Die schöne Jüdin: Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg [Reprint 2012 ed.] 3484651040, 9783484651043

Schöne jüdische Frauengestalten gehören über Jahrhunderte hinweg zum Figurenarsenal der deutschsprachigen Literatur. An

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German Pages 296 Year 1993

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Die schöne Jüdin: Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg [Reprint 2012 ed.]
 3484651040, 9783484651043

Table of contents :
I »Allerschönste Heidin! allerliebste Jüdin!«. Einleitung
1. Problemaufriß und Forschungsüberblick
2. Die Sprachformel ›Die Schöne Jüdin‹ und ihre Implikationen
II »Lust zur christlichen Religion« Bekehrungsromane im Abenteuergewand
1. Grimmelshausens »Esther-Episode« und der anonyme »Josebeth«-Roman
2. Johann Balthasar Koelbele: »Die Begebenheiten der Jungfer Meyern« und Antonio Piazza: »Die Jüdin«
3. Bekehrungsromane im 19. Jahrhundert. Charlotte Eleonore Wilhelmine von Gersdorf: »Esther Raphael« und »Die Jüdin«
III »Das schöne Geschlecht der Israeliten« Der Eintritt der Jüdinnen ins öffentliche Leben
1. Erste Begegnungen im Zeichen der Salonepoche
2. Erste literarische Niederschläge der Assimilationsproblematik. Johann Heinrich Spieß: »Das schöne irre Judenmädchen« und Julius von Voß: »Bekehrungs-Anstalt für schöne Jüdinnen«
IV »Hinweg mit dem veralteten Ceremonialgesetz« Die Politisierung der ›Schönen Jüdin‹ in der Literatur des Vormärz
1. Karl Gutzkow: »Wally, die Zweiflerin«
2. Karl Immermann: »Die Epigonen«
3. Franz Theodor Wangenheim: »Die Perle von Zion«
4. Weibliche jüdische Selbstbesinnung. Fanny Lewald: »Jenny« und Rahel Meyer: »In Banden frei«
5. Die Entdeckung der ›Schönen Jüdin‹ des Ghetto. Wilhelm Raabe: »Holunderblüte«
V »Und seine Barbarei lebt in den Herzen fort« Das Jüdinnenbild in historischen Romanen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts
1. Wilhelm Hauff: »Jud Süß«
2. Carl Spindler: »Der Jude«
3. Felix Dahn: »Ein Kampf um Rom«
4. Heinrich Heine: »Der Rabbi von Bacherach«
5. Wilhelm Jensen: »Die Juden von Cölln«
VI » – ein Tun, eine Arbeit« Portraits der Assimilationsproblematik in der Literatur des bürgerlichen Realismus
1. Heinrich Albert Oppermann: »Hundert Jahre«
2. Spottstücke. Karl Gutzkow: »Die Curstauben« und Franz Dingelstedt: »Reine Liebe«
3. Gustav Freytag: »Soll und Haben«
4. Wilhelm Raabe: »Frau Salome«
5. Ferdinand von Saar: »Vae Victis«, »Seligmann Hirsch«, »Geschichte eines Wienerkindes«
6. Theodor Fontane: »Die Poggenpuhls«, »Unwiederbringlich«, »Storch von Adebar«
7. Unschuldsengel und Sataninnen. Die Vielfalt jüdischer Frauengestalten in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
VII »Auf Düsteres Hinweisen und es lichten helfen« Die Reaktion der ›Jüdischen Erzählliteratur‹
1. Zwischen Assimilation und Identitätsbewahrung. Karl Emil Franzos: »Judith Trachtenberg«
2. Positionen der ›jüdischen Erzählliteratur‹. Von H. Berger bis Leopold von Sacher-Masoch
VIII »Mit diesen Leuten harmlos zu verkehren« Neue Sichtweisen und neue Gestaltungsformen ›Schöner Jüdinnen‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts
1. Georg Hermann: »Jettchen Gebert« und »Henriette Jacobi«
2. Jacob Wassermann: »Die Juden von Zirndorf«
3. Arthur Schnitzler: »Der Weg ins Freie«
4. Thomas Mann: »Wälsungenblut«
5. Eduard Paul Danszky: »Die neue Judith«
IX »Das Wesen einer jeden Rasse« Jüdische Frauengestalten in rassistischer Literatur
1. Rudolf Hans Bartsch: »Seine Jüdin«
2. Artur Dinter: »Die Sünde wider das Blut«
X ›Die ewige Jüdin‹. Schluß
XI Literaturverzeichnis
A Literarische Texte und Forschungsliteratur zu einzelnen Autoren
B Historische Quellen
C Allgemeine literaturwissenschaftliche Literatur
D Historische, politische, sozialgeschichtliche Forschungsliteratur
E Texte in chronologischer Ordnung

Citation preview

Conditio Judaica

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Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Itta Shedletzky

Florian Krobb

Die schöne Jüdin Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1 9 9 3

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Krobb, Florian: Die schöne Jüdin : jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg / Florian Krobb. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Conditio Judaica ; 4) NE: Conditio Iudaica ISBN 3-484-65104-0

ISSN 0941-5866

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Hugo Nädele, Nehren

Inhalt

I

»Allerschönste Heidin! allerliebste Jüdin!«. Einleitung 1. Problemaufriß und Forschungsüberblick 1 2. Die Sprachformel >Die Schöne Jüdin< und ihre Implikationen . . 14

II

»Lust zur christlichen Religion« Bekehrungsromane im Abenteuergewand 1. Grimmelshausens »Esther-Episode« und der anonyme »Josebeth«-Roman 21 2. Johann Balthasar Koelbele: »Die Begebenheiten der Jungfer Meyern« und Antonio Piazza: »Die Jüdin« 41 3. Bekehrungsromane im 19. Jahrhundert. Charlotte Eleonore Wilhelmine von Gersdorf: »Esther Raphael« und »Die Jüdin« . . 49

III

»Das schöne Geschlecht der Israeliten« Der Eintritt der Jüdinnen ins öffentliche Leben 1. Erste Begegnungen im Zeichen der Salonepoche 55 2. Erste literarische Niederschläge der Assimilationsproblematik. Johann Heinrich Spieß: »Das schöne irre Judenmädchen« und Julius von Voß: »Bekehrungs-Anstalt für schöne Jüdinnen« . . . . 71

IV

»Hinweg mit dem veralteten Ceremonialgesetz« Die Politisierung der >Schönen Jüdin< in der Literatur des Vormärz 1. 2. 3. 4.

Karl Gutzkow: »Wally, die Zweiflerin« Karl Immermann: »Die Epigonen« Franz Theodor Wangenheim: »Die Perle von Zion« Weibliche jüdische Selbstbesinnung. Fanny Lewald: »Jenny« und Rahel Meyer: »In Banden frei« . . . 5. Die Entdeckung der >Schönen Jüdin< des Ghetto. Wilhelm Raabe: »Holunderblüte«

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V

VI

»Und seine Barbarei lebt in den Herzen fort« Das Jüdinnenbild in historischen Romanen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts 1. Wilhelm Hauff: »Jud Süß« 2. Carl Spindler: »Der Jude«

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3. Felix Dahn: »Ein Kampf um Rom« 4. Heinrich Heine: »Der Rabbi von Bacherach« 5. Wilhelm Jensen: »Die Juden von Cölln«

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» - ein Tun, eine Arbeit« Portraits der Assimilationsproblematik in der Literatur des bürgerlichen Realismus 1. Heinrich Albert Oppermann: »Hundert Jahre« 2. Spottstücke. Karl Gutzkow: »Die Curstauben« und Franz Dingelstedt: »Reine Liebe« 3. Gustav Freytag: »Soll und Haben« 4. Wilhelm Raabe: »Frau Salome« 5. Ferdinand von Saar: »Vae Victis«, »Seligmann Hirsch«, »Geschichte eines Wienerkindes« 6. Theodor Fontane: »Die Poggenpuhls«, »Unwiederbringlich«, »Storch von Adebar« 7. Unschuldsengel und Sataninnen. Die Vielfalt jüdischer Frauengestalten in der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

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VII »Auf Düsteres Hinweisen und es lichten helfen« Die Reaktion der Jüdischen Erzählliteratur< 1. Zwischen Assimilation und Identitätsbewahrung. Karl Emil Franzos: »Judith Trachtenberg« 2. Positionen der jüdischen ErzählliteraturSchöner Jüdinnen< zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1. Georg Hermann: »Jettchen Gebert« und »Henriette Jacobi« 2. Jacob Wassermann: »Die Juden von Zirndorf« VI

. . 217 220

IX

3. Arthur Schnitzler: »Der Weg ins Freie«

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4. Thomas Mann: »Wälsungenblut«

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5. Eduard Paul Danszky: »Die neue Judith«

235

»Das Wesen einer jeden Rasse« Jüdische Frauengestalten in rassistischer Literatur 1. Rudolf Hans Bartsch: »Seine Jüdin«

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2. Artur Dinter: »Die Sünde wider das Blut«

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>Die ewige JüdinSchönen JüdinSchönen Jüdin< greift Jean Paul Sartre das Bild der von Soldaten bedrohten jüdischen Frau auf. In seinen »Réflexions sur la question juive« (1946) interpretiert er die Worte >Schöne Jüdin< als erotischen, mit sado-masochistischen Konnotationen behafteten Topos: »II y a dans les mots >une belle Juive< une signification sexuelle très particulière et fort différente de celle qu'on trouvera par example dans ceux de >belle Roumaines >belle Grecque< ou >belle Américaine«. C'est qu'ils ont c o m m e un fumet de viol et de massacres. La belle Juive, c'est celle que les Cosaques du tsar traînent par les cheveux dans les rues de son villages en flammes [..,].« 3

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2

Jean Paul Sartre: Réflexions sur la question juive ( D 43, 1), S. 61. »In den Worten >eine schöne Jüdin« liegt eine ganz besondere sexuelle Bedeutung, ganz anders als in den Worten >schöne Rumänin«, >schöne Griechin«, >schöne Amerikanerin«. Es geht von ihnen ein Hauch von Massaker und Vergewaltigung aus. Die schöne J ü d i n ist die, welche die Kosaken an den Haaren durch ihr brennendes D o r f schleifen.« Jean Paul Sartre: Betrachtungen zur Judenfrage. Psychoanalyse des Antisemitismus ( D 43), S. 4 2 f

In Sartres großem Essay bleibt die Füllung des Topos >Schöne Jüdin< bildhaft. Gleichzeitig wird die Jüdin als Opfer der gewalttätigen Kosaken zur Allegorie für die Unterdrückung der Juden allgemein. In ähnlicher Absicht verwenden deutsche Literaten dieses Bild der Demütigung und Erniedrigung der Jüdin. In Richard Huldschiners Geschichte »Der Flüchtling« beispielsweise berichtet der Erzähler trocken, fast distanziert von einem Ereignis, das zum Wendepunkt in seinem Leben wird und ihn veranlaßt, sich den bolschewikischen Revolutionären im zaristischen Rußland anzuschließen: »Auch in unsere Wohnung drangen die Kosaken ein, zerschlugen alles, was sie fanden, und befahlen Jehuda, das G o l d herauszugeben. Aber drei M a n n schleppten Lea aus der K a m m e r und wollten ihr etwas antun, was ich nicht sagen kann. D a schrie sie um Hilfe und fiel vor dem Polizeimeister Turow, der herzukam, in die Knie. Er sah sie nur an und spuckte ihr ins Gesicht.« 4

Das gleiche Bild kann in seiner literarischen Ausgestaltung zwei weitergehende Aussagen übernehmen. Zum einen kann es die Grausamkeit gegen Juden anklagen; dann ist die Jüdin selbst Inbild der Unschuld und Trägerin des Mitleids, und die Schilderung insgesamt nimmt den Charakter der Warnung und Mahnung an. Mit solch einer Intention benutzt Joseph Roth dieses Bild in einer Pogromschilderung seines Exilromans »Tarabas« (1933): »Er [ein Soldat] zerteilte die Menge, trat vor und stellte sich vor eine junge jüdische Frau, deren bräunliches, schönes Gesicht mit den unschuldig erschrocken aufgerissenen goldbraunen Augen unter dem weißen, seidig schimmernden Kopftuch den Soldaten schon aus der Ferne angelockt und zur Liebe wie zum H a ß gereizt haben mochte. Die junge Frau erstarrte. Sie versuchte nicht einmal zurückzuweichen. [...] Eine unsagbare, unmenschliche Gier entzündete sein fahles, kleines und nacktes Angesicht. Er erhob einen kurzen, hölzernen Knüppel und ließ ihn auf das Kopftuch der Jüdin niedersausen. Sie fiel sofort um.« 5

Die sexuelle Wirkung auf den Täter, diese Doppelung von Attraktion und Aversion, entlädt sich im Blutrausch des Soldaten; sie ist irrational und zerstörerisch und überhaupt nicht in der Person des Opfers begründet, das unschuldig an den Ausschreitungen und an den verheerenden Folgen ihrer Erscheinung und deren gewaltauslösender sadistischer Wirkung auf den Feind ist. Auf der anderen Seite verwenden Autoren das Bild zur Errichtung einer exzessiv sinnlichen Figurenkonstellation, die aus der Verbindung von sadisti-

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Richard Huldschiner: Der Flüchtling (A 38), S. 33 Joseph Roth: Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde (A 60), S. 121f

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sehen und masochistischen Zügen, aus den wechselseitigen Erniedrigungs-, Macht- und Unterwerfungsphantasien der beteiligten Personen ihren erotischen Reiz bezieht. Hier ist die Jüdin nicht mehr unschuldig, sondern im Gegenteil aktiv herausfordernder Konterpart ihres grausamen Gegenübers. Die Gestalt der »spanischen Sara« in Otto Julius Bierbaums Monumentalroman »Prinz Kuckuck«, erschienen 1906/07, wird schon auf den ersten Seiten mehrfach und in hervorhebender Weise als >Schöne Jüdin< apostrophiert. Von ihrem »Tartar« genannten Liebhaber, einem russischen Fürsten, heißt es: »Er entzückte sich an ihr zu Schwelgereien seiner wunderlich verstiegenen und Abgriinde aufsuchenden Erotik. Er genoß in ihr - Asien und meinte in ihr - das Judentum zu unterwerfen.« 6

Deutlich nutzt Bierbaum hier den Reiz der Fremdheit und die erotisch stimulierende Wirkung des Hasses zu dekadenter Stimmungsverdichtung. Sara wird jedoch keineswegs als leidendes Opfer beschrieben, sondern als »sehr glücklich mit ihren beiden verliebten Antisemiten«7 (außer dem Tartaren noch einem häßlichen wagnerianisch-germanomanen Tonsetzer). Diese einem Überlegenheitsgefuhl entspringende freiwillige Unterwerfung reizt die erotische Phantasie des Lesers noch zusätzlich. Solche in sexueller Exstase schwelgenden Bilder der >Schönen Jüdin< markieren eine weit fortgeschrittene, späte und extreme, nur noch ästhetischen Zwecken dienende Ausformung des Topos. Sie gehören zu einem neuen Abschnitt in der Entwicklung des Motivs und der sprachlichen Formel >Die Schöne JüdinSchönen JüdinConditio Judaica< in Mitteleuropa seit dem hohen Mittelalter. Die Sprachformel >Die Schöne Jüdin< scheint eine nichtjüdische, nichtweibliche Außensicht auszudrücken und damit die so Bezeichnete aus der Perspektive des Sprechers als fremd und anders einzustufen. Das Substantiv »Jüdin« bezeichnet dabei das Trennende zwischen dem Sprecher und der Bezeichneten, das Epitheton »schön« dagegen das aus christlich-männlicher Sicht Anziehende, das diese Kluft zu überbrücken in der Lage ist. Die Sprachformel >Die Schöne Jüdin< erfaßt somit in nuce den Konflikt der Jüdinnen in einer christlichen Umwelt, wie er in der deutschsprachigen Literatur wiedergegeben wird. Hans Mayer hat auf diese Grundkonstellation des >Schöne Jüdinschönen Jüdin< mit dem nichtjüdischen Liebhaber, der Kaiser oder König oder Künstler sein mag, stets aber, auf ersichtlich nicht geheure Weise, in den Bann verwirrender, abseitiger Sinnlichkeit gerät«.8 Auch für diese These Mayers bildet Shakespeares »Merchant of Venice« ein erstes, in erotischer Hinsicht noch nicht explizit ausgeführtes Paradigma. Die literarhistorische Forschung hat sich mit dem Phänomen der >Schönen Jüdin< zumeist nur sporadisch, auf Fußnotenebene und dann vornehmlich im Hinblick auf Bühnenfiguren befaßt. Zwar hat man die Existenz zahlreicher weiblicher jüdischer Gestalten in vielen Texten registriert, operiert man auch mit dem Terminus >Die Schöne Jüdinbelle juive< und der - meist ebenfalls positiv bewerteten — >juive fatale< [...] zu derart selbstverständlichen Denkschemata geworden, daß kaum noch andere Möglichkeiten der Darstellung jüdischer Frauen verwirklicht wurden.« 9 Müller bezieht sich mit diesen Thesen und ihrer Datierung auf die Mitte des vorigen Jahrhunderts auf Charlene A. Leas Arbeit »Emancipation, Assimilation and Stereotype«, die 1975 erstmals die Termini >belle juive< und >juive fatale< als literaturwissenschaftliche Instrumente verwendet hat. Schon an Leas Untersuchungsgegenständen, drei Bühnengestalten aus zwei 1848 und 1852 in Wien entstandenen Stücken, zeigen sich die Grenzen und Schwächen derartig etikettierender Definitionsversuche. Deborah aus Salomon von Mosenthals gleichnamigem Stück und Franz Grillparzers Rahel aus der »Jüdin von Toledo« sind ftir Lea »stunning but willful, calculating and frequently unprincipled >juives fatales*«, Raheis Schwester Esther dagegen »the beautiful and noble >belle juive«*.10 Abgesehen davon, daß natürlich auch die beiden >juives fatales* äußerliche Attraktivität aufweisen, das Kriterium Schönheit als Unterscheidungsmerkmal mithin nicht stichhaltig ist, führt die Normativität einer solchen Definition notwendigerweise zu Konzessionen, welche die gesamte Definition ad absurdum fuhren. Nicht einmal Grillparzers Geschwisterpaar entspricht den Vorgaben: »Atypical of both the belle juive and the juive fatale is Rahel's materialism«; und: »Rahel's sister Esther [...] approximates the belle juive although she apparently lacks the physical beauty of that type.« 11 Textbefunde und Definitionen widersprechen sich also. Nicht nur deshalb erscheinen mir die vorgeschlagenen Termini ungeeignet zur Erfassung des

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Heidy M. Müller: Die Judendarstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa (1945-1981) (C 23), S. 16 Charlene A. Lea: Emancipation, Assimilation and Stereotype (C 20), S. 61 Lea: Emancipation (C 20), S. 74f

Phänomens; sie suggerieren Typus-Gegensätze, wo unterschiedliche Funktionen für Handlung und Aussage gemeint sind. Und Belege dafür, daß es sich hier tatsächlich um »Stereotype«, »selbstverständliche Denkschemata« und »standard sexual symbols in Western European folklore« handelt, 12 werden nicht gegeben; enttäuschenderweise auch nicht in der volkskundlichen Forschung, die sich bisher ausschließlich mit >dem Juden< schlechthin, immer verstanden als jüdischem Mann, befaßt hat. 13 Elisabeth Frenzel erklärt im Hinblick auf Bühnenfiguren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, daß jüdische Frauenschönheit neben (männlicher) Altersweisheit dazu diene, die Jüdin auf der Bühne und die Liebe zu ihr als dramatischen Konflikt glaubhaft zu machen: der Dramatiker der Aufklärung mache die junge Jüdin »völlig zur sentimentalen Liebhaberin des bürgerlichen Rührstücks, die sich in nichts von anderen Mädchen in derselben Situation unterscheidet.«14 Sie läßt mit dieser Auffassung die Bedeutung der Religionsunterschiede gänzlich beiseite und trägt somit wenig zum Verständnis der >Schönen Jüdin< bei. Auch die jüngste Studie zum Thema, die ein vielversprechend überschriebenes Kapitel über die »Exotische Faszination« enthält, liefert keinerlei Erkenntnisse zum Thema. 1 5 Bei Julius von Voß, einem produktiven Stücke- und Romanschreiber der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, identifiziert Beate Orland »vor allem ein[en] Typus, der mehrfach vorkommt: die [jüdische] >femme savanteSchönen Jüdin< direkt anzusprechen. Jüdinnen verdienen laut Angress »in der Phantasie ihrer Autoren oft ein besseres Los, als mit Juden verschwistert, verschwägert und verheiratet zu sein.« Und: »Ist die Jüdin also öfters ausgenommen von der Abneigung, die ihren Glaubensgenossen zuteil wird, so bietet sie sich doch als der Typ der Verführerin an, erwünschte Projektion von unerwünschten Träumen. In dieser Rolle ist sie gerade in der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts beachtenswert, dem Jahrhundert des Liberalismus einerseits und der sexuellen Repression andererseits.«18 Vielleicht, so kann gefolgert werden, handelt es sich hierbei ja um zwei Seiten der gleichen Medaille, zwei unterschiedliche Interpretationen einer historischen Erscheinung oder Ausprägungen einer literargeschichtlichen Tradition. Die Vielfalt der Ausformungen einer Grundproblematik bestimmt wohl die Figur der >Schönen JüdinSchönen Jüdin< ansieht. Nobels Verdienst ist es, einen Zusammenhang zwischen literarischen Gestalten nachzuweisen, die zuvor immer nur isoliert als Vertreterinnen eines angenommenen Typus deklariert worden sind. Er beschränkt sich auf die exemplarische Untersuchung einiger bedeutender Texte (die alle auch in der vorliegenden Arbeit behandelt werden); die Mechanismen der Stigmatisierung und Vorurteilsperpetuierung, ein allgemeiner Verstehenshorizont der Zeitgenossen und damit die historische Dimension des literarischen Topos geraten dabei kaum in den Blick. Für die französische Literatur liegt seit 1970 eine ausfuhrliche Studie vor. Luce Α. Klein wählt in seiner Arbeit einen systematisch beschreibenden Ansatz und beleuchtet die Historizität der Gestalt der >Schönen JüdinSchönen Jüdin< um ein gesamteuropäisches Phänomen handelt. 21 Ein wesentlich umfassenderes Textkorpus als in den bisherigen Äußerungen zum Thema muß die Grundlage fur eine Untersuchung bilden, die über einzelne intertextuelle Bezüge hinaus Aussagen über ein verbreitetes Vorverständnis von Autoren und Publikum, eine allgemeine Leseerwartung, ein kollektives Bewußtsein darüber, was es mit der >Schönen Jüdin* auf sich hat, treffen will. Eine Berücksichtigung von Massenlesestoffen, Trivial-, Unterhaltungs- oder Kolportageliteratur erscheint hauptsächlich als wünschenswert, um zu einem besseren Verständnis der Folie zu gelangen, auf der anspruchsund phantasievollere Autoren ihre Auseinandersetzungen mit Figur, Rolle, sprachlicher Benennung und Motiv der >Schönen Jüdin< vornahmen. Darüber hinaus kann, so hoffe ich, diese Arbeit dazu beitragen, im Spiegel einer literarischen Figur die Geschichte der Juden in Deutschland, die Auseinandersetzungen um die Rolle der Juden im Staat, also die Entwicklung von Emanzipation und Assimilation zu verstehen. Das Schwergewicht bei der Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland lag lange Zeit entweder bei der rechtlich-politischen Emanzipationsentwicklung oder bei den an wirtschaftlichen und sozialen Daten (zum Beispiel zur Berufs- und Einkommensentwicklung) ablesbaren gesellschaftlichen Veränderungen innerhalb der jüdischen Bevölkerung und in ihrem Verhältnis zur christlichen Gesellschaft und zum christlich-deutschen Staat. 22 Die Erforschung von Stigmatisierungsund Marginalisierungsmechanismen, die Untersuchung der Entstehung von Vorurteilen, Kollektivurteilen und Aburteilungen, von der psychischen oder sozialen Gewalt mithin, die physische Gewalt vorbereitet und ermöglicht, behält auch im letzten Jahrzehnt des Holocaust-Jahrhunderts ihre Aktualität und Relevanz. Im Hinblick auf die zugrundeliegenden Texte kann die Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Variation einer literarischen Tradition den Kunstcharakter

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Vgl. Florian Krobb: »Cunning in the men and beauty in the women« (C 19a) Ich nenne stellvertretend fur viele Publikationen dieser Richtungen nur zwei Bücher, deren Informationen und Wertungen ich, zuweilen ohne ausdrücklichen Verweis, bei meinen Überlegungen häufiger benutzt habe. Werner E. Mosse (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914 (D 38) und Jacob Toury: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871. Zwischen Revolution, Reaktion und Emanzipation (D 54)

und die literarische Technik der behandelten Werke in Einzelaspekten näher beleuchten, besonders auch ihre Aufnahme und Verarbeitung außerliterarischer Verhältnisse. Dabei darf die Jüdinnendarstellung in der Literatur nicht als bloße Wiederspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit verstanden werden. Die Identifizierung eines gespiegelten historischen Sachverhaltes oder die Benennung eines historischen Vorbildes fiir eine literarische Gestalt sollte Anlaß zu der Frage sein, welche neue Wirklichkeit im Kunstwerk aus dem tatsächlichen Material entsteht. Dies gilt besonders fur außerliterarische Phänomene, die nicht als Fakten feststellbar sind, weil sie im Bereich von Einstellungen und Meinungen und eines anzunehmenden kollektiven Bewußtseins liegen. Auch die nicht in der Literatur geführte öffentliche Diskussion bedient sich ja typisierender Urteilsmechanismen und klischeehafter Bezeichnungen der Phänomene. Ein genaues Datum anzugeben, wann sich im außerliterarischen Sprachgebrauch die Wendung >schöne Jüdin< zum Topos >Die Schöne Jüdin< verdichtete, wie dieser verwendet wurde und was er in einer bestimmten historischen Epoche bedeutete, ist unmöglich. Ein relativ festumrissenes literarisches Bild begegnet dem Leser erstmals in Texten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert erfährt dieses Bild eine neue Interpretation und wird stärker in gesellschaftlich-politische Zusammenhänge gestellt. Die Zeitenwende des Ersten Weltkrieges markiert für die Situation der Juden in Deutschland und Osterreich und damit das Erzählen von >Schönen Jüdinnen< einen Umbruch; deshalb ist dieses Ereignis als Schluß des Untersuchungszeitraumes gewählt worden. Zumindest vom ersten Drittel des 19. Jahrhunderts an gehörte der Topos >Die Schöne Jüdin< im deutschen Sprachraum zum allgemeinen Sprachgebrauch und kollektiven Bewußtsein; Rückschlüsse von der literarischen Verwendung (Art und Häufigkeit) lassen diese These zu. Wenn ein bestimmtes Vorverständnis aber ganz selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, so ergeben sich daraus Konsequenzen für die literarische Verwendung: die Gestalt braucht nicht mehr beschrieben, sondern nur noch benannt zu werden, um das Vorverständnis aufzurufen. Oder aber es genügt die Erwähnung weniger Merkmale, um die beschriebene Figur zuzuordnen und ihre stereotye Bezeichnung mit all ihren Konnotationen zu assoziieren. Der Topos beginnt somit ein literarisches Eigenleben, das von der historischen Realität weitgehend losgelöst sein kann, mit bestimmten Assoziationen jedoch umso fester verbunden ist. Die Existenz eines solchen selbstverständlichen Vorstellungsrahmens als Verständnisgrundlage begünstigt wiederum eine Diversifizierung 11

der Interpretation und Beurteilung. Dies besonders dann, wenn die Art der Benutzung des Klischees zu einer erneuten Überprüfung des Klischee-Inhalts an der Realität auffordert. Durch all diese Mechanismen trägt die Literatur bei zur Verbreitung, Tradierung, Ausschmückung und immer wieder neuen Interpretation des Topos >Die Schöne Jüdinrealistisch< bezeichnende Literatur die Frage erwägen müssen, wie >richtigangemessen< oder >wirklichkeitshaltig< das literarische Portrait der Jüdinnen denn nun tatsächlich war. Das Problem hat zwei Dimensionen: mit der bloßen Annahme eines realen Kernes der stereotypen Beschreibungen der äußeren Erscheinung, Physiognomie, Haar- und Augenfarbe (die in der Untersuchung immer wieder zitiert werden) setzt man die Identifizierbarkeit eines jüdischen >Typus< voraus. Um der Gefahr nicht nachzugeben, bei dem vorhandenen Bildmaterial von einzelnen jüdischen Frauen der letzten beiden Jahrhunderte (gemalte und fotographierte Portraits) nach Gemeinsamkeiten mit den literarischen Beschreibungen zu suchen, was ja notwendigerweise zu einer Suche nach bestimmten bezeichnenden gemeinsamen Zügen fuhren müßte, habe ich darauf verzichtet, Beispiele des visuellen Materials, welches sich im Laufe meiner Arbeit angesammelt hat, anzufügen. Es kann nicht das Ziel dieser Arbeit sein, mit auch nur annähernder empirischer Sicherheit zu behaupten, die Hervorhebung dunkler Haare beruhe auf der Anschauung der Autoren, eine jüdische Frauengestalt mit blondem Haar sei von der >Realität< nicht gedeckt. Aus der Aussage, in der literarischen Jüdinnen-Darstellung stellt die Gruppe mit blonden Haaren eine Minderheit dar, kann lediglich der vorsichtige Schluß gezogen werden, daß dies auf eine Auseinandersetzung des Autors mit den Vorgaben der literarischen Beschreibungskonventionen hindeutet, vielleicht mit dem Ziel der Negation eines literarischen Klischees. Die Frage nach dem > Wirklichkeitsgehalt* von Charakterisierungen über nicht-körperliche Merkmale steht auf einem anderen Blatt: es ist geradezu Absicht dieser Untersuchung zu zeigen, welche der in den Handlungsverläufen, den Personenkonstellationen und den Problementfaltungen präsentierten Züge möglicherweise vom Lesepublikum wiedererkannt, auf konkrete Vorbilder oder ein allgemeines Vorverständnis bezogen werden konnten. Wichtige Bereiche sind dabei Erziehung, Umgang, Stellung in der Gesellschaft oder sozialer Status, Anschauungen, Lebensweisen und Lebensziele, Kleidung und ähnliches. Einige Probleme müssen bei dieser Konfrontation der historischen Wirklichkeit mit der literarischen ungelöst bleiben. Es mag zwar aufschlußreich sein festzustellen, ob in historischen Romanen die Be12

Schreibungen orientalisch weiter Flattergewänder und Turbane irgendwie im Erfahrungsbereich von Autor oder Leser begründet liegen könnten. So ließe sich vielleicht entscheiden, ob die Beschreibung ein Phantasieprodukt oder etwa die (vielleicht erotische) Umdeutung eines Eindrucks von traditioneller jüdischer Ghetto-Bekleidung darstellt. Doch ist es schwierig, hier aussagekräftiges Material zu finden, denn auch bei Abbildungen muß man den Verdacht haben, daß der Maler einem ähnlichen wirklichkeitsmodifizierenden Interesse verpflichtet gewesen sein könnte wie der Sprachkünstler. Die Literatur greift ihrerseits auch in die außerliterarische Realität ein, indem sie zum Beispiel Bewertungsmuster bereitstellt oder Klischeevorstellungen begründen und verfestigen hilft. Wie stark die Literatur die öffentliche Meinung über Jüdinnen tatsächlich beeinflußt hat und welche Bevölkerungsgruppen durch welche Haltungen und Darstellungsweisen besonders angesprochen worden sind, läßt sich nicht genau rekonstruieren. Doch lassen bestimmte Bewertungen der >Schönen Jüdin< und die Nutzbarmachung solcher Bewertungen zu politischen Aussagen (von emanzipatorisch-demokratischem Engagement bis zu rassistischer Propaganda) Rückschlüsse auf Zeitströmungen und öffentliche Diskussionen zu, in die hinein die Literatur meinungsbildend, urteilsbestärkend, mahnend oder vorurteilszerstörend wirkte. Da es mir vornehmlich darum geht, die geschichtliche Entwicklung der literarischen Verwendung von Motiv und Topos der >Schönen Jüdin< aufzuzeigen, habe ich generell eine chronologische Darstellungsform gewählt. Um wenigstens an entscheidenden Stellen die historischen Voraussetzungen der literarischen Gestaltungen sichtbar zu machen und somit Durchblicke auf das Wechselverhältnis von Literatur und Realität zu ermöglichen, habe ich einige historische Exkurse eingeschoben (besonders in Kapitel III, 1 und am Beginn von Kapitel VI, 5). Da den Erzählwerken über historische Stoffe im 19. Jahrhundert eine besondere Bedeutung fur die Entwicklung des Themas zukommt, ist ein Kapitel (V) ausschließlich dieser Gattung gewidmet. Das vorletzte Kapitel (IX) hat einen thematischen Schwerpunkt; es soll, wie einige Passagen der Schlußbemerkung auch, die Perspektive über die Grenze des Untersuchungszeitraumes ausdehnen. Bei all den Abweichungen von der Regel der Chronologie hoffe ich doch, daß sich die Darstellung zu einer Art >Literaturgeschichte< der >Schönen Jüdin< zusammenfugt.

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2. Die Sprachformel >Die Schöne Jüdin< und ihre Implikationen Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf Erzähltexte, da die erzählenden Gattungen im Laufe des Untersuchungszeitraumes immer stärker den Anspruch vertraten, die gesellschaftsabbildenden, >realistischen< poetischen Formen zu sein. Viel mehr als in Drama und Lyrik werden in narrativen Kunstwerken die einzelnen Figuren explizit im Kontext ihrer sozialen und politischen Verhältnisse gezeigt. Außerdem treten allgemein in dieser Gattung die Mechanismen der Leserbeeinflussung und Sympathielenkung und somit der Bewertung der literarischen Gestalt deutlicher hervor. Zu dem behandelten Thema fehlen bibliographische Hilfsmittel; in motiv- und stofifgeschichtlichen Werken sind, wenn überhaupt, nur magere Einträge über die >Schöne Jüdin< zu finden. Das Textkorpus dieser Untersuchung ist daher zunächst das Ergebnis von Zufallsfunden und von Hinweisen zahlreicher Freunde und Kollegen aus ihren jeweiligen Spezialgebieten, dann aber auch einer gezielten Suche nach >vielversprechend< klingenden Titeln in Bibliothekskatalogen und Bücherverzeichnissen sowie einiger weniger Hinweise in der wissenschaftlichen Literatur. Ich erwähne in dieser Arbeit über 70 Erzähltexte vom Beginn der Neuzeit bis zum Ersten Weltkrieg, in denen junge jüdische Frauen als Haupt- oder Nebenfiguren eine wichtige Rolle spielen. Diese Texte sind in Teil E des Literaturverzeichnisses chronologisch aufgeführt. Diese große Anzahl der Belege läßt mich hoffen, daß meine Aussagen repräsentativ sind für das Phänomen der >Schönen Jüdin< insgesamt. Viele gemeinsame Merkmale sowie die Wortwahl in den Texten selbst erlauben es, diese Frauengestalten als >Schöne Jüdinnen< zusammenzufassen, sie als einen Typus, eine literarische Gestalt zu behandeln. Mit der Geschichte dieser literarischen Figur und der mit ihr verknüpften literarischen Motive, den Mustern ihrer Beschreibung sowie dem sprachlichen Topos >Die Schöne Jüdin< von den ersten wichtigen Beispielen im 17. Jahrhundert bis zu der Zeitenwende des Ersten Weltkrieges beschäftigt sich die vorliegende Darstellung. Dabei liegt das Schwergewicht auf dem Versuch, die Veränderungen der Behandlung der >Schönen Jüdin< im Laufe der Geschichte der neuzeitlichen Erzählliteratur, die Bildung einer Motivtradition um diese Gestalt (die im Laufe des 19. Jahrhunderts beinahe zum Standardinventar der deutschsprachigen Erzählliteratur wurde) und ihre Gerinnung zu einem nicht nur sprachlichen, sondern literarischen und darüber hinaus gesellschaftlichen Klischee zu zeigen. Trotz der Beschränkung auf Erzähltexte sollen zunächst Bedeutung und 14

Charakter sowie Wirkungen und Implikationen des Sprachtopos >Die Schöne Jüdin< anhand eines Dramas näher beleuchtet werden. Der handlungstragende Konflikt und die Personenkonstellation in Shakespeares »Der Kaufmann von Venedig« weisen modellhaft auf die jüdische Problematik der gesamten Neuzeit voraus. Jessica steht zwischen dem christlichen Liebhaber und dem jüdischen Vater Shylock, dessen Macht Geld und dessen Lebensinhalt Vergeltung fur an ihm und seinem Volk begangenes Unrecht sind. Diese jüdische Frauengestalt Shakespeares ist sicherlich die erste große, allgemein bekannte, kontroverse und eben deshalb prototypische >Schöne Jüdin< der Weltliteratur. In der dritten Szene des zweiten Aktes spricht der Venezianer Lanzelot Jessica zum ersten Mal an: »most beautiful pagan, most sweet Jew!« (1) In der folgenden Szene wird dann dreimal über Jessica gesprochen, zweimal von ihrem Liebhaber Lorenzo und einmal von dem Dramenclown Graziano: 2. Lorenzo: »Hold here - take this, tell gentle Jessica / I will not fail her, - speak it privately.« 3. Graziano: »Was not that letter from fair Jessica?« 4. Lorenzo: »Come, go with me, peruse this as thou goest,- / Fair Jessica shall be my torch-bearer.«

Zwei Szenen weiter gibt dann der Liebhaber seinen Freunden eine etwas ausfuhrlichere Beschreibung seiner Angebeteten als Rechtfertigung seiner Liebe, deren Berechtigung jedoch — auffällig in einer Zeit strikter Separierung der Konfessionen - niemand im Drama in Frage gestellt hatte: 5. Lorenzo: »Beshrew me but I love her heartily, / For she is wise, if I can judge of her, / And fair she is, if that mine eyes be true, / And true she is, as she hath prov'd herself: / And therefore like herself, wise, fair, and true, / Shall she be placed in my constant soul.«23

»Fair«, also gerecht, heiter, blond, hold oder liebreizend soll Jessica sein; »fair« entspricht natürlich ungefähr dem deutschen »schön«, etwa in »das schöne Geschlecht« fur »the fair sex«. Doch als zweisilbiges trochäisches Wort, das sich dem Metrum des Blankverses in den Beispielen 2 bis 5 einfugt, ist eine Ubersetzung als »helle«, »heitre«, »reine« Jessica genausogut vorstellbar und angemessen, vor allem im Kontext der anderen Eigenschaften »gentle«, »wise« und »true«: freundlich, klug und aufrecht. Die Bedeutungsbreite des

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Zit. nach der zweisprachigen Ausgabe: William Shakespeare: The Merchant of Venice. Der Kaufmann von Venedig. Hg. und übersetzt von Barbara Puschmann-Nalenz (A 67, 3), Akt II, Szenen 3, 4 und 6, S. 52, 54, 56 und 64

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Adjektivs »fair«, das durch die hiatische Fügung »fair Jessica« (Beispiele 2 und 3) zusätzlich betont wird, ist nicht leicht auf den deutschen Begriff zu bringen, da es ein ganzes Spektrum weiblicher Tugenden umfaßt, welche Jessica auch christlichen Ansprüchen und Maßstäben genügen lassen. Die A t tribute »gentle«, »wise«, »true« und vor allem »fair« können also nur im Hinblick auf den Ausgang der Liebeshandlung, die christliche Ehe, angemessen gedeutet werden; in Jessicas eigenen W o r t e n : » O Lorenzo, / If thou keep promise, I shall end this strife, / Become a Christian and thy loving wife!« 2 4 Von den vielen Übersetzern dieses Dramas n u n bewältigen vier - Christoph Martin W i e l a n d ( 1 7 6 3 ) , Johann Heinrich V o ß (mit seinen Söhnen Heinrich und Abraham) ( 1 8 1 8 ) , August W i l h e l m von Schlegel ( 1 8 4 1 ) und Barbara Puschmann-Nalenz ( 1 9 8 5 ) 2 5 - diese Stellen wie folgt: 1. »Most beautiful pagan, most sweet Jew« Wieland: »allerschönste Heidin, allerangenehmste Jüdin!« Schlegel: »Allerschönste Heidin! allerliebste Jüdin!« Voß: »Du schönste Heidin! - Herzensjüdin du!« P.-N.: »schönste Heidin, süßeste Jüdin!« 2. »teil gentle Jessica«: W.: »sage der schönen Jessica« S.: »sag der schönen Jessica« V.: »Meld' ihr, der holden Jessica« Puschmann-Nalenz: »sag der sanften Jessica«

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25

16

Shakespeare: The Merchant of Venice. Der Kaufmann von Venedig (A 67, 3), Akt II, Szene 3, S. 54 Es werden damit drei frühe Ubersetzungen herangezogen: Wielands und Voß' können als bahnbrechend fur die deutsche Shakespeare-Rezeption angesehen werden, Schlegels ist bis heute die meistgelesene geblieben. Alle drei Ubersetzungen stammen aus einer frühen Phase der Geschichte des >Schöne JüdinGegenprobe< dienen. William Shakespeare: Der Kauffmann von Venedig. Shakespear Theatralische Werke. Aus dem Englischen übersetzt von Herrn Wieland. Illtr. Band (A 67, 2), Zitate Akt II, Szenen 4, 5 und 7, S. 47 (1), 49 (2), 50 (3), 51 (4) und 57f (5); Der Kaufmann von Venedig. Komödie. Aus dem Englischen übertragen von August Wilhelm von Schlegel (A 67), Zitate Akt II, Szenen 3, 4 und 5, S. 28 (1), 29 (2 und 3), 30 (49) und 33 (5); Der Kaufmann von Venedig. Shakspeare's Schauspiele von Johann Heinrich Voß und dessen Söhnen Heinrich Voß und Abraham Voß. Zweiter Band (A 67, 1), Zitate Akt II, Szenen 3, 4 und 6, S. 41 (1), 43 (2 und 3), 44 (4) und 49 (5); The Merchant of Venice. Der Kaufmann von Venedig (A 67, 3), Zitate Akt II, Szenen 3, 4 und 6, S. 53 (1), 55 (2), 57 (3 und 4) und 65 (5)

3.

»Was not that letter from fair Jessica?« W : »War dieser Brief nicht von der schönen Jessica?« S.: »Der Brief kam von der schönen Jessica?« V.: »Wars nicht ein Brief der schönen Jessica?« P.-N.: »War jener Brief nicht von der schönen Jessica?«

4.

»Fair Jessica shall be my torch-bearer.« W : »die schöne Jessica soll mein Fackelträger seyn.« S.: »Mir trägt die schöne Jessica die Fackel.« V.: »Die Fackel trägt mir meine Jessica.« P.-N.: »die schöne Jessica soll mein Fackelträger sein.«

5.

»wise, fair, and true« W.: »verständig, schön, getreu« S.: »klug, schön und treu« V.: »klug, schön und treu« P.-N.: »weise, schön und wahr«

Warum verdrängt das Epitheton »schön« nun andere Adjektive wie »hübsch«, »hell«, »klar«, »rein«, »hold«, die ja genauso wie »schön« von dem englischen Ausdruck für den Inbegriff idealisierter Weiblichkeit »fair« gedeckt sind? Warum werden auch die Adjektive des englischen Originals, »gentle« und »beautiful« im Deutschen weitgehend zu »schön« vereinfacht? Das Adjektiv »schön« zeichnet eine gewisse umgreifende Vagheit, eine offene, nicht genauer spezifizierende Qualität aus. Der Verengung der Bezeichnung entspricht eine Ausweitung der Bedeutungs- und damit Interpretationsmöglichkeiten. Es bleibt entweder dem Kontext und der Handlung in dem jeweiligen Text oder aber ganz allein dem Vorverständnis des Rezipienten überlassen, ob der die Schönheit der beschriebenen Jüdin als harmlos-unschuldig oder verfiihrerisch-vamphaft auffaßt - die Wortwahl allein legt ihn nicht fest, lädt jedoch dazu ein, die Lücken zu füllen. Es ist zu vermuten, daß eine zunächst lediglich konventionelle Ubersetzung (der Verwendungshäufigkeit und -breite des englischen »fair« entsprechend) sich verselbständigt und durch den sozialen wie literarischen Kontext eine ganz spezielle Prägung erhält. Wenn also die Ausfüllung des Epithetons »schön« oft weitgehend dem Leser anheim gestellt ist, dann kann es nicht verwundern, daß auch erotische Obertöne in diese Bezeichnung hineingelesen werden und »schön« zunehmend eine körperliche, erotische Attraktivität kennzeichnet. Die innere Qualität, wie in dem empfindsamen Konzept der >schönen SeeleSchöne Jüdin< sind leicht eingängig und auch rhythmisch suggestiv. Diese Wirkung des Begriffs bleibt natürlich erhalten, wenn »Jüdin« durch einen zweisilbigen trochäischen Vornamen ersetzt wird: »schöne Sara, Lea, Rahel, Esther, Judith« - das Alte Testament bietet hier eine Menge Auswahlmöglichkeiten an. Es stellt zudem ein Reservoir inhaltlicher Allusionen zur Charakterisierung der literarischen Namensträgerinnen bereit; ob diese Benennung für die Charakterisierung der Gestalten relevant ist, muß jeweils am einzelnen Fall entschieden werden. Auch einige nicht-hebräische zweisilbige Namen wie Fanny und Flora scheinen sich größerer Beliebtheit bei den Autoren erfreut zu haben. Dreisilbige, metrisch andersartige Namen jüdischer oder nichtjüdischer Provenienz (wie Salome, Rebecca, Franziska, Dorothea oder Henriette, Namen, die bei historischen jüdischen Frauen durchaus beliebt waren) 26 werden dagegen auffällig selten verwendet. Nun beziehen sich die Phrasen »schöne Rahel«, »schöne Flora« etc. auf einzelne Individuen, fiktive oder (in Briefen etwa) historische. Der Begriff >Die Schöne Jüdin< dagegen bezeichnet über eine konkrete Person hinaus einen Typus, er nimmt die Form eines »generalisierenden Kollektivsingulars« an, der grammatischen Lieblingsfigur des Vorurteils. 27 >Die Schöne Jüdin< muß demnach zunächst als ein Sprachklischee aufgefaßt werden, dessen Bezug zu kollektiven sozialen, historischen und ideologischen Vorstellungen ein Gegenstand dieser Untersuchung ist. Der rhythmischen und expressiven Qualität wegen möchte ich >Die Schöne Jüdin< als Sprachformel bezeichnen, die den Ausdruck eines außerliterarischen kollektiven Bewußtseins und vielleicht die Spiegelung einer historischen Situation bildet, sowie gleichermaßen die Bezeichnung konkreter Gestalten umfaßt. Zudem ist >Die Schöne Jüdin< zu einem wissenschaftlichen Terminus fïir einen bestimmten Figurentypus geworden. Um dem Formel- und dem Fachbegriff-Charakter gerecht zu werden und um eine größtmögliche Distanzierung von dem Begriff zu erreichen, wird

26

Die Namensgebung (auch Namenswahl bei Glaubens- und Namenswechseln) bei Männern ist sehr viel besser erforscht als bei Frauen, ebenso der »Markierungswert« (Dietz Bering) von Familiennamen. Doch kommt wohl auch Frauenvornamen, die nicht auf den ersten Blick die Trägerin als Jüdin ausweisen, eine als jüdisch >markierende< Bedeutung zu. Vgl. zu diesem Thema insgesamt die wegweisende Arbeit von Dietz Bering: Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1 8 1 2 - 1 9 3 3 (D 3); zu weiblichen Vornamen besonders die Ubersicht 4, S. 97f

27

Vgl. Jürgen Stenzel im Hinblick auf den >edlen Judenc Idealisierung und Vorurteil. Zur Figur des >edlen Juden< in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts (C 35), S. I l 4 f

18

>Die Schöne Jüdin< in dieser Arbeit generell in Anfuhrungsstriche gesetzt und mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben. Für den in der deutschsprachigen Literatur gespiegelten Erfahrungskreis sind die >schöne Polin< oder die >schöne Italienerin vielleicht wichtiger als die von Sartre zum Vergleich erwähnte >schöne Rumänin< und >schöne Amerikanerin^ Doch alle >schönen< Frauen nichtdeutscher oder -österreichischer Nationalität weisen einen gemeinsamen Unterschied zur >Schönen Jüdin< auf. Sie ordnen die bezeichnete Frau geographisch konkret ihrem Heimatland zu, nehmen die Schönheit im Kontext ihres Herkunftslandes wahr: die Italienerin vielleicht als >Episode< auf der Kavaliersreise, vielleicht als antikem Schönheitsideal nahekommendes Kunst-Modell; die Polin eventuell als derbe slavische Magd, als unverdorbene Halb-Wilde möglicherweise. Die Problematik der >Schönen Jüdin< aber weist eine andere Qualität auf, die durch die Dichotomie von größerer Nähe und weiterem Abstand gekennzeichnet ist. Der Begriff >Schöne Jüdin< ist nicht geographisch ausgrenzend, die >Schöne Jüdin< lebt mitten unter den Deutschen, fühlt sich vielleicht als Deutsche >mosaischen< Glaubens, möchte in den Bürger- und Staatsverband aufgenommen sein. (Die häufige Bezeichnung als >Orientalin< seitens nichtjüdischer Autoren ist sicherlich auch als Abwehr dieser Nähe aufzufassen.) Gleichzeitig errichtet der Glaubensunterschied eine wesentlich höhere Barriere als die geographische Trennung; nicht nur trennten sie Religionszugehörigkeit, Tradition und Vorurteil, auch befand sich der christliche Deutsche als Vertreter der gesellschaftlichen Mehrheit stets in einer stärkeren, mächtigeren Position. Die Sogwirkung, der Druck auf die Jüdin, mußte notwendigerweise immer in Richtung auf die christliche Gesellschaft gehen. Nur eine historische Ausnahme ist bekannt, die auch literarischen Niederschlag gefunden hat. Von Gräfin Cosel, einer ehemaligen Geliebten des Sachsenkönigs August des Starken, wird berichtet, daß sie sich im Alter und nach dem enttäuschenden Verlust ihrer Position bei Hofe zum Judentum bekehrt habe; der Grandseigneur des 18. Jahrhunderts, Fürst Ligne, erzählt von einer Begegnung mit der alten Dame, und in einem polnischen Sensationsroman von 1873 wurde diese Information des fürstlichen Reiseschriftstellers zu dem Bild einer in einen kabbalistischen Zaubermantel gekleideten Fast-Verrückten umgemünzt. 28 Die >schöne Zigeunerin< teilt das Schicksal der Jüdin, als Angehörige einer >fremden< >NationVolkes< oder >Stammes< angesehen zu werden. In zwei fur die >Schöne Jüdin< konstitutiven Merkmalen unterscheidet sich die nicht ortsfeste Zigeunerin jedoch von der Jüdin: sie hat nicht deren 19

Assimilationsbestreben und sie vertritt nicht die verfluchte Religion der Christusmörder. »Rätselhafte Frauenschönheit« und »das Abenteuer der Assimilation« - das Zusammentreffen dieser beiden Attribute erotischer Ausstrahlung und bürgerlichen Emanzipationswunsches macht die Gestalt der >Schönen Jüdin« recht eigentlich aus. Bevor sie aber aus nicht-jüdischer Perspektive wahrgenommen werden konnte, mußte die »allerschönste Heidin« den Schritt aus dem unterprivilegierten, ja flir die christliche Öffentlichkeit nahezu unsichtbaren Pariadasein der Ghettobewohnerin in den Gesichtskreis der nichtjüdischen Gesellschaft vollziehen.

28

20

Jozef Ignacy Kraszewski: Gräfin Cosel. Anonyme alte Übersetzung aus dem Polnischen [erstmals erschienen 1873] (A 44), S. 232 und 251

Kapitel II »Lust zur christlichen Religion« Bekehrungsromane im Abenteuergewand

1. Grimmelshausens »Esther-Episode« und der anonyme »Josebeth«-Roman In der historischen Entwicklung der deutschsprachigen Erzählkunst führt eine gattungsgeschichtliche Linie von den Aventiuren des barocken Schelmenromans und den spannungsreichen Verstrickungen des heroisch-höfischen Genres zu den weitverbreiteten Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts. Diese Entwicklungslinie kann unter anderem an den verschiedenen Ausgestaltungen der Behandlung jüdischer Frauengestalten nachgezeichnet werden, die von Grimmelshausen bis Karl May häufig zum Figureninventar narrativer Kunstwerke gehörten. Auch in den Nebenzweigen dieser Romantradition, etwa im historischen Abenteuerroman, begegnen in der Nachfolge von Walter Scotts Welterfolg »Ivanhoe« zahlreiche Jüdinnen mit einiger Bedeutung für Handlungsverlauf und ideologische Aussage. An mittelalterliche Anekdoten- und Schwankstoffe anknüpfend, erfuhren das Verfiihrungs- und das Bekehrungsmotiv ihre ersten großen epischen Ausformungen im zweiten Teil von Grimmelshausens »Das wunderbarliche Vogelnest« (1672) und einem etwa gleichzeitigen anonymen Roman über eine »Zum Christenthum neubekehrte Jüdin Oder Verliebte und Abgefallene Josebeth« (ca. 1680). Von dieser Zeit an reißt die Kette der Abenteuerromane, die jüdische Protagonistinnen bis in die Gefangenschaft wilder Kosakenhorden und in die entlegensten Seeräubernester fuhren, und die in Vereinigung des Paares, Taufe und Heirat münden, nicht mehr ab. Hier beginnt ein Entwicklungsstrang des >Schöne JüdinVerstocktheit< der Juden anhand ihrer vergeblichen Hoffnungen und ihres törichten Aberglaubens ofifenzulegen, sowie ihre Schmach und Verspottung als verdiente Strafe Gottes darzustellen. Die meisten Autoren und Bearbeiter dieses Stoffes halten es nicht fur nötig, das Zustandekommen einer solchen intimen Beziehung zwischen Jüdin

2 3

Keller (Hg.): Erzählungen (A 3), S. 61, Z. 5-9 und 15-48 Vgl. Edith Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (A 20, 1), S. 79-86

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und Christ zu erläutern (wie zum Beispiel dringt ein Christ ins Judenviertel, ins Haus und sogar ins Schlafzimmer der Jüdin ein?); wohl aber nehmen sie eine implizite Rechtfertigung des Verhältnisses vor, indem sie den Christen als Studenten oder Kleriker der Gruppe der stereotypen Lüstlinge der Gattung Schwank zuordnen und, wichtiger noch, die Schönheit der Jüdin als ihr einziges Merkmal erwähnen. 4 Neben kleineren Details der Plausibilisierung (die Kammer des Studenten liegt der der Jüdin gegenüber) und zahlreichen gehässigen Seitenhieben gegen jüdische Riten (wie der rhetorischen Frage, ob wohl ein Schwein dem Neugeborenen das Glied abgebissen hat) 5 erfährt die Kernfabel in Hans Folzens Version dieser Geschichte von etwa 1485 eine ganz entscheidende Erweiterung: Mutter und Kind werden der aufgebrachten Judengemeinde entrissen und getauft: »Des pot man yn pey leib und gut, Zu lan sie in der christen hut, Ob sie darzu geb iren willn. Aliso hillt man die sach in stilin, Pis sie auß den sechs wochen kam Und sie der student öflich nam. Do taufft man kint und muter peid.«6

So wird durch die erfolgreiche Proselytenmacherei noch nachträglich die eigentlich ja unmoralische Tat des studentischen Verführers gerechtfertigt und sein Verdienst später mit Ansehen in der Stadt belohnt. Bei Hans Folz bietet der Glaubensunterschied zwischen Juden und Christen (besonders die Tatsache, daß die jüdische Religion Jesus nicht als Messias anerkennt) den Anlaß fiir eine weiter ausholende Schmähung der Juden und

4

Ein mönch zeugt der Juden messiam. In: Hans Wilhelm Kirchhof: Wendunmuth. Hg. von Hermann Österley. Bd. I (A 42), S. 5 1 0 f (Mönch und »schöne junge tochter«); Der falsche Messias. In: Hans Folz: Die Reimpaarsprüche. Hg. von Hanns Fischer (A 20), S. 9 2 - 9 6 (Student mit der »schönsten dochter«); Ein Histori von einer Jüdin, die für den Messiam eine Tochter gebare. In: Heinrich Bebels Schwanke. Zum ersten Male in vollständiger Übertragung hg. von Albert Wesselski. Erster Band (A 10), S. 93 (ein Christ mit »einem jüdisch Maidlein«). Zu erwähnen ist noch, daß vierhundert Jahre später Jakob Wassermann in seinem Roman »Die Juden von Zirndorf« diesen rüden Trick der eingeflüsterten Messiasempfängnis wieder aufgreift und die Betrogene und Gedemütigte zu einer symbolischen Stammutter Israels, des modernen Zionsdorfes, werden läßt.

5

Hans Folz: Der falsche Messias (A 20), S. 97, Z. 1 8 6 - 1 9 0 Hans Folz: Der falsche Messias, S. 98, Z. 2 0 9 - 2 1 5

6

24

beispielhafte Bestätigung antijüdischer Vorurteile: »Juden sind dumm und verstockt, bösartig und unkontrolliert.« 7 Als Mitwisserin des bösartigen Scherzes wird die >Schöne Jüdin< von dem ignoranten (also >abergläubischenSchönen Jüdin< jedoch von großer Bedeutung. Zunächst werden die Lebensumstände und der soziale Hintergrund des Mädchens näher beleuchtet. Sie ist Tochter eines reichen portugiesischen Juden in Amsterdam, dem Zentrum der sephardischen Judenheit, wo die 1492 aus Spanien, 1496/97 aus Portugal Vertriebenen Zuflucht und eine einzigartige Freiheit und Rechtssicherheit gefunden hatten. »Jews in Holland felt themselves to be more free religiously and economically less hampered than in any other country in Europe.«8 Diese Situation brachte ihnen wirtschaftliche Prosperität und Berühmtheit über die holländischen Grenzen hinaus. Die neuerbaute Amsterdamer Synagoge zum Beispiel erwähnten Reiseschriftsteller des 17. Jahrhunderts als Sehenswürdigkeit. 9 Wichtig ist, daß mit Amsterdam eine Gemeinde wohlhabender jüdischer Händler und Bankiers in den Blick genommen wird, eine Sphäre mithin, die dem an kleinere Trödler und Ghettobewohner, ganz vereinzelt erst an einige Hoffaktoren gewöhnten deutschen

7 8

9

Edith Wenzel: Zur Judenproblematik bei Hans Folz (A 20, 1), S. 86 Jacob Katz: Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation 17701 8 7 0 (D 27), S. 11 Vgl. Jonathan I. Israel: European Jewry in the Age of Mercantilism 1 5 5 0 - 1 7 5 0 ( D 2 2 ) , S. 220, der eine englische Schilderung aus dem Jahre 1 6 8 0 zitiert.

25

Lesepublikum sicherlich weitgehend fremd sein mußte. Die Entrückung aus dem eigenen Erfahrungsbereich verstärkt aber auch eine märchenhafte Glaubwürdigkeit der geschilderten Lebenswelt, besonders in der Beschreibung des ersten Anblicks der >Schönen Jüdin< durch den Ich-Erzähler. Die Vorurteile über den jüdischen Messias-Aberglauben werden allerdings in diese zunächst fremde Welt mit herübergezogen, welche damit zugleich in den vertrauten Rahmen von Vor-Urteilen eingepaßt, also ent-fremdet, vertraut gemacht wird. Die Verspottung der Angehörigen eines aus christlicher Sicht >falschen< Glaubens, nicht etwa der anders Lebenden oder sozial Fremden, steht im Mittelpunkt des Interesses des anekdotischen Berichts. Die Jüdin ist bei Grimmelshausen nicht mehr anonym, sodern gewinnt als »schöne Tochter Esther« erstmals eine zumindest vordergründig eigene, individuelle Gestalt. Ihre ausfuhrliche Schilderung, die die Beobachtung vermeintlich jüdischer Physiognomie, orientalischer Kleidung und reichen Schmucks sowie der sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale in einen Atemzug zusammenbindet, rechtfertigt nach bekanntem Muster das erotische Interesse des Ich-Erzählers: »sie war so ausbündig und unbeschreiblich schön / daß ich mich nimmermehr überreden lassen / oder glauben kan / daß ein Mahler in der gantzen weiten Welt zu finden sey / der ein schöner Bild mahlen könne / ihre schwartzbraune Augen strahleten dermassen mit Liebreitzenden Blicken / daß sie genugsam gewesen wären / die gantze Welt mit Liebes-Flammen zu entzünden [...] nichts Jüdisches konte ich an ihr abnehmen / als etwas gar wenigs an ihrer wolformirten Nase / welches ihr aber in meinen Augen mehr vor eine treffliche Zierd taugte / als daß es vor die Signatur einer Jüdischen Physiognomie gehalten hätte werden sollen; Ihr Geschmuck in den Haaren / umb den Hals / ihre Ohrgehenck / Ring und Armbänder waren von hohem Werth / ihre Pantoffel wie das Wehr=Gehenck das sie stickte / und ihre Leibs=Bekleidung von solchem Zeug / dergleichen Privat=Personen nicht alle Tag zu tragen pflegen / ihre Zucker=Ballen hatte sie hinlänglich eingepriesen [= eingeschnürt] / und dahero belustigt deren aufif und nidersteigen am allermeisten / wann sie athmet

Sie bietet in der Perzeption des Ich-Erzählers also ein Bild von gleichzeitig jungfräulicher Züchtigkeit und enormer sexueller Ausstrahlung, wird jedoch im späteren Verlauf mit Bezeichnungen wie »das delicate Fleisch« oder »das köstliche Stück Fleisch« auf krasseste Weise zum Sexualobjekt reduziert. 11 All dies kann als phantasievoll-erotische Ausschmückung dessen gelten, was Hans Folz und seine Zeitgenossen noch schlicht mit dem Etikett »die schöne Toch-

10 11

26

Christoph von Grimmelshausen: Das wunderbarliche Vogel-Nest (A 28), S. 2 1 9 f Grimmelshausen: Vogel-Nest (A 28), S. 2 5 7 und öfter

ter des Juden« bezeichnet hatten. Wichtig erscheint mir dabei die Bemerkung, der Erzähler könne »nichts Jüdisches« an ihr entdecken, und selbst die »wohlformirte Nase« wirke mehr als »Zier« denn als abweisendes Stigma. Warum diese ausdrückliche Betonung, das Jüdische wirke, wenn überhaupt wahrnehmbar, so reizverstärkend? Dieser leichte Hauch der Fremdheit schert nicht kraß aus wohlvertrauten Schönheitsnormen aus, hebt aber die beschriebene Person aus dem Bereich des Gewöhnlichen heraus. Gerade die wenigen dezenten Merkmale einer gewissen Andersartigkeit in der Schilderung der Jüdin motivieren die sexuelle Begierde des Erzählers überzeugend und schaffen auch ftir das Lesepublikum eine attraktive erotische Atmosphäre. Gleichzeitig jedoch wird damit die beschriebene Person schon über ihre äußere Erscheinung von ihren Glaubensgenossen abgehoben, ein Effekt, der über die unmittelbar sichtbare auch noch eine bedeutende ideologische Signifikanz aufweist. Denn - schon diese Einfuhrung der Esther-Gestalt präludiert den Ausgang der erzählten Begebenheit: die Bekehrung zum Christentum — eigentlich ist diese vermeintliche und äußerlich an ihre Familie und Gemeinde gebundene Jüdin gar keine Jüdin mehr: schon vor dem Einsatz der Erzählhandlung hatte sie bereits eine »Lust zur christlichen Religion geschöpfft«, wie später ausdrücklich nachgetragen wird. 12 Die Beurteilung der jüdischen Religion gerät dagegen mehr als deutlich negativ, wenn ihre Traditionen

und Riten

als »abergläubische

Heim-

lichkeiten«, die Geschichten vom Propheten Elias und dem Tag der erwarteten Messiasankunft als »Lugenden«, »Fabelpossen« und »Narrenpossen«, die Judenheit insgesamt als »Abergläubische [s] / und deßwegen so albern Volck« bezeichnet wird. 13 Z u dem sexuellen Interesse gesellt sich somit, von der Jüdin ausgelöst, dann aber auf die gesamte Gemeinde übertragen, eine gewisse voyeuristische Neugier diesem >Aberglauben< gegenüber, deren Resultat es letztendlich bleibt, daß vorgeprägte Meinungen Bestätigung finden (das heißt, es wird erneut konfirmiert, daß die Juden tatsächlich abergläubisch sind und auf die lächerlichste Weise an die Ankunft eines Messias glauben). Schadenfreude und sexueller Lustgewinn gehen somit für den Leser hier Hand in Hand. Nachdem auch Esther ein Mädchen zur Welt gebracht hat, die Juden aber hoffen, bis zur Zeit der Beschneidung werde diesem noch ein Glied nachwachsen, heißt es hämisch:

12 13

Grimmelshausen: Vogel-Nest, S. 263 Grimmelshausen: Vogel-Nest, S. 225, 231 und öfter

27

»Aber einem solchen Volck geschiehet recht / und ist auch kein Wunder / wann es ein Weibsbild vor seinen Heyland erkennet / weil es ehemel an Gottes statt güldene Kälber geehret [...]«. 14

Die Erwähnung des Goldenen Kalbes deutet an, daß bei der Verspottung dieser reichen sephardischen Juden auch materieller Neid eine Rolle spielt. In der Fiktion nimmt der Autor, wohl im Sinne seiner Leserschaft, gleichsam stellvertretende Rache an der jüdischen Geschäftstüchtigkeit. Folgerichtig dehnt sich die Demütigung der jüdischen Gemeinde auch auf die finanzielle Seite aus, der reiche Vater Esthers wird gezwungen, der konvertierten Tochter eine überreichliche Mitgift zu überlassen. Der Glaubensübertritt der Jüdin hatte in Hans Folz' Geschichte vom »falschen Messias« noch eine rein praktische Lösung für die durch die Schwangerschaft: entstandenen Probleme bedeutet, die ohne jede Referenz auf etwaige Gefühle der beteiligten Personen beschrieben worden war. Esthers Konversion dagegen stellt der Erzähler als Resultat des ausdrücklichen Wunsches der Jüdin dar: sie hatte »den Christlichen Glauben weit mehr als das Jüdische Gesetz geehrt und geliebt / so / daß sie auch ihre Eltern und deren grosse Reichthumb verlassen und mit euch [= Erasmus, ein ebenfalls konvertierter Jude] / biß ans Ende der Welt / in die verdrießliche Fremde ziehen wollen [...]«. 1 5

In Untersuchungen zum Frauenbild Grimmelshausens ist oft ausgeführt worden, daß der Autor die Machenschaften des betrügerischen Ich-Erzählers dem Bild der verführten Unschuld scharf und parteinehmend kontrastiere, das heißt eindeutig und ausdrücklich die Stellungnahme des Lesers fìir die Jüdin fordere. 16 Dabei bleibt unbeachtet, daß es nicht die Jüdin Esther ist, die den Kaufmann am Ende zum Geprellten macht, ihm »wütende Melancholey auf [sein] immerhin Grißgrammende[s] Angesicht« treibt, 17 sondern die Christin Maria Esther, die in trauter Familieninnigkeit mit Erasmus und der Tochter in eine frohere Zukunft aufbricht. Dieses Bild, welches sicherlich das neu-

14 15 16

17

28

Grimmelshausen: Vogel-Nest, S. 261 Grimmelshausen: Vogel-Nest, S. 2 6 0 Vgl. z.B. John W. Jacobson: The Culpable Male: Grimmelshausen on Women (A 28, 2), bes. S. 159f: »In the lengthy, central Novelle-like episode concerning the merchant and Esther, Grimmelshausens sympathies are again with the deceived woman.« Vgl. im Anschluß daran auch Gerhart Teuscher: »Fromme tugenthaffte Frauen< oder »arglistiges Weiber-Volck