetzung und Aufgabendefinition feststellen. Vielmehr lassen sich - auch und gerade dann, wenn man die „kritische" Periode der ausgehenden 60er und der beginnenden 70er Jahre ins Auge faßt - zusätzliche, den ohnehin schon vorhandenen Trend noch weiter verstärkende Wirkungen identifizieren, die eine andere Ursache haben. Was ich meine, läßt sich von der Tatsache her erschließen, daß „der Staat", von dem ich bisher mit pauschaler Vereinfachung im Singular gesprochen habe, nicht als eine monolithische Einheit verstanden werden darf. Er schließt vielmehr unserem Demo­ kratieverständnis zufolge ein „pluralistisches" Gefüge miteinander in Konkurrenz stehender Parteien und Verbände ein. Wir betrachten es auch, wie gestern schon gesagt wurde, als Normalbestandteil der demokratischen Verfassungswirklichkeit, daß Parteien und Verbände um die „Wählergunst" werben, und wir gehen davon aus, daß eben dadurch die Berücksichtigung der Bürgerbedürfnisse und -interessen im politischen System garantiert wird. Das Werben um die Wähler-, Anhänger- und Mitgliedergunst hat nun allerdings auch zur Folge, daß trotz aller sonstigen Rigidität gewisse Forderungen und Schuld­ zurechnungen, die sich von außen an den Staat richten, insbesondere dann, wenn ihnen politisches Gewicht zugemessen wird, mit einer sehr hohen und spontanen Akzeptanz im politischen System rechnen können, auch wenn sich in diesen Forderungen und Schuldzurechnungen nicht reale „Bedürfnisse" und Mängellagen, sondern vielmehr vielleicht nur die Reflexe eines unausgeglichenen Wachstums von Aspirationen und Erfüllungsmöglichkeiten niederschlagen. Anders ausgedrückt neigen ,,pluralistische" Systeme, die auf dem Prinzip der Parteien- und Ver­ bands-Konkurrenz aufbauen, unter bestimmten Bedingungen zu einer überdimensionierten und hypersensiblen Übersetzung von psychischen Problemlagen, die in der Gesellschaft auftreten, in politische Ver­ bindlichkeiten und Programmatiken. Dabei tritt jedoch der Effekt auf,

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daß sich die auf Verantwortlichkeitsübernahme zielende Selbstdarstel­ lung des Staates noch weiter zuspitzt und in einer pointierten Form artikuliert. Der Staat erscheint dann nicht nur als der Zuständigkeits­ monopolist für Lebenschancen, sondern auch als diejenige Instanz, die man ansprechen muß, um den Weg des geringsten Widerstandes ein­ zuschlagen (als die Instanz nämlich mit der maximalen Akzeptanz­ bereitschaft). Damit ermutigt der Staat aber letztlich zu der ange­ sprochenen Tendenz, ihm die Verantwortung für abnehmende subjektive Befriedigungserfahrungen, die auf den nicht aus der Welt zu schaffen­ den Abstand zwischen dem Wünschbaren und dem Möglichen zurück­ gehen, zuzuschieben. Der Staat ermutigt damit, verkürzt ausgedrückt, utopisches Ressentiment, und er legitimiert es auch, indem Unerfüllbar­ keiten von Parteien und Verbänden um der Gewinnung der Wähler-, Anhänger- und Mitgliedergunst willen aufgegriffen und zu Gegen­ ständen der Politik transformiert werden. Alle diese Vorgänge finden sich in der kritische Periode der ausgehenden 60er und der beginnenden 70er Jahre in der Bundesrepublik in meßbarer Verdichtung - ich will und muß es mir versagen, darauf hier im einzelnen einzugehen. Im gewissen Sinne bin ich eben schon wieder in die Gewohnheit ver­ fallen, von „dem Staat" im Singular zu sprechen. Zumindest besteht die Möglichkeit, den „pluralistischen" Charakter eines demokratischen politischen Systems westlichen Verständnisses noch schärfer zu fassen, als ich es eben getan habe. Wenn wir dieses tun, entdecken wir weitere Möglichkeiten für die Absicherung unserer Globaldiagnose unter Be­ zugnahme auf konkrete Fakten staatlicher Selbstdarstellung. Ich möchte, bevor ich das, was mir vor Augen steht, mit Namen nenne, auf eine Karikatur von H. E. Köhler zu sprechen kommen, die in den letzten Wochen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu sehen war. In dem kleinen Bild stehen sich Schmidt und Brandt auf der einen und Kohl und Strauß auf der anderen Seite gegenüber, zeigen wutentbrannt mit drohend ausgestreckten Fingern aufeinander und beschimpfen sich. Zwischen ihnen zittert geduckt und verwirrt ein kleiner deutscher Michel, dem der Schreck ins Gesicht geschrieben steht. Die Bildunterschrift lautet: ,,Beängstigend. Von lauter Sicherheits­ risiken umgeben." Ich glaube, daß diese mit routinierter Leichtigkeit gezeichnete Karikatur ernst zu nehmen ist. Sie weist nämlich auf nicht-intendierte Selbstdarstellungswirkungen der Konfliktkomponente der pluralistischen Parteien- und Verbandskonkurrenz hin. Wer an dem „institutionalisierten" Konflikt teilhat, der das demokratische Geschäft begleitet, zielt darauf ab, den Bürger von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen. Um dieser eigenen Überzeugung willen er­ scheint es den beteiligten Kräften gerechtfertigt, Abwertungen des jeweiligen politischen Gegners vorzunehmen, die das, was der Wirt-

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schaft unter Bezugnahme auf die „guten Sitten" durch die Wettbe­ werbsgesetzgebung erlaubt ist, bei weitem übersteigen. Naiverweise scheint man vielfach davon auszugehen, daß die gegenseitige Dauer­ abwertung keine negativen Konsequenzen im Hinblick auf das Ver­ hältnis des Bürgers zum Staat hat. Man ist sich der staatlichen Selbst­ darstellung, die man im Konkurrenz- und Feindabwertungsgeschäft betreibt, somit gar nicht bewußt. Wie die begrenzte Selbstzerfleischung der staatstragenden Kräfte auf den Bürger sozialpsychologisch gesehen wirkt, wissen wir aufgrund des schon einmal angesprochenen Daten­ mangels, der manche problematischen Dinge bis heute noch in gnädiges Dunkel hüllt, nicht bis in die letzten Details. Es ist jedoch anzunehmen, daß insbesondere die vielberufene „Polarisierungs"-Tendenz einen guten Teil der negativen Tendenzen im Verhältnis zwischen den Bürgern und dem Staat erklärt, von denen wir vorhin ausgegangen waren. Ich möchte bei meinem Versuch zu einer differenzierenden Problem­ diagnose noch eine letzte Komponente der Problematik staatlicher Selbstdarstellung ansprechen, die in der Bundesrepublik der aus­ gehenden 60er und der beginnenden 70er Jahre sehr ausgeprägt ist und die somit geeignet ist, Probleme im Verhältnis zwischen Bürger und Staat zu erklären, wie ich sie in der Globaldiagnose anhand von Daten dargestellt hatte. Es geht mir dabei um einen Aspekt, im Hin­ blick auf den ich Hemmungen habe, weil ich mich ihm als Laie nähere, um einen finanzwissenschaftlichen Aspekt nämlich. Ich glaube, daß wir uns kaum jemals ausreichende Gedanken darüber machen, wie der Bürger die Steuerforderungen des Staates „sieht" und welche un­ beabsichtigten Folgen die staatlichen Steuerforderungen im Rahmen der staatlichen Selbstdarstellung haben. Ich möchte hierzu die These aufstellen, daß sehr viele Menschen - in Anbetracht der progressiven Massenbesteuerung bei einer anhaltenden inflationären Tendenz handelt es sich zwangsläufig um zunehmend viele Menschen - den Eindruck haben, der Staat nehme mehr als er gebe. Ich stütze mich dabei auf die Ergebnisse einer kürzlichen Befragung des Münchner Infratest-Instituts, welche darauf zielte, die „subjektive" Bedeutung verschiedener „Werte" in der Bevölkerung der Bundesrepublik zu ermitteln. Es ergab sich dabei, daß die Höhe des verfügbaren Familieneinkommens eine Spitzen­ stellung einnimmt, während die Mehrzahl derjenigen Bereiche, in welche die staatlichen Ausgaben - insbesondere in Zusammenhang mit dem Infrastrukturausbau - fließen, später nachfolgten, d. h. also eine niedrigere Position in der Werthierarchie der Bevölkerung ein­ nehmen. Unter der Voraussetzung, daß dies zutrifft, hängt der Fort­ schritt des Sozialstaates also u. a. von einer zunehmenden staatlichen Umschichtung von direkten Individualeinkommen in indirekte Sozial­ einkommen ab, denen aber von Anfang an eine niedrigere „subjektive"

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Befriedigungswirkung zukommt. Natürlich hängt dies u. a. auch damit zusammen, daß das Wahrnehmungsfeld der Menschen eingegrenzt und selektiv ist und der Bedeutung und Vielfalt der staatlichen Tätigkeit nicht gerecht wird. Das bedenklich stimmende Phänomen, auf das wir hier stoßen, mag somit u. a. auch auf einen Mangel im Bereich staat­ licher Selbstdarstellungsmaßnahmen (konkret: auf einen Mangel an Information und „Aufklärung") zurückzuführen sein. Nichtsdesto­ weniger bleibt der Sachverhalt zunächst bestehen, daß der Sozialstaat als forciert einkommensabschöpfender und -verwendender Staat bis jetzt ganz offenbar nicht zu einer Selbstdarstellung in der Lage ist, die seine Geschäftsgrundlage ausreichend abdeckt. Er entwickelt vielmehr eine auf die Verbesserung der Lebenssituation der breiten Bevöl­ kerungsmassen abstellende Programmatik, welche sich weitgehend auf subjektiv „sekundäre" Wert- und Bedürfnisbereiche konzentriert, deren Kosten aber aus subjektiv „primären" Bereichen getragen werden müssen, so daß Verlust-Gefühle überwiegen. Die unbeabsichtigten Fol­ gen im Bereich der staatlichen Selbstdarstellung bestehen darin, daß der Staat - im Staatsbild der Bevölkerung - als ein habgieriger und zugleich „verschwenderischer" Staat erscheint, als ein Staat, der viel fordert und verspricht, der aber wenig leistet und der offenbar - diese Fehldeutung muß dem mangelhaften Informationsstand der Bevölkerung zugute gehalten werden - das verfügbare Geld vor allem dafür verwendet, seine wachsenden, scheinbar notorisch leistungs­ unfähigen und parasitären Beamtenheere zu füttern. Natürlich sorgt die vorhin erwähnte hohe Akzeptanzbereitschaft unseres politischen Systems dafür, daß solche Ressentimenstoffe relativ schnell in den Staat selbst zurückgekoppelt werden. Sie erscheinen dann als das poli­ tische Versprechen einer Verwaltungsrationalisierung auf der Bildfläche, von dem niemand weiß, ob und wie es jemals zu den erwarteten Erfol­ gen führen kann. Es ist anzunehmen, daß das Problem, das hier auf­ tauC'ht, für die Bundesrepublik von einer zunehmenden Aktualität ist und durch kein Aktionsprogramm der Bundesregierung - sei es auch noch so schnell verabschiedet - aus der Welt zu schaffen ist.

V. Ich möchte zum Abschluß noch auf die Konsequenzen eingehen, die aus meiner Diagnose abzuleiten sind. Ich hoffe, Sie werden es mir nicht verargen, wenn ich mich an diesem letztlich entscheidenden Punkt kurz fasse und zu einem gewissen Zögern bekenne. Dieses Zögern leitet sich daraus ab, daß zwar die Zahl der verfügbaren Ansatzpunkte und Strategien des Handelns außerordentlich groß ist, daß aber auch gleichzeitig die Restriktionen, die zu beachten sind, sehr massiv sind,

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weil die Lösung der aufgeworfenen Probleme und Fragen - wie gestern j a schon sichtbar geworden ist, teils an Grundpfeiler unseres Staats- und Demokratieverständnisses rührt und zur Auseinander­ setzung mit fundamentalen Fragen zwingt. Ein erster möglicher Ansatzpunkt des Handelns liegt zweifellos im Bereich der „politischen Kultur", d. h. im Bereich der Einstellungen z.um Staat und ihrer Entstehungsbedingungen. Wir wissen, daß und wie wir durch Einwirkungen im Bereich der Bildungsinstitutionen Wert- und Einstellungsentwicklungen in Richtung des aktiven und selbstverantwortlichen Staatsbürgers fördern können, und wir werden uns, wie ich meine, in der Zukunft vermehrt danach zu fragen haben, ob und wie wir dieses Wissen nutzen können, ohne der Freiheit Ab­ bruch zu tun. Selbstverständlich habe ich in diesem Zusammenhang die Diskussionen der letzten Zeit über gewisse Rahmenrichtlinien vor Augen, und ich weiß, wieviel Verwirrung und Ideologie es gegenwärtig noch an dem fraglichen Punkt gibt. Ausklammern können wir die Aufgabe, die sich hier stellt, ganz sicherlich aber nicht. Einen zweiten Ansatzpunkt erwähne ich insbesondere deshalb, weil er in den gestrigen Vorträgen nicht erwähnt worden ist. Die Fremdheit der Bürger gegenüber dem Staat ist natürlich ein Phänomen, das zum Teil auf die Fremdheit des Staats gegenüber dem Bürger, konkret : auf die abstrakt-bürokratische Ferne zurückgeht, in die sich heute die politischen Institutionen zurückziehen. Die Parlamente und die Parteien, ja selbst die meisten Verbände haben die Massendemokratie organi­ satorisch noch nicht verarbeitet. Im Gegenteil: Die zentralisierenden Tendenzen, die die Fremdheit verstärken, dominieren (dies gilt übrigens auch für die Verwaltung, deren Territorial- und Funktionalreform politische Kosten verursacht, die sich nicht zuletzt im Bereich der Selbstdarstellung des Staates geltend machen). ,,Bürgernähe" ist zwar ein gängiges Schlagwort, dessen Realisierung aber vorerst noch auf sich warten läßt. Ein dritter Komplex von Ansatzpunkten ist gestern ausführlich er­ wähnt worden : Ich meine die Möglichkeit - oder sagen wir lieber: Notwendigkeit -, gegenüber der unlimitierten Parteien- und Ver­ bandskonkurrenz einen Minimalkonsens aufzubauen, der sich an der Geltung von Spielregeln und an der Verantwortung für das System­ ganze (zu deutsch: für den Staat) orientiert. Auch ich möchte an dieser Stelle nochmals das Stichwort der Medien aufgreifen, die offenbar ihren Ort in der freien pluralistischen Gesellschaft noch nicht endgültig gefunden haben und in denen fälschlicherweise oft Freiheit mit dem unbeschränkten Recht auf Kritik und Tabuzerstörung identifiziert und verwechselt wird.

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Mir selbst erschien gestern viertens ein Gedanke, den ich mit dem Stichwort der „Ausdifferenzierung zusätzlicher unmittelbar staats­ bezogener politischer Institutionen" bezeichnen möchte, sehr fruchtbar. Ich adoptiere ihn gewissermaßen, weil er in meine eigenen Vorstellun­ gen ohne Schwierigkeiten hineinpaßt. Auf einer ganz anderen Ebene liegt fünftens ein möglicher Ansatz, der die Überprüfung der staatlich-politischen Sprache betrifft. Natür­ lich muß in der pluralistischen Demokratie ein Recht auf Freiheit der Wortwahl auf der Ebene staatlich-politischer Ziel- und Programm­ benennungen sicherstellen. Die selbstdarstellungswirksame politische Sprache ist andererseits jedoch auf eine gefährliche Weise aus den Fugen geraten. Es gibt insbesondere eine Ziel- und Programmdarstel­ lungsterminologie, die naiv gläubige Zukunftshoffnungen ermutigt und somit an die tiefsten Gefrierkammern des „Prinzips Hoffnung" rührt, die gerade damit jedoch eine Mechanik der Enttäuschung und der Frustration in Gang setzt, der eindeutig inhumane Züge anhaften. Ich rechne z.B. auch den Begriff „Lebensqualität" in all der schillernden Unbestimmtheit, mit der er bisher noch gehandhabt wird, zu dieser potentiell inhumanen Sprache. Was hier nottut, ist eine vermehrte Bereitschaft zur nüchternen Operationalisierung von Ziel- und Pro­ grammvorhaben (die von Seiten der Verwaltung ohnehin aus Gründen der eindeutigeren Verständigung über den jeweils einzuschlagenden Handlungskurs zu wünschen ist}. Lassen Sie mich sechstens noch das Stichwort einer wünschenswerten Erhöhung der Transparenz der staatlichen Mittelverwendung erwähnen, die aber neben der Ausgabenseite auch die reale Staatsleistung ein­ beziehen muß, welche den Menschen bisher meist nur äußerst ver­ schwommen vor Augen steht. Siebtens möchte ich die Laienfrage aufwerfen, ob es eigentlich bei der gegenwärtigen Automatik des wachsenden Staatskorridors via Steuerprogression bleiben muß? Ich habe aus dem Vortrag von Herbert Krüger eine Fülle von weiteren möglichen Handlungsansätzen in Erinnerung, über die man meines Erachtens sinnvoll diskutieren könnte und sollte. Ich selbst bin von dem Unterschied zwischen der intendierten und der nicht­ intendierten staatlichen Selbstdarstellung ausgegangen. Wenn ich die Dinge, die ich eben gesagt (oder auch verschwiegen} habe, zusammen­ fasse, dann ergibt sich für mich die Schlußfolgerung, daß es darauf ankommt, das Wissen um das riesige Ausmaß der nicht-intendierten Selbstdarstellungswirkungen staatlichen Daseins und Handelns bei den politisch und administrativ in der Verantwortung Stehenden zu stärken und dadurch zu einer erweiterten und vertieften Praxis inten­ dierter und bewußt verantworteter staatlicher Selbstdarstellung zu

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gelangen. Ich bin mir darüber im klaren, daß in einer solchen Vorstel­ lung und Forderung schwerwiegende Folgeprobleme und Fallen stecken, welche, um es nochmals zu sagen, bis in die Substanz des Staats- und Demokratieverständnisses hineinführen. Ich meine jedoch, daß wir die Herausforderung der Frage nach der Selbstdarstellung des Staates annehmen müssen und daß wir auch den Mut besitzen müssen, uns den Problemen, die nachkommen werden, zu stellen.

Kulturelle Au.6enpolitik und Wirtschaftsstaat Aspekte und Methoden auswärtiger Kulturpolitik

Von Rüdiger Altmann Die Beziehung zwischen Wirtschaft und Kultur war selbstverständ­ lich nicht das Thema der Untersuchung, die die Enquete-Kommission des Bundestages für auswärtige Kulturpolitik formell zu behandeln hatte. Und einen Titel, wie ich ihn für diesen Vortrag gewählt habe, um einige Hauptprobleme der kulturellen Außenpolitik der Bundesrepublik darzustellen, hätten einige Mitglieder der Enquete-Kommission für provozierend, einseitig und banausenhaft gehalten. Aber im Verlauf unserer Diskussion trat diese Beziehung zwischen Wirtschaft und Kul­ tur immer mehr in den Vordergrund. Sie machte, ohne daß wir uns dessen immer bewußt blieben, geradezu die Substanz unserer Über­ legungen aus, im Positiven wie im Negativen, hinsichtlich der Aktiv­ posten wie der problematischen Elemente unserer auswärtigen Kultur­ politik. Bevor ich jedoch darauf eingehe, möchte ich einige wenige Daten präsentieren, die es uns erleichtern, die Größenordnung unseres Gegen­ standes ins Auge zu fassen: Die Enquete-Kommission hat das Ergebnis ihrer Beratungen dem Bundestag, ihrem Auftraggeber, am 7. Mai 1976 vorgestellt. Es ist, bis auf einige nicht wesentliche Ausnahmen, ein ein­ stimmiges Gutachten, und der Bundestag hat es einstimmig akzeptiert. Der Betrag, um den es dabei ging, beläuft sich auf rund 1 Mrd. DM jährlich, was den Bundeshaushalt betrifft. Darüber hinaus sind aber auch die Länder, auch die Gemeinden an der Ausgestaltung unserer auswärtigen Kulturbeziehungen aktiv beteiligt - mit nochmals rund 1 Mrd. DM: Zusammengefaßt bilden also 2 Mrd. DM den Haushalt un­ serer auswärtigen Kulturpolitik. Im Bereich des Bundes entfällt der größte Anteil auf den Etat des Auswärtigen Amtes, danach kommt selbstverständlich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam­ menarbeit (BMZ}, danach, und keineswegs nur mit Bagatellen, acht weitere Bundesministerien. Vorweg möchte ich sagen, daß die Enquete­ Kommission anfangs aus diesen Gründen dazu neigte, dem Bundestag grundsätzlich die Zusammenlegung desBMZ mit dem Auswärtigen Amt vorzuschlagen. Sie hat dann aber nicht nur aus der Einsicht davon Ab­ stand genommen, daß für eine so hochpolitische Frage ihre Kompetenz

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nicht ausreichte, sondern auch deshalb, weil diese Kompetenzzersplitte­ rung im Bereich der auswärtigen Kulturbeziehungen ein Symptom für die Vielfalt und Komplexität dieser Beziehungen selbst ist: Gehört z. B. die internationale Wissenschaftspolitik - und um was handelt es sich dabei eigentlich - in den Bereich des Wissenschafts- und Forschungs­ ministeriums oder des Auswärtigen Amtes? Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß die Arbeitsbereiche Wirtschaft und Kultur, jedenfalls, was die Personalpolitik des Auswärtigen Amtes betrifft, immer ein wenig im Schatten gestanden haben: Normalerweise wird die Karriere im Bereich der politischen Abteilung gemacht. Infolgedes­ sen ist die Zahl der leitenden Beamten, die man als Spezialisten für Kulturpolitik ansprechen kann, zu gering geblieben. Noch wesentlich schwieriger erweisen sich jedoch zwei weitere Per­ spektiven: die ideologische Problematik und der Blick auf eine Reihe organisatorischer Aufgaben, die als bloße Organisationsaufgaben nicht zu lösen sind. Ein ganzes Syndrom ideologischer Wünsche und Affekte wurde der Kommission übrigens schon in die parlamentarische Wiege gelegt. So hatte der damalige Staatssekretär Professor Dahrendorf in der vergleichsweise kurzen Zeit, in der er im Auswärtigen Amt am­ tierte, bevor er zur Europäischen Kommission nach Brüssel wechselte, eine auf den ersten Blick „fesche", bei näherem Hinsehen jedoch zwie­ spältige, wenn nicht „trifältige" Formel verbindlich machen wollen, durch die auswärtige Kulturpolitik als ,,internationale Gesellschafts­ politik" definiert wurde. Das konnte als Kritik an einem zu engen, lediglich Traditionen verteidigenden Kulturbegriff ausgelegt werden. Es wurde natürlich weiter ausgelegt. Plötzlich ging es nicht mehr nur um eine Modernisierung, sondern eine ideologische Ausrichtung, in der Tat eine sehr problematische Auslegung von kultureller Außenpolitik. Hatte schon früher die Konrad-Adenauer-Stiftung sehr intensiv in der chilenischen Innenpolitik für den späteren Präsidenten Frey mitge­ mischt, so wurde jetzt der Gedanke erwogen, ob nicht das Goethe-In­ stitut in Santiago de Chile gegen die Militärdiktatur auftreten müsse. Sollte also Kulturpolitik eine Gleitschiene für ideologisch motivierte Interventionen im Gastland werden? Die Gefahr lag nahe. Sie wurde erkannt, aber nicht ganz gebannt. Das Auswärtige Amt behalf sich, die Schwierigkeiten mit Leitsätzen für kulturelle Außenpolitik als „Frie­ denspolitik" zu überbrücken. Aber sie bleiben, vor allem angesichts des finanziellen Volumens unserer kulturellen Bemühungen in den Ent­ wicklungsländern, bestehen, und fairerweise muß man feststellen, daß dies nicht die Tendenz einer Partei ist, sondern ein Problem, das diese Tätigkeit mit sich bringt und das ständiger Kontrolle bedarf. Selbstverständlich haben damals zu Beginn der siebziger Jahre, zur Zeit der in Mode gekommenen Reformen, ideologisch-politische Tenden-

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zen eine Rolle gespielt. So etwa in der Behauptung, Deutsch sei keine Weltsprache mehr - obwohl es nie eine war und seine Verbreitung in Europa nach dem zweiten Weltkrieg zu- und nicht abgenommen hat. Oder in dem Versuch, die deutsche Kulturpolitik vollends zu ent­ nationalisieren. So war es einigermaßen grotesk, mit welcher Selbst­ verständlichkeit der iranische Premierminister den deutschen Vor­ schlag zurückwies, als Unterrichtssprache einer neu zu gründenden iranisch-deutschen Technischen Hochschule Englisch vorzusehen. Er beharrte auf der deutschen Sprache. Das ist nicht das einzige Beispiel. Ein weiteres, gar nicht unterschätzbares Problem ist unser eigener Kulturkonflikt. Wer stellt Deutschland international vor? Und was soll er präsentieren? Ich denke an deutsche Literaten, die auf Kosten des Auswärtigen Amtes die Bundesrepublik im Ausland scharf kritisieren. Oder soll man nur „gemäßigte" Repräsentanten fördern, die aber wo­ möglich keine Namen haben? Ist es richtig, wenn zahlreiche Goethe­ Institute möglichst progressive Programme machen und sich dabei nur höchst widerwillig an die außenpolitischen Interessen der Bundes­ republik anbinden lassen? Eine erste Antwort im Sinn einer erfolgs­ sicheren Politik muß heißen: Kulturpolitik verlangt entschiedene, weitsichtige Liberalität, sonst soll man sich gar nicht erst bemühen. Dem folgt jedoch das Gebot einer nüchternen Rechnung, welche Erfolge auf Dauer den deutschen Interessen zugute kommen. Die Gastländer wollen Gewißheit über die deutsche Identität. Kulturpolitik kann weder von Ideologen noch von notorischen Außenseitern gemacht werden. Damit ist das Thema des Kulturkonflikts freilich nicht erschöpft, son­ dern erst am Rande erreicht. Davon später. Vorweg ist zunächst aber auch ein Blick auf eine ganze Reihe organi­ satorischer Probleme notwendig, die sich alsbald als keineswegs bloß organisatorisch lösbar erweisen. Das gilt am augenfälligsten für das Verhältnis des Auswärtigen Amtes zu seinen Mittlerorganisationen. Wieviel zentrale Steuerung ist nötig, wieviel Autonomie wünschens­ wert? Die Reform der Mittlerorganisationen, voran des Goethe-In­ stituts, ist in Bonn oft, aber nicht mit Erfolg diskutiert worden. Aber so schwierig solche Binnenfragen der einzelnen Mittlerorganisationen auch sein mögen, sie lassen sich erst dann beantworten, wenn das Aus­ wärtige Amt seine eigene Aufgabe der zentralen Steuerung gelöst hat. Wenn übrigens in diesem Zusammenhang von Planung die Rede ist, dann keineswegs in der Richtung reformistischer Spekulationen und dubioser Zukunftsansagen. Es handelt sich lediglich darum, daß aus­ wärtige Kulturpolitik langfristig angelegt und die Aktivität der ver­ schiedenen Mittlerorganisationen - z. B. Goethe-Institut, Lehrwerk­ statt, deutsche Schule, DAAD - miteinander kommunizieren muß, wenn bei der Begrenztheit der Mittel dieser ja erst langfristig zu er-

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reichende Erfolg garantiert werden soll. Dies aber ist für die ver­ schiedenen Regionen und Länder Aufgabe einer Planung, die immer noch zu vermissen ist. Bei solchen Schwierigkeiten wird, je mehr man ihre Details unter die Lupe nimmt, deutlich, daß Kulturpolitik, auswärtige Kulturpolitik, zu Hause beginnt. Wir können keinen Augenblick vergessen, daß die Industriegesellschaften selbst in ganz erheblichen kulturellen Schwie­ rigkeiten stecken, die sozialistisch-kommunistischen Staaten womöglich noch tiefer als die demokratischen. Die Symptome sind so zahlreich, daß eine unsystematische Aufzählung bereits genügt. Das Schei­ tern der Bildungsreform ist augenblicklich am aktuellsten, wobei der Reformismus der letzten zehn Jahre charakteristischerweise zwischen Modernisierung, d. h. Anpassung an die Leistungsbedürfnisse der Industriegesellschaft (,,Bildungskatastrophe", ,,Mehr Akademiker", „Sputnik-Effekt"), und tiefgreifenden, das anarchistische Grundwasser erreichenden anti-ökonomischen Affekten schwankte. Dazu die Hilf­ losigkeit der Politik gegenüber dem Erziehungsgedanken an sich. Die bewußt in Kauf genommene Auseinanderentwicklung von Ausbil­ dungswesen und Arbeitsmarkt, von Hellmut Becker „Entkoppelung" genannt, verwandelt das Bildungswesen in eine Art „Knautschzone" des Sozialstaats, in der die Jugend den gesellschaftlichen Friktionen zeitweise entzogen wird, freilich mit der Gefahr, daß Grauzonen ent­ stehen, die rasch in Morast übergehen. In einer ganz anderen Per­ spektive zeigt sich überall in Europa ein Konflikt zwischen Region und zentraler Regierung, ebenfalls, vielleicht sogar in erster Linie ein Kulturkonflikt. Oder, wieder in ganz anderer Richtung, die Wiederkehr der Folklore, übrigens besonders auffällig in sozialistischen Staaten, mit vielen Zeichen eines neuen Konservativismus. Solche Beispiele werfen sämtlich die Frage nach der Lage des Kulturstaates auf. Ich stimme dem Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber darin zu, daß Autonomie, Toleranz und Pluralität der kulturellen Be­ wegungen die moderne Kulturgesellschaft charakterisieren und sie sämtlich nur durch den Staat garantiert werden können. Widersprechen möchte ich, und das hat auch die Enquete-Kommission in ihrem Gut­ achten getan, der Unterscheidung von Kultur und Zivilisation, und zwar gerade deshalb, weil es die Dialektik von Kulturstaat und Wirtschafts­ staat ist, die uns heute beschäftigt, und nicht erst seit Herbert Marcuse. Diese Dialektik von Kultur- und Wirtschaftsstaat läßt sich nicht mehr ohne weiteres auf den Nenner eines Systems bringen. Wir sind aus Erfahrung überzeugt, daß beide nur in der Freiheit der Konkurrenz und natürlich der personalen Freiheit gedeihen, und müssen doch zu­ geben, daß die Ökonomisierung unserer Gesellschaft unsere kulturellen Kräfte unendlich, bis zur Krisenhaftigkeit anspannt. Unser Parlamen-

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tarismus ist ohne kulturpolitische Potenz. Wir haben eine ganze Reihe von Mißerfolgen hinter uns gebracht, trotz des Einsatzes bedeutender Mittel. Diese Schwäche ist gewiß eine der ausschlaggebenden Ursachen für das Ausbleiben einer durchgearbeiteten Konzeption unserer aus­ wärtigen Kulturpolitik. Auf der anderen Seite entspringt hier gerade die Modernität unserer deutschen Kulturpolitik. Im Unterschied zu bedeutenden Engagements anderer Staaten, z. B. Frankreichs, braucht Deutschland kein nach­ koloniales Erbe, etwa im frankophonen Afrika, kulturpolitisch zu pfle­ gen. Sie ist Konsequenz unseres weltwirtschaftlichen Engagements, und sie ist deshalb auch erfolgreich trotz aller Schwächen und Probleme. So schwer es manchem Kulturträger im Ausland fallen mag: Die auswär­ tige Kulturpolitik, wie sie von England und Frankreich vor allem be­ gonnen worden ist, hat ihre historische Basis im Zeitalter des Imperialis­ mus als „ Überbau" der Beziehungen zwischen dem Mutterland und seinem überseeischen Besitz. Auch heute noch läßt sich feststellen, daß auswärtige Kulturbeziehungen dort am dynamischsten sind, wo sie Ausdruck eines Kulturgefälles zwischen Industriestaaten und Entwick­ lungsländern sind. Die Interdependenz, der intensive Zusammenhang von Kultur und Wirtschaft sind also für eine technisch so engagierte Zivilisation unvermeidlich Anlaß zu solchen Überlegungen, einschließ­ lich der Notwendigkeit, den Schatten des Neoimperialismus zu über­ springen. Das alles zwingt uns, die Definition der auswärtigen Kulturpolitik für den Anfang sehr weit zu fassen, nämlich als Teilnahme an einer international werdenden Zivilisation. Das sollte nicht verwechselt wer­ den mit Utopien und Hoffnungen auf eine politische Einheit der Welt, auf One World Only und Weltinnenpolitik. Die Welt war vor 1914 wahrscheinlich einheitlicher in ihrer Struktur als heute. Man kann sich durchaus vorstellen, daß dieser Prozeß der Herausbildung einer inter­ nationalen Zivilisation parallel zu einem weiteren politischen Zerfall der Welt verläuft. Aber darum war es gewiß zu oberflächlich, aus der Tat­ sache, daß auswärtige Kulturpolitik eine Sache ohne Gewaltanwendung ist, zu schließen, sie sei „Friedenspolitik", sie bringe den Gastländern Frieden. Denn mit dem Angebot an Modernität, das sie anderen, un­ gleichzeitigen Kulturen bringt, verbinden sich häufig tiefgreüende Kon­ flikte: Die Vielfalt alter Restkulturen, neue Kulturbestrebungen und kulturelle Umwälzungen ergeben sicher kein harmonisches Bild, das sich so einfach auf den Nenner des Fortschritts bringen ließe. ,,Es ist", sagt Arnold Gehlen, ,,ein sonderbarer, surrealistischer, doch naheliegender Gedanke, daß dieser Erdball seinen Weg weiterstürmt, umkreist von den neuen Monden, nämlich den Paketen gütigen Atommülls, die man in die Stratosphäre hinausschießt, während irgendwo immer noch die Indianer 7 Speyer 63

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den Tanz des roten Felsenhahns aufführen". (Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 2. Aufl. 1964, S. 264.) Es gibt ganz gewiß, von geringen Ausnahmen abgesehen, einen Kon­ sensus aller Staaten über die Ziele, die sie erreichen wollen: Indu­ strialisierung, Fortschritt von Technologie und Wissenschaft, Anpas­ sung des Bildungswesens an diese Ziele, umfassende soziale Kontrolle und soziale Sicherheit. Aber das Eindringen der Weltzivilisation in die überkommenen Verhältnisse der Entwicklungsländer wird auch weiterhin zu Kulturkonflikten führen, die diese oft noch bäuerlichen Gesellschaften zutiefst erschüttern. Es ist nicht ganz unproblematisch, von Europa aus von einer gebenden, helfenden Kulturpolitik zu sprechen. Wir bringen keinen kulturellen Frieden. Wir haben ihn ja auch selbst nicht. So nahe es hier liegen mag, sich auf einen kulturphilosophischen Exkurs zu begeben, so wenig dürfen wir übersehen, daß es sich um konkrete Gestaltungsprobleme der auswärtigen Kulturpolitik handelt: aktiv und passiv entwickeln sich die kulturpolitischen Bedürfnisse der Staaten im Wechsel von Anpassungszwang und Verteidigung der eigenen Identität, zumal dann, wenn es sich um eine nehmende Kultur­ politik handelt. Diese Verteidigung der eigenen Identität ist denn auch die Grenze, die der Repräsentation der fremden Kultur gezogen wird. Hier liegt, grundsätzlich gesagt, die Barriere z. B. für die Kulturpolitik der USA, die mit einem hohen Aufwand an Mitteln arbeitet, aber häufig versäumt, sich an der Identität des Gastlandes zu engagieren. Auch der Einfluß der sehr zielbewußten französischen Kulturpolitik begrenzt sich hier selbst. Denn ihre methodische Straffheit, mit der sie sich um die Verbreitung der französischen Sprache bemüht, schließt das Interesse am Gastland in gewisser Weise aus. Es handelt sich immer nur um die Botschaft der französischen Kultur. Hier ist die Bundes­ republik moderner und erfolgreicher: Unsere „Goethe-Häuser" enga­ gieren sich oft einfallsreich und sehr initiativ an der kulturellen Iden­ tität ihres Gastlandes. Das hat historische und aktuelle Gründe, die man klar aussprechen soll: Wir haben erstens keine imperialistische Vergangenheit von Be­ lang. Max Müller und Alexander von Humb oldt sind zu Chiffren für das gelehrte Engagement an anderen Ländern ohne Herrschaftsinteresse geworden. zweitens hat die Unsicherheit des deutschen Selbstbewußt­ seins die Bereitschaft gefördert, sich mit der Vergangenheit anderer zu identifizieren, etwa in Italien oder im arabischen Kulturraum. Drittens, und das ist ein aktuelles Motiv, das sich gewissermaßen von selbst ein­ stellt, beeinflussen unsere wirtschaftlichen Interessen unser kultur­ politisches Verhalten: Es handelt sich, um es banal zu sagen, darum unsere Kunden zu fördern und uns ihnen und ihren Interessen anzu-

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passen. Gleichberechtigung ist für uns kein leeres Wort. Das Prestige unserer Kulturpolitik besteht, j edenfalls in der Dritten Welt, darin, daß wir ein Weltstaat ohne Weltmacht sind. Schließlich wächst auch hierzulande die Erkenntnis, daß es sich bei unserer auswärtigen Kulturpolitik nicht nur um Repräsentation un­ serer eigenen kulturellen Tradition handelt, sondern auf längere Sicht um die Verteidigung unserer eigenen Identität. Das klingt einiger­ maßen abstrakt. Aber Kulturpolitik als Teilnahme an einer inter­ national, an einer global werdenden Zivilisation heißt konkret: daß die Deutschen ein Weltvolk bleiben, daß ihre Sprache elastisch genug bleibt, die Fremdworte aus dieser neuen Weltkultur sich als Lehnworte anzu­ eignen, in der Sprache der Wirtschaft, der Verwaltung, der Philosophie und der Technik. Deshalb ist es so wichtig, wenn etwa in Brüssel das Deutsche als „Arbeitssprache" unter den Teppich gekehrt wird zu­ gunsten des Französischen und des Englischen, obwohl in Europa mehr Menschen deutsch sprechen als irgendeine andere Sprache. Mit dieser Offenheit und Rezeptionsträchtigkeit ist nicht nur die Qualität unserer Sprache, sondern das Gesamte unserer Kultur gemeint. Erlauben Sie mir ein auf den ersten Blick ganz unpolitisches Beispiel : Wir erleben heute, wie die Mysterien, die religiösen Geheimnisse, aus den Kirchen auswandern. Zurück bleiben große Kulturdenkmäler und die soziale Organisation. Unsere Theologie ist im allgemeinen nicht in der Lage, die großen religiösen Traditionen Asiens zu rezipieren, obwohl das Christentum doch einstmal von dort kam. So könnte es leicht geschehen. daß die christlichen Reformversuche trotz ihres großen Interesses für die Probleme der Dritten Welt an den geistigen und kulturellen Tiefen­ problemen dieser Länder vorbeigehen. Selbstverständlich ist das, wie man so sagt, ein zu weites Feld für unsere Betrachtung. Aber wir sollten dieses weite Feld auch nicht aus den Augen verlieren, politisch nicht und auch von der Wirtschaft aus nicht. Ich erinnere mich, wie mir bei einem Besuch in Madras in der dortigen, von der Bundesrepublik begründeten Fachhochschule für Ingenieure der Vertreter des Entwicklungshilfe-Ministeriums seine Be­ denken über die Zukunft der Schule unter indischer Verantwortung sagte. Er war gekommen, um die Übergabe der Fachhochschule an die indische Verwaltung einzuleiten. Seine Skepsis gründete sich keines­ wegs auf die Intelligenz der indischen Schüler und Lehrer. Aber, so sagte es, es fehlt ihnen der rationale Geist für die Technologie. Sie haben ganz andere Kulturtradititionen. Wenn wir die Begegnung zwischen ihrer und unserer Tradition in dieser Schule nicht themati­ sieren, werden wir und auch die Inder ohne Erfolg bleiben. Die Fach­ hochschule braucht dringend eine geisteswissenschaftliche, eine philo­ sophische Abteilung. Solche Beispiele zeigen, was mit der Dialektik von

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Wirtschaft und Kultur gemeint ist, wenn man von der Struktur der auswärtigen Kulturpolitik eines modernen Wirtschaftsstaates spricht. Dabei sollten wir aber eine Aufgabe nicht übersehen, die hier im Lande selbst wahrgenommen werden muß: die Rezeption ausländischer kultureller Einflüsse. So ist z. B. die Bundesrepublik der wahrscheinlich wichtigste Übersetzermarkt für die westslawische Literatur. Das sollte zielbewußt gefördert werden. Denn hier hat sich eine Brücke zwischen dem Geistesleben der östlichen Nachbarn und der Bundesrepublik gebildet, unter der manches ideologische Gewässer, verschmutzt und nicht verschmutzt, fließen mag, ohne sie zu zerstören. Ähnliches sollte für die großen Kulturvölker Asiens eingerichtet werden, auch wenn sie selbst die Initiative dazu nicht ergreifen. Ein indisches Haus mit Institut könnte sich, einmal eingerichtet, vielleicht sogar selbst tragen und uns viele kulturelle Anregungen bringen. Andere Beispiele lassen sich leicht bilden. Es ist aber wahrscheinlich nicht mehr wie früher möglich, solche Aufgaben den Universitäten zu überlassen. Bisher, und das hat ja auch seine Gründe, war von auswärtiger Kulturpolitik hauptsächlich im Blick auf die Entwicklungsländer die Rede. Aber die Problematik der eigenen kulturellen Identität geht auch an uns nicht vorüber, und sie tritt uns verschärft in den Beziehungen zu den Industriestaaten gleichen Niveaus entgegen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß zwar deutsche Studenten mit deutschem Abitur in Frankreich studieren können, daß aber die deutsche Schule in Paris jungen Franzosen keine Hochschulreife vermitteln kann, und vice versa gilt dasselbe für die Bundesrepublik. Denn auswärtige Kulturpolitik - hier die Errichtung von Schulen - stellt eine Intervention in das Verwaltungsgefüge des Gastlandes dar, und wer die Geschichte des staatlichen Schulwesens kennt, weiß, wieviel Kulturkämpfe seine Ent­ wicklung begleitet haben. Je unmittelbarer das Gastland seine Kultur­ hoheit durch Verwaltung und Kontrolle wahrnimmt, desto deutlicher erscheint auswärtige Kulturpolitik als kulturelle Intervention, um so mehr, als sie auch selbst staatlich-politischen Ursprungs ist. Kulturpolitik als Intervention: Das gilt natürlich nicht für ein Konzert Herbert von Karajans mit den Berliner Philharmonikern in Tokio oder das Auftreten des sowjetischen Staatszirkus in der Bundesrepublik. Ein einprägsames Beispiel solcher Intervention bieten Hörfunk und Fern­ sehen in den deutschsprachigen Gebieten unserer Nachbarn, mehr noch gegenüber der DDR, die insofern totaler Interventionsbereich der deutschen Kulturpolitik ist. Ähnliche Beispiele zeigen die Diskussionen und sowjetischen Beschwerden über den Sender „Deutsche Welle". Aber auch dann, wenn der Transfer von Kulturgütern und Ausbildungs­ systemen von den Empfängerländern selbst erbeten wird, zeigt sich in der Konkurrenz der Geberländer deutlich, welches Gewicht politische

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Motive dabei erhalten können. So wird die Errichtung germanistischer Lehrstühle im Ostblock von der DDR höchst mißtrauisch verfolgt. Das­ selbe Mißtrauen kommt bei uns hoch, wenn die DDR vergleichbare Aktivitäten in Kanada und Frankreich betreibt. Im Bereich der Kulturpolitik handelt es sich zwar nicht um gewalt­ same Interventionen, aber doch um staatliche Interessenpolitik und allzuleicht um sogenannte „gesellschaftspolitische" Interventionen, die rechts und links an den völkerrechtlichen Befestigungen vorbeilaufen. Die bekannte Antwort Talleyrands auf die Frage, was eigentlich Inter­ vention sei, war niemals zutreffender als heute. ,,Intervention", sagte Talleyrand, ,,ist ungefähr dasselbe wie Nichtintervention". Lassen Sie uns nun einen Sprung in einen wichtigen Bereich der aus­ wärtigen Kulturpolitik tun, für den alle diese Aspekte gelten, der aber nicht nur wegen der Etatmittel, die dafür eingesetzt werden, besondere Aufmerksamkeit verdient: Er liegt im speziellen Interessenbereich der Wirtschaft. Ein zweites ist ebenso wichtig: das Bildungswesen wird in wachsendem Umfang zum Gegenstand der internationalenBeziehungen. Der größte Teil der von der Bundesrepublik im Ausland geförderten Schulen - über die sogenannten Expertenschulen sind dazu spezielle Notizen nachzutragen - wird von privaten Vereinen ausländischen Rechts getragen. Das ist ihr Erbe als Schulen, die von Deutschen im Ausland gegründet worden sind. Zum anderen werden ihnen Lehrer aus der Bundesrepublik vermittelt, die zwar hierzulande beurlaubt werden, aber alle ihre Rechte und Bezüge als Beamte behalten. Die sogenannten Expertenschulen, die die Kinder deutscher Staatsbürger im Ausland zu unterrichten haben, fallen nur sehr partiell in den Verantwortungsbereich der auswärtigen Kulturpolitik. Sie sind ihrer eigentlichen Aufgabe nach nach außen gewandte Schulverwaltung. Dementsprechend müßten sie von den dafür zuständigen Ländern auch finanziert werden. Aus dieser Finanzierungspflicht erklärt sich aller­ dings auch die bisherige Zurückhaltung der Länder, die ihre Kompe­ tenz nicht geltend gemacht haben, sie sogar, wenn auch nicht sehr laut, dementieren. Freilich hat auch die historische Besonderheit so vieler deutscher Schulen im Ausland als Volkstumsschulen zu einer unklaren Politik geführt, die nur langsam abgebaut werden kann. Die deutsche aus­ wärtige Kulturpolitik hält solche Schulen für wenig wertvoll. Sie kosten zu viel, meint man in Bonn. In Sonderheit die Personalkosten für beamtete Lehrer im Ausland, die dort neben Auslandsbezügen auch Diplomatenzulagen fordern, sich aber weniger als Träger deutscher Kulturpolitik, sondern als im Ausland Dienst tuende Beamte empfinden, sind zu hoch. Auf die schwierige Aufgabe, die deutschen Schulen all-

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mählich ins heimische Schulwesen zu integrieren, ihnen dazu aber eine spezielle erzieherische und kulturelle Botschaft mitzugeben, sind sie nicht vorbereitet, zum Teil auch nicht qualifiziert. Diese und andere Gründe haben die deutschen Schulen in Lateinamerika zu ungeliebten Kindern der neuen deutschen Kulturpolitik gemacht. Das steht aller­ dings nur zwischen den Zeilen der Akten, und in den Akten ist auch Platz für die politisch notwendigen Dementis dieser heimlichen Abnei­ gung. Es kommt hinzu, daß das Auswärtige Amt keine Fachleute für das Erziehungswesen besitzt. Die Schulen werden von einer besonderen Schulabteilung des Bundesverwaltungsamtes betreut. Das Auswärtige Amt fördert, aber es führt nicht. So ist es z. B. nicht verwunderlich, daß einer der blühendsten Zweige der deutschen Reformpädagogik im Ausland, die Rudolf-Steiner-Internate, deren Lehrkräfte in Deutsch­ land ausgebildet werden, der auswärtigen Kulturpolitik unbekannt geblieben sind. Die Ursache kann kaum im besonderen weltanschau­ lichen Bekenntnis der Schulträger liegen; denn protestantische und katholische Einrichtungen werden ja auch gefördert. Sie liegen also in einer noch nicht genügend durchgearbeiteten Kulturpolitik, für die das Außenministerium nicht genügend Fachleute besitzt. Hier ist auch der Enquete-Kommission der Durchbruch noch nicht gelungen. Auf dem Wege befinden wir uns hingegen bei der Annäherung von beruflicher und allgemeiner Bildung, wo sich anscheinend eine größere Durchlässigkeit der Ressorts AA und BMZ vorbereitet. Auch hier zeigt sich, daß Kulturstaat nur ein kulturell leistungsfähiger Staat sein kann, einer, der auch mit seinen eigenen Kulturaufgaben fertig wird. Ein Experimentierstaat ist noch kein Kulturstaat. Es nimmt nicht Wunder, daß die Schwächen unseres eigenen Ausbildungswesens auch nach außen zutage treten. Erfolg kann eine auswärtige Kulturpolitik nur haben, wenn sie eine konkrete Mission hat. Die sehr vielfältigen Aspekte des Bildungswesens in der auswärtigen Kulturpolitik sollen auf zwei Beobachtungen reduziert werden: Zum einen zeigt ein Vergleich der Schulen in Entwicklungsländern und Industriestaaten, daß Schulen einen sehr verschiedenen Stellenwert haben. In unseren Kulturbeziehungen etwa mit Frankreich oder Italien spielen sie eine untergeordnete, in den Beziehungen mit dem Iran eine fast ausschlaggebende Rolle. Eine zweite Beobachtung schließt sich an: die kulturellen Beziehungen zwischen Industriestaaten werden in einer autonomen Sphäre abgewickelt, oft unter­ halb der formellen Außenpolitik; Universitäten untereinander, ebenso wissenschaftliche Vereinigungen, Einrichtungen der Er­ wachsenenbildung, die literarische und musikalische Szene. Auch diese „ Vergesellschaftung" ohne staatliche Politik bedarf unserer Auf­ merksamkeit, der Förderung, vielleicht auch einer kontrollierenden

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Bestandsaufnahme. Persönlich habe ich wenig Sorge, daß die Kultur nach links Reißaus nimmt. Aber sie bedarf auch der Aufmerksamkeit des Wirtschaftsstaates, einer, wie man sich wünschen möchte, floren­ tinischen Großzügigkeit. Denn die auswärtige Kulturpolitik, die nicht einfach eine zierlichere ,,dritte Säule" unserer Außenpolitik, sondern Symptom ihrer struktu­ rellen Veränderung ist, gleicht, wenn wir sie in die Hand nehmen, einem Spiegel unserer eigenen Staatlichkeit, unserer eigenen Wirtschaft und Kultur. Es geht dabei nicht bloß um die Politisierung der Kultur, und wir sollten bemüht sein, ihre gesellschaftspolitische Ideologisierung zu vermeiden. Aber nicht aus konservativer Ängstlichkeit, sondern wegen der Bedeutung der Sache: Das neue, internationale, zum Globa­ len tendierende Kulturbewußtsein ist wahrscheinlich im Begriff, an­ stelle unseres traditionellen europäischen Geschichtsbewußtseins zu treten. Wir können es nicht anderen überlassen.

Aussprache zu den Referaten von Helmut Klages und Rüdiger Altmann Bericht von Marie-Therese Junkers 1. Professor Dr. Carl Böhret als Diskussionsleiter stellte fest, daß die Referate von Klages und Altmann recht unterschiedliche Aspekte des Themas „Selbstdarstellung des Staates" behandelten, und schlug deshalb eine getrennte Diskussion vor. Als Strukturierungshilfe für die Aussprache zum ersten Vortrag regte er an, die beiden darin gesetzten Schwerpunkte aufzugreifen: Erstens die Analyse und Diagnose gesellschaftlicher Stabilitäts- bzw. Instabilitätsbedingungen, ihre kau­ salen Verknüpfungen und die aus dieser Einschätzung sich ergebenden Entwicklungstendenzen sowie zweitens die Frage nach der Therapie, nach Vorschlägen für eine verbesserte staatliche Selbstdarstellung. Zum Referat von Altmann stellte Böhret folgende Diskussionspunkte heraus: die Analyse der Interdependenz von Staat, Kultur und Wirt­ schaft sowie die Frage nach Existenz und Notwendigkeit eines Konzepts für die auswärtige Kulturpolitik, abschließend - mit Bezug auf die Fragestellung des ersten Referats - das Problem der unbeabsichtigten Wirkungen einer sporadischen, nicht geplanten Kulturpolitik. 2. Regierungsdirektor Hans Kirchner, Berlin, leitete die Diskussion zum Referat von Klages ein mit einer kritischen Stellungnahme zu dessen Diagnose des Staatsimages in der Bundesrepublik Deutschland. Klages habe eine anhaltende oder gar steigende Skepsis gegenüber dem Staat konstatiert und zur Unterstützung dieser Aussage u. a. die wachsende Neigung der Bevölkerung zur Kritik gesellschaftlicher Ver­ hältnisse angeführt. Dieser von Klages eher negativ beurteilte Ent­ wicklungsprozeß sei durchaus positiv zu bewerten. Er sei Ausdruck einer zunehmenden politischen Bewußtseinsbildung der Bürger, die ihre Rolle in der Gesellschaft erkennten und über den Rahmen ihrer individuellen Interessen hinaus Anteil an gesellschaftlichen Problemen nähmen. Zur Frage des Staatsvertrauens führte Kirchner mehrere Bei­ spiele an, die auf ein sehr stabiles Verhalten der Bevölkerung der Bundesrepublik gerade in Krisensituationen schließen ließen. Von einer Skepsis und Verdrossenheit gegenüber dem Staat und seinen Institutionen, wie sie seiner Einschätzung nach für die Weimarer Republik charakteristisch gewesen seien und in den USA nach Vietnam-

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krieg und Watergate-Skandal bestünden, sei man deshalb in der Bundesrepublik weit entfernt. 3. Ministerialrat Dr. Kurt-Friedrich von Scheliha, Kiel, wies darauf hin, daß der Staat sich dem Bürger keineswegs nur als Ganzes auf der Bundesebene darstelle, sondern auch auf Landes-, Kreis- und Kommunalebene - ein Aspekt, der in den bisherigen Referaten zu wenig beachtet worden sei. Die Verteilung der Kompetenzen zwischen diesen Ebenen, die jeweils für sich ein eigenes Selbstverständnis beanspruchten, ergebe für den Bürger ein verwirrendes Bild und erschwere eine Identifikation. Hinzu komme, daß nicht alle Länder der Bundesrepublik historisch fest gefügt seien, sondern noch um ein eigenes Verständnis rängen. Auf Gemeindeebene habe die kommunale Gebietsreform neue Identifikationsschwierigkeiten für den Bürger geschaffen. Ein wichtiger Ursprung für das Mißtrauen, das der Bürger gegenüber dem Staat empfinde, liege auch in der Undurchschaubarkeit dessen, was heute in den Amtsstuben geschehe. Ein weiterer Faktor sei die Diskrepanz zwischen den großen Erwartungen und Anforde­ rungen des Bürgers an den Staat und der Unwissenheit über die Konsequenzen, die sich hieraus für ihn ergäben. Um diesen Tendenzen entgegenzuwirken, bedürfe es einer wesentlich intensiveren Aufklä-' rungs- und Informationstätigkeit des Staates über seine Aktivitäten, die angestrebten Ziele und die positiven wie negativen Folgen für den Bürger. Diese funktionale Selbstdarstellung des Staates habe vor allem bei den Medien anzusetzen. Erst wenn diese Voraussetzungen geschaf­ fen seien, könne der Bürger gegenüber den Aufgaben und Forderungen des Staates ein stärkeres Verständnis aufbringen und sich mit ihm identifizieren. 4. Grundsätzliche Bedenken gegen die Staatspflege und staatliche Selbstdarstellung in bezug auf die Existenz derBundesrepublik Deutsch­ land meldete Leitender Regierungsdirektor Dr. Joseph Altmann, Brau11schweig, aus soziologischer und rechtlicher Sicht an. Bei seinen sozio­ logischen Erörterungen ging er von der Erkenntnis der Verhaltens­ forschung aus, daß eingesperrte Ratten ab einer gewissen Populations­ dichte selbst auf positive Zuwendungen negativ, und zwar aggressiv, reagierten. Auch im modernen Staat des 20. Jahrhunderts sei der einzelne in gewisser Weise eingesperrt: Er könne den politischen Ein­ richtungen und Machtverhältnissen, mit denen er sich nicht identifiziere, nicht mehr ausweichen, . wie das noch im vorigen Jahrhundert der Fall gewesen sei. Deshalb sei davon auszugehen, daß selbst positive staats­ pflegerische Zuwendungen zum Teil mit Aggression beantwortet wür� den. Es stelle sich dann · die. Frage, ob Staatspflege unter 'diesen Aspekten überhaupt noch sinnvoll sei. Aus rechtlicher Sicht, ergäben sich _Bedenken gegen eine staatliche Selbstdarstellung d�r Bundes.:a

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republik Deutschland, da diese als ein Provisorium konstruiert sei. Es frage sich, ob eine Identifikation der Bürger mit diesem Staate als etwas Endgültigem erstrebenswert, ja ob sie verfassungskonform sei. Seine Ausführungen wollte J. Altmann auf die Bundesrepublik beschränkt wissen. Eine stärkere staatliche Selbstdarstellung im Be­ reich der Bundesländer und Gemeinden hielt er für sehr wünschens­ wert. 5. Landrat Dr. Paul Goes, Göppingen, unterstrich in Anlehnung an von Scheliha die Bedeutung der unteren Ebenen - der Kreise und

der Gemeinden - für das allgemeine Staatsverständnis des Bürgers. Als positives Beispiel staatlicher Selbstdarstellung aus seinem Tätig­ keitsbereich schilderte er einen Ortsverschönerungswettbewerb, der rege Unterstützung der Bürgerschaft gefunden habe. 6. Zum Referat von Rüdiger Altmann stellte Oberregierungsrat Peter Stephan, Berlin, die Frage nach dem Inhalt bundesdeutscher aus­

wärtiger Kulturpolitik, insbesondere in Abgrenzung zur DDR.

7. In seinem Schlußwort wies Klages darauf hin, daß einige der Stellungnahmen fruchtbare Ergänzungen aus der Praxis zu seinem Referat gebracht hätten, so z. B. von Schelihas Hinweis auf die Be­ deutung der Medien und die Ausführungen von Goes zu den Aktivitäten im kommunalen Bereich. Auf die kritischen Anmerkungen von Kirchner eingehend, unterstrich Klages nochmals seine These, daß die Kritik­ orientierung in der Bevölkerung der Bundesrepublik zum großen Teil in einen negativen Kontext eingebettet sei. Sie verbinde sich eben nicht mit der Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung und Verantwortungs­ übernahme, sondern sei gekoppelt mit einer Verhaltensorientierung, die man als Privatismus anspreche, das heiße mit einem Rückzug aus der Öffentlichkeitssphäre, der man sich in einer Haltung des Wider­ stands, ja der Abwehr entgegenstelle. Als typisches Beispiel seien in diesem Zusammenhang die Bürgerinitiativen anzusehen. Diese würden häufig als Dokumentation des erwachenden Aktivbürgers angeführt; empirische Untersuchungen kämen jedoch vorwiegend zu dem Ergebnis, daß den Bürgerinitiativen eine · defensive Einstellung zugrunde liege. Diese Lücke, die im Hinblick auf die Basis der Demokratie in unserem Staate existiere, sei in viel stärkerem Maße als bisher zu analysieren. Dies allerdings, ohne in nachtschwarze Skepsis zu verfallen, vielmehr mit dem Ziel, von der analytischen Auswertung der Fakten her dann auch unser Verhalten, das mittel- und längerfristig auf eine Änderung der Dinge zielen müsse, zu steuern. R. Altmann ging in seinen abschließenden Bemerkungen kurz auf die ihm gestellten Fragen ein und nannte vier Punkte, in denen sich die Kulturpolitik der Bundesrepublik Deutschland von der der DDR

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unterscheide: Erstens strebe die Bundesrepublik an, die gesamtdeutsche Kultur zu repräsentieren; zweitens werde versucht, auf die Bedürf­ nisse der Gastländer besser einzugehen; drittens gebe es keine ideolo­ gischen Einschränkungen der öffentlichen Meinung des Gastlandes, und viertens nehme nur die Bundesrepublik am freien Austausch unter den Industriestaaten teil. In diesen Punkten bezeichnete R. Altmann die bundesdeutsche Kulturpolitik als überlegen. Eine Schwierigkeit ergebe sich jedoch aus der Rolle der DDR in den großen internationalen Organisationen. Dort gelinge es den kommunistischen Staaten mit ihren meist sehr gut ausgebildeten Funktionären häufig, die Stimmung des Kulturkonflikts antiwestlich bzw. antikapitalistisch zu wenden. Der Gegenstand der auswärtigen Kulturpolitik der Bundesrepublik sei vielfältig, wie R. Altmann anhand verschiedener Fälle illustrierte. Zusammenfassend lasse sich der Inhalt auswärtiger Kulturpolitik definieren als die kulturelle Darstellung des Gesamtbereichs unserer Zivilisation, wobei sich eine enge Verknüpfung mit wirtschaftlichen Möglichkeiten, Aufgaben und Verpflichtungen ergebe. Am Ende der Aussprache dankte der Diskussionsleiter den Referenten, Diskussionsteilnehmern und Zuhörern. Er regte an, von den Denk­ anstößen, die in der heutigen Diskussion gegeben worden seien, weiter voranzugehen im Vordenken auch auf das, was auf uns zukommen könnte, wenn wir nichts unternähmen, die Restriktionen nicht beachte­ ten und ihnen nicht in notwendigem Maße begegneten.

Sporterfolge als Mittel der Selbstdarstellung des Staates* Von Hans-Joachim Winkler Wenn man eine Skala der Bekanntheit heute lebender Bundes­ deutscher im Ausland - in Ost und West - erarbeiten ließe, so stünde der Fußballspieler Franz Beckenbauer ganz weit oben. Auch wenn er den Ball nur für sich und die Vermehrung seines Vermögens tritt, sehen ihn im internationalen Wettbewerb die bundesdeutschen Fuß­ ballfreunde als ihren Repräsentanten, und die Ausländer werten ihn als erfolgreichen Vertreter des bundesdeutschen Fußballs. Sportfreunde im Ruhrgebiet, die Beckenbauer wegen seiner angeblichen Arroganz noch beim letzten Bundesligaspiel in Essen ausgepfiffen hatten, stehen im Europa-Pokal wieder geschlossen hinter „ihrem Kaiser Franz", wenn er nicht mehr nur den Münchener Verein, sondern das Gesamtsystem vertritt. Diese Mechanismen von Repräsentation und Identifikation im Sport sind bekannt. Es ist auch bekannt, daß sich diktatorische Systeme diese Mechanismen nutzbar machen. Das Hitler-Regime bot 1936 mit den Olympischen Spielen in Berlin das erste große Beispiel der Neuzeit1 . Ähnlich hatten das schon die miteinander rivalisierenden Städte der griechischen Antike bei ihren kultischen Sportwettkämpfen genutzt. So kommen denn auch die Erfolge der DDR nicht so überraschend, eines Staates, wo eine Partei zielstrebig den Sport zum Aufbau ihres sozialistischen Systems in Dienst genommen hat. überraschend ist höchstens das Ausmaß der Erfolge, wenn sich die DDR etwa in Montreal 1976 vor die USA in der Liste der olympischen Medaillen auf den zweiten Platz schieben konnte. Nach einer Rechnung Medaille pro Einwohner wäre die DDR sogar einsame Spitzenklasse auf der Welt. Was jedoch erstaunt, ist die Tatsache, daß in einem so völlig anders, nämlich pluralistisch strukturierten System wie dem der Bundes­ republik von Jahr zu Jahr mehr Steuergelder ausgegeben werden, damit der Sport besser seine Aufgabe nationaler Repräsentation erfüllen kann, obwohl alle Beteiligten immer wieder betonen, daß der • Das Referat wurde nachträglich ergänzt um "Oberlegungen, die an die Olympiade im Sommer 1976 in Montreal anknüpfen. 1 Eine in Zeitgeschichte und Ökonomie eingebettete übersieht bei Hans� Joachim Winkler, Sport und politische Bildung. Modellfall Olympia, 19732,

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Sport in der BRD, anders als einst bei Hitler oder heute in der DDR, unabhängig und staatsfrei sei. Wenn im folgenden nach dem Sinn dieser staatlichen Förderung für einen Teil des großen Subsystems Sport, nämlich nach der nationalen Repräsentanz durch Spitzenathleten, gefragt wird, dann soll zuerst etwas relativiert werden: Schließlich ist Sport nur eine Möglichkeit staatlicher Selbstdarstellung. Zum zweiten soll aber herausgearbeitet werden, warum diese Form unter gewissen Bedingungen eine ganz besonders wirksame Form der Selbstdarstellung ist, ja - sich sogar zu einer Art Staatsfest ausweiten kann. Im dritten Abschnitt werden unterschiedliche Organisationsformen dieser staat­ lichen Sportrepräsentanz und ihre politischen Folgen untersucht. Ab­ schließend sollen die heutige Staatsfinanzierung dieser sportlichen Selbstdarstellung der Bundesrepublik und ihre Auswirkungen analy­ siert werden. I. Ganz offensichtlich sind Erfolge im internationalen Sportwettstreit nur eine der vielen Möglichkeiten der Selbstdarstellung eines poli­ tischen Systems. Sie sind sogar eher ein Nebenerfolg, eine Funktion der Leistung, die einzelne Sportler für sich, ihre Mannschaft oder ihren Club erbringen. Hier steht keineswegs das im Vordergrund, was im Rahmen dieser Tagung in Speyer als Staatspflege bezeichnet worden ist, sondern der ganz persönliche Erfolg des Sportlers. Staatspflege oder staatliche Selbstdarstellung ist vor allem Aufgabe staatlicher Institutionen, vom Bundespräsidenten als dem ersten staatlichen Re­ präsentanten etwa über das Bundespresseamt oder die auswärtige Kulturpolitik bis hin zum letzten Entwicklungshelfer, den wir als Botschafter unseres politischen Systems und als unseren (Alibi-)Beitrag zur Verbesserung der Lage in Entwicklungsländer schicken. Das alles sind Beispiele amtlicher Repräsentanz, offizieller Staatspflege. Es leuchtet ein, daß die europaweite Diskussion um den reichen, aber angeblich besserwisserischen und Radikale jagenden, also „häßlichen" Deutschen 1976 erheblich mehr zur Imagebildung beiträgt als noch so großartige Sporterfolge. Ähnliches habe ich am Beispiel der bewußten und unbewußten Wirkungen politischer Skandale für die politische Bildung! herauszuarbeiten versucht. Gegenüber dieser gewollten oder ungewollten amtlichen Repräsen­ tation nach innen und außen ist der Spitzensportler zuallererst Privat­ mann. Zwar zeigt sich auch der zynischste und geldgierigste Sportler nicht ungerührt, wenn nach seinem privaten Erfolg im internationalen 2 Hans-Joachim Winkler, Über die Bedeutung von Skandalen für die politische Bildung, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesell­ schaftspolitik, Bd. 13, 1968, S. 225 ff.

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Wettstreit die Nationalhymne ertönt. Aber zuvorderst geht es um seine eigenen, privaten Interessen. Allerdings kann er nicht verhindern, daß sein „privater" Erfolg öffentlich vereinnahmt, quasi vergesell­ schaftet wird, und zwar durch die Zuschauer und durch die Massen­ medien, die den Kreis der Interessierten ins Gigantische vergrößern, sowie durch die Politiker als die politischen Repräsentanten seines Staates, wenn sie sich nur zu gern in seinem privaten Erfolg sonnen. Die Reaktion auf den privaten Erfolg eines privaten Spitzensportlers im internationalen Wettstreit zeigt eine nicht-amtliche, privat erbrachte, aber öffentlich wirkende Repräsentanz für seinen Staat. Äußeres Zeichen für diese „Öffentlichkeit" der privaten Leistung sind das Nationaltrikot, das der Sportler bei derartigen Wettkämpfen trägt, oder die Slogans der Sportreporter wie „Bomber der Nation" oder ,,Reitet für Deutschland". Diese Form der privat-öffentlichen Repräsentanz ist keineswegs auf den Spitzensport beschränkt. Beispielsweise war der Volkswagen, ein Produkt privaten Kommerzes, als klassenloses und solides Auto jahre­ lang in aller Welt Symbol des bundesdeutschen Wirtschaftswunders. Vergleichbares gilt für Pariser Mode oder englische Stoffe. Daß derartige private Leistungen quasi öffentlich geworden sind, also ihren Staat repräsentieren, erkennt man an der Belohnung durch den Staat. Stets bedankt er sich für diese erfolgreiche private Repräsen­ tation seiner selbst, ob sie nun durch einen Kaufmann, einen Erfinder, einen Dichter, Dirigenten oder Sportler erfolgt, mit Belobigungen, Orden und ähnlichem. Schließlich gibt es noch eine dritte, rein private Form der Repräsen­ tation unseres Staates, die bisher noch kaum untersucht worden ist: jene durch den Massentourismus. Berichte aus dem Freizeitbereich der Olympiastadt Montreal 1976 bestätigen das durch die Olympiastadt München 1972 weltweit verfestigte Bild vom Bundesdeutschen in kurzer Hose mit Bier und Sauerkraut. Inwieweit gegen diese Stereotype des privaten Deutschen die qua Amt erfolgende Repräsentanz der Bundes­ republik im Ausland oder die privat erbrachte, aber öffentlich ge­ wordene Repräsentanz durch Wissenschaftler, Künstler, Firmen und eben auch Sportler andere Akzente setzen kann, müßte untersucht werden. Diese drei Bereiche der Repräsentanz wurden erwähnt, um zu zeigen, daß erfolgreiche nationale Sportrepräsentanz nur eine unter anderen ist, daß also internationale Sporterfolge nicht überbewertet werden sollten. II. Andererseits - und das ist die zweite Überlegung - können natio­ nale Sporterfolge eine besonders wirksame Form der Selbstdarstellung eines politischen Systems sein, wie ja schon die einleitenden Berner-

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kungen über ihre Nutzbarmachung durch Diktaturen gezeigt haben. Worin liegt ihre besondere Wirksamkeit und gilt sie auch für plura­ listische politische Systeme? Eine amtliche Repräsentation, etwa durch das Auswärtige Amt, eine privat-öffentliche Repräsentation, beispielsweise durch Volkswagen, oder die rein private, ungewollte Repräsentation durch Touristen erfolgen ständig. Demgegenüber finden internationale Sportereignisse wie Olympiaden, Fußballweltmeisterschaften u. ä. zu ganz bestimmten, lange vorher bekannten Terminen statt. Neben dieser - Vorfreude verbreitenden - Heraushebung durch das Datum ist beim sportlichen Ereignis selbst die Einheit von Zeit und Ort gewahrt. Mit Hilfe der elektronischen Medien geschieht das Spektakel vor aller Augen und Ohren, - per Rundfunk erstmals groß die Olympischen Spiele in Garmisch und Berlin 1936 sowie per Fernsehen erstmals die Olym­ pischen Spiele in Rom 1960. Ein wie entscheidendes Gewicht die elektronischen Medien - angeblich nur Vermittler - an einem derartigen Weltsportfest haben, wurde in der Bundesrepublik an der einhellig kritisierten Fernsehberichterstattung aus Montreal 1976 deut­ lich. Nach meiner Erfahrung lag die Ursache der Misere darin, daß die Fernsehkameras lustlos agierten und die Reporter wenig Fähig­ keiten zur Improvisation zeigten, auch wenn man die Schwierigkeiten der Zeitverschiebung berücksichtigt. So sanken beim Fernsehen die Einschaltquoten auf unter 25 0/o. Hieran wird deutlich, daß das Medium eine vierte Besonderheit des internationalen Sportwettstreits gegen­ über allen anderen Formen der Repräsentation nicht eingefangen hat: die Spannung und Aufregung um ein ungewisses Ergebnis, das schließ­ lich in überschaubarer Zeit vorliegt. Auch politische Entscheidungen können spannend sein; aber sie erreichen höchstens an einem Wahltag, wenn die Hochrechnung des Ergebnisses schon kurz danach vorliegt, die Spannung eines Sportereignisses. Sportereignisse andererseits müssen nicht nur spannend sein, sondern auch spannend übertragen werden. Die fünfte Besonderheit liegt darin, daß die Wettkämpfe nach klaren, allen Interessierten eingängigen Regeln erfolgen, - wenn man von den wenigen ästhetisch zu bewertenden Kunstsportarten wie Turnen mit ihren ewig umstrittenen Urteilen absieht. In Zweifelsfällen entscheidet ein Schiedsrichter sofort. Man vergleiche damit im poli­ tischen Bereich die langwierige Schiedsrichterfunktion des Bundes­ verfassungsgerichts! Und das ganze Spektakel erfolgt, ohne daß ein einziges Wort nötig wäre. Insofern sind derartige Sportwettkämpfe ein Musterbeispiel für weltweit mögliche nicht-verbale Kommunikation, - etwas, was auch eine viel erfolgreichere UN niemals erreichen könnte. Schließlich ist ein derartiger Sportwettkampf - im Gegensatz zu Konflikten im politischen oder ökonomischen Bereich - zwar

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spannend, aber für die reale Existenz des Interessierten als Produzent, Konsument und Bürger völlig folgenlos, - und damit auch risikolos. Wenn man diese Skala von Besonderheiten betrachtet, dann erfüllen derartige Sportwettkämpfe das, was Herbert Krüger für „Staatsfeste" gefordert hat3 • Sicherlich ist es etwas verwegen, angesichts der unglücklichen deutschen Tradition mit Staatsfeiertagen über so etwas überhaupt nachzudenken. Nicht einmal die rückblickend verklärten Sedan-Feiern und Kaisers Geburtstage waren ja im dynastisch zerstückelten Kaiser­ reich unumstritten. Der 1 1 . August als Verfassungstag der Weimarer Republik konnte nie populär werden, auch wenn 1919 beim ersten Mal an alle Berliner Bürger „Verfassungswürstchen" verteilt wurden. Der ausgerechnet von Hitler legalisierte 1. Mai als Feiertag der Arbeit ist heute restlos privatisiert. Ähnliches gilt für den 17. Juni als Tag der deutschen Einheit. Logischerweise fand 1976 nicht einmal mehr ein offizieller Gedenkakt statt. Und der Versuch des damaligen Bundes­ kanzlers Brandt, 1974 den 24. Mai zum 25. Jubiläum des Inkrafttretens des Grundgesetzes als Volksfest zu feiern, ist damals nur von 30 000 Bonnern auf ihrem schönen Marktplatz verwirklicht worden, ansonsten aber der Parteien-Polarisierung zum Opfer gefallen. Rückblickend kommt einem aus dem politischen Bereich als „Staats­ fest" eigentlich nur jene triumphale Reise der britischen Königin durch die deutschen Lande 1965 in den Sinn. Ansonsten aber sind es Sport­ ereignisse, an denen die Mehrheit der Nation über die elektronischen Medien mit Spannung und - im Erfolgsfall - mit Freude teilnahm. Erinnert sei an den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 durch die „Helden von Bern". Wenn ich es recht sehe, erlebten damals die Deutschen in Ost und West über das Radio das letzte gemeinsame Sport- und damit auch Staatsfest; denn die DDR war international noch nicht präsent, die bundesdeutschen Fußballer also gesamtdeutsche Repräsentanten. Als die DDR dann zuerst auf sportlichem Gebiet inter­ national auch im Ausland auftrat, war die Loyalität der Zuschauer aus der DDR gespalten: sollte man sich über den Sieg eines Müncheners oder eines Leipzigers mehr freuen? Seitdem erlebt jeder deutsche Staat logischerweise seine Sport- und damit Staatsfeste für sich: die Bundesdeutschen etwa die so perfekt heiter inszenierten Olympischen Spiele in München 1972 oder die erfolgreiche Fußballweltmeisterschaft 1974, wo wiederum die sportinteressierten DDR-Bürger ihren Feiertag hatten, als die DDR der Mannschaft der Bundesrepublik die einzige Niederlage in der Vorrunde beibrachte. Die DDR-Bürger erlebten auch einen euphorischen Juli 1976, als ihre erheblich bessere Fernseh­ übertragung aus Montreal einen Olympiasieg nach dem anderen zeigen a Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 214 - 231. e Speyer 63

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konnte. Mir scheint, daß die Wirksamkeit dieser Sportfeste als Staats­ feste gerade darin liegt, daß sie auf scheinbar ganz unpolitische Weise und gerade auch bei ganz unpolitischen Menschen das für jedes poli­ tische System notwendige Mindestmaß von Gemeinsamkeit, von Be­ wußtsein der Zusammengehörigkeit bilden. Insofern ist das frühe getrennte Auftreten des deutschen Sports auf internationaler Ebene ein viel deutlicheres Indiz für die deutsche Spaltung als ihre Besiege­ lung durch den Bau der Mauer und die Deutschlandverträge. Wenn man die von Krüger entwickelten Kriterien oder eher Desi­ derate für - allerdings politische - ,,Staatsfeste" auf internationale Sportwettkämpfe überträgt, ergeben sich weitere Argumente für ihre besondere Wirksamkeit gegenüber anderen Formen staatlicher Reprä­ sentation. So konstatiert Krüger, ein derartiges Staatsfest mache „die Allgemeinheit im quantitativen Sinne räumlich gegenwärtig und sinn­ lich wahrnehmbar"4 • Jetzt wird verständlich, warum Sportveranstal­ tungen als Staatsfest theoretisch zwar ohne Zuschauer als Fernseh­ spektakel übertragen werden können, praktisch aber weder bei den Sportlern noch bei den Fernsehzuschauern die entsprechende Stimulanz erzeugen. Die Fernseh-Olympiade vor den leeren Rängen in Rom war der erste Beweis. Die Zuschauer als Repräsentanten der riesigen Fernsehgemeinde sind notwendig. Weiter fordert Krüger: ,,Indem alle sich ohne Rücksicht auf besondere Eigenschaften einfinden und mit­ einander feiern, begegnen sie sich als Bürger oder gar als ,Brüder' und finden sich als allgemeine zusammen5 ." Spätestens seitdem es schichtenspezifische Sportarten im engeren Sinne kaum noch gibt, also auch der Fußball in den Augen der Zuschauer seinen proleta­ rischen Charakter verloren hat, ist so eine Forderung nach der klassen­ losen Gemeinschaft auf den Rängen der großen Stadien und vor den Fernsehschirmen keine Utopie mehr. Alle Zuschauer sind im Prinzip gleich, auch wenn es zwischen Nordkurve und Tribüne noch Unter­ schiede gibt. Mit Bedauern sieht Krüger, daß „Staatspflege praktisch daran scheitert, daß diejenigen neutralen Pfleger nicht aufzufinden sind, die hierfür vorausgesetzt sind" 6 • Das mag für Regierung, Parteien, Kirchen und Interessenverbände zutreffen, nicht aber für den organisierten Sport der Bundesrepublik. Alle seine Repräsentanten der Nachkriegs­ zeit haben - nach den Erfahrungen im Dritten Reich - die partei­ politische Neutralität ausdrücklich betont, und der Sport wird auch derart neutral von den Zuschauern verstanden, - selbst wenn man manchen Funktionären rechtskonservative Tendenzen nachweisen 4 Ebd., S. 221. 11 Ebd. & Ebd., S. 217.

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konnte7 • Zu diesem Image der politischen Neutralität paßt es, daß das Auftreten prominenter Spitzensportler als Wahlwerber für die Parteien in den Wahlkämpfen 1969 und 1972 wohl Episode bleibt. Die Sportler selbst haben gespürt, daß ihr Marktwert darunter leidet, zumal eine ganz Prominente in den drei Jahren auch noch ihre Partei wechselte. So ist die Aufforderung des Präsidenten des Deutschen Sportbundes, Willi Weyer, an die Parteien, im Bundestagswahlkampf 1976 keine aktiven Spitzensportler als Wahlhelfer einzusetzen, nur logisch8 • Ebenso logisch ist, daß sich das vielgescholtene Internationale Olympische Komitee (IOC) nicht nach dem UN-Prinzip: Jedes Land eine Stimme, zusammensetzt, sondern seine Mitglieder kooptiert, um wenigstens Reste von Unabhängigkeit zu erhalten, um also möglichst neutraler, von Staatsinteressen freier Ausrichter dieses Weltfestes bleiben zu können. Schließlich sollen nach Krüger Staatsfeste im Zeichen von Werten stehen. Auf den ersten Blick erscheint die sportliche Jagd um Bruchteile von Metern und Sekunden recht banal. Andererseits lag offenkundig im Sport der britischen Schulen und im patriotischen deutschen Turnen von vornherein eine starke erzieherische Komponente. Pierre de Coubertin als glühender französischer Patriot hat 1894 nicht zuletzt deshalb die Olympische Idee wiederbelebt, um auf diese Weise sein Vaterland im imperialistischen Wettstreit mit England und Deutschland zu stärken. So ist der scheinbar banale Wahlspruch: Citius, altius, fortius, zum Symbol der modernen Leistungsgesellschaft geworden. Fast unmerklich vermittelt der Sport für den, der ihn ausübt oder der ihm nur zuschaut, wichtige Normen und Werte wie das Einhalten von Regeln, Fairness, Leistungswillen, Selbstdisziplin und schließlich über­ haupt die demokratische Vorstellung, daß der einzelne sich unabhängig von Geburt, ererbtem Vermögen oder erworbenem Bildungsstand durch­ setzen könne, wenn er nur wolle. Von einflußreichen Pädagogen wie Friedrich Ötinger9 über Politiker wie den fußballbegeisterten seiner­ zeitigen Kanzler Ludwig Erhard bis zu dem Industriellen und Sport­ hilfe-Chef Josef Neckermann ist der Sport immer wieder gelobt worden, weil er beim Sportler und Zuschauer diese für die Gesellschaft wichtigen Werte verinnerlicht. Symptomatisch dafür sind die Worte, mit denen Papst PauL VI. 1974 die Berufsradfahrer der 57. Giro d'Italia verabschiedete: 7 Beispiele bei Winkler (FN. 1), S. 68 ff., 84 ff. ; dazu auch der Bericht des Insiders Arnd Krüger, Sport und Politik. Vom Turnvater Jahn zum Staats­ amateur, 1975, S. 85 ff. 8 Zit. n. FAZ v. 1. 6. 1976. e Friedrich Ötinger, Partnerschaft. Die Aufgabe der politischen Erziehung, 19563 ; vgl. auch Ludwig Erhard, Wohlstand für alle, bearb. v. Wolfram Langer, 1957.

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„Die Jugend.liehen dürfen in Euch, liebe Athleten, nicht ein abstraktes Ideal finden, sondern das konkrete Beispiel der Genügsamkeit, des Opfers, der Selbstkontrolle, der Kameradschaftlichkeit und der Brüderlichkeit, das sie ermutigt, auf dem schwierigen Weg des Lebens eine gerade Linie zu verfolgen10. "

Offensichtlich entsprechen solche Thesen weder dem modernen Spitzen- und Schausport mit seinen hohen Investitionen, seiner gnaden­ losen Konkurrenz und seinen Manipulationen, die im Geschäftsleben als unlauterer Wettbewerb verboten wären. Außerdem entsprechen die im Sport propagierten Werte nur teilweise den gesellschaftlichen Be­ dingungen. Erwähnt sei als Beispiel das Einhalten der Regeln. Sport­ liche Regeln sind relativ einfach, herrschaftsfrei, unumstritten, be­ ständig, nur dem Ablauf des Wettkampfes dienend. Politische Regeln dagegen, von der Verfassung bis zur Verordnung, sind kompliziert, auslegungsbedürftig, von Mehrheiten gesetzt und deshalb umstritten, historisch bedingt und deshalb veränderbar; und sie sind nicht folgenlos wie beim Spiel, sondern betreffen jedes Mitglied der Gesellschaft, für das sie gelten. An diesem Beispiel wird verständlich, warum im Zuge der Studenten­ unruhen auch eine linke Sportkritik entstand, die den Sport, vor allem den Spitzensport, als Sozialisationsagentur des kapitalistischen Systems zu entlarven suchte. Allerdings fand diese Entscheidung im organisier­ ten Sport und in der Öffentlichkeit Unverständnis, geringes Interesse oder undifferenzierte Ablehnung. Mitschuld daran trug die Kritik selbst, weil sie streng dogmatisch marxistisch argumentierte und entsprechend kompliziert formulierte. Erst als nach dem Schock der Ölkrise 1973 eine allgemeine Diskussion über die ungehemmte „Lei­ stungsgesellschaft" einsetzte, heute auch kritisch als Erfolgsgesellschaft oder von der SPD im Wahlkampf 1976 als „Ellbogengesellschaft" bezeichnet, wurde Sport als Übermittler von Werten und Normen nüchterner betrachtet11 • Dennoch spielt auch in der parteipolitischen Auseinandersetzung die Stellung zum Leistungssport ihre Rolle, wie die Sportdebatte des Deutschen Bundestages am 30. Januar 1976 zeigte, als der Abg. Dr. Schäuble für die CDU/CSU der Regierung vorwarf, kein richtiges Verständnis für die Leistungen der Spitzensportler zu haben: ,,Sie brauchen eine grundsätzliche Leistungsbereitschaft in unserer Be­ völkerung, die sich mit dem individuellen Leistungsstreben der Spitzensport­ ler solidarisiert . . . Auf diesem Feld der allgemeinen Einstellung zur Leistung 10 Zit. n. FAZ v. 12. 7. 1974. 11 Als Beispiel für nüchterne Kritik vgl. das Heft „Sport und Politik " der Reihe „Der Bürger im Staat", hrsg. v. d. Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, H. 3/1975, mit Beiträgen von Ommo Grupe, Bero Rigauer, Hans-Joachim Winkter u. a.

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liegen die entscheidenden Mängel, für die diese Bundesregierung die Ver­ antwortung trägtiz. " Spätestens seit dem monströsen Weltsportfest von Montreal 1976 ist allerdings die Ideologie vom fröhlichen Leistungssport als Spiegel der Leistungsgesellschaft zerbrochen, und zwar nicht durch die vielge­ scholtene Politisierung des Sports, sondern durch das Bild, das Lei­ stungssportler selbst vermittelten, wie es eine Glosse der „Süddeutschen Zeitung" erschreckt schilderte: „Was wir nun gesehen haben, spricht allem Hohn, was man bisher zur Rechtfertigung der extremen sportlichen Leistung vorgebracht hat . . . Statt dessen wurde der Weg beschritten, den in seiner eigentlichen Leistungsver­ fassung unvollkommenen Menschen neu zu gestalten: brustlose Frauen, Männer, deren Reflexe medikamentös verändert waren, hormonale Um­ steuerungen, gewaltsame Gewichtsmanipulationen, um in anderen Leistungs­ klassen starten zu können. Diesen neugeschaffenen Modellathleten aus den Laboratorien der jeweiligen nationalen Frankensteins genügt verständlicher­ weise die Natur nicht, wie sie ist. Mit Kunststofflaufbahnen hat es begonnen; in Montreal wurde zum ersten Mal auf Kunstrasen gespielt . . . Die Fort­ setzung olympischer Weltfestspiele unter diesen Bedingungen ist ein Alptraumt3." Diese Symptome für eine Gesellschaft, in der nicht die Leistung, sondern nur der Erfolg zählt, in der es nicht auf Fairneß, sondern auf das überstehen der Dopingkontrolle ankommt und in der überhaupt nicht mehr gefragt wird, wofür man etwas leisten soll, sind vor allem auch von den deutschen Sportfunktionären heftig kritisiert worden. Aber schließlich kann ein derartiges Weltsportfest auch nur das wider­ spiegeln, was die Gesellschaften darstellen, die die Athleten entsenden. Wenn also Staatsfeste auch Werte deutlich machen sollen, dann können sie es - wie Montreal gezeigt - nur insoweit, wie in der jeweiligen Gesellschaft relative Einigkeit über sie besteht. Hinter Staatspflege und Staatsfesten im Sinne von Krüger steht als zentrale Idee das Prinzip der Integration des einzelnen und der Gruppen in das politische System und damit die Stabilität des Systems. Dabei wird meistens stillschweigend unterstellt, daß es sich um ein freies, gerechtes und soziales System handelt. Jedenfalls ist die Selbst­ darstellung des Staates durch ein derartiges Staatsfest dann erfolgreich, wenn, wie Krüger schreibt, die Menschen „aus dem politischen Fest gestärkt und angefeuert hervorgehen"14• Nun zeigen Alltagsbeobach­ tungen in Betrieben unmittelbar nach einem national erfolgreichen Sportereignis tatsächlich vorübergehend eine gewisse euphorische Stimmung. Daß sich dieses Gefühl vom Sport auf das politische System 12 Zit. n. Das Parlament Nr. 7 v. 14. 2. 1976, S. 2. 1 a Süddeutsche Zeitung v. 2. 8. 1976. 1, H. Krüger (FN 3), S. 227.

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automatisch überträgt, zeigt beispielhaft die vom Institut für Demo­ skopie wöchentlich ermittelte Popularitätskurve des Regierungschefs. Der damalige Bundeskanzler Brandt erreichte den höchsten Punkt auf der Skala während der Münchener Spiele 1972 unmittelbar vor dem Massaker von Fürstenfeldbruck15 , obwohl er in seiner Funktion für die Ausrichtung der Spiele überhaupt nicht zuständig war. Offensicht­ lich schlägt sich also die Freude über eine erfolgreiche sportliche Selbstdarstellung des eigenen Systems in der Identifikation mit diesem System und seiner politischen Führungsfigur nieder. München 1972 ist aus zwei Gründen für ein Sportfest als Staatsfest bemerkenswert. Einmal sollte man annehmen, daß Diktaturen der­ artige Staatsfeste erheblich pompöser und erfolgreicher ausrichten können, wie es Hitlers Olympiade und seine Reichsparteitage gezeigt haben oder die großen Inszenierungen der kommunistischen Staaten etwa am 1 . Mai heute zeigen. München dagegen, wie schon das viel bescheidenere Helsinki 1952, hat bewiesen, daß auch ein pluralistischer Staat, wenn er die richtigen Köpfe beruft und genügend Mittel bereit­ stellt, ein derartiges Fest großartig inszenieren kann - und in München sogar noch weisungsgemäß heiter. Die zweite Überraschung liegt darin, daß die Münchener Spiele auf die bundesdeutsche Bevölkerung inte­ grierend gewirkt haben, obwohl es - vor allem in der Anfangsphase manche enttäuschte Medaillenhoffnung gab. Dieses erstaunliche Phäno­ men, diesen Widerspruch zur Leistungsgesellschaft, hat damals die Schlagzeile einer Münchener Boulevardzeitung genau getroffen: ,,Die anderen siegen. Wir sind heiter !" Demgegenüber bieten die Spiele in Montreal 1976 ein Beispiel dafür, wie ungünstige Faktoren die Ent­ wicklung eines Sportfestes zum Staatsfest verhindern. Als klar wurde, daß alle Pläne der Selbstfinanzierung der Spiele Utopie waren und die Bürger bis in die nächste Generation mit Zusatzsteuern rechnen müssen, war die Stimmung in der gastgebenden Stadt reserviert bis negativ. Angesichts der Strukturkrisen in der Provinz Quebec nutzten ökonomisch starke Gruppen den Termindruck zu Erpressungen, die angesichts der nach den Spielen drohenden Arbeitslosigkeit nicht unverständlich waren. Dazu war die zwischen Stadtführung und Bau­ leitung entstandene Korruption zu offenkundig. Schließlich war der Austragungsort aus Strukturgründen problematisch als Integrations­ bühne ; denn die francophonen Bürger dieser Stadt zweifeln als starke, aber benachteiligte Minderheit die Legitimation ihrer anglophonen Staatsführung an. Schon aus diesem Grunde waren starke Sicherheits­ maßnahmen erforderlich, was schließlich zu dem Paradox führte, daß den gut 7000 Sportlern ca. 16 000 Mann als Sicherheitskräfte gegenüberstanden. Sicherlich bieten derartige Spiele mit ihrem 16 Die Kurve ist abgedruckt in FAZ v. 23. 11. 1972.

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weltweiten Aufmerksamkeitseffekt die ideale Bühne für Protest und Terror. Was Montreal an Sicherheit bot, ließ jedoch keine Feststimmung aufkommen. Erst bei der nächtlichen Schlußveranstaltung, als Zu­ schauer alle Barrieren überwanden, entstand für zwei Stunden die große Integrationsstimmung. Warum der bundesdeutsche Beitrag immerhin der vierte Rang im Medaillenspiegel - zu Hause eher negative Wirkungen hervorrief, jedenfalls kaum Integration erzeugte, ist oben im Zusammenhang mit den Medien beschrieben worden. Josef Neckermann hat denn auch resignierend festgestellt: ,,Die Olym­ pischen Spiele in Montreal haben der Stiftung Deutsche Sporthilfe sehr geschadet16 .'' Schließlich noch ein Wort zur viel kritisierten Politisierung der­ artiger internationaler Sportwettkämpfe. Diese Erscheinung ist nur der letzte Beweis dafür, daß es sich um eine Art Staatsfest für die teilnehmende Nation handelt und daß dabei politische Ansprüche dokumentiert werden sollen, beispielsweise lange Zeit die deutsche Alleinvertretung durch die Bundesrepublik oder in Montreal Taiwans Versuch, ganz China zu repräsentieren. Ob ein Boykott von Staaten­ gruppen wie der der Afrikaner gegen das mit Südafrika sportlich zusammenarbeitende Neuseeland Zukunft haben wird, ist fraglich. Gerüchte, daß Länder der Dritten Welt unter Führung Chinas eine Gegen-Olympiade aufbauen, scheinen eher mit Moskau als dem Aus­ tragungsort der nächsten Spiele zusammenzuhängen. Schon in der Zwischenkriegszeit hat man als Konkurrenz Arbeiter-Olympiaden ge­ gestartet, ohne das universale Prinzip der eigentlichen Olympischen Spiele brechen zu können. Und falls das olympische System zerbrechen sollte, dann werden verstärkt Weltmeisterschaften die internationale Sportkonkurrenz beleben. Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß staatliche Repräsentation im internationalen Sport zwar wirksam, aber auch folgenlos ist. Die Erfahrung hat gezeigt, daß Staaten, die schnell zu sportlichem Boykott bereit sind, sich ökonomischen, also folgenreichen Boykott mehr als dreimal überlegen. Jedenfalls haben die Beispiele verdeutlicht, daß internationale Sportwettkämpfe sehr wohl besondere Möglichkeiten zu staatlicher Repräsentanz und zu Staatspflege, ja sogar zu Formen von Staatsfesten bieten. Ebenso wurde deutlich, daß für Repräsentations- und Integra­ tionswirkung gewisse Voraussetzungen notwendig sind. Eine Prognose sei gewagt: Die Olympischen Spiele Moskau 1980 werden, Stabilität der internationalen Lage und in der Sowjetunion vorausgesetzt, für die Sowjetunion nach innen integrierend wirken und den teilnehmenden Nationen wahrscheinlich eine bessere Möglichkeit der Repräsentation bieten. te Zit. n. FAZ v. 12. 8. 1976.

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m. Wenn deutlich geworden ist, warum die politische Führung eines Systems an den Möglichkeiten der Selbstdarstellung durch Sporterfolge interessiert sein kann, lohnt ein Blick auf das organisatorische Ver­ hältnis zwischen Staat bzw. seiner Regierung und dem Spitzensport. Dabei ist allerdings vorweg zu bemerken, daß Sporterfolge im Welt­ maßstab nicht befohlen werden können. Wohl gibt es Möglichkeiten der Motivation, der Manipulation oder der wissenschaftlichen Ver­ besserung von Leistungsmöglichkeiten; im Enderfolg jedoch muß diese Leistung freiwillig erbracht werden, wenn sie Weltspitze in der internationalen Konkurrenz darstellen soll. Unter Beachtung dieser Einschränkung gibt es vier Möglichkeiten des Verhältnisses Staats­ führung zu Spitzensport: 1. Die Staatsführung ist an derartiger Repräsentanz nicht interessiert oder aus der Tradition der politischen Kultur ihrer Gesellschaft nicht legitimiert, im Sportsektor aktiv zu werden. Das Beispiel der USA zeigt, daß durch privates Mäzenatentum oder durch die ökonomische Konkurrenz der privaten Universitäten erfolgreiche nationale Sport­ repräsentation erfolgen kann, - zumindest in Disziplinen mit hohem öffentlichem Interesse. 2. Eine Sportart ist derart publikumswirksam, daß sie sich selbst finanzieren kann, also keine Staatsunterstützung braucht. Das Profi­ System des europäischen Fußballs (einschließlich der Staats-Amateure aus den kommunistischen Staaten) bietet ein Beispiel dafür, daß in den geschickt organisierten Europa- und Weltmeisterschaften die Fußballmannschaften zwar rein private, aber öffentliche repräsentie­ rende Institutionen sind. Das ist bei uns schon an der Stellung der beiden bisherigen Bundestrainer Sepp Herberger und Helmut Schön abzulesen, deren „Amt" und Autorität in den Augen der Fußball­ interessierten sich an Bedeutung ohne weiteres mit dem des Bundes­ präsidenten messen können. 3. Sport und Staat gehen eine Symbiose ein; der Sport dient also bewußt den Zielen und Interessen des Staates oder wird in Dienst genommen, wie etwa die Erfahrungen aus dem NS-System und aus der DDR zeigen. 4. Der organisierte Sport oder einzelne repräsentative Sportler zweifeln die Legitimität ihres staatlichen Systems an und wollen nicht repräsentieren. Das galt für die bürgerliche Turnbewegung oder den marxistisch orientierten Arbeitersport in der Weimarer Republik, aber auch für Sportstars aus der DDR, die einen Start im Ausland zur „Republikflucht" benutzten.

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Ob sich selbst überlassen, aber dennoch repräsentierend, ob dem Staat dienend oder sich ihm verweigernd, alle Möglichkeiten einschließ­ lich der Zwischenmodelle beweisen, daß sich derartige Sportkonkurrenz nicht in gesellschafts- und politikfreiem Raum abspielt, wie das Sport­ funktionäre gern glauben machen. Dazu zeigt ein Blick auf die Welt­ sportlandschaft, daß die Staaten offensichtlich in sehr unterschiedlichem Maße Wert auf Repräsentation durch Sporterfolge legen. Wenn man an die Funktionen derartiger Repräsentation erinnert, vor allem Integration und Identifikation, dann gibt es offensichtlich Staaten mit großer Tradition, unbezweifelter Identität und hoher Stabilität, die auf ein derartiges Instrument zur Erzielung von Massenloyalität nicht angewiesen scheinen. Ein Beispiel dafür ist etwa Neuseeland, wo fast jeder Bürger Sport treibt, wo aber der Staat keinen Schilling für nationale Sportrepräsentation ausgibt. Repräsentation durch Sport, ob privat, staatlich unterstützt oder vom Staat geleitet, ist also ungewollt oder gewollt auch eine politische Repräsentation. Angesichts dieser Tatsache muß es verwundern, daß etwa im olympischen Bereich von Politisierung erst gesprochen wird, seit 1952 neben bürgerlich-kapita­ listischen und faschistischen Staaten auch sozialistische Staaten in die Konkurrenz eingriffen. Die deutsche Entwicklung seit der Industriali­ sierung - und der moderne Sport ist ein Kind dieser Industrialisierung - zeigt beispielhaft mehrere der oben skizzierten vier Möglichkeiten17 : Im deutschen Kaiserreich dominierte die Turnerschaft, die national und antisemitisch das deutsche Großmachtstreben bejahte, den eng­ lischen Sport als undeutsch ablehnte und oft in Konflikte mit mehr international orientierten Fachverbänden wie dem Fußballbund geriet. Im Schatten dieses deutschen Glanzes standen Sportorganisationen mehr oder weniger benachteiligter Minderheiten, nämlich die Arbeiter­ sportbewegung und die katholische „Deutsche Jugendkraft" . Diese Trennung in klassenmäßig und weltanschaulich unterschiedliche Grup­ pen sollte auch für die Weimarer Republik typisch bleiben. Immerhin konnte die deutsche Mannschaft bei den Olympischen Spielen in Amsterdam 1928 nach dem Ende der sportlichen „Bestrafung" für den ersten Weltkrieg im Medaillensoiegel den 2. Rang erringen, während 1932 in Los Angeles Erfolge ausblieben, - Symbol für die schwierige Lage der Republik in ihrer Endphase? Erst in der Hitler-Diktatur entstand durch Verbote und Gleich­ schaltung eine einheitliche deutsche Sportorganisation, die mit den Erfolgen bei den Olympischen Spielen in Berlin 1936 das ihrige zur weltweiten Anerkennung des Hitlerregimes beitrug, - und zwar freiwillig. Daß der deutsche Sport nach Kräften zu der so überaus erfolgreichen Repräsentation des „wiedererstarkten" Deutschland 1936 11 Vgl. Winkler (FN. 1), S. 36 ff., 65 ff.

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beitrug, soll hier nicht verurteilend festgestellt werden. Von der Justiz bis zur Wissenschaft haben schließlich alle Gruppen zwar gleichgeschaltet, aber freiwillig mitgearbeitet. Was dem deutschen Sport anzulasten ist, liegt in seiner politischen Blindheit auch in einer Zeit, als man es längst hätte besser wissen müssen. Carl Diem, Erfinder des olympischen Fackellaufes 1936 und auch nach dem Kriege als prominenter bundesdeutscher Sportführer angesehen, schrieb noch 1960 in seinem Standardwerk18 : „Sowohl in Garmisch wie auch in der Hauptstadt Berlin ging die Feier in vollendeter Harmonie vor sich. Erst nach dem Zusammenbruch fanden sich deutsche Kritiker und auch einige Ausländer, die das Fest als eine unerlaubte politische Propaganda gebrandmarkt haben. Man konnte das leicht wider­ legen; denn es wurde ja nach den Spielen der offizielle Dank und die Anerkennung des Internationalen Olympischen Komitees ausgesprochen." Wer Hitlers Einhaltung olympischer Regeln nicht als Verschleierung erkennt und wer nicht wenigstens nachträglich sieht, daß 1936 die Propaganda für die Hitler-Diktatur deshalb so besonders erfolgreich war, weil sie scheinbar unpolitisch daherkam, dem muß politisch­ soziale Sensibilität abgesprochen werden. Aber den olympischen Funk­ tionären wird ja nachgesagt, daß sie weniger mit dem Kopf als mit dem Herzen denken. Am Rande sei vermerkt, daß seit 1936 auch der Widerstand der „deutschen" Turnbewegung gegen die mit dem „eng­ lischen" Sport dominierenden Konkurrenz-, Leistungs- und Erfolgs­ prinzipien öffentlich wirkungslos geblieben ist. Zwar gibt es auch heute noch regelmäßig die „Deutschen Turnfeste" als erfolgreiche Massenveranstaltung im Geiste der Turnväter. Bei der sportlichen Repräsentanz Deutschlands - und das war ja unsere Frage - spielt dieser Teil des organisierten Sports keine Rolle mehr. Ob sein Beitrag zur Verwirklichung des Prinzips eines lebenslangen Sports für jeder­ mann vielleicht wichtiger ist als die repräsentativen Erfolge der Bundesleistungszentren und der Profi-Fußballer, kann hier nicht er­ örtert werden. Nach der Niederlage 1945 knüpften beide deutschen Staaten in ihrer Sportpolitik und in der Politik ihres organisierten Sports an deutsche Erfahrungen an. Beide behielten das System einer einheitlichen Organisation bei. Die DDR wahrte die Kontinuität, indem sie die Tradition der Turner von 1848 oder des Widerstands von Arbeiter­ sportlern seit 1 933 pflegte. In der Organisationsform behielt sie die straffe zentralistische Organisation des Dritten Reiches, stellte sie aber nun ausdrücklich in den Dienst des Aufbaues des Sozialismus. In der Bundesrepublik belebte man die Tradition des bürgerlichen, staats­ freien Sports, und zwar mit den Vereinen als Basis, mächtigen Fach1e Cari Diem, Weltgeschichte des Sports und der Leibeserziehung, 1960, S. 1070 f.

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und Landesverbänden sowie einer relativ schwachen Spitze, dem Deutschen Sportbund (DSB), als eine Art Spiegelbild unseres Födera­ lismus. Er nennt sich in § 3 seiner Satzung „überparteilich". Zwar ist der Sport im Grundgesetz - im Gegensatz zu den Art. 18, 25 und 35 der DDR-Verfassung von 1968 - nicht erwähnt. Auch für die einschlägigen Kommentare ist er nicht relevant. Er ist jedoch unbestritten als Teil der Kulturhoheit Sache der Bundesländer. Der sich derart selbst überlassene Sport der Bundesrepublik erfüllte lange auch ohne jede staatliche Hilfe die Repräsentationsaufgaben im inter­ nationalen Sportwettkampf, etwa als Alleinvertretung bei den Olym­ pischen Spielen in Helsinki 1952 (allerdings neben dem „autonomen" Saarland mit eigener Mannschaft, Fahne und Hymne !) oder als erfolg­ reicher Gewinner der Fußballweltmeisterschaft 1954. Der staatsfreie Repräsentationserfolg hielt auch an, als die DDR nicht mehr zu über­ sehen war und das IOC einen seiner vielen Kompromisse schloß: gesamtdeutsche Mannschaft unter Olympiafahne und mit Beethoven­ hymne nach Ausscheidungskämpfen. Noch für die Spiele in Melbourne und Rom stellte nach dramatischen Ausscheidungskämpfen die Bundes­ republik die meisten Sportler und damit den Missionschef. So trug der Sport durch seine repräsentativen Erfolge, auch gegenüber der ungeliebten DDR, erheblich zur Entwicklung eines Staatsgefühls im Teilstaat Bundesrepublik bei, vielleicht mindestens soviel wie das „Wirtschaftswunder", weil letzteres ja auch viele Ungerechtigkeiten schuf. Die Problematik des Verhältnisses Sport - Staat begann erst, als der bundesdeutsche Sport diese Repräsentationsfunktion nicht mehr erfolgreich erfüllte. In Tokio 1964 waren erstmals die DDR-Sportler in der „gemeinsamen" Mannschaft in der Überzahl und stellten den Missionschef. Schließlich mußte das IOC 1965 zwei deutsche Mann­ schaften als Repräsentanten „ihres" jeweiligen Systems anerkennen. Zwar wählte das IOC 1966 völlig überraschend und auch wider alle politische Logik eine Stadt in einem geteilten Land, nämlich München zum Austragungsort der Spiele 1972 als eine Art Trostpflaster. Aber das hatte nichts mit den nachlassenden Erfolgen bundesdeutscher Sportrepräsentanz zu tun, - wenn man von den Erfolgen der Fußball­ mannschaften absieht. Als Antwort auf dieses Repräsentationsdefizit im Sport nahm man die Konkurrenz zur leistungsstärkeren DDR auf, und zwar durch neue Organisationsformen. Zum einen initiierte Josef Neckermann 1967 die „Sporthilfe", um die Spendengelder der Wirtschaft wirksamer zu koordinieren. In­ zwischen ist dies keine Sache der „Wirtschaft" mehr (eine Sache der Arbeiter in der Wirtschaft war es nie), sondern die Mittel kommen aus Spenden der einfachen Bürger, aus Überschüssen der „Glücks-

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spirale" und dem Verkauf von Sonderbriefmarken sowie Staatszu­ schüssen. Die „Sporthilfe" ist also nur noch ganz bedingt eine private „Bürgerinitiative". Immerhin ist sie Symptom für das Wesen von Bürgerinitiativen. Sie entstehen überall dort, wo das politische System Aufgaben nicht oder in unerwünschtem Sinn erledigt, wo die Bürger also eine andere Lösungsmöglichkeit wünschen. Aber es ist ihr unbestreitbares Verdienst, das System der Förderung von Spitzen­ sportlern aus dem Wildwuchs der Vereine und Verbände bereinigt und effizienter gemacht zu haben. Die zweite Antwort auf die geringen Erfolge bundesdeutscher Sport­ repräsentation gab der Bund. Als die Bundesregierung am 28. August 1970 erstmals einen „Sportbericht"19 vorlegte, erfuhr die erstaunte Öffentlichkeit zweierlei: daß der Bund sich in der nationalen Sport­ repräsentation für zuständig hält und daß er sie mit erheblichen Steuergeldern fördert. In dem Bericht heißt es, bis heute unwider­ sprochen: „Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Kompetenzregelung für die Sportförderung. Diese obliegt daher gemäß Art. 30 GG grundsätzlich den Ländern. Der Bund besitzt jedoch aus der Natur der Sache eine Zuständig­ keit zur Förderung des Spitzensports, da dieser der gesamtstaatlichen Re­ präsentation dient und im wesentlichen nur bundeszentral betrieben und gefördert werden kann. " Die zweite Überraschung für Außenstehende lag darin, daß der Bund schon lange die nationale Sportrepräsentanz, wie überhaupt den organisierten Sport, mit Steuergeldern finanziert. Der 1. Sportbericht der Bundesregierung von 1970 zeigt, daß im Jahre 1961, als der Sport die Repräsentationsfunktion noch fast rein privat erfolgreich erfüllte, nur 45 000 DM an den DSB gezahlt wurden. 1976 sind es nach dem 3. Sportbericht der Bundesregierung20 allein für diese Organisation 4,24 Millionen DM. Dazu kamen 1976 noch zahlreiche andere Posten, beispielsweise 3,8 Millionen DM für die Bundestrainer der Fachver­ bände oder 17,9 Millionen für „Sportstättenbau für den Hochleistungs­ sport", - von so kleinen Summe wie 710 000 DM für Kongreßreisen der Funktionäre gar nicht zu reden. Praktisch wird heute der Gesamt­ etat des auf seine Staatsfreiheit so stolzen DSB zu 90 0/o aus Bundes­ mitteln finanziert21 • Das formal ebenso unabhängige Nationale Olym­ pische Komitee (NOK) lebt schon immer fast ausschließlich von Steuer­ geldern (1976: 5,34 Millionen DM). Insgesamt hat der Bund 1976 rund 234 Millionen DM für die Sportförderung bereitgestellt, das sind 10 Deutscher Bundestag, 6. Wahlperiode, Drs. VI/1122, abgedruckt im Dokumententeil v. Winkler (FN. 1), S. 149 ff. 2 0 Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drs. 7/4609, S. 9. 21 Lothar Wrede (Mitglied des Sportausschusses des 6. Deutschen Bundes­ tages), Goldener Plan gefährdet?, in : Vorwärts v. 10. 5. 1973.

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0,14 °/o des Gesamtetats. Allerdings sind darin auch andere Förderungen enthalten bis hin zu Geldern für die Postsportvereine aus dem Etat des Bundespostministeriums. Für nationale Sportrepräsentanz standen 37,7 Millionen DM zur Verfügung. 1976 hat aber auch gezeigt, daß die öffentliche Finanzierung der Staatspflege qua Sport als Antwort auf die erfolgreichen Aktivitäten der DDR vollkommen ausreichend war. Vor den Spielen in Montreal war nämlich erstmals nicht eine einzige Stimme zu hören, die behauptet hätte, unsere Sportler seien aus Geldmangel nicht optimal vorbereitet. Diese Zufriedenheit mit der öffentlichen Hand ist bei einem Interessen­ verband äußerst selten zu finden. Aber gerade weil es nicht an Geld gefehlt hat, ist ja die oben zitierte Enttäuschung Josef Neckermanns iiber die Wirkung der Spiele so tief gewesen. Nüchtern betrachtet lagen die bundesdeutschen Erfolge gar nicht so weit hinter den Erwartungen. Aber die Medien hatten es nicht vermocht, im sportinteressierten Publikum die freudige Resonanz über diese Repräsentation aufkommen zu lassen. Das aber war schließlich der letzte Sinn des Einsatzes von Steuergeldern. So wird deutlich, daß nicht objektive Leistungen ent­ scheidend sind, sondern daß eine derartige Staatspflege öffentlich finanziert wird, weil die politisch Verantwortlichen glauben, bzw. sich von den Medien einreden lassen, daß die Mehrheit der Bürger Staats­ pflege in dieser Form wünscht. Entsprechend begründet der 3. Sport­ bericht der Bundesregierung diese Politik: ,,Hochleistungssport ist . . . Wettstreit der Nationen und Kontinente. So gesehen ist er ein wich­ tiger Faktor nationaler Identifikation und Repräsentation." Und über den DSB heißt es: ,,Die Erfüllung seiner Aufgaben . . . liegt über­ wiegend im Bundesinteresse22 . " Daß diese Staatsfinanzierung erhebliche Folgen für den Staat und den organisierten Sport haben kann, soll im folgenden skizziert werden.

IV. Eines der Probleme wird in dem schon erwähnten 3. Sportbericht angedeutet, wenn es dort heißt: ,,Bei ihren Maßnahmen geht die Bundesregierung von der Unabhängigkeit des Sports auf der Grund­ lage partnerschaftlichen Zusammenwirkens aus." Drei Zeilen später aber wird gewarnt: ,,Dem steht nicht entgegen, daß die mit der Vergabe öffentlicher Mittel zwangsläufig verbundenen Kontrollfunk­ tionen der zuständigen verfassungsmäßigen Organe, d. h. die Verant­ wortlichkeit der Bundesregierung und des zuständigen Ressortministers gegenüber dem Parlament, nicht eingeschränkt werden dürfen. " Un­ abhängig vom Haushaltsrecht ist bei derartigen Partnerschaften ja 22

3 . Sportbericht (FN. 20), S. 6, 8.

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stets der Geldgeber etwas „ gleicher" als der Empfänger. Immerhin sind mit Hilfe der Macht des Geldes Strukturreformen bei der Förde­ rung des Leistungssports erreicht worden23 , die bisher von der Selbst­ herrlichkeit der Vereins- und Verbandsfunktionäre blockiert waren. Nach dem zentralistischen Beispiel der DDR entscheidet ein „Bundes­ ausschuß für Leistungssport" (BAL) als die derzeit mächtigste Instanz im Spitzensport für die olympischen Disziplinen. Bei den „nicht­ olympischen Verbänden" sind nach den „Leitlinien zum Leistungs­ programm der Bundesregierung"24 „für den Umfang der Förderung nationale und internationale Verbreitung, ihre Öffentlichkeitswirksam­ keit und ihre Entwicklungsmöglichkeit zu berücksichtigen". Praktisch entscheidet also über die Förderung neuer Sportarten nicht der orga­ nisierte Sport, sondern das Bundesinnenministerium. Ob „Jugend trainiert für Olympia" oder die Internatsschule für junge Schwimmer in Saarbrücken, - immer ist der Bund mit Geld, also auch mit Macht dabei. Das hat inzwischen ganz logisch zu zwei Arten von Kritik geführt. Als eine typische Stimme für den organisierten Sport am Gängelband der öffentlichen Finanzierung sei noch einmal der Abg. Dr. Schäuble aus der Sportdebatte des Deutschen Bundestages zitiert: ,,Was eigent­ lich mag der DSB mit seinen über 13 Millionen Mitgliedern noch in eigener Zuständigkeit zu entscheiden, wenn er über jede Position seines Haushalts mit den Beamten des Bundesinnenministeriums hinter ver­ schlossenen Türen feilschen muß - mit all den Rücksichtnahmen, die ein so kleinlicher Zahlmeister gebietet? 25 !" Vom Budgetrecht als einem der wichtigsten Rechte des Parlaments und von der Pflicht zu spar­ samer Haushaltsführung, einem ehernen Grundsatz bei der Vergabe öffentlicher Gelder, ist dann keine Rede mehr, wenn man, wie wohl im Falle dieses Oppositionsabgeordneten, auf das Wohlwollen der Sport­ funktionäre blickt. Denn was er kritisiert, ist nichts als die logische Konsequenz, wenn der organisierte Sport von Steuergeldern leben will. Genau aus der anderen Ecke kommt die Kritik des Bundesrechnungs­ hofes, beispielsweise in seinem Abschlußbericht über die finanzielle Beteiligung des Bundes an den Münchener Spielen 1972, wo es neben harter Kritik an Einzelmaßnahmen generalisierend heißt26 : Der Bundes­ innenminister „sorgte auch nicht dafür, daß der Bund auf die Kosten der Gestaltung der Anlagen und Einrichtungen sowie auf den Ablauf der Spiele einen seiner finanziellen Beteiligung und seiner nationalen 23 Gute Übersicht über Funktionen und Macht bei : Rolf Heggen, Titel, Rekorde und Medaillen . . ., in: FAZ v. 10. 7. 1976. 24 Anlage 1 zum 3. Sportbericht (FN. 20), S. 54. 2 5 Zit. n. Das Parlament (s. FN. 12). 20 Deutscher Bundestag, 7. Wahlperiode, Drs. 7/4297, S. 4,

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Verpflichtung entsprechenden Einfluß erhielt, obwohl er wissen mußte, daß bei einer Vergabe der Spiele an die Stadt München in erster Linie die Bundesrepublik Deutschland das Risiko für den angemessenen Ablauf der Spiele tragen mußte". Demgegenüber hatte die Bundes­ regierung in ihrem Bericht über die Finanzierung der Spiele in München und den anderen Städten festgestellt, daß die Veranstaltungen „ein großer Erfolg für die Veranstalterstädte und damit auch für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in der Weltöffentlichkeit waren" 27 . Kuriosa wie der lukrative Verkauf von Springpferden, die aus Sportförderungsmitteln gekauft waren, finden sich in den umfang­ reichen Mängelrügen des Prüfungsberichtes 1973/74 des Bundeshaus­ haltes28 . Generell wird man allerdings sagen müssen, daß derartige Kritik kaum das Maß übersteigt, wie es bei der Rechnungsprüfung subven­ tionierter Verbände typisch ist, in deren Management viele ehren­ amtliche Kräfte arbeiten. Zwei andere Fragen erscheinen als Struktur­ probleme gravierender. Der eine betrifft die im 3. Sportbericht ange­ sprochene Verantwortung der Regierung, wenn sie den Sport „partner­ schaftlich" fördert. Diese Verantwortung kann sich wohl nicht nur auf korrekte Abrechnung der öffentlichen Mittel beziehen, sondern sie erstreckt sich automatisch auch auf den Erfolg der Subvention. Wenn die private bundesdeutsche Repräsentation im internationalen Sport nicht mehr erfolgreich war und deshalb entsprechend dem Subsidiari­ tätsprinzip die Regierung die Förderung übernommen hat, dann ist sie auch verantwortlich dafür, daß sich wieder größere Erfolge ein­ stellen. Wenn sie ausbleiben, muß systemlogisch die Opposition die Regierung dafür verantwortlich machen. Im Blick auf das liberal­ pluralistische System der Bundesrepublik ist eine derartige Ausweitung der Verantwortung einer Regierung - gleichgültig, von welchen Parteien sie gestellt wird - äußerst fragwürdig. Erinnert sei an die Aushöhlung der Tarifhoheit in der Weimarer Republik, also der Verantwortung der Tarifparteien, durch die staatliche Zwangsschlich­ tung, wodurch die Regierung auch noch die Verantwortung für die Höhe der Lohnabschlüsse übernehmen mußte. Das zweite Grundproblem betrifft den organisierten Sport als Inter­ essenverband. Er erscheint erfolgreich, wenn man sieht, wieviele seiner Aufgaben öffentlich finanziert werden. Dieser Erfolg im Kampf um Subventionen scheint seiner Stärke zu entsprechen, die verdeutlicht wird durch die über 13 Millionen Mitglieder (mit allerdings hohem Anteil an Kindern und Jugendlichen) in seinen rund 43 000 Vereinen. Dazu passen markige Worte wie die des DSB-Präsidenten Weyer, der 21

Ders., Drs. 7/3066, S. 46.

2s Zit. n. FAZ v. 20. 11. 1975.

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wie selbstverständlich die Einheit „zwischen Kinderturnstunde und olympischem Stadion" herstellte und die Geld vergebenden Politiker ein Jahr vor Montreal mahnte: ,,Der Sport wird als Interessenverband stets den gütlichen Weg suchen, aber er wird, wenn dies nicht fruchtet, einer Auseinandersetzung, selbstverständlich bei Einhaltung aller legi­ timen und demokratischen Spielregeln nicht aus dem Wege gehen29 ." Ähnlich hatte Josef Neckermann am 31. Juli 1975 öffentlich mit Olympia-Verzicht gedroht, falls der Sport keine Erlöse aus „Glücks­ spirale" und Sonderbriefmarken bekomme. Ist der organisierte Sport, der sich auch als Sprecher für die rund 17 Million Freizeitsportler außerhalb der Vereine versteht, wirklich so mächtig? Nach der Struktur unseres Verbandswesens heißt die Antwort eindeutig nein. Wenn sich Interessen in einem pluralistischen System erfolgreich durchsetzen wollen, dann müssen sie vor allem zwei Voraussetzungen erfüllen: sie müssen organisationsfähig und sie müssen konfliktfähig sein30 • Organisationsfähig ist ein spezifischer, abgrenzbarer Personenkreis, z.B. Bauern, Unternehmer, Gewerk­ schaftsmitglieder, Fluglotsen. Allgemeine Interessen, z.B. die der Ver­ braucher, der Autofahrer, der Sporttreibenden, sind in diesem Kräfte­ feld schwer abgrenzbar; zwar ist jedermann Verbraucher, und 30 Mil­ lionen treiben in irgendeiner Form Sport. Aber andere Interessen, vor allem die im Beruf, stehen weit voran. Der ADAC oder der DSB zeigen, daß man auch allgemeine Interessen organisieren kann, wenn man entsprechenden Service bietet. Aber diese lockere Organisations­ form bietet noch keine Gewähr für die entscheidende Konfliktfähigkeit, also die Androhung oder Praktizierung von Sanktionen, z. B. Streik, zur Durchsetzung der Interessen. Der DSB könnte Millionen Sportler zum „Streik" aufrufen. Aber das würde keine vergleichbare Wirkung in der Gesellschaft zeigen wie Streik oder Aussperrung im Produktions­ bereich. Anders wäre die Streikwirkung einer klar abgrenzbaren Gruppe im Sport wie z.B. der Profis der Fußball-Bundesliga; denn dadurch würden Millionen Fußballfans um ihren Samstags-Spaß gebracht. Ob die Olympiamannschaft eine so klar abgrenzbare, also konfliktfähige Gruppe mit gemeinsamem Interesse ist, erscheint mir zweifelhaft, wenn man die enormen Unterschiede zwischen den einzel­ nen Sportdisziplinen bedenkt. Der DSB erhält die öffentlichen Gelder nicht wegen seiner Macht, sondern wegen seiner Funktion als Integrationsverband. Die Funktionen von Integration, Identifikation und Repräsentation sind oben skizziert 2u Zit. n. Das Parlament Nr. 32 v. 9. 8. 1975. ao Vgl. Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen, in: Politik­ wissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, hrsg. v. Gisela Kress u. Dieter Senghaas, 1969, S. 178 ff.

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und ja auch im 3. Sportbericht der Regierung ausdrücklich genannt worden als Grund für die Förderung. Daraus ergibt sich, daß der DSB solange Subventionen für diese Aufgabe erhält, wie er sie durch Erfolge erfüllt; und er erhält sie auch nur solange, wie Massenmedien, Politiker und Bürger glauben, daß derartige Erfolge integrierend wirken. Somit ist der DSB anderen staatlich subventionierten Inte­ grationsverbänden vergleichbar, z.B. Vertriebenenverbänden, Jugend­ und Studentenverbänden oder Verbraucherverbänden. Am Beispiel der Vertriebenen, deren Integration inzwischen fast voll gelungen ist, zeigt sich, daß Mittel stets dann gekürzt oder gestrichen werden, wenn die jeweilige Aufgabe erfüllt oder entfallen ist. Das Beispiel der Streichung von Subventionen für linke Jugend- und Studentenorgani­ sationen machte der Öffentlichkeit deutlich, daß diese nach Ansicht der Regierung ihre Integrationsfunktion nicht mehr erfüllten, wenn sie etwa „systemüberwindend" argumentierten. Das kritische Echo auf Montreal 1976 in der bundesdeutschen Öffentlichkeit trotz gewisser Sporterfolge hat deutlich gemacht, von wie vielen Faktoren erfolgreiche Integration abhängt und wie gering somit die Macht des DSB ist. Wenn noch einmal ein von Millionen mit Spannung erwartetes Welt­ sportfest derartig langweilig vermittelt werden sollte, dann dürfte es kaum noch öffentliche Subventionen für Selbstdarstellung des Staates durch Sporterfolge geben. Abschließend noch eine Überlegung zur Frage, warum trotz aus­ reichender Subventionen die Sportrepräsentanten der 60 Millionen Bundesbürger auch nicht annähernd so erfolgreich waren wie die der nur 1 7 Millionen DDR-Bürger, für die das „Neue Deutschland" am 2. August 1976 Bilanz gezogen hat: ,,Innerhalb von zwei Wochen wurde - was den DDR-Bürgern möglicherweise verblüffend erscheinen mag - die DDR zu einem Begriff." An der Organisation der Leistungs­ förderung kann es nicht liegen; denn diese ist seit 1969 mit Hilfe der Bundesgelder gestrafft worden und gilt heute als effektiv. Borniert­ heit der Funktionäre, noch ungenügende Heranziehung der Wissenschaft oder was sonst für Einzelsymptome diskutiert werden: sie allein können den Leistungsunterschied nicht erklären. Eher scheint mir das in Montreal von Journalisten für die DDR geprägte Wort vom „Sparta des 20. Jahrhunderts" 31 etwas zu verdeutlichen. Der Medaillenspiegel von Montreal zeigt nämlich ein ganz klares Übergewicht kommunisti­ scher Länder von der Sowjetunion über die DDR bis Cuba. Alle diese Staaten könnte man als „spartanisch" und dazu als Mangelgesellschaft bezeichnen. Dadurch wird eine Parallele zur Strenge und Abgeschlossen­ heit der herrschenden Kriegerkaste jener dorischen Stadt im antiken Griechenland hergestellt, und gleichzeitig wird verdeutlicht, daß in a1 Daily Mail v. 8. 3. 1976. 9 Speyer 63

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diesen Staaten immer noch Mangel verwaltet wird. Ob Auslandsreise in den Westen, Wohnung oder Auto, - vieles ist für den Normalbürger dieser Staaten (noch) nicht frei verfügbar. Dem erfolgreichen Sport­ repräsentanten allerdings steht alles, was knapp oder reglementiert ist, zur privaten Verfügung. Er weiß also, wozu er sich jahrelang in hartem Training quält. Derartige erstrebenswerten Dinge oder Privile­ gien sind dagegen in Staaten westlichen Typs allein eine Frage der persönlichen Kaufkraft. Bei relativem Wohlstand und sonstiger Frei­ zügigkeit ist die Kosten-Nutzen-Rechnung eines bundesdeutschen Spit­ zensportlers also eher negativ. Zu Verzicht und Opfer sind dann nur noch jene wenigen Ausnahmeathleten bereit, denen Sport und Erfolg jenseits aller materiellen Belohnungen eine Möglichkeit der Selbst­ verwirklichung bedeuten. Wenn es in den USA eines Tages keine benachteiligten Gruppen von farbigen oder weißen Slumbewohnern mehr geben sollte - und von dort kommen heute noch die meisten Erfolgssportler -, dann dürfte es in der olympischen Konkurrenz nicht einmal mehr zu Platz 3 reichen wie in Montreal. Hier sind also Grenzen sichtbar, die auch durch noch mehr staatliche Subvention kaum verschoben werden können. Wer allerdings ohne Subventionen, also rein privat die Bundesrepublik erfolgreich repräsentiert, wie der eingangs erwähnte Fußball-Profi Beckenbauer, der ist aufgrund dieser Tatsache ganz systemkongruent vielfacher Millionär. Was ergibt sich aus diesen Überlegungen für die Zukunft staatlicher Selbstdarstellung durch Sporterfolge und ihre öffentliche Subventionierung?

v.

Die hier skizzierten Erfahrungen, Trends und Indizien sprechen dafür, daß die bisherige Politik: mehr Subventionen zugunsten besserer Vorbereitung für Titel, Rekorde und Medaillen als Auftrag der Nation und als eine Form ihrer Selbstdarstellung, spätestens nach den Olympischen Spielen in Moskau 1980 an einem toten Punkt angekom­ men sein wird. Aufwand und Ertrag der Selbstdarstellung durch Punkte, Meter und Sekunden klaffen zu weit auseinander. Diese Hypothese besagt allerdings nicht, daß Zuschauer künftig auf das Spektakel internationaler Sportkonkurrenz und auf das Engagement für „ihre" Mannschaft verzichten müssen. Aber diese Konkurrenz wird sich nur in jenen privaten, nicht vom Staat subventionierten Sportarten abspielen, die sich als publikumswirksam weitgehend aus den Eintritts­ karten sowie den Beiträgen der Sportartikelindustrie und der Werbung und schließlich aus den Übertragungsrechten des Fernsehens selbst finanzieren. Beispiel dafür ist die erfolgreiche, sowohl repräsentierende als auch integrierende Fußballweltmeisterschaft 1974 in der Bundes­ republik, als die öffentliche Hand nur die Stadien auszubauen brauchte,

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die nun allen zur Verfügung stehen. Aus dieser Sicht wäre eigentlich auch der jahrelange Streit um die Gebühren für die Fernsehüber­ tragungen von Sportereignissen zu regeln. Olympische Spiele und andere Sportfeste, die fast voll aus Steuergeldern finanziert werden, müßten gebührenfrei übertragen werden, weil sie real „öffentlich" sind wie etwa eine Debatte in der UN. Privat finanzierte, wenn auch öffent­ Jich wirkende Sportveranstaltungen dürften nur gegen Gebühren übertragen werden. Und was ersetzt den olympischen Medaillenspiegel als Ausweis für den (sportlichen) Wert einer Nation? Diese Erfindung des sehr natio­ nalen Franzosen Coubertin hat schon immer Kritik gefunden, wie sie etwa am 10. Dezember 1975 auch Bundeskanzler Helmut Schmidt zur 25-Jahr-Feier des DSB in der Frankfurter Paulskirche erneut formu­ lierte, daß nämlich „die Zahl der Medaillen nichts aussagt über die Freiheit in einer Gesellschaft, nichts aussagt über die Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, auch nichts über den Wohlstand in einer Gesell­ schaft"32. Die Problematik einer Image-Bildung durch Medaillen zeigt gerade das Beispiel der DDR. In Montreal noch viel bestaunt, geriet sie drei Wochen später durch schießwütige Grenzwächter auch weltweit ins Gerede, wie es eine Karrikatur der „Deutschen Zeitung" treffend zeigt: Vor der scharf gesicherten Grenze steht ein großes Schild mit der Aufschrift: ,, Vorsicht! Sie betreten jetzt die größte Sportnation der Welt33 .'' Alle Anzeichen sprechen dafür, daß etwas so Nichtssagendes wie Medaillenspiegel ersetzt werden etwa durch Vergleichslisten ökono­ mischer und sozialer Indikatoren. Erstmals im Wahlkampf 1976 hat die Regierungskoalition aus den immer mehr verfeinerten Tabellen der OECD regelrechte „Hitparaden" aus Arbeitslosenzahlen, Inflationsraten, Wachstumsziffern und ähnlichen Daten veröffentlicht, weil die Bundes­ republik bei diesem Vergleich zu dieser Zeit sehr gut abschnitt. Un­ abhängig von Wahlkämpfen scheint der Trend dahin zu gehen, das noch neue und recht grobe Instrument politischer, sozialer und ökono­ mischer Indikatoren zu verfeinern, um Aussagen und Vergleiche machen zu können für das, was heute das Modewort „Lebensqualität" bezeichnet. Zweifellos spiegeln derartige Daten die reale Existenz des einzelnen sehr viel klarer als etwa eine Goldmedaille im Trap-Schießen. Außerdem zeigen solche Daten das Ergebnis verantwortlicher Politik und nicht nur das von Subventionen. Dabei wird der Sport, den etwa der einzelne treibt aus Freude, zur Bereicherung seiner Person, sicher­ lich auch in solchen Tabellen seinen Stellenwert haben. Sie sind jedenfalls eine treffendere Form staatlicher Selbstdarstellung als 32 Deutscher Sportbund (Hrsg.), 25 Jahre Deutscher Sportbund, o. 0. u. J. (Dezember 1975), S. 6. 33 Nachgedruckt vom „Spiegel" Nr. 34 v. 1. 8. 1976, S. 4. 9•

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Medaillen und Rekorde. Allerdings sind derartige Vergleiche buch­ halterisch, trocken, auch wenn sie viel über das reale Leben aussagen. Sie haben jedenfalls nichts von dem, was sich Krüger unter einem Staatsfest vorgestellt hat. Aber, wie gesagt, publikumswirksame Sport­ arten werden gemeinsam mit den Massenmedien dafür sorgen, daß die spannende internationale Sportkonkurrenz auch ohne staatliche Sub­ ventionen weitergeht und im Erfolgsfall die bundesdeutschen Schlach­ tenbummler, stellvertretend für die Millionen integrierter Zuschauer am Fernsehschirm, im weiten Stadionrund bewegt singen können: ,,So ein Tag, so wunderschön wie heute . . . "

Aussprache zum Referat von Hans-Joachim Winkler Bericht von Albrecht Nagel 1. Professor Kurt Weidemann, Stuttgart, eröffnete die von Profes­ sor Dr. Frido Wagener geleitete Diskussion mit der These, daß Sport als Spitzensport den Leistungsgedanken pervertiere. Spitzen­ sportler würden das ganze Jahr hindurch ernährungsphysiologisch und medizinisch überwacht, um an einigen Tagen Höchstleistungen zu erbringen. Während der Olympischen Winterspiele 1976 hätte die Welt Franz Klammer zugejubelt; vergleichbare Läufer, die nur um Bruchteile von Sekunden schlechter abgeschnitten hätten, seien kaum registriert worden, ja eine Läuferin auf dem fünften oder sechsten Platz habe man verlacht und ausgepfiffen. Was seien das für Ein­ stellungen und Emotionen, die durch einen Spitzensport dieser Art hervorgebracht würden? Die Fußballhelden des Jahres 1954 hätte man noch in der Eckkneipe bei einem Glas Bier treffen und mit ihnen diskutieren können. Wenn heute Franz Beckenbauer im weißen Smo­ king in Bayreuth neben Franz Josef Strauß auftrete, so habe ein vom Sport hervorgebrachter Millionär sich sozial von der Bevölkerung bereits so weit entfernt, daß seine Identität fragwürdig sei. Der Fuß­ ballstar Müller habe nicht für die Nation gespielt, sondern für 20 000 DM drei Tore geschossen. Weidemann schloß die Frage an, ob man gegen Staatssportler aus dem Osten überhaupt noch antreten solle, die als militante Profis zu charakterisieren seien. Seines Erachtens müsse völlig neu durchdacht werden, wie der Sport in ein Konzept staatlicher Selbstdarstellung einzubetten sei. 2. Professor Dr. Helmut Quaritsch, Speyer, zog in Zweifel, ob wir uns eine Absage an die staatliche Finanzierung des Sports leisten könnten. Ein staatlich unterstützter Wettkampf mit sportlichen Mitteln werde uns aufgezwungen. Wenn Sportfeste Staatsfeste seien, so sollte sich der Staat die Steigerung des Staatsfesterfolges durch den sportlichen Erfolg etwas kosten lassen, zumal in der Bundesrepublik viel Geld für weniger erfolgreiche Anlässe ausgegeben werde. Bei einem hochge­ züchteten Leistungssport müsse die größere Motivation in Mangel­ gesellschaften durch finanzielle Mittel in den Wohlfahrtsländern aus­ geglichen werden. Dabei sei es eine zweite Frage, ob der Staat nicht

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Aussprache

Mittel bereitstelle, die die Sportler, Sportorganisationen und unmittel­ bar Interessierten selbst aufbringen könnten. Quaritsch bezweifelte, daß der sportliche Wettkampf der Nationen durch einen Wettkampf sozialer Errungenschaften ersetzt werden könne. Auch wenn letzterer kommen werde, seien circenses der menschlichen Natur doch so ein­ geboren, daß man darauf - zumal in einer Freizeitgesellschaft - nicht verzichten werde. Warum nicht Fußballer wie Opernsänger finanzieren? Insofern der Fußball mehr Bürgern etwas biete als die eher aristokra­ tische Oper, entspringe seine Förderung zu Recht einem demokratischen Gedanken. 2. Oberregierungsrat Gerfried Beck, Stuttgart, bedauerte die Ausklam­ merung des Breitensports, vom Referenten damit begründet, daß er weder der staatlichen Repräsentation nach außen noch nach innen diene. Gelte genau dies nicht für die Trimm-Dich-Bewegung, der sich der Bundespräsident, Ministerpräsidenten und andere Politiker zur Selbstdarstellung bedienten? Würden nicht Veranstaltungen des Brei­ tensports, etwa „Jugend trainiert für Olympia", vom Bund und von den Ländern sehr stark gefördert? 4. Professor Dr. Carl Hermann Ule, Speyer, gab zu bedenken, daß die Einschränkung der staatlichen Sporthilfe zu einer Benachteiligung der Sportarten führen würde, die nicht im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stünden und die als Folge geringerer Zuschauer­ zahlen und ausbleibender Honorare für Fernsehübertragungen aus eigener Kraft keine Spitzensportler unterhalten könnten. Er warnte sodann vor einer Überschätzung des Maßes, in dem der Sport die „Ein­ haltung von Regeln" und „faires Verhalten" fördere. Wenn dem grund­ sätzlich durchaus so sei, erinnere man sich dennoch an Fußballkämpfe, wo das Verhalten von RO 000 Zuschauern gegenüber den Schiedsrich­ tern nur bedingt dem Begriff von Fairness entsprochen habe. Auch im privaten Leben habe er gefunden, daß Fußballanhänger brutale Rück­ sichtslosigkeit gegenüber Andersdenkenden an den Tag legten. Als Bei­ spiel nannte er ihr Verhalten in Fernsehräumen vor und während der Übertragung von Fußballspielen. Er bezweifelte, daß wir über den Sport zu einem Verständnis von Fairness kämen, wie es anderen Nationen eigen sei. Ministerialrat a. D. Wilhelm Geffers, Hannover, bezeichnete dagegen den Prozentsatz derer als klein, die offen Regelverstöße forderten oder billigten. Die Medien würden in ihren Kommentaren regelmäßig auf solche aufmerksam machen. Rundfunk und Fernsehen hätten hier ihre erzieherische Funktion erkannt und würden zur Regelbeachtung und Fairness anhalten.

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5. Der Referent äußerte sich abschließend zu den vier angeschnittenen Themenkreisen: Zu 1 . : Jeder von uns habe Bekannte, die trotz großer Leistung nicht erfolgreich seien, bei anderen frage man sich, wie sie eigentlich ohne Leistung zu einem am Einkommen meßbaren Erfolg kämen. Dieses „Erfolgssystem" mit seinen Einkommensdiskrepanzen dringe in den Sport ein und führe dazu, daß auf Kosten des Sportlers und der Ge­ sundheit mit unsportlichen Mitteln wie dem Doping der Erfolg gesucht werde. Glücklicherweise hätten die Fachverbände diese Entwicklung erkannt und gingen bereits dagegen an. Zu 2: Der Referent stellte klar, daß er keine nationalen oder inter­ nationalen Sportwettkämpfe eliminieren wolle. Seine Prognose gehe vielmehr dahin, daß sich internationale Sportwettkämpfe künftig durch Werbung, die Sportartikelindustrie, Fernseheinnahmen und Eintritts­ gelder finanziell selbst trügen. Selbst wenn die staatliche Finanzierung fortfalle, würden die vier genannten Finanzierungsfaktoren die Fort­ führung der Wettkämpfe sicherstellen. Zu 3: Auf den Breitensport würden künftig mehr öffentliche Gel­ der entfallen, falls drei Tendenzen anhielten : (1) Geräteintensive Sportarten wie Tennis und Skilaufen gerieten immer mehr in kommer­ zielle Hände. Einzelne Sportgeschäfte hätten bereits den gesamten Skisport vom Geräteverkauf über die Platzvermietung bis zum Ferien­ transport fest in ihren Händen. (2) Die Entwicklung der alten Turner­ kameradschaften zu Dienstleistungsunternehmen sei Anzeichen einer Modernisierung der Vereine. Die „Hamburger Turnerschaft" gelte als einer der Mustervereine in der Bundesrepublik. Sie biete von der Müttergymnastik über das Altenturnen bis zur Tanzstunde alles an, was nachgefragt werde. (3) In Belgien, den USA und Schweden ent­ stünden kommunale Großsportstätten aus Steuermitteln, die jeder Einwohner ohne das Erfordernis einer Vereinsmitgliedschaft kostenlos benutzen könne. Umstritten sei noch, ob es sich hierbei um eine originäre Kommunalaufgabe oder um eine subsidiär zu interpretierende handle. - Im Rahmen zunehmender Freizeit werde der Sport zu einem immer wichtigeren Faktor. Wo eine Nachfrage von der Sport­ artikelindustrie oder von den Verbänden nicht befriedigt werde, würde ihr sicher aus Steuermitteln Rechnung getragen. Zu 4.: Die Einübung sportlicher Regeln könne nicht mit der Ein­ übung politischer Regeln einhergehen. Politische Regeln stünden als historische zur Disposition, während sportliche Regeln als funktionale für die Dauer eines Spieles unveränderbar seien. Man müsse sich

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Aussprache

allerdings auch einmal fragen, warum es bei Gruppen in unserer Be­ völkerung zu einem Stau von Aggressionen komme. Während dies bei Hochschullehrern und bei Beamten nicht der Fall sei, produziere unsere Arbeitswelt für andere Berufsgruppen eine Situation, die den Fuß­ ballplatz geradezu erfordere, um sich einmal auszuleben. Zur Fairness gehöre auch - und dies bedinge sie geradezu als Prinzip - die ge­ legentliche Überschreitung.

Ein Januskopf sucht ein Gesicht Die Rationalisierung des visuellen Erscheinungsbildes der Deutschen Bundespost•

Von Kurt Weidemann „Die Wandlung der Deutschen Bundespost von einer staatlichen Verwaltung mit ausgeprägtem Behördencharakter zu einem betriebs­ wirtschaftlich und gemeinwirtschaftlich orientierten Dienstleistungs­ unternehmen" nannte Minister Gscheidle in einem Brief an die OPD­

Präsidenten als Ziel der Bemühungen für ein einheitliches optisches Erscheinungsbild.

Das bedeutet, daß ein Prozeß einzuleiten ist, der nur dann als erfolg­ reich abzuschließen ist, wenn die Bewußtmachung dieser Zielsetzung auf allen Ebenen des Unternehmens gelingt und wenn die daraus resultierenden Bewußtseinsänderungen im eigenen Selbstverständnis einsichtig gemacht, gewollt und vollzogen werden. Das bedeutet auch, daß die Aufgabe weder Fassadenanstrich noch kosmetische Operation sein darf (,,Die alte Dame, jetzt kauft sie auch noch teure Kosmetika, um wieder flott und kreditwürdig zu wirken"). Vielmehr ist ein aktiv am Markt operierendes, leistungsorientiertes Unternehmen glaubhaft zu vermitteln und tatkräftig unter Beweis zu stellen. Die besondere Problematik der Deutschen Bundespost liegt nicht so sehr in der kaum überschaubaren Größe und weiten Verzweigung des Unternehmens, sondern in der Doppelung der Aufgabenstellung: einer­ seits marktorientierte, betriebswissenschaftliche Unternehmensfüh­ rung, andererseits eine nach den Grundsätzen der Gemeinnützigkeit beauftragte bundeseigene Institution. Das macht die Post auch kritik­ empfindlich: sie hat einen Januskopf (der in zwei Richtungen schaut), dem man beliebig auf der einen oder der anderen Seite Ohrfeigen geben kann und dabei jedesmal ins Gesicht trifft: ,,Denk an das Ge­ meinwohl, an die Aufrechterhaltung und Garantie aller staatlich ge­ forderten Funktionen" auf der einen Seite und „Sei markt- und kundenorientierte Betriebswirtschaft, gebe nicht mehr aus, als Du ein• Anm. d. Hrsg.: Das Referat leitete einen Lichtbildervortrag ein. Aus naheliegenden Gründen können die ca. 100 Farbdiapositive ebensowenig wiedergegeben werden . wie der mündliche Kommentar des Referenten.

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nimmst" auf der anderen Seite. Wer also der Post nicht wohl will, kann bei ihr so billig wie bei kaum jemandem anderes einen Haken landen. - Diese Doppelung erfordert auch ein ganz spezielles Erscheinungsbild und ein spezielles unternehmerisches Selbstverständnis. Die Post kann nicht mit der Rigorosität eines profitschlagenden Unternehmens in der freien Marktwirtschaft operieren. Sie kann aber auch nicht die Un­ sinkbarkeit eines Staatsunternehmens auf den Wogen der Steuergelder dokumentieren. Die Post muß erst lernen, ,,sich besser zu verkaufen" (denn in ihrer langen Geschichte hatte sie das nie nötig). In einem Zeitalter der totalen Information (zu der die Post ja sehr viel beigetragen hat) und des er­ wachten Staatsbürgerbewußtseins, in der Kritik auch bei Unüber­ schaubarkeit und Unkenntnis der Zusammenhänge schnell zur Hand ist, da muß sie sich so darstellen, daß man ihr auch zutraut, was sie sagt und macht, was ein Unternehmen tun muß, das sich am Markt behaupten will. Das rationalisierte visuelle Erscheinungsbild kann zu dieser Zielsetzung etwas beitragen (mehr als Verfügungen, Vorschrif­ ten, Erlasse). Die Post ist ein Kontaktunternehmen. Funken springen nur darüber, wo die Kontaktstellen blank gehalten werden. Operationen am visuellen Erscheinungsbild sind nur zu verantworten, wenn sie auf die Dauer zugleich auch kostensparende, rationalisierende Maßnahmen sind. Das ist nicht nur frommer Wunsch, sondern nach­ weislich realisierbar. Die Elemente des visuellen Erscheinungsbildes müssen zu einer besseren Erkenn- und Merkfähigkeit sowie einer höheren optischen Präsenz führen. Die Deutsche Bundespost muß in ihrem optischen Erscheinungsbild gewinnender werden (dann kann sie auch gewinnbringender werden). Information und Funktion der Elemente haben Vorrang vor der Ästhetik: soviel Information und Funktion wie notwendig, soviel Ästhetik wie möglich. Je größer die Zielgruppe und je breiter die Streuung einer Infor­ mation ist, desto bildhafter muß sie auch sein. Die moderne Technik wird aber immer visualisierungsfeindlicher. Die Funktionen der Mechanik waren noch ablesbar und ziemlich wahrnehmbar, die Phänomene der Elektronik sind es nicht mehr. Deshalb sind die Wir­ kungen der Einrichtungen darzustellen, nicht die Einrichtungen selbst (die „software", nicht die „hardware"). ,,Was nützt es mir" ist die erste Frage der Zielperson. Was kann nun alles im visuellen Erscheinungsbild verbessert und rationalisiert werden? Die Fülle der Aufgaben läßt sich nur an ein paar Beispielen erläutern. 1. Die Post ist in ihrer Vergangenheit relativ zentralistisch-autoritär geführt worden. In der Weimarer Zeit wurden die Entlassenen des Berufsheeres in die Post- und Bahnverwaltung übernommen. Ihre oft

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unflexiblen Ordnungs- und Disziplinvorstellungen gingen mit. In der Postsprache ist daher noch manche paramilitärische Reminiszenz: ,,Postkleiderkasse", ,,Zentralzeugamt", ,,Versorgungsanstalt", ,,Bundes­ postausführungsbehörde". In Drucksachen und Briefen werden „Vor­ schriften", ,,Regelungen", ,,Verfügungen" und „Grundsätze" auf den Weg gegeben. Diese Sprache steht einem kundenorientierten Dienst­ leistungsunternehmen nicht mehr an. Sie sollte überprüft, verändert und einem neuen Selbstbewußtsein adäquat sein. Das kostet nur eine andere Druckweise. 2. Im Drucksachenbereich lassen sich durch die Festlegung von Normen für Schrift und Satz einheitliche, besser erkennbare, lese- und funk­ tionsgerechte Vorlagen erstellen. Die „Behördentypographie" steht eben nur Behörden an. Ein einheitliches Erscheinungsbild spart Ent­ würfe, Satzanweisungen, viel Korrektur, Rückfragen und unrationelle Herstellungsverfahren. Formulare sollten leichter und zweifelsfreier ausfüllbar sein, beispielsweise mehr nach dem Digitalprinzip aufgebaut (.Ja - Nein - Ankreuzen). 3. Im architektonischen Bereich läßt sich die Vielfalt der mehr oder weniger gut gelungenen Gebäudekennzeichnungen (auf durchweg vor­ bildlichen Gebäuden) auf genormte Muster reduzieren. Das spart Entwürfe, technische Detailzeichnungen und Einzelausführungen und erhöht das Erkennen und Auffinden der Gebäude (die relativ oft von Fremden und Ortsunkundigen gesucht werden). In der Innenarchitek­ tur fehlen einheitliche, deutliche Orientierungssysteme, die das schnelle und leichte Auffinden von Dienststellen, Schaltern und Posteinrich­ tungen verbessern. Der Postschalter ist ein neuralgischer Punkt, an dem einerseits der Kunde generellen Behördengroll entlädt und das Abge­ fertigtwerden in der Geringschätzung des Sehalterbediensteten ver­ deutlicht. Andererseits kompensiert der Bedienstete geringes Sozial­ prestige mit solitärer, monopolischer Alleinstellung (,,versuch doch mal, Briefmarken woanders zu kriegen"). 4. Beherrschender Informationsträger des visuellen Erscheinungs­ bildes ist die Farbe gelb. Mehr noch als Beschriftungen oder Symbole - sei es das Posthorn oder ein anderes Kommunikationszeichen signalisiert es : Post. Gebäude der Post werden eher an gelben Brief­ kästen, Fahrzeugen oder Sprechzellen erkannt als an Schrift und Symbol. Gelb hat psychologisch positive Assoziationen. Professor Max Lüscher: ,,Gelb drängt immer vorwärts auf das Neue, Moderne, die Zukunft. Gelb zeigt den Wunsch nach Befreiung und die Hoffnung oder Erwartung von Glück." 5. Uniformen sind für öffentliche Unternehmen ein eher historisches Relikt. Vielleicht genügen kennzeichnende Abzeichen, die im Dienst

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getragen werden an ziviler Kleidung, die durch preiswerten Einkauf bestimmter Modelle und Farben in eine empfehlende Richtung gelenkt werden kann. Es ist nur ein Teil der Probleme, der hier angesprochen werden kann. Sie sollten sich aber nicht ansammeln und bis zum Erreichen der Stol­ perschwelle unter den Teppich gekehrt werden. Das visuelle Erschei­ nungsbild bedarf permanenter t1Jerwachung und ständiger Korrektur, die sich an den unternehmerischen, sozialen und politischen Entwick­ lungen orientiert. ,Jede Maßnahme ist dahingehend zu überprüfen, ob sie verständlich, glaubwürdig und angemessen ist. Das schließt aus, daß Versuche in Richtung Fassadenanstrich und dekorativer Versatzstücke gemacht werden. Die Bundespost will ein marktfähiges Unternehmen sein. Das ist nur über ein ständig waches, selbstkritisches Bewußtsein zu erreichen, das die Innovation nicht scheut. Das Zeitalter der Medien erfordert es, daß die Bundespost merk­ und unterscheidungsfreudiger wird, informativer und kommunikations­ freudiger. Die operativen Ebenen der Deutschen Bundespost müssen Träger des Erscheinungsbildes sein: denn sie müssen es auch der Öffent­ lichkeit vermitteln, so daß es verstanden, eingesehen und als dem Kunden dienlich akzeptiert wird. Es sollen keine Erwartungen ausge­ löst werden, für die die materiellen und personellen Voraussetzungen fehlen. Da wir als Europäer guten Willens gelten, sollten wir darauf achten, daß wir auch international so weit als möglich erkennbar und verständlich sind. Die Maßnahmen sollten auf eine mögliche euro­ päische Integrationsfähigkeit hin überprüft werden. Richtlinien für die Rationalisierung des visuellen Erscheinungsbildes zielen keineswegs auf Monotonie, Gleichmacherei und Bevormundung ab. Vielmehr sollen sie Sicherheit in Bereichen nicht genügender Kom­ petenz geben. Sie sollen helfen, Routinearbeit zweifelsfrei zu erledigen, damit Zeit und Kraft freigesetzt wird für die individuell zu erbrin­ genden Leistungen.

Aussprache zum Referat von Kurt Weidemann Bericht von Albrecht Nagel 1 . Zu Beginn der von Professor Dr. Frido Wagener geleiteten Aus­ sprache knüpfte Regierungsdirektor Hans Kirchner, Berlin, an die These des Referenten an, daß die Post gewinnbringender arbeite, wenn sie sich besser verkaufe. Dies könne nur für einen Bereich wie das Postbankgeschäft zutreffen, auf dem sie mit Banken konkurriere; generell dürfte ein sympathischeres Image der Post wohl nicht dazu führen, daß beispielsweise mehr Briefe geschrieben würden. In einer zweiten Überlegung bezweifelte Kirchner den Sinn einer Unterteilung der Post in Telepost und Telebank. Die Postkunden hätten es immer mit der Post zu tun. Wesentlich für sie sei es, das Fahrzeug der Post als Postfahrzeug zu identifizieren. 2. Ministerialrat Dr. Helmut Meier, Frankfurt, vermißte Ausfüh­ rungen zur Selbstdarstellung der Post über das Medium Briefmarken. Es werde nicht nur Lobendes über die Briefmarkenserien der Bundes­ post gesagt, sondern zu Recht auch sehr Kritisches. Die Arbeitsschutz­ serie sei seines Erachtens einer der größten Fehlschläge im bisherigen Briefmarkengeschäft gewesen und habe sicherlich nicht bewirkt, was man erwartet hätte: eine Belehrung und Unterrichtung der Ver­ braucher. 3. Professor Dr. Helmut Quaritsch, Speyer, erinnerte an seine These, daß Selbstdarstellung dazu diene, Unverwechselbarkeit zu be­ wirken. Am Beispiel der Bundespost sei vom Referenten hervorragend demonstriert worden, wie sie sich mittels der gelben Farbe darum be­ mühe, erstens erkennbar und zweitens unverwechselbar zu werden. Gelte nun aber über die Bundespost hinaus nicht für alle Behörden, daß sie eine von einer Werbekonzeption durchdrungene Selbstdarstel­ lung benötigten? Quaritsch betonte in einer weiteren Überlegung, daß die vom Referenten erläuterte Art von Selbstdarstellung das Ver­ trauen des Kunden in die Bundespost stärke. Daraus folge eine höhere Anziehungskraft für potentielle Mitarbeiter. Für den Staatsapparat sei daraus abzuleiten, daß die Schaffung von Vertrauen durch entsprechen­ de Selbstdarstellung für das interne Arbeitsklima nicht unwichtig sei.

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4. Professor Dr. Frido Wagener, Speyer, nahm auf die von ihm geteilte These des Referenten Bezug, daß das visuelle Erscheinungsbild eines großen Dienstleistungsbetriebes auf europäische und weltweite Integration angelegt sein sollte. Er habe jedoch Überlegungen dazu vermißt, ob auch eine Integration der Bundespost mit Nachbareinrich­ tungen wie Bundesbahn, Verkehrsbetrieben und anderen öffentlichen Unternehmungen denkbar wäre. Ließe sich die Unverwechselbarkeit dieser nicht rein privatwirtschaftlichen Gattung „öffentlicher Dienst" für Bundes-, Landes- und Gemeindeeinrichtungen visualisierend her­ stellen? Es hätte der Eindruck entstehen können, daß die Imagepflege der Bundespost diese noch mehr abhebe von ihren stiefmütterlich behandelten, grau und düster wirkenden Nachbarbereichen. Sie er­ brächten ebenfalls ohne Profitstreben Leistungen für den Bürger und benötigten als Gattung das gleiche Merkmal der Unverwechselbarkeit wie die Bundespost. 5. Oberregierungsrat Peter Stephan, Berlin, wies auf die Ver­ gangenheit hin, in der Unternehmen durch die Leistung als solche ge­ worben und sich durch Leistung dargestellt hätten. Die sich nun ab­ zeichnende Entwicklung schließe die Gefahr nicht aus, daß eine Diskre­ panz zwischen Leistung und Darstellung entstehe. Wäre es nicht denkbar, daß künftig alle öffentlichen und privaten Unternehmen mit einem entsprechenden Etat dazu übergingen, ihre Imagepflege Desig­ nern zu übertragen? Es wären dann neue Unterscheidungsmerkmale zu suchen, da das Design keine zuverlässige Auskunft mehr über Qualitäts­ unterschiede böte. 6. Ministerialrat a. D. Wilhelm Geffers, Hannover, betonte die Sonderstellung der Bundespost. Sie rechtfertige den geschilderten Werbeaufwand. Es würde lediglich eine bereits in der Wirtschaft ein­ geleitete Entwicklung nachvollzogen. 7. Der Referent ging in einem Schlußwort auf die Diskussionsbeiträge wie folgt ein: Zu 1 . : Verstünde man unter dem Vorhandensein eines Gewinnes, daß man sich gewinnender gäbe, so erfolge ein „Sparen in sich selbst". Ein freundliches Lächeln von Postbediensteten am Schalter koste nichts, führe aber zu Einsparungen, etwa bei dem Ausfüllen von Formularen durch die Postkunden. Das gelbe Posthorn mit einem Bekanntheitsgrad von 99 0/o sei aus seiner Sicht das Symbol, welches für das Gesamtunternehmen Post stehen sollte. Andererseits seien Lernschritte, bestehend aus bis zu drei Elementen, jedem zumutbar. Werde farblich eine Trennung des Bank­ und Fernmeldewesens von der Post durchgeführt, so sei dies durchaus

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hilfreich. Da große Postämter nicht umsonst zwischen 20 bis 40 Schalter hätten, wüßten die Postkunden nach kurzer Einlernzeit, daß in Schalter­ hallen die Farben blau für das Bankwesen, die Farben rot für das Fernsprechwesen stünden. Zu 2.: Für den Sektor Briefmarken gebe es eine Kommission, die mit zahlreichen Praktikern besetzt sei. Wenn auch in ihr wie überall Fehlentscheidungen möglich seien, werde aus seiner Sicht dort doch gute Arbeit geleistet. Grundsätzlich gebe es gegenwärtig vordringlichere Probleme als den Bereich Briefmarken. Zu 3.: Der Staat habe entweder ein Selbstverständnis oder er habe es nicht. Von außen könne die Selbstdarstellung des gesamten Staates und aller seiner Dienstleistungsunternehmen lediglich begrenzt ge­ steuert werden, sie könne zudem nur langsam wachsen. Die Deutschen hätten nach 1945 leider eine tabula rasa geschaffen. Bei den Franzosen hätte sich im Gegensatz dazu trotz zahlreicher Revolutionen, Regierun­ gen und Regierungssysteme weder an der Nationalhymne noch an der Trikolore etwas geändert. In Frankreich blieben gewisse Tabu-Bereiche unangetastet, die überhaupt nichts damit zu tun hätten, wie der Staat sich gebe. In Deutschland sei neben das Deutschlandlied das Horst­ Wessel-Lied getreten, dann sei das Hakenkreuz gefolgt, schließlich habe sich der Bundespräsident Heuß redlich um eine neue Nationalhymne bemüht. Um zusammenzufassen: wir Deutsche hätten ein unglückliches Verhältnis zur Selbstdarstellung. Die Bemühungen des jetzigen Bun­ despräsidenten Scheel seien mit Frackzwang und großem Zapfenstreich - wie immer man dazu stehe - zumindest partiell auf die Wieder­ gewinnung staatlichen Selbstbewußtseins gerichtet. Daß ein Volk und ein Staat zu einem Selbstbewußtsein und entsprechenden Formen kämen, erfordere staatspolitische Entscheidungen. Es sei utopisch und gefährlich, anzunehmen, daß hier Designer steuern oder mit Macht Fortschritte erzielen könnten. Er erinnere sich bei dieser Gelegenheit eines Wettbewerbs des Presse- und Informationsamtes der Bundes­ regierung zur Gestaltung von Regierungsdrucksachen. Weil man nicht mehr wage, die „offiziellen Drucksachen der Bundesrepublik Deutsch­ land" so zu nennen, hätte man sich als Ergebnis des Wettbewerbes für halbsportliche, naßforsche und amerikanisierte Ausdrücke entschieden. Dies zeuge von einem nur mäßig ausgeprägten Selbstbewußtsein un­ seres Landes. Designer könnten zwar helfen, sollten aber nicht dominie­ ren und Peinliches zur Peinlichkeit werden lassen. Zu 5.: Die Diskrepanz zwischen Leistung und Darstellung müsse abgebaut werden. Vorbilder dafür fänden sich in der amerikanischen Industrie der fünfziger Jahre, wo etwa die Konzipierung eines hervor­ ragenden Unternehmensimages für Columbia Broadcasting System nach

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weislich zu einer positiven Veränderung des Betriebsklimas beigetragen habe. Im Falle einer übertriebenen Imagepflege könne eine Glaubwür­ digkeitslücke erzeugt werden, welche die Beurteilung des Unterneh­ mens erheblich beeinträchtige. Das Gefühl für Angemessenheit sei auf diesem Sektor außerordentlich intakt, so daß es keinen Sinn habe, optisch zu betrügen. Bei ITT habe die Diskrepanz von Öffentlichkeits­ politik und Unternehmenspolitik der Firma unübersehbar geschadet. Die Arbeit am Image eines Unternehmens erfordere, die adäquaten Mittel zu finden und nicht zu übertreiben.

Bemerkungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung Von Conrad Ahlers Es tut mir leid, daß ich wegen meiner parlamentarischen Tätigkeit erst am heutigen Freitag kommen und deshalb nicht teilnehmen konnte an diesem Seminar, das sich mit einem sehr interessanten und bei uns wenig behandelten Thema beschäftigt hat. Allerdings hat man sich, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen, in den einschlägigen Institutionen immer schon sehr viele Gedanken gemacht über das, was Herbert Krüger wohl als erster „die Staats­ pflege" genannt hat. Als ich während meines Italienaufenthaltes kürz­ lich die einschlägigen Kapitel des Werkes von Krüger noch einmal ge­ lesen habe, fiel mir auf, daß in Italien, mehr noch als in der Bundes­ republik, der Respekt vor dem Staat als einer von Nation und Gesell­ schaft abgegrenzten Institution vorhanden ist, und ich glaube, daß dieser Respekt eines der ermutigenden Zeichen ist, die zum Überleben des italienischen Staates beitragen werden. Ich möchte hierfür nur zwei Beispiele nennen: Immer noch findet man die berühmten Blumen vor den Kaisergräbern in Palermo. Es wurde immer wieder vermutet, daß es sich dabei um eine Fleurop-Aktion des Bundespresseamtes handelt - was natürlich in Wirklichkeit nicht der Fall ist oder es zu meiner Zeit jedenfalls nicht war, aber man könnte sich doch überlegen, ob es nicht ein Stück deut­ scher Staats- oder Traditionspflege wäre, wenn man so etwas machte. Tatsächlich ist es ganz offensichtlich so, daß diese Blumen vielfach auch nicht vom italienischen Fremdenverkehrsverein, sondern von Ein­ heimischen dort hingestellt werden - also ein Stück Staats- und Traditionspflege der sizilianischen Bevölkerung mit ihren nach wie vor vorhandenen autonomistischen Bestrebungen. Das zweite Beispiel sind die Carabinieri in ihrer korrekten Kleidung und ebenso korrekten, sich ihrer Würde als Repräsentanten des italie­ nischen Staates durchaus bewußten Haltung. Wenn ich sie vergleiche mit den Grenzjägern, die in salopper Uniform und ebenso salopper Hal­ tung bei uns vor dem Bundestag paradieren, den sie angeblich vor den Baader-Meinhof-Leuten beschützen sollen, dann sehe ich hierin die Manifestation einer gewissen Staatsferne oder Staatsgleichgültigkeit, die wir in der Bundesrepublik vorfinden und die Staatspflege im hier 10 Speyer 83

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gemeinten Sinn fast unmöglich macht. Diese Staatsgleichgültigkeit, man muß wohl vielfach sogar sagen Staatsfeindschaft in unserem Lande, kontrastiert recht seltsam mit den von Helmut Klages in seinem Vor­ trag schon erwähnten Ansprüchen aller an eben diesen ungeliebten Staat, und daraus ergeben sich zweifellos ganz gewaltige, auch innen­ politische Probleme. Die Frage der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im engeren und im weiteren Sinne ist natürlich eingebettet in unsere Staatsproblematik und in die Schwierigkeiten, die dieser Staat hat, wenn er zu einer Art aktiver, bewußter Selbstdarstellung kommen will. Ich meine, daß die Staatsproblematik, mit der wir es heute zu tun haben, sich ausdrückt und vielleicht sogar kulminiert in einer Vorstellung der Vergesell­ schaftung des Staates. Die Gesellschaft als ein neuer Begriff der Organi­ sation oder weniger der Organisation als des Zusammenwirkens ge­ sellschaftlicher Teile hat einfach den Staatsgedanken überwuchert. Wenn wir dieser Tendenz nun entgegentreten wollen, dürfen wir aber natürlich nicht unsererseits auf die Verstaatlichung der Gesellschaft zusteuern, sondern, so meine ich, auf mehr Staatlichkeit in unserem Lande. Wir müssen zumindest den Versuch machen, die vorhandenen Reste von staatlichem Empfinden und von wirklicher Staatlichkeit zu mobilisieren und zu vitalisieren. Wir haben natürlich immer noch bestimmte Nationalgefühle, die sich bei besonderen Anlässen auch durchaus bemerkbar machen, wenn es z. B. um die Fußballwelt­ meisterschaft oder ähnliches geht. Es ist sicher zu Recht von Hans­ Joachim Winkler im Rahmen dieser Tagung davon gesprochen worden, daß es hier eine starke Antinomie in der Politik gibt: Die einen sehen Sportförderung als ein Mittel, die Bundesrepublik Deutschland als solche zu fördern und im Wettbewerb der Nationen erfolgreich sein zu lassen, andere wiederum sehen sie primär als eine Pflicht des Staates als Gesellschaft, nun den Einzelmitgliedern dieser Gesellschaft, die sportlich besonders talentiert sind, zu ihrer vom Grundgesetz garan­ tierten Selbstverwirklichung zu verhelfen. Demnach muß die Gesell­ schaft dafür sorgen oder jedenfalls dazu beitragen, daß derjenige, der einen Olympiasieg oder eine Medaille erkämpfen will, dies nun auch mit Hilfe des Staates und nicht nur durch private Sporthilfe erreichen kann. Ich meine, wenn wir von mehr Staatlichkeit sprechen, dann sollte man heute mehr denn je an den Ausspruch denken, den zu Beginn der Neu­ zeit schon der Große Kurfürst getan hat: ,,Der Soldat muß sich können fühlen." Auch der Staat muß sich „können fühlen", wenn er als etwas Attraktives vorhanden sein soll, als etwas, an dem zwar nicht alle Men­ schen, aber wenigstens einige und nicht unbedingt nur die Elite in irgendeiner Weise hängen können. Der Staat muß sich ausdrücken

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können in Symbolen, z.B. in Briefmarken oder in Uniformen. Vor allem aber muß er seine Präsenz beweisen können in Aktionen. Diese Aktionen, die der Staat - Staat jetzt im Sinne von Regierung und nicht im Sinne von Parlament - vornimmt, um sich selbst darzustellen, sich sichtbar und bemerkbar zu machen, bestehen nun in seiner Öffent­ lichkeitsarbeit. Sie trägt dazu bei, daß uns allen der Staat ständig in seiner Existenz, in seinem Vorhandensein und in seinem Tätigwerden auch bewußt wird. Öffentlichkeitsarbeit hat sich deshalb schon zu allen Zeiten und unter allen Regimen auch als ein Teil der Staatspflege im Sinne von Krüger verstanden. Das geht in alte Zeiten zurück; uns interessiert aber hier als Öffentlichkeitsarbeit nur das, was seit Auf­ kommen des modernen Staates interessant und erforschenswert ist. Insbesondere haben wir in diesem speziellen Sinne von Öffentlichkeits­ arbeit als Teil der Staatspflege zu sprechen seit 1949, d. h. seit einem Zeitpunkt, wo man von einem staatlichen Neubeginn sprechen kann. Gerade bei diesem Neubeginn hat die Öffentlichkeitsarbeit von An­ fang an eine wichtige Rolle gespielt. Im Bewußtsein derer, die für sie verantwortlich waren, ist sie immer als eine besonders wichtige Form der Staatspflege aufgefaßt worden. Ich kann dies aus eigener Erfahrung sagen: Aus meiner ersten Dienstzeit im Bundespresseamt Anfang der 50er Jahre erinnere ich mich, daß wir schon damals Öffentlichkeitsarbeit ganz bewußt als ein Mittel zur Durchsetzung dieses Staates sowohl gegenüber der deutschen Öffentlichkeit als auch gegenüber dem Aus­ land verstanden haben. Dies war damals aus der speziellen Situation der Bundesrepublik heraus natürlich besonders wichtig, weil sie als staat­ liche Organisation gesehen ein „a posteriori", eine Zweitgeburt, war. Zum einen gingen ihr die Länder voraus, zum anderen die Medien, die nun einmal das stärkste Vehikel für jede Art von Öffentlichkeitsarbeit darstellen, auch wenn diese nur auf das Ausprägen und Darstellen des Staates und nicht einer bestimmten Politik ausgerichtet ist. Insofern sind die Medien der wichtigste Adressat der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit im Inland. Gegenüber dem Ausland war das Presseamt damals ebenfalls schon tätig: Es machte als Teil des Kanzler­ amtes mit einer Auslandsbeteiligung als Vorläuferin des heutigen Aus­ wärtigen Amtes die ersten Anfänge deutscher Außenpolitik und vor allem auch deutscher Vertretung gegenüber dem Ausland. Es hat damals sozusagen die noch nicht vorhandenen Auslandsvertretungen ersetzt. Im Zuge der allgemeinen Demokratisierung unserer Gesellschaft und unseres Staates ist dann naturgemäß mehr und mehr auch die eigene Bevölkerung als Adressat regierungsamtlicher und auch staatsbewußter Öffentlichkeitsarbeit hinzugekommen. Historisch gesehen hat sich die Öffentlichkeitsarbeit aus der Presse­ arbeit der Regierung und Regierungsstellen des modernen Staates ent10•

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wickelt, und als solche ist sie auch zu einem Studienobjekt geworden. Ganz intensiv kann man das schon feststellen in der Zeit der fran­ zösischen Revolution. Ich will hier nur ein paar Zitate bringen, um Ihnen zu zeigen, daß die Auffassungen von Öffentlichkeitsarbeit und Presse zu allen Zeiten gleich waren. Etwa das Wort: ,,Wir sind dazu da, die öffentliche Meinung zu lenken, nicht sie zu erörtern", ist wohl schon von jedem Bundeskanzler gesagt worden - auch ungefähr in der gleichen Form. Dieses Zitat stammt aber ursprünglich von Napoleon. Napoleon hat schon genau dasselbe gemacht oder machen lassen, was das Presseamt auch tut, indem er alle in- und ausländischen Zeitungen durchsah, Sprachregelungen herausgab, Meldungen unterdrückte und falsche Meldungen placierte. Letzteres ist übrigens ein Vorgang, der im Kampf zwischen Ost und West und in jeder seiner Facetten eine immer größere Rolle spielt. Viele Meldungen, die wir in den Zeitungen lesen, etwa über die Verbrechen des Central Intelligence Agency, stammen vom russischen KGB; es sind ausgesprochene Kampfmeldungen im Kampf der Geheimdienste untereinander. Umgekehrt liest man natür­ lich auch in einigen Springer-Zeitungen viele Dinge, die der CIA, ohne daß die Kollegen bei der jeweiligen Zeitung es merken, gegen die Rus­ sen dort hineinplaciert. All dies ist aber, wie gesagt, nicht neu - es sind Vorgänge, die es gegeben hat, seit die großen plebiszitären Ausein­ andersetzungen nach der französischen Revolution begonnen haben. Aber es gibt auch einsichtigere Staatsmänner, von denen wir folgendes Zitat kennen: ,,Die öffentliche Meinung ist das wichtigste der Mittel, ein Mittel, das wie die Religion in die verborgensten Tiefen dringt, wo administrative Einflüsse keine Wirkung mehr haben. Die öffentliche Meinung fordert eine ganz besondere Beachtung, konsequente und ausdauernde Pflege." Dieser Ausspruch war das Vorbild für die Vor­ bemerkung zu Titel 0403 des Bundeshaushaltsplanes, er klingt dort nur etwas abstrakter, verwaltungstechnischer. Das Zitat selber stammt von Metternich und hat in der Tat Pate gestanden bei unserer ersten Formu­ lierung für die Vorbemerkung dieses Haushaltstitels. Nun noch ein anderes Zitat, das an sehr unangenehme Zeiten erinnert: „Die Bedeutung, welche die freie Presse hat, legt der Regierung und allen ihren Beamten die Pflicht auf, den Gefahren der Pressefreiheit zu begegnen, dahin zu wirken, daß sich der Einfluß der gegenwärtig leider in der Hand Unfähiger und Böswilliger befindlichen Presse zu einem segensreichen gestaltet." Es kam und kommt auch heute noch in jeder dritten oder vierten Kabinettssitzung vor, daß jemand eine Bemerkung in dieser Richtung macht; ursprünglich stammt sie von Herrn von Manteuffel, der um die Mitte des letzten Jahrhunderts Staatsminister war. Manteuffel war es, der das schöne „Literarische Kabinett" - so hieß das Pressebüro der deutschen Staatsregierung

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in der Zeit der Reaktion nach dem Ende der napoleonischen Kriege in die Zentralstelle für Presseangelegenheiten umgebildet hat. Das war die eigentliche Geburtsstunde des heutigen Presseamtes. {,,Literarisches Kabinett" war übrigens meiner Ansicht nach wirklich eine glänzende Bezeichnung für das, was das Pressebüro eigentlich sein sollte und sein könnte !). Bismarck hat das große Verdienst, den Reptilienfonds einge­ führt zu haben, der sich bis in heutige Zeiten erhalten hat und der immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Bundesrechnungshof und mit Landesrechnungshöfen geführt hat, weil auch die Minister­ präsidenten der Länder sich inzwischen eine Art Reptilienfonds einzu­ richten versucht haben. Wir sehen also, daß die Probleme der regierungsamtlichen Presse­ und Öffentlichkeitsarbeit seit ihrem Beginn bis heute die gleichen ge­ blieben sind : die Abneigung gegen diese Öffentlichkeitsarbeit, der Wunsch, sich ihrer zu bedienen und sie zu mißbrauchen, und ihre Kompetenzschwierigkeiten mit den Ministerien. Seit Jahren schon führt z.B. das Presseamt, sprich Kanzleramt, einen erbitterten Streit mit dem Auswärtigen Amt um bestimmte Bereiche der auswärtigen Pressearbeit, die ja verbunden ist mit der auswärtigen Kulturpolitik. Ein Kooperationsinstrument zwischen auswärtiger Pressepolitik und der Politik des Auswärtigen Amtes hat sich noch erhalten: die „Inter Nationes", eine hervorragende Institution zur Verbreitung deutschen politischen und literarischen Schrifttums im Ausland einerseits und zur Organisation für ein ausländisches Besucherprogramm andererseits. Dieses Instrument nationaler auswärtiger Presse- und Kulturpolitik soll nun im Zuge der Tendenz zur Internationalisierung der auswärtigen Kulturpolitik liquidiert werden. Ich hoffe, daß es nicht dazu kommen wird, weil ich der Meinung bin, daß in diesem Bereich eine nationale deutsche Presse- und Kulturpolitik gegenüber dem Ausland nach wie vor notwendig ist. Wichtig ist auch die Frage der Zulässigkeit von Öffentlichkeits­ arbeit. Sie hat im Zuge der Konstitutionalisierung in unserem Lande immer schon eine große Rolle gespielt: Verfassungsstreitigkeiten darü­ ber, was erlaubt ist und was nicht, gab es seit 1919 schon genauso wie heute. Seit 1949 kommt nun die besondere Belastung der Öffentlich­ keitsarbeit durch die Erinnerung an die Zeiten des Dritten Reiches und des Reichspropagandaministeriums von Josef Goebb els hinzu. Die Schatten dieser Zeit liegen über unserer Öffentlichkeitsarbeit natürlich genauso wie über unserer Verfassung. Ich bin, wie Sie vielleicht merken, sowohl ein Apologet als in ge­ wisser Weise aber auch ein Kritiker der Öffentlichkeitsarbeit - auch ein Kritiker meiner selbst, weil man leider ja immer erst nachher weiß, was man falsch gemacht hat. So finden wir heute zunehmend - und das

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geht schon in die Grauzone zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Propa­ ganda hinein - den Begriff des „Verkaufens" von Politik. Insbesondere in dieser Banalsprache, die sich prominente Politiker oft zu eigen machen, taucht er immer wieder auf. Jedesmal, wenn eine Wahl ver­ lorengeht, ist die Politik angeblich schlecht verkauft worden, während es in Wirklichkeit ja umgekehrt ist : man kann eine schlechte Politik gar nicht verkaufen. Gute Politik setzt sich von selbst durch - wobei das sicher durch gute Öffentlichkeitsarbeit verstärkt werden kann -, aber politische Fehler können auf die Dauer auch durch Werbung nicht besser gemacht werden. Insgesamt aber hat sich meiner Ansicht nach bei uns eine sehr gute Konstruktion und auch eine gute Konzeption der regierungsamtlichen Pressearbeit herausentwickelt. Die Konstruktion möchte ich nur ganz kurz darstellen : Um das Bundespresseamt sind die Pressestellen der Ministerien und die Presseattaches bei den Auslandsvertretungen herumgruppiert. Dazu kommen die beiden Regierungssprecher, die durch ihre Pressekonferenzen dreimal in der Woche und durch ihre ständige Verfügbarkeit und Sprechbereitschaft eine Art Omnipräsenz des Staates herstellen und damit meiner Meinung nach ein ganz wesentliches Stück Staatspflege und Staatspräsentation bedeuten. Der Begriff der Repräsentation ist schwer zu definieren, obwohl jeder eine Vorstellung davon hat, was damit gemeint ist. Er hat etwas Metaphysisches, Mystisches an sich. Carl Schmitt definiert ihn so: ,,Repräsentation ist, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesen­ des Sein sichtbar zu machen und zu vergegenwärtigen." Genau das ist es meiner Meinung nach, was von den Regierungssprechern und den ihnen nachgeordneten Kollegen sowie vom Chef vom Dienst im Presseamt getan wird. Aus diesem Grunde kann man sagen, daß Bonn die offenste Stadt in der ganzen Welt ist - offen auch für alle Geheim­ nisse, die es deshalb dort so gut wie gar nicht gibt. Eine ähnliche Situation gibt es auf der ganzen Welt eigentlich nirgends außer in Washington. Dort aber werden Nachrichten, ,,news" eben auch gehei­ mer Art, aber als Privilegien gehandelt, mit denen nur besonders ge­ nehme Journalisten bedient werden. Diese werden dann häufig als „Dynamiteros" eingesetzt, die eine ungeheure Wirkung erzielen, weil die geballte Macht der Vereinigten Staaten natürlich wesentlich größer ist als die, die etwa der „Spiegel" hier bei uns entfalten und ausüben kann. Bei uns ist es ja auch kaum gebräuchlich, Journalisten in dieser Form einzusetzen. Wegen seiner durch das Presseamt garantierten Offenheit ist Bonn einerseits bei allen Korrespondenten des In- und Auslandes besonders beliebt. Andererseits hat es durch die Offenheit eine alte Forderung der APO und ihrer Nachfolger, der Jusos, erfüllt, nämlich die Forderung nach der Transparenz der Entscheidungen. Es

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gibt wohl kein Land, in dem der staatliche Entscheidungsprozeß so transparent abläuft und immer wieder erklärt und interpretiert wird, in dem so viel gesagt wird über das, was entschieden wird und warum so und nicht anders entschieden wird, als die Bundesrepublik Deutsch­ land. Und meiner Ansicht nach ist es nicht zuletzt dieser durch die regierungsamtliche Pressearbeit herbeigeführten Transparenz des Ent­ scheidungsprozesses zuzuschreiben, daß sich die Bundesrepublik in den vergangenen zwei krisenhaften Jahren als doch ungewöhnlich stabil erwiesen hat. Der Begriff der „Repräsentation" enthält neben der mystischen Komponente aber auch eine sehr reale, nämlich die der „Präsentation". Eben diese Präsentation stellt die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung dar. Sie operiert übrigens mit vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln, die meiner Ansicht nach zumindest im Bereich der Auslands­ arbeit wesentlich aufgestockt werden müßten. Um Ihnen eine Vorstel­ lung von den Dimensionen zu geben, möchte ich Ihnen kurz einige Zah­ len nennen: Im neuen Haushalt haben wir für die gesamte Öffent­ lichkeitsarbeit der Regierung im In- und Ausland, also nicht nur für das Presseamt, einen Betrag von 153,8 Millionen. Davon erhält das Presseamt 98,2 Millionen, von denen es aber für die Öffentlichkeits­ arbeit im Ausland allein 70,6 Millionen, also mehr als zwei Drittel, ausgibt - dies alles für die werbende Information unseres Staates und natürlich auch seiner Regierung. Aber die Öffentlichkeitsarbeit im Ausland ist naturgemäß nur staatliche, nicht regierungsamtliche Öffent­ lichkeitsarbeit. Wie bescheiden der Staat mit seinem Werbeaufwand ist, zeigt am besten der Vergleich mit folgenden Zahlen: die Waschmittel­ industrie verbraucht 200 Millionen im Jahr für ihre Werbung, die Spirituosenindustrie 180 Millionen und so seriöse Institute wie die Banken und Sparkassen immerhin auch 120 Millionen. Andererseits muß man feststellen, daß sich das Presseamt seit 1950 stark vergrößert hat: 1950 haben wir mit einem Haushalt von 6 Millionen und 176 Mitarbeitern angefangen, und heute sind es 98,2 Millionen und rund 750 Mitarbeiter. Aus den Haushaltsmitteln, die für die Öffentlichkeitsarbeit zur Ver­ fügung stehen, muß unter anderem die Nachrichtenauswertung bestrit­ ten werden. Das Presseamt soll ja sowohl „Sprach-" als auch „Hör­ rohr" der Regierung sein, und die Nachrichtenauswertung ist natürlich ein entscheidendes Element der „Hörrohrfunktion". Sie ist für die Bundesrepublik mit ihrer zentralen Lage und den durch ihre Wirt­ schaftskraft bedingten starken auswärtigen Verpflichtungen eine sehr wichtige Aufgabe. Im Bundespresseamt gibt es eine Organisation, die es ermöglicht, praktisch jeden Rundfunksender in der Welt rund um die Uhr abzuhören. Das hat dazu geführt, daß das Presseamt häufig über

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kritische Vorgänge und zum Teil solche, die noch von den Betroffenen geheimgehalten werden sollten, die Regierung schneller unterrichten konnte als etwa das Auswärtige Amt über seine Auslandsmissionen oder der Bundesnachrichtendienst über seine Agenten. Das zeigte sich bisher in allen kritischen Situationen, beim Einmarsch der Russen bzw. der verbündeten Warschauer-Pakt-Mächte in die CSSR ebenso wie beim Yom-Kippur-Krieg. Das Presseamt unterhält auch den In­ formationsfunk für unsere Auslandsmissionen. Dieser stellt oft die einzige Verbindung zwischen abgeschnittenen Missionen und dem Hei­ matland dar. Ich habe das selbst erlebt, als ich mich beim Ausbruch des pakistanisch-indischen Krieges zufällig in Delhi aufhielt: Alle Funk­ verbindungen waren abgebrochen oder durch die Inder gestört, nur unser Informationsfunk funktionierte noch. Aus den Haushaltsmitteln für die Öffentlichkeitsarbeit müssen außerdem sämtliche Service-Publikationen bestritten werden, wie z. B. der „Siebente Sinn" oder die Verbraucheraufklärung; denn auch das ist Öffentlichkeitsarbeit, wenn auch nicht eigentlich regierungsför­ dernde, sondern mehr gesamtstaatliche. Ich sagte schon, daß die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung sich im wesentlichen konkretisiert in der Auslandsarbeit, und hier geht es darum, einerseits ein für das Ausland ansprechendes Deutschlandbild zu fördern und andererseits die Außenpolitik der deutschen Regierung dem Ausland verständlich zu machen. Diese Auslandsarbeit wurde von Anfang an überparteilich konzipiert. Man hat sich immer Mühe ge­ geben, auch den Standpunkt der jeweiligen Opposition zu erklären und darzustellen. Diese Konzeption ist natürlich nicht immer hundert­ prozentig ausgeführt worden, aber im großen und ganzen kann man hier mehr Ausgewogenheit feststellen als etwa in den meisten deut­ schen öffentlich-rechtlichen Anstalten. Ein wichtiges Element dieser Auslandsarbeit ist das schon erwähnte Besucherprogramm, mittels dessen im Laufe der Jahre seit 1949 auf die verschiedenste Weise mehrere hunderttausend ausländische Besucher in die Bundesrepu­ blik gebracht worden sind. Die Idee zu diesem Besucherprogramm, das immer noch läuft, haben wir damals aus den USA übernommen. In der Auslandsarbeit spielt durch die Entwicklung der Medien in zunehmendem Maße auch die Bedienung der ausländischen Fernseh­ anstalten eine Rolle - inzwischen sogar schon in Farbe. Diese Aufgabe wird auch sozusagen überparteilich erfüllt, und zwar mit Hilfe der deutschen Fernsehanstalten. Außerdem haben wir sogenannte Kino­ mobile herumgeschickt, die in den unwirtlichsten Gegenden der Welt in die entlegensten Dörfer fahren und dort Filme über Deutschland vorführen. Auch die Zeitschrift „Skala", die Deutsche Welle und der Deutschlandfunk sind wichtige Hilfsmittel der Öffentlichkeitsarbeit im

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Ausland. Gerade die Deutsche Welle und der Deutschlandfunk sind nun ein typisches Beispiel für die Konfliktlage, in der sich Öffentlichkeits­ arbeit für das Ausland heute befindet. Beide sind Anstalten des Öffentlichen Rechts wie alle anderen auch, und sie arbeiten nach den­ selben Rechtsprinzipien. Aber obwohl sie vom Bund bezahlt werden - die Deutsche Welle voll, der Deutschlandfunk jedenfalls partiell legen sie und ihre Redakteure großen Wert darauf, ,,staatsfrei" zu sein. Sie interpretieren das natürlich unterschiedlich - manche verstehen es als „staatsfern" und manche als etwas staatsnäher. Daraus ergeben sich immer wieder Komplikationen, wenn es darum geht, bestimmte Wünsche der Regierung - ich will es nicht „Weisungen" nennen durchzusetzen. In einem Fall mußten wir beispielsweise über die Deutsche Welle sozusagen regierungsamtliche Verlautbarungen von Uganda ausstrahlen, um eine in Afrika festgehaltene Geisel freizube­ kommen. Insgesamt operiert die deutsche Öffentlichkeitsarbeit im Ausland nach dem berühmten Grundsatz der Großbanken: der Großindustrie hinter­ her, dem Mittelstand und hier den deutschen Besuchern voran. überall dort, wo sich die deutschen Handelsströme ergießen, intensivieren wir unsere Auslandsarbeit, und es hat sich immer wieder gezeigt, daß es nur ein paar Jahre dauert, bis diese Gebiete dann auch von den Urlau­ bern entdeckt werden. Ich möchte nun noch einen kurzen Rückblick über die geistigen Schwerpunkte der deutschen Auslandsarbeit geben. In den 50er Jahren lagen sie primär in der Vertrauenswerbung für den Staat, der ja doch in einen ziemlich schlechten Ruf geraten war. Die Komponente der Vertrauenswerbung ist übrigens auch heute noch notwendig, weil wegen mangelnder finanzieller Mittel in den ausländischen Fernsehanstalten, insbesondere in England, aber auch in den Vereinigten Staaten, immer wieder die schrecklichsten Reprisen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit gesendet werden und wir uns immer wieder gezwungen sehen, hier auszugleichen. Es ist uns leider nicht gelungen, diese Filme aufzukaufen, weil bisher tatsächlich immer noch ein gewisses Publikumsinteresse dafür vorhanden ist. In den 60er Jahren lag der Schwerpunkt der Öffentlichkeitsarbeit im Ausland in wachsendem Maße in dem Versuch, die Bundesrepublik nun nicht als Modell zu verkaufen, aber doch anzu­ bieten, als Modell für wirtschaftliches Wachstum und die damit ver­ bundenen Möglichkeiten zur Überwindung sozialer Konflikte. In den 70er Jahren lag und liegt weiterhin der Schwerpunkt natürlich auf der Vertrauenswerbung gegenüber dem Osten, d. h. auf „flankierenden Maßnahmen" zur deutschen Ost- und Entspannungspolitik. Im übrigen zeichnet sich jetzt ein neuer Schwerpunkt der Öffentlichkeitsarbeit im Ausland ab, nämlich der Versuch, beizutragen zur Überwindung des

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berühmten Nord-Süd-Konfliktes, der sich ja teilweise mit dem Ost­ west-Konflikt vermischt und ihn überlagert. Der Höhepunkt und die meiner Ansicht nach erfolgreichste Leistung der deutschen Öffentlichkeitsarbeit im Ausland erfolgte auf das Chruschtschowsche Berlin-Ultimatum 1958. Damals wurden die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit im Ausland sofort verdreifacht, und es wurde in massivster Form in der ganzen westlichen und auch in der Dritten Welt für Berlin geworben. Dadurch wurde erreicht, daß die Verteidigung Berlins in dieser Zeit wirklich gelungen ist. Ein umstrittenes Element deutscher Inlands-Öffentlichkeitsarbeit war seit 1949 die Bundeszentrale für Heimatdienst als Nachfolgerin der 1918 eingeführten Reichszentrale für Heimatdienst. Diese Institution hat sich lange gehalten und z. B. beim Wahlkampf 1953 und 1957 eine erhebliche Rolle gespielt. Es gab damals heftige Diskussionen und sogar Streitigkeiten bis zum Bundesverfassungsgericht - angestrengt von der sozialdemokratischen Opposition - über die Frage der Grenzen regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit hinsichtlich der Opposition; denn die Schwierigkeit besteht natürlich darin, daß bei der Inlands­ Öffentlichkeitsarbeit Staat, Regierung und Regierungsparteien fast zusammenfallen, und hierbei hat eben die Bundeszentrale für Heimat­ dienst eine entscheidende Rolle gespielt. Sie wurde im wesentlichen aus dem berühmten Reptilienfonds bezahlt und konnte eigentlich erst seit der großen Koalition langsam abgebaut werden. Inzwischen hatte sie allerdings auch ihre Wirksamkeit schon bis zu einem gewissen Grade verloren. Auf eines möchte ich noch hinweisen - es ergibt sich eigentlich schon aus dem vorhin genannten Zahlenvergleich: Vom Volumen her gibt es auch für die Inlands-Öffentlichkeitsarbeit kein Mißbrauchsproblem. Wenn man bedenkt, was für die rund 100 Millionen, die das Presseamt im Jahr erhält, geleistet werden muß oder für die rund 20 Millionen, die für die Inlandsarbeit zur Verfügung stehen, sieht man, daß eigent­ lich mit diesen finanziellen Mitteln kein Mißbrauch getrieben werden kann, zumal wenn eine einseitige Anzeige in allen deutschen Tages­ zeitungen schon einige Millionen kostet. Hinzu kommt, daß das wich­ tigste Medium, das es heute gibt und das man natürlich einsetzen würde, wenn man könnte und dürfte, nämlich das Fernsehen, für die Inlands­ arbeit sowieso verboten ist. Ich meine also, daß eigentlich kein Grund besteht, Anstoß an der heute geübten Praxis der Öffentlichkeitsarbeit zu nehmen. Außerdem hat sich ja die berühmte Prämie des Macht.; besitzes für den Prämienträger immer wieder als sehr bedenklich er­ wiesen; denn sie kann sehr schnell auch zu einer Belastung werden. Das hat die deutsche Innenpolitik immer wieder gezeigt: Alle Versuche jedes Kanzlers, sein Image mit Hilfe regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit

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aufzupolieren, sind, wenn man absieht von der Wahl im Jahre 1957, bei der die CDU die absolute Mehrheit erhielt, letzten Endes geschei­ tert. So ging es 1961 bei Konrad Adenauer. Erhardt und Brandt mußten innerhalb von 12 Monaten ihren Sessel trotz der Bemühungen des Bundespresseamtes räumen, und auch bei Kiesinger hat das Plakat mit dem Werbespruch „Auf den Kanzler kommt es an" zuletzt nicht mehr geholfen. Das heißt, daß hier neben der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit noch viele andere Faktoren eine Rolle spielen. Auch die Öffentlichkeitsarbeit kann Fehler und Versäumnisse nicht wieder gutmachen, und sie kann gesellschaftliche Entwicklungen nicht aufhalten. Aus diesem Grunde erscheint sie mir im wesentlichen unbe­ denklich. Die Öffentlichkeitsarbeit kann auch keinen Staat machen, wo nicht genügend Staat bzw. Staatlichkeit vorhanden ist. In dieser Beziehung ist die Rechtslage übrigens durch das Bundesverfassungsgericht geklärt. Es heißt in dessen berühmter Grundsatzentscheidung : „Es ist den Staatsorganen grundsätzlich verwehrt, sich in bezug auf den Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes zu betätigen. Dieser Prozeß muß grundsätzlich staatsfrei bleiben. Aber Einwirkungen auf diesen Meinungs- und Willensbildungsprozeß sind zulässig, wenn sie durch einen besonderen, sie verfassungsrechtlich legitimierenden Grund gerechtfertigt werden können. Zulässig sind danach z. B. die Einwirkungen, die sich aus der verfassungsmäßigen Gestaltung des Wahlrechts auf die Willensbildung des Volkes ergeben können. Weiterhin ist unbedenklich die sogenannte Öffent­ lichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften, soweit sie, bezogen auf ihre Organtätigkeit, der Öffentlichkeit ihre Politik, ihre Maßnahmen und Vorhaben sowie die künftig zu lösenden Fragen darlegen und erläutern." Ich muß sagen, daß das Bundespresseamt sich im großen und ganzen an die hier vorgegebenen Richtlinien gehalten hat. Es hat Richtsätze herausgegeben, in denen es z. B. heißt: ,,Die Öffentlichkeitsarbeit muß offen und wahr sein. Sie muß sich auf nachprüfbare Tatsachen stützen. Sie muß über Herkunft und Verwendung ihrer Mittel Rechenschaft ablegen, und zwar sowohl gegenüber dem Parlament als auch gegen­ über dem Bundesrechnungshof. Sie muß Selbstbeschränkung üben und sich bei Wahlen eine Frist setzen." Wir haben z. B., jedenfalls solange ich im Bundespresseamt war, immer etwa drei Monate vor jedem Wahltermin die werbende Information ganz eingestellt und nur die normale Leistungsinformation weiterbetrieben. Ich gebe allerdings zu, daß sich neue Probleme ergeben, wenn ein Wahlkampf wie der jetzige von den Regierungsparteien primär auf die Darstellung ihrer Leistun­ gen gestützt sein soll. Meiner Ansicht nach ist Öffentlichkeitsarbeit die Verbreitung von Wahrheit in verschönerter Form. Diese Definition bietet auch eine ge-

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Conrad Ahlers

nügend klare Abgrenzung der Öffentlichkeitsarbeit zur Propaganda; denn letztere ist immer etwas, was zumindest auch gegen jemand anders gerichtet ist. Sie muß mit Lügen und Entstellungen arbeiten, und dies kann sich eine regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit nicht leisten. Ich meine, daß die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit zu­ mindest indirekt ein Stück Staatspflege ist; denn sie fundiert das staats­ erhaltende Vertrauen in die Regierung als eines der wichtigsten Staats­ organe, deren Funktionsfähigkeit dargestellt oder zumindest vorge­ täuscht wird, wobei auch in dieser Vortäuschung dann ein Stück in­ direkter Staatspflege liegt. Die direkte Staatspflege dagegen ist in unserer regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit seit vielen Jahren nur noch rudimentär zu erken­ nen. Wir haben alles mögliche versucht: die einheitliche Gestaltung der Publikationen desBundespresseamtes, den Gebrauch des Staatswappens und ähnliches, aber dies sind eben nur kleine Palliativmittel, um mit Hilfe der Öffentlichkeitsarbeit den Staatsgedanken wirksam werden zu lassen. Ein bewußter Beitrag der Öffentlichkeitsarbeit zur Selbst­ darstellung des Staates und zur Staatspflege ist eben überhaupt nur möglich, wenn er intendiert ist, und dies ist nun schon seit langer Zeit nicht mehr der Fall. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele vorführen aus der Zeit der Großen Koalition. In beiden Fällen haben wir versucht, Ereignisse, die ohne unser Zutun eintraten, zu einer großen, ins Gewicht fallenden Selbst­ darstellung unseres Staates zu nutzen. Das erste war das Staatsbe­ gräbnis für Adenauer, zu dessen Ausgestaltung wir einen wesentlichen und wohl auch geglückten Beitrag geleistet haben. In die gleiche Zeit fiel das zweite Ereignis, der zwanzigste Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Aus diesem Anlaß sollte eine große Bun­ deswehrparade veranstaltet werden, weil man weiß, daß so etwas bei der Bevölkerung nach wie vor sehr beliebt ist. Die ganze Autobahn zwischen Köln und Bonn sollte gesperrt werden, und auf einer Seite sollten die ersten damals gerade ausgelieferten „Leoparden" fahren. Das Vorhaben scheiterte an dem gesammelten Widerstand des damaligen Bundeskanzlers, des Verteidigungsministers und der Generalität, die ja ohnehin immer etwas ängstlich ist, wenn es sich um die Position der Bundeswehr in der Öffentlichkeit handelt. Wir konnten deshalb das Ganze nur auf dem Nürburgring stattfinden lassen, aber es kamen trotz schlechten Wetters immerhin 125 000 Zuschauer. Wenn auch sonst, wenn dort der Große Preis ausgefahren wird, doppelt so viele Besucher er­ scheinen, so war dies doch für uns ein beachtlicher Erfolg. Die Bundes­ wehr spricht heute noch von diesem Ereignis, und es ist eigentlich be­ dauerlich, daß man so wenig Mut zu .solchen Dingen hat; denn wir haben

Bemerkungen zur Öffentlichkeitsarbeit der Regierung

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mit dieser geglückten Veranstaltung sicher ein Stück sichtbarer Staats­ pflege geleistet. Diese beiden Ereignisse fielen aber, wie gesagt, in die Zeit der Großen Koalition. Heute leben wir dagegen in einer Zeit verstärkter innenpolitischer Konfrontation, auch unabhängig vom Wahlkampf, und es besteht die Gefahr, daß in dieser innenpolitischen Konfrontation, die ja im wesentlichen eine Auseinandersetzung gesellschaftlicher Kräfte ist, der Staat schließlich zu kurz kommt. Dies insbesondere deshalb, weil meiner Meinung nach in der Bundesrepublik sowieso der Wille zum Staat mehr und mehr fehlt, und wo kein Wille zum Staat ist, kann es natürlich auch keine Staatspflege geben. Deshalb ist der unmittelbare Anteil der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit an der Staats­ pflege heute relativ gering, nur in bezug auf das Ausland ist er ver­ gleichsweise groß. Ich meine, daß die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Funktion, wenn nicht in der Staatspflege, so doch im Rahmen der Staatserhaltung und vor allen Dingen der Selbstverteidigung des Staates darstellt. Die pluralistische Gesellschaft, in der wir leben, zeich­ net sich dadurch aus, daß sie ein Herrschaftssystem gesellschaftlicher Gruppen ist, d. h. der Parteien, Gewerkschaften und Verbände. Der Staat ist nur eine von all diesen Gruppen, und deshalb ist es um so wichtiger, daß er in der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit eine Stimme hat, mit der er sich in diesem Konzert der Gruppen Gehör ver­ schaffen kann - dies um so mehr, als der Staat offensichtlich nur noch aus der Organisation einer solchen konzertierten Aktion unserer Gesell­ schaft bestehen kann.

Aussprache zum Referat von Conrad Ahlers und zum Gesamtthema Bericht von Ulrich Storost

I. 1. Die von Professor Dr. Helmut Quaritsch geleitete Diskussion eröffnete Ministerialrat Dr. Kurt-Friedrich von Scheliha, Kiel, mit dem Hinweis darauf, daß staatliche Öffentlichkeitsarbeit nicht nur von der Regierung, sondern auch und gerade im kommunalen Bereich getrieben werden müsse. Den dort tätigen Beamten und Politikern fehle es jedoch insoweit zumeist an den notwendigen Erfahrungen. Als beispielhaften Versuch, dieses Problem zu lösen, erwähnte von Scheliha eine gemein­ same Arbeitstagung von Kommunalpolitikern, Verwaltungsbeamten und Journalisten, die der Städtebund Schleswig-Holstein in Zusammen­ wirken mit der Akademie Sankelmark im Jahre 1975 veranstaltet hatte (veröffentlicht in: Städte- und Gemeindebund 1975, S. 206 ff., 240 ff.) . Ein derartiger Informationsaustausch zwischen Medien und Verwaltung über deren wechselseitige Anliegen und Arbeitsmethoden müsse häufiger stattfinden, um Vorurteile abzubauen und zu einem besseren gegenseitigen Verständnis zu gelangen. Auf die Probleme kommunaler Öffentlichkeitsarbeit ging auch Ober­ bürgermeister i. R. Dr. Hans Reschke, Mannheim, ein. Angesichts der beschränkten Möglichkeit zu eigenen Veröffentlichungen seien die Kommunalverwaltungen auf die unmittelbare Kooperation mit der örtlichen Presse unbedingt angewiesen. Deshalb sei es richtig, möglichst alle wichtigen Sitzungen der kommunalpolitischen Gremien öffentlich abzuhalten und die Presse dazu einzuladen, vor allem aber regelmäßige Pressekonferenzen durchzuführen. Dabei sah Reschke jedoch zwei Schwierigkeiten. Zum einen finde man heute kaum noch wörtliche Sitzungsberichte aus Gemeindegremien in den Zeitungen, weil das Interesse der meisten Leser hierfür zu gering sei. Infolgedessen werde der Inhalt auch entscheidender Sitzungen kommunaler Gremien der Öffentlichkeit nur in einer verkürzenden Filtrierung nach den sub­ jektiven Gesichtspunkten des jeweils zuständigen Journalisten oder Redakteurs bekannt. Die zweite Schwierigkeit bestehe in der zuneh­ menden Pressekonzentration, die im lokalpolitischen Bereich immer

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häufiger zu absoluten Meinungsmonopolen führe. Dabei sei doch für die Einstellung des Normalbürgers zu Staat und Demokratie gerade die Berichterstattung über Geschehnisse aus seiner engeren sozialen Um­ welt, der Gemeinde, viel prägender als etwa allgemeinpolitische Meinungsmanipulationen eines überregionalen Pressekonzerns. Der Referent bezweifelte, daß Mangel an Leserinteresse den zu­ mindest teilweise wörtlichen Abdruck wichtiger Verhandlungen ver­ hindere. Politische Wochenmagazine, die Zeit und Platz dazu hätten, auch lange wörtliche Passagen mit gewisser Dramatik aus Bundes­ tagssitzungen oder Gerichtsverhandlungen zu zitieren, hätten damit große Erfolge erzielt. Bei den Tageszeitungen mit ihrem Zwang zu umfassender und aktueller Berichterstattung scheitere dies jedoch durchweg an den Kosten des dafür erforderlichen Platzes und am Fehlen eigener Stenographen für die Wiedergabe der Sitzungsprotokolle am nächsten oder spätestens übernächsten Tag. Die Situation der kom­ munalpolitischen Information und Meinungsbildung bei lokalen Presse­ monopolen beurteilte der Referent eher optimistisch. Manipulierte Berichterstattung sei gerade in den lokalen Angelegenheiten sehr schwierig, weil die Korrektur durch die Betroffenen auf dem Fuße folgen könne. Die für den Kommunalbereich zuständigen Journalisten arbeiteten oft mit größerer Objektivität als politische Redakteure, die selbst halbe Politiker sein wollten und meinten, die Weltgeschichte durch tendenziöse Information beeinflussen zu können. Anders sei dies allerdings mitunter da, wo eine „Hegemonialsituation" bestimmter Parteien bestehe, die dann gekoppelt mit einem Lokalzeitungsmonopol tatsächlich zu einer erheblichen Benachteiligung anderer politischer Parteien führe. Der parlamentarische Staatssekretär im Bundesministe­ rium für Bildung und Wissenschaft, Peter Glotz, habe dieses Problem in seiner Habilitationsschrift an einem Beispiel dargestellt. Die daraus entwickelten medienpolitischen Vorstellungen bis hin zu einer Art Sonderverfassung für die Lokalseiten mit bestimmten gesetzlichen Auflagen zur Gleichgewichtigkeit der Berichterstattung über Partei­ veranstaltungen lehnte der Referent zwar ab. Monopolistischer Miß­ brauch der Pressefreiheit sei ihm lieber als deren relative Abschaffung durch eine derartige öffentliche Pressezensur und -kontrolle. Jedoch werde die Diskussion darüber immer mehr aufflammen, wenn nicht die Zeitungen selbst für ein vernünftiges Maß an Ausgewogenheit der kommunalpolitischen Berichterstattung sorgten. 2. Obermagistratsrat Sigurd Harald Mehls, Berlin, kritisierte, daß die Information der Bürger über staatliche Leistungen oft nur darin bestehe, daß Broschüren mit dem Bild des zuständigen Ministers auf der Titelseite hergestellt und vor wichtigen Wahlterminen verbreitet

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würden. Man müsse sich über die Formen des Angebots staatlicher Leistungen intensivere Gedanken machen. Der Referent meinte demgegenüber, es gebe kaum eine Sache, über die soviel nachgedacht werde wie über die Frage, wie man Leistungen erfolgreich anbieten könne. Es gebe genaue Untersuchungen über die verschiedene Werbewirksamkeit der Medien, wobei die Probleme poli­ tischer Werbung mit denen der allgemeinen Werbung grundsätzlich übereinstimmten. Politik sei hierbei nur insoweit eine Sache sui generis, als sie mit manchen würde- und geschmacklosen Werbungsformen unvereinbar sei. Das Hauptproblem sei die ungeheuere Vergeßlichkeit der Menschen. Ihr insbesondere im Bereich der möglichen Ansprüche des einzelnen gegen den Staat durch Aufklärung entgegenzuwirken, sei ein Teil der Fürsorgetätigkeit des Staates für seine Bevölkerung. Auf bestimmte Themen spezialisierte Broschüren, die über Multiplika­ toren verbreitet würden, hätten sich da als sehr nützlich erwiesen, wo sie an diejenigen herangebracht werden konnten, für die sie be­ stimmt waren, und wo die Empfänger auch eine gewisse Zeit zum Lesen hatten. Als Beispiel nannte der Referent Broschüren zur Infor­ mation älterer Menschen, aber auch mehr reißerisch aufgemachte Publikationen im Stil von Boulevardzeitungen. Zur Lösung des letztlich entscheidenden Vertriebsproblems müßten allerdings oft die Regie­ rungsparteien eingesetzt werden, um über ihre Organisationen regie­ rungsamtliches Material seinen Destinatären zuzuleiten. Dies sei kein Mißbrauch der Öffentlichkeitsarbeit, da diese Broschüren als solche nicht der Propaganda dienten, sondern die Menschen darüber auf­ klärten, was sie vom Staat zu erwarten haben und wo sie sich hin­ wenden können, um das zu bekommen, was ihnen zusteht. Insoweit leiste die Publikationsarbeit des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung einen sachbezogenen Beitrag zur verfassungsmäßigen Information der Bevölkerung durch die Regierung über Maßnahmen und Pläne der Staatsgewalt. Dagegen seien in der Tat sogenannte „Prestigebroschüren", die von den Pressestellen der Ministerien zur Befriedigung des Gemüts des eigenen Ministers hergestellt würden, eine · sinnlose Veranstaltung. Jedoch bestehe keine volle Zentralisie­ rung aller Mittel im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit des Bundes und könne auch nur um den Preis einer unerwünschten Aufblähung des Presse- und Informationsamtes erreicht werden. 3. Ministerialdirektor a. D. Werner Krüger, Bonn, richtete an den Referenten die Frage, ob beim Presse- und Informationsamt der Bundesregierung auch heute noch das Konzept der „Staatspflege durch Information" im Vordergrund stehe. Dieses Konzept habe man zu Beginn der fünfziger Jahre ganz bewußt aufgenommen und gegen den anfänglichen Widerstand des damaligen Bundeskanzlers Adenauer

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durchgesetzt. Insbesondere die Einrichtung, daß unmittelbar nach jeder Kabinettssitzung · die in Bonn akkreditierten in- und ausländischen Journalisten auf einer Pressekonferenz über wesentliche Teile der Kabinettsberatungen informiert wurden, sei etwas völlig Neues in der deutschen Geschichte gewesen. Der damalige Entschluß, Staats­ pflege durch gezielte, bewußte, offene, permanente und ehrliche In­ formation zu betreiben, habe den Erfolg gehabt, daß heute Bonn als die informationsoffenste Stadt der Welt gelte. Weiter bat W. Krüger den Referenten um Klarstellung, daß Falsch­ meldungen und Fehlinformationen in einem demokratisch regierten Land niemals integrierende Bestandteile regierungsamtl.icher Öffentlich­ keitsarbeit sein könnten. Nichts sei tödlicher für einen Regierungs­ sprecher, als wenn ihm nachgewiesen werden könne, er habe die Öffentlichkeit bewußt getäuscht. Kritik übte W. Krüger an dem Zahlenvergleich des Referenten zwischen dem finanziellen Aufwand der Bundesregierung für ihre Öffentlichkeitsarbeit und Werbeetats in der Privatwirtschaft. Es gebe über die Bundesregierung als solche hinaus auch in den einzelnen Ministerien, im Ausland, bei den Ländern und den Kommunal- und Bezirksvertretungen überall Institutionen, die staatliche Öffentlich­ keitsarbeit betrieben und bei einem solchen Größenvergleich mit­ berücksichtigt werden müßten. Abschließend warnte W. Krüger davor, staatliche Öffentlichkeits­ arbeit ausschließlich zu idealisieren. Es handele sich dabei zu einem guten Teil um handfeste Interessenwahrnehmung im Sinne der j eweils auftraggebenden Institution, hier der Bundesregierung. Jeder Auftrag­ geber erwarte, daß für dessen Politik nicht nur Informationsarbeit geleistet, sondern dadurch auch bis zu einem gewissen Grade Werbung betrieben werde. Dies sei auch verfassungsrechtlich zulässig, weil es keine auch noch so sachliche Informationsarbeit geben könne, der nicht ein gewisser Werbungscharakter für einen bestimmten Zweck immanent sei. Der Referent würdigte in seiner Antwort zunächst die Verdienste, die sich W. Krüger um die Durchsetzung des Konzepts einer „ Staats­ pflege durch Information" gemacht habe. Für Adenauer sei die Presse ursprünglich ein kommunales Gegenüber, aber kein staatlicher Mit­ streiter gewesen ; die Form offener Information, die zuerst das Dritte Reich - wie andere Elemente einer Demokratisierung - in perver­ tierter Form vorweggenommen habe, sei ihm, der aus einer anderen Zeit stammte, ganz fremd gewesen. Der damalige Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Otto Lenz, habe demgegenüber für die Öffentlich­ keitsarbeit der Regierung mehr die Rolle einer die Regierungspartei 11 Speyer 63

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fördernden Propaganda angestrebt. Heute sei das Konzept der „Staats� pflege durch Information" bei den Regierungssprechern im wesentlichen unumstritten. Allerdings gebe es im staatlichen Informationswesen immer auch Amtsträger, die das Medium Presse und die sachliche, wahre Information nicht so wichtig nähmen, sondern das Schwergewicht auf die unmittelbare Ansprache des Wahlbürgers legen wollten. Der Referent bekräftigte ausdrücklich seine These, daß bewußte Desinformation ein übliches Kampfmittel von Regierungen, auch demo­ kratischen Regierungen, und von amtlicher Auslandsarbeit sei. Die Bundesregierung halte sich allerdings grundsätzlich frei davon, mit Hilfe von Falsch- oder Fehlmeldungen ihre Politik durchzusetzen. Nur in Wahlkampfzeiten gebe es gelegentlich Ausrutscher in dieser Rich­ tung. Zwar gab der Referent zu, daß die Gesamtsumme der für staatliche und halbstaatliche Ö ffentlichkeitsarbeit aufgewendeten Mittel die von ihm genannten Beträge übersteige. Als Vergleichsgröße komme dann aber auch nur der Gesamtwerbeetat der deutschen Wirtschaft in Betracht, was das Mißverhältnis noch vergrößern würde. Wenn man dem Presse- und Informationsamt der Bundesregierung oder einer unabhängigen „Bundeszentrale für Ö ffentlichkeitsarbeit" den Auftrag erteilen würde, direkte Staatspflege für den Staat Bundesrepublik als solchen zu betreiben, so würde dies - abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten - sehr viel mehr Geld erfordern als bisher. Schon für die nur indirekt dem Staat dienende Ö ffentlichkeitsarbeit heute seien die Geldmittel bei weitem unzureichend, zumal wenn man be­ denke, daß in der Auslandsarbeit in den letzten Jahren der gesamte osteuropäische Bereich und die Dritte Welt hinzugekommen seien. Den impliziten Werbecharakter jeder Information wollte der Referent in Kauf nehmen, wenn nach Möglichkeit verhindert werde, daß mit den verfügbaren Mitteln parteipolitischer Mißbrauch getrieben werde. 4. In einer Zwischenbemerkung vor dem Diskussionsbeitrag von Professor Dr. Herbert Krüger, Hamburg, wies der Diskussionsleiter darauf hin, daß dessen Begriff der „Staatspflege" , der bisher auf den engeren Bereich der staatstheoretischen Literatur beschränkt gewesen sei, inzwischen unbewußt zum allgemeinen Wortschatz der Tagungs­ teilnehmer gehöre. Entsprechendes könne man von den Worten „Staat­ lichkeit" und „Entstaatlichung" feststellen. Auch das Wort „Entstaat­ lichung" habe erstmals H. Krüger in seinem 1954 erschienenen Rechts­ gutachten „gegen eine Entstaatlichung der öffentlichen Wege" geprägt. Vielleicht könne man nun, ausgehend von Speyer, bei dem Wort „ Staatspflege" einen ähnlichen etymologischen Verbreitungsvorgang beobachten.

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H. Krüger setzte sich mit der Schlußbemerkung des Referenten aus­ einander, der Staat sei heute nur noch eine Gruppe unter anderen Gruppen. Ein solches ständisches Staatsverständnis beziehe den Staat gewissermaßen in den marktwirtschaftlichen Kampf aller gegen alle ein und habe spezifische Folgen für die Öffentlichkeitsarbeit. Das Problem des Parlamentarismus sei insoweit die Frage nach der Grenze, wie weit sich eine Regierung, die ja Parteiregierung ist, zulässigerweise ins rechte Licht setzen dürfe, ohne selbst parteiisch zu werden. Bei einem ständischen Staatsverständnis könne man diese Frage nicht mehr stellen. Denn dann würde der Staat ja gewissermaßen von Begriffs wegen „eine Partei vertreten oder von einer Partei beherrscht sein, die den Kampf mit den anderen Parteien jetzt nicht qua Partei, sondern qua Staat austragen würde". Die Öffentlichkeitsarbeit müsse dann zwangsläufig parteiisch werden, und der Standpunkt über den Parteien, den Kaiser Wilhelm II. mit dem Satz ausgedrückt habe: ,,Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche", könne dann nicht mehr Devise für das regierungsamtliche Presse- und Informations­ wesen sein. Von diesem Ergebnis her sei vor einer ständischen Staats­ konzeption zu warnen. Weiterhin richtete H. Krüger an den Referenten die Frage, welche Vorstellung sich die Träger regierungsamtlicher Öffentlichkeitsarbeit von dem Menschen machten, den sie ansprechen, informieren oder gar gewinnen wollten, und welche Schlüsse sie daraus für die Art und Weise der Ansprache zögen. Seiner Ansicht nach könne Zielobjekt staatlicher Öffentlichkeitsarbeit nur der Bürger als solcher im eminen­ ten Wortsinne, der citoyen, sein, nicht dagegen etwa der Bürger als Sportler oder als „alte Tante", deren Interesse an Politik sich auf das Liebesleben der Politiker beschränkt. Aus dem unübersehbaren Kreis möglicher Informationen müsse Öffentlichkeitsarbeit diejenigen aus­ wählen und dem Bürger liefern, die er als Bürger braucht. Die Infor­ mation solle Argumentation ermöglichen und in Gang setzen, mit deren Hilfe sich der Bürger ein Urteil über die Leistungen der jeweiligen Regierung bilden und auf dieser Grundlage seine staatsbürgerlichen Funktionen sachgerecht wahrnehmen kann. Die entscheidende Frage sei also, ob diejenigen, die mit der staatlichen Öffentlichkeitsarbeit befaßt sind, dem Bürger Argumentation zutrauen oder nicht. Welche Vorstellung hätten sie von seinen intellektuellen Fähigkeiten und vor allem von seinem Willen, von diesen Fähigkeiten Gebrauch zu machen? Zielten sie auf den „Bürger mittlerer Art und Güte" oder auf differen­ ziertere Gruppen ab? Hier müsse es doch eine Art „Marktforschung" geben, · die den „Kunden" und seine mögliche Reaktionsweise erforsche und diese Reaktionsweise dann zu beeinflussen versuche.

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Der Diskussionsleiter ergänzte diese Frage H. Krügers mit dem Hinweis auf kritische Stimmen zu einer Anfang 1 976 vom Bundes­ minister für Jugend, Familie und Gesundheit herausgegebenen In­ formationsschrift für ältere Menschen. Es sei moniert worden, daß sich die Autoren dieser Schrift ältere Menschen anscheinend als geistig und körperlich schon recht gebrechlich vorstellten. Der Referent wehrte sich gegen das Mißverständnis, er betrachte die von ihm festgestellte ständestaatliche Entwicklung als das Ideal­ bild des künftigen Staates. Er halte den Staat gerade für mehr als nur einen Verband unter anderen Verbänden, sehe aber, daß es nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in fast allen Staaten vergleichbarer Größe, Kultur und Geschichte Erscheinungen dieser Art gebe. Die Öffentlichkeitsarbeit der letzten 25 Jahre habe durchgängig das Ziel gehabt, jedenfalls das, was noch an Staatlichkeit vorhanden sei, zu verteidigen. Man erlebe im übrigen auch sonst im Staatsapparat oft erfreuliche Metamorphosen, wenn Politiker mit bislang weitgehend antistaatlicher Haltung sich plötzlich in Verteidiger der Staatlichkeit verwandelten, sobald sie mit dem Öl des Amtseides, ob mit oder ohne Gottesformel, gesalbt worden seien. Wenn Staatlichkeit sich nur noch in der jeweiligen Regierungspartei darstellen würde, so wäre es in der Tat konsequent, die Öffentlichkeitsarbeit zur Erhaltung jenes Restes von Staatlichkeit in ein ausschließliches Verteidigungsmittel dieser Regierungspartei zu verwandeln. Die dadurch drohende Beeinträchti­ gung der Chancengleichheit der Parteien im Wahlkampf könne nur durch eine Begrenzung der finanziellen Mittel der regierungsamtlichen Öffentlichkeitsarbeit bekämpft werden, und insoweit funktioniere unsere parlamentarische Kontrolle absolut. Zum „Kundenbild" der Öffentlichkeitsarbeit legte der Referent dar, daß insoweit in erheblichem Maße „Marktforschung" durch Meinungs­ umfragen betrieben werde. Die Ergebnisse dieser Meinungsumfragen seien auch öffentlich bekannt, weil die Parteigänger jeder Seite im Presse- und Informationsamt die jeweils für sie günstigsten Werte alsbald an die Presse weitergäben. Zur Verhinderung der dabei drohen­ den Rückkoppelung gebe es seit 1969 ein Selbstbeschränkungsabkom­ men der Meinungsforschungsinstitute, daß einige Wochen vor der Wahl keine Umfrageergebnisse mehr veröffentlicht würden. Regie­ rungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit habe sich von Anfang an an den „zwar durchschnittlichen, aber aufgeklärten Bürger" gewandt, der der Argumentation zugänglich ist. Propaganda, die sich primär nicht an den Verstand, sondern an Emotionen und Ressentiments wendet, habe es hier nie gegeben; vielmehr habe man das Ansprechen von Gefühlen freiwillig der parallel laufenden parteipolitischen Werbung überlassen, für die insbesondere im Wahlkampf solche Propaganda

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unvermeidlich sei. Im wesentlichen immer als Beitrag zur öffentlichen Argumentation und Diskussion angelegt, habe die regierungsamtliche Öffentlichkeitsarbeit aber auch insoweit Schrittmacherdienste geleistet. Denn heute seien sogar ernsthafte Werbefachleute der Parteien der Auffassung, daß man die entscheidende Gruppe der Wechselwähler überhaupt nur noch mit einem rational-argumentativen Wahlkampf erreichen könne. Natürlich müsse die Art und Weise der Ansprache je nach der Zielgruppe, insbesondere altersmäßig, differenzieren. Die Kritik an der Seniorenbroschüre des Bundesgesundheitsministe­ riums wies der Referent zurück. Er halte diese Schrift für eine der graphisch und stilistisch geglücktesten Aktionen. 5. Klaus Volquartz, Kiel, Referent für Öffentlichkeitsarbeit beim Landtag Schleswig-Holstein, beanstandete die Gleichsetzung von Staat, Regierung und Regierungsfraktionen in der inländischen Öffentlichkeits­ arbeit. Dies entspreche nicht dem Willen der Verfassung, für die der Dualismus von Parlament und Regierung von entscheidender Bedeutung sei. Sei nicht der gewaltige Apparat, über den die Regierung mit ihrem Presse- und Informationsamt verfüge, eine Ursache für die dauernde Unterlegenheit des Parlaments in diesem Dualismus? Eine weitere Frage sei, wer den Föderalismus als solchen in der Bundes­ republik darstellen könne und solle. Daß der Föderalismus eine immer geringere Resonanz in der Bevölkerung finde, sei im Hinblick auf Art. 79 Abs. 3 GG ein sehr bedenklicher Vorgang, der sich durch die zentralistisch ausgerichtete Öffentlichkeitsarbeit des Bundes noch ver­ stärke. Der Referent gab zu, daß in Anbetracht der Verteilung der Mittel und der äußerlichen politischen Gewichte die Gefahr eines Ungleich­ gewichts von Parlament und Regierung bestehe. Um dem entgegen­ zuwirken, habe es das Presse- und Informationsamt der Bundesregie­ rung stets als eine Art Ehrenpflicht angesehen, eigene Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit von Bundestag und Bundesrat abzustellen. Im Rahmen eines „Besucherprogramms" habe jeder Bundestagsabgeordnete die Möglichkeit, auf Kosten des Presse- und Informationsamtes jährlich zwei bis vier Besuchergruppen nach Bonn einzuladen, die dort bei einem Informationsaufenthalt im Bundestag und bei Diskussionen mit Ab­ geordneten im wesentlichen mit dem Parlamentarismus vertraut ge­ macht werden. Der Föderalismus sei nicht so leicht zu „verkaufen", da eben viele Leute unter ihm litten. Jedoch werde bei dem erwähnten „Besucherprogramm" auch der Bundesrat nach Maßgabe der zeitlichen und räumlichen Möglichkeiten grundsätzlich eingeplant. 6. Ministerialrat Dr. Eckart Busch, Bonn, stimmte dem Referenten darin zu, daß auch die Streitkräfte neben ihrem originären Verteidi-

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gungsauftrag eine staatspflegerische Funktion hätten. Er stellte die Frage, ob die Bundeswehr diese Funktion bisher auch erfüllt habe, wo Grenzen dafür erkennbar seien und wo insoweit die hauptsächlichen Aktivitäten lägen. Der Referent meinte, im Bereich der staatsbürgerlichen Aufklärung habe die Bundeswehr trotz aller Mängel des Kompanieunterrichts ihre Funktion zwar nicht vollständig, aber doch in lobenswerten Ansätzen ausgefüllt. Jedoch werde in einem anderen Bereich der Staatspflege, dem Bereich institutioneller Repräsentation, die Wirksamkeit der Bundeswehr dadurch stark beeinträchtigt, daß die Soldaten heute weithin darauf verzichteten, in Uniform auszugehen. In der letzten Zeit habe indes das Selbstbewußtsein der Berufs- und Zeitsoldaten wieder zugenommen, besonders in den ländlichen Bereichen, wo die tradierte Verbindung von gewissem Stolz mit gewissem Rabaukentum heute noch gut ankomme. Wenn etwa Fallschirmjäger zum 60. Geburts­ tag von Franz Josef Strauß oder zur Hochzeit eines ihrer Feldwebel im freien Fall abspringen, dann sei das eine gute Sache, die sehr wohl zur Staatspflege gehören könne. Die ältere Generalität habe allerdings infolge der Entmilitarisierung und Entstaatlichung in unserer Gesell­ schaft noch eine gewisse Befangenheit im Umgang mit der öffentlichen Meinung, während sich die jüngeren Herren schon mit einem natür­ lichen Selbstbewußtsein auch im Bereich der Medien bewegten. 7. Professor Dr. Helmut Quaritsch, Speyer, ging in einem Diskussions­ beitrag darauf ein, daß die „direkte Staatspflege", die „bewußte Stilisierung nach außen", vom Referenten „offenbar unter dem Zwang der Sache" nur relativ kurz behandelt worden sei. Als Beispiel eines mißglückten Versuchs solcher direkten Staatspflege erwähnte er die Fernsehansprachen des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt bei Verkündung und bei Aufhebung des Wochenendfahrverbotes für Kraftfahrzeuge aus Anlaß der Energiekrise im Winter 1973/74. Diese Art der Information, die an die Verkündung von Ausbruch und Beendigung eines Krieges erinnert habe, sei im Hinblick auf ihren Gegenstand überzogen gewesen. Hier habe man sich bisher zu wenig Gedanken gemacht. Quaritsch richtete dann an den Referenten die Frage, ob es im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung „Profis der Wer­ bung" gebe, denen zugleich die Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Vertrauenswerbung bekannt seien, und welche Überlegungen diese Fachleute in Anbetracht der bescheidenen verfügbaren Mittel anstellten. Die hohen Werbeetats in der privaten Wirtschaft seien dadurch zu erklären, daß die intensive und lautstarke Einführungswerbung für ein neues Produkt, wie sie etwa die Waschmittelreklame vorführe;

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auch später durchgehalten werden müsse, wenn man die einmal mit solcher Werbung errungenen Marktanteile nicht wieder verlieren wolle. Für den Staat, für den das gleiche Gesetz gelte, komme daher von Anfang an wohl nur eine im Vergleich zur Privatwirtschaft etwas ruhigere Form der Vertrauenswerbung in Frage. Der Referent verteidigte zunächst die beanstandeten Fernseh- und Rundfunkansprachen des Bundeskanzlers mit der Ungewißheit über die Reaktion der Bevölkerung auf das Wochenendfahrverbot und der allgemeinen Atmosphäre der Unsicherheit in der damaligen Energie­ krise, in der implicite die Frage der Stabilität des gesamten markt­ wirtschaftlichen Systems zur Diskussion gestanden habe. Daß sich in einem entscheidenden Testfall des Gesellschaftssystems der Regierungs­ chef persönlich zu Wort melde und damit die Bedeutung dieses Test­ falls hervorhebe, sei nicht völlig unangemessen. Aber auch generell hielt der Referent Ansprachen des Staats- oder Regierungschefs zu bestimmten feierlichen Anlässen für einen brauchbaren Bestandteil von Staatspflege, insbesondere im Hinblick auf die Deutschen im Aus­ land oder auf See. Ein Defizit für den Staat bedeute bei uns das Fehlen eines Nationalfeiertages, nachdem der 17. Juni seine Bedeutung für die Menschen völlig verloren habe und zu einem Rudiment ge­ worden sei, dessen Beseitigung nur an den Gewerkschaften scheitere. Ein praktisches Problem bilde dies für die Auslandsvertretungen, denen damit eine Gelegenheit fehle, sich durch eine Cocktail-Party kosten­ und zeitsparend auf einen Schlag für die vielen Einladungen zu den Nationalfeiertagen der anderen Staaten, aber auch für die täglichen Dienstleistungen rang- und namenloser Angehöriger des Gastlandes zu revanchieren. Doch auch im Inland fehle es daran, daß die jungen Menschen wenigstens einmal jährlich daran erinnert würden, daß sie in einer Organisation lebten, die für ihr ganzes Dasein von entscheiden­ der Bedeutung sei. Das Fehlen eines Gefallenendenkmals für die international üblichen Kranzniederlegungen ausländischer Staatsober­ häupter sei ein weiteres Zeichen dafür, daß man in der Bundesrepublik Deutschland bisher wirkungsvolle Mittel direkter Staatspflege in der Tat noch nicht entwickelt habe. Die „Profis der Werbung" hielt der Referent im Bereich politischer Öffentlichkeitsarbeit für weit weniger geeignet als politische Journa­ listen oder Politiker mit journalistischer Begabung. Die Erfahrungen der Parteien mit ihren teuren Werbeagenturen seien durchweg schlecht.

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Aussprache II.

1. Kritik an der Form der gesamten Tagung äußerte Oberregierungs­ rat Peter Stephan, Berlin. Er vermißte insbesondere eine Aussprache über die Technik von Referaten und Diskussionen. Künftig sollten organisatorische und institutionelle Vorkehrungen geschaffen werden, daß das Selbstverständnis der Tagung in räumlichem, geistigem und zeitlichem Zusammenhang mit der Tagung selbst diskutiert . werden könne. 2. Dr. Harald Kelting, Hannover, Referent im niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft und Verkehr, vermißte in den Tagungs­ beiträgen eine gründliche Analyse der Erscheinungsformen des Staates als Ansatzpunkt für Verbesserungen der staatlichen Selbstdarstellung. Selbstdarstellung sei kein Passivum, die Summe der Eindrücke des Bürgers vom Staat, sondern ein Aktivum, nämlich die Summe der im Namen des Staates vollzogenen Tätigkeiten. Demgemäß müsse den Trägern staatlicher Funktionen in allen Bereichen des Staatsdienstes verdeutlicht werden, daß sie selbst durch ihr Verhalten zu einer Ver­ besserung des Staatsbildes beizutragen hätten. 3. Ministerialrat a. D. Wilhelm Geffers, Hannover, bezweifelte, ob die Tagung Gewißheit darüber verschafft habe, was der Staat eigent­ lich sei und woran es insoweit in der Bundesrepublik Deutschland fehle. Man habe über die Selbstdarstellung des Staates gesprochen, aber was wirklich fehle, sei der Wille zum Staat. Um diesen zu wecken, komme man ohne die Schulen nicht aus, deren Aufgabe es sein müsse, Respekt vor Normen und Werten heranzubilden. Man brauche einen Gemeinschaftsunterricht, der das Bewußtsein vermittele, daß der Staat nicht nur Objekt eigener Ansprüche sei, sondern daß allen Rechten auch Pflichten gegenüberstehen müßten, wenn etwas funktionieren solle. Aber auch den Medien obliege es, zu verdeutlichen, was der Staat eigentlich sei und daß er sich nicht in der Erfüllung von Ansprüchen erschöpfen könne. Statt dessen sei insbesondere das Fern­ sehen mit Fleiß dabei, ,,den Staat mieszumachen", Ansprüche zu züchten und zerstörerische Kritik zu üben. Es frage sich, ob hier nicht eine belehrende Aufsicht gegenüber den Medien deren Verantwortungs­ bewußtsein für das Staatsbild lebendiger machen sollte. Eine Ver­ besserung der staatlichen Selbstdarstellung im engeren Sinne schließ­ lich sei nur möglich, wenn es die Beamten wieder als selbstverständ­ lich ansähen, daß sie in erster Linie nicht eigennützige Verdiener, sondern Diener der Allgemeinheit seien. 4. Quaritsch beschloß die Aussprache mit dem Resümee, daß Selbst­ darstellung des Staates letztlich ein tägliches Geschäft sei, das alle,

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die in der Staatsverwaltung tätig sind, zumindest unbewußt betrieben, dessen geistige Aufarbeitung aber noch ausstehe. Deshalb seien alle, die in der Praxis des Staatsdienstes stehen, aufgerufen, sich durch ihre tägliche Arbeit und durch ihr Auftreten so darzustellen, daß man sie wieder oder noch unverwechselbar als Staat erkenne. Zugleich müsse man bei der Beseitigung der festgestellten Defizite staatlicher Selbst­ darstellung aber auch mit einer gewissen Vorsicht vorgehen, hier finde die wissenschaftliche Forschung ein lohnendes Betätigungsfeld. Mit einem Dank an die Referenten und Teilnehmer ging die Tagung zu Ende.