Die Reichsfluchtsteuer 1931 - 1953 [1 ed.] 9783428476046, 9783428076048

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Die Reichsfluchtsteuer 1931 - 1953 [1 ed.]
 9783428476046, 9783428076048

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DOROTHEE MUSSGNUG

Die Reichsfluchtsteuer 1931-1953

Schriften zur Rechtsgeschichte Heft 60

Die Reichsfluchtsteuer

1931-1953 Von

Dorothee Mußgnug

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Mussgnug, Dorothee: Die Reichsfluchtsteuer : 1931 - 1953/ von Dorothee Mussgnug. - Berlin: Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Rechtsgeschichte ; H. 60) ISBN 3-428-07604-4 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Gennany ISSN 0720-7379 ISBN 3-428-07604-4

Hans Schneider zum 11. Dezember 1992

Vorwort Die Reichsfluchtsteuer gehört zu den unbekannten Steuerarten. In der Literatur, die sich mit den Problemen der Emigration und der Emigranten nach 1933 beschäftigt, wird sie zwar regelmäßig erwähnt. Aber dabei hat es durchweg sein Bewenden. Mehr als unpräzise Pauschalhinweise finden sich nicht. Das ist auch nicht weiter erstaunlich. Auf dem Gebiet zwischen Steuerrecht, Zeit- und Wirtschaftsgeschichte gelegen fällt die Reichsfluchtsteuer in das interdisziplinäre Niemandsland. Ihre verklausulierte Regelung ermuntert zudem nicht sonderlich zur Bearbeitung. Die Reichsfluchtsteuer führt ohnehin rasch zu anderen Themenbereichen wie Konjunkturpolitik, Devisenbewirtschaftung, Haushaltsfragen, oder bezogen auf die Zeit nach 1933, zu Grundfragen der nationalsozialistischen Judenpolitik, Unabhängigkeit der Justiz, Wiedergutmachungs- und Entschädigungsprobleme. Diese großen Themenkomplexe bedürfen jeweils einer selbständigen Bearbeitung, die zum Teil auch bereits geleistet worden ist. In der vorliegenden Arbeit werden diese Fragen zwar ebenfalls angesprochen, jedoch nur soweit als sie mit der Reichsfluchtsteuer in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Ich danke Professor Dr. Hans Schneider und Professor Dr. Eike Wolgast, daß sie mir die Gelegenheit gaben, das Arbeitsthema mit ihnen zu erörtern. Ein anregender Gesprächspartner wäre mein verehrter Lehrer Herr Professor Dr. Werner Conze gewesen, dem ich das Interesse an der BTÜningschen Politik verdanke. Die Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte (München), des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts (Bonn), des Generallandesarchivs (Karlsruhe), des Bundesarchivs (Potsdam) besonders aber des Bundesarchivs in Koblenz haben mir bei der Suche nach den verstreuten Aktenstücken sehr geholfen. Nicht zuletzt schulde ich Professor Simon dafür Dank, daß er das Manuskript in die Reihe "Schriften zur Rechtsgeschichte" aufnahm. Auch diese Arbeit hätte ich ohne die Unterstützung meines Mannes und meiner Kinder nicht beenden können. Dorothee Mußgnug

Inhaltsverzeichnis I. Die ReichsOuchtsteuer 1931 - 1932 .............................................

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1. Der Erlaß der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 ........ ..............

11

2. Die Reichsfluchtsteuer-Verordnung ........................................... a) Probleme der Kapital- und Steuerflucht................................... b) Die Bestimmungen der Reichsfluchtsteuer ...............................

17 17 19

3. Der Gebrauch des Art. 48 Abs. 2 RV .........................................

24

4. Die Durchführung der Reichsfluchtsteuer-Verordnung ............. .........

26

11. Die Anwendung der ReichsOuchtsteuer-Vorschriften nach 1933 ..........

30

1. Die geänderten rechtlichen Grundlagen ....................................... a) Verschärfungen.................. ............................................ b) Verlängerungen........ .......... ........................ .................... c) Ausdehnung ..................................................................

30 30 33 35

2. Erhebung und Einzug der Reichsfluchtsteuer ................................

36

3. Devisenbestimmungen ..........................................................

38

4. Die Reichsfluchtsteuer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Steuer- und Finanzgesetzgebung ............................................... 40 a) Widerruf von Einbürgerungen ............................................. 40 b) Das Steueranpassungsgesetz vom 17. Oktober 1934 .................... 41 c) Geplante Sondersteuer und Judenvermögensabgabe ............ ......... 42 d) 11. DVO zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 ........... 45 5. Auswanderungspolitik ............................. .............................

46

6. Die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs ...................................

53

7. Das Reichsfluchtsteuer-Aufkommen .............. ............ ................

61

111. Die ReichsOuchtsteuer nach 1945 ...............................................

63

1. Entschädigungsansprüche .......................................................

63

2. Die Erhebung der Reichsfluchtsteuer nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3. Die Diskussion um eine Neufassung der Reichsfluchtsteuer ...............

68

Anhang: Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens. Vom 8. Dezember 1931 .... Reichsflucht- und Vermögensteueraufkommen .... ................ ..................

76 84

Quellen- und Literaturverzeichnis ..................................................

88

I. Die Reichsfluchtsteuer 1931-1932 Unter der nationalsozialistischen Regierung belastete die Reichsfluchtsteuer alle Emigranten. Aus dieser Zeit haftet ihr der bedrückende und auch diskriminierende Charakter an. Der Gedanke, die Auswanderung aus Deutschland mit einer Steuer zu belegen, ist jedoch sehr viel älter. 1918 erließ Kaiser Wilhelm 11. im "Großen Hauptquartier" ein "Gesetz gegen die Steuerflucht" 1, das durch die verfassungsgebende Nationalversammlung 1919 ergänzt wurde 2. Die Inflation machte jedoch alle Kalkulationen hinfällig, das Gesetz wurde im August 1925 sang- und klanglos wieder aufgehoben 3 • Erst Reichskanzler Brüning griff den Gedanken der Fluchtsteuer wieder auf. Sie erging im Rahmen der "Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens" am 8. Dezember 1931 4 • Mit dieser Notverordnung wollte Brüning die deutsche Finanzpolitik auf eine sichere Grundlage stellen. Gestützt auf sie, hoffte er, die gleichzeitig laufenden Reparationsverhandlungen führen und zu Ende bringen zu können.

1. Der Erlaß der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 Mit tragfähigen parlamentarischen Mehrheiten konnte Brüning in seiner gesamten Regierungszeit nicht rechnen 5. Erst recht versagte ihm der am 14. September 1930 gewählte Reichstag die parlamentarische Unterstützung. Er blieb im Reichstag lediglich toleriert 6 • Die weltweite Finanzkrise, die Reparationslasten, die innerdeutschen Finanzprobleme, der geringe Spielraum zwischen außenpoli1 26.7.1918, RGBI. S. 951; dazu die Ausführungsbestimmungen vom 31. 7.1918 im Zentralblatt für das Deutsche Reich 1918, S. 403 ff. 2 24.6.1919, RGBI. S. 583 ff. 3 Verhandlungen des Reichstags, Stenographische Berichte Bd. 365, 7.8.1925, S.4215. Mehr als die Beratungen der drei erforderlichen Lesungen beschäftigte die Abgeordneten der Polizeieinsatz im Reichstag (1. 8. 1925). Für die ersten Jahre der Weimarer Republik waren Akten, die die Reichsfluchtsteuer betreffen, nicht auszumachen. Z. Zt. bearbeiten die Abteilungen des Bundesarchivs in Koblenz und Potsdam gemeinsam ein Findbuch zu den Beständen des Reichsfinanzministeriums (RFM), das künftig den Zugriff erleichtern und einen besseren Überblick ermöglichen wird. 4 RGBI. I, S. 699 f. 5 Zur politischen Geschichte vgl. Kolb, Die Weimarer Republik, S. 106 ff., 128 ff., 199 ff. mit ausführlichen Literaturverweisen. 6 Conze spricht von einer "Tolerierungskoalition".

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I. Die Reichsfluchtsteuer 1931-1932

tisch Notwendigem und innenpolitisch Durchsetzbarem hätte auch in parlamentarisch ruhigeren Zeiten ein Zusammenstehen aller politisch Verantwortlichen erfordert. Die Arbeitsunfähigkeit des Reichstags war so offenbar, daß die SPD-Fraktion nach ausgiebigen Besprechungen ihrer Fraktionsführer mit dem Reichskanzler? am 26. März 1931 einer Vertagung des Reichstags bis zum 13. Oktober 1931 zustimmte 8. Allen Anträgen auf vorzeitige Einberufung des Parlaments 9 setzte die Regierung heftigsten Widerstand entgegen. Sie drohte sogar damit, daß sie "einen Beschluß des Ältestenrats auf Einberufung des Reichstags mit ihrer Demission beantworten" 10 werde. Als der Reichstag am 13. Oktober 1931 wieder zusammentrat 11, stand ihm das umgebildete Kabinett Brüning gegenüber. Die Protokolle der Reichstagssitzungen bezeugen, wie wenig das Parlament in der Lage oder willens war, die anstehenden Fragen zu lösen. Während der etwa 20 minütigen Regierungserklärung mahnte der Präsident des Reichstags 13 mal zur Ruhe, bzw. sprach Ordnungsrufe aus, ein Abgeordneter wurde für zwei Tage von den Reichstagssitzungen ausgeschlossen. Nach einer Stunde und 13 Minuten brach Präsident Löbe die Sitzung ab und vertagte das Plenum auf den folgenden Tag. Am 14. Oktober lagen dem Reichstag vor: 3 Mißtrauensanträge (NSDAP, DNVP, KPD), Anträge zu 84 eingereichten Drucksachen, eine 1. und 2. Beratung zu einem von Reichstagsabgeordneten eingebrachten Gesetzentwurf, Interpellationen (4 Drucksachen), 5 Einsprüche des Reichsrats. Der vierte Sitzungstag am 16. Oktober war geprägt durch Debatten zur Geschäftsordnung, Verfahrensfragen, 9 namentlichen Abstimmungen, dem Auszug der NSDAP Abgeordneten und einer einstündigen Unterbrechung. Schließlich stimmte der Reichstag mehrheitlich dem vom Zentrum gestellten Antrag zu und vertagte sich erneut bis zum 23. Februar 1932. Kurz vor der Verkündung der neuen Notverordnung vom 8. Dezember 1931 beantragte die KPD,unterstützt durch NSDAP, DNVP und DVP wiederum die Einberufung des Parlaments 12. Namens der Regierung erklärte Staatssekretär Pünder (4. De? Vermerk über die Besprechung Bundesarchiv Koblenz (BA Koblenz): R 43 1/2401, fol. 41 ff.; Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 955 ff. 8 Verhandlungen des Reichstags, V. Wahlperiode 1930, Bd. 445, S. 2053. Die NSDAP war am 10.2.1931 aus dem Reichstag ausgezogen ("Wir verlassen das Young-Parlament", Bd. 444, S. 876) und nahm an den Sitzungen nicht teil. 9 8.4.1931 (Antrag der KPD, NSDAP, DNVP); 10. /16.6. (Antrag Deutsches Landvolk, Wirtschaftspartei, KPD, NSDAP, DNVP); 17.7. (Antrag NSDAP, KPD, 3 Mitglieder Deutsches Landvolk); 4.9. (Antrag KPD, NSDAP, DNVP) Schulthess' Europäischer Geschichtskalender 1931, S. 103, 135, 141,200. 10 BA (Koblenz): NL 005 (Pünder) / 139, fol. 244. Ähnlich der Brief des Reichskanzlers an den Reichstagspräsidenten Löbe auf den erneuten Antrag am 16.7.1931: "Der Zusammentritt des Reichstags kann in der gegenwärtigen schweren Lage unseres Volkes nur schweren Schaden anrichten". Ebda, fol. 214. Pünder, Politik in der Reichskanzlei, S. 100 f. 11 Verhandlungen des Reichstags, Bd. 446, S. 2067.

1. Der Erlaß der Notverordnung vom 8. Dezember 1931

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zember 1931) 13: "Mit guten Gründen" sei die Vertagung bis wenigstens zum Ende Februar beschlossen worden. " ... Jetzt ... das Plenum zu großer politischer Aussprache zu versammeln, ist nach Ansicht der Reichsregierung im Augenblick nicht zu verantworten, da solche Verhandlungen der schweren Gesamtlage des deutschen Volkes und seiner Wirtschaft keinerlei Nutzen, sondern nur weitere Unsicherheit und neue Gefahrenmomente bringen würden". Auch in Anbetracht deJ beginnenden reparationspolitischen Verhandlungen in Basel verbiete sich eine Reichstagssitzung, "wobei jedes weitere Wort der Begründung hierzu überflüssig erscheint". Die SPD-Fraktion sprach sich wiederum gegen die Einberufung des Reichstags aus. Am 14. Dezember gab sie ihre ,,Entschließung" bekannt und ließ verlauten 14: "In ihrem Bestreben, die schädlichen Bestimmungen der Notverordnung durch erträgliche zu ersetzen, findet die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bei den Parteien der verantwortungslosen Opposition keine Unterstützung". Sie sei nicht in der Lage, mit ihnen eine Regierung zu bilden, die die Verordnung vom 8. Dezember durch eine bessere ersetze. "Denn es geht jenen Parteien nicht um den Schutz der Interessen der notleidenden Volksrnassen, sondern um die Verfolgung ihrer machtlüsternen Zwecke mit dem Endziele einer Zerstörung der politischen Rechte und Freiheiten des deutschen Volkes". Am 16. Dezember 1931 verwarf der Ältestenrat den Antrag auf Einberufung des Reichstags. Brüning hielt an seinen wirtschaftspolitischen Überzeugungen und seinem innenpolitischen Konzept fest 15: Allein ein durch alleräußerste Sparsamkeit erreichter ausgeglichener Haushalt werde ihm bei den Reparationsverhandlungen die Argumentationshilfe leisten, mit der er den innenpolitisch ihm so wichtig erscheinenden außenpolitischen Erfolg herbeiführen könne. Dieser Regierungskurs wurde und wird viel diskutiert 16, doch zeitgenössische, auch nicht deutsche Wirtschaftsfachleute forderten 17 ihn und stimmten Brünings Politik durchaus zu 18. Theoretische Diskussionen fanden statt, bzw. es wurde wie zur "geheimen" 12 Einen Antrag der KPD und DNVP hatte der Ältestenrat bereits arn 26. 11. 1931 abgelehnt. 13 BA (Koblenz): NL 005 (Pünder) /000142, fol. 20. 14 BA (Koblenz): NL 005 (Pünder) / 000143, fol. 32. 15 Dazu Brünings Regierungserklärung arn 13.10.1931 vor dem Reichstag, Verhandlungen des Reichstags Bd. 446, S. 2074 f. 16 Vgl. dazu Edgar Salins Einführung zu Hans Luther, Vor dem Abgrund; Conze, Zum Scheitern der Weimarer Republik, S. 218. Vgl. auch Sanmann, Daten und Alternativen, S. 108 und Literaturangaben bei Borchardt; Schötz, Wirtschaftspolitik in der Krise. 17 Marcus Wallenberg (schwed. Bankier) arn 25.8.1931 aus Genf an Brüning (BA (Koblenz): R 43 1/2373, fol. 231): "Deutschland kann sich glücklich schätzen, daß Sie in ernster Lage als Retter in der Not gekommen sind". Ähnlich schon früher Staatssekretär Pünder arn 24. 11.1930 gegenüber Staatssekretär Jo1:l, Kabinette Brüning, Bd. 1, S. 649. 18 Der arn 18.8.1931 unterzeichnete Layton-Bericht bescheinigte vier Wochen nach der Bankenkrise der deutschen Regierung, daß sie "unter schwierigen Verhältnissen den Beweis ihrer Entschlossenheit, Deutschlands öffentliche Finanzen auf eine gesunde Basis

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I. Die Reichsfluchtsteuer 1931 - 1932

Tagung der Friedrich List-Gesellschaft (16. /17. September 1931) dazu eingeladen 19. Die heute als richtig erkannten Überlegungen von Keynes schloß z. B. Wilhelm Röpke 1931 für Deutschland aus 20. Ohne verläßliche parlamentarische Unterstützung durch den Reichstag suchte Brüning seine Position dadurch zu stärken und zu erweitern, daß er einen Wirtschaftsbeirat berief. Den Vorsitz übernahm der Reichspräsident 21 . Es sollten ,,Persönlichkeiten ... , die durch ihre Stellung im Wirtschaftsleben und ihre sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Kenntnisse und Erfahrungen zur Mitarbeit besonders berufen erscheinen", in den kommenden Wochen zusammen mit der Reichsregierung ein Wirtschaftsprogramm aufstellen. Die Regierung hoffte damit "am ehesten den rechten Weg aus einer Krise zu finden, die nach Umfang und Tiefe in dem modemen Wirtschaftsleben nicht ihresgleichen hat" 22. Der Wirtschaftsbeirat fand jedoch zu keinem "die Gruppeninteressen ausgleichenden Gutachten", sondern erörterte lediglich mögliche Einzelmaßnahmen 23 . Brüning zog aus den Beratungen für seine Wirtschaftspolitik den Schluß, es komme darauf an, die im einzelnen geplanten Maßnahmen nicht nur "alsbald, sondern auch gleichzeitig" zu treffen und die "erforderlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit aller Beschleunigung herbeizuführen"24. Die Reichsminister sollten

zu stellen, geliefert hat, und daß diese Politik, wenn sie streng fortgesetzt wird, entschieden dazu beitragen wird, Deutschlands Kredit zu stärken". Das Basler Gutachten ... , 1931, S. 25 f. 19 Teilnehmer waren unter anderem: W. Röpke, E. Salin, J. Popitz, H. Luther, R. Hilferding, W. Lautenbach. H. Schäffer, E. Trendelenburg, H. Warmbo1d. Dazu die jetzt von Borchardt und Schö1z publizierten Protokolle, Wirtschaftspolitik in der Krise. Teilnehmerverzeichnis, S.53-60. Zum Verhältnis Theoriediskussion und Politik vgl. dort die Anmerkungen des Präsidenten der Reichsbank Luther, S. 302 f. 20 Röpke, Geldtheorie und Weltkrisen, S.1742-1747 (Der deutsche Volkswirt, 25.9.1931): Keynes' These vom Vorrang der Investitionstätigkeit vor der Spartätigkeit könne kaum widersprochen werden. Doch einem sprunghaften Anstieg der Investitionen werde die Krise und Depression folgen. Röpke plädierte dagegen für eine ,,relativ störungsfreie wirtschaftliche Entwicklung, die wir ... mit einer starken Verlangsamung des wirtschaftlichen Fortschritts erkaufen müssen". Damit kein sprunghafter Anstieg der Investitionen erfolge, müsse der Kreditmarkt streng reguliert werden. Die Stabilisierungspolitik dürfe sich nicht mehr am Preis-, sondern müsse sich am Investitionsniveau orientieren. Der Erfolg einer großangelegten Investitionspolitik setze allerdings eine derzeit nicht gegebene internationale Kooperation der Zentralbanken voraus. Zum ganzen Borchardt, Vorwort zu Wirtschaftspolitik in der Krise, S. 47. 21 Diesem Präsidium maß Brüning unter dem Aspekt der bevorstehenden Reichspräsidentenwahlen ganz besondere Bedeutung bei. Brüning, Memoiren, S. 456 f. 22 So der Entwurf zu einer durch W. T.B. bekannt zu gebenden amtlichen Verlautbarung zur neuen Notverordnung vom 6.10.1931, BA (Koblenz): R 43 1/2374, fol. 729. 23 Protokolle abgedr. in: Kabinette Brüning, Bd. 3, S. 1860 ff. Einige Berufsstände widersprachen sofort den sie belastenden Plänen. Die landwirtschaftlichen Vertreter zogen sich aus dem Wirtschaftsbeirat zurück, der Deutsche Beamtenbund meldete Bedenken an, die SPD-Fraktion protestierte. Dazu Kabinette Brüning, Bd. 3, S. 1989, 1999; zu den Protesten der Gewerkschaften: Politik und Wirtschaft in der Krise Bd. 4/11, S. 1111,1173.

l. Der Erlaß der Notverordnung vom 8. Dezember 1931

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sofort festlegen, "welche Fragen im Wege einer Notverordnung oder von Verwaltungsanordnungen ... geregelt werden müssen" 25. Präzise Anweisungen und Erörterungsvorschläge leitete Pünder bereits am 24. November 1931 den Ministerien weiter 26 • "Im Interesse der Beschleunigung" wollte der Reichskanzler von einer Generaldebatte im Kabinett absehen, zumal durch die Beratungen des Wirtschaftsbeirats "das allgemeine Ziel und der Gesamtrahmen" herausgearbeitet worden seien 27. Staatssekretär Pünder gab einen eng bemessenen Terminzettel an die Reichsministerien aus 28 , nach dem bis zum 5. Dezember die Beratungen mit den einzelnen Ressorts abgeschlossen sein mußten. BTÜning wollte die geplanten Maßnahmen als eine neue Notverordnung zu dem Zeitpunkt in Kraft setzen, an dem in Basel der Sonderausschuß zusammengetreten war, um die deutschen Reparationsleistungen erneut zu beraten 29. Teil dieser umfassenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen war die Einführung einer Reichsfluchtsteuer. Die am 8. Dezember 1931 verkündete Notverordnung war in 8 Teile gegliedert. Sie verordnete 1. eine allgemeine Preis- und Zinssenkung, förderte 2. die Wohnungswirtschaft z. B. durch Senkung der Hauszinssteuer, griff mit Teil 3 und 4 durch Schutzmaßnahmen gegen Zwangsvollstreckungen und neue gesellschaftsrechtliche Regelungen massiv in bestehende privatrechtlich geregelte Abmachungen ein. Die Regierung sah 5. weitere Sparmaßnahmen in der Sozialfürsorge vor, senkte 6. Gehälter und Löhne, teilweise durch Außerkraftsetzung der Tarifverträge. Zur Sicherung der Haushalte wurden 7. die Reichsfluchtsteuer eingeführt, Realsteuern erhöht, die Umsatzsteuer von 0,85 auf 2 % angehoben 30, der Steuertermin um einen Monat vorverlegt, Gehälter und Pensionen drastisch gekürzt. Im 8. Teil ,,zum Schutze des inneren Friedens" ergingen Maßregeln gegen den Waffenrnißbrauch, ein Uniformverbot, der Ehrenschutz wurde verstärkt. ,,zur Sicherung des Weihnachtsfriedens" untersagte die Notverordnung alle öffentlichen politischen Versammlungen und Aufzüge unter freiem Himmel, dazu das Plakatieren und Verteilen von Flugblättern politischen Inhalts. Bei Zuwiderhandlungen drohte eine Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten.

24 So der Reichskanzler in der Verlautbarung über die Schlußsitzung des Wirtschaftsbeirats, 23.1l.1931, Kabinette Brüning, Bd. 3, S. 1993. 25 Schreiben des Staatssekretärs in der Reichskanzlei Pünder vom 23. 11. 1931 an die Reichsminister, den Reichsbankpräsidenten und Bankenkommissar, BA (Koblenz): R 43 1/2375, fo!. 327. 26 BA (Koblenz): R 43 1/2375, fol. 331 ff. 27 BA (Koblenz): NL 005 (Pünder) / 000142, fo!. 72. 28 Schreiben vom l.12.1931, BA (Koblenz): R 43 1/2375, fol. 425. 29 Brüning, Memoiren, S. 480. 30 Die Diskussion darüber in der Ministerbesprechung vom 4. und 5. 12. 1931, Kabinette Brüning, Bd. 3, S. 2051 ff., 2063 ff.

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I. Die Reichsfluchtsteuer 1931-1932

Diese rigorosen Maßnahmen riefen nicht nur die Proteste einzelner Interessengruppen hervor 31 . Der RWiM Warrnbold zog in allerletzter Minute, als der Reichskanzler mit der bereits unterzeichneten Notverordnung auf dem Weg zum Reichspräsidenten war, seine Unterschrift zurück 32 . Brüning sah sich gezwungen, kurzerhand Unterschriften abzuschneiden, so daß die Notverordnung lediglich vom Reichskanzler, dem Reichsfinanzminister (RFM) Dietrich und dem mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Innenministers beauftragten Reichsminister (RIM) Groener unterzeichnet blieb. Aufklärungsarbeit sollte "das erforderliche Vertrauen in den endgültigen Erfolg der Regierungsrnaßnahmen" stärken 33 . Der Reichskanzler sprach selbst am Vorabend der Veröffentlichung im Rundfunk 34: " ... Alles weist auf eine internationale Verständigung hin", aber bis die erreicht sei, müsse ,jede verantwortliche Regierung den Weg gehen, der (sich) aus den Lebensbedingungen des eigenen Volkes" ergebe. In der amtlichen Verlautbarung zur Notverordnung 35 betonte die Regierung wiederum: ,,Ausgangspunkt einer gesunden Gesamtwirtschaft ist die Erhaltung oder Schaffung des Ausgleichs der öffentlichen Haushalte". Staatssekretär Pünder führte weiter aus 36 : Für sich alleine betrachtet und alleine durchgeführt bliebe jede einzelne Maßnahme ohne Erfolg, sozial ungerecht und verstoße gegen die Grundbegriffe des Rechtsstaates. Erst die Zusammenfassung mache "aus diesen vielen Negationen das gesuchte einheitliche Plus"3? Pünder schloß: Jeder einzelne Paragraph dieses gewaltigen Gesetzgebungswerkes diene "letztlich nur dem großen Ziele, unserem Vaterlande seine Freiheit wieder zu gewinnen".

31 Verbände klagten sogleich insbesondere über die drastische Erhöhung der Umsatzsteuer und stellten den Sinn der verordneten Preissenkungen in Frage, z. B. der Deutsche Industrie- und Handelstag, der bereits am 3.12.1931 seine Bedenken vorbrachte. BA (Koblenz): R 43 1/2375, fol. 447. Auch der Reichsbankpräsident Luther meldete schon am 26.11. erhebliche Vorbehalte an, BA (Koblenz): NL 9 (Luther), 367 (Tagesberichte), fol. 40 ff. 32 Kabinette Brüning, Bd. 3, S. 2087 und Brüning, Memoiren, S. 479. 33 So der Staatssekretär in der Reichskanzlei am 9.12.1931. Dazu gehörte auch die Einsetzung Dr. Goerdelers als "Reichskommissar für Preisfragen", eine Aufgabe, die er erst nach der "persönlichen Einwirkung" des Reichspräsidenten übemaIun (Pünders Vermerk vom 7.12.1931); beides in BA (Koblenz): NL 005 (Pünder) / 000143. 34 Abgedr. in der Morgenausgabe der Kölnischen Volkszeitung vom 9.12.1931. 35 Verbreitet über W.T.B. am 9.12.1931, BA (Koblenz): R 431/2375, föl. 755 ff. 36 Pünder, Die vierte Notverordnung, in: Juristische Wochenschrift 1931, S. 3617 ff. (Ausgabe 19. / 26.12.1931). 3? Um die Konzeption der Notverordnung an einem Beispiel zu erläutern, wies Staatssekretär Pünder darauf hin, daß die Regierung bewußt von "populär erscheinenden MaßnaIunen (Bahnsteigkarten, Personentarife) abgesehen", dafür aber Nachdruck auf die billige Beförderung von Grundstoffen gelegt habe. AaO, S. 3618. Zum ganzen auch Pünder in seinen Lebenserinnerungen: Von Preußen nach Europa, S. 105.

2. Die Reichsfluchtsteuer-Verordnung

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2. Die Reichsfluchtsteuer-Verordnung a) Probleme der Kapital- und Steuerflucht Die überaus hohen Belastungen, die sich aus der Notverordnung für die Wirtschaft und alle Lohnempfanger ergaben, wurden sofort aufs heftigste kritisiert und der mit ihnen angestrebte Erfolg in Frage gestellt. Doch die "zur Sicherung der Haushalte" auferlegte Reichsfluchtsteuer erfuhr nahezu keine Kritik. Neben der alle treffenden drastisch erhöhten Umsatzsteuer blieb sie ohne sonderliches Gewicht. Im Gegenteil: Die Kapitalflucht aus Deutschland und das daraus folgende geminderte Steueraufkommen wurden schon immer vielstimmig beklagt 38. Die hohe deutsche Einkommensbesteuerung und Kürzung der Aufsichtsratstantiemen, die nach Ansicht des Reichsverbandes der Deutschen Industrie nicht mehr den Charakter einer Besteuerung, sondern "bereits (den) einer Einkommenskonfiskation" trugen 39, förderten sicher die Neigung, deutsches Kapital ins Ausland zu transferieren. Eine sehr viel größere, zugleich aber auch schwerer zu fassende Summe 40 machten dagegen die Gelder aus, die zur Begleichung von Importen an solche Gläubiger ins Ausland gezahlt wurden, die in Wahrheit lediglich Ableger oder Holdinggesellschaften deutscher Firmen waren. Solche Gelder konnten dann als ausländisches Leihkapital wieder nach Deutschland überstellt werden 41 • Pläne und Anträge zur Bekämpfung der Steuer- und Kapitalflucht wurden auch im Reichstag wiederholt eingebracht. Den vor dem Erlaß der Reichsfluchtsteuer letzten Anlauf unternahmen Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei, die am 16. Oktober 1931 dem schon fast in Auflösung begriffenen Reichstag einen neuen Gesetzesvorschlag unterbreiteten 42 •

38 Im August 1930 erhielt der Reichspräsident ein Telegramm aus Bem, in dem gemeldet wurde: Schweizer Bankkreise seien über die zunehmende Kapitalflucht aus Deutschland beunruhigt und forderten ,,methodische Beruhigungsversuche" , was Hindenburg mit der Frage: "Kann denn das außerdem nicht gesetzlich verboten werden?" an den RFM weiter leitete. BA (Koblenz): R 2/20383. 39 So der Reichsverband der Deutschen Industrie am 13.3.1931 in einem Brief an die Abgeordneten des Reichstags, nachdem die Einkommensteuer bei Einkommen über 20.000 RM von 5 auf 10 % erhöht worden war. BA (Koblenz): R 43 1/2401, fol. 29 f. 40 Mindir. Zarden gab in der Kabinettssitzung vom 19.9. 1931 keine Zahlen an, sondern berichtete nur von den Schwierigkeiten, die der genauen Erfassung entgegenstehen. Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1712. Dietmar Keese schätzt die Kapitalflucht auf 1,5-2 Mrd. RM: Die volkswirtschaftlichen Gesamtgrößen, S.74. Zum ganzen James, Deutschland in der Weltwirtschaftskrise, S. 289 f. 41 Bericht des Präsidenten des Landesfinanzamtes Darmstadt vom 18.12.1930, BA (Koblenz): R 2/ 5976. Als meist benutzte Steuerfluchtländer (Feststellung des Steueraußendienstes am 20. 11. 1931, BA (Koblenz): R 2/5976) galten die Niederlande und die Schweiz. Zu den Schweizer Verhältnissen die Schilderung bei James, aaO., S. 291. 42 Verhandlungen des Reichstags Bd. 446, S. 2177.

2 Mußgnug

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I. Die Reichsfluchtsteuer 1931-1932

Am 11. Juli 1931 wurde in einer Kanzlerbesprechung dringend die Einführung einer Devisen- und Kapitalfluchtverordnung verlangt und das schon um englischen und amerikanischen Stimmen Einhalt zu gebieten 43, die behaupteten, die Mehrzahl der Devisen stammten aus deutscher Kapitalflucht 44 • Die während der Bankenkrise erlassene Verordnung des Reichspräsidenten vom 15. Juli 1931 und die drei Tage später ergangene Kapitalfluchtverordnung legten die Grundlage für eine planmäßige Devisenbewirtschaftung 45 • Seitdem gehörte die Forderung: "Die Fehlleitung von Kapital ist gesetzgeberisch zu verhindem"46 zum festen Bestandteil des Wirtschaftsprogramms des RFM. Der Reichsbankpräsident Luther besprach mit BfÜning am 14. November 1931 47 die Devisenlage und forderte "tiefe Eingriffe". Die sollten eine "Schreckwirkung" auf alle ausüben, die die Devisenbestimmungen umgingen, zugleich aber auch dem Ausland zeigen, daß Deutschland sein "Äußerstes" tue 48 • Der Reichsbankpräsident ging jedoch noch weiter und empfahl dem Reichskanzler darüber hinaus, ,,mit schärfsten Maßnahmen ... gegen alle diejenigen vorzugehen, die jetzt das Vaterland verlassen". Rückwirkend zum 12. Juli 49 sollten nur die eine Aussiedlungsgenehmigung erhalten, die einen "Abschoss" entrichtet, d. h. dem Reich "einen großen Teil" ihres deutschen Vermögens überlassen hätten. Wer ohne Genehmigung und ohne solche Zahlung auswandere, sollte nach Luthers Ansicht die Staatsangehörigkeit verlieren. Schwere Strafen seien einem Kapitalflüchtigen für den Fall anzudrohen, daß er, ohne seine entstandene Schuld zu begleichen, nach Deutschland zurückkehre. Solche "Vaterlandsflüchtlinge" betrachtete er als ,,Fahnenflüchtlinge". Wer von ihnen Eigentum erwerbe, solle so behandelt werden, als erwerbe er gestohlenes Gut. Nach dem Gespräch hielt Luther in seinem "Tagesbericht" fest, der Kanzler sei "mit der Hauptlinie durchaus einverstanden" gewesen. Zur selben Zeit stellte die Ministerialbürokratie 50 bereits "vertraulich zu behandelnde Vorüberlegungen" zu einer Notverordnung an. Denn - die später in der offiziellen 43 "Wenn wir dem Ausland zeigen, daß wir versuchen, den Devisenmarkt in die Hand zu bekommen, so wird das Eindruck machen". Institut für Zeitgeschichte, München (IfZ): ED 93, Tagebuch Hans Schäffer, Bd. 11, S. 350 (zitiert nach der maschinenschriftlichen Übertragung). 44 Insbesondere der Direktor der Federal Reserve Bank of New York George Harrison kritisierte die deutsche Regierung. Sie dulde die Kapitalflucht und sei deshalb für die Devisenverluste selbst verantwortlich. James, aaO. S. 286. 45 Darstellung der detaillierten Bestimmungen und zahlreichen Folgeverordnungen bei Lion; Hartenstein, Steuer- und Devisen-Notrecht, S. 364 f. 46 Schäffers Tagebucheintrag vom 1.9.1931, Itz: ED 93, Bd. 14, S. 740. 47 Tagesbericht vom 14.11. 1931, BA (Koblenz): NL 9 (Luther) / 366, fol. 263, abgedr. in: Politik und Wirtschaft in der Krise Bd. 4/11, S. 1096 f. 48 In diesem Sinn sollte schon die Notverordnung vom 17.11.1931 (RGBl. I, S. 679) wirken, die die Devisenbewirtschaftung neu regelte und (in Art. 2) Schnellgerichte gegen Devisenvergehen einrichtete. 49 Am 12.7. hatte die Danatbank ihre Zahlungen eingestellt. 50 Luther berichtet selbst von Gesprächen, die er diesbezüglich mit Mindir. Zarden aus dem RFM geführt habe.

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Verlautbarung gebrauchte Fonnulierung taucht bereits hier in den Vorentwürfen auf51- "in der letzten Zeit mehren sich die Fälle, in denen wohlhabende Steuerpflichtige ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen", womit im allgemeinen ihre unbeschränkte Steuerpflicht gegenüber Deutschland erlösche. Es erscheine nun erforderlich, "die steuerliche Erfassung des Einkommens und Vennögens solcher Personen durch geeignete Vorschriften sicherzustellen". Der Direktor des Landesfinanzamts Berlin meldete am 21. November 1931, nach dem 11. Juli 1931 hätten in seinem Bezirk 251 Steuerpflichtige ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt, deren Vennögen insgesamt 55.748.600 RM betragen habe 52. Der Berliner Bericht konnte zwar nicht verallgemeinert werden. Doch er führte vor Augen, welches Ausmaß die "Steuerflucht" annehmen konnte und daß sie unterbunden werden mußte. Arbeitsminister Stegerwald schrieb dem RFM unter dem 21. Novem~r 1931: "Ich halte es ... für sozial völlig unerträglich, daß man Arbeitnehmern notgedrungen immer neue Lohnkürzungen und sonstige Einschränkungen ihrer sozialen Ansprüche zumutet, ohne gleichzeitig alle Hebel in Bewegung zu setzen, um der Steuerflucht einen Riegel vorzuschieben". Seines Erachtens müsse eine Neuregelung schon in der nächsten Notverordnung getroffen werden 53. Auf Antrag der SPD-Fraktion 54 hatte der Reichstag am 16. Oktober 1931 die Reichsregierung ersucht darauf hinzuwirken 55, die unbeschränkte, d. h. volle deutsche Steuerpflicht bei Einkommen- und Vennögensteuer erst 2 Jahre nach dem Zeitpunkt der Auswanderung enden zu lassen. Doch in den sog. "Doppelbesteuerungsabkommen", die mit den Nachbarstaaten bereits geschlossen waren 56 oder kurz vor dem Abschluß standen 57, war gerade dieser Tatbestand ausgeklammert worden. Es blieb nur die Möglichkeit, die Auswanderer zum Zeitpunkt ihrer ,,Abwanderung ins Ausland", d. h. solange sie noch deutsche Staatsbürger waren, zu Steuern heranzuziehen.

b) Die Bestimmungen der Reichsfluchtsteuer Auf Grund dieser Überlegungen führte die Notverordnung vom 8. Dezember 1931 eine ausschließlich dem Reich zufließende Reichsfluchtsteuer ein: Die 51 BA (Koblenz): R 2/20383. 52 Bei 49 Personen habe sich das Vermögen auf 47.104.505 RM belaufen. BA (Koblenz): R 2/20383. 53 Schreiben vom 21.11.1931, BA (Koblenz): R 2/20383. 54 Verhandlungen des Reichstags, 5. Wahlperiode, Bd. 451, Drucksache 1188, ausgegeben am 14.10.1931. 55 16.10.1931, Verhandlungen des Reichstags, 5. Wahlperiode, Bd. 446, S. 2222. 56 Das waren Danzig, Italien, Österreich, Schweden, Tschechoslowakei, Ungarn, Saargebiet, Schweiz. Vgl. dazu Hensel, Steuerrecht, S. 19 f. 57 Mit den eigentlichen Steuerfluchtländern Schweiz und Niederlande waren die Abkommen noch nicht ratifiziert. Schreiben des Steueraußendienstes vom 20. 11. 1931, BA (Koblenz): R 2/5976. 2*

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J. Die Reichsfluchtsteuer 1931 -1932

deutschen Staatsbürger, die zwischen dem 31. März 1931 und vor dem 1. Januar 1933 ihren inländischen Wohnsitz bereits aufgegeben hatten oder künftig aufgeben würden, mußten ein Viertel ihres gesamten steuerpflichtigen Vermögens entrichten (§§ 1 und 3). Von dieser Verpflichtung blieben ausgenommen: 1. Auslandsbeamte, 2. wer erst nach dem 31. Dezember 1927 seinen Wohnsitz in Deutschland begründet hatte, 3. Personen, deren ausländischer Wohnsitz im deutschen oder volkswirtschaftlichen Interesse lag, 4. wer weder am 1. 1. 1928 noch am 1. 1. 1931 ein steuerpflichtiges Vermögen von 200.000 RM noch ein Einkommen von mehr als 20.000 RM bezog (§ 2). Die Steuer war, auch im rückwirkenden Fall, ohne weitere Aufforderung aufzubringen, es sei denn, der Steuerpflichtige begründete innerhalb von zwei Monaten wiederum einen Wohnsitz im Inland. Er mußte dafür dann aber Sicherheiten leisten, die wie ein Steuerbescheid sofort vollstreckbar waren (§§ 5 und 7). Wer der Steuerpflicht nicht nachkam, dem drohte eine Gefängnisstrafe nicht unter drei Monaten, Vermögensbeschlagnahme und Geldstrafe in unbeschränkter Höhe. Dazu traf ihn der Erlaß und die Publikation eines Steuersteckbriefes, aus dem Name, Adresse, Höhe der geschuldeten Steuer hervorgehen sollte, verbunden mit der Aufforderung, den im Inland angetroffenen gesuchten Steuerpflichtigen sofort festzunehmen (§§ 9 und 11). An der schon von Reichsbankpräsident Luther vorgeschlagenen rückwirkenden Geltung der Reichsfluchtsteuer hielten alle, die an den Beratungen beteiligt waren, fest. Die vor und nach der Bankenkrise abgezogenen Gelder sollten durch diese Steuer unbedingt erfaßt werden. Zugleich bestand im Ministerium Einigkeit darüber, daß die Auswanderersteuer nur für eine begrenzte Zeit, zunächst bis zum 31. Dezember 1932 erhoben werden sollte. Die Unnachgiebigkeit, mit der vermögende Auswanderer erfaßt und der "Steuerflucht" nachgegangen werden sollte, zeigte sich bereits in der Namengebung: Zunächst als Auswanderer-, dann als Emigrantensteuer bezeichnet, erhielt sie schließlich in den bereits vorliegenden Druckfahnen die psychologisch verschärfend und diskriminierend wirkende Benennung als Reichsfluchtsteuer 58 • Die Bemessungsgrundlage und die Steuerhöhe festzusetzen, war eine politische Entscheidung, denn damit war die Frage zu beantworten, ob mit der neu einzuführenden Auswanderersteuer größerer Wert auf eine abschreckende Wirkung oder auf einen hohen Steuerertrag und die Durchsetzbarkeit der Steuerforderung gelegt werden sollte. Dabei mußte "weiter möglichst vermieden werden, daß fremdes Kapital abgeschreckt wird, sich bei uns anzulegen", wie Staatssekretär Schäffer am 3. Dezember 1931 notierte 59. Zunächst dachte man daran, als Reichsfluchtsteuer den doppelten Jahresbetrag der Vermögensteuer oder den anderthalbfachen Jahresbetrag der Einkommensteuer zu erheben 60. In der Endfassung sollte die 58 59

Korrektur vom 7. / 8. 12. 1931, BA (Koblenz): R 2/20383. Tagebuch, Jtz: ED 93, Bd. 16, S. 1115.

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Notverordnung abschrecke'nd wirken: Sie forderte ein Viertel des deutschen steuerpflichtigen Vermögens und setzte empfindliche Strafen fest. Da die zuständigen Finanzämter kaum rechtzeitig von der bevorstehenden Auswanderung Kenntnis erhalten würden, erschien es fraglich, ob "trotz der angedrohten Nachteile" die Steuer "jemals zur Erhebung kommen" werde 61 • Die meisten Abteilungsleiter des RFM plädierten dafür, den Steueraußendienst mit seinem Kontrollapparat einzuschalten und durch ihn Personen, die auswandern wollen, vor allem aber Ausgewanderte, "die vorübergehend Aufenthalt im Inland nehmen", zu überwachen 62. Gegebenenfalls müsse "unter Zuziehung von Vertrauenspersonen Material zu vorbeugenden Maßnahmen" gesammelt werden 63 • Um die Steuer VOn allen Abgabepflichtigen erheben zu können, wurde vorgeschlagen, die Finanzämter rechtzeitig in das Paßverfahren einzuschalten und zwar in der Weise, daß die Auswandernden eine steuerliche Unbedenklichkeitserklärung vorzulegen hätten 64. Doch dagegen sprach, daß sich derartige Versuche schon 1918/19 nicht bewährt hatten, obgleich damals durch "Visumzwang und Währungsverhältnisse" noch eine "scharfe Absperrung" gegenüber dem Ausland bestanden habe 65 • Der Verwaltungs aufwand einer solchen Kontrolle sei unverhältnismäßig groß und der "wirtschaftlich erwünschte" Verkehr mit dem Ausland werde bei diesen Restriktionen unerträglich behindert. "Solche Maßnahmen", meinte eine andere Abteilung des RFM, ,,kann man nur in Kriegszeiten treffen"66. Zudem hatte man in Deutschland gerade vor wenigen Monaten unliebsame Erfahrungen mit der Erhebung von Ausreisegebühren gemacht: Die Notverordnung des Reichspräsidenten vom 18. Juli 1931 über die Erhebung einer Gebühr für Auslandsreisen 67 war in der Ministerbesprechung vom 17. Juli 1931 68 auf Vorschlag des RFM eingebracht worden: Mit wenigen Ausnahmen sollte von allen Auslandsreisenden bei Strafe von 1.000 RM oder Gefängnis eine. Gebühr von 100 RM erhoben, der zuständigen Paß stelle entrichtet und im Paß vermerkt werden. Tags darauf protestierten Mitglieder der Kabinettsrunde vergeblich: Der RFM und Vizekanzler wollte während Brünings Abwesenheit 69 an der mit Brünings ausdrücklicher Zustimmung ergangenen Verordnung nichts ändern 70. Drei Entwurf des Mindir. Zarden (RFM) vom 14.11. 1931, BA (Kob1enz): R 2/20383. Referent Paasche (RFM) Berlin, 20.11.1931, BA (Kob1enz): R 2/20383. 62 So der Vorschlag des Mindir. Zarden (RFM) vom 14. 11. 1931, BA (Kob1enz): R2/ 20383. 63 Referent Groth (RFM), Berlin 21. 11. 1931, BA (Kob1enz): R 2/20383. 64 Referent Paasche, 20. 11. 1931, BA (Kob1enz): R 2/ 20383. 65 Mindir. Zarden, BA (Kob1enz): R 2/20383. 66 Referent Weltzien (RFM), Berlin 19.11.1931, BA (Kob1enz): R 2/20383. 67 RGBl. I, S. 376. 68 Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1377. Vorberatungen am 15. und 17.7. in: Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1361, 1374 Anm. 9. 69 Der Reichskanzler reiste nach Paris und London. 70 Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1384. 60 61

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Tage später 71 legte das AA der Reichskanzlei Proteste des Auslands vor. Aber auch der Staatssekretär im Büro des Reichspräsidenten Otto Meissner widersetzte sich den Plänen, die Notverordnung sofort wieder zu kassieren. "Aus Gründen der Staatsautorität" könne sie "zur Zeit" vom Reichspräsidenten nicht aufgehoben werden. Im Reichskabinett einigte man sich schließlich auf eine Durchführungsverordnung 72, die den Ausnahmekatalog erweiterte. Der internationale Protest ging jedoch weiter 73, so daß der RFM selbst am 22. August 1931 beantragte, die umstrittene Notverordnung aufzuheben 74. Die angedrohten Strafen waren schon früher bei Steuervergehen hoch gewesen. Die Notverordnung gegen die Kapital- und Steuerflucht vom 18. Juli 1931 75 sah in besonders schweren Fällen eine Zuchthaus strafe bis zu 10 Jahren vor 76 • Zugleich eröffnete sie allerdings den Steuerpflichtigen die Möglichkeit, wieder "steuerehrlich" zu werden, hieß es im dazu ergangenen Erlaß des RFM77, und bislang nicht gemeldetes Vermögen oder Einkommen ohne Nachzahlungspflicht anzugeben. Weitere Steueramnestieverordnungen 78 verlängerten die Meldefristen bis zum 26. Oktober 1931. Über diesen Stichtag hinaus war niemand bereit, weitere Vergünstigungen zu gewähren. Schon in der Kabinettssitzung vom 19. September 1931 führte der Reichskanzler aus 79: Wer die Wege der Steueramnestie nicht gehe, dem müsse eine Verschärfung der Strafen angedroht werden "und zwar so, daß in jedem Falle eine Freiheitsstrafe einsetzt". Reichsbankpräsident Luther und Reichswehrminister Groener plädierten für die Einsetzung von Sondergerichten "mit rascher Berufungsinstanz". Auch der Reichspräsident habe den Wunsch geäußert, "solche Sondergerichte zu sehen, insbesondere auch in Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1405. Veröffentlicht im ROBl. I, S. 389. 73 Insbesondere die Schweiz drohte mit Repressalien, erörtert in der Sitzung des Reichskabinetts vom 30.7.1931, Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1466 mit Anm. 14. 74 Verordnung vom 22.8.1931, ROBl. I, S. 449. 75 § 5 Abs. 4; § 6 Abs. 4 ebenso § 7 Abs. 3, ROBl. I, S. 374, 375. 76 In der Kabinettssitzung vom 18.7.1931 setzte sich der RJM mit seinen Bedenken gegen "diese ganz aus dem Rahmen sonst üblicher Strafmaße" herausfallende Strafe nicht durch. Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1386. 77 ,,Es würde dem Zweck der Steueramnestie widersprechen, wenn die Steuerbehörde, bei der der Steuerpflichtige seine Anzeige erstattet, diesem mit Mißtrauen begegnet und dem Pflichtigen die Anzeige durch unnötige Nachforschungen erschwert", empfahl der RFM weiter. Erlaß vom 24.8.1931, Reichssteuerblatt (RStBl.) 1931, S. 599. 78 Am 23.8.1931,19.9.1931 und 17.10.1931 als Verordnungen des Reichspräsidenten erlassen (ROBl. 1449 f., 503 f., 581). Die 2. Steueramnestie vom 19.9.1931 wurde z. T. mit einer Verpflichtung verbunden, steuerfreie Reichsbahnanleihen zu zeichnen (2. Abschnitt § 2), die dazu verwendet werden sollten, ,,Arbeits aufträge zusätzlicher Art" zu vergeben. Der Oberregierungsrat im RFM Kurt Zülow wies darauf hin (Steuerarchiv 1931, S. 297 f.), daß erhebliche volkswirtschaftliche Interessen an dieser Anleihe und der damit verbundene Einsatz des bisher brach liegenden Kapitals die Vergünstigung der Steueramnestie rechtfertige. Brüning beklagt in seinen Memoiren (S. 390, 485 f.) den geringen Erfolg dieses Angebots. 79 Zitiert nach Schäffer, Tagebuch, HZ: ED 93, Bd. 14, S. 802 ff. 71

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den Fragen der Terrorakte, Eisenbahnattentate, Straßenkrawallen und in derartigen Steuerhinterziehungen und der Nichtabgabe von Devisen"80. Die "Kapitalflüchtlinge" streng zu bestrafen, fand allgemeine Zustimmung. Reichsbankpräsident Luther empfahl, den Referentenentwurf "grundsätzlich" zu verschärfen 81 . Gegen die "Methoden" meldete der RJM Joel jedoch in der Kabinettssitzung vorn 5. Dezember 1931 Bedenken an 82 : Der Erlaß von Steuersteckbriefen wäre eine völlig neue Einrichtung. Seiner Auffassung nach dürften Richter 83 die Personen, die, ohne zuvor ihre Reichsfluchtsteuer zu begleichen, aus dem Ausland nach Deutschland zurückkehrten, nicht sofort als Fluchtverdächtige festnehmen, sondern lediglich dann, wenn "dringender Fluchtverdacht" bestehe 84. Staatssekretär Zweigert machte in der Kabinettssitzung darauf aufmerksam, daß im März ganz ähnliche Strafbestimmungen im Zuge der Notverordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen erlassen worden seien 85. Die endgültige Fassung der Reichsfluchtsteuer-Verordnung hielt am Steuersteckbrief fest. Die "im Inland betroffenen" steuersteckbrieflich Gesuchten sollten jedoch nur "vorläufig" festgenommen 86, unverzüglich dem Amtsrichter vorgeführt (§ 11 Abs. 2) und u. U. in Haft oder Polizeihaft genommen werden (§ 11 Abs. 3). Ausnahmen waren ausdrücklich ausgeschlossen. 80 Das fand seinen Niederschlag in der amtlichen Verlautbarung des selben Tages (19.9.1931) zu den Verordnungen des Reichspräsidenten über Bankenaufsicht und Aktienreform (abgedr. in: Kabinette Brüning, Bd. 2, S. 1711 Anm. I): ,,Es ist in der letzten Zeit eine so weitgehende Mißachtung der Gesetze und ein so erschreckender Mangel an gesundem Gemeinschaftsgefühl und staatsbürgerlicher Gesinnung hervorgetreten, daß durchgreifende Abwehrmaßnahmen unerläßlich sind". Die Reichsregierung wolle deshalb dem Reichspräsidenten die Errichtung von Sondergerichten vorschlagen, die "in einem auf das äußerste beschleunigten Verfahren zur Aburteilung von gröblichen Terrorakten und Gewalttätigkeit sowie in schweren Fällen verbrecherischer geschäftlicher Mißwirtschaft oder Steuer- und Devisenhinterziehung (zu) berufen seien". 81 Tagesbericht vom 26. 11. 1931, BA (Koblenz): NL 9 (Luther) / 367, fo1. 41; gedr. in: Politik und Wirtschaft in der Krise Bd. 4/11, S. 1115. 82 Kabinette Brüning, Bd. 3, S. 2061. Vg1. die Kabinettsdiskussion um die Aufhebung des Postgeheimnisses am 18.7.1931, aaO Bd. 2, S. 1387. Mindir. Zarden berichtete, die ,,Auswanderungssteuer" sei durch den RJM in einem Punkt abgeschwächt worden. Er selbst habe sich mehrfach gegenüber Widersprüchen auf Luther bezogen. So nach Luthers Tagesbericht vom 5.12.1931, BA (Koblenz): NL 9 (Luther) / 367, fo1. 87. 83 In einem Vorentwurf war sogar ,jedermann" das Recht eingeräumt, einen Ausgewanderten, der seine Steuern nicht bezahlt hatte, bei seiner Rückkehr ins Inland festzunehmen. Eintrag vom 3.12.1931 im Tagebuch Schäffer, HZ: ED 93, Bd. 16, S. 1115. 84 Eintrag vom 5.12.1931 im Tagebuch Schäffer, IfZ: ED 93, Bd. 16, S. 1141. 85 § 14 Abs. 1, ROB1. I, S. 79 f. 86 ,,Jeder Beamte des Polizei- und Sicherheitsdienstes, des Steueraußendienstes sowie alle sonstigen Beamten der Reichsfinanzverwaltung (sollen) zum Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bestellt" und verpflichtet sein, den steckbrieflich gesuchten Steuerpflichtigen vorläufig festzunehmen. Damit seien "sämtliche Beamte des Grenzaufsichtsdienstes zur Festnahme verpflichtet". So der am 8.12. abgezeichnete Vorschlag, nahezu wörtlich aufgenommen in § 11 Abs. 1 der Reichsfluchtsteuer Verordnung, BA (Koblenz): R 2/20383.

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3. Der Gebrauch des Art. 48 Abs. 2 RV Die Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer ergingen als Verordnung des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung 87 • In wie vielen Einzelschritten das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten während Brünings Regierungszeit erweitert wurde, spiegeln die in den Kabinettssitzungen vorgelegten Gutachten zu Art. 48 Abs. 2 RV wider. Die Notverordnungen ersetzten selbst förmliche, d. h. in einem parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren verabschiedete Gesetze, wie sie im Bereich des Strafrechts, des Haushaltsrechts, bei Grundrechtsbeschränkungen, dem Eingriff in "hergebrachte" Grundsätze des Beamtenrechts als erforderlich galten. Auch die Staatsrechtslehrer faßten in ihren theoretischen Überlegungen die Verordnungskompetenz des Reichspräsidenten immer weiter 88 • Da einem "mehrheits- und handlungsfähigen" Reichstag nach Art. 48 Abs. 3 RV das Recht zustehe, die ergangenen Notverordnungen außer Kraft zu setzen, könne er sich, so earl Schmitt 193189, als maßgebender Faktor der staatlichen Willens bildung durchsetzen. "Ist das Parlament dazu nicht imstande, so hat es nicht das Recht zu verlangen, daß auch alle anderen verantwortlichen Stellen handlungsunfähig werden". Wenige Monate später übernahm Gerhard Anschütz diese These 90: Angesichts der Sach- und Rechtslage sei die Wissenschaft verpflichtet anzuerkennen, daß Art. 48 Abs.2 RV weit auszulegen sei. Der Reichspräsident als der verfassungsmäßige Diktator müsse, solange der ordentliche Gesetzgeber "zur Ausübung seiner Funktion unfähig ist", dessen Funktionen "in die Hand nehmen"91. Aus der Sicht des Politikers nahm sich das dann so aus: "Mit diesem Reichstag ist eben nur so zu arbeiten, daß die Regierung mit Art. 48 arbeitet, dann die verfassungsmäßige Debatte über die Aufhebungsmöglichkeit stattfindet und nach deren Erledigung das hohe Haus wieder verschwinden muß" 92. Im Oktober 1931 gestand Breitscheid vor dem Reichstag ein, es sei die "politische Not, die zu den Notverordnungen und ihrem System führt und führen mußte"93. Auch der Reichspräsident verteidigte seine Notverordnungspraxis während Brünings Regierungszeit: Er wisse, daß er sich durch den Erlaß zahlreicher 87 Während Brünings Regierungszeit ergingen 1930: 6, 1931: 43, 1932: 19 Notverordnungen und 1930: 29, 1931: 19, 1932: 2 im Teil I RGBl. veröffentlichte Gesetze. 88 Dazu Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 687 ff., 695 ff.; nach wie vor grundlegend Anschütz, Verfassung, S. 282 ff. 89 Der Hüter der Verfassung, S. 131. 90 Anschütz, Reichskredite und Diktatur, S. 22. 91 AaO, S. 12, 14. Einer der wenigen, die damals das Notverordnungsrecht enger faßten, war Heckel, Diktatur, Notverordnungsrecht, Verfassungsnotstand, S. 257 ff. 92 Aufzeichnung unter dem 14.12.1930 bei Pünder, Politik in der Reichskanzlei. S. 81. 93 Während der Debatte um die Vertagung des Reichstags am 14.10.1931, Stenogr. Berichte Bd. 446, S. 2081.

3. Der Gebrauch des Art. 48 Abs. 2 RV

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Notverordnungen der persönlichen Kritik ausgesetzt habe. "Da aber der Reichstag völlig versagte ... , mußte ich einspringen"94. Doch nicht nur Theoretiker und Politiker trugen den Tagesereignissen Rechnung. Die obersten Gerichtshöfe entschieden mehrfach über die Verfassungsmäßigkeit ergangener Notverordnungen. Im Januar 1931 95 wies der Reichsfinanzhof (RFH) die Klage eines Beamten ab, der sich weigerte, die nach der Notverordnung vom 26. Juli 1930 fällige Reichshilfe zu zahlen. Das Gericht mußte über die Verfassungsmäßigkeit dieser Notverordnung befinden, denn sie regelte im wesentlichen die gleichen Tatbestände wie ihre Vorgängerin (Notverordnung vom 16. Juli 1930), die auf Verlangen des Reichstags außer Kraft gesetzt worden war. Der RFH kam zu dem Schluß: "Nachdem der Reichstag aufgelöst worden war, konnte es, wenn das Notverordnungsrecht überhaupt einen Sinn haben soll, dem Reichspräsidenten nicht verwehrt sein, eine neue Notverordnung, die wiederum die Reichshilfe enthielt, zu erlassen". Kurz bevor die Beratungen zur Notverordnung vom 8. Dezember 1931 begannen, bestätigte auch der Staatsgerichtshof den umfassenden Charakter des Notverordnungsrechts und entschied im selben Sinn: Der Reichstag könne nicht bis zu seinem Wiederzusammentritt die "sog. Diktaturgewalt des Reichspräsidenten gerade für die Zeit (lahmlegen), in der das gesetzgebende Organ - der Reichstag - nicht vorhanden und der Notstand des Reiches nach der offenbaren Anschauung des Reichspräsidenten besonders groß ist"96. Auf solch höchstrichterliche Rechtsprechung gestützt, konnte Brüning sein umfassendes Wirtschaftsprogramm als Notverordnung vorlegen. Auch über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsfluchtsteuer kam es zu einem Verfahren vor dem RFH. Am 15. Dezember 1932 entschied er 97 : Die Reichsfluchtsteuer widerspreche weder dem Gleichheitssatz (Art. 110 Abs.2 RV)98 noch dem Auswanderungsrecht (Art. 112 Abs. 1 RV) aller Deutschen. Die ,,Reichsfluchtsteuer nimmt keinem Deutschen das Recht auszuwandern". An die 94 Hindenburg erklärte weiter: "lch habe hierbei nach dem guten alten Grundsatz der preußischen Felddienstordnung gehandelt, der besagt, daß ein Fehlgriff in der W abl der Mittel nicht so schlimm ist, als das Unterlassen jeglichen Handeins". Persönliche Darlegung des Herrn Reichspräsidenten über die Vorgänge und Vorgeschichte seiner Wiederkandidatur, Berlin 25.2.1932, abgedr. bei Hubatsch, Hindenburg und der Staat, S. 315 f. 95 Urteil vom 15.1.1931, RStBl. 1931, S. 137 f. Der RFH prüfte nicht die Beurteilung der Lage (Störung von Sicherheit und Ordnung), sondern stellte sie als eine politische Einschätzung in die alleinige Verantwortung des Reichspräsidenten und der Reichsregierung. Ebenso zwei am 6. 10. 1931 ergangene Urteile des Reichsgerichts in Strafsachen, RStBl. 1931, S. 789 f. 96 Der Staatsgerichtshof dehnte in seinem Urteil vom 5.12.1931 die Zuständigkeit des Reichspräsidenten weit aus: sie sei "eine selbständige, unmittelbare" Diktaturgewalt, die ,,nicht der Ableitung aus sonstigen Zuständigkeitsvorschriften der Reichsverfassung (bedarf)", RStBl. 1932, S. 207. 97 Urteil vom 15.12.1932, RStBl. 1933, S. 92 f. 98 Die Festlegung der für die Steuerpflicht entscheidenden Einkommens- und Vermögensgrenzen und die sich daraus ergebende Härte für jene Personen, die die Grenze nur um ein Geringes überschreiten, sei "ein alltägliches Vorkommnis im Steuerrecht".

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I. Die Reichsfluchtsteuer 1931- 1932

,,Aufgabe des inländischen Wohnsitzes" werde lediglich eine Steuer geknüpft. Das Abwandern werde auch nicht mit einer Strafe belegt. Hier handle es sich vielmehr "um ein Steuergesetz, das zwar auch Strafbestimmungen enthält, dessen Schwerpunkt aber auf steuerlichem Gebiet liegt".

4. Die Durchführung der ReichsOuchtsteuer-Verordnung Die Reichsfluchtsteuer wurde wie eine Vermögensteuer ohne förmlichen Steuerbescheid sofort, d. h. mit dem Zeitpunkt der Ausreise fällig (§ 5 Abs. 3 Reichsfluchtsteuer-Verordnung) 99. Die vor dem Erlaß der Notverordnung Ausgewanderten mußten ihre rückwirkend fällige Steuer innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten der Besteuerungsvorschriften (10. Dezember 1931) 100 begleichen (§ 5 Abs. 1 Nr. 1). Bei verspäteter Zahlung wurde ein 5 % Zuschlag für jeden angebrochenen halben Monat fällig (§ 6). Damit "sofort nach dem Inkrafttreten der Verordnung mit ihrer Durchführung" begonnen werden könne 101, hatte das RFM bereits am 30. November 1931 eine Durchführungsverordnung entworfen. Sie wurde unter dem Datum des 9. Dezember 1931 gedruckt und mit dem Vermerk "unverkäuflich" (das bedeutete: nicht zur Verbreitung außerhalb des Adressatenkreises freigegeben) an die Präsidenten der Landesfinanzämter weitergeleitet. Zur Erläuterung gab das RFM bekannt: "Dem Wesen der Auswanderersteuer entsprach es, den Finanzämtern einen sofortigen Zugriff auf vorhandene Vermögenswerte eines Steuerpflichtigen zu ermöglichen". Bei allen bereits ausgewanderten Personen werde es "in der Regel geboten" sein, alsbald einen "Arrest"l02 zu erlassen. "Als Arrestgrund ist die Gefährdung des Eingangs der Steuerschuld durch die Abwanderung des Steuerpflichtigen anzusehen". Das Ministerium wies die Finanzämter an, "das polizeiliche Meldematerial ... beschleunigt daraufhin durchzuprüfen, ob und welche der in das Ausland abgemeldeten Personen nach den Besteuerungsgrundlagen der Auswanderersteuer unterliegen". In dem Reichsfluchtsteuer-Bescheid wurde der Steuerpflichtige ausdrücklich darauf hingewiesen, daß durch die Einlegung eines Rechtsmittels "die Wirksamkeit des Steuerbescheids nicht gehemmt, insbesondere die zwangsweise Beitreibung der Steuerschuld nicht aufgehalten" werde. Das 99 Die §§ 1-13 in der Vierten Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens, 7. Teil, Kapitel III, 1. Abschnitt ,,Reichsfluchtsteuer", (ROBl. I, S. 731-735) werden im Folgenden als Reichsfluchtsteuer-Verordnung bezeichnet. S. Anlage 1. 100 § 9 der Durchführungsbestimmungen vom 28.12.1931, in: RStBl. 1932, S. 5. 101 BA (Koblenz): R 2/20383. 102 Im sog. Sicherungsverfahren gewährleisteten die §§ 378-380 der Reichsabgabenordnung die Zahlung der Steuerschuld gegebenenfalls durch persönlichen und dinglichen Arrest und Beschlagnahme (§ 378 der RAO: ein Arrest ist zulässig, "wenn zu besorgen ist, daß sonst die Erzwingung der Leistung vereitelt oder wesentlich erschwert wird"). Vgl. Hensel, Steuerrecht. S. 164 f.

4. Die Durchführung der Reichsfluchtsteuer-Verordnung

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entsprach damals (§ 242 RAD) wie heute den hergebrachten Regeln des Abgabenrechts. Über das Klageverfahren entschied das RFM auf Grund eines beim RFH eingeholten Gutachtens 103: Künftig sollten Finanzamt, Finanzgericht und in letzter Instanz der RFH entscheiden. Zugleich verfügte das RFM "auf mehrfachen Wunsch", daß der Steuersteckbrief nicht nur im Reichsanzeiger, sondern auch im Reichssteuerblatt 104 und "erforderlichenfalls durch W. T. B. veröffentlicht" werden sollte 105. Sofort nach dem Erlaß der Reichsfluchtsteuer kamen Anfragen an das Ministerium 106, wie § 2 Ziff. 3 zu interpretieren sei, nach dem diejenigen von der Steuerpflicht befreit bleiben sollten, die ihren "inländischen" Wohnsitz "in deutschem Interesse" oder aus "volkswirtschaftlich gerechtfertigten Gründen" aufgaben. Das Ministerium wies am 31. Dezember 1931 107 die Präsidenten der Landesfinanzämter an, "nach sorgfaltiger Prüfung des einzelnen Falls" zu entscheiden. Es komme dabei nicht nur darauf an, ob die Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland erforderlich, sondern auch darauf, ob sie "gerade während der Geltungsdauer" der Reichsfluchtsteuer notwendig sei. Persönliche Gründe (z. B. "Gesundheitsrücksichten") wurden ausdrücklich ausgeschlossen. Es werde niemand gehindert, einen Auslandsaufenthalt anzutreten. Wer die Reichsfluchtsteuer vermeiden wolle, müsse lediglich die "unbeschränkte Steuerpflicht im Inland" aufrecht erhalten. Entscheidend bleibe, ob die Verlegung des Wohnsitzes "objektiv in deutschem oder volkswirtschaftlichem Interesse geboten" erscheine 108. Das Ministerium schloß seine interne Anweisung an die Präsidenten der Landesfinanzämter mit dem Hinweis: "Die Reichsregierung wünscht die strenge Durchführung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer. Die Befreiungsvorschrift . . . darf nicht dazu dienen, das Gesetz allgemein zu durchlöchern". Einem Antrag auf Steuerbefreiung mußte eine Bescheinigung von "Berufsverbänden oder der Industrie- und Handelskammer oder der Reichsbank usw." beigefügt werden, aus der hervorging, daß die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes im deutschen Interesse liege oder aus Gründen erfolge, die volkswirtschaftlich gerechtfertigt seien. Dazu mußte das zuständige Finanzamt seine Stellungnahme abgeben 109. Am 6. Januar 1932 empfahl sich die "Reichsstelle für das Auswande12.2.1932, RStBI. 1932, S.184ff. Das RStBI. wurde vom RFM selbst herausgegeben. 105 Runderlaß (Rderl.) des RFM vom 22. 2.1932, RStBI. 1932, S. 183 f. 106 Anfrage aus Hamburg vom 16.12.1931, BA (Koblenz): R 2/20383. 107 BA (Koblenz): R 2/ 20384. 108 Das Ministerium verwies auf frühere Urteile des RFH, die zum ähnlich formulierten § 21 des Gesetzes gegen die Steuerflucht vom 26.7.1918 ergangen waren: Beschlüsse des RFH vom 29.4.1919, 8.6.1920, Entscheidungssammlung Bd. 1, S.46, Bd. 3, S. 87 ff., 91. 109 Dazu wäre noch erforderlich die Vermögensaufstellung für den 1.1.1928 und 1.1.1931, eine Übersicht über Steuerrückstände, eine Äußerung über die gegenwärtigen 103

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I. Die Reichsfluchtsteuer 1931-1932

rungswesen" dem RFM 110, sie sei bereit, in Zweifelsfallen Gutachten zu erstatten und könne dabei auf ihre Erfahrungen aus den Steuerfluchtgesetzen von 1918/ 1919 zurückgreifen 111. Das Ministerium stimmte der Anregung zu 112. In der amtlichen Verlautbarung zur Notverordnung 113 ließ die Reichsregierung verbreiten: "Durch die Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer soll niemand gehindert werden, aus Deutschland auszuwandern und seinen Wohnsitz ins Ausland zu verlegen". Nur die Personen sollten getroffen werden, "die besonders leistungsfähig sind und aus Gründen, die volkwirtschaftlich nicht gerechtfertigt sind, ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen". Nach Ansicht der Reichsregierung ließ sich die hohe Steuersumme von 1/4 des gesamten steuerpflichtigen Vermögens durchaus vertreten, denn die Steuer müsse "fühlbar" sein. Nachdem die Reichsfluchtsteuer etwa ein Vierteljahr lang erhoben worden war, gewannen die Landesfinanzämter den Eindruck, daß etwa ein Viertel der Reichsfluchtsteuerpflichtigen ihren Wohnsitz nach Deutschland zurückverlegten und damit wieder unbegrenzt der deutschen Steuerpflicht unterstanden 114. In Zürich dagegen gründeten Anwälte einen "Schutzverband zur Wahrung der in der Schweiz lebenden Deutschen gegenüber den Bestimmungen der deutschen Notverordnungen, insbesondere der Reichsfluchtsteuer" 115. Alle Hoffnungen, die Brüning mit der umfassenden Notverordnung und der darin enthaltenen Reichsfluchtsteuer verband, brachte er selbst in einer Rundfunkrede zum Ausdruck. Am Abend des 8. Dezember, bevor die Notverordnung tags darauf publiziert werden sollte, erläuterte er seine politische Haltung und warb um Verständnis für seine Politik 116: Man habe ihm den Vorwurf gemacht, daß er "oft zu lange schweige". Doch die Pflicht gewissenhafter Arbeit scheine ihm größer zu sein, als die des Redens. Er sei zuversichtlich, daß sich das deutsche Volk auf die Seite des sachlichen Ernstes stellen werde. "Ich werde nie mit Versprechungen und Illusionen über den wirklichen Zustand unserer Lage hinweg wirtschaftlichen Verhältnisse. So der Präsident des Landesfinanzamts Berlin, 14.12.1931, BA (Koblenz): R 2/20383. 110 BA (Koblenz): R 2/20384. 111 Die Reichsstelle warb damit, daß sie Auswanderer im Bestreben, sich eine bessere wirtschaftliche Existenz zu schaffen, "mit Rat und Aufklärung" unterstützen wolle. Sie sei dabei um ,,neueste ... einwandfreie Unterlagen" bemüht. Ihre Auskünfte erteile sie vollkommen "objektiv". 112 Vermerk vom 13. 1. 1932, BA (Koblenz): R 2/20384. 113 Verbreitet durch W. T.B. am 9.12.1931, BA (Koblenz): R 431/2375, fol. 755. 114 Z. B. der Bericht des Landesfinanzamts Berlin vom 14.4.1932, BA (Koblenz): R 43 I / 2401, fol. 209 f. 115 In einer ersten Versammlung hatten sich etwa 100 Personen eingefunden. Da niemand bereit war, seinen Namen zu nennen, erfolgten alle Beitrittserklärungen schriftlich. Bericht des deutschen Generalkonsuls in Zürich, 30.12.1931, BA (Koblenz): R 2/ 20384. 116 Zitiert nach der Morgenausgabe der Kölnischen Volkszeitung vom 9.12.1931. Zur Abfassung der Rede vgl. Brunings Memoiren, S. 479.

4. Die Durchführung der Reichsfluchtsteuer-Verordnung

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zu täuschen versuchen". Allein der "Mut, eine schlimme Wirklichkeit in ihrer ganzen Härte anzuschauen und sich danach einzurichten", habe Völker zum Wiederaufstieg gebracht. "Die kühle Überlegung, das harte Rechnen mit politischen Möglichkeiten ist nicht ein Mangel an tiefstem Mitempfinden mit den Leiden des Volkes. Es ist vielmehr die schwere Verantwortung, die auf den Regierenden ruht und ihnen verbietet, ihr innerstes Gefühl anders als in der sorgfältigen Unterordnung unter die Pflicht ihres Amtes zu äußern". Über solche Erwägungen gingen die Turbulenzen des folgenden J abres rasch hinweg. Art. 48 RV konnte das verfassungspolitische Dilemma nicht lösen. Es wurde so vielfältig und breit über eine Verfassungsreform diskutiert und die Notwendigkeit einer neuen Verfassung betont, daß der ehemalige Präsident des Reichsgerichts Walter Simons zu Beginn des Jahres 1933 von der "Leichenrede ... zur Feier der Reichsverfassung" sprach, die der Reichsinnenminister gehalten habe 117. Am Prinzip der auf Grund des Art. 48 Abs. 2 RV erlassenen Reichsfluchtsteuer wurde auch nach Brünings Sturz zunächst nichts geändert. Reichskanzler Schleicher verlängerte 118 lediglich die Laufzeit bis zum 31. Dezember 1934. Die Reichsfluchtsteuer galt als "zwar sehr streng, aber nicht ungerecht" 119. Für einige Jahre lasse sie sich durchführen. Der Reparationsexperte C. J. Melchior fügte hinzu: Auf die Reparationsverhandlungen würde es ,,nicht ungünstig" wirken.

117 Simons, Die Stellung des Reichspräsidenten, in: Deutsche Juristenzeitung, Heft 1, 1933, Sp. 22. 118 Die Verlängerung wurde im 4. Teil der Verordnung des Reichspräsidenten über Wirtschaft und Finanzen vom 23.12.1932 ausgesprochen, ROBl. I, S. 572. 119 Urteil von Car1 Joseph Me1chior, Mitinhaber des Bankhauses M. M. Warburg & Co. HZ: ED 93 / Schäffer Tagebuch, Eintrag unter dem 3. 12. 1931, Bd. 16, S. 1115.

11. Die Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933 1. Die geänderten rechtlichen Grundlagen

a) Verschärfungen Die neuen Machthaber übernahmen 1933 zunächst die Erhebungsgrundsätze der Reichsfluchtsteuer und die Art ihrer Beitreibung. Im Laufe der Jahre verschärfte die Reichsregierung die Bestimmungen meist im Gefolge anderer steuerrelevanter Gesetze. Schon sehr bald sammelte das RFM die Argumente, die für eine Änderung der Reichsfluchtsteuer Verordnung sprachen I: Ursprünglich sollte die Reichsfluchtsteuer kapitalkräftige Personen von der Auswanderung abhalten, doch nun seien es vor allem Nichtarier, die trotz der strengen Auflagen auswandern wollten. Diesen "neuen Verhältnissen" müsse Rechnung getragen werden. "Da die Auswanderer im allgemeinen den Wohnsitz in Deutschland nicht aufgeben, um sich der steuerlichen Belastung zu entziehen, sondern nur weil sie glauben, unter den gänzlich veränderten politischen Verhältnissen ihren bisherigen Beruf nicht ausüben zu können", wollten sie z. B. nicht als "steuerflüchtig" bezeichnet werden. Diese Beweggründe seien in der Tat "nicht zu verkennen". Das RFM vertrat die Ansicht: "Wer sich veraniaßt sieht, abzuwandern, soll nicht daran gehindert werden", er müsse aber zu "einer letzten großen Abgabe herangezogen werden". Das Ministerium hielt es für "zweckmäßig", statt Reichsfluchtsteuer "das Wort Abwanderungsabgabe" zu gebrauchen. Zugleich wollte das Ministerium das Steueraufkommen erhöhen und dazu die Steuerfreigrenze auf 50.000 RM senken, denn nur wenige überschritten die bislang gezogene Grenze von 200.000 RM. Da die Abwandernden oftmals die Steuersumme nicht in der geforderten kurzen Zeit aufbringen konnten, war das Ministerium bereit, die Reichsfluchtsteuer bei entsprechender Zinsberechnung zu stunden, wenn dafür in ausreichendem Maß Sicherheiten geleistet worden seien. Das Ministerium klagte vor allem über die "erheblichen Schwierigkeiten", die das Urteil des RFH vom 13. Juli 1933 2 hervorgerufen habe: Danach genügte die Vorlage der polizeilichen Wiederanmeldung in Deutschland, um von der ReichsI

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Zusammenstellung am 17.1.1934, in BA (Potsdam): 21.01 B 7129-S 3600. RStBI. 1933, S. 996.

1. Die geänderten rechtlichen Grundlagen

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fluchtsteuer freigestellt zu werden. Nach Ansicht des Gerichts war es unerheblich, "ob der Steuerpflichtige tatsächlich seinen Wohnsitz ... im Inland genommen" habe. Das Ministerium dagegen meinte, die Steuerpflichtigen blieben in Wirklichkeit im Ausland, suchten ihr Vermögen aus Deutschland herauszuziehen und meldeten sich dann ab. Eine "Ergänzung" der Reichsfluchtsteuer-Verordnung in diesem Punkt lasse sich nicht länger umgehen. Auch die Berliner Industrie- und Handelskammer, die die Steuerbefreiungsanträge zu begutachten hatte, berichtete 3 aus ihren Erfahrungen. Insbesondere Großbanken seien bemüht, ihre nichtarischen Direktoren, unter dem Vorwand ein volkswirtschaftliches Interesse zu wahren, mit der Wahrnehmung der Auslandsgeschäfte zu betrauen. Oft habe man die Anträge anerkennen müssen, da sie "aus dem sachlichen Inhalt heraus gerechtfertigt" waren und sich der Verdacht, daß es sich bei den "Betätigungsplänen um Tarnung zwecks Erschleichung der Reichsfluchtsteuer-Befreiung" handle, nicht nachweisen ließ. Das "Gesetz über die Änderungen der Vorschriften der Reichsfluchtsteuer" vom 18. Mai 1934 4 griff die Vorschläge größtenteils auf: Die Freigrenzen, bis zu denen keine Reichsfluchtsteuer zu zahlen war, wurden drastisch auf 50.000 RM - zuvor 200.000 RM - herabgesetzt. Abfindungen aus einer Gütergemeinschaft über 10.000 RM, die bislang steuerfreien 5 Reichsbahnanleihen und Aktien waren jetzt bei der Berechnung des Gesamtvermögens einzubeziehen. Eine Rückkehr nach Deutschland entband künftig nicht mehr von der Reichsfluchtsteuerzahlung. Die verlangten Sicherheitsleistungen lagen weitgehend im Ermessen der Finanzämter. Gleichzeitig kündigte das Ministerium die Verlängerung des Reichsfluchtsteuergesetzes zum Jahresende an 6 , denn vor allem Nichtarier hätten sich auch durch die strengen Bestimmungen nach dem 30. Januar 1933 nicht von der Auswanderung abschrecken lassen. Die Steuer solle erst aufgehoben werden, wenn die Abwanderung von kapitalkräftigen Personen nur noch auf AusnahmefaJ.le beschränkt bleibe 7. In der offiziellen Begründung zu diesem Änderungsgesetz gebrauchte das RFM ganz ähnliche Formulierungen, wie sie schon 1931 verwendet worden waren 8: die Abwanderung leistungsfähiger Steuerzahler solle verhindert, bzw. von den Abwandernden eine letzte große Abgape gefordert werden. All diese Berlin 17.11.1933, BA (Potsdam) 21.01 B 7129-S 3600. RGBl. I, S. 392f. Die Änderungen bis 1938 verzeichnet Peters, Die Reichsfluchtsteuer. 5 hn Zug der Steueramnestie waren sie steuerfrei ausgegeben, s. o. S. 22 Anm. 78. 6 Vollzogen durch § 43 des Steueranpassungsgesetzes, s. u. S. 33 Anm. 18. 7 RFM (Referat Zülow), 17.1.1934, BA (Potsdam) 21.01 B 7129-S 3600. Die Industrie- und Handelskammer Berlin meinte (17. 11.1933): "Die Berechtigung für die Erhebung einer derartigen Abgabe als Ausgleich dafür, daß sie sich der Gemeinschaft der Steuerzahler entziehen, dürfte in erhöhtem Maß für die heutige Zeit des Wiederaufbaus zutreffen". BA (Potsdam): 21.01 B 7129-S 3600. 8 Entwurf BA (Koblenz): R 43 11 /791, fol. 49 f., gedr. RStBl. 1934, S. 598f. 3

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

Ergänzungen und Änderungen seien notwendig, "um die Reichsfluchtsteuer wirksamer zu gestalten und vorhandene Lücken möglichst zu schließen". Zusätzlich belasteten die neuen §§ 26 und 27 des Einkommensteuergesetzes vom 16. Oktober 1934 9 • Nach ihnen waren Ehegatten und minderjährige Kinder seit dem 1. April 1934 gemeinsam zu veranlagen. Folglich machte nun ein gemeinsames Einkommen von 50.000 RM jeden einzelnen reichsfluchtsteuerpflichtig. Das Steueranpassungsgesetz vom 16. Oktober 1934 brachte weitere Verschärfungen. Im Ausland lebende "leitende Angestellte", die bislang von der Zahlung der Reichsfluchtsteuer befreit waren, mußten nach dem 31. Dezember 1934 Reichsfluchtsteuer entrichten 10. Auch diese Änderung sei notwendig geworden, weil nach den Berichten der Finanzämter die Zahlung der Reichsfluchtsteuer auf diesem Wege zu oft umgangen worden sei, "trotz aller Transferschwierigkeiten" 11. Eine relativ geringe praktische Bedeutung kam der Streichung des § 9 Ziff. 1 der Reichsfluchtsteuerverordnung zu 12. Die sorgfaltig aufeinander abgestimmten Paragraphen der Strafprozeßordnung, die das Verfahren gegen flüchtige Täter regelten, wurden durch den neuen § 276 StPO ersetzt, nach dem nur dann ein Verfahren in Abwesenheit des Beschuldigten stattfinden sollte, "wenn das Rechtsempfinden des Volkes die alsbaldige Aburteilung der Tat verlangt". Das RJM erklärte 13, dies kostspielige Verfahren gegen Flüchtlinge sei ,,nicht für die Fälle des alltäglichen Lebens" berechnet. Es erscheine nicht zweckmäßig, das Verfahren dadurch zu entwerten, daß man "ohne jede Rücksicht auf die Bedeutung der Sache" davon schematisch Gebrauch mache. Schließlich blieb es bei der praktikablen ,,kann-Vorschrift" 14, nach der eine Hauptverhandlung gegen den "Steuerflüchtling" zwar durchgeführt werden konnte - und obgleich der Präsident des Landesfinanzamts Berlin sehr drängte - nicht aber obligatorisch durchgeführt werden mußte. Eine 1936 vorgenommene Änderung der Reichsabgabenordnung 15 ermöglichte es, das zur Sicherung der Reichsfluchtsteuerschuld im Sicherheitsbescheid benannte Vermögen rascher und vollständiger zur Zwangsvollstreckung zu bringen.

RGBl. I, S. 1005 ff. Folge des § 14 Abs. 3 Steueranpassungsgesetzes, RGBl. I, S. 938. 11 So der Große Senat des RFH am 7.8.1936 in einem vom RFM angeforderten Gutachten, RStBl. 1936, S. 876. 12 Durch das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28.6.1935, RGBl. I, S. 850. 13 17.2.1936, BA (Koblenz): R 22/1132. 14 8.9.1936, BA (Koblenz): R 22/1132. 15 Im § 28 Ziff. 70a des Einführungsgesetzes zu den Realsteuergesetzen vom 1.12.1936, RGBl. I, S. 975. 9

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1. Die geänderten rechtlichen Grundlagen

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Schließlich mußte sich der Steuerpflichtige nach dem Gesetz zur Verlängerung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer vom 19. Dezember 1937 16 alle Schenkungen, die er seit dem 1. Januar 1931 verfügt hatte, seinem Vermögen und damit der Bemessungsgrundlage für die Reichsfluchtsteuer zurechnen lassen, wenn sie insgesamt mehr als 10.000 RM betrugen. Es sei mehrfach beobachtet worden, führte der RFM in der amtlichen Begründung dazu aus, daß Steuerpflichtige zunächst ihre vermögenslosen Kinder auswandern ließen und sie dann mit Schenkungen ins Ausland bedachten. Sie selbst wanderten erst aus, nachdem ein neuer, um die Schenkungen verminderter Vermögensteuerbescheid ergangen'sei. Ihre Reichsfluchtsteuer konnte dann nur nach dem Restvermögen berechnet werden. "Um diese Umgehung des Gesetzes zu verhindern, sollen solche Schenkungen in Zukunft dem Gesamtvermögen des Schenkers hinzugerechnet werden" 17.

b) Verlängerungen Regelmäßig stellte der RFM Anträge zur Verlängerung der Reichsfluchtsteuer: Nach § 43 des Steueranpassungsgesetzes vom16. Oktober 1934 18 galt die Reichsfluchtsteuer bis zum 1. Januar 1938. Zugleich wurde der RFM ermächtigt, die immer noch auf der Grundlage des Art. 48 Abs. 2 RV beruhende Reichsfluchtsteuer als Reichsfluchtsteuergesetz neu bekannt zu machen. Am 19. Dezember 1937 19 , am 1. Februar 1939 20 , 18. Dezember 1939 21 , 19. Dezember 1940 22 , 24. Dezember 1941 23 wurde die Reichsfluchtsteuer jeweils um ein Jahr verlängert, am 9. Dezember 1942 24 "bis auf weiteres". An der Art und Weise, in der die Verlängerungen durchgeführt wurden, zeichnet sich der formale Wandel im Gesetzgebungsverfahren des nationalsozialistischen Regierungssystems ab. Ganz förmlich brachte der RFM am 11. Mai 1934 seinen Verlängerungsantrag ein. Er wollte das Gesetz auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 24. März 1933 25 verabschieden und legte es am 15. Mai 1934 16 Art. 1 Abs. 2 des Gesetzes zur Verlängerung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer vom 19.12.1937, RGBI. I, S. 1385. 17 RStBI. 1937, S. 1270. Auch bislang steuerfreie Wohnungsneubauten sollten künftig in die Bemessungsgrundlage für die Reichsfluchtsteuer einbezogen werden. Der Zinssatz für rückständige Steuerzahlungen wurde von 5 auf 1 %, mindestens aber 2 % der Gesamtschuld vermindert. 18 RGBI. I, S. 941. 19 RGBI. I, S. 1385. 20 RGBl. I, S. 125. 21 RGBI. I, S. 2443. 22 RGBI. I, S. 1605. 23 RGBI. I, S. 801. 24 RGBI. I, S. 682. 25 Dazu: Schneider, Das Ermächtigungsgesetz.

3 Mußgnug

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

dem Kabinett vor 26 . Am 18. Mai wurde es verkündet 27. Bis zum Jahre 1937 wurde die Reichsfluchtsteuer jeweils durch ein Gesetz verlängert, das vom RFM gegengezeichnet war. 1938 gelang es der Bürokratie des RFM nicht, den Verlängerungsantrag rechtzeitig, d. h. vor Ablauf der Geltungsdauer der Reichsfluchtsteuer, durchzubringen, obgleich der RFM ihn schon am 5. Dezember 1938 vorgelegt hatte und zwar bereits "im Einverständnis mit dem RIM und dem Stellvertreter des Führers" 28. Die Verlängerung erging erst am 1. Februar rückwirkend zum 1. Januar 1939. Ende des Jahres verordneten Generalfeldmarschall Göring als "Vorsitzender des Ministerrats für die Reichsverteidigung" und Lammers als "Reichsminister und Chef der Reichskanzlei" mit Gesetzeskraft die Verlängerung des Reichsfluchtsteuergesetzes 29 . Am 3. Dezember 1940 übersandte der RFM den Verlängerungsentwurf der Reichskanzlei mit der Bitte, "seine Verabschiedung durch den Ministerrat für die Reichsverteidigung zu veranlassen". Er fügte hinzu, der Stellvertreter des Führers, das AA, der RIM und der RWiM hätten dem Entwurf bereits zugestimmt 30. Lammers ließ ihn dem Reichsmarschall mit der Bitte "um Vollziehung" vorlegen und versicherte, daß der Entwurf der Verordnung "bei den Mitgliedern des Ministerrats in Umlauf gesetzt worden" sei. Einen Widerspruch habe es nicht gegeben 31 . Das auch sonst statt ordentlicher Beratungen in Kabinettssitzungen eingeführte Umlauf-Verfahren 32 konnte bei den Verlängerungsanträgen zur Reichsfluchtsteuer ohne Probleme praktiziert werden. 1941 bezog der RFM in dieses UmlaufVerfahren alle "beteiligten Stellen", d. h. neben dem AA, dem RIM, dem RWiM auch die Partei-Kanzlei und die Auslandsorganisation der NSDAP mit ein 33 . Zur Vereinfachung schlug der RFM vor, ihm eine Ermächtigung zur Verlängerung des Reichsfluchtsteuergesetzes zu erteilen, von der er ,,nur für die Dauer des Krieges Gebrauch machen" werde. "Es ist nach Kriegsende zu prüfen, ob die Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer neu zu fassen oder aufzuheben sind"34. Auf Grund dieser Ermächtigung wurde die Reichsfluchtsteuer am 9. Dezember 1942 "bis auf weiteres" verlängert. Formalien des Gesetzgebungsverfahrens waren bedeutungslos geworden. Im selben Jahr konstatierte Dtto Bühler, Reichssteuergesetze würden zwar "formell meist noch immer von der Reichsregierung" erlassen, seien jedoch als unmittelbare Akte der Führergewalt zu betrachten. Da 26 BA (Koblenz): R 43 11 /791, fol. 46. 27 Unterzeichnet von Hitler und dem RFM Graf Schwerin von Krosigk, RGBl. I, S.393. 28 BA (Koblenz): R 43 11 /789 a, fol. 21. "Der Stellvertreter des Führers" gehörte als Minister ohne Geschäftsbereich der Reichsregierung an. 29 RGBl. I, S. 2443. 30 BA (Koblenz): R 43 11 / 789 a, fol. 35. 31 Brief vom 16.12.1940, BA (Koblenz): R 43 11 /789a, fol. 37. 32 Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung, S. 40f. 33 BA (Koblenz): R 43 11 / 789 a, fol. 44. 34 BA (Koblenz): R 43 11 / 789 a, fol. 47.

I. Die geänderten rechtlichen Grundlagen

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sich der Führerwille "ebensogut" in Verordnungen äußern könne, komme den Reichsgesetzen kein Vorrang vor Verordnungen mehr zu 35. c) Ausdehnung

Der räumliche Geltungsbereich der Reichsfluchtsteuer erweiterte sich um die "wiedergewonnenen" Gebiete. Das Reichsfluchtsteuergesetz wurde auf Österreich (14. April 1938, RGBl. I, S. 389), die Sudetendeutschen Gebiete (30. November 1938, RGBl. I, S. 1132), das Memelland (22. Mai 1939, RGBl. I, S. 948), Danzig (25. Oktober 1939, RGBl. I, S. 2106) und Eupen, Ma1medy, Moresnet (6. Juli 1940, RGBl. I, S.977) ausgedehnt. Für das RFM ergab sich aus dem Gebietszuwachs geradezu die Notwendigkeit, die zeitlich begrenzte Reichsfluchtsteuer zu verlängern, denn: "Die Abwanderung der Juden hat in diesen Gebieten viel später als im Altreich eingesetzt" - auf die Erhebung der Reichsfluchtsteuer könne deshalb schon aus Gründen der "steuerlichen Gleichmäßigkeit" nicht verzichtet werden 36. Um den reichsdeutschen Anspruch ideologisch und durch praktische Vorschriften zu untermauern, waren bereits seit 1937 37 alle die Reichsbürger 38 von der Zahlung der Reichsfluchtsteuer befreit, die "nach einem Gebiet auswandern, das auf Grund des Versailler Vertrags abgetreten werden mußte"39. Eine solche Auswanderung wertete das RFM 1943 als eine Wahrung des "deutschen Interesses" und hielt es aus volkswirtschaftlichen Gründen für angezeigt, wenn "deutsche Reichsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit in das Protektorat Böhmen und Mähren, in das Generalgouvernement oder in die besetzten Gebiete des Auslands übersiedeln". So ließ sich der Steuerdispens nach § 2 Ziff. 3 des Reichsfluchtsteuergesetzes ableiten. Deshalb war "in solchen Fällen künftig von der Erhebung der Reichsfluchtsteuer im allgemeinen abzusehen"40. Deportationen in Ostgebiete dagegen stellten keineswegs von der Reichsfluchtsteuer frei. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Transporte ins böhmische Theresienstadt, da das nicht als Ausland galt 41 • 35 Bühler, Die Rechtsquelle im Steuerrecht, S. 377. ,,Für Führererlasse kommt die Nachprüfung durch irgendeine gerichtliche Instanz ... nicht in Betracht" (S. 379). 36 Zur Begründung des Verlängerungsantrags im Dezember 1939, BA (Koblenz): R 43 11 / 789 a, fol. 28. 37 Rderl. des RFM vom 23.12.1937, RStBl. 1937, S. 1295. 38 Deutsche jüdischer Herkunft waren damit per definitionem ausgeschlossen (1. Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. 11. 1935 § I Abs. I, RGBL I, 1333). 39 Voraussetzung für die Steuerbefreiung sei allerdings, daß diese Gebiete nicht lediglich als Zwischenstation zur Weiterwanderung genutzt würden. Als "abgetretene Gebiete" galten: Teile der Provinz Ost- und Westpreußen, Schlesien, Schleswig-Holstein, der Rheinprovinz, die Provinz Posen und der Freistaat Danzig. 40 Erlaß des RFM vom 13.1.1943, RStBI. 1943, S. 18. 41 Rderl. des RFM vom 14.4.1942 und 25.9.1942, zit. bei Schmidt, Entziehung von Geldverrnögen, S. 323. 3*

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

Die Eroberung von Westgebieten bot eifrigen Finanzpräsidenten nun die Möglichkeit, ausstehende SteueITÜckstände unter Vennittlung von Militärbefehlshabern auch von den Schuldnern beizutreiben, die nur Auslandsvennögen besaßen 42.

2. Erhebung und Einzug der ReichsOuchtsteuer Alle die Reichsfluchtsteuer verschärfenden Maßnahmen erforderten eine strengere Überwachung durch den "Steueraußendienst" als bisher. Der RFM benannte am 13. Juni 1934 den "Staudi" in "Steuerfahndungsdienst" um. Er begründete 43 die neue Bezeichnung dieses "Dienstzweiges": "Der heutige Staat, der mit allen Mitteln erfolgreich versucht, die Steuennoral zu heben, hat es nicht nötig, derartige Tamungen vorzunehmen". Es schade nichts, wenn dem Steuerpflichtigen diese Stelle bekannt sei und er mit der Aufdeckung von Steuerhinterziehungen und Bestrafung rechnen müsse. Nicht nur Steuervergehen, sondern vor allem auch die Einhaltung der strengen Devisenbestimmungen überwachte die Steuerfahndung. Um die Kontrollen zu erleichtern, griff das RIM kurz nach der Machtübernahme auf alte, unter Reichskanzler Brüning bereits versuchte Praktiken zurück und setzte am 1. April 1933 die Einführung eines "Ausreisesichtvennerks" durch 44. Der Vennerk sollte nicht nur versagt werden, wenn der Antragsteller voraussicht1ich gegen Devisenvorschriften verstoßen werde oder sich seiner Steuerpflicht entziehen wolle. Eine Verweigerung kam auch in Betracht, "wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß der Reisende a) sich im Ausland staatsfeindlich gegen das Reich oder ein deutsches Land betätigen wird; b) im Ausland den Reichspräsidenten, die Mitglieder der Reichsregierung ... oder sonstige Organe ... beschimpfen oder böswillig verächtlich machen wird, c) im Ausland unrichtige Nachrichten verbreiten wird, die geeignet sind, lebenswichtige Belange des Reichs oder eines deutschen Landes zu gefahrden" . Auch gegen diese Variante der Paßkontrolle erhob insbesondere das AA Einspruch. Ende Juli 1933 stand bereits die Aufhebung zur Diskussion. Zwar rechtfertigte sich das RIM: die Gründe für die Verordnung seien "politischer Natur gewesen und ziel(t)en zugleich (darauf) die Kapital- und Steuerflucht zu verhindern". Doch am 6. Dezember hob der RIM die Verordnung zum 1. Januar 1934 wieder auf45 • Er empfahl 42 So der Oberfinanzpräsident Köln am 6.l.1943. Er beklagte, daß es noch kein Abkommen über den Rechtshilfeverkehr gebe. BA (Koblenz): R 2/ 32063. 43 BA (Koblenz): R 2/5972. 44 BA (Koblenz): R 2 / 5976, die Bekanntmachung des RJM vom 1.4. 1933 veröffentlicht im RGBl. I, S. 160. 45 Schreiben an die Landesregierungen vom 6. 12. 1933: "Unter Hinweis auf wichtige außen- und wirtschaftspolitische Belange des Reichs haben das AA und der RWiM erneut die zwingende Notwendigkeit einer beschleunigten Beseitigung des Ausreisesichtvermerkzwangs betont". Bekanntmachung des RJM vom 19.12.1933, RGBl. I, S. 1088.

2. Erhebung und Einzug der Reichsfluchtsteuer

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den Paßbehörden "bei Zweifeln in politischer Beziehung die zuständige Dienststelle der Politischen Polizei, bei Zweifeln in steuerlicher oder devisenwirtschaftlicher Hinsicht das zuständige Finanzamt zu hören". Der RFM informierte seinerseits die Präsidenten der Landesfinanzämter 46 : Um eine "unerwünschte Ausreise zu verhindern, bedarf es eines Antrags der Finanzbehörde an die PaBbehörde auf Verweigerung bzw. Entziehung des Passes". Dem Wunsch des RFM entsprechend wies der Reichspostminister die Postanstalten an, alle "Fälle der Wohnsitzverlegung" mitzuteilen 47. 1936 berichtete der Präsident des Landesfinanzamts Berlin 48 über die ganze Breite, mit der die "Organisation der ReichsfluchtsteuerBearbeitung" betrieben werde: Der größte Teil der Steuerflüchtlinge setze sich aus Nichtariern zusammen. Da in der Großstadt Berlin die "persönliche Kenntnis" der Steuerpflichtigen fehle, haben ,,meine" Finanzämter "enge Fühlungnahme" mit der Post, der Polizei, der Kreisleitung der NSDAP, der NSV, der Devisenstelle, der Zollfahndungsstelle, den Hauptzollämtern, dem Polizeipräsidium, dem PaBamt, der Geheimen Staatspolizei, den Devisenbanken, den Industrie- und Handelskammern, den Bezirksämtern aufgenommen. Er sprach sich für die allgemeine Wiedereinführung des Ausreisesichtvermerks aus, da sie von "größter steuerlicher Bedeutung für die Überwachung der Steuerflüchtlinge" wäre 49 • Die Bedenken, die noch die Regierung BTÜning bei der Veranlagung von Personen hatte, die unter ein Doppelbesteuerungsabkommen fielen, teilte die nationalsozialistische Regierung 1935 nicht mehr. In einem Verfahren vor dem RFH erklärte der RFM: Die Reichsfluchtsteuer sei keine Steuer, die den Vermögensbesitz als solchen belasten solle, sie sei vielmehr eine letzte große Abgabe, die der Auswandernde als Ausgleich dafür zu zahlen habe, daß dem Reich, "unter dessen Schutz er sich im Wirtschaftsleben betätigen konnte", seine Steuerkraft verloren gehe. Das Vermögen bilde zwar die Bemessungsgrundlage der Reichsfluchtsteuer, die Steuerpflicht trete jedoch allein durch die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes ein. Deshalb könne die Reichsfluchtsteuer trotz bestehender Doppelbesteuerungsabkommen erhoben werden so. Die Steuersteckbriefe enthielten wie vor 1933 Name, alte und neue Adressen, die Höhe der geschuldeten Reichsfluchtsteuer. Es wurde bekannt gegeben, daß Schreiben vom 18.12.1933, BA (Koblenz): R 2/5976. 5.2.1934, BA (Koblenz): R 2/5977. 48 3.4.1936, BA (Koblenz): R 2/5977. 49 Er schlug vor, auch Krankenkassen, Landesversicherungsanstalten wegen möglicher Veränderungen in Gewerbebetrieben, Lebensversicherungen wegen möglicher Beleihungen, Banken wegen der Kontenbewegungen in die Überwachung einzubeziehen. 1937 wollte er, um die Reichsfluchtsteuerpflichtigen vollständiger zu erfassen, "polizeiliche Maßnahmen" gegen "wilde Versteigerer" und Wohnungsauflöser ergreifen, BA (Koblenz): R 2 / 5978. Als das Devisenamt die Bankschließfächer der Juden zu kontrollieren beabsichtigte, wies die Berliner Zentrale Fahndungsstelle darauf hin: "Da es sich hier um Juden handelt, müssen m. E. auch die steuerlichen Belange gewahrt werden, insbesondere die Reichsfluchtsteuer". 27.9.1938, BA (Koblenz): R 2/5979. 50 RStBI. 1935, S. 1194. 46

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

der Steuerschuldner nicht mehr über sein in Deutschland befindliches Vermögen verfügen durfte und alle Zahlungen zu seinen Gunsten unter Androhung von Strafen einzustellen seien.

1932 wurden 14 Personen in den Steckbriefen genannt 1933 1934 1935 1936

56 151 154 185

1937 1938 1939 1940

195 188 195 150

1941 1942 1943 1944/45

69 17 2 2

Die meisten Personen wurden "gesucht", nur sehr wenige betraf eine ,,Aufhebung" des Steuersteckbriefs. Der sprunghafte Anstieg der steckbrieflich gesuchten Personen nach 1933, die stetige Abnahme nach Kriegsbeginn bedürfen keiner Erklärung. Aus den Namen lassen sich keine genaueren Rückschlüsse ziehen. Zwar mußten sich seit 1938 alle Juden bereits mit ihrem Vornamen, bzw. zusätzlichen Vornamen als "nicht-arisch" ausweisen. Doch wie zuverlässig und umfassend die Angaben in den Steuersteckbriefen sind, läßt sich nicht nachprüfen, weder was die Meldung als solche, noch was die Namen der Gesuchten anlangt.

3. Devisenbestimmungen Nicht nur die verschärften Auflagen der Reichsfluchtsteuer belasteten die Emigranten. Auch die beständige Devisenknappheit und fortgesetzte strenge Devisenbewirtschaftung erschwerte die Ausreise aus Deutschland. Ein anschauliches Beispiel bieten die alle treffenden Restriktionen des Reisegeldverkehrs. 1932 waren pro Kalendermonat jedem eine Freigrenze von 200 RM zugestanden worden, 1934 setzte eine Durchführungsverordnung 51 die Summe auf 50 RM herab 52. Die Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung begründete die Maßnahme 53 : "Die ungünstige Entwicklung der Devisenlage in den letzten beiden Wochen" erfordere weitere Einschränkungen. Die Devisenstelle war jedoch bereit, insbesondere dann Sondergenehmigungen zu erteilen, wenn "ein gerechtfertigtes Interesse an der Leistung von Zahlungen besteht". Als Beispiel nannte sie StudienAufenthalte und fügte hinzu: "Das gilt auch für nichtarische Studenten und Schüler, bei denen der Schulbesuch oder das Studium im Ausland in der Regel eine erwünschte Vorbereitung einer künftigen Abwanderung sein wird". Im September 1934 setzte die Devisenstelle die Zuteilung "wegen der außerordentlich Die 8. Durchführungsverordnung vom 17.4.1934, Art. I § I, RGBI. I, S. 313. Über die Freigrenze von 50 RM barem Geld hinaus, regelte ein Rderl. vom 17.4.1934 die genaueren Bestimmungen für Reiseschecks, Reisekreditbriefe etc, RStBI. 1934, S. 47Of. 53 RStBI. 1934, S. 467f. 51

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3. Devisenbestimmungen

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angespannten Devisenlage der Reichsbank" nochmals herab; die Reisegeld-Freigrenze fiel auf 10 RM monatlich pro Person 54! In ähnlich strenger Weise beschränkte die Devisenstelle die Auswanderungswilligen 55: Den bis zum Juni 1934 geltenden Höchstbetrag von 10.000 RM Transfergeld kürzte sie auf 2.000 RM! Weitere Beträge durften nur durch eine "mittelbare Transferierung" mitgenommen werden, das bedeutete, Auswanderer mußten die Gelder auf Sperrmarkkonten einzahlen. Sie standen ihnen nach hohen Wechselkursverlusten nur in sehr verringertem Umfang im Ausland zur Verfügung. Nach dem 1. Dezember 1935 56 unterlagen alle Emigranten künftig nahezu den gleichen Devisenbeschränkungen, die bisher lediglich für Inländer galten, d. h. auch wenn sie bereits "Devisenausländer" geworden waren, durften sie nicht über ihre ausländischen Guthaben frei verfügen. Außer dem eigentlichen Umzugsgut konnten sie nur Werte bis zu 1.000 RM bei der Auswanderung mitnehmen 57.

Vor dem Krieg faßte das "Gesetz über die Devisenbewirtschaftung" vom 12. Dezember 1938 58 die geltenden Vorschriften zusammen und gab neue Auflagen bekannt: Alle unentgeltlichen Sendungen ins Ausland bedurften der ausdrücklichen Genehmigung (§ 54 DevG), Juden waren sie überhaupt verboten (Richtlinien III 6). Im Reiseverkehr durften sie nur Gegenstände mitnehmen, die zum persönlichen Gebrauch "unbedingt erforderlich" waren und benötigten dazu auch einer besonderen Genehmigung (§ 58 DevG). Alle Auswanderer mußten vor dem Verpacken und Verladen ihrer Güter Genehmigungsanträge stellen (§ 57 Abs. 1 und 2 DevG) und die Beförderung ins Ausland 14 Tage vor dem Termin den Zollbehörden anzeigen (§ 17 Durchführungsverordnung). Über das eigene inländische Vermögen konnten Auswanderer nur in sehr beschränktem Umfang verfügen (§§ 24-53 DevG). Die Beschränkungen hatten einen solchen Umfang angenommen, daß das RWiM 1941 schätzte, jüdische Auswanderer könnten ihr im Inland befindliches flüssiges Vermögen in der Regel nur in der Höhe von 4 v. H. ins Ausland überweisen 59. Die nationalsozialistische Regierung hoffte, mit der vorläufigen Ernennung Görings zum Rohstoff- und Devisenkommissar und seiner endgültigen Bestallung zum "Beauftragten für den Vierjahresplan" (18. Oktober 1936) die Devisen54 Einer Eintragung in den Reisepaß bedurfte es "im Rahmen der herabgesetzten Freigrenze" nicht. Rderl. vom 29.9.1934, RStBl. 1934, S. 1098. 55 Rderl. vom 23.6.1934, RStBl. 1934, S. 783. 56 3. Durchführungsverordnung zum Devisengesetz § 6, RGBl. I, S. 1408, 1409. 57 Eine Übersicht über die Devisenvorschriften für Inländer und Auswanderer bei: Wilmanns, Aus- und Einwanderung. Seit 1.12.1936 (Gesetz über Wirtschaftssabottage, RGBl. I, S. 999) galt für besonders schwere Devisenverbrechen die Todesstrafe. 58 RGBl. I, S. 1733. Dazu ergingen Richtlinien (22.12.1938) und eine Durchführungsverordnung (23.12.1938), RGBl. I S. 1851, 1966. 59 Vermittler war die Deutsche Golddiskontbank, AA: Politisches Archiv Inland 11 AlB R 99297.

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

schwierigkeiten beheben zu können 60 • In seinen Kompetenzbereich fielen nun auch alle mit der Reichsfluchtsteuer zusammenhängenden Fragen.

4. Die ReichsOuchtsteuer im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Steuer- und Finanzgesetzgebung In seinem am 1. April 1933 abgeschlossenen "Steuerrecht" weist Albert Hensel auf die Tendenz des RFH hin 61 , Art. 134 der RV (,,Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei") als ein "unmittelbar anzuwendendes" Recht anzuerkennen. Die Steuergerichte - so der RFH62 - würden daher Steuern, die nach "willkürlichen, dem Wesen der Besteuerung fremden Maßstäben auf die Staatsbürger verteilt werden, als verfassungswidrig und infolgedessen die Heranziehung zu solchen Steuern als unzulässig zu erklären haben". Hensel sah darin eine wirksame Schranke gegen Übergriffe des Gesetzgebers, "auch und gerade des Notgesetzgebers". Doch im April 1933 mußte er in einer Fußnote hinzufügen, daß diese Frage nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes "bedeutungslos" geworden sei.

a) Widerruf von Einbürgerungen Erschreckend rasch fand die nationalsozialistische Ideologie Eingang in alle Gesetzgebungsbereiche. Im Juli 1933 "beschloß" die Reichsregierung das "Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit"63. § 1 bestimmte: Einbürgerungen, die zwischen dem 9. November 1918 und dem 30. Januar 1933 vorgenommen worden seien, ,,können widerrufen werden, falls die Einbürgerung nicht als erwünscht anzusehen ist". Die Durchführungsverordnung stellte klar: "Ob eine Einbürgerung als nicht erwünscht anzusehen ist, beurteilt sich nach völkisch-nationalen Grundsätzen. Im Vordergrunde stehen die rassischen, staatsbürgerlichen und kulturellen Gesichtspunkte für eine den Belangen von Reich und Volk zuträgliche Vermehrung der deutschen Bevölkerung durch Einbürgerung"64. Der Widerruf war nicht anfecht60 Petzina, Autarkiepolitik geht auf diese Zusammenhänge nicht weiter ein. Zu Hitlers Vorstellungen über Devisenpolitik vg!. seine Denkschrift zum Vierjahresplan, hg. v. Wilhelm Treue, in: VjZO 3, 1955, S. 207f. 61 Hensel, Steuerrecht, S. 47. 62 Bescheid des RFH vom 15.1.1931, Entscheidungssammlung Bd. 27, S. 322 und bestätigendes Urteil vom 25.3.1931, Entscheidungssammlung Bd. 28, S. 208. 63 14.7.1933, ROB!. I, S. 480. 64 Vor allem "Ostjuden" sollten für den Widerruf der Einbürgerungen "in Betracht" kommen und Personen, "die sich eines schweren Vergehens oder eines Verbrechens

4. Reichsfluchtsteuer und nationalsoz. Steuer- und Finanzgesetzgebung

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bar, Gründe wurden nicht mitgeteilt. Die Namen der Ausgebürgerten sollten im Reichsanzeiger veröffentlicht 65 und zugleich das Vermögen beschlagnahmt werden. Das Ministerium behielt sich vor, den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit auch auf Familienangehörige auszudehnen. Unter den ersten Ausgebürgerten waren Politiker 66 , Schriftsteller 67 aber auch "unerwünschte" Personen wie der Heidelberger Dozent Emil Gumbe1 68 • Sie begingen zwar keine "Steuerflucht", sondern wurden ausgewiesen, mußten aber dennoch Reichsfluchtsteuer entrichten. Den aus dem Ausland zurückkehrenden Emigranten wurde nicht nur die Rückerstattung der Reichsfluchtsteuer verweigert, auf Anweisung des Innenministeriums sollten sie in Schutzhaft genommen werden, bis die polizeilichen Ermittlungen über ihre Tätigkeit im Ausland durchgeführt seien 69.

b) Das Steueranpassungsgesetz vom 17. Oktober 1934 Die angekündigte neue umfassende Steuergesetzgebung leitete der RFM mit dem ,,steueranpassungsgesetz" vom 17. Oktober 1934 ein 70. Selbst dies Gesetz, das nüchterne, der großen Bevölkerungsmehrheit sicher fernliegende Steuerdetails regelte, fand vorab in § 1 seine Ausrichtung: ,,(1) Die Steuergesetze sind nach nationalsozialistischer Weltanschauung auszulegen. (2) Dabei sind die Volksanschauung, der Zweck und die wirtschaftliche Bedeutung der Steuergesetze und die Entwicklung der Verhältnisse zu berücksichtigen. (3) Entsprechendes gilt für die Beurteilung von Tatbeständen". Die amtliche Begründung ließ keinen Zweifel über die Tragweite dieser weit über das Steuerrecht hinausgreifenden Interpretationsgrundlage aufkommen. Zu § 1 hieß es 7 !: "Die nationalsozialistische Weltanschauung beherrscht und durchdringt das Leben der Volksgemeinschaft und jedes Volksgenossen. Sie bietet die sichere Grundlage zur Beurteilung und Wertung aller Erscheinungen". Nach ihrem Sieg werde nun Klarheit und Rechtssicherheit im Steuerrecht herrschen 72. 1936 erläuterte Staatssekretär Rein-

schuldig gemacht oder sich sonstwie in einer dem Wohle von Staat und Volk abträglichen Weise verhalten haben". Durchführungsverordnung vom 26.7.1933, RGBl. I, S. 538. 65 Die Ausbürgerungslisten sind neu veröffentlicht durch Hepp, Die Ausbürgerung deutscher Staatsangehöriger. 66 Z. B. RudolfBreitscheid, Heinz Werner Neumann, Wilhelm Pieck, Philipp Scheidemann, Otto Wels. 67 Z. B. Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Ernst Toller, Kurt Tucholski. Alle Namen sind zitiert nach der im RStBl. 1933, S. 817 veröffentlichten Liste vom 23.8.1933. 68 Zu ihm ausführlich die Darstellungen bei Wolgast und Jansen. 69 Geheimes Schreiben an alle diplomatischen und berufskonsularischen Vertretungen im Ausland vom 31.5.1935, AA: Politisches Archiv Inland 11 A / B R 99611. 70 RGBl. I, S. 925 -941. 7! Abgedr. im RStBl. 1934, S. 1398 ff.

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

hardt 73 : Im nationalsozialistischen Staat müßten alle Tatbestände nach nationalsozialistischer Weltanschauung beurteilt und die Gesetze nach ihr ausgelegt werden, das sei "bindendes Staatsgrundgesetz" . Da dieser Beurteilungsgrundsatz fest im Steueranpassungsgesetz verankert sei, könnten auch formell fortbestehende Vorschriften des "früheren Systems" nur im Sinn der nationalsozialistischen Weltanschauung ausgelegt werden 74. c) Geplante Sondersteuer und Judenvermögensabgabe

Damit bot sich die Möglichkeit, überall interpretierend einzugreifen. Es hätte kaum einer antijüdischen Gesetzgebung bepurft. Doch die Kette der gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Gesetze, Verordnungen, Erlasse, Richtlinien riß nicht ab 75. Stärker als andere Bürger sollten sie zu finanziellen Leistungen herangezogen werden. Das RIM und das RFM "erörterten" im Dezember 1936 "seit einiger Zeit"76 die Möglichkeiten, einem ,,Judengarantieverband" neue Sonderabgaben aufzuerlegen. Man war dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß ein solcher Plan sich lediglich "auf steuerlichem Gebiet" durchführen lasse. Deshalb legte der Innenminister den Entwurf zu einem "Leistungsausgleichssteuergesetz" vor. Diese neue Steuer sollte als Ausgleich für die "Befreiung von Gemeinschaftsleistungen" erhoben werden, zu denen Staatsangehörige "deutschen oder artverwandten Blutes" verpflichtet sind. Gedacht war sie als Zuschlag zur Einkommen- und Vermögen-, bzw. Körperschaftssteuer. Das durch sie angewachsene Reichssondervermögen sollte gegebenenfalls zum "Ersatz eines Schadens, der dem Deutschen Reich durch die Handlung eines einzelnen Juden zugefügt wird", herangezogen werden. Der Führer habe diese Pläne zur "Fortführung der Judengesetzgebung und Erhebung einer Judensteuer" grundsätzlich gebilligt und angeordnet, den Gesetzentwurf "beschleunigt fertigzustellen". Auf eine bestimmte Höhe des Sonderzuschlags wollte man sich nicht festlegen. Er sollte "beweglich sein, um bei gegebenem Anlaß (volksschädigendes Verhalten einzelner Juden) erhöht werden zu können"77. Es war geplant, das neue Steuergesetz am Ende des Gustloff-Prozesses 78 zu verkünden. 72 Entsprechend waren die steuerrechtlich wichtigen Begriffe "Billigkeit" und •.zweckmäßigkeit" nach nationalsozialistischer Weltanschauung zu beurteilen (§ 2 Abs. 3 Steueranpassungsgesetz). 73 Vortrag vom 23.10.1936 auf der Jahrestagung der Akademie für Deutsches Recht, RStBI. 1936, S. 1041 ff. 74 AaO. S. 1054. Reinhardt verwies ausdrücklich darauf, daß dieser "unmittelbar anzuwendende Rechtssatz" im Strafrecht und folgerichtig ebenso auch im Steuerstrafrecht gelte. Erste Folge war. daß das "Verschlimmerungsverbot" (das Verbot einen neuen schlechter stellenden Steuerbescheid zu erlassen) aufgehoben wurde. 75 Vgl. dazu Walk, Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. 76 Brief des Staatssekretärs Stuckart (RIM) vom 18.12.1936 an Staatssekretär Reinhardt (RFM), BA (Koblenz): R 2/31097. Dort die weiteren Belege.

4. Reichsfluchtsteuer und nationalsoz. Steuer- und Finanzgesetzgebung

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Das RJM äußerte sich zu der Idee einer "Gesamthaftung der Juden für Schäden an der deutschen Wirtschaft, soweit sie von Juden veraniaßt sind": Der Gedanke, eine Mehrheit von Personen für einen Schaden haften zu lassen, sei in der Rechtsordnung vielfach verwirklicht. In solchen Fällen bestünde unter den Mithaftenden immer ein gemeinsames Rechts- oder Schuldverhältnis. Der RJM hatte jedoch Bedenken, "eine Mehrheit von Personen haftbar zu machen, unter deren Angehörigen kein anderer Zusammenhang besteht als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse". Eine derartige Konstruktion sei der Rechtsordnung bislang fremd. "Eine solche Inanspruchnahme scheint mir als Kampfhandlung, aber schwer als Rechtssatz denkbar zu sein". Er wandte ein, wenn Deutschland eine solche Sonderhaftung der Juden einführe, eröffne es damit anderen Staaten den Weg, ihrerseits gegenüber deutschen Minderheiten sich "diese Rechtsfigur" zu eigen zu machen. Sie könnten im Gegenzug die in ihrem Gebiet wohnenden Deutschen für alle Schäden haftbar machen, die ein Deutscher ihrer Volkswirtschaft zufüge. Das RIM hielt an dem Steuerplan grundsätzlich fest; es erweiterte den Entwurf und sah die Möglichkeit vor, aus dem Sondervermögen unter Umständen auch die "Auswanderung minderbemittelter Juden aus dem Deutschen Reich" zu fördern. Die neue Steuerforderung sollte zum 1. Januar 1938 ergehen. Trotz seiner grundsätzlichen Zustimmung erhob Göring in seiner Eigenschaft als "geschäftsführender Wirtschaftsminister" jedoch Einspruch: "Die Verkündung des Gesetzes würde gegenwärtig eine gewisse Gefahr für die Rohstoffund Devisenlage des Reichs bedeuten" und bat deshalb darum, das Gesetz "noch einige Zeit hinauszuschieben". Das RFM stellte das Vorhaben zunächst für 6 Monate zurück. Wenn auch die "Leistungsausgleichssteuer" auf Görings Drängen nicht erlassen wurde, so verordnete er doch als Beauftragter für den Vierjahresplan am 26. April 1938 die ,,Anmeldung des Vermögens von Juden"79: Juden und ihre nichtjüdischen Ehegatten mußten ihr gesamtes Vermögen, auch das nichtsteuerpflichtige über 5.000 RM bei der Polizei (!) anmelden. Der Beauftragte für den Vierjahresplan traf die notwendigen Maßnahmen, "um den Einsatz des anmeldepflichtigen Vermögens im Einklang mit den Belangen der deutschen Wirtschaft sicherzustellen"80. Damit war nicht nur für alle weiteren Pläne eine genaue

77 Zusammenfassender Bericht des RFM vom 25.4.1938, BA (Potsdam): 21.01 B 6014, fol. 97. 78 Am 4.2. 1936 hatte der jüdische Student David Frankfurter den Schweizer Landesgruppenleiter der NSDAP Wilhelm Gustloff in dessen Davoser Wohnung durch 4 Schüsse

ermordet. Vor der Polizei begründete er seine Tat: er sei nicht politisch organisiert, aber er hasse das deutsche System. Am 14.12.1936 wurde er vom Kantonsgericht Chur wegen vorsätzlichen Mordes zu 18 Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Prozeß erregte großes Aufsehen; It. Bericht der Frankfurter Zeitung waren bei Prozeßbeginn 200 Journalisten anwesend. David Frankfurter war kurz zuvor zum Ehrenpräsidenten der "Weltliga zur Abwehr des Antisemitismus" gewählt worden. 79 RGBI. I, S. 414.

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II. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

Erhebungsgrundlage geschaffen, diese Angaben wurden selbstverständlich auch bei der Bemessung der Reichsfluchtsteuer herangezogen. Nach der Ermordung des Botschaftssekretärs Ernst vom Rath in Paris durch Herschel Grynszpan sah die nationalsozialistische Regierung nun die Möglichkeit, aus einem gegebenen Anlaß - wie sie es zuvor mit dem Gustloff Prozeß geplant hatte - eine Sonderabgabe für Juden einzuführen. Görings Verordnung 81 forderte "eine Sühneleistung". Sowohl staatenlose als auch Juden deutscher Staatsangehörigkeit mußten (auf der Berechnungsgrundlage der Verordnung über die ,,Anmeldung des Vermögens von Juden") in 4 Teilbeträgen mit 20 % ihres Vermögens die geforderte "Kontribution" von 1 Mrd RM aufbringen 82 • In einer Pressenotiz erläuterte das RFM seine Zuständigkeit 83: "Unbeschadet ihres Wesens als Sühne wird die Abgabe von den Finanzämtern aus technischen Vereinfachungsgründen nach den Vorschriften erhoben, die für Reichssteuern gelten". 'Gegen die Entscheidungen der Finanzämter blieb lediglich eine Beschwerde an den Oberfinanzpräsidenten 84• Als im Dezember 1938 die Verlängerung der Reichsfluchtsteuer anstand, hob der RFM in seinem Antrag u. a. hervor: Zur Reichsfluchtsteuer werden alle leistungsfähigen Auswanderer herangezogen, der Kreis der Steuerpflichtigen sei deshalb weiter als der zur Sühneleistung verpflichteten Juden. Da vielfach beide Forderungen von denselben Personen erhoben wurden, erklärte er sich damit einverstanden, daß die Reichsfluchtsteuer nur von dem Vermögen zu erheben sei, das nach Abzug der Judenvermögensabgabe übrig bleibe 85 • Sicherheiten, die für die Erstattung der Reichsfluchtsteuer zu hinterlegen waren, wurden auch auf die Judenvermögensabgabe angerechnet 86. 80 Am selben Tag trat auch die 1. Durchführungsverordnung in Kraft, dazu aber vor allem die detaillierte Durchführungsverordnung vom 5.12.1938, RGB1. I, S. 415, 1709 ff. und die nachfolgenden Verordnungen. 81 12. 11. 1938; gleichzeitig erging die Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbebetrieben, RGB1. I, S. 1579 und 1581. 82 Dazu die ersten Durchführungsverordnungen vom 21. und 24.11.; 5.12.1938, RGB1. I, S. 1638, 1668, 1709 (Walk, Sonderrecht, S. 254 f.) und das Protokoll der Tagung der Regierungspräsidenten am 16.12.1938 BA (Koblenz): R 018/005519, fo1. 285 f. Die Abgabe sollte so lange erhoben werden, bis der Betrag von einer Milliarde RM erreicht war. 1939 erhöhte der RFM den von jedem abzuliefernden Anteil von 20 auf 25 % des Vermögens. 19.10.1939, RGB1. I, S. 2059. Dazu diestenographische Niederschrift eines Teils der Besprechung über die Judenfrage unter dem Vorsitz von Göring am 12.11.1938, abgedr. in: IMT Bd. 28, S. 499ff; vg1. Hilberg, Vernichtung, S. 36. 83 23.11.1938, RStB1. 1938, S. 1075 f. 84 Ganz in diesem Sinn auch das Urteil des RFH vom 14.9.1939: Auch wenn die Judenvermögensabgabe keine Steuer im Sinn des § 1 Abgabeordnung (AO) sei, sondern eine "Sühne für die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk und Reich", so sollten doch aus "Vereinfachungsgründen" und "um den Verfahren bei der Erhebung der Abgabe eine technische Grundlage zu geben", die Bestimmungen der AO angewandt werden, "aber nicht solche Vorschriften, die ... den Rechtsmittelzug zum Gegenstand haben". RStB1. 1939, S. 1089. 85 5.12.1938, BA (Koblenz): R 43 11 /789 a, fo1. 21.

4. Reichsfluchtsteuer und nationalsoz. Steuer- und Finanzgesetzgebung

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d) 11. DVO zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 Die mit der Reichsfluchtsteuer belasteten Emigranten mußten weitere Vermögenseinbußen hinnehmen, denn durch die 11. Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 87 sicherte sich das Reich eine zusätzliche Einnahmequelle. Schon seit Mai 1940 drängte der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im RIM darauf, die Beschlagnahme der Emigrantenvermögen rasch zu beschließen 88 • Dies seien ,,kriegswichtige und deshalb mit größter Tatkraft und Beschleunigung durchzuführende Fälle". Zu leicht könne sich ein Emigrant durch eine rasch betriebene ,,Naturalisierung" im Ausland, d. h. durch die Annahme einer neuen Staatsangehörigkeit, dem Aberkennungsverfahren entziehen und als Ausländer versuchen, sich die Rechte über das in Deutschland liegende Vermögen zu sichern. Das RIM stellte die Vorentwürfe im April zur Diskussion. Durch die Koppelung und Erweiterung bislang bestehender Auflagen und Einschränkungen verfügte die Durchführungsverordnung die Ausbürgerung aller sich im Ausland aufhaltenden ehemals deutschen Juden aus dem Reich. Ihr gesamtes Vermögen (und das der staatenlosen Juden) verfiel dem Reich. Nach Ansicht des RJM wurde dadurch der "unerwünschte Zustand" beseitigt, daß emigrierte Juden noch über im Inland befindliche Vermögenswerte verfügen konnten 89. Nach § 8 der Verordnung stellte der Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes der SS fest, "ob die Voraussetzungen für den Vermögensverfall vorliegen"90. Seit März beriet das RIM die Details der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz 91 • Das eingezogene Vermögen sollte It. § 1 Abs. 3 des Entwurfs der "Förderung der Judenauswanderung" dienen. Doch aus "außenpolitischen Gründen" wurde umformuliert und bestimmt, daß das dem Reich zufallende Vermögen "für die mit der Lösung der Judenfrage im Zusammenhang stehenden Zwecke verwandt werden soll" 92. Das RIM wollte sich jedoch nicht festlegen, sondern erklärte zugleich, "diese Bestimmung soll keine Bindung für RFM oder RSHA (Reichssicherheitshauptamt) sein" 93. Rderl. RFM, 7.2.1939, RStBl. 1939, S. 250. RGBl. I, S. 722 f. 88 17.5.1940, BA (Koblenz): R 2/5979. 89 BA (Koblenz): R 018/005509, fol. 245. 90 Der Oberfinanzpräsident Berlin sollte das verfallene Vermögen verwalten und verwerten (§ 8 Abs. 2). Der RFM begrüßte diese Regelung ausdrücklich, "weil sie für meine Verwaltung eine Entlastung bedeutet". BA (Koblenz): R 2/5980. 91 Das AA legte großen Wert darauf, die Staatenlosigkeit der ausgewanderten Juden zeitgleich, bzw. im Anschluß an die Inkraftsetzung der amerikanischen Englandhilfe zu verkünden. RIM am 13.3.1941, BA (Koblenz): R 2/5980. 92 So die Formulierung im vertraulichen Schreiben des RIM an den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei vom 8.4.1941, BA (Koblenz): R 018/005509, fol. 245. 93 15.3.1941 BA (Koblenz): R 2/5980. 86 87

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

Alle Reichsfluchtsteuerpflichtigen wurden nicht nur durch die allgemeine rigide Steuer- und Abgabenpolitik belastet: Die nationalsozialistische Regierung setzte vielmehr die Finanzgesetzgebung als ein probates Mittel gegenüber unerwünschten Personen ein 94 .

5. Auswanderungspolitik Die Diskrepanz zwischen der immer höheren Reichsfluchtsteuer-Forderung einerseits und dem Bestreben der nationalsozialistischen Regierung, die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung zu erzwingen, andererseits, war offenbar. Das RWiM bejahte in einem Runderlaß vom 28. August 1933 grundsätzlich das "deutsche Interesse" an der Abwanderung von Nichtariern und bezeichnete eine Auswanderung als "erwünscht". Die Berliner Industrie- und Handelskammer dagegen bemängelte, daß unter Bezug auf diese Bestimmung "in weitem Maße" Anträge zur Befreiung von der Reichsfluchtsteuer gestellt worden seien. Wohl liege es grundsätzlich im deutschen Interesse, daß Nichtarier auswandern, aber dieses Interesse beschränke sich "lediglich auf die Auswanderung an sich". Sie lehnte einen Steuerdispens ab, selbst wenn eine Freistellung "vielleicht bei strenger Befolgung der augenblicklichen Bestimmung möglich wäre". Falls die Betroffenen "über erhebliche Kapitalien verfügen, die sie sich meist aus den besonderen Verhältnissen der vergangenen Epochen erworben haben, so dürfte es nicht angängig sein, daß hierdurch eine Schädigung der deutschen Bevölkerung in Bezug auf die zu tragenden Lasten eintritt"95. Auch das RFM äußerte 96 sich zu dem folgenreichen Erlaß des RWiM: Wenn grundsätzlich bejaht werde, daß die Auswanderung von Nichtariern im deutschen Interesse liege, so hätten Juden keine Reichsfluchtsteuer zu zahlen. "Das Ergebnis kann nicht gewünscht werden". Und "selbst wenn Inlandsinteresse an der Auswanderung der Juden bestehen sollte, so dürfte ihre Tätigkeit im Ausland, insbesondere wenn sie gegen Deutschland gerichtet ist, nicht im deutschen Interesse liegen". Die Grundsatzfrage bleibe, ob die Auswanderung von Juden steuerlich begünstigt werden solle. Das Ministerium meinte, "im Billigkeitsweg insbesondere bei Vermögensminderung" sei man schon bisher entgegengekommen. In vereinzelten Fällen, "z. B. um langwierige Rechtsmittelverfahren, deren Ausgang für die Verwaltung zweifelhaft war, zum Abschluß zu bringen", habe man jüdischen Steuerpflichtigen eine Stundung und den Erlaß von Steuern gewährt. Doch bei der Veranlagung zur Reichsfluchtsteuer sei ein besonders strenger Maßstab angelegt worden. Obgleich der Runderlaß vom 26. Juli 1933 eine mögliche Ermäßigung der Steuer auf 1 /4 des zum Zeitpunkt der Auswanderung tatsächlich vorhandenen Vermögens vorsehe, so 94 Dazu auch Stolleis, Gemeinwohlformeln, S. 285 f. 95 Bericht der !HK Berlin vom 17.11.1933, BA (Potsdam): 21.01 B 7129-S 3600. 96 Referat Zülow des RFM, 21.8.1935, BA (Potsdam): 21.01 B 6014, fol 4.

5. Auswanderungspolitik

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sei davon nur Gebrauch gemacht worden, "wenn die Zahlung der vollen Reichsfluchtsteuer aus dem verminderten Vermögen nicht verlangt werden konnte". Gnadengesuche seien stets abgelehnt worden 97 • Die Reichsbehörden hielten zunächst daran fest, daß die Auswanderung der jüdischen Bevölkerung grundSätzlich zu fördern sei 98 , obgleich die damit verbundenen Auflagen unentwegt anwuchsen und die finanziellen Belastungen für die Auswanderungswilligen zunahmen. Das Innenministerium war sogar bereit, hilfsbedürftige Juden zu unterstützen, wenn dadurch die Auswanderung gefördert werde. Gedacht war an Berufsausbildungen, Umschulungen, Übernahme der Reisekosten bis zur Grenze u. dgl. Der Chef der Sicherheitspolizei drohte "vertraulich": Allen jüdischen Schutzhaftgefangenen, die zum Zwecke der Auswanderung aus der Schutzhaft entlassen werden, sei "mündlich" zu eröffnen, "daß bei einer Rückkehr nach Deutschland sie selbst und ihre ganze Familie lebenslänglich in einem Konzentrationslager untergebracht würden"99. Palästina war anfangs das meistgewünschte Auswanderungsziel. Die damit verbundenen besonderen Probleme regelte der sog. Haavara-Transfer vom 25. August 1933 ((Xl. Nach dem Erlaß der "Nürnberger Gesetze" stieg auch bei schwieriger Devisenlage \01 die Zahl der Auswanderungswilligen. Das sei zwar "vom rassenpolitischen Standpunkt aus" als die "günstigste Lösung" anzusehen. Sie fand nach Ansicht eines Referenten im RWiM 102 jedoch eine "enge Grenze" an den durch die deutsche Devisenlage eingeschränkten Transfermöglichkeiten. Seiner Ansicht nach müsse es den Juden möglich sein, für den Neuanfang im Ausland wenigstens einen geringen Teil ihres Vermögens dorthin zu überführen. Der Referent stellte folgende Berechnung an: Bei einem legalen Verkauf des zurückgelassenen Auswanderersperrguthabens büße der Auswanderer ("in Anbetracht der gegenwärtigen Kurse") etwa 70 % seines Vermögens ein. Rechne man die Reichsfluchtsteuer dazu, so erhöhe sich der Verlust auf fast 80 %. Er gab deshalb zu bedenken, "ob dieser Zustand nicht dadurch verbessert werden könnte, daß auf Erhebung der Reichsfluchtsteuer verzichtet oder diese doch wesentlich

Schreiben vom 23.8.1935, BA (Potsdam): 21.01 B 6014, fol. 29. Dazu neben anderen möglichen Beispielen die Vorschläge des RIM vom 1.12. 1938, AA: Politisches Archiv Inland II A / B R 99296. Im selben Sinn das ,,nicht zur Veröffentlichung geeignete" Schreiben des RIM an die Landesregierungen u. a. vom 21.1.1939, Generallandesarchiv, Karlsruhe (GLA) 233/27735. 99 An das Reichskriminalpolizeiamt, Berlin 19.10.1938, IfZ: PS 2254. 100 Die Bedingungen hatte unter anderem Hans Hartenstein aus dem RWiM ausgehandelt. Er kommentiert die 1935 gültigen Bestimmungen in seinem Devisennotrecht, S. 803 f. Zum ganzen Feilchenfeld; Michaelis; Pinner, Haavara-Transfer und Barkai, The German Interests in the Haavara Transfer, S. 260 f. 101 Die noch 1933 möglichen Devisenzuteilungen ließen sich in den kommenden Jahren nicht mehr aufbringen. Dazu Hartenstein, Devisennotrecht, S. 798. 102 Vertrauliche Aufzeichnungen eines Referenten des RWiM v~m 5.12.1935. BA (Koblenz): R 2/5977 und BA (Potsdam): 21.01 B 6014, fol. 48 ff. 97 98

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gemildert" werde. Die Reichsfluchtsteuer sei von der Regierung Brüning unter völlig anderen Voraussetzungen erlassen worden. Bessere Bedingungen - fuhr der Referent fort - könnten vermutlich für eine größere Zahl wohlhabender Juden die Abwanderung unter Verzicht auf etwa 2/ 3 ihres Vermögens tragbar machen 103. Das RFM lehnte solche Vorschläge am 11. Dezember 1935 strikt ab 104: Die Kursdifferenz zwischen Inlands- und Auslands-Reichsmark betrage etwa 70 %. "Gegenüber diesen Verlusten, die die Auswanderer erdrück(en), spielt die Reichsfluchtsteuer keine Rolle". Das RWiM bemühe sich um eine Behebung der Transfer-Schwierigkeiten, einer "Verstärkung (der Bemühungen) auf dem Gebiet der Reichsfluchtsteuer bedarf es daher nicht". Eine allgemeine Freistellung auswandernder Juden von der Reichsfluchtsteuer - sei es durch Gesetzesänderung, sei es auf dem Verwaltungswege - könne nicht ernstlich in Betracht gezogen werden. "Im übrigen scheint das RWiM davon auszugehen, daß wir uns bemühen müßten, den auswandernden Juden im Ausland zu einer gewerblichen Tätigkeit zu verhelfen. Das geht m. E. zu weit". Wenn ein Jude sein deutsches Geschäft verkaufe, müsse es ihm überlassen bleiben, das Geld "nach Belieben - ohne ministerielle Unterstützung - anzulegen". Es stehe ihm frei, in Deutschland zu bleiben. "Will er das nicht, dann muß er - wie jeder andere - die Folgen der Auswanderung tragen". Der Referent Illgner aus dem RFM kam zu dem Schluß: Die vom RWiM angeschnittenen Fragen könnten "jedenfalls nicht über die Reichsfluchtsteuer gelöst werden. Billigkeitsgründe für einen allgemeinen Erlaß - darauf käme es ja hinaus - liegen nicht vor". In einer "unverbindlichen Aussprache" wurden am 11. Dezember 1935 zwischen Vertretern aus dem RIM, RWiM, RFM, der Reichsbank, der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung, des Stellvertreters des Führers u. a. die ,,Förderung der jüdischen Auswanderung" besprochen 105. Der "Beauftragte des Stellvertreters des Führers" berichtete von dem Plan, ,,Juden, die durch Ausfuhr deutscher Waren Devisen schaffen", die Auswanderung (besonders den Vermögenstransfer) zu erleichtern. In diesem Zusammenhang sei auch erörtert worden, die Reichsfluchtsteuer zu mildem oder ganz zu erlassen. Diesen Vorstellungen wurde sofort widersprochen: "Sollen arische Auswanderer die Reichsfluchtsteuer zahlen und die Juden davon befreit werden?" Schließlich sei es eine wünschenswerte mittelbare Wirkung der Reichsfluchtsteuer, daß sie wohlhabende Steuerpflichtige veranlasse, im Inland zu bleiben und weiterhin Steuer zu entrichten. Das RWiM erörtere lediglich die Verhältnisse der kapitalkräftigen Juden, die ihr Vermögen ins Ausland bringen wollten. Völlig offen sei dagegen die Frage, "was mit den 90 % aller Juden geschieht, 103 Er empfahl eine "etwas entgegenkommendere Handhabung" bei der Errichtung von Vertriebsstätten im Ausland, die Schaffung zusätzlicher mittelbarer Transfeimöglichkeiten und dgl. mehr, alles "im Interesse der Förderung der jüdischen Abwanderung". 104 BA (Potsdam); 21.01 B 6014, fol. 54. 105 BA (Potsdam); 21.01 B 6014, fol. 55 f.

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die ein kleines ... oder gar kein Vermögen haben. Das jüdische Proletariat bleibt dann in Deutschland, während die reichen Juden auswandern". Die Besprechung endete ohne greifbares Ergebnis. Dazu trug sicher der Umstand bei, daß nach einem Sitzungsvermerk des Ministerialdirektors Wohlthat (RFM) die Vertreter des Stellvertreters des Führers und des RIM sich nicht "über die bisherigen Entschließungen des Führers zur jüdischen Auswanderungsfrage" einigen konnten 106. Als 1937 die Reichsfluchtsteuer zur Verlängerung anstand, fand im Innenministerium am 18. Oktober 1937 wiederum eine Besprechung über Fragen der jüdischen Auswanderung statt 107: Die jüdischen Auswanderungen seien zurückgegangen, "es wird darauf zu sehen sein, den Auswanderungswillen der Juden in Deutschland durch innenpolitische Maßnahmen zu erhalten", selbst wenn dadurch in erster Linie reiche Juden zur Auswanderung gebracht würden. Die Reichsfluchtsteuer dagegen wirke "auswanderungshemmend". Die Vertreter der Reichsstelle für Devisenbewirtschaftung und des RIM berichteten, daß sie beabsichtigten, die Bestimmungen der Reichsfluchtsteuer zu lockern. Ministerialrat Dr. Josten (RWiM) stellte die Frage, ob das Reichsfluchtsteuergesetz noch zeitgemäß sei 108. Anders als 1931 setze sich heute (6. November 1937) die überwiegende Zahl der Auswanderer aus dem "politisch unerwünschten Teil der Bevölkerung (Juden u. ä.)" zusammen, "denen die Möglichkeit zu wirtschaftlicher insbesondere beruflicher Betätigung unter Einsatz mannigfaltigster Mittel in zunehmendem Maße verengt wird". Vom Standpunkt des Steueraufkommens seien diese Auswanderer "meist uninteressant", ihre Steuerkraft sinke beständig. Da die lückenlos aufgebaute Devisenbewirtschaftung und die Transferschwierigkeiten eine Kapitalflucht verhinderten, sei das Reichsfluchtsteuergesetz "sachlich überholt". Die politisch erwünschte Auswanderung werde "weitgehend dadurch verhindert, daß dem zur Auswanderung Gezwungenen nicht die Mittel bleiben, deren er bedarf, um die Kosten der Übergangszeit zu bestreiten und sich eine neue Existenz aufzubauen (Vorzeigegelder)". Falls das RFM wegen des ReichsfluchtsteuerErtrags auf einer Verlängerung der Reichsfluchtsteuer bestehe, so solle man doch den Steuersatz zwischen 5 % und 25 % der Vermögensabgabe staffeln und den Familienstand bei der Steuererhebung berücksichtigen. All diese Erwägungen kamen nicht über ein Planungs stadium hinaus, die strengen Bestimmungen der Reichsfluchtsteuer wurden nicht gemildert.

106 Der Vertreter des RIM habe "als die letzte ihm bekannte Meinungsäußerung des Führers" mitgeteilt, daß Juden in der Wirtschaft ,,nicht oder möglichst wenig behelligt werden sollten". Demgegenüber betonte der Vertreter des Stellvertreters des Führers, Hitler wolle den Juden zunächst durch "Möglichkeiten zur Vermögensmitnahme" einen Anreiz geben, aber "sobald sich ein Weg als gangbar erwiesen habe", einen Zwang zur Auswanderung, auch unter Vermögensverlusten, ausüben. 107 Vermerk darüber im BA (Potsdam): 21.01 B 7129-S 3600. 108 6.11. 1937 BA (Potsdam): 21.01 B 7129-S 3600.

4 Mußgnug

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Das erhöhte Reichsfluchtsteuer-Aufkommen war vielmehr einer der Gründe, der für die Verlängerung der Steuer aufgeführt wurde 109. Doch der RFM war 1937 theoretisch zu Zugeständnissen bereit: In Ausnahmefällen werde von der Festsetzung und Erhebung der Reichsfluchtsteuer teilweise oder ganz abgesehen. Denn es könne ,,Fälle geben, in denen die an sich erwünschte Auswanderung eines Juden oder jüdischen Mischlings durch die Erhebung der Reichsfluchtsteuer verhindert wird". Anträge auf Ermäßigung oder Erlaß müßten ihm zur Entscheidung vorgelegt werden 1\0. 1939 war der RFM zu weiterem "Entgegenkommen" bereit: Manchmal sei es Juden nicht möglich, die Reichsfluchtsteuer rechtzeitig zu entrichten. Sie könnten die ihnen in den Visen für die Einwanderung gesetzten Fristen nicht einhalten. "Ich bin daher damit einverstanden, daß solchen Juden, die sich zur Auswanderung anschicken, die steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung 111 auch dann erteilt wird, wenn die Reichsfluchtsteuer zwar nicht entrichtet, aber für sie eine ausreichende Sicherheit (auch durch Hinterlegung von Wertpapieren oder sicherungsweise Übereignung von Grundbesitz) geleistet worden ist" 112. Die Rechtslage wurde immer verworrener. Das Präsidium der Reichsbank hatte schon 1935 die Unsicherheiten der "neuen Gesetzgebung" beklagt. Die ständig wachsende Kapitalflucht sei nur dadurch "abzustoppen", daß die Rechte der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet endgültig klargestellt, eine ,,klare Abgrenzung des von den neuen Gesetzen betroffenen Personenskreises" vorgenommen werde. "Die unbedingte Sicherung dieser Rechte ist eine unentbehrliche Voraussetzung". Die "fortschreitende Realisierung jüdischer Vermögensanlagen" schwäche die innerdeutsche Kreditlage, denn die so gewonnenen baren Mittel würden umgehend zur Kapitalflucht genutzt. Bei der Überfülle der bestehenden Verordnungen ließen sich Vermögensverschiebungen nicht mehr wirksam bekämpfen 1\3. Durch das Dickicht der Verordnungen und Erlasse war nur noch schwer hindurchzufinden. Der Jüdische Buchverlag brachte deshalb 1938 eine Sammlung der ,,Auswanderungsvorschriften für Juden in Deutschland" heraus 114. Auch die Behörden beklagten die Schwerfälligkeit des Auswandererverfahrens. Die Devisenstelle Berlin wünschte erleichterte Ausreisebedingungen 115. Bislang Fortlaufend von Jahr zu Jahr BA (Koblenz): R 43 11 / 789 a. Rderl. des RFM vom 23.12.1937, RStBI. 1937, S. 1295. Dispensationen von der Reichsfluchtsteuer oder auch nur Anträge zum Erlaß der Reichsfluchtsteuer waren in den Akten des RFM nicht zu fmden. 111 Ausstellende Behörde war das zuständige Finanzamt. Nur unter Vorlage dieser Bescheinigung konnte ein Auslandspaß beantragt werden. 112 Rderl. des RFM vom 7.2.1939, RStBI. 1939, S. 250. \l3 Schreiben vom 1.11.1935 an den RIM, BA (Koblenz): R 018/005514, fol. 15f, 17. Am 4. 11. 1935 fand im Innenministerium eine Besprechung "betr. Maßnahmen gegen den Rückfluß ins Ausland verschobener Reichsbanknoten" statt, ohne daß konkrete Schritte beschlossen worden wären. 114 Hg. v. Heinz Cohn und Erich Gottfeld. 115 4.10.1938, BA (Koblenz): R 2/5979. 109

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müßten die Auswanderer, selbst wenn die Devisenstelle bereits eine sog. "verbindliche Zusage" erteilt habe, noch 13 - 15 Unterlagen nachreichen. Häufig seien die jüdischen Auswanderer deshalb gezwungen, zwei- bis dreimal ihre Passagen verfallen zu lassen 116. Die grundsätzliche Bereitschaft, die jüdische Auswanderung zu fördern, läßt sich an vielen ministeriellen Verfügungen belegen. Sie ergingen aus den unterschiedlichsten Beweggründen 117. Ihnen wurden teils wirtschaftliche 118, teils nationalsozialistisch-weltanschauliche 119 Motive unterlegt. Umfassend informierte das AA am 25. Januar 1939 alle diplomatischen und berufskonsularischen Vertretungen im Ausland über "Die Judenfrage als Faktor der Außenpolitk im Jahre 1938". "Das letzte Ziel der deutschen Judenpolitik ist die Abwanderung aller im Reichsgebiet lebenden Juden". Die Denkschrift kommt zum Schluß: "Es besteht deutscherseits ein größeres Interesse daran, die Zersplitterung des Judentums aufrecht zu erhalten.... Je ärmer und damit belastender für das Einwanderungsland der einwandernde Jude ist, desto erwünschter ist die Wirkung im deutschen propagandistischen Interesse" 120. Da Göring an der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Außenbeziehungen interessiert war 121, war er auch zu Zugeständnissen bei der Auswanderung bereit. "Mit allen Mitteln" wollte er (24. Januar 19.39) die Auswanderung der Juden 116 In der Dr. Alfred Wiener Bibliothek (jetzt: Wiener Library Tel Aviv) sind ,EyeWitness-Reports of the Fate of Survivors' gesammelt, die bewegend über ihre Ausreiseschwierigkeiten berichten. Gegenüber den vielfältigen kleinen und großen Schikanen spielt die Verpflichtung Reichsfluchtsteuer zu zahlen in den Berichten kaum eine Rolle. Die Berichte liegen im HZ: MZS 1/1 EW, z. B. von S. Vollmann (fol. 1128), H. Reinhardt (fol. 1255). Dazu auch Sauer, Dokumente Teil 11, S. 166 ff., 242 ff., 250 ff.; Benz, Hertha Nathorff. 117 Am 16.11.1937 warderRIM selbst dann bereit, Juden Auslandspässe zur Auswanderung auszuhändigen, "wenn mit einer deutschfeindlichen Betätigung des Paßbewerbers im Ausland gerechnet werden müsse". BA (Koblenz): R 2/5978. 118 "Die Juden werden durch ihre Ausschaltung aus dem Wirtschaftsleben zum weit überwiegenden Teil zur Untätigkeit gezwungen, und darüber hinaus wird regelmäßig auch ihre Verarmung herbeigeführt werden. Beides ist von allgemein staatspolitischem Standpunkt aus unerwünscht (anwachsendes jüdisches Proletariat). Wirksame Abhilfe würde vor allem die Auswanderung der Juden bieten können". So der RIM an Göring als Beauftragten des Vierjahresplans, den RWiM, den Stellvertreter des Führers, 14.6.1938. BA (Koblenz): R 018/005509, fol. 135. 119 Der Staatsskretär aus dem RIM Stuckart erklärte am 29.9.1936 in einer Besprechung mit Teilnehmern aus dem RIM, dem RWiM und dem Stellvertreter des Führers: das endgültige Ziel der Judenpolitik sei die restlose Auswanderung, denn "für den Staat (ist) ebenfalls das Parteiprogramm maßgebend", BA (Koblenz): R 018/005514, fol. 199, 201. 120 Es folgen Ausführungen über die geringe Bereitschaft anderer Länder, die "lästigen jüdischen Eindringlinge" aufzunehmen, die Schwierigkeit der Palästina-Einwanderung unter der britischen Mandatsregierung, die Bedenken, dort einen ,,Judenstaat" dem Vatikan vergleichbar zu fördern. IfZ: PS 3358. 121 So der RWiM an den RFM, 19.11.1938, BA (Koblenz): R 2/5979.

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gefördert sehen 122 und Einzelfälle beschleunigen 123. Aber im selben Schreiben setzte er den Chef der Sicherheitspolizei Heydrich als Leiter der Reichszentrale für jüdische Auswanderung ein. Der teilte die Einrichtung seiner Stelle am 11. Februar 1939 mit 124 und forderte dazu auf, "mich an allen Angelegenheiten, die die Auswanderung der Juden aus Deutschland berühren, zu beteiligen". Im März 1941 traf er seine Anordnungen bereits "im Hinblick auf die kommende Endlösung". "Der Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches wünscht jedoch auch während des Krieges im Rahmen der bestehenden Möglichkeit eine verstärkte Judenabwanderung" 125. Am 31. Juli 1941 "ergänzte" Göring seinen Erlaß und übertrug Heydrich förmlich die Aufgabe, "die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen" 126. Doch bereits drei Monate später bestimmte der Runderlaß vom 23. Oktober 1941, "daß die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern ist" 127. Auch wenn diese Anordnungen zunächst nur "streng vertraulich" weitergeleitet wurden, bezog man sich ein Jahr später auch in offiziellen Schreiben ganz selbstverständlich darauf: " ... wie dort bekannt" habe "der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei im Oktober 1941 die Auswanderung der Juden aus dem Deutschen Reich und den besetzten Gebieten untersagt" 128. Auswanderungen sollten nur genehmigt werden beim "Vorliegen eines positiven Reichsinteresses" oder - auf Wunsch des RWiM und der Reichsbank - falls "hohe Devisen anfallen" 129. Erörterungen um die Reichsfluchtsteuer waren unter solchen Voraussetzungen überflüssig geworden. 122 Auf der Tagung im RIM vom 16.12.1938, die den Regierungspräsidenten die ,,Richtlinien an die Hand geben (sollte), die man kennen muß", wurde erklärt: "Das innenpolitische Ziel der Judenpolitik ist die Auswanderung". BA (Koblenz) R 018/ 005519, fo!. 285, 299. 123 Göring am 24.1.1939 an den RIM, in vielfacher Ausfertigung verbreitet, z. B. im AA: Politisches Archiv Inland 11 A / B R 99366 und GLA 233/27735. 124 Z. B. in: GLA 233 / 27735. 125 Schreiben an das AA vom 12.3.1941. Heydrich teilte dem AA mit, daß an der Weiterwanderung reichsdeutscher Juden, die sich z. Zt. in Jugoslawien befänden, kein Interesse bestehe. Die USA hätten in den letzten Wochen ihre Bestimmungen für die Erteilung von US-Visa erheblich gelockert. ,,Die Einschaltung der in Jugoslawien befindlichen Juden würde die Ausreisemöglichkeit für Juden aus dem Reichsgebiet erheblich schmälern". AA: Politisches Archiv Inland n A / B R 99367. 126 IfZ: PS 710, zit. bei Hilberg, Vernichtung, S. 283. 127 Rder!. des von Heydrich eingesetzten Obergruppenführers Heinrich Müller. Dazu Adler, Der verwaltete Mensch, S. 29 f.; Mommsen, Die Realisierung des Utopischen, S. 395, 409; Jäckel / Rohwer, Der Mord an Juden (bes. Beiträge von Saul Friedländer und Helmut Krausnick) mit weiteren Literaturangaben. Angekündigt: Norbert Kampe, Emigration and Expulsion of German Jewry 1933 - 1945, New York. 12'1.. So die Meldung des "Chefs der Sicherheitspolizei und des SD" am 11. 12. 1942 an das AA. AA: Politisches Archiv Inland 11 A / B R 100853. In diesem Sinn schon am 22.2. 1942 das Telegramm an die Pariser Botschaft: früher sollte jeder Schiffsplatz für jüdische Aussiedler genutzt werden, ,,nunmehr" solle jede Judenauswanderung unterbleiben. AA: Politisches Archiv Inland 11 A / B R 99370.

6. Die Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs

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6. Die Rechtsprechung des Reichstinanzhofs Gegen Reichsfluchtsteuer-Bescheide konnten die Steuerpflichtigen vor dem Finanzgericht und in zweiter und letzter Instanz vor dem RFH 130 klagen (§ 10 Abs. 2 Reichsfluchtsteuergesetz, § 239 Abgabenordnung). Die Tatsachenermittlungen lagen bei den Finanzgerichten und wurden vom RFH als Berufungsinstanz nicht mehr angestellt. Bis zum Januar 1933 waren nur wenige Urteile zur Reichsfluchtsteuer ergangen. Damals l3l neigte das Gericht dazu, die Steuervorschriften streng auszulegen. Zu einer Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland - und dem Versuch die Devisenbestimmungen zu umgehen - meinte der RFH 132: "Das mag kaufmännisch richtig gedacht und nach Lage der Umstände vom Standpunkt der Familieninteressen aus verständlich und moralisch vertretbar gewesen sein; daß aber die Steuerbehörden und -gerichte die Hand dazu bieten sollen, dieses Vorhaben noch zu unterstützen, ist eine Zumutung, die nicht scharf genug zurückgewiesen werden kann". Bereits im Dezember 1932 hatte der RFH den Erlaß der Steuervorschriften auf der Grundlage des Art. 48 Abs. 2 RV nicht beanstandet 133. Ähnlich entschied das Gericht auch im Mai 1933, die Möglichkeit zur Auswanderung (Art. 112 Abs. 1 RV) bleibe unbenommen, denn die Reichsfluchtsteuer-Pflicht hänge von objektiven Tatbeständen ab, deren "Gestaltung im freien Belieben der Parteien" stehe l34 • Der RFH sah im Juli 1933 in der Einführung der Reichsfluchtsteuer nicht die Absicht, dem Reich eine neue Einnahmequelle zu erschließen, denn die Finanzverwaltung lege weniger Wert auf den Steuerertrag, als darauf die Personen weiterhin zu besteuern. Die Reichsfluchtsteuer diene vielmehr allein dazu, das ,,Abwandern kapitalkräftiger Personen ins Ausland zu verhindern" 135. Doch gerade in dieser Hinsicht setzte mit Beginn der nationalsozialistischen Regierung eine völlig andere Politik ein. 129 Für ein Ausreisevisum aus Holland bot 1942 der Inhaber einer Fabrik die Arisierung seines Betriebs, dazu 50.000 hfl "der deutschen Behörde als Geschenk" an. Dem Direktor der Dresdner Bank wurde in einer Aktennotiz mitgeteilt (1. 3.1942), letztlich entscheide das Haupt-Sicherungsarnt der SS in Berlin über das Visum. "Hierbei sind weniger Zugeständnisse maßgebend, welche der Jude materiell im Inland machen kann, sondern die Möglichkeiten, welche eventuell als Kompensationsobjekte aus den uns verschlossenen Teilen des Auslandes hereingeholt werden können". IfZ: NID 10616. 130 Für die Rechtsprechung zur Reichsfluchtsteuer nicht sehr ergiebig Uffelmann, Die Rechtsprechung des RFH. Urteile auch bei Echterhölter, Das öffentliche Recht, S. 298 ff. l3l Insbesondere auch zu dem 1918/1919 bis 1925 gültigen Steuerfluchtgesetz. Der RFH griff auch auf die Gesetzesmaterialien von 1918 zurück (Urteil vorn 22.9.1932, RStBI. 1932, S. 1010). 132 16.3.1933, RStBI. 1933, S. 668. 133 Urteil vorn 15.12.1932, RStBI. 1933, S. 92, dazu oben S. 25. 134 Ein Ehegatte, der nach der Heirat zu seiner Frau in die Schweiz ziehen wollte, hatte die Klage angestrengt. Urteil des RFH vorn 11.5.1933, RStBI. 1933, S. 771 f. 135 Urteil vorn 13.7.1933, RStBI. 1933, S.996 (Formulierung im Anklang an die regierungsamtliche Begründung der Reichsfluchtsteuer).

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11. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

Viele Auswanderer gaben die Wahrung eines "deutschen oder volkswirtschaftlichen Interesses" an, um von der Reichsfluchtsteuer freigestellt zu werden (§ 2 Abs.3 Reichsfluchtsteuer-Verordnung). In zahlreichen Verfahren entschied das Gericht über Umfang und Ausmaß dieses Steuerdispenses. Nach Ansicht des Gerichts 136 stand dabei dem Ermessen der Steuerbehörden nur ein geringer Spielraum zur Verfügung, denn die Reichsfluchtsteuer knüpfe an genau umrissene Tatbestände an. Der RFH setzte das "deutsche Interesse" an einem Auslandsaufenthalt immer sehr deutlich von einem bestehenden überwiegend privaten Interesse ab 137. Die vielfach vorgebrachte Begründung der ,,Nichtarier", gerade ihre Auswanderung liege im "deutschen Interesse", sie müßten deshalb von der Zahlung der Reichsfluchtsteuer freigestellt werden, stand bald zur Entscheidung beim RFH an. Das erste dieser Verfahren, dessen Urteil veröffentlicht wurde, strengte ein Rechtsanwalt an 138: Er sah sich gezwungen, seinen Beruf aufzugeben, verließ im Juni 1933 Deutschland, um im Ausland die Vertretung deutscher Firmen zu übernehmen. Der für Reichsfluchtsteuer-Sachen zuständige III. Senat des RFH ersuchte den RFM dem Verfahren beizutreten. Der brachte vor: "Die zuungunsten der Nichtarier getroffenen Maßnahmen waren durch die politische Lage bedingt und haben den Zweck, den überragenden Einfluß (der Nichtarier) ... zu beseitigen". Die dadurch "notwendigen beruflichen Umstellungen" könnten ,,kein Grund sein zu einer allgemeinen Freistellung von der Reichsfluchtsteuer bei der Abwanderung solcher Personen ... , zumal diese Umstellung den unter die Reichsfluchtsteuer-Verordnung fallenden Personen durch ihre Vermögenslage regelmäßig erleichtert wird" 139. Der RFH übernahm die Politik des RFM und wies die Klage des Anwalts zurück 140: Die Reichsfluchtsteuer sei 1931 eingeführt worden, um wohlhabende Steuerzahler in Deutschland zu halten. Die Frage, ob die Auswanderung von Nichtariern im deutschen Interesse liege, habe 1931 "noch nicht ernstlich zur Erörterung" gestanden. Das Gebot steuerlicher Gerechtigkeit und Gleichmäßigkeit verlange, daß bei der Auswanderung wohlhabende Nichtarier sich nicht besser stellten als wohlhabende Arier. "Damit scheidet die Rassezugehörigkeit eines Steuerpflichtigen im Rahmen der Reichsfluchtsteuer-Verordnung aus jeder Erörterung aus" 141. Ähnlich urteilte das Gericht im Juni 1934: "Die Annahme des Beschwerdeführers, daß aus dem nationalsozialistischen Staatsgefühl heraus 8.4.1933, RStBl. 1933, S. 434. Z. B. Leitsatz des Urteils vom 22.9.1932, RStBl. 1932, S. 1009: "Allein die Möglichkeit und die Hoffnung, daß ein in das Ausland Verziehender dort neben der Pflege seines persönlichen Wohles auch das Deutschtum fördern werde, kann nicht zu der Feststellung führen, daß die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes in deutschem Interesse liegt". Ähnlich 19.1.1933, RStBl. 1933, S. 322. 138 Ebenso die Klage eines Anwalts, der nach Palästina auswanderte und dort deutsche Waren importieren wollte (Urteil vom 16.2.1934, RStBl. 1934, S. 371). 139 Der RFM führte weiter aus, keine Maßnahme zwinge Nichtarier zur Auswanderung. Die Abwandernden, "die ihr Vermögen unter dem Schutz des Deutschen Reiches erwerben konnten", sollten deshalb zu einer letzten großen Abgabe herangezogen werden. 140 Urteil vom 20.12.1933, RStBl. 1934, S. 90/91. 141 Ebenso das Urteil vom 8.3.1934, RStBl. 1934, S. 566. 136 137

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die Auswanderung eines Juden grundsätzlich als im deutschen Interesse liegend erachtet werden müsse, ist in diesem Zusammenhang ... abwegig" 142. Ein jüdischer Arzt, der seine deutsche Stelle aufgeben mußte, wollte ein "deutsches Interesse" daran geltend machen, daß seine Stelle frei werde, er in Amerika eine Klinik übernehme und dort Lehrveranstaltungen abhalte. Auch er wurde vom RFH abgewiesen 143. Der Stab des Stellvertreters des Führers gab dem RIM 1937 bekannt: Es könne in keinem Fall im "deutschen Interesse" liegen, einen Juden für irgendeinen Lehrstuhl im Ausland zu benennen. "Damit würde man Juden amtlich bestätigen, daß sie in der Lage wären, eine deutsche kulturpolitische Mission zu erfüllen. Es wird im Ausland wohl niemand Verständnis dafür aufbringen können, daß Deutschland ausgerechnet einen Juden empfiehlt" 144. In einem späteren Urteil bezog sich der RFH auf den Runderlaß des RFM vom 23. Dezember 1937 145 , nach dem "bei auswandernden Juden oder jüdischen Mischlingen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Freistellungsbescheinigung (von der Reichsfluchtsteuer) in der Regel nicht vorliegen". Das Gericht folgerte daraus, daß "Juden im allgemeinen nicht geeignet sind, die Belange des deutschen Volkes im Ausland wirksam zu vertreten" und lehnte die beantragte Befreiung von der Reichsfluchtsteuer ab 146, womit dieser Argumentation der Boden endgültig entzogen war. Steuerpflichtige brachten vor dem RFH auch vor, daß ihre Auswanderung im volkswirtschaftlichen Interesse liege und sie deshalb von der Reichsfluchtsteuer befreit werden müßten. 1932 gab das Gericht der Klage eines Steuerpflichtigen statt, der, nachdem er arbeitslos geworden war, im Mai 1931 Deutschland verlassen hatte, um im Ausland eine neue Stelle anzunehmen. Der Senat entschied, es sei volkswirtschaftlich gerechtfertigt, daß jedermann seine Arbeitskraft nach Möglichkeit ausnutze. ,,Private Interessen und Belange der allgemeinen Volkswirtschaft" bewegten sich insoweit gleichlaufend nebeneinander her 147. Wenige Monate später betonte der RFH in solchen Verfahren, daß "der Begriff des volkswirtschaftlichen Interesses" sich allein nach dem Interesse der "Allgemeinheit" nicht dem des einzelnen Bürgers ausrichten müsse 148. Die Pläne müßten 17.6.1937, RStBl. 1937, S. 949. Urteil vom 12.4.1934, RStBl. 1934, S. 591. 144 Ganz abgesehen davon pflege selbst die Haltung der loyalsten Juden nach dem Verlassen des Reichsgebietes erfahrungsgemäß in eine ausgesprochen deutschfeindliche Einstellung umzuschlagen. Schreiben aus München am 17.2.1937 mit Durchschlägen an das RFM und das AA. AA: Politisches Archiv Inland 11 A / B R 99358. 145 RStBl. 1937, S. 1295. 146 Urteil vom 15.9.1938, RStBl. 1939, S. 153. 147 Urteil vom 7.12. 1932, RStBl. 1933, S. 771. ,,Nicht die hohe steuerliche Belastung in Deutschland hat den Beschwerdeführer zur Verlegung seines Wohnsitzes ins Ausland veraniaßt, sondern sein Bestreben, sich dort eine neue wirtschaftliche Existenz zu schaffen". 148 Urteil vom 11.5.1933, RStBl. 1933, S. 771. Nach dem Urteil vom 10.6.1937, RStBl. 1937, S. 799, mußte es "wesentliche Triebfeder für die Auswanderung" sein, die deutschen volkswirtschaftlichen Interessen zu fördern. 142 143

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bestimmt sein und auf einer festen Grundlage beruhen, wenn bei den "widerstreitenden Interessen" - "auf der einen Seite der sichere Verlust eines inländischen Steuerzahlers und Verbrauchers, auf der anderen Seite nur unverbürgte Zusagen und Hoffnungen auf Förderung der deutschen Ausfuhr" - dem Befreiungsantrag entsprochen werden solle 149. Lediglich in einem Verfahren billigte der RFH einem bereits 1931 Ausgewanderten, auf Grund eines von der Industrie- und Handelskammer erstellten Gutachtens, zu, daß zum Zeitpunkt seiner Auswanderung das deutsche volkswirtschaftliche Interesse gewahrt zu sein schien. Wenn sich die Wirtschaft in den folgenden Jahren ungünstiger entwickelt habe, so könne das dem Kläger nicht zur Last gelegt werden 150. Anders entschied das Gericht zwei Jahre später. Es erkannte jetzt die Steuerbefreiung nur dann an, wenn "mit mehr als ungewisser Wahrscheinlichkeit damit gerechnet" werden könne, daß durch die Tätigkeit des Auswandernden die deutschen Belange im Ausland gefördert würden und "eine Förderung auch alsbald nach der Auswanderung eintritt"151. Nach einem Urteil vom November 1937 sollte ein im Ausland in Konkurs geratener Steuerpflichtiger die Reichsfluchtsteuer sogar nachzahlen, obgleich anerkannt wurde, daß seine Pläne zum Zeitpunkt der Auswanderung günstig erschienen 152. Ein jüdischer Arzt glaubte seine Auswanderung volkswirtschaftlich rechtfertigen zu können, da er durch die Aufgabe seiner ärztlichen Tätigkeit im Inland dazu beitrage, "für seine Berufsgenossen einen Platz im Wirtschaftsleben freizumachen". Der RFH erkannte diese Begründung nicht an 153, denn: diese Voraussetzung werde wohl bei jedem berufstätigen Steuerpflichtigen vorliegen, der auswandere. In vielen Fällen bestritten die Auswanderer ihre Steuerpflicht gar nicht, sondern klagten um die Steuerhöhe. Die Steuerpflichtigen versuchten als Bemessungsgrundlage die Vermögenshöhe zugrunde zu legen, die nach dem Abzug der Familienermäßigung, der Vermögen- und Einkommensteuer verblieb. Der RFH wies dies zurück 154, erkannte aber bei einer Erbschaft an, daß lediglich der Zugewinn nach Abzug der Erbschaftsteuer berechnet werden dürfe 155. Die Rechtslage änderte sich, als durch das 1934 ergangene Vermögensteuergesetz nicht mehr nur das steuerpflichtige, sondern das Gesamtvermögen in die Berechnung der Reichsfluchtsteuer einbezogen werden mußte. Der RFH äußerte sich dazu: "Die Entwicklung des Vermögensteuerrechts zwingt dazu, die Reichsfluchtsteu149 Urteil vom 16.2. 1934 und entsprechend am 12.4. 1934, RStBI. 1934, S. 372; 590. 150 Urteil vom 13.9.1934, RStBI. 1935, S. 122. 151 Urteil vom 12.11.1936, RStBI. 1936, S. 1202 f., 1204. Der Steuerpflichtige hatte um eine Steuersenkung für 5 Jahre gebeten. 152 Urteil vom 25.11.1937, RStBI. 1938, S. 322. 153 Urteil vom 8.3.1934, RStBI. 1934, S. 566. 154 Urteile vom 18.7.1935 (RStBI. 1935, S. 1194) und 9.1.1936 (RStBl. 1936, S. 445); auch um die Reichsfluchtsteuer selbst durfte die Bemessungsgrundlage nicht geschmälert werden (RStBI. 1937, S. 938, Urteil vom 8.7.1937). 155 Urteile vom 25.7.1935 und 27.8.1935, RStBI. 1935, S.l172; 1204.

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er-Vorschriften in gewissen Teilen jetzt anders zu lesen als unter der Herrschaft des Vermögensteuergesetzes von 1931". Der RFH hob eine Vorentscheidung auf, "die der neueren Rechtsentwicklung nicht Rechnung" trug 156. Reichsfluchtsteuer mußte nun auch ein Auswanderer zahlen, dessen steuerpflichtiges Vermögen nach Abzug der Steuern und Freibeträge auf Null festgesetzt war, dessen "Gesamtvermögen" jedoch über der Freigrenze von 50.000 RM lag 157. Das Gesetz vom 19. Dezember 1937 158 bezog alle Schenkungen in die Berechnung der Reichsfluchtsteuer ein. Der Steuerpflichtige mußte sie sich auch dann zurechnen lassen, wenn sie erst nach seiner Auswanderung getätigt wurden, er aber zum Zeitpunkt der Emigration damit rechnen konnte 159. Unter Umständen wurde die Reichsfluchtsteuer sowohl vom Schenkenden als auch vom Beschenkten erhoben 160. Sehr viele Verfahren vor dem RFH knüpften an den für die Entstehung der Reichsfluchtsteuer so wichtigen Zeitpunkt der "Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder Aufenthalts" an. Der RFH hatte die polizeiliche Wiederanmeldung in Deutschland wiederholt als ausreichenden Beweis eines inländischen Wohnsitzes gewertet und keinen Nachdruck auf die "Bewohnbarkeit" der angegebenen Adresse gelegt 161. Damit zog er sich die unverholene Kritik des RFM zu 162. Das Ministerium beendete die Diskussion mit dem Erlaß des Steueranpassungsgesetzes 163, durch dessen § 13 in Zukunft derartige Auslegungen unterbunden werden sollten. Noch in der offiziellen Begründung wies das Ministerium das Gericht in ungewöhnlich unverblümter Weise zurecht, "um keine Zweifel mehr aufkommen zu lassen" wurde der Begriff des "Wohnsitzes" neu umschrieben 164. Entscheidend sei künftig allein der äußere Tatbestand, nicht mehr wie bisher lediglich die ,,Absicht", einen Wohnsitz beizubehalten. Nach dem Erlaß des SteueranpasUrteil vom 21.1.1937, RStBI. 1937, S. 335. Entsprechend erging es einem nichtarischen Auswanderer, der sein Lotteriegeschäft verkaufen mußte. Er lag mit seinem Vermögen und Einkommen weit unterhalb der Freigrenzen, mußte sich aber den Erlös, den er beim Verkauf "seiner Einkommensquelle" , des Lotteriegeschäftes, erzielte als einmaliges Einkommen anrechnen lassen und Reichsfluchtsteuer entrichten. Urteil vom 7.10.1937, RStBl. 1937, S. 1160. 158 S. o. S. 33. 159 Urteile vom 28.1.1938 (RStBl. 1938, S.313f.), 27.6.1939 (RStBl. 1939, S. 920 f.), 23.2.1939, nach denen auch Schenkungen, für die früher bereits Reichsfluchtsteuer gezahlt worden waren, mitgerechnet werden sollten, RStBI. 1939, S. 572f. 160 Urteile vom 1.10.1936, RStBl. 1936, S. 1093/4; 13.10.1938, RStBl. 1938, S.IOO2. 161 13.7.1933 (RStBI. 1933, S.996); 15.3.1934; 11.7.1934 (RStBl. 1934, S.794, 994). 162 S. o. S. 30. 163 Steueranpassungsgesetz vom 16. 10. 1934, RGBI. I, S. 925, 927. 164 § 13: Einen Wohnsitz im Sinn der Steuergesetze hat jemand dort, wo er eine Wohnung innehat unter Umständen, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. 156 157

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sungsgesetzes genügten "Scheinwohnsitze" 165, die polizeiliche Anmeldung 166, eine allzu ungewisse l67 oder zu lange hinausgezögerte Rückkehr l68 nicht mehr, um eine Reichsfluchtsteuer-Befreiung zu erreichen. Die Merkmale einer Wohnung mußten "objektiv" gegeben sein, die "persönliche Auffassung des Inhabers über den Wohnungsbegriff ist grundsätzlich nicht maßgebend" 169. Mögen die Urteile anfangs noch der "Rechtsentwicklung" entsprochen haben, so verschärfte die Rechtsprechung die gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Urteile bis sie schließlich der 1934 durch das Steueranpassungsgesetz selbst in das Steuerrecht eingebrachten ideologischen Ausrichtung folgte. Ein "nichtarischer" Geschäftsmann hatte mit seiner Familie 1933 Deutschland verlassen, seine Wohnung jedoch nicht aufgegeben. Als er zur Zahlung der Reichsfluchtsteuer aufgefordert wurde, wandte er (nach Ansicht des RFH "lediglich") ein: Da die ihm zugefügten schweren Mißhandlungen bisher keine Sühne gefunden hätten, ihm vielmehr bei seiner Rückkehr Schutzhaft angedroht worden sei, "müsse er befürchten, daß er nach seiner Rückkehr rechtlos und unter Umständen weiteren Gefährdungen von Leib und Leben ausgesetzt wäre". Es entspreche nicht dem Sinn und Zweck der Reichsfluchtsteuer-Verordnung, einem Steuerpflichtigen, dem die Rückkehr in die Heimat unmöglich gemacht werde, eine Steuer in der Höhe eines Viertels des Vermögens aufzuerlegen. Das Gericht wies diese Einwände als "nicht begründet" ab. "Der Umstand allein, daß der Steuerpflichtige sich nicht freiwillig im Ausland aufhält, sondern durch die Verhältnisse (z. B. Furcht vor Belästigung u. dgl.) dazu genötigt wird, steht der Erhebung der Reichsfluchtsteuer nicht entgegen". Die angegebenen Vorgänge hätten sich in der ersten Zeit der Umwälzung abgespielt, als die Leidenschaften noch erregt gewesen und einzelne Übergriffe vorgekommen sein mögen, die die leitenden Stellen keineswegs gebilligt hätten. "Seitdem haben sich die Gemüter aber wieder beruhigt". Bei den heute (Urteil vom 27. September 1934) in Deutschland bestehenden Verhältnissen "ist nicht anzunehmen, daß dem Beschwerdeführer noch irgendwelches Unrecht zugefügt wird". Deshalb hätte er unbedenklich an irgendeinen Ort in Deutschland zurückkehren können. Da er es dennoch vorziehe, im Ausland zu bleiben, müsse er die Reichsfluchtsteuer entrichten 170. Allein in der Tatsache, daß ein Steuersteckbrief ausgeschrieben war, erkannte das Gericht keinen ausreichenden Grund für einen Steuerpflichtigen, die Rückkehr nach Deutschland zu Urteil vom 20.9.1934, RStBl. 1934, S. 1388. Urteile vom 14.11.1935, RStBl. 1935, S. 1461 und 24.9.1936, RStBl. 1936, S.997. 167 Selbst durch Krankheit bedingte Verzögerung, Urteil vom 24.6.1937, RStBl. 1937, S.822 (Seite 823: "Die Ungewissheit muß einmal ein Ende haben") und 30.6.1938, RStBl. 1938, S. 713. 168 Urteile vom 5.11.1936 (RStBl. 1936, S. 1123); 18.2.1937,29.4.1937,26.5.1937 (RStBl. 1937, S. 382,615,790). 169 Urteil vom 28.1.1937, RStBl. 1937, S. 336. 170 Urteil vom 27.9.1934, RStBl. 1934, S. 1225. 165

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verweigern. Die Reichsfluchtsteuer-Forderung blieb bestehen 171. 1936 verkündete der RFH in einem Leitsatz 172: Die Mitteilung der Geheimen Staatspolizei, "daß die Rückkehr eines im Ausland befindlichen Deutschen unerwünscht sei, hindert die Rückkehr des Steuerpflichtigen in das Inland nicht". Das Gericht urteilte, der Steuerpflichtige habe die Absicht, nach Deutschland zurückzukehren, bereits vor dem Gestapo-Schreiben aufgegeben. Allein ein "deutsches oder volkswirtschaftliches Interesse" könne von der Reichsfluchtsteuer befreien. "Alle anderen Gründe, die ... eine Auswanderung oder die Nichtrückkehr aus dem Ausland zweckmäßig erscheinen lassen, müssen bei dem der Reichsfluchtsteuer zugrunde liegenden Gedanken der letzten Vermögensabgabe unberücksichtigt bleiben". Auch einen Deutschen, dessen Antrag, aus dem Ausland nach Deutschland zurückzukehren, wiederholt von der Gestapo abgelehnt worden war, verurteilte der RFH zur Zahlung der Reichsfluchtsteuer 173 • Die bemerkenswerte Begründung lautete: "Nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge und bei vernunftgemäßem Handeln ... wird ein Steuerpflichtiger, dem die Rückkehr ins Inland polizeilich verboten ist und der die Aufhebung des Verbots erfolglos betrieben hat, alsbald die Folgerung aus dem Verbot ziehen, auf die Rückkehr endgültig verzichten und seine frühere Wohnung tatsächlich aufgeben. Dann wäre die Aufgabe des Wohnsitzes darin zu erblicken, daß der Steuerpflichtige nicht zurückkehrt. Behält er dennoch seine Wohnung formell bei, so ist der Schluß gerechtfertigt, daß das Beibehalten der Wohnung nur einen Scheinwohnsitz vortäuschen soll, damit keine Reichsfluchtsteuer-Pflicht entstehen könne". Das Gericht stellte am Ende des Urteils die indirekte Frage, "ob es der Billigkeit entsprechen würde, hier eine Reichsfluchtsteuer zu erheben" - doch darüber hätten nicht die Steuergerichte, sondern die Verwaltungsbehörden zu entscheiden 174. Nach der 1934 geäußerten Kritik am RFH lobte Staatssekretär Reinhardt 1936 175 das Gericht: Nun da die nationalsozialistische Weltanschauung den "Beurteilungsgrundsatz" abgebe, verlange die gebotene Gleichmäßigkeit der Besteuerung, daß frühere Entscheidungen der Gerichte "insoweit, als sie mit der Volksanschauung ... nicht oder nicht mehr in Einklang stehen" für die Anwendung des Gesetzes und die Beurteilung eines Tatbestandes nicht maßgebend seien. Reinhardt leitete daraus die Rückwirkung der neuen Grundsätze her. Der RFH habe Urteil vom 31. 1. 1935, RStBI. 1935, S. 339. Urteil vom 6.2.1936, RStBI. 1936, S. 195 f. Der Beschwerdeführer war, nach der Darstellung des Sachverhalts, an Unternehmen beteiligt, "welche die Anzeigenwerbung für kommunistische Zeitungen bezweckten". . 173 Urteil vom 9.7.1936, RStBI. 1936, S. 859. 174 Ganz dieser Tendenz entsprechend sollte auch eine Frau, die sich im Ausland aufhielt, Reichsfluchtsteuer zahlen. Ihr war die Verlängerung ihres Reisepasses von der deutschen Gesandtschaft verweigert worden, deshalb konnte sie nicht nach Deutschland zurückkehren. Urteil vom 8.12.1938, RStBI. 1939, S. 328. 175 Vortrag bei der Jahrestagung der Akademie für Deutsches Recht am 23.10.1936, RStBI. 1936, S. 1042 f., 1055/1056. 171

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das erkannt und "treffend" formuliert: "Die Auslegungsgrundsätze des § 1 Steueranpassungsgesetzes sind bei der Beurteilung aller Streitfragen anzuwenden, die nach dem Inkrafttreten dieser Vorschrift zur Entscheidung gelangen. Darauf, welchem Zeitraum der dem Steuerstreit zugrunde liegende Tatbestand angehört, kommt es nicht an" 176. Der für Urteile zur Reichsfluchtsteuer zuständige III. Senat des RFH zog sich 1936 auch in anderer Hinsicht den Unwillen des RFM zu: In zwei (unveröffentlichten) Urteilen hatte er entschieden, daß die Deutschen, die bislang als "leitende Angestellte" einer deutschen Firma im Ausland tätig waren, nun nach Änderung ihres Status 177 "nicht ohne weiteres" zur Reichsfluchtsteuer herangezogen werden sollten. Der RFM widersprach: "Die Auffassung, die diesen Urteilen zugrunde liegt, teile ich nicht". Denn das würde bedeuten, daß diese Personen nie mehr zur Leistung der Reichsfluchtsteuer herangezogen werden könnten - und das liege nicht im Sinn der Gesetzesänderung. Die bislang bestehende Ausnahme für leitende Angestellte sei aufgehoben, die Reichsfluchtsteuer hätten ab 1. Januar 1935 alle im Ausland lebenden Deutschen zu entrichten. Der RFM ersuchte den Großen Senat des RFH um ein Gutachten zu dieser Frage. Am 7. August 1936 gab das Gericht bekannt l78 : "Der Senat stimmt der Auffassung des RFM bei". Wie der III. Senat richtig festgestellt habe, komme der (vom RFM vorgebrachten) Begründung des Gesetzes zwar keine Gesetzeskraft zu. Doch eine Gesetzeslücke müsse, soweit es der Gesetzestext zulasse, durch die amtliche Begründung ausgefüllt werden. Dazu sei zu prüfen, "ob die Auffassung der Begründung im Gesetz Ausdruck gefunden" habe - und das sei hier der Fall. Ein halbes Jahr später rechtfertigte der IH. Senat seine nunmehr geänderte Rechtsprechung 179: "Die Volksanschauung, die bei der Auslegung der Steuergesetze zu berücksichtigen ist, würde es nicht verstehen", wenn das Gericht gegen seine bessere Überzeugung an einem früheren Standpunkt festhalte. "Eine so formalistische Auffassung würde es dem RFH unmöglich machen, in seiner Rechtsprechung der Entwicklung der Verhältnisse zu folgen".

176 Leitsatz des Urteils vom 7.4.1936 (I. Senat des RFH), RStBI. 1936, S. 442f. Zur Entscheidung stand die Frage, ob ein seit 1848 bestehender jüdischer Schulfonds, aus dem unbemittelte schulpflichtige jüdische Kinder unterstützt wurden, als "gemeinnützig" anerkannt werden könne. Im Urteil hieß es: "Unter dem ,gemeinen Besten' ist aber im Sinn des nationalsozialistischen Gedankenguts das Wohl der deutschen Volksgemeinschaft zu verstehen. Die Förderung deihöheren Schulbildung von jüdischen, also fremdrassigen Staatsangehörigen ... dient ... nicht dem Wohl der deutschen Volksgemeinschaft". Das Gericht bestritt dem Fonds auch den Charakter der "Mildtätigkeit". 177 § 14 Abs.3 Steueranpassungsgesetz hob ihren "fiktiven" inländischen, bei der Beschäftigungsfirma angenommenen Wohnsitz auf und verlangte die Rückverlegung ihres Wohnsitzes ins Inland - andernfalls wurden sie reichsfluchtsteuerpflichtig. 178 RStBI.1936,S.876/877. 179 Urteil vom 8.1.1937, RStBI. 1937, S. 107/108.

7. Das Reichsfluchtsteuer-Aufkommen

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7. Das Reichsfluchtsteuer-Aufkommen 1931 erklärte die Regierung bei der Einführung der Reichsfluchtsteuer, es komme ihr weniger auf eine neue ertragreiche Steuer an, das Hauptziel sei es vielmehr, finanzkräftige Steuerzahler im Land zu halten. Sieht man von den hohen Steuereingängen der ersten Monate ab, die sich aus der rückwirkenden Fälligkeit der Reichsfluchtsteuer erklären lassen, so war das Aufkommen in den ersten Rechnungsjahren 180 gering. Machte es in den verbliebenen vier Kalendermonaten des Rechnungsjahres 1931 / 32 noch 2 % der in dieser Zeit eingegangenen Vermögensteuer aus, so fiel es im folgenden Rechnungsjahr auf 0,08 % des Vermögensteuerertrags. Die Behörden registrierten mit Befriedigung, daß sich ein beachtlicher Teil der Betroffenen aus dem Ausland zurückmeldete und in Deutschland wieder in vollem Umfang Steuern zahlte. Im Januar 1934 deutete der preußische Ministerpräsident die wachsende Zahl der Auswanderer auf seine Weise 181: Es gebe eine "Anzahl völlig bedeutungsloser kleiner Leute, grundlos verängstigter Volksgenossen", denen die Rückkehr in die Heimat nicht verwehrt werden solle, "aber nicht, wenn sie an hochverräterischem Treiben führender Emigranten mitgewirkt haben". Die Zahl der politischen Flüchtlinge werde jedoch bei weitem von der Anzahl der kriminellen Elemente übertroffen; an deren Rückkehr bestehe kein Interesse, sie seien an der Grenze festzunehmen. Die Reichsstelle für das Auswanderungswesen zeichnete im Dezember 1933 jedoch ein anderes Bild 182. Der "Auswanderungsdrang der Juden" habe im 2. Kalenderquartal "schlagartig im ganzen Reich" eingesetzt. Im 3. Kalenderquartal1933 habe sie sich gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres um 85,4 % erhöht. Auch die Zahl der arischen Auswanderungswilligen sei gestiegen. Der Bericht fügte erklärend hinzu: Das hänge einmal "trotz der starken Belebung des deutschen Arbeitsmarktes durch die Maßnahmen der Reichsregierung" mit der zahlenmäßig noch immer großen Erwerbslosigkeit zusammen. Dazu berichte die Presse in "gelegentlichen Mitteilungen ... über günstige Aussichten der Auswanderung"183. Noch 1938 klagte der Leiter der Devisenstelle in Berlin über den hohen Arbeitsanfall in seinem Amt. Er fügte hinzu: ,,mindestens 50 %" aller jüdischen Antragsteller seien mittellos 184. Der RFM nannte immer dann exakte Zahlen über das ReichsfluchtsteuerAufkommen, wenn er um eine Verlängerung der Laufzeit bat. Am 3. Dezember 180 Das Rechnungsjahr begann jeweils im April und endete im März des darauffolgenden Jahres. 181 Erlaß vom 15.1.1934, BA (Koblenz): R 2/5977. 182 12.12.1933, BA (Koblenz): R 018/005644, fol. 157. 183 Ein weiterer Bericht der AuswanderersteIle vom 12.12.1938 in BA (Koblenz): R 018/005511. Dort sind für die Jahre 1937/38 detaillierte Angaben gemacht, für welche Länder und in welcher Höhe Devisen bewilligt wurden. 184 4.10.1938, BA (Koblenz): R 2/5979.

H. Anwendung der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften nach 1933

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1940 meinte er, seit Kriegsausbruch seien die Auswanderungsmöglichkeiten beschränkt. Die Steuersummen seien entsprechend zurückgegangen. "Das wird sich aber mit Beendigung des Kriegs ändern", denn danach "werden ... noch mehr Juden - besonders aus den eingegliederten Gebieten auswandern" 185. Die in der angeschlossenen Tabelle 186 aufgeführten Steuererträge sind dem "Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich" entnommen. Bis zum Rechnungsjahr 1937/38 war das Statistische Jahrbuch frei zugänglich. Der 1939/40 erschienene Band für das Rechnungsjahr 1938/39 trug den roten Aufdruck "Geheim, muß im Panzerschrank aufbewahrt werden". Der letzte Band erschien 1941 /42 und bezog sich auf das Rechnungsjahr 1939/40. Bis zum Rechnungsjahr 1934/ 35 erfolgten die Steuerangaben monatlich, danach 1 /4 jährlich. Die Beträge sind in 1.000 RM angegeben. Da die Reichsfluchtsteuer vor allem nach dem Vermögen bemessen wurde, ist in der Tabelle aufgeführt, wieviel % der gesamten Vermögensteuer das Reichsfluchtsteuer-Aufkommen im jeweiligen Rechnungsjahr ausmacht. Das Reichsamt für Statistik erfaßte in seinen Angaben immer nur den Eingang der Zahlung, nicht die Anzahl der einzahlenden Personen, den Fälligkeitstermin oder dergleichen. Auf den Zeitpunkt der Auswanderung läßt sich deshalb allein aus diesen Materialien nur ungefähr schließen. Die Reaktion auf bestimmte politische Vorkommnisse ist nur mit Zeitverzug abzulesen. Da die Reichsfluchtsteuer spätestens 2 Monate nach der Auswanderung zu entrichten war, ergeben sich wenigstens grobe zeitliche Anhaltspunkte: Das seit April 1933 ansteigende Steueraufkommen folgte auf den Machtwechsel Ende Januar. Die Herabsetzung der Freigrenzen im Mai 1934 brachte einen einmaligen erhöhten Steuereingang im August 1934. Die auf die Nürnberger Rassegesetze folgende Auswanderungswelle schlug sich im Aufkommen des Quartals Oktober-Dezember 1935 nieder. Nach den Progromen im November 1938 gingen die höchsten Steuersummen ein, die sogar das Vermögensteueraufkommen bei weitem übertrafen. Wie nicht anders zu erwarten, fiel das Steueraufkommen nach Kriegsbeginn 187.

Verlängerungsantrag BA (Koblenz): R 43 H / 789a, fol. 36. Siehe Anlage 2. 187 Sehr begrenzt können monatliche Angaben für die Jahre 1943 und 1944 herangezogen werden, die das Statistische Reichsamt über die ausgegebenen Devisenbeträge dem AA meldete. Darin war sogar vermerkt, wievielen Juden Devisen zugeteilt wurden: 1943 insgesamt 76; 1944 lediglich 2 Personen. Unvollständig überliefert in AA: Politisches Archiv Inland II A / B R 99372. 185

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111. Die Reichsfluchtsteuer nach 1945 1.

Entschädigung~ansprüche

Am 20. September 1945 verfügte das Kontrollratsgesetz Nr. 1 1, daß alle die Rechtsvorschriften außer Kraft gesetzt seien, durch die jemand wegen seiner Rasse, seiner Staatsangehörigkeit, seines Glaubens oder seiner politischen Gesinnung benachteiligt wurde. Unter diese Kategorien fiel die ReichsfluchtsteuerVerordnung nicht 2 • Die süd- und westdeutschen Finanzverwaltungen kamen im Mai 1946 zu dem Schluß 3: Die Reichsfluchtsteuer habe sich in den letzten Jahren vor allem auf Juden und politische Flüchtlinge "durch unmittelbaren oder mittelbaren Zwang zur Auswanderung" ausgewirkt, bestehe aber unverändert fort 4. Sie waren deshalb zunächst nur dann bereit die Reichsfluchtsteuer zurückzuerstatten, wenn der Steuerpflichtige gar nicht ausgewandert war, sondern sich im Inland verborgen gehalten hatte. Die gestellten Sicherheiten sollten nur freigegeben werden, wenn "aus besonderen Gründen" die Sicherung des künftigen Steueranspruchs nicht mehr erforderlich sei. Noch rigoroser entschied das Steuer- und Zollamt der Hamburgischen Finanzbehörde 5: Solange der Steuerpflichtige weiterhin im Ausland wohnen bleibe, dürfe ihm die Steuer nicht erlassen werden. Er könne selbst dann keinen "Billigkeitsgrund" anführen, wenn "er seiner Zeit zwangsweise unter Erhebung von Reichsfluchtsteuer" auswandern mußte. Er bleibe steuerpflichtig, "zumal seine Steuerpflicht auch eintreten würde, wenn er heute auswandern würde". Falls der Steuerpflichtige sich allerdings entschließe, nach Deutschland zurückzukehren, so bestünden keine Bedenken, ihm die noch nicht entrichteten ReichsfluchtsteuerBeträge zu erlassen. Bereits gezahlte Reichsfluchtsteuer könne in Anbetracht der finanziellen Auswirkungen nicht zurückerstattet werden 6. Die "Verwaltung der Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets" meinte ebenfalls, die Steuerschuld sei spätestens zu dem Zeitpunkt entstanden, an dem der Steuerpflichtige sich Amtsblatt der Militärregierung. Baden NT. I, S. 3. Nochmals 1951 durch den BFH am 20.12.1951, BStBl. 1952 III, S.43 bestätigt. 3 Tagung am 21. / 22.5.1946 in Bad Boll, GLA 237/39779. Die Tagungsergebnisse wurden an die Finanzämter in Nordbaden am 9.7.1946 weitergegeben. 4 Das wurde vor allem gegenüber der zum Vergleich herangezogenen Judenvermögensabgabe betont. 5 Hamburg, 30.3.1949, BA (Koblenz): B 126/6185. Dort liegen alle im folgenden zitierten Akten. 6 In ähnlichem Sinn äußerte sich der hessische Finanzminister im Juli 1949. 1

2

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III. Die Reichsfluchtsteuer nach 1945

entschlossen habe, im Ausland zu bleiben. Sie ging aber davon aus, daß in vielen Fällen wahrscheinlich aus "Billigkeitsgründen" die Reichsfluchtsteuer zu erlassen sei? Die norddeutschen Finanzbehörden 8 brachten weiter vor: Eine Rückerstattung der Reichsfluchtsteuer-Beträge an alle Emigranten belaste nicht nur das Steuerbudget außerordentlich schwer. "Angesichts der Not der Zeit" würde sie in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht verstanden, "weil die steuerliche Leistungskraft dieser Personen der deutschen Wirtschaft verloren gegangen ist" womit sich die Behörde des alten Brüningschen Arguments bediente, um es auch auf die Emigranten nach 1933 zu beziehen. Übereinstimmend erklärten alle, die Wiedergutmachung müsse dem Lastenausgleich vorbehalten bleiben. Wer Reichsfluchtsteuer entrichtet hatte, hoffte seine Ansprüche als eine "Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände" geltend machen zu können. Diese Schadenstatbestände regelten die Siegermächte, mit Ausnahme der Sowjets, jeweils in ihren Besatzungszonen zu allererst, wenn auch zu verschiedenen Zeitpunkten 9. Nach langwierigen Verhandlungen mit den Besatzungsbehörden, schwierigen Versuchen, die verschiedenen Rückerstattungsgesetze zu koordinieren 10, verabschiedete der Bundestag schließlich am 19. Juli 1957 11 das Bundesrückerstattungsgesetz. Da die Reichsfluchtsteuer meist aber nicht durch "Hingabe" von Vermögens gegenständen, sondern aus "Umlaufgeld" gezahlt worden war, konnten die Steuerpflichtigen sich nicht auf "die Rückerstattung eines feststellbaren Vermögensgegenstandes" berufen - als solches ist Geld nicht anzusehen - , sondern mußten eine Entschädigung einklagen 12. Die Details der Entschädigungsgesetzgebung hatten die Besatzungsmächte den deutschen Instanzen überlassen 13. In der amerikanischen Zone bildete das US-Entschädigungsgesetz 14 die Grundlage aller Ent-

7· Als Beispiel nannte sie den Aufbau einer neuen Existenz im Ausland. Schreiben aus Bad Homburg vom 28.10.1949 an das Hessische Staatsministerium. 8 Der niedersächsische Minister der Finanzen, die Landesregierung Schleswig-Holstein und die Hamburgische Finanzbehörde am 5. 11. 1949 an die Verwaltung der Finanzen in Bad Homburg. 9 Es galten in der amerikanischen Zone das Gesetz Nr. 59 vom 10.11. 1947; in der französischen Zone mit abweichenden Regelungen die Verordnung Nr. 120 vom 10.11.1947, in der britischen Zone mit dem Gesetz vom 12.5.1949 die 3. Variante. Eine separate Regelung traf die Order der Berliner Kommendantur für Berlin am 26.7.1949. 10 Vg\. dazu Schwarz, Rückerstattung, und: Das Bundesrückerstattungsgesetz. 11 BGB\. I, S. 734. 12 Abweichend die Rechtsprechung des Court of Restitution Appeals (CoRA), der 1952 auch für Bankkonten und Wertpapiere Rückerstattungsansprüche gelten lassen wollte, z. B. Urteil vom 22. 1. 1952, Neue Juristische Wochenschrift / Rechtsprechung zur Wiedergutmachung (NJW /RzW) 1952, S. 353. 13 Überblick über die unterschiedlichen Gesetzeslagen nicht nur zwischen Besatzungszonen, sondern auch innerhalb der Zonen in den jeweiligen Ländern, bei: Blessin / Wilden / Ehrig, Bundesentschädigungsgesetze, 1954, S. 71.

1. Entschädigungsansprüche

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scheidungen. Es bestimmte in seinem § 19 Abs.3: ,,Reichsfluchtsteuer wird erstattet, soweit sie von Verfolgten erhoben wurde, die aus den in Abs. 1 15 genannten Gründen nach dem 30. Januar 1933 zur Abwanderung genötigt waren". Im März 1950 wies deshalb das Württemberg-Badische Finanzministerium die Landesfinanzämter in Stuttgart und Karlsruhe an 16, wie man mit den "Anträgen auf Erstattung bereits gezahlter Beträge an Reichsfluchtsteuer und Judenvermögensabgabe" zu verfahren habe: Die Reichsfluchtsteuer solle aus Billigkeitsgründen erlassen bleiben, wenn die Rückkehr nach Deutschland nicht zumutbar sei. Unter den geltenden Entschädigungsgesetzen sei es nicht angängig, die Reichsfluchtsteuer bei zwangsweiser Auswanderung zu erheben. Das US-Entschädigungsgesetz war die Vorlage für das "Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung" (BEG) vom 18. September 1953 17 • Darin gestand § 21 Abs. 5 einen Entschädigungsanspruch für die geleistete Reichsfluchtsteuer zu. Allerdings galt die übliche Umrechnung 10 RM : 2 DM nur bis zum Betrag von 50.000 RM, darüber hinaus mußte 10: 1 verrechnet werden. Der Entschädigungsbetrag sollte 40.000 DM nicht übersteigen. Neben vielen anderen Bestimmungen regelte das BEG von 1956/ 1957 auch die Entschädigung der Reichsfluchtsteuer neu: Sie wurde in § 59 Abs. 2 Nr. 3 als "Sonderabgabe", der Judenvermögensabgabe vergleichbar, deklariert, für die der Verfolgte einen Anspruch auf Entschädigung anmelden konnte. Die 1953 festgelegten Höchstbeträge fielen weg l8 • Die ersten Reichsfluchtsteuer-Erstattungsansprüche wurden vorgebracht, als das Besatzungsrecht noch in vollem Umfang galt. Art. 1 des Rückerstattungsgesetzes der amerikanischen Zone formulierte den Grundsatz: Zweck des Gesetzes ist es, die Rückerstattung feststellbarer Vermögensschäden (Sachen, Rechte, Inbegriffe von Sachen und Rechten) an Personen, denen sie in der Zeit vom 30. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Weltanschauung oder politischer Gegnerschaft gegen den Nationalsozialimus entzogen worden sind, im größtmöglichen Umfang beschleunigt zu bewirken". Nach Art. 2 Abs. 1 konnten im Sinn des Gesetzes Vermögensgegenstände "durch Mißbrauch 14 Im Laufe des August 1949 haben die Länder der amerikanischen Besatzungszone es als Landesgesetz übernommen. 15 § 1 Abs. 1: "Ein Recht auf Wiedergutmachung nach diesem Gesetz hat, wer unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (30.1.1933 bis 8.5.1945) wegen seiner politischen Überzeugung, aus Gründen der Rasse, des Glaubens oder der Weltanschauung verfolgt wurde und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat". 16 21.3.1950, BA (Koblenz): B 126/6185. 17 Eine Vereinheitlichung der Gesetzgebung wurde erst 1952 angestrebt und als Ergänzung bereits bestehender internationaler und nationaler Gesetzgebung mit dem BEG erreicht, BGBL I 1387. 18 Dazu die Kommentierung bei Blessin / Wilden / Ehrig, Bundesentschädigungsgesetze, 3. Aufl., S. 530 ff., 538.

5 Mußgnug

III. Die Reichsfluchtsteuer nach 1945

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eines Staatsaktes" eingebüßt werden. Dies klagten ehemals Reichsfluchtsteuerpflichtige ein. In der amerikanischen Besatzungszone kam der Court ofRestitution Appeals in Nürnberg am 11. August 1950 zu dem Schluß: "Mißbrauch eines Staatsaktes liegt auch dann vor, wenn eine Person durch Verfolgungsmaßnahmen aus Gründen der Rasse gezwungen wurde, aus Deutschland zu fliehen und wegen dieser Flucht zur Zahlung einer Reichsfluchtsteuer herangezogen wurde" 19. Anders entschieden die Gerichte der britischen Besatzungszone. Das OLG Celle vertrat die Ansicht 20 , alle deutschen Auswanderer seien reichsfluchtsteuerpflichtig geworden. Die Steuerzahlung stelle ,,keine Verfolgung, sondern eine notwendige Folge der Auswanderung dar". Deshalb könne keine Rückerstattung erfolgen. Die Wiedergutmachung müsse im Rahmen der allgemeinen Entschädigungsgesetze eingeklagt werden. In letzter Instanz befand der Board of Review am 6. November 195121: Der Rückerstattungs-Anspruch sei nur gegeben, wenn auf Grund einer Diskriminierung die Entziehung feststellbaren Vermögens durch Staats- oder Verwaltungsakt erfolgte. Es sei zwar wahrscheinlich, daß es sich in der Mehrzahl der Fälle um eine diskriminierende Forderung handle, doch müsse jeder Fall einer genauen Prüfung unterzogen werden. Auch der für die französische Zone zuständige Cour Superieure pour les Restitutions (CSR) erkannte die Ansprüche nicht ohne weiteres an 22. Die VO Nr. 120 23, die die Rückerstattungsansprüche regelte, übernahm aus dem französischen Recht den Begriff der "offenen Diskriminierung" (Art. 1): die daraus folgenden Rechtsakte waren nichtig. Davon zu unterscheiden war die "versteckte Diskriminierung" (Art. 2): Die auf Grund an sich nicht diskriminierender Gesetze ergangenen Maßnahmen waren rückerstattungsfähig, wenn sie "in der Absicht zu schaden" 24 ergingen. Der Beweis für diese schädigende Absicht mußte vom Antragsteller erbracht werden. In der Vorinstanz werteten die deutschen Gerichte die Reichsfluchtsteuer als konfiskatorische Steuer 25 • Die französische letzte Instanz wollte die Erhebung der Reichsfluchtsteuer nur dann als diskriminierende Behandlung ansehen, "wenn auf Grund bestimmter Tatsachen, für die der Kläger beweispflichtig ist, dargetan werden kann, daß die Entstehung des Steueranspruchs durch konkrete, gegen den Kläger gerichtete diskriminierende Handlungen zwangsläufig verursacht worden ist". Wenn der Beklagte, beschloß der CSR NJW / RzW 1949/50, S. 395. Die vorinstanzlichen Urteile wurden damit bestätigt. 21.5.1951, NJW / RzW 1951, S. 243. 21 NJW /RzW 1952, S. 14 f. 22 Zur Entwicklung der Rückerstattung in der französischen Besatzungszone vgl. Schwarz, Rückerstattung, S. 287 ff. 23 "VO Nr. 120 über die Rückerstattung geraubter Vermögensobjekte" vom 14.11.1947, Amtsblatt des französischen Oberkommandos in Deutschland Nr. 119, S. 1219/1220. 24 Zur Kritik daran Schwarz, Rückerstattung, S. 298 f. 25 Trier 1.12.1948, NJW /RzW 1949, S. 37 und OLG Koblenz am 7.2.1950, aaO. 1949/50. S. 191. 19

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2. Die Erhebung der Reichsfluchtsteuer nach 1945

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sein Urteil, ins Ausland geflohen sei, um sich einer Bestrafung wegen Devisenvergehens zu entziehen, erscheine die "Ansetzung der Reichsfluchtsteuer ... keinesfalls ungerechtfertigt"26. Das Gericht hielt zwar an der Beweispflicht fest, übernahm aber in späteren Jahren selbstverständlicher die von den Vorinstanzen ermittelten Tatsachen 27 ("wie das OLG festgestellt hat", die "bekannte nationalsozialistische Tendenz"). Das BEG versuchte das Dickicht der verschiedensten Anspruchsgrundlagen zu durchdringen. Doch gerade bezüglich der Reichsfluchtsteuer, deren Anspruchsgrundlage erst ermittelt werden mußte, ergingen sehr unterschiedliche Urteile. Schließlich entschied der Bundesgerichtshof 1954 in einem die Reichsfluchtsteuer betreffenden Verfahren, bei dem die unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu Tage traten: Ziel und Zweck der Rückerstattungs- und Entschädigungsgesetzgebung sei es, das verursachte Umecht sobald und soweit als irgend möglich wieder gutzumachen. "Eine Auslegung des Gesetzes, die möglich ist und diesem Ziel entspricht, verdient daher den Vorzug gegenüber jeder anderen Auslegung, die die Wiedergutmachung erschwert und zunichte macht"28.

2. Die Erhebung der Reichsnuchtsteuer nach 1945 Da unbestrittenermaßen das Reichsfluchtsteuer-Gesetz weiterhin Gültigkeit besaß, stellte sich die Frage, ob die Steuer auch künftig erhoben werden sollte. In der britischen Zone war die Rechtslage den deutschen Behörden völlig unklar. Die amerikanische Besatzungsmacht billigte die Steuererhebung, die französische untersagte sie. Doch während in Württemberg-Hohenzollem (Tübingen) und Südbaden (Freiburg) das Verbot galt, wußte der Finanzminister in RheinlandPfalz (Koblenz) nichts davon 29. Das französische Landeskommissariat in Tübingen bestand zwar darauf, daß auch nach dem Inkrafttreten des Besatzungsstatuts am 21. September 1949 die Reichsfluchtsteuer nicht rückwirkend erhoben werden dürfe 30 • Die Koblenzer Finanzverwaltung meinte aber, gegen eine bundeseinheitliche Regelung habe der französische Oberkommandierende nichts einzuwenden 31 • 1949 rechnete die Finanzverwaltung der britischen Zone mit monatlich 250 Fällen und verlangte eine Übergangsregelung, bis die künftige Bundesregierung 26 Entscheidung vom 13.7.1951, NJW /RzW 1951, S. 305/306. 27 Urteil des CSR vom 27.5.1955 in NJW /RzW 1955, S. 208/209. Zum ganzen Schwarz, Rückerstattung, S. 299. 28 Urteil vom 22.11.1954, NJW / RzW 1955, S. 55,57. 29 Meldung aus Koblenz am 20.10.1949. BA (Koblenz): B 126/6185. 30 Oberfinanzdirektion Württemberg-Hohenzollem, Tübingen 4. 10. 1950 BA (Koblenz): B 126/ 11652. 31 Rheinland-Pfälzischer Finanzminister, Koblenz 30.12.1949, BA (Koblenz): B 126/ 6185. 5*

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III. Die Reichsfluchtsteuer nach 1945

eine endgültige Entscheidung treffen werde 32. Insgesamt blieb das Steueraufkommen gering. Auf Anfrage des BFM teilte das Finanzministerium WürttembergBaden mit, daß seit der Währungsreform im Bezirk des Landesfinanzamts Württemberg lediglich 5 Reichsfluchtsteuer-Bescheide angefallen seien (mit einem Steuerertrag von insgesamt 50 DM), im Bereich des Landesfinanzamts Baden 4 (in einem Fall seien 1.745 DM erhoben worden). Angesichts der geltenden strengen Devisenbewirtschaftung und den dadurch recht beschränkten Auswanderungsmöglichkeiten werde auf absehbare Zeit das Reichsfluchtsteuer-Aufkommen keine erhebliche Bedeutung erlangen. In Bayern gingen 1949 überhaupt keine Reichsfluchtsteuern ein 33 • Zu Beginn des Jahres 1953 ermittelte das BFM in den Ländern folgendes Steueraufkommen 34: 1950 1951 1952

14 Fälle 20 Fälle 35 Fälle

69.363,60 DM 149.505,04 DM 653.253,21 DM

Aus Zahlungsrückständen kamen im Rechnungsjahr 1954 110.664,85 DM, April-August 1955 nochmals 1.259,66 DM dazu 35 •

3. Die Diskussion um eine Neufassung der ReichsOuchtsteuer pie Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebietes unternahm am 4. Oktober 1949 einen ersten Vorstoß, die Reichsfluchtsteuer neu zu regeln 36. Sie wollte das bisherige Reichsfluchtsteuer-Gesetz aufheben und als "Gesetz über eine Auswanderungsabgabe" neu erlassen: in einem demokratischen Staat sei zwar die Beschränkung der Auswanderungsfreiheit nicht angängig, andererseits widerspreche es dem Rechtsempfinden, "daß kapitalkräftige Kreise in der heutigen Notzeit sich um des eigenen Vorteils willen der für alle bestehenden Verpflichtung entziehen, tatkräftig am Wiederaufbau mitzuarbeiten". Minderbe32 Vennerk der Verwaltung für Finanzen des Vereinigten Wirtschaftsgebiets in Bad Homburg 27.1.1949, BA (Koblenz): B 126/6185. 33 Schreiben des Bayerischen Finanzministers vom 10.4. 1951, BA (Koblenz): B 126/ 6185. 34 Die Meldungen der Finanzämter gingen im Dezember 1952/ Januar 1953 ein. Den höchsten Anteil erbrachte Hamburg mit 9 - 6 - 17 Fällen und Einnahmen von 40.998,60 DM-32.749,63 DM-20.047,OI DM. BA (Koblenz): B 126/6185. Die Bundessteuer, die neben der Reichsfluchtsteuer den niedrigsten Ertrag aufwies, war die Spielkartensteuer. Sie erbrachte 1950 0,8, 1951- 1954 je I Million DM. 35 Lt. Besprechung der Steuerreferenten der Länder 20. / 21. 9.1955, BA (Koblenz): B 126/6184. 36 Schreiben an die obersten Finanzbehörden der Länder aus Bad Homburg 4.10.1949, BA (Koblenz): B 126/6185.

3. Diskussion um eine Neufassung der Reichsfluchtsteuer

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mittelte, die im übervölkerten Deutschland kein Auskommen fanden, seien dadurch nicht gehindert, im Ausland ihr Brot zu suchen. Wie zuvor sollte die Steuer nur von vermögenden deutschen Staatsbürgern erhoben werden, die das Inland verließen - wobei sich sofort die Frage stellte, wie weit sich das "Inland" erstrecke, ob die Ostzone (wegen der von dort möglichen Ausreisen) nicht einbezogen werden müsse. Einige Länder brachten kleinere Änderungsvorschläge vor, etwa wegen der Benennung 37 . Zur Frage, wie weit sich das "Inland" erstrecke, ergingen präzise Vorschläge 38. Fast alle angeschriebenen Länder stimmten dafür, die Reichsfluchtsteuer unter welchem Namen auch immer, beizubehalten. Beschränkungen der Auswanderungsfreiheit seien im demokratischen Staat insoweit hinzunehmen, als "Steuerflucht oder sonstige selbstsüchtige, gegen das Allgemeinwohl gerichtete Motive den Grund für die Auswanderung bilden"39. Das hessische Finanzministerium wollte die Steuer unnachsichtig einziehen lassen ("eine Härte trifft nur diejenigen, die sich der Abgabe entziehen wollen") und lehnte sogar die Abschaffung der Steuersteckbriefe ab. Eine Koppelung zwischen Erhebung der Steuer und die Ausreise kontrollierenden Paßvorschriften war, worauf die Finanzleitstelle hinwies 40, nicht möglich, da die Ausreisegenehmigungen von den Militärregierungen erteilt wurden. Lediglich das Rheinland-Pfalzische Finanzministerium meinte, schon 1931 sei durch die Reichsfluchtsteuer nichts gebessert worden. Die Erkenntnis, daß die natürlichen Kräfte der Wirtschaft stärker seien als die Verwaltungsautorität, sollte auch bei der Erörterung der Auswandererabgabe nicht außer acht gelassen werden. "Wenn die Wirtschaft keine Möglichkeit sieht, rentierlich zu wirtschaften, so wird sie auch nicht auf staatlichen Befehl hin geneigt sein, große unternehmerische Initiative zu entfalten". Auswanderung sei lediglich eine Krisenfolge. Wenn der Staat diese Folgen beseitigen wolle, so müsse er die Krise als solche bekämpfen. Angesichts der Übervölkerung sei eine "teilweise Abwanderung nicht unerwünscht". Das Ministerium riet deshalb von der weiteren Erhebung der Reichsfluchtsteuer ab, bat aber um eine einheitliche Neuregelung 41 • Doch selbst innerhalb des BFM war man sich nicht darüber einig, ob die Reichsfluchtsteuer als Bundesfluchtsteuer weiter eingezogen werden sollte 42 • Die 37 Ein Referentenentwurf des BFM sah die Bezeiclmung "Bundesfluchtsteuer" vor. Da die Steuer die Steuer- und Kapitalflucht begüterter Kreise verhindern solle, sei es zweckmäßig, das auch in der Bezeichnung zum Ausdruck zu bringen, BA (Koblenz): B 126/6185.

38 Hessen war dafür, alle 4 Besatzungszonen und Berlin einzubeziehen; Hamburg

(30. 11. 1949) schlug vor: wer in die Ostzone oder nach Berlin gehe, solle für 1 Jahr befreit bleiben, BA (Koblenz): B 126/6185. 39 Finanzminister aus Freiburg, 31.10.1949, BA (Koblenz): B 126/6185. 40 9.11.1949, BA (Koblenz): B 126/6185. 41 Koblenz, 30.12.1949, BA (Koblenz): B 126/6185. 42 Schreiben an das Landesfinanzministerium Stuttgart, 18.2.1950, BA (Koblenz): B 126/6185.

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III. Die Reichsfluchtsteuer nach 1945

Bank Deutscher Länder erhob entschieden Einspruch gegen eine "Wiedereinführung" 43: Zum einen setze eine solche Steuer einen freien Kapitaltransfer nach dem Ausland voraus, und der bestehe zur Zeit noch gar nicht. Zum andern müsse grundsätzlich an Steuerabbau gedacht werden, so daß die Einführung einer Steuer ,,mit gegenwärtig zweifelhaftem Nutzen" unzweckmäßig erscheine. Außerdem sei gerade diese Steuer so belastet, daß man sie ohne zwingende Gründe nicht in der früheren Form wieder einführen sollte. Vor allem widersprach das BWiM44 aufs heftigste den Steuerplänen. Schon eine Vorlage im Bundeskabinett hielt das Wirtschaftsministerium für verfehlt. Selbst die Aufhebung des noch geltenden Reichsfluchtsteuer-Gesetzes ziehe nur unnötigerweise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Das BWiM bediente sich ähnlicher Argumente wie wenige Monate zuvor die Bank Deutscher Länder: Wenn sich Westdeutschland um ausländisches Kapital bemühe, die Liberalisierung des internationalen Handelsverkehrs und die freie Konvertierbarkeit westeuropäischer Länder erstrebe, so sei damit eine Fluchtsteuer nicht vereinbar. Die derzeit noch in der Hand der Alliierten befindliche Devisengesetzgebung werde auf absehbare Zeit die Möglichkeit bieten, den Kapitaltransfer zu kontrollieren. Auch das BWiM verwies darauf, wie sehr die Reichsfluchtsteuer mit dem Elend jüdischer Auswanderer verknüpft sei. "Der optische Eindruck eines (neuen) Fluchtsteuergesetzes würde daher im Ausland ein denkbar schlechter sein". Dem Ministerium erschien es "gegenwärtig" "erforderlich aber auch ausreichend" den Ländern bekannt zu geben, daß die an sich bestehenden Bestimmungen der Reichsfluchtsteuer nicht angewandt werden sollten. Zu einern späteren günstigeren Zeitpunkt könne im Zusammenhang mit einer Steuerreform auch das Problem der Reichsfluchtsteuer gelöst werden. Als das Paßwesen nach dem 1. Februar 1951 wieder ausschließlich bei deutschen Behörden lag, sahen einige Länder sofort die Möglichkeit, künftig die Reichsfluchtsteuer energisch einzutreiben 45. Sie drängten auf eine Neufassung des Reichsfluchtsteuer-Gesetzes, denn nun hätten "auch unzuverlässige und säumige Steuerpflichtige" die Gelegenheit, "ohne größere Schwierigkeiten und ohne Leistung genügender Sicherheit für ihre Steuerschulden" ins Ausland zu kommen. Das Württemberg-Badische Finanzministerium empfahl deshalb, an der alten Form der Steuerunbedenklichkeitsbescheinigung festzuhalten 46. Nahezu gleichzeitig (am 14. März 1951) reichte die FDP-Fraktion im Bundestag 47 den ,,Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung überholter steuerrechtlicher Frankfurt, 16.2.1950, BA (Koblenz): B 126/6185. 44 Schreiben vom 27.4.1950, BA (Koblenz): B 126/6185. 45 Hessisches Finanzministerium 17.2.1951, BA (Koblenz): B 126/6185. 46 An BFM Bonn, 26.2. 1951. Die Stadt Stuttgart schlug sogar die Wiedereinführung einer "Sperrkartei" vor. Die Entscheidung über die Unbedenklichkeitsbescheinigungen wurde im Juni 1951 vertagt. BA (Koblenz): B 126/11652. Rigoros auch die Haltung des Senators für Finanzen in Bremen (30.1.1951), BA (Koblenz): B 126/6185. 43

3. Diskussion um eine Neufassung der Reichsfluchtsteuer

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Vorschriften" ein. der am 5. April im Bundestag beraten werden sollte. Der einzige Paragraph bezog sich allein auf die Reichsfluchtsteuer und sah deren Aufhebung vor 48 • Die Steuerdiskussion wurde dadurch wieder neu belebt: Die Ländervertreter plädierten einstimmig für die Beibehaltung der Steuer. Die Beamten des BFM brachten die alten Gründe für die Beibehaltung der Reichsfluchtsteuer vor: Staat und Wirtschaft könnten nicht zulassen. daß kapitalkräftige Kreise um des eigenen Vorteils willen abwandern und sich ihren Verpflichtungen zur Mitarbeit am Wiederaufbau entziehen. Der Bundestag verwies den FDP-Entwurf ohne weitere Debatte an den Ausschuß für Finanz- und Steuerfragen. Während der BFM die Beibehaltung der Steuer forderte 49 • hielt der BWiM an seiner Position fest. Ein Kabinettsbeschluß50 stärkte die Haltung des BFM: die Reichsfluchtsteuer sollte beibehalten werden. Auf die FDP-Initiative sei im Bundestag zu antworten: Derzeit werde die Umwandlung des ReichsfluchtsteuerGesetzes vorbereitet. "um dies Gesetz den augenblicklichen Bedürfnissen und Verhältnissen anzupassen" 51. Als die Beratungen im BFM in vollem Gange waren. schaltete sich der wissenschaftliche Beirat 52 des Ministeriums ein und nahm zum Entwurf eines Bundesfluchtsteuergesetzes Stellung 53. Er kam zu dem Ergebnis: "Der vorliegende Entwurf findet im Grundsätzlichen und in wesentlichen Einzelheiten nicht die Zustimmung des Beirats. Der angestrebte Zweck wird infolge der zu befürchtenden psychologischen Rückwirkung auf das Ausland durch den Entwurf eher gefährdet als gefördert". Die Steuer greife in die Freiheitssphäre der Bürger ein. Die eigentlich problematische legitime und illegitime Bildung von Auslandsguthaben werde gar nicht erfaßt. Unter Umständen lasse sich auch mit einer elastisch zu handhabenden Devisengesetzgebung das erstrebte Ziel erreichen. Wenn schon eine gesetzliche Regelung angestrebt werde. so müßten alle diskriminierenden Vorschriften fallengelassen werden. das gelte schon "für die Benennung des zu regelnden wirtschaftlichen Vorgangs als ·flucht·... Die im Gesetz geplante Rückwirkung auf wirtschaftlich und rechtlich abgeschlossene Vorgänge sei rechtspolitisch bedenklich und überdies "entbehrlich". Der Beirat warnte zudem davor. den Kreis der zu erfassenden Inländer so zu umschreiben. daß damit die Oder-Neiße Linie anerkannt werde. Wahlperiode 1949. Drucksache Nr. 2054. Eine Deckungsvorlage erübrigte sich. da im Haushaltsplan keine Einnahmen aus der Reichsfluchtsteuer veranschlagt worden waren. 49 19.4.1951. BA (Koblenz): B 126/6185. 50 BFM an den Staatssekretär beim Bundeskanzleramt 7.6.1951. BA (Koblenz): B 47

48

136/7250.

51 Diktat des BFM nach der Kabinettssitzung vom 28.6.1951. BA (Koblenz): B 126/

6185.

52 Dem Beirat gehörten unter anderem an: die Professoren Terhalle. Bühler, Gerloff. Jecht. Klein. Neumark, Schmölders. Stucken, Dr. Agartz. Dr. Meinhold. 53 Tagung des Beirats in Bad Neuenahr am 9. /10.11.1951. BA (Koblenz): B 126/ 6185.

III. Die Reichsfluchtsteuer nach 1945

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Das BFM entschloß sich, die als "Bundesfluchtsteuer" geplante Neufassung in "Abwanderungsabgabe"54 umzubenennen, hielt jedoch im übrigen an der Steuer fest. In einer Besprechung der Steuerreferenten der Länder versicherte das BFM nochmals, die Abwanderungsabgabe sei keine Strafe, sondern lediglich ein finanzieller Ausgleich künftig fehlender Steuerkraft 55 • Für die bevorstehende Kabinettssitzung begründete der BFM die Notwendigkeit der Abwanderungsabgabe ausführlich: "Nach dem völligen Zusammenbruch des Reichsgebäudes muß unter großen Schwierigkeiten und mit unendlicher Mühe Stück für Stück ein neues Haus errichtet werden, in dem das deutsche Volk menschenwürdig leben kann". Der Staat sei auf die Mitarbeit jedes einzelnen angewiesen. Wer anderswo unter für ihn besseren Bedingungen leben wolle, müsse wenigstens noch einen Beitrag für den allgemeinen Wiederaufbau leisten. Den Steuergegnern erwiderte das BFM: Eine Diskriminierung sei nicht beabsichtigt, deshalb werde die Steuer umbenannt. Doch auch die Auswanderungsfreiheit kÖnne nicht jede Bindung und Verpflichtung gegenüber dem Vaterland lösen. Zur Wahrung ihrer Rechte stehe den Steuerpflichtigen nach der Neufassung der Rechtsweg bis zum BFH offen. Nach Ansicht des Ministers werde der Zustrom ausländischen Kapitals durch die Abgabe nicht behindert, denn Ausländer, die sich in Deutschland niederlassen wollten, seien vom Gesetz gar nicht betroffen. Im übrigen erwäge Großbritannien ganz ähnliche Maßnahmen. Auch im Kanzleramt war man sich offenbar nicht ganz schlüssig. Während Oberregierungsrat Dr. Pühl (Bundeskanzleramt) für die Kabinettssitzung vermerkte, gegen die Zustimmung zur Gesetzesvorlage bestünden keine Bedenken, schrieb Staatssekretär Prof. Hallstein auf dem selben Blatt, es erscheine ihm fraglich, ob man überhaupt an einer Abwanderungsabgabe festhalten solle. "M. W. gibt es sie in anderen demokratischen Ländern nicht" - womit die entgegengesetzten Positionen umschrieben und eingenommen waren. Das Kabinett ordnete in seiner Sitzung vom 20. Mai 1952 56 weitere Ressortbesprechungen an, um eine Übereinstimmung zwischen den Ministerien zu erzielen 57 • Die Opposition gegenüber dem Gesetz wuchs. Nicht mehr nur der BWiM lehnte den Entwurf ab, die Bundesminister für Angelegenheiten des Marshali Plans, für Verkehr, für Angelegenheiten des Bundesrats (obgleich die-Ländervertreter für die Beibehaltung der Steuer waren!) schlossen sich ihm an 58 • Die Zuständigkeit des BFM war unumstritten. Doch die Frage, ob eine Abwanderungsabgabe erhoben werden sollte oder nicht, war keine rechtliche Frage, son13.12.1951, BA (Koblenz): B 126/6185. 31.1.1952, BA (Koblenz): B 126/6185. 56 Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 5 1952, S. 340. 57 Handschriftlicher Vermerk vom 23.5.1952 BA (Koblenz): B 136/7250. 58 Für den Gesetzentwurf stimmten die Bundesminister der Justiz, des Innern, Ernährung und Landwirtschaft und das Auswärtige Amt. MinRat Dr. Heinrich (BFM) an den Staatssekretär im Bundeskanzleramt, 22.9.1952, BA (Koblenz): B 126/6185. 54 55

3. Diskussion um eine Neufassung der Reichsfluchtsteuer

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dem mußte politisch entschieden werden 59. Entsprechend teilte das Ministerium dem Bundeskanzleramt im September 1952 auch mit 60 : Es bestünden bei den Ressorts zwar keine Bedenken gegen die einzelnen Bestimmungen des Entwurfs, aber im Grundsätzlichen habe man sich nicht einigen können. Das Ministerium bat deshalb darum, einen Kabinettsbeschluß (Sitzung am 23. September 1952) herbeizuführen. Am 1. Oktober 1952 informierte der Staatssekretär des Bundeskanzleramts das BFM förmlich, die Bundesregierung habe beschlossen, dem Kabinett einen Gesetzentwurf gegen die Kapitalflucht vorzulegen, in dem die Abwanderung allenfalls als Symptom für das Vorliegen der Kapitalflucht verwendet werde 61 • Sowohl dem BFM als auch dem BJM blieb der Kabinettsbeschluß jedoch unverständlich. Beide waren sich darin einig, daß sämtliche gegen die Kapitalflucht gerichteten möglichen Maßnahmen durch Gesetze der Militärregierung und der Alliierten Hohen Kommission geregelt würden, sowie in den zahlreichen Bestimmungen zur Devisenbewirtschaftung enthalten seien. Neben diesen Vorschriften noch ein besonderes Gesetz gegen die Kapitalflucht zu erlassen, bezeichneten "alle beteiligten Stellen" als unmöglich 62 • Der BFM entschied, der erbetene Gesetzentwurf sei "im nächsten Jahr" zu bearbeiten. Denn da die zur Zeit geltenden Devisenbestimmungen auch die Besteuerung der Kapitalflucht "in irgendeiner Form" erfaßten, sei es sehr schwierig, "diese Materie im Sinne des in Angriff zu nehmenden Gesetzentwurfs zu lösen" 63. Auf Anfrage des Bundeskanzleramts erklärte das BFM am 4. Februar 1953, im Gesetzgebungsprogramm der laufenden Legislaturperiode sei kein Gesetz über eine Abwanderungsabgabe mehr vorgesehen 64. Die Debatten um eine Bundesfluchtsteuer waren damit beendet. Da der BFH die Auffassung vertrete, ein Teil der Reichsfluchtsteuer-Vorschriften gelte noch, bat das BWiM im Oktober 1952 65 darum, "zur Bereinigung dieses Komplexes" die formelle Aufhebung aller Vorschriften zu verfügen. Das BFM griff die 1951 von der FDP eingebrachte Gesetzes Initiative auf 66 • Aus außenpolitischen Gründen stimmte nun auch das AA gegen die Erhebung einer Fluchtsteuer. Die Mehrheit des Ausschusses für Finanz- und Steuerfragen empfahl ebenfalls, die Steuervorschriften zu streichen. Die u. U. sich daraus ergebenden unerwünschten psychologischen Auswirkungen hoffte das BFM dadurch zu vermeiden, daß zugleich mit der Aufhebung der Reichsfluchtsteuer auf die Regulierungsmöglich59 Mitteilung des BFM vom 24.7.1952 an das Bundeskanzleramt BA (Koblenz): B 136/7250. 60 9.9.1952, BA (Koblenz): B 136/7250. 61 Bonn 1. 10. 1952, BA (Koblenz): B 136/ 7250 und B 126/6185. Dazu Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Bd. 5 1952, S. 593,594. 62 Vermerk vom 7.10.1952, BA (Koblenz): B 126/6185. 63 Vermerk vom 28.10.1952, BA (Koblenz): B 136/7250. 64 BA (Koblenz): B 136/7250. 65 25.10.1952, BA (Koblenz): B 126/6185. 66 17.4.1953 an das BWiM, BA (Koblenz): B 126/6185.

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III. Die Reichsfluchtsteuer nach 1945

keiten einer Kapitalflucht durch die Devisengesetze hingewiesen werde. Der FDP Antrag zum "Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung überholter steuerrechtlicher Vorschriften" war am 5. April 1951 67 vom Bundestag an den zuständigen Ausschuß verwiesen worden. Die 2. und 3. Lesung fand am 10. Juni 1953 68 ohne weitere Debatte statt. Am 23. Juli 1953 fertigte der Bundespräsident das Gesetz aus, am 10. August 1953 trat es in Kraft 69 • Da das Gesetz aber keine rückwirkende Kraft besaß, blieben die bis zum 10. August 1953 erhobenen Steuerforderungen unverändert bestehen. Das BFM empfahl, von Fall zu Fall "Billigkeitsmaßnahmen" zu treffen 70. Am 5. Mai 1955 71 entschied der BFH: nach dem Willen des Gesetzgebers liege Sinn und Zweck des Gesetzes in der sofortigen und uneingeschränkten Beseitigung aller Bestimmungen, die die Erhebung der Reichsfluchtsteuer betreffen. Das bedeute, daß die Steuer nicht nur bei künftigen Auswanderungen entfalle, sondern auch in den noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Fällen nicht mehr erhoben werden dürfe. Die Entscheidung erging sehr zum Unwillen des BFM, das so weitgehende finanzielle Zugeständnisse nicht machen wollte 72 und das Urteil eher von politischen als von rechtlichen Erwägungen getragen sah. Doch noch eine neue einheitliche Regelung zu erlassen, das lohne nicht, konstatierte das Ministerium 73. Die seit 1931 gültige Reichsfluchtsteuer lief damit endgültig aus. Der Reichsfluchtsteuer kam immer nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Sie war ja auch 1931 eingeführt worden, um abschreckend zu wirken und lediglich einen geringen Ertrag zu erbringen. Als die Reichsfluchtsteuer schließlich dem Reichshaushalt große Beträge zuführte, im IV. Quartal des Rechnungsjahres 1938/ 39 das Vermögensteueraufkommen um 33.000 RM (mehr als 31 %) überstieg, da war ihr Sinn völlig verfälscht. Die eigentliche Umkehrung geschah nicht durch Änderungen im Gesetzestext selbst. Andere Gesetze oder Erlasse wirkten auf die Fluchtsteuer ein. Sollte 1931 die Auswanderung durch die Steuer ,,nicht unterbunden" werden, wurde sie nach 1933 lange forciert und auf diese Weise der Steuerertrag gesteigert. Unmittelbar nach Kriegsende war der finanzielle Rahmen so eng, daß - abgesehen von den alliierten Vorbehalten im Rückerstattungs- und Entschädigungsverfahren - an eine großzügige Wiedergutmachung nicht zu denken war. Die Aufhebung möglicher Steuerquellen erschien unvertretbar. Als die Bundesrepublik gegründet wurde, hatte sich die Lage in Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenogr. Berichte Bd. 6, S. 4967. Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenogr. Berichte Bd. 16, S. 13278. 69 BGBl. I, S. 689. 70 Vermerk vom 15. 1. 1954 über die Besprechung mit den Steuerreferenten der Finanzminister am 15. und 17.12.1953 im BFM. BA (Koblenz): B 126/6184. 71 BStBl. 1955 Teil III, S. 204. 72 Anmerkungen zum Urteil vom 6.5.1955, BA (Koblenz): B 126/6184. 73 Besprechung mit den Steuerreferenten der Finanzministerien der Länder, 20. / 21. 9.1955, BA (Koblenz): B 126/6184. 67

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3. Diskussion um eine Neufassung der Reichsfluchtsteuer

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entscheidenden Punkten geändert. Brüning mußte noch 12 Jahre nach Kriegsende nicht nur mit schweren finanziellen Belastungen, sondern auch mit erheblichen internationalen Vorbehalten kämpfen. Als die Fluchtsteuer 1953 aufgehoben wurde, war Westdeutschland bereits in stärkerem Maße integriert, als Brüning ,,100 Meter vor dem Ziel" es sich nur erhoffen konnte. Eine wirtschaftspolitisch liberale Haltung, die 1931 nicht vorstellbar war und 1945 vielen unmöglich erschien, ließ sich nun leichter einnehmen. An dem kleinen Beispiel der von 1931 bis 1953 gültigen Reichsfluchtsteuer spiegeln sich so nicht nur das verhängnisvolle Einwirken nationalsozialistischer Gesetz- und Verordnungsgebung auf ältere fiskalische Regelungen, sondern auch die völlig verschiedenen End- und Anfangsbedingungen der deutschen Republiken nach zwei verlorenen Weltkriegen.

Anhang Anlage 1 Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens. Vom 8. Dezember 1931 (RGBI. I, S.699-745) Erster Teil: Zweiter Teil: Dritter Teil: Vierter Teil: Fünfter Teil: Sechster Teil: Siebter Teil: Kapitel I: Kapitel 11: Kapitel III: Kapitel IV: Kapitel V: Kapitel VI: Achter Teil: Neunter Teil:

Preis- und Zinssenkung VVohnungswirtschaft Maßnahmen auf dem Gebiete der Zwangsvollstreckung Sonstige wirtschaftliche Maßnahmen Sozialversicherung und Fürsorge Arbeitsrechtliche Vorschriften Sicherung der Haushalte Umsatzsteuer Vorauszahlung der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer Reichsfluchtsteuer und sonstige Maßnahmen gegen Kapital- und Steuerflucht Börsenumsatzsteuer bei Kompensationsgeschäften Realsteuern der Gemeinden Gehaltskürzung Schutz des inneren Friedens Schlußbestimmung Siebter Teil, Kapitel III, Erster Abschnitt:

Reichsfluchtsteuer §1

Personen, die am 31. März 1931 Angehörige des Deutschen Reichs gewesen sind und in der Zeit nach dem 31. März 1931 und vor dem 1. Januar 1933 ihren inländischen VVohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgegeben haben oder aufgeben, haben eine Reichsfluchtsteuer zu entrichten. §2

Von der Reichsfluchtsteuer sind befreit: 1. Auslandsbeamte (§ 2 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes); die Ehefrau und die minderjährigen Kinder (§ 23 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes) eines Auslandsbeam-

Anlage 1

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ten sind von der Reichsfluchtsteuer befreit, wenn sie zur Haushaltung des Auslandsbeamten zählen. 2. Personen, die erst nach dem 31. Dezember 1927 einen Wohnsitz im Inland begründet oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland genommen haben. 3. Personen, denen das Landesfinanzamt bescheinigt, daß die Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland in deutschem Interesse liegt oder aus Gründen erfolgt, die volkswirtschaftlich gerechtfertigt sind. Das Landesfinanzamt kann die Bescheinigung nur dann ausstellen, wenn der Antrag auf Erteilung der Bescheinigung gestellt wird: a) für Personen, die in der Zeit nach dem 31. März 1931 und vor dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer ihren inländischen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgegeben haben: spätestens bis zum Ablauf eines Monats nach dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer; b) für Personen, die seit dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer und vor dem 1. Januar 1933 ihren inländischen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgeben: spätestens bis zur Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland. 4. Personen, die weder am 1. Januar 1928 noch am 1. Januar 1931 steuerpflichtiges Vermögen von mehr als 200.{)()() RM gehabt und die außerdem weder in dem Steuerabschnitt, der im Kalenderjahr endigt, noch in den beiden vorangegangenen Steuerabschnitten steuerpflichtiges Einkommen von mehr als 20.{)()() RM gehabt haben. Ein Anteil an einer inländischen offenen Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft oder ähnlichen Gesellschaft des Handelsrechts, bei der die Gesellschafter als Unternehmer (Mitunternehmer) anzusehen sind, wird dem Vermögen des Gesellschafters hinzugerechnet. Wenn Ehegatten oder wenn Eltern und Kinder (§ 23 Abs.2 des Einkommensteuergesetzes) zusammen zu veranlagen sind, so kommt es für die Anwendung der Befreiungsvorschrift (Satz I) darauf an, welches steuerpflichtige Vermögen die Ehegatten zusammen oder welches steuerpflichtige Einkommen die Ehegatten zusammen oder die Eltern und Kinder zusammen gehabt haben; geht dieses Vermögen oder Einkommen über die im Satz 1 bezeichneten Grenzen hinaus, so fmdet die Befreiungsvorschrift (Satz 1) auf keine der Personen Anwendung, die an dem Vermögen oder Einkommen beteiligt waren oder beteiligt sind. Die Befreiungsvorschrift (Satz 1) findet ferner keine Anwendung auf Personen, die zwar weder am 1. Januar 1928 noch am 1. Januar 1931 steuerpflichtiges Vermögen von mehr als 200000 RM gehabt haben, deren steuerpflichtiges Vermögen nach dem Stande vom 1. Januar 1931 aber unter Hinzurechnung eines nach dem 31. Dezember 1930 und vor der Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder des inländischen gewöhnlichen Aufenthalts eingetretenen Erwerbes den Betrag von 200000 RM überschritten hat, vorausgesetzt, daß es sich um einen Erwerb von Todes wegen oder auf Grund einer Schenkung unter Lebenden handelt.

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Anhang §3

(1) Als Reichsfluchtsteuer ist ein Betrag in Höhe eines Viertels des gesamten steuerpflichtigen Vermögens (Abs. 2 bis 4) zu entrichten. (2) Als gesamtes steuerpflichtiges Vermögen im Sinne des Abs. 1 gilt das durch den Vermögensteuerbescheid festgestellte Gesamtvermögen, gegebenenfalls unter Hinzurechnung der im Abs. 3 bezeichneten Beträge. Maßgebend ist der letzte Vermögensteuerbescheid, den der Steuerpflichtige vor Aufgabe seines inländischen Wohnsitzes oder seines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland erhalten hat. (3) Dem Gesamtvermögen sind hinzuzurechnen: 1. sofern der Steuerpflichtige an dem für die Feststellung des Gesamtvermögens maßgebenden Stichtag an einer inländischen offenen Handelsgesellschaft, Kommanditgesellschaft oder ähnlichen Gesellschaft des Handelsrechts, bei der die Gesellschafter als Unternehmer (Mitunternehmer) anzusehen sind, beteiligt war, der Wert des Anteils an dieser Gesellschaft; 2. sofern der Steuerpflichtige in der Zeit von dem für die Feststellung des Gesamtvermögens maßgebenden Stichtag ab bis zur Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder des inländischen gewöhnlichen Aufenthalts von Todes wegen oder auf Grund einer Schenkung von mehr als 10000 RM erworben hat, der Wert dieses Erwerbs. (4) Besteht das Gesamtvermögen aus dem zusammengerechneten Vermögen der Ehegatten, so ist, falls nur ein Ehegatte der Reichsfluchtsteuer unterliegt, der Berechnung der Steuer nur der Anteil dieses Ehegatten am Gesamtvermögen zugrunde zu legen. (5) Wenn Ehegatten beide der Reichsfluchtsteuer unterliegen, so haften sie für die Reichsfluchtsteuer als Gesamtschuldner. §4

Die Steuerschuld entsteht: 1. für Steuerpflichtige, die in der Zeit nach dem 31. März 1931 und vor dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer ihren inländischen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgegeben haben: mit dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer; 2. für Steuerpflichtige, die seit dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer und vor dem 1. Januar 1933 ihren inländischen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgeben: mit der Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland. §5

(1) Die Reichsfluchtsteuer wird ihrem vollen Betrage nach fallig: 1. für Steuerpflichtige, die in der Zeit nach dem 31. März 1931 und vor dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer ihren inländischen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgegeben haben:

Anlage 1

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einen Monat nach dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer; 2. für Steuerpflichtige, die seit dem Inkrafttreten der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer und vor dem 1. Januar 1933 ihren inländischen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgeben: mit der Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland. (2) Die Reichsfluchtsteuer ist bis zum Zeitpunkt der Fälligkeit an das Finanzamt, das bisher für den Steuerpflichtigen zuständig war, zu entrichten, ohne daß es einer besonderen Anforderung der Steuer bedarf.

§6 (1) Wird die Reichsfluchtsteuer nicht bis zum Zeitpunkt der Fälligkeit gezahlt, so ist für jeden auf den Zeitpunkt der Fälligkeit folgenden angefangenen halben Monat ein Zuschlag in Höhe von fünf vom Hundert des Rückstandes zu zahlen.

(2) Für die Berechnung des Zuschlags gilt als halber Monat ein Zeitraum von fünfzehn Tagen (wenn ein halber Monat im Februar beginnt: ein Zeitraum von vierzehn Tagen). Hat ein Monat einunddreißig Tage, so wird der einunddreißigste Tag, hat der Februar neunundzwanzig Tage, so wird der neunundzwanzigste Tag nicht gerechnet. (3) Verzugszinsen werden für die rückständige Reichsfluchtsteuer nicht erhoben.

§7 (1) Die Verpflichtung, die Reichsfluchtsteuer (§ 3) nebst Zuschlägen (§ 6) zu entrichten, fällt weg, wenn der Steuerpflichtige binnen zwei Monaten, von der Entstehung der Steuerschuld (§ 4) ab gerechnet, dem Finanzamt nachweist, daß er wieder einen Wohnsitz im Inland begründet oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland genommen hat. Den Nachweis (Satz 1) kann der Steuerpflichtige zum Beispiel dadurch führen, daß er innerhalb der Frist (Satz 1) dem Finanzamt eine polizeiliche Bescheinigung über die Wiederanmeldung eines inländischen Wohnsitzes vorlegt. Eine Verlängerung der Frist (Satz 1) ist nicht zulässig.

(2) Ein Steuerpflichtiger, der den im Abs. 1 bezeichneten Nachweis erbracht hat, kann innerhalb der nächsten fünf Jahre den Steuerbehörden und den Steuergerichten gegenüber nicht geltend machen, daß er seinen inländischen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland aufgegeben habe. Durch den Sicherheitsbescheid, der wie ein Steuerbescheid vollstreckbar (auch vorläufig vollstreckbar) und im Berufungsverfahren (§ 229 der Reichsabgabenordnung) anfechtbar ist, kann das Finanzamt verlangen, daß der Steuerpflichtige für die in den nächsten fünf Jahren zu entrichtende Einkommensteuer und Vermögensteuer Sicherheit leistet, wenn ein erheblicher Teil des dem Steuerpflichtigen gehörigen Vermögens sich im Ausland befmdet oder wenn sonstige Gründe vorliegen, aus denen der rechtzeitige Eingang der Steuern gefahrdet erscheint; auf die Vollstreckung des Sicherheitsbescheids fmdet der § 326 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung keine Anwendung.

80

Anhang §8

(1) Einen Steuerbescheid über die Reichsfluchtsteuer zu erteilen, ist das Finanzamt nur dann verpflichtet, wenn der Steuerpflichtige dies besonders beantragt. (2) Für die Zugrundelegung des zuletzt festgestellten Gesamtvermögens (§ 3 Abs. 2 Satz 1) macht es keinen Unterschied, ob es sich um eine vorläufige oder um eine endgültige, um eine rechtskräftige oder um eine noch nicht rechtskräftige Feststellung handelt. Jede Änderung der Feststellung bewirkt eine Änderung der Reichsfluchtsteuer. Sofern nach § 3 Abs. 3 eine Hinzurechnung zum Gesamtvermögen zu erfolgen hat, sind die hinzuzurechnenden Beträge, 1. soweit ihr Wert festgestellt ist, mit diesem Wert anzusetzen; 2. soweit ihr Wert nicht festgestellt ist, mit dem geschätzten Wert anzusetzen. Hierbei ist der Schätzung des Werts von Gesellschaftsanteilen (§ 3 Abs. 3 Nr. 1) der Stand an dem für die Feststellung des Gesamtvermögens maßgebenden Stichtag zugrunde zu legen und die Schätzung des Werts eines Erwerbs von Todes wegen oder auf Grund einer Schenkung unter Lebenden (§ 3 Abs. 3 Nr. 2) auf den nach § 14 Abs. 1 des Erbschaftsteuergesetzes maßgebenden Stichtag (Todestag, Tag der Ausführung der Schenkung usw.) unter entsprechender Anwendung der Bewertungsgrundsätze des Erbschaftsteuergesetzes vorzunehmen. In den Fällen der vorstehenden Nr. 1 finden Satz I, 2, in den Fällen der vorstehenden Nr. 2 findet Satz 2 entsprechende Anwendung. Satz 3 Nr. 2 gilt entsprechend für die Ermittlung des Vermögens des der Reichsfluchtsteuer unterliegenden Ehegatten (§ 3 Abs.4). (3) Eine Mitwirkung des Steuerausschusses fmdet in keinem Falle statt. (4) Auch wenn ein Steuerbescheid erteilt wird, gelten für den Eintritt der Fälligkeit und die Verpflichtung zur Zahlung lediglich die Vorschriften der §§ 5,6. (5) Der § 326 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung fmdet bei der Beitreibung der Reichsfluchtsteuer keine Anwendung. (6) Schriftstücke, die die Reichsfluchtsteuer (einschließlich der darauf entfallenden Zuschläge, Strafen und Kosten) betreffen und für den Steuerpflichtigen bestimmt sind (zum Beispiel Steuerbescheide über die Reichsfluchtsteuer), kann das Finanzamt oder die sonstige Behörde durch einfachen Brief dem Steuerpflichtigen an seine letzte, der Behörde bekannt gewordene Anschrift zusenden; ein Schriftstück gilt mit der Aufgabe zur Post als zugestellt, selbst wenn es als unzustellbar zurückkommt.

§9

Wenn der Steuerpflichtige binnen zwei Monaten, von der Entstehung der Steuerschuld (§ 4) ab gerechnet, weder die gesamte Reichsfluchtsteuer (§ 3) nebst Zuschlägen (§ 6) entrichtet noch dem Finanzamt nachweist, daß er wieder einen Wohnsitz im Inland begründet oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland genommen hat, so treten folgende Wirkungen ein: 1. Der Steuerpflichtige wird wegen Steuerflucht mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft. Neben der Freiheitsstrafe ist auf Geldstrafe zu erkennen. Der Höchstbetrag

Anlage 1

81

der Geldstrafe ist unbeschränkt. Bestrafung tritt nicht ein, wenn der Steuerpflichtige nachweist, daß ihn kein Verschulden trifft. Die Steuerflucht ist eine Steuerzuwiderhandlung im Sinne der Reichsabgabenordnung. Sind die Voraussetzungen des § 276 der Strafprozeßordnung gegeben, so finden die §§ 278 bis 284 der Strafprozeßordnung Anwendung. 2. Das Finanzamt erläßt gegen den Steuerpflichtigen einen Steuersteckbrief. Der Steuersteckbrief enthält die Aufforderung, den Steuerpflichtigen, falls er im Inland betroffen wird, vorläufig festzunehmen und ihn unverzüglich dem Amtsrichter des Bezirks, in welchem die Festnahme erfolgt, vorzuführen. Der Steuersteckbrief ist aufzuheben, sobald sein Grund weggefallen ist. 3. Das Finanzamt beschlagnahmt das Vermögen des Steuerpflichtigen, soweit es sich im Inland befindet, mit Beschlag. Die Beschlagnahme des Vermögens dient zur Sicherung der Ansprüche auf Reichsfluchtsteuer, Geldstrafe, Zuschläge und Kosten. Die Ansprüche auf Geldstrafe und Kosten des Strafverfahrens fallen auch dann unter die Sicherung, wenn die Strafe noch nicht verhängt worden ist; die Sicherung erstreckt sich auch auf die Zuschläge für die zukünftige Zeit. Die Beschlagnahme des Vermögens ist aufzugeben, sobald ihr Grund weggefallen ist. 4. Das Finanzamt gibt den Steuersteckbrief (Nr. 2) und die Vermögensbeschlagnahme (Nr. 3) öffentlich bekannt. Einer besonderen Bekanntgabe (Zustellung) an den Steuerpflichtigen bedarf es nicht. Mit der Bekanntmachung (Satz 1) wird die Vermögensbeschlagnahme wirksam. Die Bekanntmachung (Satz 1) soll die Überschrift "Steuersteckbrief und Vermögensbeschlagnahme" tragen und die folgenden Angaben enthalten: a) Vor- und Zuname des Steuerpflichtigen, seinen bisherigen inländischen und (wenn möglich) auch seinen jetzigen ausländischen Wohnort; b) den rückständigen Betrag an Reichsfluchtsteuer; c) die Angabe, seit wann die Reichsfluchtsteuer fällig ist; d) die vom Finanzamt erlassene Verfügung, durch die das inländische Vermögen des Steuerpflichtigen beschlagnahmt worden ist; e) das Verbot an alle natürlichen und juristischen Personen, die im Inland einen Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt, ihren Sitz, ihre Geschäftsleitung oder Grundbesitz haben, Zahlungen oder sonstige Leistungen an den Steuerpflichtigen zu bewirken; f) die Aufforderung an die unter Buchstabe e bezeichneten Personen, dem Finanzamt

innerhalb eines Monats Anzeige über die dem Steuerpflichtigen zustehenden Forderungen und sonstigen Ansprüche zu machen;

g) einen Hinweis auf die Rechtsfolgen, die nach § 10 eintreten, wenn dem unter Buchstabe e bezeichneten Verbote zuwidergehandelt oder der unter Buchstabe f bezeichneten Aufforderung nicht Folge geleistet wird; h) die Aufforderung, den Steuerpflichtigen, sofern er im Inland betroffen wird, vorläufig festzunehmen und ihn unverzüglich dem Amtsrichter des Bezirks, in welchem die Festnahme erfolgt, vorzuführen; i) die Bezeichnung des Finanzamts, das die Bekanntmachung erläßt; der Name des Beamten, der die Verfügung gezeichnet hat, braucht nicht in die Bekanntmachung aufgenommen zu werden. 6 Mußgnug

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Anhang

Die Bekanntmachung geschieht durch einmaliges Einrücken in den Reichsanzeiger. In der gleichen Weise werden die Aufhebung des Steuersteckbriefs und die Aufhebung der Beschlagnahme bekanntgemacht. Die Kosten trägt der Steuerpflichtige. 5. Neben der in Nummer 4 bezeichneten öffentlichen Bekanntmachung erfolgt noch eine besondere Bekanntgabe an die Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes, an die Beamten des Steueraußendienstes und des Zollfahndungsdienstes sowie an die anderen Beamten der Reichsfinanzverwaltung, die zu Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bestellt sind. Dies kann zum Beispiel durch Einrücken in das Kriminalpolizeiblatt oder in sonstige geeignete Blätter geschehen.

§10 (1) Wenn nach der öffentlichen Bekanntmachung (§ 9 Nr. 4) eine natürliche oder juristische Person, die im Inland einen Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt, ihren Sitz, ihre Geschäftsleitung oder Grundbesitz hat, zum Zwecke der Erfüllung an den Steuerpflichtigen eine Leistung bewirkt, so ist hierdurch der Leistende dem Reich gegenüber nur dann befreit, wenn er beweist, daß er zur Zeit der Leistung keine Kenntnis von der Beschlagnahme gehabt hat und daß ihn auch kein Verschulden an der Unkenntnis trifft. Eigenem Verschulden steht das Verschulden eines Vertreters gleich (zum Beispiel das Verschulden eines Hausverwalters, den ein ausländischer Eigentümer eines inländischen Hausgrundstücks bestellt hat). (2) Erkennt das Finanzamt nicht an, daß jemand durch eine Leistung, die er nach der öffentlichen Bekanntmachung an den Steuerpflichtigen bewirkt hat, dem Reich gegenüber befreit worden ist, so steht gegen den Bescheid des Finanzamts das Berufungsverfahren nach § 229 der Reichsabgabenordnung offen; der Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten ist ausgeschlossen. (3) Die Beitreibung gegen den, der durch die an den Steuerpflichtigen bewirkte Leistung dem Reiche gegenüber nicht befreit worden ist, erfolgt im Verwaltungszwangsverfahren nach den Vorschriften der Reichsabgabenordnung. (4) Rechtshandlungen, die nach der Entstehung der Steuerschuld und vor der öffentlichen Bekanntgabe der Beschlagnahme vorgenommen worden sind, können als dem Reiche gegenüber unwirksam vom Finanzamt angefochten werden; durch Rechtsverordnung gemäß § 13 kann der Reichsminister der Finanzen nähere Bestimmungen treffen (insbesondere auch darüber, ob und inwieweit die Vorschriften der §§ 29ff. der Konkursordnung sinngemäße Anwendung finden). (5) Wer die im § 9 Nr. 4 Satz 4 Buchstabe f bezeichnete Anzeigepflicht vorsätzlich oder fahrlässig nicht erfüllt, wird, sofern nicht der Tatbestand der Steuerhinterziehung oder der Steuergeflihrdung (§§ 396, 402 der Reichsabgabenordnung) erfüllt ist, wegen Steuerordnungswidrigkeit (§ 413 der Reichabgabenordnung) bestraft.

§11

(1) Wird ein Steuerpflichtiger, gegen den ein Steuersteckbrief im Reichsanzeiger veröffentlicht worden ist (§ 9 Nr. 4), im Inland betroffen, so ist jeder Beamte des Polizeiund Sicherheitsdienstes, des Steueraußendienstes und des Zollfahndungsdienstes sowie

Anlage 1

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jeder andere Beamte der Reichsfinanzverwaltung, der zum Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft bestellt ist, verpflichtet, den Steuerpflichtigen vorläufig festzunehmen. (2) Der Festgenommene ist unverzüglich dem Amtsrichter des Bezirks, in welchem die Festnahme erfolgt ist, vorzuführen. Die Vorschriften der §§ 128, 129 der Strafprozeßordnung finden Anwendung mit folgenden Ergänzungen. (3) Der Amtsrichter, dem der Festgenommene vorgeführt wird, verlangt von dem Festgenommenen den Nachweis, daß er entweder die Reichsfluchtsteuer (§ 3) nebst Zuschlägen (§ 6) inzwischen entrichtet oder den im § 7 Abs. 1 bezeichneten Nachweis fristgerecht dem Finanzamt erbracht hat. Kann der Steuerpflichtige dem Amtsrichter weder die Entrichtung der Reichsfluchtsteuer noch die Erfüllung der im § 7 Abs. 1 bezeichneten Voraussetzungen nachweisen, so hat ihn der Amtsrichter, sofern er nicht Haftbefehl erläßt, der Polizei zu übergeben. Die Polizei nimmt den Steuerpflichtigen auf Grund dieser Vorschrift in Polizeihaft. Die Polizeihaft endigt nur dann, wenn entweder nachträglich ein richterlicher Haftbefehl gegen den Steuerpflichtigen erlassen wird oder wenn das Gericht über die dem Steuerpflichtigen zur Last gelegte Steuerflucht entschieden hat oder wenn auf Antrag der Polizei das Finanzamt mit Genehmigung des Landesfinanzamts die Freilassung des Steuerpflichtigen anordnet. (4) Ausnahmen von den Vorschriften der Abs. 1 bis 3 sind in keinem Falle zulässig.

§ 12

Die Reichsfluchtsteuer fließt ausschließlich dem Reiche zu.

§13

Zur Durchführung der Vorschriften über die Reichsfluchtsteuer kann der Reichsminister der Finanzen Rechtsverordnungen und allgemeine Verwaltungsanordnungen erlassen.

Dritter Abschnitt: lnkrafttreten

(3) Im übrigen treten die Vorschriften dieses Kapitels mit dem Ablauf des Tages in Kraft, an dem diese Verordnung im Reichsgesetzblatt verkündet wird.

6*

Anlage 2 Reichsnucht- und Vermögensteueraufkommen (In Tausend RM) (Angaben nach dem Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich) Rechnungsjahr

Reichsfluchtsteuer

Vermögensteuer

Rj 1931/32 Okt. Nov. Dez.

Jan. Feb. März

Rj 1932/33 April Mai Juni

Juli Aug. Sept.

Okt. Nov. Dez.

Jan. Febr. März

565,3

8268,3 80150,9 12432,8

565,3

100852,0

972,9 386,4 13,0

6151,6 52847,1 9028,1

1372,3

68026,8

Jahresmittel der Rflst als % der Vermst: 0.08% 45,1 416,1 228,0

3068,7 70918,4 13660,2

689,2

87647,3

8,6 8,3 7,8

7124,8 64150,5 12107,9

24,7

83383,2

8,0 94,0 7,8

8153,1 60050,4 15060,4

109,8

83263,9

7,5 78,3 7,1

8621,2 56124,7 11228,6

92,9

75974,5

Anlage 2 Rj 1933/34 April Mai Juni

Juli Aug. Sept.

Okt. Nov. Dez.

Jan. Febr. März

Rj 1934/35 April Mai Juni

Juli Aug. Sept.

Okt. Nov. Dez.

Jan. Febr. März

85

Jahresmittel der Rflst als % der Vermst: 5,72% 364,6 654,9 1405,1

5303,6 62637,8 10516,7

2424,6

78458,1

1742,2 846,5 2909,0

6398,6 54580,6 9235,3

5497,7

70214,5

1382,9 2204,0 2123,2

6723,0 61589,3 12256,8

5710,1

80569,1

1243,2 1012,7 1713,7

7039,8 58002,8 13019,5

3969,6

78062,1

Jahresmittel der Rflst als % der Vermst: 12,56% 2415,0 1477,0 2452,0

5882,0 58129,0 11324,0

6344,0

75335,0

1629,0 17896,0 1946,0

5172,0 54461,0 9350,0

21471,0

68983,0

1801,0 1363,0 2369,0

6285,0 63538,0 13502,0

5533,0

83325,0

2427,0 1416,0 928,0

5046,0 61001,0 9756,0

4771,0

75803,0

86 Rj 1935/36 I. Quartal 11. Quartal III. Quartal IV. Quartal

Rj 1936/37 I. Quartal 11. Quartal III. Quartal IV. Quartal

Rj 1937/38 I. Quartal 11. Quartal III. Quartal IV. Quartal

Rj 1938/39 I. Quartal 11. Quartal III. Quartal IV. Quartal

Rj 1939/40 I. Quartal 11. Quartal III. Quartal IV. Quartal

Anhang lahresmittel der Rflst als % der Vermst: 14,96%

2934 4651 22880 14872

75767 67038 83559 76596

lahresmittel der Rflst als % der Vermst: 19,43%

15221 18781 15971 19939

88508 83019 96783 91470

lahresmittel der Rflst als % der Vermst: 22,2%

17537 17261 24758 21798

90026 85302 97120 93898

lahresmittel der Rflst als % der Vermst: 87,67%

37857 73844 91823 139097

93134 87917 103423 106163

lahresmittel der Rflst als % der Vermst: 51,82%

102766 63697 28735 20991

99663 97760 110536 109204

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1933/34

1934/35

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