Die poetische Konstruktion des Selbst: Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault [Reprint 2010 ed.] 3484150920, 9783484150928

The study analyses early Romantic models of individuality and their relevance in the literature and philosophy of aesthe

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German Pages 420 [415] Year 2000

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Die poetische Konstruktion des Selbst: Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault [Reprint 2010 ed.]
 3484150920, 9783484150928

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MARION

SCHMAUS

Die poetische Konstruktion des Selbst Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault

& MAX NIEMEYERVERLAG TÜBINGEN 2000

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Meinen Eltern, Ingeborg und Wilhelm Schmaus gewidmet

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Schmaus, Marion: Die poetische Konstruktion des Selbst: Grenzgänge zwischen Frühromantik und Moderne: Novalis, Bachmann, Christa Wolf, Foucault / Marion Schmaus.

— Tübingen: Niemeyer, 2000 (Hermaea; N.F., Bd. 92)

ISBN 3-484-15092-0

ISSN 0440-7164

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Dank

Die vorliegende Studie hätte ohne die Unterstützung und das Gespräch mit anderen nicht entstehen können. Ihnen möchte ich meinen Dank aussprechen: Herr Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller hat in seinen Seminaren, im Ge-

spräch und in der Zusammenarbeit mein Interesse an der poetologischen Fragestellung geweckt und gefördert. Die Entstehung dieser Arbeit hat er von Anfang anı mit großem Interesse und Vertrauen begleitet. Für die vielfältige Unterstützung herzlichen Dank! In Lehre und Forschung hat mir Herr Prof. Dr. Manfred Frank

wertvolle Einblicke in die philosophischen Grundlagen der Frühromantik vermittelt, denen diese Untersuchung verpflichtet ist. Für die jahrelange Betreuung mit Ansporn und Kritik bin ich sehr dankbar.

Den Professoren Dr. Bernhard Greiner und Dr. Jürgen Wertheimer

sei für die Begutachtung der Arbeit gedankt. Die Studienstiftung des deutschen Volkes hat die zügige Abfassung dieser Studie sowie den Forschungsaufenthalt an der Universität von Kalifornien, Berkeley ermöglicht, die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Druck des Buches unterstützt, wofür ich Dank sagen möchte.

Den Reihenherausgebern Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller und Prof. Dr. Joachim Heinzle sei für die Aufnahme »Hermaea« gedankt.

der Arbeit in die Reihe

Für die Abdruckgenehmigung eines Zitats aus dem Nachlaß bin ich der Familie Bachmann sowie Prof. Dr. Robert Pichl sehr verbunden. Schließlich gilt mein besonderer Dank den Gesprächspartnerinnen,

die dieses Buch von der Konzeption bis zum Abschluß mit Anregung, Kritik und viel Humor begleitet haben: Eva Corino, Dr. Susanne Komfort-Hein, Dr. Elizabeth Millan, Dr. Karin Schutjer, Dr. Heather Sullivan, Dr. Barbara Thums. Letzterer danke ich insbesondere für die

treue Hilfe bei der Überarbeitung des Textes. Tübingen, im April 2000

Marion Schmaus V

Inhalt

Einleitung I.

»Ich ist eine Kunst - ein Kunstwerck.« Philosophisch-literarische Selbstverhältnisse im Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) . Variationen auf ein Thema: Entwürfe des Ich in den Philosophischen Fragmenten« 1.I. Die Voraussetzungen: »Fichten bin ich Aufmunterung schuldig« .. »Wir sprechen vom Ich — als Einem, und ess sind doch Zwey«: Die Dialektik von Gefühl und Gedanke

1.3. 1.4-

.

.

0

15

»Ördo inversus«e: Der „berühmte Widerstreit iim Ich« Lebenskunst - die Kunst, »Leben zu construiren«: Zur Rolle der Einbildungskraft und der Poesie im Prozeß des »Schwebens zwischen

Entgegengesetztem« 1.5.

Die Poesie als das affine Andere

2. Die poetische Konstruktion des Selbst im ‚Heinrich von Ofterdingen« 2.1. Der ‚Heinrich von Ofterdingen« als transzendentaler Bildungsroman 2.2. Das individuelle Lebensbuch 2.3. Die blaue Blume 2.4. Die Liebesbeziehung Heinrichs zuu Mathilde als sozioästhetische Darstellung des Rollentauschs von Gefühl und Gedanke 2.5. Das Märchen von »Eros und Fabek . 2.6. Der siderische Mensch 2.7. Die Verwirklichung der Utopie als formales Geschehen 3. Zusammenfassung vu

ll.

Verzicht auf erpreßte Autorität. Entwürfe des Ich in Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt

. 105

Spurensicherung

I.

Das Ich, das nicht eines ist en Isis und Osiris: Formen der Geschwisterliebe im

2.

3.

. 118

Gespräch zwischen Ingeborg Bachmann und Robert Musil . Ein weiterer Akt ini \ der Dialektik der Aufklärung. Widerstreitende Identitätskonzepte: Malina und Ich . »Glücklich mit Ivan

— Historische

Stadien einer

Liebesutopie: Novalis, Musil, Ingeborg Bachmann Verhinderte Autorschaft: Die poetische Produktion des

weiblichen Ich

rn

Eine Dialektik des Absurden: Die Geheimnisse einer Prinzessin, Blumengespräche und das »Gespräch im Gebirg« (Paul Celan) Malina als Erzähler der ‚Todesarten« II. »Die große Hoffnung oder über die Schwierigkeit, »ich« zu sagen«. I. 2.

Poetische

Selbstversuche

im Werk

Christa Wolfs

Gesprächsraum Romantik 0 Romantische Korrespondenzen: Die Initiation zum Dichter, Psychosomatik und Schwierigkeiten mit der ersten Person en

Zeitschichten und Kindheitsmuster 4. Todesarten und Selbstversuche: Der Rollentausch der Geschlechter

und

. Zusammenfassung

eine andere Ästhetik

. 2309

. 251

IV. Antike Ästhetik der Existenz und moderne Lebenskunst: Zum Werdegang des etho-poetischen Subjekts im Denken Michel Foucaults . 257 1. Traum und Existenz: Foucaults frühromantische Anfänge. Novalis’ träumendes Ich als Gegenentwurf zur . 262 ’Traumdeutung« Freuds . Vorwortpolitik — Die Stile Foucaults . 275 . Wege des Anders-Denkens: Literatur als Gegendiskurs . 205 und das Subjekt im Widerstand vmI

3.1.

Literatur, Wahnsinn zum

und

Gesetz des Vaters

Gesetz:

Hölderlins »Nein«

.

305

Das Subjekt und die moderne Macht“ . 317 4. Wege des Anders-Seins: Antike Ästhetik der Existenz und moderne Lebenskunst . 325 4.1. Antike: Gebrauch der Lüste 333 3.2.

4.2.

Moderne:

Gebrauch der Lüste und Freundschaft als

Lebensweise

4.3.

. 340

Moderne Lebenskunst? Judith Butlers Konzept der gender performance

. 346

4.4.

Die Sorge um sich

4.5. 4.6.

Die neue Politik der Wahrheit: Wahrsprechen. L’Ecriture de soi / Die Schrift seiner selbst

- 359 . 365 . 372

Nachwort

. 381

Literaturverzeichnis

. 383

Personenregister

. 405

IX

Einleitung

Ich weiß nicht, ob es eine Untersuchung des Ich und der vielen Ich in der Literatur gibt, bekannt ist mir keine,

und

obwohl

ich mich

nicht imstande

fühle,

eine regelrechte oder gar erschöpfende Untersuchung anzustellen, meine ich, daß es da viele Ich gibt und über Ich keine Einigung - als sollte es keine Einigung geben über den Menschen, sondern nur immer neue Entwürfe. [...] Und es wird seinen Triumph haben, heute wie eh und je — als Platzhalter der menschlichen Stimme. (Ingeborg Bachmann WA IV, 219, 237)

Diese Untersuchung hat sich zur Aufgabe gestellt, philosophisch-literarisch >»neue Entwürfe: des Ich exemplarisch anhand der Werke Friedrich von Hardenbergs, Ingeborg Bachmanns, Christa Wolfs und Michel Foucaults zu rekonstruieren. Das sich selbst schreibende Ich soll als frühromantische Gedankenfigur erhoben werden, die in Literatur und Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts erneut Aktualität gewonnen hat. Ausgehend von der von Kant und Fichte übernommenen, erkenntnistheoretischen

Fragestellung nach der Möglichkeit von

Selbstbewußtsein hat Novalis in seiner Werk die Widerspruchsstruktur des Ich, das sich als identisch und geteilt zugleich erfährt, einer prak-

tisch-poetischen Lösung zugeführt. Die Poesie erscheint als Medium der Dialogizität, und die poetische Tätigkeit wird als adäquate Praxis zwangfreier Selbstvermittlung benannt. Hardenberg hat für diese Form der Praxis den Begriff der Konstruktion gewählt, das »Ich soll construirt werden«,

es ist ein »artistisches« Wesen,

»eine Kunst — ein

Kunstwerck.« (HKA II, 253) Die Poesie ist ihm in dieser Hinsicht »Constructionslehre des schaffenden Geistes« (HKA IV, 263). Mit der poetischen Konstruktion des Selbst verbindet sich die Einsicht, daß das Selbst kein Gegebenes, sondern ein Aufgegebenes ist, so daß die angestrebte Einheit in der Zwei- und Mehrheit nur approximando erreicht werden kann, zu einer unendlichen Vermittlungsbewegung führt. Die unendliche Perfektibilität ist Signum des Ich, es wird als Approximationsprinzip gefaßt. Unter diesem Aspekt generiert sich der Akt des Schreibens in der Frühromantik in einem weiten Sinne als Autobiographie, als Selbst-Lebens-Schrift, über den sich das Ich erst schreibend hervorbringt, eben konstruiert. Das Genre des »transzendentalen Bil-

dungsromans«, veranschaulicht am »Heinrich von Ofterdingen«, soll im folgenden als Vollzug der poetischen Konstruktion des Selbst herausgearbeitet werden. Novalis’ Roman läßt sich als individuelles Lebensbuch lesen. Spuren dieses pragmatischen Literaturverständnisses finden sich in der ästhetischen Moderne nach 1945.' So führt Ingeborg Bachmann dieses Dichtungsverständnis in ihrem auf das »Iodesarten«-Projekt bezogenen Diktum der »imaginären Autobiographie< produktiv weiter. Mit der Einzeichnung der »vierten Dimension der AutorIn in ihre Texte erweist sich Christa Wolfs Werk als Aktualisierung der frühromantischen Gedankenfigur der poetischen Konstruktion des Selbst. Michel Foucault arbeitet in seinem späten Text »L’Ecriture de soic (»Die Schrift seiner selbst«) die Verfahrensweisen des sich selbst schreibenden Ich heraus und reflektiert damit auch nachträglich sein Werk, das seinen eigenen Worten zufolge »Fragmente der Autobiographie: versammelt. Fast im Gleichklang mit Hardenbergs »Ich ist ein Kunstwerk« formuliert Foucault als Leitsatz seiner späten Ästhetik bzw. Ethik der Existenz: »Aus der Idee, daß uns das Selbst nicht gegeben ist, kann meines Erachtens nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müssen uns selbst als ein Kunstwerk schaffen.« (GE 274) Der poetischen Konstruktion des Selbst ist zugleich eine formale Individualethik

implizit, da die praktisch-poetische Tätigkeit als ethi-

sche Form des Selbst- und Weltverhaltens ausgewiesen wird. Zur Kennzeichnung dieses Sachverhalts bedient sich Michel Foucault des antiken Begriffs »Ethopoiein« »Ethopoiein heißt Ethos zu machen, Ethos zu produzieren.« (FuS 50) Die Engführung von Ethik und Ästhetik als Signum der Wahlverwandtschaft der in dieser Arbeit versammelten Autor/innen findet in diesem Terminus ihren adäquaten Ausdruck.” Die in der Poesie ermöglichte dialogische Vermittlung mit dem eigenen und fremden Anderen wird zum Vorschein mundaner kommunikativer Intersubjektivität, wobei die Sphären der Lebenswelt und der Kunst in solchem Maße in Interaktion versetzt werden, daß Poesie als reflektierte ‘ Zum »Makroepochenbegriff« der ästhetischen Moderne siehe S. Vietta und D. Kemper, Einleitung (in: Ästhetische Moderne in Europa. Hrsg. von $. Vietta und D. Kemper, S. 1-55). Im folgenden werden die Werkausgaben Friedrich von Hardenbergs und Ingeborg Bachmanns, sowie die Texte Christa Wolfs, Michel Foucaults und anderer Autoren unter Siglen zitiert, die im Literaturverzeichnis unter der jeweiligen Autor/in aufgeschlüsselt sind. Die weitere Literatur wird mit Kurztiteln genannt. Zu den jüngsten Debatten um Ethik und Ästhetik siehe: Etho-Poietik. Hrsg. von B. Greiner

und

M. Moog-Grünewald;

D. Kamper und H. U. Gumbrecht; G. Kimmerle.

Ethik

der

Ästhetik.

Hrsg.

von

C. Wulf,

Ethik und Ästhetik. Hrsg. von G. Gamm

und

Freiheitspraxis auch im Alltäglichen ihre Anwendung finden soll. Novalis’ »Philosophie des täglichen Lebens«, Ingeborg Bachmanns moderne 'Tragödien des Alltäglichen, Christa Wolfs »Poesie des Alltags« und Michel Foucaults lebensweltliche Existenzkünste sind gemeinschaftlich an der Synthese von Kunst und Leben, an der »Lebenskunst« ausgerichtet.’ Das Ethopoiein wird in ihren Texten in Gestalt einer konkreten,

historisch situierten und reflektierten Utopie mit realpolitischen Zügen versehen. Daß für die zeitliche Eingrenzung der Aktualisierungsweisen des frühromantischen Selbst in Literatur und Philosophie nach 1945 anhand exemplarischer Fallstudien der Begriff der Moderne gewählt wurde, mag zunächst im Blick auf Foucault erstaunen, der in der deutschen

Diskussion vornehmlich unter dem Vorzeichen der Postmoderne bzw. des Poststrukturalismus rezipiert wurde. In seinem Spätwerk hat er jedoch explizit den Begriff der Moderne im emphatischen Sinne, verstanden als ein spezifisches Ethos, zur Kennzeichnung

seines eigenen

Denkens herangezogen. Foucaults Distanzierung von der Postmoderne hat damit eine argumentative Begründung erfahren. In einer paradoxen Wendung ließen sich die in dieser Arbeit vorgestellten philosophischliterarischen Entwürfe des Ich als moderne Überschreitung der Postmoderne bezeichnen,* indem eine Ethik des Selbst das Augenmerk auf

die Freiheitspraxis des Ich unter den Bedingungen moderner Pluralisierung der Diskurs- und Machtstrategien lenkt. Die postmoderne Dezentrierung des Subjekts wird mit der etho-poetischen Konstruktion des Selbst beantwortet. Im Fortgang der Arbeit soll expliziert werden, was Foucault zu der Äußerung veranlaßt hat, daß »heutzutage eine Ethik des Selbst [. . .] eine dringende, grundlegende, politisch unerläß-

liche Aufgabe darstellt - wenn es schließlich wahr ist, daß es keinen anderen vorrangigen und nutzbaren Widerstandspunkt gegen die politische Macht gibt als den, der im Selbstbezug auf sich liegt.« (FuS 54) Die verschiedenen, politisch widerständigen Momente jenes Modells von Ichheit, das sich von der Frühromantik herschreibt, gilt es im folgenden herauszuarbeiten, wobei ersichtlich wird, daß das Feld des

Politischen bei den in dieser Untersuchung zur Verhandlung stehenden

Grenzgänger/innen

zwischen Frühromantik

und Moderne

eine ent-

scheidende Resignifikation erfährt. ’ Zur Funktion des Begriffs der Lebenskunst in der zeitgenössischen Debatte um Ethik und Ästhetik vgl. W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, $. 19-33;

W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst. * Diese Dialektik hat Wolfgang Welsch bereits im Titel »Unsere postmoderne Moderne anklingen lassen.

Wir aber wollen über Grenzen sprechen, und gehn auch Grenzen noch durch jedes Wort: wir werden sie vor Heimweh überschreiten und dann im Einklang stehn mit jedem Ort. (Ingeborg Bachmann WA I, 89)

In der prekären Wechselwirkung von Modulierung der Seinsweise sei-

ner selbst und derjenigen der Welt bringt sich Hardenbergs philosophisch-literarischem wanderung zwischen der als individuelles berg dort, »wo sich durchdringen«

Entwurf zufolge das Ich auf dem Wege einer GratSelbst- und Fremdbestimmung hervor. Den »Sitz« Prinzip ausgewiesenen »Seele« verortet HardenInnenwelt und Außenwelt berühren. Wo sie sich

(HKAH,

418). Ein solches »fransitorisches — Punctahnli-

ches Ich« (AKA II, 442) wird in seinem Werk zu einem Grenzgänger zwischen den epistemischen Modi Gefühl und Gedanke, Poesie und Philosophie, zwischen den Zeiten, Leben und Tod, dem Ich und dem Du, zwischen den Geschlechtern und verschiedenen Formen der Liebe,

den Welten des Lebens und der Kunst sowie zwischen Ethik und Ästhetik. Ingeborg Bachmanns im Gedicht »Von einem Land, einem Fluß

und den Seen antizipierte Grenzüberschreitung ebenso wie Foucaults Wendung vom Ich in der » Grerzhaltung« - »Wir müssen die Alternative des

Außen

und

Innen

umgehen;

wir müssen

an den

Grenzen

sein«

(WA 48) — deuten an, daß es jenes transitorische Ich und seine verschiedenen Formen des Grenzgangs sind, die Novalis’ Aktualität in der Gegenwart begründen. In je eigener Form und unterschiedlicher Gewichtung werden uns diese Figuren des Grenzgangs zum einen in direktem intertextuellen Bezug auf Novalis, zum anderen in Form eines im

weiteren

Sinne

»frühromantischen

Denkstilx,

der

sich

nicht

aus-

schließlich an das Werk Hardenbergs zurückbinden läßt, in den Texten Ingeborg Bachmanns, Christa Wolfs und Michel Foucaults wiederbegegnen. Der Stil-Begriff spielt eine gewichtige Rolle in Novalis’ Romantheorie, Christa Wolf spricht von »Denk-Mustern« (V 120), und Foucault hat die Stilistik der Existenz ins Zentrum seines Spätwerks gestellt.‘

Hervorhebenswert

ist, daß

Foucault

den Terminus

»Stik

in

sein Werk in jenem frühen Text einführt, in dem er Novalis »mehr als jedem anderen« der Frühromantiker eine Konzeption radikaler Subjektivität jenseits von Innerlichkeit zuspricht, die die Freiheit des Menschen restituiert.

' Vel. Stil. Hısg.

von

H. U. Gumbrecht

und

K.L. Pfeiffer.

Wie die Konstellations-Forschung der letzten Jahre - Dieter Hensichs um Hölderlin zentriertes Jena-Projekt und Manfred Franks auf Novalis ausgerichtetes DFG-Forschungsprojekt® — gezeigt hat, stellt sich der deutsche Idealismus generell und noch einmal in ausgezeichnetem Maße die philosophisch-literarische Frühromantik als eine ideelle Gemeinschaftsproduktion dar, die Hölderlins Formulierung aus der »Friedensfeier< »Seit ein Gespräch wir sind«’ plastisch werden läßt. Der Gesprächscharakter ist den Texten dieser Epoche als Stilprinzip eingeschrieben,

wobei

die

Frühromantiker

selbst

diese

gemeinschaftliche

Arbeit am Sinn unter den Stichworten »Neue Mythologie: und >Bibelprojekt« reflektiert haben. Als »Variationsoperation« bzw. »Übersetzungstätigkeit« haben Novalis und Hölderlin jene Zitierpraxis gefaßt, die wir heute als Intertextualität verstehen.’ Dem Zusammenhang von poetischer Konstruktion des Selbst und Intertextualität als einer Form, die das Ethos des Selbst annehmen kann, soll im folgenden nachgegangen werden. Die Neue Mythologie ersetzt auf dem Wege der Vernetzung der Texte zum mythopoetischen Intertext die den antiken Mythos fundierende Einstimmigkeit und Einheitlichkeit des Weltbildes durch

eine

Stimmenvielfalt,

die sich

dem

Aufbrechen

geschlossener

Ideologien in Richtung auf eine »literarische Öffentlichkeit«° verschrieben hat. Diesem Verfahren liegt die Einsicht zugrunde, daß das Selbst nicht in seinem »Alleinsein«, sondern nur im Dialog mit dem Anderen

zu sich selbst kommen kann, dessen Stimme als notwendige Bedingung des eigenen Sprechens anerkannt wird. Entgegen dem im psychoanalytischen Kontext an diese Epoche herangetragenen Mythos des Narziß, zumeist begründet durch einen einfachen Kurzschluß von frühromantischer Spiegelmetaphorik auf narzißtische Selbstbespiegelung,'” ist es gerade dessen Gegenbild,

der Echo-Mythos,

der zum

Signum

des

* Siehe hierzu die Studien: D. Henrich, Konstellationen; ders., Der Grund im Bewußtsein;

Immanuel

Carl

Diez.

Hısg.

von

D. Henrich;

und

M. Frank,

»Unendliche

An-

näherung«. ? Hölderlin I, 368.

® Da im folgenden das Phänomen Intertextualität aus dem Denkstil der Frühromantik heraus in Zusammenhang mit der poetischen Konstruktion des Selbst und den Formen ihrer Aktualisierung entwickelt werden soll, stütze ich mich in dieser Arbeit auf einen eingeschränkten Begriff von Intertextualität, wie ihn Manfred Pfister im Anschluß an Gerard Genettes »Palimpseste: entwickelt hat, vgl. Konzepte der Intertex-

tualität. ? Siehe hierzu ]. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, v.a. 5. 116-1z1.

'° So argumentiert z.B. Jochen Hörisch in seiner ansonsten überzeugenden Analyse des Klingsohr-Märchens mit dem »Spiegelstadium« Lacans und der Narzißmustheorie, vgl. Die fröhliche Wissenschaft, S. 198ff.

frühromantischen Selbst und den Formen seiner Aktualisierung wird.'' Echo, die in liebender Hingabe »nur Stimme ist« und zwar als Widerhall einer anderen Stimme, stellt den Bezugspunkt für Hardenbergs philosophische Reflexion dar: »Was soll Echo machen, die nur Stimme ist?« (HKA II, 202) Womit noch einmal Nachdruck darauf gelegt werden kann, daß dieses Ich nicht autark, sondern darauf angewiesen ist,

daß ihm etwas gegeben wird. In einem Synchron- und Diachronschnitt werden in dieser Arbeit Gesprächskonstellationen zwischen Frühromantik und Moderne rekonstruiert. Denn dieser dialogische Gestus des Philosophierens und Poetisierens ist nicht nur der Frühromantik eigentümlich, sondern tradiert sich auch in den Formen ihrer Aktualisierung im zwanzigsten Jahrhun-

dert. An den Texten Ingeborg Bachmanns, Christa Wolfs und Michel Foucaults läßt sich beobachten, daß sich das Selbst im Gespräch, in der

Verschränkung von Lektüre und Schrift konstituiert. So treten in Bachmanns »TodesartenVon der Sprachfähigkeit« spricht Fichte von »dem höchsten Principe im Menschen, dem: sey immer einig mit dir selbst« (5. 305).

25

ein anderes

Feld verweist, nämlich

auf das der Kunst.

Schon

in den

»Fichte-Studien« gleiten Novalis’ Überlegungen aus dem Bereich der Erkenntnistheorie in den Bereich der Poetologie hinüber, und wir werden ihn auf diesem Weg begleiten. Die Po&sie ist der Held der Philosophie. Die Phil[osophie] erhebt die Poesie zum Grundsatz. Sie lehrt uns den Werth der Po&sie kennen. Phil[osophie] ist die Theorie der Poesie. Sie zeigt uns was die Poesie sey, daß sie Eins und alles

sey. (HKAII,

1.4.

s90f.)

Lebenskunst - die Kunst, »Leben zu construiren«: Zur Rolle der Einbildungskraft und der Poesie im Prozeß des »Schwebens zwischen Entgegengesetztem«

Als Kraft, die hier weiter zu gehen vermag und die die Reflexion überbieten kann, bringt Novalis im Fortgang der »Fichte-Studien« die produktive Einbildungskraft” ins Spiel — und folgt darin einer Wegweisung der »Wissenschaftslehre« Fichtes. Die Einbildungskraft und das ihr spezifische Betätigungsfeld, die Kunst, bei Hardenberg insbesondere die Poesie,“ sind in der Lage, die philosophisch nur konstatierbare Widerspruchsstruktur des Selbstbewußtseins zu vermitteln. Denn Novalis’ Überzeugung lautet: »Vollständiges Ich zu seyn, ist eine Kunst« (HKA I, 294).°’ Das Ich ist per analogiam ein Kunstwerk, wie Novalis

in einem späteren Fragment aus dem » Allgemeinen Brouillon« deutlich macht, da es, wie dieses erst mit Hilfe der Einbildungskraft konstruiert werden muß: Das Ich soll construirt werden.

[...]

Ich ist kein Naturproduct

— keine

Natur — kein historisches Wesen — sondern ein artistisches - eine Kunst — ein

Kunstwerck. (AKA III, 253)

An zwei Punkten läßt sich die tragende Rolle der Einbildungskraft im Selbstvermittlungsprozeß festmachen: zum einen in bezug auf den für das Ich konstitutiven Rollentausch von Gefühl und Gedanke, zum an-

deren in ihrer Funktion als »Symbolische Bildungskraft« in einer von # Siehe: »Einbildungskraft ist lediglich produkeif. [... .} Das Gefühl, der Verstfand] und dfie] Vernunft sind gewisserweise passiv — welches gleich ihre Namen bezeichnen — hingegen ist die Einbildungskraft allein Kraft — allein das 'Thätige — das Bewegende. So muß es auch seyn — Nur Ein Hervorbringendes« (HKA II, 167).

’° Vgl.: »Die Poesie ist für den Menschen, was das Chor dem griechischen Schauspiele ist — Handlungsweise der schönen, rythmischen Seele — begleitende Stimme unsers bildenden Selbst« (HKA U, 237). " In den Vorarbeiten: wiederholt Novalis: »Mensch werden ist eine Kunst.« (HKA I,

59) 26

Novalis in den »Fichte-Studien« entworfenen »Theorie des Zeichens — des Bildes.« (HKAII, ı71, 155) Bezogen auf den letzten Punkt soll veranschaulicht werden, daß die Kunst im Denken Hardenbergs zu einer Sphäre wird, in der sich das Ich sowohl selbstbestimmt als auch im Dialog mit dem eigenen und fremden Anderen hervorbringen kann. Ihre prägnanteste Ausformulierung findet die Auflösung der Selbstbewußtseinsproblematik in der Kunst,’ die in den »Fichte-Studien« durch den hier eingeführten Begriff der Einbildungskraft fundiert wird, erst in den späteren Fragmentsammlungen des Novalis, den »Hemsterhuis-Studien«, den »Vorarbeiten« und dem »Allgemeinen Brouillon«, die aus diesem Grunde mit in die Argumentation einbezogen werden müs-

sen. Einige der Fragmente der »Fichte-Studien« lassen jedoch erkennen, daß Novalis schon zu dieser Zeit an der praktisch-poetischen Lösung des Widerstreits im Ich arbeitete, Vor allem lohnt ein Blick auf das umfangreiche Fragment »Des Dichters Reich«. Diesen Text hatten Mähl und Schulz zunächst irrtümlich dem Gedankenkreis des »Heinrich von Ofterdingen« zugewiesen. Die 1979 wiederaufgefundene Handschrift ermöglichte jedoch eine eindeutige Datierung auf Februar/März 1796, so daß das »Dichterc-Fragment nun den Handschriftengruppen II-IV der »Fichte-Studien« zugeordnet werden kann.” Zu Recht spricht Balmes diesem Fragment den Charakter eines poeotologischen »Manifestes«° zu. Generelles Merkmal von »Des Dichters Reich« ist, daß die ‚Wechselbegriffe« und divergierenden Bewegungsrichtungen der Ordo inversus-Figur im Medium der Dichtung verortet werden. Die Begriffspaare,

durch die in diesem Fragment

Philosophie und

Poesie in Per-

sonifikation einander komplementär entgegengesetzt werden, lassen mehrfache Bezüge zu den Fragmenten der »Fichte-Studien: zu. So können die einleitenden Sätze, die Allgemeines und Besonderes in Verbindung zur Darstellungsaufgabe des Dichters erklären, mit dem Fragment Nr. 248

der »Fichte-Studien
Heinrich von Ofterdingen< merkt Novalis an: »Alles blau in meinem Buche. (HKA TI, 346) Die umfangreiche Forschungsliteratur zu diesem Motiv hat Uerlings versammelt (Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 406-411). '"= E,-G. Gäde, Eros und Identität, $. 172.

72

te.« (HIKA I, 197) Der Traum präfiguriert die Liebesbeziehung zu Ma-

thilde'”” und gewährt den Vorschein auf eine andere Welt: So ist mir noch nie zu Muthe gewesen: es ist, als hätt’ ich vorhin geträumt, oder ich wäre in eine andere Welt hinübergeschlummert; denn in der Welt, in der ich sonst lebte, wer hätte da sich um Blumen bekümmert, und gar von

einer so seltsamen Leidenschaft für eine Blume hab’ ich damals nie gehört. (HKA

I, 195)

Heinrich selbst ist sich der Bedeutsamkeit dieses Traumes bewußt, denn er erfährt ihn als auslösendes Moment, das seinen Bildungsweg initiiert: »Gewiß ist der Traum, den ich heute Nacht träumte, kein unwirksamer Zufall in meinem Leben gewesen, denn ich fühle es, daß er in meine

Seele wie ein weites Rad hineingreift, und sie in mächtigem Schwunge forttreibt.« (HKAI, 199) Im folgenden erscheint dann das Sinnbild der blauen Blume vor Heinrichs geistigem Auge, nachdem er mit seiner Mutter Eisenach verlassen hat und seine erste Reise antritt: »Die Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung gen

von

der

Weltgegend

hinüber, als werde er nach langen Wanderunher,

nach

welcher

sie jetzt reisten,

in sein

Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.«

(HKA 1, 205) Hier wird die blaue Blume mit dem Motiv der Heimkehr assoziiert, so daß die Suche nach Identität eigentlich als Suche nach der Heimat verstanden werden kann. Eine analoge Konstellation taucht nochmals in den Fragmenten zum zweiten Teil des »Ofterdingen« in Heinrichs Gespräch mit Zyane auf, deren Name schon auf ihre Identität mit der blauen Blume hinweist.'” Auf Heinrichs Frage »Wo gehn wir denn hin% antwortet sie: »Immer nach Hause.« (HKAI, 325) Die Suche nach der Heimat läßt sich als Vollzug dessen interpretieren, was im vorangehenden als poetische Einholung des als Ursprung bzw. Heimat reflektierten Grundes in das Ich dargestellt wurde. Die Identitätssuche weist so eine Zirkelstruktur auf: Im Offenbarungsbewußtsein des '7* Nach ihrem Kennenlernen identifiziert Heinrich Mathilde mit der blauen Blume: »Ist mit riichtt zu Muthe wie in jenem Traume, beym Anblick der blauen Blume? Welcher sonderbaıre Zusammenhang ist zwischen Mathilden und dieser Blume? Jenes Gesicht, das aus diem Kelche sich mir entgegenneigte, es war Mathildens himmlisches Gesicht« (HKATI,

277). Auch im Traum des Vaters wird die blaue Blume mit Heinrichs Mutter

in Verbiradung gebracht (AKA I, 202). ‘7 Vgl: »Der Name, von griech. »kyanos gebildet, bedeutet »blaue Kornblume«« (). Balmes, Kommentar, S. 180). In den nachgelassenen Notizen spricht Hardenberg im Blick auff Zyane in einfacher Identifikation von der »Erzählung des Mädchens, der blauen Bilume.« (HKA TI, 341)

73

Gefühls wird dem Ich die Einheit mit seinem Ursprung vermittelt. Diese Einheit gilt es nun sich zuzueignen, indem durch die Freisetzung der Einbildungskraft die Transzendenz des Grundes in Immanenz verwandelt wird und sich in die unendlich freie Tätigkeit des Ich übersetzt. Die Einbildungskraft strebt simmer nach Hause«. So wird die den Bildungsweg anleitende Suche nach der Heimat zur Suche nach der Einheit von Einheit und Differenz, der sich das Ich in permanenter Vermittlung seiner dualen Grundstruktur annähern kann. In diesem Sinne ist auch Novalis’ Äußerung im Brief an Caroline Schlegel vom 27. Februar 1799 zu verstehen, der ‚Heinrich von Ofterdingen« stelle » Übergangs Jahre vom Unendlichen zum Endlichen« (HKA IV, 281) dar.'”* So wie Ichheit allmählich die Transzendenz ihres Grundes zur Immanenz werden läßt, soll in der Architektonik des Romans

Trennung von Unendlichem

und Endlichem

fortschreitend die

aufgehoben werden,

so

daß die mundane Wirksamkeit des ersteren zur Darstellung kommt. Sehr schön haben Anna Seghers und in ihrer Nachfolge Christa Wolf

diese Verweltlichung des Transzendenten in der Wendung »Glauben an Irdisches« (D 293) zum Ausdruck

gebracht. Ein Glaube, der sich in

beider Werk im Anschluß an Novalis mit der Suche nach dem »wirklichen Blau< verbindet, wie wir im folgenden sehen werden. Die Aufgabe, die Novalis sich gestellt hat, ist der Nachweis der Wirksamkeit des

Unendlichen im Endlichen, wobei das Unendliche nichts anderes als die Poesie selbst ist. Und somit wird die »Poetisierung der Welt« (HKAI, 347) zum ausgewiesenen Ziel des Romans.

Im weiteren wird der Symbolgehalt der blauen Blume im Märchen von »Eros und Fabel« entfaltet. Im Schlußbild des Mondschauspiels erscheint die Blume als »androgyne[s] Versöhnungsbild«,'” in dem Mann und Frau, Eros und Freya in neuer Einheit zur Darstellung

gelangen. »In dem Kelche lag Eros selbst, über ein schönes schlummerndes Mädchen hergebeugt, die ihn fest umschlungen hielt. Eine kleinere Blüthe schloß sich um beyde her, so daß sie von den Hüften an in Eine Blume verwandelt zu seyn schienen.« Die hier vorgeführte Blume wird mit der Lilie assoziiert (»Ein Lilienblatt bog sich über den Kelch der schwimmenden

Blume«

HKA

I, 300), die von alters her als

'* Eine Formulierung, die an Fichtes »Grundriß« erinnert: »Von dem Endlichen aus gibt es keinen Weg in die Unendlichkeit; wohl aber gibt es umgekehrt einen von der unbestimmten, und unbestimmbaren Unendjlichkeit, durch das Vermögen des Bestimmens zur Endlichkeit« (Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre, S. 4). '7 A. Aurnhammer, Androgynie, S. 182.

74

zweigeschlechtliche Pflanze zur Topik des Androgynen gehört.'” Des weiteren kann dies als intertextueller Bezug zu Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre« gelesen werden. Dort ist die Lilie als Symbol der Androgynität, der Reinheit und Unschuld jenen Figuren an die Seite gestellt, die man als die romantischen des Romans bezeichnen könnte.'” So scheint im »Heinrich von Ofterdingen« durch das Symbol der blauen Blume auch jenes Androgynitätsmodell auf, welches Novalis schon in den »Fichte-Studien« ins Spiel gebracht hatte. Die Vereinigung von Mann und Frau kann demnach als Identitätsfindung beschrieben werden, in der der männliche (Gedanke) und der weibliche (Gefühl)

Aspekt einer Person wieder zu einem gemeinsamen Ganzen verbunden werden.

Im Märchen von »Eros und Fabek findet sich noch ein weiteres Symbol, das zur Topik des Androgynen gehört und aus diesem Grund mit der blauen Blume in Verbindung steht. Es ist dies die durch Ginnistan geformte

Figur

einer

Schlange,

die sich in den

Schwanz

beißt,

der

sogenannte »Ouroboros, als gnostisches und alchimistisches Symbol«

und »Sinnbild« für die »Vereinigung der Geschlechter.«'”* Diese Figur reicht Gifnistan dem Knaben Eros als Spielzeug, und sie übt auf diesen eine ähnlich eindrückliche Wirkung aus wie die blaue Blume eingangs auf Heinfich. Der Ouroboros wirkt als Katalysator, der Eros in Sekundenschnelle vom Kind zum Jüngling reifen läßt, und auch er erlebt 176 Vgl. A. Aurnhammer, Androgynie, 5. 179-192. Das Symbol der Lilie wird im »Hein-

rich von Ofterdingen« des weiteren in Assoziation mit den Frauengestalten des Romans genannt (HKA I, 257, z7ı). Es ist »in der Alchimie ein Zeichen für den weib-

lichen Teil einer Verbindung.« (J. Balmes, Kommentar, 5. ı77) Als Symbol der Unschuld und des Androgynen

gehört die Lilie zu den Insignien des idealen Königtums,

die Arctur im Märchen von >»Eros und Fabel an Eros weiterreicht (HKA I, 304, 314).

Zum Traditionsbezug des Lilien-Motivs zum Werk Böhmes siehe M. S. Baader, Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit, S. 140, 192.

77 Gemeint sind Mignon, der Harfner Augustin und Sperata, die schon Georg Lukäcs als »romantisch-poetische Gestalten«, »als höchst poetische Verkörperungen der Romantik« gelesen hat (G. Lukäcs, Wilhelm Meisters Lehrjahre, $. 392). Mignon selbst wählt die Lilie als Symbol der Reinheit zu ihrer Zierde (Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 5. 547) und deutet dadurch auf ihre Herkunft

hin. Denn die Lilie ist auch das Symbol der Geschwisterliebe zwischen Augustin und Sperata, deren Kind sie ist. Augustin selbst versucht seine inzestuöse Liebe zu rechtfertigen, indem er auf diese Blume verweist: »Seht die Lilien an, entspringt nicht Gatte

und Gattin auf Einem Stengel? verbindet beide nicht die Blume, die beide gebar, und ist die Lilie nicht das Bild der Unschuld, und ist ihre geschwisterliche Vereinigung nicht fruchtbar?« (ebd., 5.606) Novalis kommentiert diesbezüglich zum Wilhelm

Meister«: »Das Romantische geht darinn zu Grunde - auch die Naturpoäsie, das Wunderbare« (HKA IH, 638). Vgl. H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 447. m], Balmes, Kommentar,

5. 173.

75

hier eine Initiation, die seine Bildungsreise motiviert und ihm das Ziel des Weges weist: Wie er sie [Schlange] erhielt, sprang er rüstig [. . .] aus der Wiege, stand, nur von seinen langen goldernen Haaren bedeckt, im Zimmer, und betrachtete mit unaussprechlicher Freude das Kleinod, das sich in seinen Händen nach Norden ausstreckte, und ihn heftig im Innern zu bewegen schien. Zusehends wuchs er. (HKA I, 295)

Noch ein weiterer Topos ist im »Heinrich von Ofterdingen« sowohl mit der blauen Blume als auch mit der Vorstellung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen assoziiert — das wohl durch Goethe inspirierte Motiv der Geschwisterliebe. Binen ersten Hinweis hierauf gibt uns der Text im Zusammenhang von Heinrichs Begegnung mit Zulima, auf die er durch das Erscheinen der blauen Blume vor seinem geistigen Auge eingestimmt wird: »die Blume seines Herzens ließ sich zuweilen, wie ein Wetterleuchten in ihm sehn.« (HKAI, 234) Zulima führt Heinrich nicht nur in das Land der Poesie ein, sondern erkennt in ihm auch das

Ebenbild ihres dichtenden Bruders. »Euer Gesicht dünkt mir bekannt [.. .]-. ©! mir ist, als glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor unserm Unglück von uns schied, und nach Persien zu einem berühmten

Dichter zog.« (HKA I, 236) Zum Abschied will sie Heinrich die Laute eben jenes Bruders zum Geschenk machen (HKA I, 238). Das junge Mädchen, das in dieser Szene an Zulimas Seite erscheint, ist wohl iden-

tisch mit Zyane (HKAI, 343), der späteren Weggefährtin Heinrichs. Auf die eigentümlichen Verwandtschaften zwischen dem Figurenpersonal des »Heinrich von Ofterdingen: wurde ja schon aufmerksam gemacht. Der hier aufgenommene Faden der Geschwisterbeziehung wird nun im »Heinrich von Ofterdingen« feinmaschig fortgesponnen,'”” so daß der Lesende nicht übermäßig überrascht ist, wenn Zyane ihn und Heinrich im zweiten Teil des Romans in aller Deutlichkeit über die Verwandtschaftsbeziehungen aufklärt. Auf seine Frage »Woher kennst du mich?« entspinnt sich folgender wechselseitiger Dialog: O! von alten Zeiten; auch erzählte mir meine ehmalige Mutter zeither immer

von dir? [...] Wie hieß sie? Maria. Wer war dein Vater? Der Graf von Ho'#? Der Roman, den Heinrich in der Höhle des Grafen von Hohenzollern findet, bilder

nicht nur sein eigenes Leben ab, sondern — wie sich aus Andeutungen rekonstruieren läßt — auch jenes von Zulimas Bruder (HKA I, 342). Der Graf von Hohenzollern, der sich später als Vater von Zulima und Zyane offenbaren sollte (HKAI, 343), sieht Heinrich »mit einem freundlichen durchdringenden Blick« an und bedenkt ihn mit »sonderbar bedeutenden« (HKA I, 265) Abschiedsworten, so als wisse er um die Identität Heinrichs mit seinem Sohn.

76

henzollern. Den kenn’ ich auch. Wohl mußt du ihn kennen, denn er ist auch

dein Vater. Ich habe ja meinen Vater in Eysenach? Du hast mehr Eltern.

(HKA I, 325) Auf diesem Wege wird Heinrich im Roman mit Zulimas und Zyanes Bruder identifiziert, zu seinem inneren Plural gehört auch die brüderliche Dichtergestalt, die er sich im Fortgang des Textes allmählich zueignet. Seine Beziehungen zu Zulima und Zyane stehen unter dem Vorzeichen der Geschwisterliebe. In der obigen Szene wiederholt sich auch das Motiv der Heimkehr als Aneignung der geistigen Heimat, die hier durch die Eltern symbolisiert wird. Da Zulima / Zyane und ihr Bruder, Eros und Freya Variationen auf das Liebespaar Heinrich und Mathilde darstellen, wird folgerichtig das Motiv der Geschwisterliebe im Roman auch auf sie übertragen. Heinrichs Traum vom blauen Strom im sechsten Kapitel des »Ofterdingen« kann als androgyne Verschmelzungsphantasie'" gelesen werden, die sowohl als Rückkehr in die Heimat als auch zu den gemeinsamen Eltern

beschrieben wird: Ihm wurde so wohl und heymathlich zu Sinne. [...] Er sah sich um, und Mathilde schloß ihn in ihre Arme. [...] Wo sind wir, liebe Mathilde? — Bey unsern Eltern. — Bleiben wir zusammen? — Ewig, versetzte sie, indem sie ihre Lippen an die seinigen drückte, und ihn so umschloß, daß sie nicht wieder

von ihm konnte. (HKA I, 278f.)

Im Fortgang des >Heinrich von OÖfterdingen« differenziert sich der Symbolgehalt der blauen Blume zunehmend aus, so daß sich der Bildungsweg als Suche nach der Geliebten, einer anderen Welt, der Heimat, dem affınen 'Teil des Selbst, der Schwester und den Eltern ausge-

staltet. Mithin ist die blaue Blume das Schibboleth dialogischer Iden-

tität und Chiffre für den umfassenden Sinn des transzendentalen Bildungsromans: Liebe. Im zwanzigsten Jahrhundert wird sie in dieser Form im literarischen Gespräch zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan wieder prominent aufgerufen. 2.4.

Die Liebesbeziehung Heinrichs zu Mathilde als sozioästhetische

Darstellung des Rollentauschs von Gefühl und Gedanke Die bereits anvisierte enge Konstellation von poetischer Konstruktion des Selbst, Liebesthematik und Androgynitätsideal im »Heinrich von Ofterdingen« soll nun im eingehenderen Blick auf das Verhältnis Hein> Siehe hierzu A. Aurnhammer, Androgynie, $. 190.

77

rich und Mathildens analysiert werden. Schon in den »Philosophischen Fragmenten« galt die Liebe einerseits als Paradigma dialogischer Selbstbeziehung, andererseits als Vorbild versöhnter Intersubjektivität. Und genau in dieser Ambivalenz stellt sich auch die Liebe im »Heinrich von Ofterdingen: vor. Die Liebe zwischen Heinrich und Mathilde kann als sozioästhetische Darstellung'" des ichinternen Rollentauschs von Gefühl und Gedanke gedeutet werden. Unter liesem Gesichtspunkt wären beide als symbolische Darstellungen eines Teiles von Subjektivität anzusehen, der einem androgynen Ganzen angehört. Ihre Liebe gestaltet sich aber auch als Wechselwirkung zweier Individuen, in der »jedes sowohl Mittel zum Selbstverständnis des anderen wie selber Subjekt seines Erkennens [ist] und [...] in der Erkenntnis und Erweiterung seines eigentümlichen Wesens«'* daraus hervorgeht. In den Dialogen der Liebenden werden beide Aspekte miteinander verknüpft. Heinrich bezeichnet Mathilde ganz explizit als den »sichtbaren Geist des Gesanges« (HKAI, 277), quasi als fleischgewordene Poesie. Sie fungiert als Sprachrohr des Selbstgefühls, »der unbekannten heiligen Welt« (HKA I, 289) und macht ihn, den reflexiven Teil,'*” mit seinem affinen

Anderen vertraut. In ihr kann Heinrich sich aufheben - »Sie wird mich in Musik auflösen« —, um in diesem Akt zugleich zu sich selbst zu kommen: »Sie wird meine innerste Seele« (HKA I, 277). Die Einheitserfahrung des Individuums drückt sich in einer androgynen Verschmelzungsphantasie aus: »Mein ganzes Wesen soll sich mit dem deinigen vermischen.« (HKA I, 289) Daß in dieser Beziehung jeder dem anderen als Spiegel dient, durch den er sich selbst als Vollständiges erfahren kann, deutet Heinrich selbst an, wenn er fragt: »bin ich der Glückliche, dessen Wesen das Echo, der Spiegel des ihrigen seyn darf« (HKA I, 277) Die Wortwahl verrät aber zugleich, daß die frühromantischen Spiegelszenarien nicht als narzißtische aufzufassen sind, sondern gerade deren Widerpart bilden. Die Stimme Echos wird zum Paradigma dieser Form dialogischer Vermittlung." Somit wird der Akzent

'"! Diesen Begriff übernehme ich von J. Hörisch, Die fröhliche Wissenschaft, 5. 9, 109111. "= K, Ruder, Zur Symboltheorie des Novalis, S. 51.

'3 Vgl: »Im Manne ist Vernunft, im Weibe Gefühl /beydes positiv/ das Tonangebende.« (AKA II, 275)

"4 Siehe hierzu den »Narziß und Echo«-Mythos Ovids. Echo vergeht in der nicht erwiderten Liebe zu Narziß, ihr Körper versteinert und nur die »Stimme bleibt« (Ovid, Metamorphosen,

5. 74). Auch

Mathilde wird im Roman

mit der Stimme

soziiert: »Ihre Stimme war wie ein fernes Echo« (HKA I, 271). 78

Echos as-

nicht auf die selbstverliebte, trügerisch-einheitliche Ichsetzung gelegt,'” sondern auf ein abhängiges Ich, das sich nur in liebender Hingabe an den Anderen, im Widerhall Stimme verleihen kann. Das Moment

hin-

gebender Selbstauflösung und die Metamorphose des Ich stehen in dieser Konzeption im Vordergrund, und darum identifiziert sich Heinrich nicht mit demjenigen, der in den Spiegel blickt, sondern mit dem echogleichen Spiegel. In der Liebe zu Mathilde sieht er seine Sehnsucht nach Identität erfüllt, da sie ihm zum Endpunkt seines Bildungsweges wird:

»Es war

kein Zufall, daß

ich sie am

Ende

meiner

Reise

sah«

(HKA I, 277). Im Gegenzug erfährt sich Mathilde erst jetzt als vollständiges Ich: »daß mir ist, als finge ich erst jetzt zu leben an« (HKA I, 287). Denken wir an Novalis’ Definition von Leben als Schweben zwischen Gefühl und Gedanke zurück, so muß auch Mathilde, die den Part des Selbstgefühls übernimmt,

sich erst selbst beleben,

indem

sie sich

ihren anderen Teil, den Gedanken zueignet: sie assoziiert Heinrich mit dem »herrlichen Geist« (HKA I, 288). Und wiederum ist es die Meta-

phorik der Verwandtschaft

/ Bekanntschaft, die auf die gemeinsame

Herkunft von Gefühl und Gedanke und damit auf deren Zusammengehörigkeit verweist. »Mich dünkt, sagte Mathilde, ich kennte dich seit undenklichen Zeiten.« (HKA TI, 287)

Daß dieser Zustand noch nicht das Ziel von Heinrichs Reise ist und vielleicht nur der einer momentanen Erfüllung, markiert Heinrichs Traum von Mathildens »Tod«. Jener Traum wurde schon im letzten Kapitel unter dem Stichwort Androgynität angesprochen. Gerade dieser

Traum ist es, der dem »Heinrich von Ofterdingen« und dem in ihm vorgestellten Androgynitätsmodell heftige Kritik von seiten der feministischen Literaturwissenschaft eingetragen hat. Elisabeth Bronfen konstatiert in bezug auf den »Heinrich von Ofterdingen«, daß »mit der

Romantik gerade die sterbende oder tote Geliebte zur Muse ernannt wird«, die »mit dem Leben für die männliche Kunstproduktion zu zahlen«'” hat. Gerlinde Geiger bezeichnet Novalis’ Androgynitätsauffassung als »Vereinnahmungsdenken«, wo die »Vereinnahmung des Weib-

lichen [. . .] der Vervollständigung des Männlichen dienen soll«.'” Das

»Emanzipationsfeindliche und Rückwätrtsgewandte«'"* des frühroman'" Am prominentesten hat Lacan die Narzißmustheorie im »Spiegelstadium« vorgetragen. Hierauf wird in bezug auf Foucaults frühromantische, echogleiche Ichkonzeption zurückzukommen

sein, vgl. Kapitel TV.:.

'% EB, Bronfen, Die schöne Leiche, S. 1 10f. "G. Geiger, Weiblichkeit in den Schriften von Frauen und Männern, S. 100. '"# B. Becker-Cantarino, Priesterin und Lichtbringerin, S. rıı.

79

tischen Frauenbildes stellt Becker-Cantarino heraus. Und Inge Stephan spricht von den »vampirhafte[n] Züge[n]«'” der Helden der Frühromantik, die ihren Geliebten das Leben aussaugen, um sich selbst als super ego etablieren und künstlerisch tätig werden zu können. Betrachtet man einzig den plot des »Ofterdingen«, so mag diese Kritik zunächst plausibel erscheinen: Heinrich begegnet Mathilde, träumt von ihrem Tod, dieser Traum hat wie alle seine Artgenossen im Roman prophe-

tischen Charakter. Im zweiten Teil des Romans tritt er nach Mathildens Tod in Gestalt des Dichters auf. Und jene Kritik erhält zusätzlichen Nährstoff durch literaturwissenschaftliche Deutungen, die den Tod des Weiblichen erzählpragmatisch begründen und damit den oben denunzierten Vereinnahmungsgedanken propagieren,'” ohne daß das Skandalon der »schönen Leiche: auch nur in den Blick der Untersuchung gerät. Meines Erachtens ist die feministische Kritik eher auf die Novalis-Rezeption denn auf den »Heinrich von Ofterdingen: anzuwenden. Der Roman selbst entgeht bei differenzierter Betrachtung der symbolischen Darstellungsweise diesen Kritikpunkten. Dies gilt im besondeten für die Deutung des Todestraumes. Zunächst einmal ist festzuhalten, daß der Traum vom blauen Strom

einen deutlichen Rückverweis auf Heinrichs ersten "Traum und seine dortige Verschmelzung mit der Natur im Bade beinhaltet. Von dem Punkt der Argumentation aus, an dem wir uns jetzt befinden, kann jene

Badeszene als erstes Einschleichen der Todesmetaphorik in den Text angesehen werden. Diese Erfahrung, die am treffendsten mit denjenigen Worten umschrieben ist, die Heinrich zur Bestimmung des Wesens der Liebe anführt: »grenzenloseste Hingebung« (HKA I, 289), hier an die Elemente der Natur, wird zur Voraussetzung

für Heinrichs Vision

von der blauen Blume. Will man diese Szene auf einen einfachen Nenner bringen, heißt das, die Selbstaufgabe ist Bedingung der Möglich-

keit der Selbstkonstruktion. Im Roman wird ein Schema von Identität literarisch verwirklicht, welches uns schon in den »Fichte-Studien« be’# ], Stephan, »Die Musen gehören zu den himmlischen Gestalten, die Mann und Weib nicht kennen«, $. ı21.

'” Beispielhaft sei hier nur auf die Interpretation von Manfred Engel verwiesen: »Nach der in der Erfüllung der Liebessehnsucht kulminierenden individuellen Entwicklung soll nun die neue Welthaltung unmittelbar praktisch werden. Dazu ist meist der Tod det Geliebten — oder doch wenigstens die Trennung von iht — nötig, da nur so das Verharren in einer nur privaten Erfüllung verhindert werden kann. [.. .] Im im engeren Sinne romantischen Kontext verweist der Tod der Geliebten den Helden darauf, daß die geistig-kreative Komponente seines Wesens immer über das bloß Physische hinausweist.« (Der Roman der Goethezeit, S. 492) 80

gegnete. Dort war die Selbstentäußerung notwendiger Bestandteil des Weges zur Selbstfindung. Hier kehrt dies in symbolischer Form im Motiv

des

Todes

wieder.

Nur

im

Tode,

im

Moment

der

äußersten

Selbstaufgabe, sind Einheitserfahrungen möglich.'” Der Tod wird jedoch nicht als endgültiger Zustand verstanden, sondern er ist das Symbol für jenen Akt der Grenzüberschreitung, in dem sich das Ich seinem affınen Anderen hingibt, um sich selbst in ihm wiederzufinden. Daß der Roman mit dem literarischen Gestaltungsmittel der Metempsychose arbeitet, wird dem Leser schon durch die Symbolsprache von Heinrichs ersten Traum vermittelt: »Er durchlebte ein unendlich

buntes Leben;

starb und kam wieder« (HKA I, 196). Während im erstem Traum Heintich den »ächt philosophischen Act« der »Selbsttödtung« (HKA I, 395) durch liebende Hingabe vollzieht, ist es in der Atlantis-Erzählung im Rollentausch die Königstochter, deren Scheintod zur Voraussetzung der Vereinigung der Liebenden wird (HKAI, zzzff.).'” Diese Präfigurationen münden im gemeinsamen Liebestod von Heinrich und Mathilde im Traum vom blauen Strom. Denn was in den meisten Interpretationen des Romans übersehen wird: Heinrich antizipiert in diesem Traum auch seinen eigenen Tod: »Das Herz schlug nicht mehr. [.. .] Sein Gemüth war verschwunden.« (HKA I, 278) Beide befinden sich im Traum in einer Sphäre außer der Zeit, in einem Zustand des Außersich-Seins, so daß sich ihre Begegnung folgerichtig im Totenreich ereignet: Wo ist der Strom? rief er mit Thränen. — Siehst du nicht seine blauen Wellen über uns? Er sah hinauf, und der blaue Strom floß leise über ihrem Haupte. (HKA I, 278f.) '" Schon in den »Fichte-Studien: zeigten die Beschreibungen solcher momentanen Einheitserfahrungen Affinität zur Todesmetaphorik, vgl. Kapitel I.4. Auch auf die Verknüpfung des Höhlen- und Todesmotives im »Heinrich von Ofterdingen« ist zu verweisen. Die Höhle ist sowohl der Ort von Einheitserfahrungen (mit sich selbst und dem affinen Anderen) als auch das Totenreich: In der Höhle im Kyffhäuser wartet König Barbarossa auf seine Wiederkehr (HKA I, 2or); die tor geglaubte Prinzessin der Atlantis-Erzählung wird

in »unterirdischen

Zimmern«

(HKAI,

222) versteckt;

Marie von Hohenzollern liegt in der Höhle des Einsiedlers begraben (HKA I, 257); Mathilde sollte in einer Höhle wieder von Heinrich zum Leben erweckt werden

(HKA I, 348).

'” Die in der Liebe sich ereignende Dialektik von Selbstverlust (Tod) und -aneignung wird in dieser Erzählung schon durch das Motiv des Karfunkelsteins präfiguriert. Die Prinzessin verliert jenen Stein, »dessen Besitz ihr die Freyheit ihrer Person sicherte, indem sie damit nie in fremde Gewalt ohne ihren Willen gerathen konnte.« Sie verliert das Symbol ihres Herzens — »Er ist mit einem Herzen zu vergleichen« -, ist jedoch »gar nicht unzufrieden mit dem Verluste« (HKA I, 219), da sie in dem Sohn des Antiquars jenes Gegenüber gefunden hat, durch dessen Liebe sie sowohl den Stein (Herz) als auch sich selbst zurückerhält. 81

Das Motiv des Todes wird im Heinrich von Ofterdingen« zum literarischen Darstellungsmittel, schen Ausdruck

um

jener Dialektik des Lebens

symboli-

zu verleihen, die er schon in den »Fichte-Studien« als

»Schweben« zwischen »Seyn und Nichtseyn« umschrieb und dort als »Unaussprechliches« (HKA U, 106) bezeichnete. Das Schweben zwischen Gefühl und Gedanke wiederholt sich als Schweben zwischen Tod und Leben. Und so wird die gemeinsame Todeserfahrung von Heinrich und Mathilde, die zugleich eine der androgynen Ganzheit ist, zu einer

Station auf ihrer beider Bildungsweg,'” aus der sie in Erweiterung ihrer selbst hervorgehen. Das Todesmotiv erweist sich nämlich auch darin als geeignetes Darstellungsmittel, daß es Novalis’ Aussage sinnbildlichen Ausdruck verleiht, daß das transitorische Ich aus jedem Entäußerungsund Aneignungsprozeß als ein neues hervorgeht. So treten uns Heinrich und Mathilde im zweiten Teil des »Ofterdingen« in verwandelter Gestalt gegenüber: sie als Sinnbild der Mutterschaft," um sich dann in Zyane zu verwandeln, er als Dichter. In Gestalt Zyanes wird Mathilde Heinrich die Dialektik des Lebens als Schweben zwischen Sein und Nichtsein lehren. Auf seine Frage »Warst du schon einmal gestorben%« antwortet sie: »Wie könnt’ ich denn leben’%« (HKATI,

325) Im zweiten

Teil des »Heinrich von Ofterdingen: sollte der Wechsel von Tod und Wiedergeburt in Form einer Variation des Orpheus-Mythos wiederkehren. Unter dem Stichwort »Umgekehrtes Märchen« verzeichnet Hardenberg: »Mathilde steigt in die Unterwelt und holt ihn.« (HKA I, 345) Im Rollentausch ist nun diese die Sängerin, die den früh verstorbenen '# Heinrich durchwandert sozusagen den Tod (HKA 1, 278, 319f.), den er zunächst als gänzliche Trennung von seiner Geliebten erlebt und darum in Verzweiflung fallt, die Novalis als »geistiges Sterben« (HKA II, 426) bezeichnet. Erst durch die Erscheinung Mathildens wird er zur Erkenntnis geführt, daß der Tod »eine höhere Offenbarung des Lebens« (HKA I, 322) ist. Diese Erkenntnis befähigt ihn nun selbst, zwischen Tod und Leben zu schweben. Er sollte im Fortgang des Romans zu den Toten gehen (HKAI) 346). Thomas Mann hat in seinen politischen Manifest »Von deutscher Republik« (1922) das Todesmotiv im Werk des Novalis folgendermaßen gedeutet: »es könnte Gegenstand eines Bildungsromanes sein, zu zeigen, daß das Erlebnis des Todes zuletzt ein Erlebnis des Lebens ist, daß es zum Menschen führt.« (Essays, S. 92) Die

Frauengestalten des Romans scheinen im ursprünglichen Besitz dieser Erkenntnis zu sein: Dies liegt wohl daran, daß Novalis’ Bestimmung des Weiblichen — Einheit von Gefühl und Gedanke unter dem Vorzeichen des Gefühls (HKA H, 275) — derjenigen der Poesie gleicht. So daß die Frauen im Roman folgerichtig entweder selbst als Dichterinnen (Zulima, Fabel, Astralis) oder als Verkörperungen der Poesie (Mathilde)

eingeführt werden, und bekanntlich galt in der Frühromantik die poetische als höchste Form der Erkenntnis. Siehe hierzu A. Kuzniar, Hearing Woman’s Voices in »Heinrich

von Ofterdingen:. Ygl. HKAT, 321f. Bezüglich der Analogie zur Mariengestalt der Geistlichen Lieder: siehe M. Seidel, Novalis’ »Geistliche Lieder«, S. 159-62. B2

Gatten vom Tode erlösen will. Des weiteren war eine Episode geplant, in der Heinrich Mathilde wieder zum Leben erweckt (HKAI, 348). Leben und Tod sind im »Ofterdingen« keine Privilegien, die einseitig dem Mann bzw. der Frau zugesprochen werden, sondern auch hier erweist sich das Geschehen als Rollentausch. Die von feministischer Seite geäußerte Kritik an Novalis’ Subjektbegriff bzw. dem im »Heinrich von Ofterdingen« vorgestellten Androgynitätsmodell läßt sich meines Erachtens nur unter Vernachlässigung der symbolischen Darstellungsweise des Textes und unter Aussparung seines Entwurfs dialogischer Identität halten. Weit davon entfernt, das Ich als einen substantiellen »Allesfresser« vorzustellen, der sich auf sei-

nem Bildungsweg alles einverleibt, was seine Bahnen kreuzt, entwickelt Novalis in seinen »Philosophischen Fragmenten« eine Theorie von Subjektivität und vollendet diese literarisch im »Heinrich von Ofterdingen«, die entscheidende Argumente gegenwärtiger Kritik am Begriff des Subjektes vorwegnimmt. Seine Konzeption eines transitorischen, punktähnlichen Ich ist explizit gegen Narziß gerichtet, wie im vorangehenden beobachtet werden konnte. Die Metaphorik von Selbstmord und Liebestod wendet sich gegen jede Form des »groben Egoisms« (HKA IH, 399) und ist auf die permanente Metamorphose ausgerichtet: »Tod - eine nähere Verbindung liebender Wesen.« (HKA III, 389) »Tod ist Verwandlung — Verdrängung des Individualprincips — das nun eine neue

haltbarere, fähigere Verbindung eingeht.« (HKA IU, 259) Ein solches Ich wird zu einem Grenzgänger zwischen den Geschlechtern, zwischen Leben und Tod und den epistemischen Modi Gefühl und Gedanke. Wie wandlungsfähig Hardenberg das Selbst denkt, läßt sich an dem für den zweiten Teil des »Ofterdingen intendierten Extremfall veranschaulichen: »Heinrich wird im Wahnsinn Stein — (Blume) klingender Baum — goldner Widder« (HKA I, 344). Und gerade darin sehe ich die Attraktivität von Novalis’ Gedanken für Autorinnen wie Ingeborg Bachmann und Christa Wolf begründet,

in deren Werken

neue Entwürfe des Ich

im Zentrum stehen und die sich in dieser Hinsicht konstruktiv mit Hardenberg auseinandersetzen. Die Konzeption eines Ich mit fließenden Grenzen rückt Novalis’ Deriken auch in die Nähe avanciertester Ansätze des »Konstruktivismus,

in denen das Ich als Praxis bzw. Be-

zeichnungspraxis mit variablen Grenzen gedacht wird. Im abschließenden Teil der Arbeit möchte ich mich diesem Themenkomplex in bezug auf Foucaults Novalis-Lektüre und seine Lebenskunstlehre zuwenden,

sowie im Blick auf Judith Butlers konstruktivistische »gender«-Theorie. Wobei zu bemerken bleibt, daß Novalis’ Gedankenfigur der poetischen

83

Konstruktion des Selbst bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt hat, da sie zwischen radikalem Dezisionismus und sozialem Konstruk-

tivismus — das Ich wird einzig fremdbestimmt (sprachlich) generiert — mitten inne steht, und Hardenbergs Werk, was die begriffliche Diffezenzierung der »Anthropologie« betrifft, immer noch seinesgleichen

sucht. 2.5.

Das Märchen von »Eros und Fabel

Im Verlauf der Untersuchung ist auf das Märchen von »Eros und Fabel schon des öfteren Bezug genommen worden, so daß im folgenden vornehmlich dessen geschichtsphilosophische Perspektive im Zentrum der Argumentation stehen soll. Hermann Schmitz hat in bezug auf Novalis’ »Philosophische Fragmente< von einer »Ironisierung — d.i. Verflüssigung in die Seinsweise der Ironie — Gottes und des Absoluten, das das Ich ist«,'”’ gesprochen. Und genau auf diesen Aspekt wird sich die Interpretation des »Eros und Fabek-Märchens richten, das als sinnbildlicher Vollzug dieser Verflüssigung des Absoluten verstanden werden kann. »Verflüssigung< ist hier ganz im wörtlichen Sinne zu nehmen, nämlich als Anspielung auf jene Abendmahlsszene, in der alle durch den »göttlichen 'ITrank« die Anwesenheit der »himmlischen Mutter« (HKA I], 312) in ihrem Innern verspüren. In der Folge wird die Figur der Mutter nicht nur als Verkörperung der »moralischen« und »religiösen« Vermögen des Menschen«,'% als Herz, gelesen, sondern sie soll

auch als Allegorie dessen gedeutet werden, worauf jene Vermögen des Menschen bezogen sind — Gott, das Absolute, der zeittranszendente Grund.'” Dafür spricht die bereits erwähnte religiöse Metaphorik wie auch der Sachverhalt, daß Novalis schon zu Beginn der »Fichte-Studien«

das Absolute als »Muttersfäre« (HKA II, 105) bezeichnet. Unter diesem Gesichtspunkt läßt sich das Märchen als Geistesgeschichte der Moderne in nuce lesen, wodurch der Roman eine historische Verortung seiner

selbst vornimmt und auf diesem Wege das einlöst, was Novalis als spezifische Aufgabe des die Welt, in den Focus rich von OÖfterdingen« bung«, zur »Mythologie

Dichters benannt hat: seiner Zeit gedrängt.« wird zu einer Form der Geschichte« »Der

' H. Schmitz, Die entfremdete Subjektivität, 5. 224.

19°7. Balmes, Kommentar, S. 173. Vgl. }. Hörisch, Die fröhliche Wissenschaft, S. 189.

84

»Des Dichters Reich sey (HKA V, 9) Der »Hein»freier GeschichtsschreiRoman ist gleichsam die

freye Geschichte - gleichsam die Mythologie der Geschichte.« (HKA III,

668) Sowohl

im

Astralreich

Arcturs,

der

Welt

der

»kosmischen

Ord-

nung«'” und der Natur, als auch zu Hause auf der Erde liegt zu Beginn des Märchens vieles im argen. Durch die Allianz des Schreibers als Verkörperung des »Petrificirenden und Petrificirten Verstandes« (HKA TV, 333) mit den Parzen und der Sonne herrscht eine Welt- und Daseinsdeutung, die sich dem instrumentellen Denken verschrieben hat. Die Sonne hat dem Astralreich Licht und Wärme entzogen, so daß dieses zu Eis erstarrt ist und dort ewige Nacht herrscht. Zudem lebt Arcturs Gemahlin Sophie jetzt unter den Menschen, so daß die Natur vernunftlos und entseelt erscheint. Im Haus verbreitet die »hellbrennende Lampe« (HKA I], 293) des Schreibers ihr grelles Licht, der als Vertreter der Zweckrationalität alle Erkenntnis nach ihrem »Nutzen« (HKA |, 295) beurteilt. Die Mutter respektive die Religion ist zu einem geschäftigen Hausfrauendasein verurteilt” und erscheint in der ihr zu-

gewiesenen Rolle deplaziert. Der Schreiber verfolgt sie mit »Strafreden« (HKAI, 294); ihr Ehemann vergnügt sich lieber mit der Amme Ginnistan (Phantasie), deren Zuwendungen auch von Fabel als nahrhafter

erfahren werden. Mit diesem häuslichen Szenario hat Novalis in diffetenzierter Form die menschlichen Erkenntnisvermögen zur Darstellung gebracht, und zugleich versinnbildlicht die häusliche Unordnung deren historische Deformationen. Die Beschreibung dieses Zustandes trägt deutliche Züge der Aufklärungskritik, insbesondere die Metapher des Lichts macht dies deutlich.”” Unter dem wissenschaftlichen Blick (der Sonne) erscheint die Natur (Astralreich) als unbelebt und vernunftlos. Liebe (Eros) und Poesie (Fabel) müssen vor dem grellen Schein, den

die Aufklärung (die Lampe des Schreibers) verbreitet, geschützt werden

(HKAI,

293). Der Totalitätsanspruch der instrumentellen Ver-

nunft geht schließlich soweit, daß sie allein die Herrschaft an sich rei‘9 Beck hat von der Poesie als »apriorische Geschichtsschreibung« gesprochen (Friedrich von Hardenberg »Deconomie des Styls«, S. 76). ‘» M. Engel, Der Roman der Goethezeit, S. 486.

»@ Vgl.: »Sie [Mutter] schien beständig beschäftigt, und trug immer irgend ein Stück Hausgeräthe mit sich hinaus«e (HKA I, 294). Siehe im weiteren Novalis’ Aufklärungskritik in »Die Cheistenheit oder Europa«: »man suchte der alten Religion einen neuern vernünftigen, gemeinern Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnißvolle sorgfältig von ihr abwusch« (HKA III, 516). » Vgl.: »Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Aufklärung.« (HKA IH, 516)

85

ßen will, und die Mutter - sprich die Religion bzw. Gott — auf dem Scheiterhaufen des Verstandes verbrannt wird.’” Als Nebeneffekt dieser rationalistischen Daseinsdeutung hat der Aberglauben Hochkonjunktur,’ der die Regierung des menschlichen Schicksals etwas »Leblosem« (HKA |], 310) anheimstellt, nämlich den Parzen. So steht der Schreiber auch

mit den Parzen

im Bunde,

deren

Bruder,

dem

Tod, er gleicht.

Fabel äußert ihm gegenüber: »dir fehlt nur noch das Stundenglas und die Hippe, so siehst du ganz wie der Bruder meiner schönen Basen aus.« (HKAI, 303) Im zweiten Akt dieser Dialektik der Aufklärung kehrt sich das instrumentelle Denken in seinen Exzessen gegen sich selbst. Die Aufklärung tötet ihre eigenen Kinder: Der Schreiber fügt sich durch das von ihm bei der Tötung der Mutter entfachte Feuer ernsthafte Verletzungen zu und wird anschließend zusammen mit den Parzen von deren eigenen Gehilfinnen, den Taranteln, zu Tode gebracht (HKA |, 307ff.). In Anspielung auf die Französische Revolution versenkt »das überirdische Feuer« (HKA III, 517)’ auch die Sonne, so daß Arcturs Reich, die Natur, in neuer Pracht auferstehen kann.

Die Mutter hatte zuvor unter Weisung Sophiens ihre Gestalt mit Ginnistan vertauscht. Und hier kommen Novalis’ eigene philosophi-

sche Reflexionen im Kontext der Aufklärungsktitik ins Spiel. Denn für ihn war es ja gerade die Einbildungskraft bzw. die Phantasie, die nach

dem freiwilligen Entsagen auf das Absolute zu dessen mundanem Pendant wurde. Die Gestalt der Einbildungskraft (Ginnistan) gleicht darin der äußeren Gestalt des Absoluten (Mutter), daß sie zwar keine materielle, wohl aber eine deutende Schöpfungskraft ist. So wird Ginnistan

durch das Erbteil der Mutter »unendlich erhöht« und zeugt für dieses durch eine religiöse »Andacht und Liebe« (HKA I, 311), die zum Ende des Märchens ihre Züge veredelt. Der literarische Text holt des weiteren seine eigenen theoretischen Voraussetzungen darin ein, daß es

Fabel (Poesie) ist, die die Fähigkeit besitzt, aus dem 'Trümmerfeld der = Wird die Mutter als Allegorese des Grundes verstanden, kann dies auch als kritische Anspielung auf die Systemphilosophie ä la Reinhold und Fichte gedeutet werden, die sich eben als Grundsatzphilosophie die rationale Bemächtigung des Grundes anmaßt. > Unter Aberglauben versteht Novalis die »Verwechselung des Symbols mit dem Symbolisirten«, und d.h. Aberglauben entsteht durch Mißachtung des repräsentativen Charakters der Religion. Bezogen auf die Parzen hieße das, wer an deren tatsächliche Existenz als Schicksalsgöttinnen glaubt und so mißachtet, daß sie nur vom Menschen produzierte Daseinsdeutungen (»Objekte«) sind, begeht eine »Verwechselung von Subjfect] und Obj[ect]«, auf der »der ganze Aberglaube und Irrthum aller Zeiten, und Völker und Individuen« (HKA III, 397) beruht. = Der Flarmmentod der Mutter ist Sinnbild für die Französische Revolution, die Novalis

in »Die Christenheit oder Europa eben mit jenem Terminus umschreibt.

86

Aufklärung eine neue Welt zu gestalten. Sie sammelt »die Asche« ihrer »Pflegemutter« (HKA I, 310), damit aus dieser Asche, unter Sophiens Anleitung, der »göttliche Trank« gebraut werden kann, und alle, die ihn kosten, »die freundliche Begrüßung der Mutter in ihrem Innern« (HKAI, 312) vernehmen können. Fabel kann sich legitimerweise als »Sophiens Pathe« (HKA I, 310) bezeichnen, da sie mit dieser das Wis-

sen darum teilt, daß die Transzendenz des Grundes (Mutter) zur Immanenz werden muß, damit sich der Mensch als vollständiger erfahren kann: »Alle merkten, was ihnen gefehlt habe, und das Zimmer war ein

Aufenthalt der Seligen geworden.« (HKAI, 312)”” Die Abendmahlsszene wird so zum Gründungsritual einer neuen »Kunstreligion«,®* und der »Heinrich von Ofterdingen« deutet sich selbst als erstes Zeugnis dieser neuen Religion, als Fortschrift der Bibel. Im Gespräch mit Friedrich Schlegel hat Novalis ein »Bibelprojekt« als spezifische Variante der Neuen Mythologie antizipiert: Du schreibst von Deinem Bibelproject und ich bin auf meinem Studium der Wissenschaft überhaupt — und ihres Körpers, des Buchs - ebenfalls auf die Idee der Bibel gerathen — der Bibel - als des /deals jedweden Buchs. Die Theorie der Bibel,

entwickelt,

giebt

die Theorie

der Schriftstellerey

oder

der

Wortbildnerey überhaupt - die zugleich die symbolische, indirecte, Constructionslehre des schaffenden Geistes abgiebt. (HKA IV, 262f.)’”

Weitere Bestimmungen seiner biblischen Mythologie sind: »Mythologie (Freyes Fabelthum) des Xstenthums«; »Mythol[ogie] hier in meinem Sinn, als freye poetische Erfindung, die die Wircklichkeit sehr mannichfach symbolisirt« (HKA III, 666, 668). Unter der Voraussetzung des Verlusts eines dem Mythos zugrundeliegenden einheitlichen Weltbildes ist die frühromantische Neue Mythologie der Versuch, eine den Bedingungen der Moderne adäquate Version sinnstiftender Gemeinschaft zu entwerfen. Das Bewußtsein der besonderen historischen Situation der Moderne war bereits der Ausgangspunkt für Novalis’ frühe poetologische Reflexion in »Des Dichters Reich« ’# Die »Auflösung der Mutter« schließt sich hier mit dem Motiv der Heimkehr und dem der Rückkehr

zu den Eltern zusammen,

die alle als sinnbildliche Darstellungen der

Einholung des Grundes im Medium der Poesie gelesen werden können. . :°% Die Glaubensartikel dieser neuen Religion verkündet im folgenden Astralis: »Eins in allem und alles im Einen / Gottes Bild auf Kräutern und Steinen / Gottes Geist in Menschen und Thieren« (HKA I, 318). Hegener hat das Märchen unter dem Vorzei-

chen einer »enzyklopädisch sich entwickelnde[n] Bibel« gelesen (Die Poetisierung der Wissenschaften bei Novalis, S. 138).

7 Zu Novalis’ »Bibelprojekt« siehe im weiteren HKA II, 462; HKA III, 363, 49ıf., 557. Zu Schlegels »mythopoetischem« Bibelprojekt vgl. H. Timm, Die heilige Revolution, $. 129-158.

87

Ehemals konnte der Dichter allen, alles seyn — der Kreis war noch so eng die Menschen noch g/eicher - an Kenntnissen, Erfahrungen, Sitten, Caracter —

ein solcher bedärfnißloser Mensch erhob in dieser Welt einfacher, aber stärkerer Bedürfnisse die Menschen so schön über sich selbst - zum Gefühl der höhern Würde der Freyheit - die Reitzbarkeit war noch so neu. (HKAV, ı0)

Unter den Bedingungen des Verlusts solch undifferenzierter Gleichheit im Zeitalter des Individuums gilt es, neue Formen zu finden, wie das

»Gefühl der höheren Würde der Freiheit« im Menschen geweckt werden kann. Wobei diese Formulierung die politische Konnotierung der Neu-

en Mythologie augenscheinlich werden läßt, die in expliziterer Form in dem etwa zeitgleich entstandenen »Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus< unter der geistigen Ägide von Hölderlin, Schelling und Hegel zu vernehmen ist. Dort wird dem sich etablierenden bürgerlichen Maschinen-Staat, der jeden »freien Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln« muß, die Poesie als » Lehrerin der Mensch-

heit« entgegengestellt, der zugetraut wird, daß auf dem Wege ihrer Ver-

mittlung »Aufgeklärte und Unaufgeklärte«,”* das Volk und die Philosophen bzw. Dichter einander die Hand reichen. Als »sich selbst mahlende Mühle« (HKA II, 515) hat Novalis die entmythisierte Aufklärung in »Die Christenheit oder Europa< bezeichnet. In dieser Tradition wird noch Foucaults Kritik am bürgerlichen Staat stehen, »dieses kältesten aller kalten Ungeheuer« (TS 186), der abgelöst von der Idee des Rechts als Verwaltungsapparat zum Weberschen »stählernen Gehäuse der Bürokratie verkommt. Und analog zum »Systemprogramm« führt auch Foucault in seinem Spätwerk die »Idee der Schörheit« in »platonischem Sinne« gekoppelt mit einer » Ethik«”” als politische Utopie ins Feld, die andere, an der Ästhetik

der Existenz ausgerichtete

Formen

der Vergemeinschaftung antizipiert. An zwei Punkten läßt sich die Abgrenzung der frühromantischen Neuen Mythologie vom alten Mythos veranschaulichen. Zum einen setzt sie anstelle einer geschlossenen Ideologie eine offene, die die Legitimationsfunktion des Mythos an die republikanische Vernunftordnung anpaßt. Das »Systemprogramm« spricht diesbezüglich von einer »Mythologie der Verrunft«."” Zum anderen gründet die gemeinschaftsstiftende Rolle des Mythos nicht mehr auf einem einheitlichen Weltbild, das sich in einer Stimme Ausdruck verleiht, sondern die Synthesislei:°® Hölderlin I, gı ff.

9 Hölderlin I, gı7f. ”° Hölderlin I, 919.

88

stung wird über die Vernetzung zahlreicher Texte zur Stimmenvielfalt des Intertexts einer Neuen Mythologie hergestellt. Als Lektion der französischen terreur war zu lernen, daß die abstrakte Negation einer

alten Ordnung unversehens in deren Wiedereinführung umschlägt, so daß in neuem Gewand das alte schlecht Bestehende fortlebt. Mit Novalis gesprochen wird das monarchische Prinzip einfach durch die Diktatur des petrifizierenden und petrifzierten Verstandes ersetzt. Damit die revolutionären Neuerungen tatsächlich als solche dauerhaft gemacht werden können, bedarf es eines begleitenden kulturpolitischen Programms, das den Sinn, den neuen Sinn einer politischen Ordnung kommuniziert, oder mit den Worten Hölderlins ausgedrückt, das »Wer-

den im Vergeher« deutet. Bezogen auf diesen Aspekt stellt der Rückgriff der Neuen Mythologie auf überlieferte antike und christliche Mythologeme weniger ein »Dilemma« oder eine »zirkuläre Verwicklung«’'' dar denn ein Stilprinzip, dem zugleich ein besonderer historischer Sinn und ein kulturevo/utionäres Programm eingeschrieben ist. Intendiert ist nämlich entgegen dem Paradigma des radikalen Umbruchs die Überführung des »Endlichalten« in ein »neues Individuelles«. Nur durch die Synthesis der Gestalt des »Endlichalten« mit dem ideellen Gehalt des »Unendlichneuen« gelingt es in Zeiten des » Untergangs oder Übergangse, einerseits das erstere dichterisch aufzuheben und zu erinnern, anderer-

seits das »Unendlichneue« aus der Sphäre des bloß Möglichen in die Sphäre des Wirklichen zu versetzen. Das »neue Individuelle« entsteht, »indem

das Unendlichneue vermittelst dessen, daß es die Gestalt des

Endlichalten annahm, sich nun in eigener Gestalt individualisiert.« Nach Hölderlin leistet die Dichtung einen solchen »(transzendentale[n]) schöpferische[n] Akte,’ der Kontinuität und Diskontinuität des Geschichtsprozesses im Wechselspiel von Gestalt und Gehalt gleichermaBen im Auge hat. Die Tradition wird sowohl als notwendige Vorgeschichte des neuen Individuellen anerkannt und erinnert, als auch umgedeutet. »Variations Operation« (HKA I, 554) ist der Begriff, den No-

valis für eine solche Resignifikation geprägt hat. Hölderlin reflektiert dies unter der Thematik der »Übersetzung« als Umkehr der Vorstellungsarten und Formen.” Diesem Modell ist ein genealogisches Denken immanent, das der eigenen Herkunft eingedenk bleibt und damit zıı

M. Frank, Die Dichtung als »Neue Mythologie«, $. 30f. Ausführlich zur Legitimationsfunktion der frühromantischen Neuen Mythologie siehe auch M. Frank, Der kom-

mende Gott, $. 153-187. "= Hölderlin I, 905, 900, 994. "3 Siehe hierzu die » Anmerkungen

zur Antigone«, Hölderlin II, 451-458.

89

Sinnproduktion nicht als creatio ex nihilo ausweist, sondern eben als eine symbolische Variations- oder Übersetzungstätigkeit, eine »indirecte Constructionslehre&«. Zugleich liegt hierin das pädagogische Potenual der Dichtung als »Lehrerin der Menschheit«, da sie sich produktiv umdeutend auf die Tradition bezieht. Novalis’ »Geistliche Lieder können in dieser Hinsicht als Erotisierung und »katholisierende< Versinnlichung des protestantischen Liedguts ebenso exemplarisch angeführt werden wie die religiöse Metaphorik des Heinrich von Ofterdingen«: das kultische Abendmahl,

mit dem

die neue Welt

am

Ende

von

»Eros und

Fabel eingeläutet wird, Mathilde als moderne Marienfigur und ihr Kind als weibliche Christusgestalt. Durch die weitere Aufnahme antiker Sagen, auf die bereits Bezug genommen wurde (Arion, Atlantis, Or-

pheus, Echo), gestaltet sich Hardenbergs Roman als ein Intertext der alten griechisch-christlichen Mythologie, die nun im Sinne der Moderne umgedeutet wird. Auf diesem Wege vollzieht sich das Werden des neuen Individuellen im Vergehen des Alten literarisch. Daß sich diese zitierende Umdeutung nicht allein auf das längst Vergangene bezieht,

sondern auch auf den zeitgenössischen Kontext, darauf macht gerade im Blick auf »Eros und Fabek beispielgebend die Auseinandersetzung

mit Goethe aufmerksam. Sowohl der ‚Wilhelm Meister« wie auch das Goethesche Kunstmärchen gehören zu den Prätexten des Heinrich von Ofterdingen«”'* Im zweiten Teil des »Heinrich von Ofterdingen« sollte

das intertextuelle Verfahren in potenzierter transhistorischer und transnationaler Form weitergeführt werden: »Die Poesie der verschiednen

Nationen und Zeiten. Ossian. Edda. Morgenländische Poesie. Wilde. Französische — spanische, griechische, deutsche etc. Druiden. Minnesinger.« (HKAI,

345) Dies gibt einen Hinweis darauf, in welcher Form

die frühromantische Neue Mythologie den Verlust der eisen mythischen Stimme des ganzen Geschlechts kompensiert, nämlich durch die in den Texten inszenierte Stimmenvielfalt. Im Zuge der Vernetzung der ein-

zelnen Stimmen wird die Zersplitterung und Vereinzelung des Individuums aufgehoben. Friedrich Schlegel und Novalis haben für diesen Intertext gemeinschaftlicher Sinnstiftung den Begriff »Bibek verwandt. Ist das gewöhnliche Buch schon »ein System von Büchern«, so verbin"+ Vgl. F. Hiebel, Goethe’s »Märchent in the Light of Novalis; H.-J. Mähl, Novalis’ Wilhelm-Meister-Studien des Jahres 1797; C. Heselhaus, Die Wilhelm Meister-Kritik der Romantiker und die romantische Romantheorie; K.F. Gille, »Wilhelm Meister« im Urteil der Zeitgenossen, S. 151-172; G. Schulz, Die Poetik des Romans bei Novalis;

H.-]. Beck, Friedrich von Hardenberg »Deconomie des Styls;; H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 449f., 501-503.

90

det Schlegel mit der Bibel »die Idee eines unendlichen Buchs«: »Auf eine ähnliche Weise sollen in der vollkommnen Litteratur alle Bücher nur Ein Buch sein, und in einem solchen ewig werdenden Buch wird das Evangelium der Menschheit und der Bildung offenbart werden.« (HKA II, 491£.) Mit Blick auf das enzyklopädische Projekt des »Allgemeinen Brouillon« formuliert Novalis: »Die ausgeführte Bibel ist eine vollst [ändige] — gutgeordnete Bibliothek« (HKA III, 365). Und er verknüpft im weiteren mit der Bibel das Ideal des individuellen Lebensbuches: »Jedes Menschen Geschichte soll eine Bibel seyn — wird eine Bibel seyn.« (HKA II, 321) Der >Heinrich von Ofterdingen« als individuelles Lebensbuch, das zugleich über verschiedene Variationsoperationen - in bezug auf die Figurenreihen, die alte Mythologie und die zeitgenössische Literatur und Philosophie — die Stimme des einen Individuums echogleich mit denjenigen der Anderen zusammenschließt,

kann somit als moderne Fortsetzung der Bibel gelesen werden. Unter diesem Aspekt verbindet sich das Bibelprojekt mit der Bibel im weiteren durch die plurale, letztlich nicht mehr eindeutig verifizierbare Autorschaft. Wie die Konstellations-Forschung der letzten Jahre gezeigt hat, gilt für den deutschen Idealismus generell, was in den Texten

der Frühromantik besonders ins Auge fällt, nämlich daß dieser tatsächlich in solchem Maße eine ideelle Gemeinschaftsproduktion ist, daß der Streit um geistige Urheberrechte zu einem müßigen Spiel wird. Hölderlins Wendung »Seit ein Gespräch wir sind«“'’ ist in den literarischen Texten durch die Privilegierung der Dialogform zum Stilprinzip erhoben, das auch den »Heinrich von Ofterdingen« dominiert. Und nicht zu

vergessen: Novalis’ Roman tritt im weiteren durch die Zweiteilung des Romans in »Erwartung« und »Erfüllung« in eine strukturelle Analogie zur Bibel, indem

hiermit das Verhältnis von Altem

zu Neuem

Testa-

ment aufgerufen wird.”'° Noch Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt steht mit der alttestamentarischen Titelwahl »Das Buch Franza für »Malina« und den »Goldmann/Rottwitz-Roman sind ebenfalls »Das

*® Hölderlin I, 368. "© Siehe: »Die Bibel fängt herrlich mit dem Paradiese, dem Symbol der Jugend an und schließt mit dem ewigen Reiche — mit der heiligen Stadt. Auch ihre z Hauptbestandtheile sind ächt Großbisterssch. (In jedem Großhistorischen Gliede muß gleichsam die große Geschichte symbolisch verjüngt liegen.) Der Anfang des neuen Testaments ist der zte, höhere Sündenfall - und der [... .] Anfang der neuen Periode: Jedes Menschen Geschichte soll eine Bibel seyn — wird eine Bibel seyn. Xstus ist der neue Adam. Begrfiff] der Wiedergeburt. Eine Bibel ist die höchste Aufgabe der Schriftstellerey.« (HKA IU, 3zr)

91

Buch Malina« bzw. »Das Buch Goldmann« als mögliche Titel ins Auge gefaßt worden - in dieser Tradition.” Die frühromantische Neue Mythologie bzw. das Bibelprojekt generiert literarisch eine neue Form

von Gemeinschaft,

die in dem

Sinne

republikanisch ist, daß sie die einheitliche Legitimationsstrategie einer gesellschaftlichen Ordnung durch die kontroverse Auseinandersetzung um divergierende Beglaubigungsfunktionen ablöst. Beispielhaft kann

hier die Darstellung der Kreuzzüge im Heinrich von Ofterdingen« herangezogen werden, die im »Kreuzgesang« der Ritter (HKAI, 2; ıff.) sowohl ihre christliche Legitimation erfahren, als auch in Zulimas Lied ihr grausames Angesicht zeigen (HKAJ, 234f.). Ein solches Dich-

tungsverständnis ist auch darin republikanischen Sinns, daß es der Geschlossenheit eines Weltbildes die »freie poetische Erfindung« vieler Weltbilder entgegensetzt, um auf diesem Wege produktions- wie rezeptionsästhetisch dem Menschen zum »Gefühl der höhern Würde der Freyheit« (HKA V, ı0) zu verhelfen. Im Märchen von »Eros und Fabel setzt Novalis der alten Welt und deren Ordnung, die an einen zeittranszendenten Grund gebunden bleibt und in der das Schicksal der Menschen von etwas »Leblosem«

abhängt, die neue Welt entgegen, in der

das Absolute im Menschen / Ich aufgehoben und verzeitlicht worden ist. Die Bestimmung des Schicksals ist wieder den Menschen anheimgegeben: »Das Lebendige wird regieren« (HKAI,

310). König Arctur,

der als »der Zufall, der Geist des Lebens« (HKA IV, 333) auch der Geist der Zeitlichkeit ist,*'* und seine Gemahlin Sophie können wieder in ihre alten Rechte eingesetzt werden (HKA I, 314). Das Schlußbild des Märchens offeriert in symbolischem Ausdruck die Erkenntnis, »daß

wir schon hier im Geist in absoluter Lust und Ewigkeit seyn können, und daß gerade die alte Klage, daß alles vergänglich sey, der Fröhlichste aller Gedanken werden kann, und soll.« (HKAII, 667) Denn die Endlichkeit bzw. Zeitlichkeit des Menschen wird in der Frühromantik

gerade zur Bedingung der Möglichkeit seiner Unendlichkeit und seiner praktisch-poetischen Freiheit. Gegen eine Welt- und Daseinsdeutung, "Vgl. KA ı, 575 (Kommentar). Zur religiösen Metaphorik im Werk Ingeborg Bachmanns siehe im weiteren H. Weber, An der Grenze der Sprache. Möglicherweise läßt

sich über die Vermittlung Paul Celans eine Bezugnahme zum Hardenbergschen Bibelprojekt herstellen, denn dieser hat im Vorwort zu seiner Ausgabe des »Heinrich von Ofterdingen« den Abschnitt »Un projet de Bible poetique« mit Anstreichungen versehen, vgl. Kapitel IL.ı. "ENovalis setzt ihn mit Saturn gleich: »Saturn=Arctur« (HKAI, 345), der wiederum Kronos, dem Gott der Zeit, korrespondiert (»Saturnus (lat.), dem gr. Kronos gleichgesetzt, Gott der Zeit.« Langenscheidts Wörterbuch). 92

die reflexionslogisch dem Denken eines Grundes verhaftet bleibt, führt Novalis die mythisierende Poesie ins Felde, die gegenüber einer Deutung, indem sie zu spinnen anfängt, die Möglichkeit zahlloser Deutungen setzt:

Der Liebe Reich ist aufgethan / Die Fabel fängt zu spinnen an. (HKA I, 318)

2.6.

Der

siderische Mensch

Als Sinnbild einer utopischen, poetischen Existenz läßt sich der »sidetische Mensch« interpretieren, der aus der »ersten Umarmung« Mathildens und Heinrichs hervorgeht. Die Konzeption dieser Gestalt, die im zweiten Teil des Romans eine tragende Funktion übernehmen sollte, ist

fragmentarisch geblieben. In den »Berliner Papieren« findet sich diesbezüglich folgender Eintrag: »Zwischen jedem Capitel spricht die Po&-

sie. [.....] Geburt des siderischen Menschen mit der ersten Umarmung Mathfildens] und Heinrichs. Dieses Wesen spricht nun immer zwischen den Kapiteln. Die Wunderwelt ist nun aufgethan.« (HKATJ, 341f.) Im ersten Kapitel des zweiten Teils »Das Kloster, oder der Vorhofe ist dieses Konzept bereits verwirklicht worden, das den siderischen Men-

schen als Kommentator zwischen den Kapiteln vorsieht. Denn das erste, einleitende Gedicht ist mit »Astralis« überschrieben, was so viel wie

»Sternmensch« heißt. Im siderischen Menschen haben sich nach seiner eigenen Deutung Heinrich und Mathilde »zu Einem Bilde« (HKA I], 318) zusammengeschlossen. Da sie/er sich selbst als Blume beschreibt”"? und damit sowohl auf das Leitbild der Liebe zwischen Heinrich und Mathilde, die blaue Blume, anspielt als auch auf die Lilie als Symbol der

Zweigeschlechtlichkeit, bestimmt er/sie sich selbst als androgyne Gestalt. Astralis ist das Vorbild glückender Selbstvermittlung, die sich im Medium der Poesie in Form permanenter Selbstreferentialität vollzieht.” Als Selbstbewußtsein, das seine Widerspruchsstruktur in der poetischen Deutung vermittelt hat und sich selbst durchsichtig ist, teilt sie/jer die Erkenntnis des Märchens von »Eros und Fabek, daß der Grund seiner selbst in ihm liegt, wenn sie sagt: »wie ich selber mich

begann«.

Der

Begriff Stern-Mensch

zeigt schon

an, daß

dies der

Mensch der »neuen Welt« (HKA I, 318) ist, die aus der Versöhnung der "9 Vgl.: »Versunken lag ich ganz in Honigkelchen. / Ich duftete, die Blume schwankte stilli« (HKA TI, 317).

»° Vgl.: »Da fühlt ich meines eignen Lebens Puls / [. . .] wie ich noch Nachtwandler mich zum ersten Male traf / [.. .] wie ich selber mich begann, /[. . .] ich fand mich nur von weiten, / [. . .] Ich hob mich nun gen Himmel neugebohren« (HKA I, 317£.).

93

beiden Reiche — Astralreich Arcturs und Erde (zu Hause) — hervorgegangen ist. Astralis’ zweistrophiger Gesang läßt sich folgendermaßen gliedern: Die erste Strophe ist der Deutung ihrer/seiner eigenen Existenz gewidmet, die zweite Strophe wiederholt und deutet die Einsichten des Mär-

chens von »Eros und Fabek. Dadurch leistet das Gedicht ein Zweifaches: Zum einen verknüpft es nachträglich das Geschehen des Märchens mit der Rahmenhandlung, indem es den Bezug zu Heinrichs und Mathildens Liebesgeschichte herstellt. Dadurch bürgt es für den Zusammenhang der Erzählung im Übergang zum zweiten Teil, ohne daß sich der Autor einer linearen,

kontinuierlichen

Erzählweise

bedienen

müßte: »Kein rechter historischer Übergang [. . .] nach dem zten Theile — dunkel — trüb -— verworren.« (HKAI, 341) Zum anderen leitet das Gedicht jenes Verfahren ein, welches Novalis für den zweiten Teil des ‚Ofterdingen« geplant hatte, nämlich daß dieser ein »Commentar des Ersten« (HKA IV, 333) sein solle. Unter dem Vorzeichen der formalen Einlösung der Utopie im »Heinrich von Ofterdingen« wollen wir uns im folgenden dieser Architektonik des Romans zuwenden. 2.7.

Die Verwirklichung der Utopie als formales Geschehen

Auf die Kommentarfunktion des zweiten Teils des »Ofterdingen« weist auch die Titelgebung »Die Erwartung: - »Die Erfüllung« hin, sie laßt die intendierte Komplementärstruktur des Romanganzen augenscheinlich werden. Die Assoziation zur Bibel wurde bereits erwähnt. Im weiteren findet sich in den »Logologischen Fragmenten« des Novalis eine Aufzeichnung, bei der man geneigt ist, sie auf die zweigliedrige Struktur des »Heinrich von Ofterdingen« anzuwenden. In Abgrenzung zu Fichte spricht Novalis hier von einer »höheren Wissenschafts] L[ehre]« (HKATII, 529), die die Fichtesche darin umkehrt, daß sie dem praktischen Teil den Vortritt vor dem theoretischen läßt und auch die den Teilen zugrunde liegenden Hauptsätze vertauscht.” Das »Ich wird bestimmt« wird zum Prinzip der Praxis erklärt. »Der practische Theil enthält die Selbsterziehung des Ich um jener Mittheilung fähig zu werden«. Der »theoretische Theil« trägt »die Merckmale der ächten Mit=! In Fichtes »Wissenschaftslehre« steht die Theorie an erster Stelle, die aus dem Satz: »das Ich setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich« (5. 48), deduziert wird. Die Praxis wird

aus dem Satz: »Das Ich setzt das Nicht-Ich, als beschränkt durch das Ich« (S. 46), abgeleitet. Daß Fichte selbst im »Grundriß« und später im »Naturrech« die Theorie der Praxis nachordnet, wurde bereits erwähnt.

94

theilung« und leitet sich aus dem Grundsatz »Ich bestimmt Nicht] Ifchl« (HKAII, 529) ab. Dies scheint eine vollkommen zutreffende Beschreibung sowohl der »Erwartung« als auch der »Erfüllung« zu sein: Im ersten Teil des »Ofterdingen« begegnet uns Heinrich als exemplatisch »passiver Heldk, der durch seine Lehrgestalten bestimmt wird, um so für die »Mitteilung« der neuen Welt reif zu werden. Im zweiten Teil sollte er in Gestalt des praktisch Handelnden auftreten, der selbst zum »Mitteilenden« geworden ist und seine Umwelt (Nicht-Ich) tätig bestimmt. Inhaltlich ist »Die Erfüllung: schon in groben Zügen durch die Präfigurationen des ersten Teils skizziert. Vor allem das Lebensbuch, das Heinrich in der Höhle des Grafen von Hohenzollern findet, offe-

riert bereits die Stationen seines weiteren Bildungswegs.’” Die hier eingeführten Personen mit den ihnen zugeordneten Lebenssphären sollten nach dem Prinzip der Doppelung wiederkehren. Die im Nachlaß vorhandenen Skizzen für den zweiten Teil des »Ofterdingen« stützen diese Annahme. Der Kapitelüberschrift »Heldenzeit« zufolge sollte Heinrich im Anklang an den alten Kriegsmann zum Feldherrn werden und im weiteren in das von Zulima vorgestellte Land der Poesie, das

Morgenland reisen. Bereits durch die Figur Arcturs mit einem idealen Königtum vertraut gemacht, sollte er als politischer Berater am kaiserlichen Hof tätig werden. Und in Korrespondenz zu den poetologischen Gesprächen mit Klingsohr im ersten Teil des Romans war intendiert, Heinrich im Sängerwettstreit auf der Wartburg seine dichterischen Fähigkeiten unter Beweis stellen zu lassen; um letztlich seinen Bildungsweg mit der Rückkehr zur Topographie seines ersten Traumes, dem »Kyffhäuser«, abzuschließen. In einem »Fest des Gemüths« (HKA TI, 341,

344), komplementär

zum

»Fest der Sinnlichkeit«

bei Schwaning,

sollte Heinrich wieder mit Mathilde in einer einfachen Familie vereinigt werden,

so daß beide Teile des »Heinrich von Ofterdingen«, »Er-

wartung« und »Erfüllung«, in einem allegorischen Bild ausklingen: »Das Buch schließt just umgekehrt wie das Märchen - mit einer einfachen Familie (AKA ], 345). Formal sollte sich Noyalis’ eigenen Aussagen zufolge die schon im ersten Teil angelegte Tendenz zur Poetisierung des Romans nun im zweiten Teil frei entfalten. »Der zte Theil wird schon in der Form weit poetischer, als der Erste.« (HKA IV, 333) Und im weiteren äußert er ** Dier Sängerwettstreit ist bereits präfiguriert: »Die Guitarre ruhte in seinen Armen, und die Landgräfinn reichte ihm einen Kranz«, ebenso wie die Rollen des Feldherrn und des politischen Beraters: »Er sah sich am kayserlichen Hofe, zu Schiffe, [. . .] in einem Kampfe mit wildaussehenden Männern« (HKAJ, 265).

95

gegenüber Schlegel: »Es sollte mir lieb seyn, wenn ihr Roman und Märchen in einer glücklichen Mischung zu bemerken glaubtet, und der erste Theil euch eine noch innigere Mischung im 2ten Theile profezyhte. Der Roman soll allmälich in Märchen übergehn.« (HKA IV, 330) Im ersten Teil des »Heinrich von Ofterdingen« verschafft sich die Poesie in Gestalt des Wunderbaren Eingang in den Roman. Zunächst sind diese poetischen Produkte (Märchen, Sagen, Träume, Gedichte) in den

einleitenden Kapiteln noch der Erzählwirklichkeit entgegengesetzt und nur als »Einlage«*” konzipiert. Im Fortgang des Romans ist eine Tendenz zunehmender Gleichberechtigung abzulesen, so daß die poetischen Einlagen gegen Ende des ersten Teils sogar den Erzähltext er-

setzen. Wie schon ausgeführt, ist dies der Fall bei Heinrichs Traum vom blauen Strom, ebenso wie bei dem Gedicht »Die Liebe ging« im Märchen von »Eros und Fabelk. Als literarisches Darstellungsmittel der »neuen Welt« hat Novalis in seinem »Eros und Fabek-Märchen die Allegorie gewählt. Und wie oben zitiert, sollte auch »Die Erfüllung« mit einem allegorischen Bild enden. Dies scheint symptomatisch. Die Allegorie als eindeutiges Verweisungssystem widerspricht gerade dem, was die neue Welt der alten entgegensetzen soll, nämlich anstatt einer eindeutigen Zuschreibung die Möglichkeit zahlloser, autonomer Deutungen. Hardenberg selbst rechnet die Allegorie als Darstellungsmittel der »künstliche[n] Po&sie« zu, deren Zweck die »bestimmte Mittheilung — Erregung eines bestimmten Gedanckens« ist. Eine didaktische, möglichst genaue Lenkung des Rezipienten ist der allegorischen Darstellungsweise eigentümlich, die sich

in dieser Hinsicht als frühe und rohe Form der Verschwisterung von Philosophie und Poesie vorstellt. Der Roman hingegen gehört der höheren Kunstform der »»afürlichen Poesie« an, die sich des Scheins des »Didaktischen« (HKAII, 572) zur Steigerung ihrer eigenen Reize be-

dienen kann. Allem Anschein nach erreicht der »Heinrich von Ofterdingen< bezüglich der inhaltlichen Bestimmung der neuen Welt die Grenzen seiner Darstellbarkeit.””* Anders gewendet: Er kann eine solche Bestimmung nur in einer literarischen Form vornehmen, die deren Gehalt gerade dementiert. Meine These ist, und darin stimme ich mit Hannelore Link überein, daß sich die Utopie positiv nur als »formales

»3 H, Link, Abstraktion und Poesie im Werk des Novalis, S. 156.

4 Die für die ganze Summe menschlicher Kräfte [. . .] bestimmte Grenze der Darstellbarkeit« (HKA I, 295) wird im Roman selbst im Gespräch zwischen Klingsohr und Heinrich reflektiert. 96

Geschehen«’” darstellen läßt. Auch Novalis legt diese Interpretation nahe, wenn er Klingsohr im Gespräch über Poesie sagen läßt: »Der Stoff ist nicht der Zweck der Kunst, aber die Ausführung ist es.« (HKA 1, 286) Die inhaltlichen Forderungen der neuen Zeit, die sich in

den einzelnen Bausteinen des Romans nicht in adäquater Form zur Darstellung bringen lassen, »erfüllen« sich in der Struktur des Romanganzen. Durch die zunehmende Tendenz zur Aufhebung der Trennung von Poesie (poetischen Einlagen) und Erzählwirklichkeit realisiert der ‚Heinrich von Ofterdingen« auf der formalen Ebene die Einsicht: »Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt«. Der eingeforderten Selbstre-

ferentialität — »Jedes in Allen dar sich stellt« (HKA I, 319) - kommt der Roman durch das Spiel permanenter Vor- und Rückverweise nach. In bezug auf dieses Verweisungssystem hat Hardenberg, wie eingangs bemerkt, den Begriff des retardierenden Stils geprägt. Hannelore Link führt zur Kennzeichnung dieser strukturellen Eigenart die Begriffe Präund Postfiguration ein.” Sowohl die Variationsreihen von Figuren als auch die den Roman durchziehende, plurale Leitmotivik: Blumen- und Farbmetaphorik, die Topographie der Höhle in ihrer Assoziation mit dem 'Todes- und Liebesmotiv, die Metaphorik des Flüssigen und die Vor- und Rückverweise in bezug auf die Geschehensmodelle sind Ausdruck des retardierenden Stils des »Heinrich von Ofterdingen«. Die poetischen Einlagen (Märchen, 'Traumerzählungen,

Sagen, Gedichte) prä-

oder postfigurieren das Geschehen, das sich auf der Ebene der Erzählwirklichkeit noch ereignen wird oder bereits eteignet hat. Der Roman deutet somit permanent sich selbst. Als ausgezeichnetes Beispiel konnte das individuelle Lebensbuch als »Roman im Roman angeführt werden.””” Durch dieses komplizierte Verweisungssystem gelingt es Hardenberg im weiteren, das utopische Telos der zeitlichen Dimension der neuen Welt literarisch zu realisieren: »verbände / Zukunft mit Gegenwart und mit Vergangenheit sich« (HKATI, 355). Der retardierende Stil des ‚Heinrich von Ofterdingen« leistet diese Verbindung der Zeiten in der Erzählgegenwart. Im Spiel der Vor- und Rückverweise ist jede Einzel»5 H. Link, Abstraktion und Poesie im Werk des Novalis, 5. 164.

*:° Hannelore Link versteht unter den Begriffen »Prä- und Postfiguration« sowohl den Vor- bzw. Rückverweis auf »Geschehensmodelle« als auch auf »Figuren« (Abstraktion und Poesie im Werk des Novalis, 5. 166). “7 Weitere, besonders eindrückliche Beispiele sind die Artlantis-Sage und das Märchen von »Eros und Fabek, die beide die neue Welt präfigurieren; das Mondschauspiel, das im Märchen dessen Ende vorwegnimmt; das Astralis-Gedicht, das im nachhinein Heinrichs und Mathildens Beziehung deutet.

97

figuration sowohl ein eigenständiger Baustein als auch antizipierende bzw. rückblickende Bezugnahme auf andere Bausteine des Romans. Die Gegenwart der einzelnen Figuration erfüllt sich sozusagen im Schweben zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen »Ahndung« / Hoffnung und Erinnerung. Am anschaulichsten läßt sich dieses Phänomen am Beispiel der Figurenkonstellation des »Heinrich von Ofterdingen« vorführen. Die Protagonisten des Romans treten als eigenständige Personen auf, deren individueller Bildungsweg sich nachzeichnen läßt. Zugleich werden sie durch die Variationsreihen in der Form miteinander verknüpft, daß durch ihren jeweiligen Auftritt im Text auch die ihnen verwandten alter egos als Vergangenheit bzw. Zukunft ihrer selbst mit assoziiert werden. Die Personen des Romans bewegen sich in einem Netz von Verwandtschaftsbeziehungen, die sie sich erinnernd bzw. antizipierend vergegenwärtigen. Durch das Spiel der Verweisungen treffen im >Heinrich von Ofterdingen« die Figuren des Romans ebenso wie Leserin und Leser fortwährend auf alte Bekannte«.””" Denken wir noch einmal an das individuelle Lebensbuch zurück. Dort wurde exemplarisch zur Anschauung gebracht, wie Heinrich seine eigene Gegenwart im Rückblick auf sein vergangenes Leben und in Erinnerung alter Bekannter ebenso wie in der Vorausschau seines künftigen Weges und in Antizipation zukünftiger Bekanntschaften bestimmte.” Der Einzelne erfüllt seine Gegenwart, wenn er sich im Lichte seiner potentiellen Ganzheit

betrachtet.

Der

Begriff von

Realität,

der

im »Ofterdingen«

literarisch vollzogen wird, korrespondiert dem der »Fichte-Studien«, wo die Realität als Schweben zwischen Vergangenheit und Zukunft reflektiert wurde. Der Roman realisiert sich in jeder Periode als Ganzes, indem diese dutch Prä- und Postfigurationen in der Schwebe zwischen Vergangenheit und Zukunft gehalten werden. So leistet der »Heinrich von Ofterdingen« durch seine formale Struktur die paradoxe Verbindung von Zeit und Ewigkeit. Sein Konstruktionsprinzip vermittelt sowohl den Prozeß fortschreitender Bildung: der Personen und der Poesie, als auch der Roman in jedem seiner einzelnen Bausteine, ebenso wie

seine Helden auf ihrem Bildungsweg, immer schon am Ziel ist.

= Der Topos der salten Bekanntschaft« durchzieht leitmotivisch den ganzen Roman, vgl. HKA

I, 210, 219, 236, 250, 255, 269f., 287, 310, 324.

“9 Vgl.: »Eine große Menge Figuren wußte er nicht zu nennen, doch däuchten sie ihm bekannt.« (HKA I, 265) 98

3.

Zusammenfassung

Am »Heinrich von Ofterdingen« bewahrheitet sich die These, daß die Poesie Modell glückender Selbstvermittlung ist. Im Schweben zwischen Vergangenheit und Zukunft zum einen, zwischen poetischen Produkten (Pluspoesie) und Prosa (Minuspoesie) zum anderen, zeigt der Roman unter dem konsequent eingenommenen Blickwinkel einer affirmativen Deutung der Endlichkeit der menschlichen Existenz die Möglichkeit der Freiheit des Ich auf, denn »Ich seyn, Frey seyn und Schweben sind Synonymen« (HKA II, 267). Die Verbindung von Ästhetik und Ethik, die im Fortgang der »Fichte-Studien« zu beobachten war und im Diktum der Ethik als höchster Philosophie kulminierte, wird im »Heinrich von Ofterdingen« um eine historische Perspektive erweitert, die den Gegenstandsbereich der Dichtung als »die Welt in den Fokus ihrer Zeit gedrängt« bestimmt. Insbesondere im Märchen von »Eros und Fabel hat dieser historische Sinn seinen Ausdruck gefunden, der sich mit dem poetologischen Verfahren einer Neuen Mythologie bzw. des Bibelprojekts verbindet. Die zugleich bewahrende und umdeutende literarische Hinwendung zur Tradition konnte als kulturevolutionäres Programm

ausgewiesen werden, das mit äußerster Schärfe die Verselbständigung der instrumentellen Vernunft als Gefahrenzone der Moderne ins Auge faßt. Dem Typus der einseitigen Aufklärungsrationalität wird der Intertext der Neuen Mythologie oder der neuen Bibel als Utopie gewalt-

freier gemeinschaftlicher Sinnstiftung entgegengestellt. Unter den Bedingungen moderner Pluralisierung und Individualisierung wird die kollektive Arbeit am Sinn durch das Zitat, die Vernetzung der Texte

prädikabel gemacht. In dieser Hinsicht ist der Frühromantik ein realpolitischer Zug eingeschrieben, der auch das Feld des Politischen resignifiziert. Die Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit wird auf dem Wege der Ausrichtung an der Lebenskunst einer Revision unterzogen. Die poetische Konstruktion des Selbst, das androgyne Ich, die Geschlechts-

da

sie zu

und

den

aufsteigenden

Liebesverhältnisse

Grundpfeilern

werden

einer von

Gesellschaftsutopie

werden,

darum

den

zum

Politikum,

Ich-Du-Beziehungen

die die »Weltfamilie,

die

»schöne Haushaltung des Universums im Auge hat. Die Bildung des Einzelnen in Form dialogischer, gewaltfreier Selbstvermittlung ist die Bedingung sine qua non kommunikativer Intersubjektivität. Sc schließt Novalis

die »Fichte-Studien«

Ȇber

die Menschheit.

Ihre reine, voll-

ständige Ausbildung muß erst zur Kunst des Individui werden — und von da erst in die großen Völkermassen und dann in die Gattung 99

übergehn.« (HKA II, 296) Im vorangehenden konnte die Entfaltung der »Kunst des Individuums< im Werk des Novalis ausgehend von der erkenntnistheoretischen Problematik des Selbstbewußtseins in den »Fichte-Studien« über die Reflexionen zur praktisch-poetischen Ichbildung in den späteren Fragmentsammlungen bis zur Fassung des empirisch-autobiographischen Selbst im Heinrich von Ofterdingen« verfolgt werden. Diese Denkbewegung läßt sich als »Abstieg vom Ich zum ich« beschreiben, vom absoluten, rein geistigen Ich zum empirischen, raum-zeitlichen, körperlich-geistigen Individuum. Mit Aufweis der zeitlichen Entwurfsstruktur von Selbstbewußtsein hat Novalis dem Gedanken von Individualität Raum

geschaffen, die ihre Identität im Zeit-

und Sprachfluß permanent neu festsetzen muß. Auf dieser Ebene ist die Gedankenfigur der poetischen Konstruktion des Selbst angesiedelt, als

deren praktischer Vollzug der Roman des Novalis gelesen wurde. Im Blick auf die Werke Ingeborg Bachmanns, Christa Wolfs und Michel Foucaults wird im folgenden augenscheinlich, daß die poetische Konstruktion des Selbst und die mit ihr assoziierte Interaktion von Ästhetik und Ethik der nucleus der Aktualität der Frühromantik in Literatur und Philosophie nach 1945 ist. Die blaue Blume, der siderische Mensch,

die frühromantische Fassung des Traumbewußtseins und das Diktum der Lebenskunst kehren als utopische Chiffren wieder, wobei sich zeigt,

daß Hardenberg in seinem Werk tatsächlich moderne Mythologeme geschaffen hat, die ihren ideellen Gehalt

auch heute noch

produktiv

und subversiv entfalten. Im Gespräch Heinrichs mit Sylvester über die »Natur des Gewissens«,”° mit dem das Fragment des zweiten Teils des »Ofterdingen« endet, steht die Relation von Ethik und Ästhetik zur Debatte, wobei Heinrich zunächst in einem einfachen Analogieschluß für deren Einheit eintritt:

Vielleicht ist beydes Eins [. . .]. Selbst das Gewissen, diese Sinn und Weltenerzeugende Macht, dieser Keim aller Persönlichkeit, erscheint mir, wie der

Geist des Weltgedichts, wie der Zufall der ewigen romantischen Zusammenkunft, des unendlich veränderlichen Gesamtlebens. (HKATJ, 331)

»° Ausführlich hat Hans-Georg Kemper die Traditionsbezüge dieses Gesprächs herausgearbeitet, die von der kabbalistischen Tradition, über Kant, Spinoza, Fichte bis zu

Schleiermacher reichen, vgl. Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkulasisierungsprozeß, S. 122-143. Siehe im weiteren G. v. Molnär, Die Umwertung des moralischen

Freiheitsbegriffs

im kunstheoretischen

Sittliche Verantwortung und Erfindungsgeist. 100

Denken

des Novalis;

F. Strack,

Durch die Einwände Sylvesters belehrt, daß das Gewissen eigentlich ethischer »Sinn«, »Irieb« nach Freiheit ist, in dem sich das höhere Selbst des Menschen, »Gottes Wort« in uns, ausdrückt, wird die hypo-

thetische Analogie und Einheit in einem pragmatischen Dichtungsverständnis näher bestimmt. Sylvesters Rede: Alle Bildung führt zu dem, was man nicht anders, wie Freyheit nennen kann,

ohnerachtet damit nicht ein bloßer Begrif, sondern der schaffende Grund alles Daseyns bezeichnet werden soll. [. . .]| Das Gewissen ist der Menschen eigenstes Wesen in voller Verklärung, der himmlische Urmensch. Es ist nicht dies und jenes, es gebietet nicht in allgemeinen Sprüchen, es besteht nicht aus einzelnen Tugenden. Es giebt nur Eine Tugend - den reinen, ernsten Willen, der im Augenblick der Entscheidung unmittelbar sich entschließt und wählt.

führt Heinrich zur Erkenntnis der »Selbstheit« von praktisch-ethischer Handlung und dichterischer Tätigkeit: »Eine überraschende Selbstheit ist zwischen einem wahrhaften Liede und einer edeln Handlung.« (HKAT, 33 1£.) Im Ausgang der »Fichte-Studien« wurde bereits die Synonymie des höheren Selbst (Ich sein) mit dem »Frei sein und der schwebenden Tätigkeit der Einbildungskraft als mundanes Pendant des Absoluten eröffnet. »Untergeordnet« dem »Geist Tugendk« ist die Dichtkunst nur insofern, wie sie konsequent dem Bereich der Praxis zugeordnet wird. In direkter Form ist hier auf die Gleichung von poetischer Konstruktion

des Selbst und

Ethopoiein,

Ethos

machen,

verwiesen.

Die etho-poetische Handlungsweise als reflektierte Freiheitspraxis vermittelt das Ich mit seinem höheren Selbst. In Hardenbergs Ethik / Ästhetik sind die Synthesen von Praxis und Poesie (»Sollte practisch und poetisch eins seyn [.. .]® HKAIL, 390) sowie von Poesie und Moral (»Die Elective Freyheit ist po&tisch - daher d[ie] Moral von Grund aus Poäsie ist« HKA

II, 417) eingegangen. Als Wahlfreiheit in Hinsicht auf

die Sphäre, der sich das Ich im ästhetischen Blick bestimmend / belebend zuwenden will, rückt die Freiheit der menschlichen Existenz ins

Auge. Wobei das Gewissen zu einem künstlerischen Organ wird, das im Wechselspiel von intuitiver Spontanität (»Sinn«, »Trieb«) und »Nachdenken: hervortritt und somit als Vermittlungsinstanz der Dialektik von Gefühl und Gedanke, als Prinzip der Bildung reflektiert wird. »Jede durch Nachdenken zu einem Weltbild ausgearbeitete Neigung und Fertigkeit wird zu einer Erscheinung,

zu einer Verwandlung

des

Gewissens.« (HKA I, 331) Gemeinschaftlicher Gegenstandsbereich von Ethik und Ästhetik ist das »höchste, eigenthümlichste Daseyn« oder »das Leben einer höhern Welt« (HKATI, 33zf.), das sich das gewissen101

hafte Ich sowohl in der »edeln Handlung« wie auch in einem »wahrhaften Liede< zueignen kann. Im Blick auf das Leben und im Sinne der Lebenskunst werden die Grenzen zwischen Praxis und Poesie, Leben und Kunst eingezogen: jede alltägliche »Neigung und Fertigkeit« kann durch »Nachdenken zur Kunst werden. Im Gewissens-Gespräch verbindet sich der ethische Sinn der Dichtung wiederum mit dem historischen der Neuen Mythologie, so daß auch die Grenze zwischen Dichtung und Geschichte überschritten wird. Den Einsichten des Klingsohr-Märchens gemäß äußert Heinrich: »Fabel und Geschichte begleiten sich in den innigsten Beziehungen auf den verschlungensten Pfaden und in den seltsamsten Verkleidungen, und die Bibel und die Fabellehre sind SternBilder Eines Umlaufs.« (HKA I, 333) Wie in der weiteren Argumentation zu zeigen ist, hat dieses poetische Grenzgängertum einer Lebenskunst zwischen Ethik und Ästhetik im zwanzigsten Jahrhundert produktive Aufnahme in einem pragmatischen Literaturverständnis gefunden, für das das Pojiein als Form ethischer Selbstpraxis kennzeichnend ist. Robert Musil spricht von der ‚moralischen Phantasie«, Ingeborg Bachmann von einem »moralischen Antrieb der Dichtung vor aller Moral Christa Wolf stellt die Frage nach der moralischen Existenz des Menschen ins Zentrum ihres Werks;

und schließlich bildet die Thematik etho-poetischer Subjektivität eine Klammer,

die Früh- und

Spätwerk

Foucaults zusammenschließt.

Ge-

meinsames Merkmal der verschiedengestaltig inszenierten Aktualisietungen des frühromantischen Denkstils ist die Fokussierung auf das Individuum und damit auch auf eine Ethik bzw. ein Ethos, eine Form

poetischer Lebenshaltung oder -führung. Obwohl dies bei den zu verhandelnden Autor/innen terminologisch nicht streng getrennt wird, läßt sich doch idealtypisch die Unterscheidung von Moral als einem

Regel- oder Tugendkodex - in Abgrenzung formuliert Sylvester: »Es ist nicht dies und jenes, es gebietet nicht in allgemeinen Sprüchen, es besteht nicht aus einzelnen Tugenden« (HKA I, 332) -, und Ethik einführen, als einer Sphäre, die an dem Individuellen, Einzigartigen, Wan-

delbaren ausgerichtet ist und deren indirekter Zweck mit Novalis als Liebe bezeichnet werden kann. Gegenüber dem Pflicht- und Zwangscharakter moralischer Normen propagiert die Ethik das Modell freier Selbstverpflichtung: Wahlfreiheit und individuelle Entscheidung sind die Begriffe, die Hardenberg diesbezüglich ins Spiel bringt. Die philosophisch-literarischen Reflexionen der in dieser Arbeit vorgestellten Grenzgänger/innen zwischen Frühromantik und Moderne wenden sich in diesem Sinne der Ethik zu. Und zwar einer formalen Ethik, die das 102

‚Wiex des Selbst- und Weltverhaltens mit einem ästhetischen Blick und einer poetischen Lebensführung assoziiert. So tritt uns der Zug des Didaktischen, der dem transzendentalen Bildungsroman Hardenbergs anhaftet, nicht in Form inhaltlicher Postulate entgegen, sondern erscheint als Aufforderung zur Selbsttätigkeit an Leserin und Leser. Im Nachvollzug der Prä- und Postfigurationen erhält der Lesende eine erste Unterrichtsstunde in der romantischen Kunst des Schwebens zwischen Entgegengesetztem. Und indem wir unter Einsatz dieser erlernten Kunst die Figuren zu Variationsreihen verknüpfen und die einzelnen Bausteine des Romans zu einem Ganzen zusammenfügen, konstruieren wir den »Heinrich von Ofterdingem erst als Einheit. Die romantische Darstellungsweise, die mit »sonderlichen

Wendungen« und »raschen Sprüngen« (HKA II, 654) arbeitet, stellt höchste Anforderungen an den Lesenden,”" der durch sie zur eigenen Autorschaft angeregt werden soll. Was Novalis in den »HemsterhuisStudien: in bezug auf die philosophische Mitteilung äußert, gilt in besonderem Maße für die ästhetische Mitteilung des »Heinrich von Ofterdingen«: Nach ihm [Hemsterhuis] ist der Buchstabe nur eine Alälfe der philosophischen Mittheilung — deren eigentliches Wesen im Nachdenken besteht. Der Redende leitet nur den Gang des Denkens im Hörenden — und dadurch wird es zum Nachdenken. Er denkt - und der Andre denkt nach. Die Worte sind ein unzuverlässiges Medium des Vordenkens. Die ächte Wahrheit muß ihrer Natur nach, wegweisend seyn. Es kommt also nur darauf an jemand auf den rechten Weg zu bringen, oder besser, ihm eine bestimmte Richtung auf die Wahrheit zu geben.

Er gelangt dann von selbst, wenn

er anders Zhätig ist,

begierig, zur Wahrheit zu gelangen, an Ort und Stelle. (HKAII, 373)

Welche Wegweisung und Richtung auf die Wahrheit Hardenbergs Denken uns auch heute noch geben kann, dem soll im nachfolgenden exemplarisch anhand der Werke Ingeborg Bachmanns und Christa Wolfs nachgegangen werden, um dann in einem weiteren Schritt das philosophische ‚Nachdenken: der Frühromantik im Blick auf Foucault zu skizzieren. Dem Vordenker Novalis gemäß wird sich aber auch in bezug auf diese Autor/innen die Trennung zwischen Literatur und Philosophie nicht aufrechterhalten lassen, da sie ihrerseits in je eigener

=: Zum wirkungsästhetischen Aspekt äußert Gaier: »Zum Zweck der Beeinflussung und Steigerung des Lesers ist die romantische Darstellung das geeignete Mittel.« (Krumme Regel, 5. 251)

103

Form zu Grenzgänger/innen zwischen den Fakultäten werden. So haben Ingeborg Bachmann und Christa Wolf frühromantische Philosopheme in ihre literarischen Texte eingesponnen, und im Werk Foucaults wird eine Ästhetisierung der Philosophie zu verzeichnen sein, die konsequent im Entwurf eines etho-poetischen Subjekts mündet.

104

II.

Verzicht auf erpreßte Autorität. Entwürfe des Ich

in Ingeborg Bachmanns Todesarten«-Projekt Wie viel Arten des födtens giebt es? Die Arten des Tödtens, so wie die Arten des Kranckmachens müs-

sen ein großes Licht über die Arten des Belebens und des Lebens, und der Gesundmachungen verbreiten. (Novalis HKA III, 366£.)

ı.

Spurensicherung

»Mord oder Selbstmord’ (KA 3.2, 742) Diese dem Genre des Kriminalromans entlehnte Frage leitete den Klappentext der Erstausgabe von Ingeborg Bachmanns Roman »Malina ein. Keine Zeugen, ein fehlender Leichnam, ein verschwundenes Testament, Zeichen eines Gewaltverbrechens

- in diesem Szenario wird der Leserin und dem Leser die Rolle eines Detektivs angetragen. Die kriminalistische Metaphorik ist in Ingeborg Bachmanns »Todesarten«-Projekt keine Seltenheit." Schon in »Das Buch Franza betritt Martin das jordansche Haus »wie ein Kriminalinspektor, der einen Haussuchungsbefehl hat« (KA 2, 140), Indizien sammelt,

Spuren

sichert, um

»sein kleines Kriminalrätsel lösen zu können.«

(KA 2, 148) Darin ähnelt ihm der Erzähler Malina im Fragment des

»Goldmann/Rottwitz--Romans. Im Blick auf den »Leichenhaufen in der Literaturgeschichte« (KA ı, 368) sieht sich Malina unversehens »in die Rolle eines Kriminalinspektors gekommen« (KA ı, 367). Diese Formulierungen verraten schon, daß der Lesende, der sich die auf dem Klappentext des »Malina«-Romans anempfohlene detektivische Lektürehaltung zu eigen macht, unvermittelt auf ein ganz anderes Feld ge-

führt wird, nämlich das der Poetologie. Obwohl »Malina« mit dem Satz »Es war Mord« endet und damit scheinbar eindeutig die Genrefrage des Kriminalromans beantwortet, unterzieht Ingeborg Bachmann im »To-

desarten«-Projekt die Begrifflichkeit dieses Genres einer tiefgreifenden Bedeutungsverschiebung. Die den ‚Todesarten« eingeschriebenen Fragen

nach

dem

Täter,

dem

Opfer

und

der Mittäterschaft,

nach

dem

Verbrechen und den Zeugen, und nicht zuletzt die Frage nach Mord oder Selbstmord erweisen sich als solche, die in das Labyrinth der ‘ Siehe hierzu vor allem H. Höller, »daß ich schreien werde vor Entsetzen«; ders., Eine

Kriminalpoetik der Moderne; ders., Ingeborg Bachmann, S. 228-232.

105

Todesarten« hineinführen, ohne daß ein Ausgang, eine eindeutige Antwort zu finden ist. Trotzdem erscheint die detektivische Lektürehaltung als eine dem »Todesarten«-Projekt angemessene, nur sind die Spuren, die es hier zu verfolgen gilt, Text- und Lektürespuren. Und zwar solche, die uns dem Vorhaben dieser Untersuchung gemäß zur Frühromantik und den Formen ihrer Aktualisierung in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts führen. Es wird sich zeigen, daß Ingeborg Bachmanns »neue Entwürfe« des schreibenden und geschriebenen Ich, im Verzicht »auf einen gewaltsarnen Entwurf, auf die erpreßte Autorität« (WA IV,

219, 215), ein intertextuelles Gewebe »alter« und zeitgenössischer Entwürfe aufrufen. Das Ich wird in ihrem Werk zu einer Kunstfigur, die sich vornehmlich auf dem Wege des Zitats Stimme verleiht, indem sie ins Gespräch mit den Werken Novalis’, Robert Musils und Paul Celans tritt — einem Tagebucheintrag Musils gemäß: »Einen Menschen ganz aus Zitaten zusammenzusetzen!«’ In diesem hochgradig intertextuellen Textkorpus bildet die Verweiskette, die sich von Novalis herschreiben läßt, einen roten Faden, der die Todesarten< durchzieht. Damit kann

der in den »Frankfurter Vorlesungen« explizierte und für das »Todesartenc-Projekt prägende Zusammenhang von »Ich ohne Gewähr« und »Literatur als Utopie« sowohl als direkte Aktualisierung einer frühromantischen Denkfigur verstanden werden, als auch deren literargeschichtlicher Werdegang in den »Iodesarten« verfolgt wird. Bereits die ersten Rezensionen zu >Malina: haben diesen Text in das begriffliche Umfeld der Romantik versetzt, jedoch in einem abschätzigen Sinn. Erzählte Innerlichkeit, emotionalisierte Subjektivität, Geschichte einer schönen Seele, Fleimweh als romantische Kategorie, Empfindsamkeit, an-

archisches Gefühl und unglückliches Bewußtsein sind die Stichworte, die fallen.’ Daß hier mit Bachmanns Konzeption des Ich die Hegelschen Gestalten unglückliches Bewußtsein und schöne Seele aus der »Phänomenologie« assoziiert werden, durch die er die Pathologien der Frühtomantik skizziert hat,‘ damit hat es durchaus seine Richtigkeit. Jedoch in gänzlich anderer Hinsicht als die Rezensionen intendieren. Im folgenden kann gezeigt werden, daß Ingeborg Bachmann sowie Christa Wolf und Michel Foucault an einer Entpathologisierung dieser früh*R. Musil, Tagebücher, Bd. ı, S. 356.

} Siehe vor allen die Rezensionen von H. Heißenbüttel, R. Baumgart und R. Hartung (in: Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges. Hrsg. von C. Koschel und I. von Weidenbaum, S. 139, 140, 141, 142, 15$, 156).

* Vgl. Kapitel IV, Anm. 88. 106

romantischen Gestalten des Bewußtseins arbeiten, die in ihrem Denken

in je eigener Form zu utopischen Richtbildern werden. Kennzeichen der Werke aller drei Autor/innen ist, daß sie eine literarische und philosophische Revision der Frühromantik-Deutung vornehmen, die die

gedankliche Innovativkraft dieser Epoche für ein modernes Ethos des Selbst und der Schrift produktiv werden läßt. Bezüge im Werk Ingeborg Bachmanns zu Novalis wurden in der Forschung bereits des öfteren vermerkt.’ Hans-Joachim Beck ist der strukturellen Analogie des »Malinac--Romans zum Genre des frühromantischen Bildungstomans mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Heinrich von Ofterdingen« nachgegangen, wobei vor allem die in Bachmanns Text vorliegende Mischung von Textgattungen als Indiz der Korrespondenz gelesen wird.‘ Im Blick auf die »Geheimnisse der Prinzessin von Kagran< hat Gudrun Kohn-Waechter die Aufnahme »romantischer Topoi«, exemplifiziert an Novalis, in »Malina« herausgearbeitet, die ihrer Argumentation zufolge jedoch nicht aktualisiert, sondern destruiert werden. Da Kohn-Waechter das Denken Hardenbergs

auf den feministischen Topos der Opferung des Weiblichen für die männliche Kunstproduktion reduziert, entgeht ihrer Lektüre die sub-

versive Greschlechtsmetaphorik dieses Autors, die in Bachmanns »Io-

desartenLiebesvirus« herbeiführen zu können, so daß »allen Menschen geholfen« (KA 3.1, 308) wäre. Für die Ich-Erzählerin ist Ivan der »Erlöser«, der sie körperlich” und psychisch'” zu heilen beginnt. Dieser »stärksten Macht in der Welt« (KA 3.1, 310) schreibt sie schöpferische Fähigkeiten zu. Die Liebe belebt sowohl die Liebenden als auch ihre Umwelt (»alles lebt um uns herum« KA 3.1, 337). Emphatisch sagt das Ich von sich und Ivan, »wir haben das Leben« (KA 3.1, 327), und bestimmt darin Leben als den Vollzug einer dialogischen Vermittlung. Ganz so wie sie später gegenüber Malina äußern wird, »Was du und ich zusammenlegen können, das

ist das Leben.« (KA 3.1, 638) In diesem emphatischen Begriff des Lebens erweist sich die in »Malina« gezeichnete Liebesutopie dem Denken Hardenbergs wahlverwandt, das Leben als Schweben zwischen Gefühl und Gedanke gefaßt hatte. Das Leben mit Ivan wird dem weiblichen Ich zur letzten Möglichkeit, ihr utopisches Identitätskonzept und damit ihre eigene Existenz aufrechtzuerhalten. Darum heißt es auch: »Ich lebe in Ivan. / Ich überlebe nicht Ivan.« (KA 3.1, 323) Eine gedankliche Nähe zu der im Heinrich von Ofterdingen« dargestellten Liebesutopie erweist sich auch darin, daß das Ich hofft, aus ihrer und Ivans Vereinigung ein »neues Geschlecht« und eine neue ® Vgl.: »Fünf Stunden Ivan, das könnte reichen für ein paar Tage Zuversicht, als Kreislaufstütze, zur Blutdruckerhöhung, als Nachbehandlung, als vorbeugende Behandlung, als Kur.« (KA 3.1, 375£.)

‘® Siehe: »allein dafür müßte ich Ivan die höchsten Auszeichnungen verleihen und die allerhöchste dafür, daß er mich wiederentdeckt

und auf mich stößt, wie ich einmal

war, auf meine frühesten Schichten, mein verschüttetes Ich freilegt« (KA 3.1, 309).

151

Sprache zu erschaffen: »ich pflanze mich fort mit den Worten und ich pflanze auch Ivan fort, ich erzeuge ein neues Geschlecht, aus meiner und Ivans Vereinigung kommt das Gottgewollte in die Welt: / Feuervögel / Azurrite / Tauchende Flammen / Jadetropfen« (KA 3.1, 404). Von diesem neuen Geschlecht heißt es im folgenden, daß es »siderische Stimmen« (KA 3.1, 451) haben werde, so daß hierin deutlich Bezug genommen wird auf das neue Geschlecht des siderischen Menschen, der aus Heinrichs und Mathildens Vereinigung hervorgegangen ist. Und die poetische Sprache, mit der dieses neue Geschlecht begabt wäre, wäre eine solche, in der die Gegensätze zueinander finden (»Tauchende Flammen«), auch derjenige von Tod und Leben. Denn der »Feuervogel« (Phönix) war schon im »Heinrich von Ofterdingen« Wegbegleiter der Poesie (Fabel),'”" der als Sinnbild für die Wiedergeburt Novalis’ Überzeugung Ausdruck verlieh, daß im Medium der Poesie auch das Schweben zwischen Leben und Tod realisiert werden könne. In einem der nachfolgenden Utopie-Fragmente des weiblichen Ich wird die Verheißung laut: »wir werden tot sein und atmen, es wird das ganze Leben sein.« (KA 3.1, 455)

Aber in »Malina« ist in das Bild der Liebe nicht nur eine frühromantische Schriftspur eingeflossen, sondern auch solche Linien, die diese Tradition in einem anderen historischen Kontext fortschreiben. In die Beziehung zwischen Ich und Ivan hat Ingeborg Bachmann deutlich Züge der Musilschen Utopie des sanderen Zustands« eingetragen, insbesondere dadurch, daß sie als »letzte Liebesgeschichte« (WA IV, 26) gezeichnet wird. Mit diesen Worten beschreibt Ingeborg Bachmann die Zwillingsliebe im »Mann ohne Eigenschaften in ihrem Musil-Essay, und in »Malina« läßt sie die Ich-Erzählerin sagen: »Ich überlebe nicht Ivan.« Das Pathos des Letzten liegt darin begründet, daß hier mit der

Liebe sozusagen alles auf dem Spiel steht. Novalis hat den Begriff der Liebe so aufgeladen, daß er zum Inbegriff der Utopie einer neuen Welt wird — Stichwort »Endzweck der Weltgeschichte« (HKA III, 248) -, und Musil sowie Bachmann folgen ihm darin. In einem von Ingeborg Bachmanns späten Gedichten »Eine Art Verlust, dessen Entstehung in die Zeit der Arbeit am »Todesarten«-Projekt fällt, wird diese Dimension der Liebe anschaulich. In Anrede an den Geliebten heißt es: »Nicht dich habe ich verloren, / sondern die Welt.« (WA I, 170)

'! Im Schlußbild des »Eros und Fabek-Märchens schwebt der Phönix mit Fabel über dem

Hochzeitbett des neuen Königspaares, vgl. HKATJ, 3135.

152

In »Malina« sind somit verschiedene historische Stadien einer Liebesutopie eingegangen, die sich von der Frühromantik herschreibt. Der ‚Heinrich von Ofterdingen« war darauf angelegt, daß sich die Utopie der Liebe respektive der neuen Welt im zweiten Teil des Romans erfällen sollte. Obwohl nicht zu übersehen ist, daß Novalis die Romanhandlung bewußt in ein idealisiertes Mittelalter verlegte, sozusagen in Abkehr zur eigenen Gegenwart dem Roman im ganzen Züge eines utopischen Märchens verliehen hat. In Robert Musils »Mann ohne Eigenschaftenk ist Hardenbergs Optimismus schon entscheidend geschwächt. Der sandere Zustanck ist nur augenblicklich und nur durch Flucht aus der Gegenwatt realisierbar. In-»Malina« nun wird die Liebesutopie mit dem Vorzeichen des Unmöglichen versehen. Zum einen teilt Ingeborg Bachmann

Musils

Einsicht, daß Liebe als Ausnahmezustand

nicht dauern

kann. Im Blick auf ihre eigene Gegenwart verschärft sich diese Diagnose jedoch noch. Die Utopie des »anderen Zustands wird absurd angesichts einer Gesellschaft, die als der allergrößte Mordschauplatz beschrieben wird. Unmöglich ist die Liebe in »Malina« darum, da ihr das Du abhanden gekommen ist. War im »Mann ohne Eigenschaften der yandere Zustand« zwar nur in Abkehr von der Gesellschaft möglich, so hatte Ulrich in Agathe doch sein affines Anderes gefunden, und diese

Utopie konnte zumindest im Augenblick verwirklicht werden. Hingegen ist in »Malina Ivan als Liebespartner nur eine Kopfgeburt des Ich. Das Ungargassenland als Ort ihrer Liebe ist nur in der imaginären Topographie des weiblichen Ich beheimatet, das »Gefühl für die Ortseinheit« (KA 3.1, 323) dieses Landes fehlt Ivan, denn, wie Ingeborg Bachmann

in einem Interview ausführt, »wo

sie ist, befindet er

sich nie.« (Gul 75) Für Ivan ist die Beziehung zur Ich-Erzählerin ein geschlechtsspezifisches »Gesellschaftsspiek, in das er sie mit der wiederholten Aufforderung, »im Spiel zu bleiben« (KA 3.1, 376), zu integrieren sucht. Es ist das Bild des Schachspiels, durch das Ivans Auffassung vom Verhältnis der Geschlechter zum Ausdruck kommt — »warum sage ich Spiel? [.. .] es ist kein Wort von mir, es ist ein Wort von Ivan« (KA

3.1, 327). Als Strategie- und Kriegsspiel läßt es die Be-

ziehungen zwischen Mann Kriegszustand erscheinen, Beziehungen verlagert hat. mus als privatem Verhalten

und Frau als in Friedenszeiten fortgesetzter der sich jetzt in die zwischenmenschlichen Ingeborg Bachmanns Wort vom Faschisklingt in dieser Metaphorik wieder an. Ivan

kritisiert das weibliche Ich, das für solche Liebesspiele keine große Begabung aufweist: »du spielst eben ohne Plan, du bringst deine Figuren nicht ins Spiel, deine Dame ist schon wieder immobil.« (KA 3.1, 324) 153

Die Ich-Erzählerin muß sich ihre Unfähigkeit zum »Haken schlagen«, zu »kleinen Rückzügen« und »Taktiken« (KA 3.1, 376) eingestehen. War in Novalis’ Märchen von »Eros und Fabel das Schachspiel »ein

Denkmal der alten trüben Zeit«'” in dem der Kriegszustand der alten Welt gebannt wurde, so ist es in »Malina« im Blick auf die Geschlechterbeziehung ein Symbol für die heutige trübe Zeit.'” In Ingeborg Bachmanns Roman lautet die Antwort auf Ivans rhetorische Frage: »wenn wir Wein trinken und Schach spielen, wo ist dann der Krieg« (KA 3.1, 334), daß dieser gerade in den gesellschaftlichen Liebesspielen fortgesetzt wird. Ähnlich dem Verfahren, das im vorangehenden Kapitel herausgestellt werden konnte, werden auch in der Ivan-Ich-Beziehung zwei Stimmen gegeneinandergeführt, in denen divergierende Liebesvorstellungen zu Gehör kommen. Während das weibliche Ich ihr Credo aus einer alten Welt und einer alten Sprache schöpft, in der Blumen und Sternmenschen zu Chiffren der Utopie werden konnten, ist Ivan als Vertreter des Realitätsprinzips gezeichnet, der sich an die gegebenen gesellschaftiichen Zustände angepaßt hat. Franzas Außerung über Jordan, »er ist heutiger als ich« (KA 2, 230), könnte ebenso die Ich-Erzählerin in »Malina im Blick auf Ivan wiederholen. Indem dieser das Schachspiel als Paradigma für die Liebe wählt, hält auch Ivan dem Ich jene Erkenntnis vor Augen, die später mit den Worten Malinas lauten wird: »Es ist Krieg.« (KA 3.1, 514) Ingeborg Bachmann kommentiert in einem Interview die Figur Ivan folgendermaßen: »wie Ivan sind die meisten Menschen.« (Gul 68) Im Roman wird jedoch angedeutet, daß diese Normalität ihre Vorgeschichte hat, »weil jeder doch im Hintergrund mit einer monströsen Geschichte lebt« (KA ı, 386), wie es in generalisierender Form im »Goldmann/Rottwitz«-Fragment heißt. Ivan erscheint nur mehr als Überlebender, der »eine Geschichte hinter sich

haben [muß], in einem Zyklon gewesen« (KA 3.1, 620) ist, so daß für ihn wie für Malina gilt, daß seine Anpassung eine Überlebensstrategie ist. Auf diesen Sachverhalt wird in bezug auf die Figur des Fremden zurückzukornmen sein, der sowohl eine Variation auf Ivan als auch auf

Malina darstellt. Daß sich diese Überlebensstrategie, die Integration in '® Vgl.: »Er [Perseus] brachte dem neuen Könige das Körbchen. Hier, sagte er, sind die

Reste deiner Feinde. Eine steinerne Platte mit schwarzen und weißen Feldern lag darin, und daneben eine Menge Figuren von Alabaster und schwarzem Marmor. Es ist ein Schachspiel, sagte Sophie; aller Krieg ist auf diese Platte und in diese Figuren gebannt. Es ist ein Denkmal der alten trüben Zeit.« (HKATI, 314) > Vgl. H.-]. Beck, »Malina« oder die Romantik, $. 310.

154

das Kriegsspiel bedeutet, für das Ich als nicht lebbar erweist, kündigt sich in. der Metaphorik des Schachspiels schon frühzeitig an: »ich sage ihm lie:ber gleich, daß ich aufgebe, daß die Partie für mich verloren ist«; »denn «er weiß nicht, daß es für mich kein Spiel mehr gibt, daß das Spiel eben aus ist.« (KA 3.1, 328, 376) An dieser Stelle hat Ingeborg Bachmann einen intratextuellen Verweis auf ihr Gedicht »Das Spiel ist aus« einfließen lassen, das durch das Bild des Atemtauschs den Musilschen Tausch der Herzen aufruft, so daß das Motiv der Geschwisterliebe mit

der Figur des »Sich-im-affinen-Anderen-Wiederfindens zusammengeschlossen wird (WAI, 83). Dem geschlechtsspezifischen Kriegsspiel wird auf diesem Wege das Liebesspiel der Geschwister entgegengestellt.

Zugleich wird dieses aber als ein Unmögliches gezeichnet, da im Heute das Spiel eben aus ist«. Die Absurdität der Liebe in einer Gesellschaft, in der das Denken,

das »zum Verbrechen führt«, heutiger ist als jenes, das »Sterben macht«

(KA 2, 76), ist der Liebessprache in »Malina eingeschrieben. Denn es heißt: »Ivan und ich schleifen, rädern, foltern und ermorden einander nicht«

(KA 3.1,

305).

Im

äußersten

Gegensatz

zur gesellschaftlichen

Realität beharrt das Ich auf der Utopie des anderen Zustands«, so daß dieser auch sprachlich als kriegsbedingter Ausnahmezustand erscheint.

Die Sprache der Liebe in Ingeborg Bachmanns Roman schöpft sich gänzlich aus der Negation: Vom Land ihrer Liebe, dem Ungargassenland, heißt es, es sei ein Land »ohne Gebietsansprüche und ohne rechte Verfassung«, »nicht kaiserlich-königlich«, »das keine Bestätigung und keine Rechtfertigung braucht« (KA 3.1, 300, 328). Ihr Verhalten zueinander beschreibt die Ich-Erzählerin mit folgenden Worten: »Zwei Wesen sind es, die nichts miteinander vorhaben, nicht die Koexistenz

wollen«, »keine Vereinbarung auf eine vorherrschende Sprache. [...] Wir

treiben

keinen

Machtpositionen, und

Sicherung

Handelsaustausch

von

Gefühlen,

haben

keine

erwarten keine Waffenlieferung zur Unterstützung unserer

Selbst.«

(KA 3.1, 403)

Scheinbar

ungewollt

schieben sich in die sprachlichen Liebesversuche des weiblichen Ich immer wieder Metaphern des gegenwärtigen Kriegszustands der Gesellschaft

ein, so daß

der Ausnahmezustand

Liebe

in »Malina«

nicht

aufrechterhalten werden kann.

Aufgrund

dieser zweifachen

Unmöglichkeit

der Liebesutopie

in

»Malinx, nach Verlust des Geliebten und nach Verlust einer Sprache der Liebe, erkennt das weibliche Ich, »bin ich zurückgeworfen

auf mich,

für immer« (KA 3.1, 367).'* Im folgenden wird im genaueren Blick auf '*4 Sielhe auch: »Siegen wollte ich in einem Zeichen, aber da ich nicht gebraucht werde, da

es ımir gesagt worden ist, bin ich besiegt worden von Ivan« (KA 3.1, 585).

155

das Blumengespräch zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan augenscheinlich, daß durch das Motiv des Türkenbundes der Liebesutopie in »Malina« von Anfang an ihre Vergeblichkeit eingeschrieben ist.

Denn durch den Türkenbund wird Celans »Gespräch im Gebirg« aufgerufen, in dem der Verlust der Liebe als ein solcher thematisch wird,

der aus der Zeit des Nationalsozialismus rührt. Damit hat Ingeborg Bachmann die Liebesgeschichte in »Malina« in einer historischen Gegenwart,

dem

Postfaschismus,

verortet,

der durch

die

Spuren

dieses

Verlusts gezeichnet ist. Ivans Aussage »Ich liebe niemand« (KA 3.1, 339) wird dies explizit machen. Vorausblickend ist diesen Ausführungen jedoch hinzuzufügen, daß Ingeborg Bachmann dem auf der Ebene der Romanhandlung vorgeführten Scheitern der Liebesutopie ein groBes TROTZDEM entgegenstellt, das die Kunst ist. Auf die Frage eines Interviewers, ob denn Liebe nicht mitteilbar sei, antwortet sie: »Doch, in der Kunst,

in der sie ihre Form

findet,

wo

sie Ausdruck

wird.«

(Gul 75) Darin bewahrt sie den Gedanken des Novalis, daß die Poesie der angemessenste Ausdruck der Liebe sei.” Inwiefern die Kunst dieses TROTZDEM erfüllen kann, Liebe in ihr Ausdruck wird, und zwar auf

dem Wege der Erzählung des Scheiterns des Liebesversuchs mit Ivan und dem Eingeständnis des Verlusts einer Sprache der Liebe, wird im

Kapitel »Malina als Erzähler der Todesarten« zu untersuchen sein.

6.

Verhinderte Autorschaft: Die poetische Produktion des weiblichen Ich

Ihre Liebe zu Ivan Ausdruck 'werden zu lassen, ist das Vorhaben der Ich-Erzählerin, wenn sie für ihn ein »sschönes Buch schreiben will. Ivan

hat in ihrer Wohnung Aufzeichnungen mit Titeln wie »TODESARTEN«, »Die ägyptische Finsternis«, »AUS EINEM TOTENHAUS« gefunden und macht ihr Vorhaltungen bezüglich dieser merkwürdigen Obsession mit der Finsternis. Sie solle lieber ein Buch schreiben, das »wie EXSULTATE

JUBILATE« ist, »damit man vor Freude aus der Haut fahren kann«. Das weibliche Ich nimmt sich vor, ein solches »schönes Buch« (KA 3.1, 333£f.) für Ivan zu erfinden. Aus dem Romankontext läßt sich erschließen, daß jene in Kursivdruck

gemeint sind »Die Geheimnisse

in »Malina« hervorgehobenen

der Prinzessin von Kagran«

Passagen,

und die

'% Im »Heinrich von Ofterdingen« heißt es: »Man betrachte nur die Liebe. Nirgends wird wohl die Nothwendigkeit der Poesie zum Bestand der Menschheit so klar, als in ihr. Die Liebe ist stumm, nur die Poesie kann für sie sprechen.« (HKA TI, 287)

156

Urtopie-Fragmente »Ein Tag wird kommen«,

die immer wieder abbre-

chenden Versuche der Ich-Erzählerin darstellen, jenes schöne Buch zu

schreiben. Unter der Hand schleicht sich jedoch auch in diese Versuche ein Schreibgestus ein, der sich den Todesarten zuwendet, so daß aus dem schönen Buch im Akt des Schreibens unversehens ein Buch über die Hölle wird. Vergangenheit (Es war einmal«) und Zukunft (Ein Tag wird kommen«) erscheinen dem Ich als mögliche Zeiten einer Realisation ihrer Liebesutopie und damit auch als Zeiten der schönen Kunst. Hier sei

noch einmal Novalis’ Modell der Zeitlichkeit von Selbstvermittlung in Erinnerung gerufen. In seinen »Philosophischen Fragmenten: wurden ebenfalls Vergangenheit und Zukunft als mögliche »Orte« der Selbstfin-

dung thematisiert. Im »Heinrich von Ofterdingen: zeigte sich dann, daß im Medium der Poesie eine erfüllte Gegenwart realisiert werden konn-

te, die sich dadurch auszeichnete, daß in ihr Vergangenheit und Zukunft zwangfrei miteinander vermittelt werden konnten - Stichwort ‚Schweben zwischen Vergangenheit und Zukunft«. Und gerade darin erwies sich die Poesie als geeignetes Medium der Dialektik des Ich, da

in ihr die auf die Vergangenheit bzw. Zukunft projizierten Einheitser-

fahrungen des Selbst mit den Momenten der reflexiven Trennung (Gegenwart) in ein Wechselspiel gesetzt werden konnten. Eine solche er-

füllte Gegenwart verschließt sich dem weiblichen Ich in »Malina. Das Heute wird von ihr in einer »pathologischen Erregung« (KA 3.1, 278)

erlebt, da sie weder in den Beziehungen zu Malina und Ivan noch auf dem Wege der Poesie zu einer Einheit ihrer selbst kommen kann. Der Erregungszustand des Heute bricht in die Projektionen einer schönen Vergangenheit bzw. Zukunft ein und bringt diese zum Scheitern. Wie eingangs angedeutet, läßt sich anhand der Produktionen des weiblichen Ich das kontrastive Verfahren der Engführung von frühromantischer

Motivik mit Zitaten aus dem Werk Paul Celans beobachten. Zunächst wird im Blick auf die Utopie-Fragmente

das Augenmerk

auf dieses

Stilprinzip der Bachmannschen Schreibweise gerichtet, während in einem nächsten Schritt die »Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« Beachtung finden sollen. Signifikant für beide Fälle ist, daß die CelanZitate mit dem pathologischen Erregungszustand der Ich-Erzählerin in

Zusammenhang

stehen, ihre Schreibversuche in einer alten, schönen

Sprache der Kunst fortlaufend an das Heute zurückbinden. Welche Hoffnungen das weibliche Ich mit dem schönen Buch verbindet, läßt sich beispielhaft anhand jener »Spiegelszene« vorführen, in der die Utopie einer im Medium der Poesie glückenden Identitätsfin157

dung aufgerufen und zugleich ad absurdum geführt wird. Das Szenario, in dem die Fragmente des schönen Buchs ihren Ort finden, wird

wie folgt beschrieben: Eine Stunde lang kann ich zeit- und raumlos leben, mit einer tiefen Befriedigung, entführt in eine Legende [.. .]. Es entsteht eine Komposition, eine Frau ist zu erschaffen [.. .]. Ganz im geheimen wird wieder entworfen, was eine Frau ist, es ist dann etwas von Anbeginn, mit einer Aura für niemand. [- - -] es wird in den Spiegel gesehen, es ist immer Sonntag, es wird in den Spiegel gefragt, an der Wand, es könnte schon Sonntag sein. (KA 3.1, 448)

Wenn man dieses Zitat vom sonntäglichen Blick in den Spiegel aus Celans Gedicht »Corona« weiterführt, wäre zu ergänzen »der Mund re-

det wahr.«'“ Dem schließt sich der utopische Entwurf an: Einmal werden alle Frauen goldene Augen haben, sie werden goldene Schuh und goldene Kleider tragen, und sie kämmte sich ihr goldenes Haar, sie raufte sich, nein! und im Wind

wehte ihr goldenes Haar, als sie auf ihrem

Rappen die Donau hinaufritt und nach Rätien kam ...

Zunächst ist festzuhalten, daß hier ein goldenes Zeitalter der Frauen antizipiert wird, insbesondere der im nachfolgenden Fragment erwähnte Zusatz, »und die Poesie ihres Geschlechts wird wiedererschaffen wer-

den« (KA 3.1, 448f.), stellt dies deutlich heraus. Nachdem

das Frag-

ment im Futurum beginnt, schlägt es ins Präteritum um und gleitet in

die Sprache der »Kagran«-Erzählung über. Es scheint so, als würden sich die Erkenntnisse der Legende, die, wie im folgenden zu zeigen, jene des Celanschen »Gesprächs im Gebirg sind, nun auch in diese in die Zukunft projizierte Utopie drängen, diese stören. Was auch zur Folge hat, daß sich Worte einfinden, die nicht gewollt sind, »sie raufte

sich, nein!« Und diese Störfaktoren speisen sich aus der Lyrik Paul Celans. »Und das schöne, das du rauftest, und das Haar, / das du raufst:

{ welcher Kamm / kämmt es wieder glatt, das schöne Haar? / Welcher Kamm / in wessen Hand’ (Celan ı, 115), heißt es in Celans Gedicht ‚Und das Schöne«, in dem dessen Verlust thematisch wird. Trotz dieser

dem Fragment immanenten Störung scheint die poetische Selbstbespiegelung im Augenblick zu glücken, denn es heißt weiter: Ich bin in den Spiegel getreten, ich war im Spiegel verschwunden, ich habe in die Zukunft gesehen, ich war einig mit mir und ich bin wieder uneins mit mir. [. - -] Einen Augenblick lang war ich unsterblich und ich, ich war nicht da für Ivan und habe nicht in Ivan gelebt, es war ohne Bedeutung. (KA 3.1, 449) ’ Vgl.: »Im Spiegel ist Sonntag, / im Traum wird geschlafen, / der Mund redet wahr.« (Celan ı, 37) 158

In der poetischen Konstruktion ihrer selbst kann sich das Ich aufheben (»ich war im Spiegel verschwunden«), um zugleich in diesem affınen Anderen zu sich selbst als einigem zu kommen: »ich war einig mit mir« und »einen Augenblick lang war ich unsterblich und ich«. Gerade diese letzte Formulierung erinnert an jenen Gegensatz, den Novalis vornehmlich in der Poesie vermittelt san — Unendlichkeit und Endlichkeit. Warum das Ich dennoch diese Szene mit dem Satz »Ich kann es aufgeben« kommentiert, läßt eine zweifache Begründung zu. Einerseits entzieht sich die Poesie selbst dem Ich als affines Anderes. Gegen den Willen der Ich-Erzählerin verselbständigt sich die poetische Sprache im Utopie-Fragment und gibt ihre eigene Deformation als Verlust der Schönheit (Celan) zu erkennen. Im Eingeständnis dieser Zerstörung bringt sich die Sprache selbst zum Schweigen und auf diesem Wege das Ich zum Verstummen. Indem sich diese $zene als Traum vorstellt, aus dem das weibliche Ich im Anschluß erwacht: »Ich blinzle, wieder wach,

in den Spiegel« (KA 3.1, 449), wird die Behauptung gestützt, daß hier gleichsam die Poesie selbst zu Wort gekommen ist. Darin wird sowohl das Traummotiv

aus Celans »Corona< weitergeführt, als auch die pro-

grammatische Verbindung von Traum und Poesie bei Novalis in Erinnerung gerufen wird. Bezogen auf diese Spiegelszene ist auf Hardenbergs Gedanken der Seinsautonomie von Dichtung zu verweisen, die in

seinem Werk zu jenem Du wird, über das sich das Ich zwangfrei konstruieren kann. Ingeborg Bachmann führt uns in diesem Szenario einerseits die Poesie in ihrer utopischen Qualität als ein dialogisches Gegenüber des Selbst vor Augen, andererseits ist dieses sprachliche Selbst als ein solches gezeichnet, das den Protagonisten des Todesarterx-Projekts gleich ein historisches Eigenleben und damit auch seine eigenen Todesarten hat. Der zweite Grund, warum das Ich zur Einsicht »Ich kann es aufgeben« kommt, ist der, daß sie auch für sich selbst, erwachend aus dem Traumzustand, den Verlust der Schönheit eingestehen muß. Nicht nur

die Sprache ist eine lädierte, sondern auch ihr Gegenüber, das weibliche Ich kann ihre Blessuren nicht verdecken. Was bislang unerwähnt blieb,

in diesen Spiegelungen werden ineinandergeschoben:

zwei Formen

der Selbstinszenierung

Eine ganz alltägliche, in der eine Frau vor dem

Badezimrmerspiegel eine Komposition ihrer selbst mittels »Gesichtswasser, »Konturenstift«e und »Körperpuder: entwirft — »Es entsteht eine Komposition, eine Frau ist zu erschaffen für ein Hauskleid« (KA 3.1, 448) -, und jene andere, poetische Selbstinszenierung. Durch diese Ver-

knüpfung erscheint auch der poetische Entwurf ihrer selbst und die 159

Utopie eines goldenen Zeitalters als ein Schminkvorgang, dessen Vergeblichkeit sich darin bekundet, daß sich das, was zerstört wurde, we-

der schönfärben noch verdecken läßt. Und so wird die Erkenntnis des Ich, die sie erst später explizit machen wird, »es gibt kein schönes Buch, ich kann das schöne Buch nicht mehr schreiben« (KA 3.1, 651), schon in jedem einzelnen der Utopie-Fragmente vorweggenommen. Gerade darin aber bewahren diese Fragmente ihren Wahrheitsgehalt (»der Mund redet wahr«). Dem Vorwurf der Schönfärberei entziehen sie sich, da sie ihre eigene Vergeblichkeit immer schon selbst thematisieren. Dies geschieht vornehmlich durch die Zitate aus Celans Lyrik, die dem Licht frühromantisch konnotierter Utopien entgegengestellt werden: so finden sich in den Fragmenten z.B. fortlaufend Anspielungen auf Celans Gedichte »Das ganze Leben« und »Erinnerung an Frankreich«.'”” Oder diese Brechung wird durch den Erzählkontext inszeniert, in den die

Fragmente eingelassen sind: Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen rotgoldene Augen und siderische Stimmen haben, an dem ihre Hände begabt sein werden für die Liebe, und die Poesie ihres Geschlechts wird wiedererschaffen sein ... Schon beim Ausstreichen, beim Durchsehen, beim Wegwerfen. (KA 3.1, 45 1f.)

In den Utopie-Fragmenten des weiblichen Ich vollzieht sich der paradoxe Weg der Dichtung, der mit den Worten Celans als ersprochenes Schweigen im »Lichte der U-topie« (3, 199) beschrieben werden kann.

Ebenso wie die weiblichen Protagonistinnen des vIodesarten«-Projekts Entwürfe des Ich im Verzicht auf erpreßte Autorität propagieren

und auf diesem Wege nicht zur Einheit ihrer selbst gelangen können, erscheint auch die Poesie in diesen Texten als eine solche, die im Ver-

zicht auf das geschlossene Werk ihre historischen Blessuren nicht ka-

schiert, sondern diese im Fragmentcharakter als einer besonderen Form des Wahrsprechens kommunikativ werden läßt: ein »Einbekennen aus Wortscherben« (KA 3.1, 671). Dem Verzicht auf erpreßte Autorität, den

das Ich leistet, korrespondiert der Verzicht der Ich-Erzählerin auf erpreßte Autorschaft. Zu den verschiedenen Verfahren, durch die Inge-

borg Bachmann eine solche historische Situierung der Gestalt der Poesie vornimmt, gehört auch die anhand dieser Spiegelszene beobachtete

Kontrastierung verschiedener Kunstformen. Auf dem Wege des Zitats "T\Vgk Celan ı, 34, 28. Beide Gedichte hat Celan Ingeborg Bachmann gewidmet, vgl. C. Koschel, »>Malina« ist eine einzige Anspielung auf Gedichte«, $. 22. Siehe hierzu

KA 3.1, 427, 428, 455. 160

wird das goldene Zeitalter der schönen Kunst mit vielfachen Anklängen an Novalis auf der Bühne des Romans wiederbelebt, jedoch schleichen sich in diese Fragmente üher den intertextuellen Bezug zu Celan immer wieder Momente der nicht mehr schönen Kunst ein.'” So werden die poetischen Versuche des Ich sowohl von innen heraus durch die Eigendynamik der Sprache zum Abbruch geführt, als sie auch von außen durch den Erzählkontext zu Fall gebracht werden, wie dies im Zusammenprall von poetischer Konstruktion des Selbst und Selbststilisierung als Schminkvorgang beobachtet werden konnte. Ähnlich wie im Falle des Türkenbundes ist auch mit der ersten Erwähnung des schönen Buchs, das wie Mozarts Motette »Exsultate, jubilate« einen vor Freude aus der Haut fahren lassen soll, diese alte Kunstform bereits

vom Heute unterwandert. Denn die Erwähnung der Mozartschen Motette hat ebenfalls ihre Vorgeschichte in Paul Celans Gedicht » Anabasis«.'” Im folgenden wird diese Fragestellung im Blick auf »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« weiterverfolgt, anhand deren das Verfahren der Kollision von alter und neuer Kunst, blauer Blume und rotem Türkenbund, Novalis und Celan weiter differenziert werden

kann, so daß sich in bezug auf Ingeborg Bachmanns Schreibweise von einer Dialektik des Absurden sprechen läßt.

7.

Eine Dialektik des Absurden: Die Geheimnisse einer

Prinzessin, Blumengespräche und das »Gespräch im Gebirg« (Paul Celan) In Ingeborg Bachmanns Roman nimmt die Legende »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagram eine besonders exponierte Stellung ein. Sie kann als »Literaturgeschichte z= nuce«''” gelesen werden. Der Spannungsbogen der Zitate reicht von der Frühromantik über eine neuromantische Schauererzählung bis zu Paul Celans und Ingeborg Bachmanns eigener Lyrik. Darüber hinaus wird im Gestus des Märchens 0Es war einmal) die Handlung des Romanganzen präfiguriert. In dieser Funktion ist die Legende dem »Eros und Fabek-Märchen im »Heintich von OÖfterdingen: zu vergleichen. Durch die Begegnung mit dem '# Zum Begriff der »nickt mehr schönen Künste siehe: Die nicht mehr schönen Künste. Hrsg. Vgl. O. Pöggeler, Die göttliche Tragödie, S. Bezug zu »Malina aufmerksam macht. "G. Kohn-Waechter, Das Verschwinden in der

als Signum der ästhetischen Moderne, von H.R. Jauß. 67f., der auch auf den intertextuellen Wand, S. 51. 161

Fremden, ihrem Retter, wird die Prinzessin zu einer besonderen Form der Erkenntnis geführt, nämlich der poetischen - sie wird zur Dichterin. Dies hat für sie jedoch eine tödliche Konsequenz. Die letzten Worte der Prinzessin — »Ich weiß ja, ich weißl« (KA 3.1, 357) - können zusammengelesen werden mit dem Schlußwort des Romans: »Es war Mord.« (KA 3.1, 695) Die Prinzessin stirbt arm Ende der Erzählung, ebenso wie das weibliche Ich am Ende des Romans. Das Figurenpersonal der Legende ist eine Variation auf das des Romans. Die Figur des alten Königs, der die Prinzessin gefangennimmt und

mit

dem

sie vermählt

werden

soll, ist die Märchenvariante

der

Vaterfigur des Traumkapitels. In der Legende heißt es, sie wollte »sich lieber den Tod geben, als sich einem alten König zuführen lassen« (KA 3.1, 349). Vor diesem Schicksal bewahrt sie der Fremde, indem er sie aus der Gefangenschaft befreit. Hinter der Maske der Prinzessin verbirgt sich das Ich, während hinter der Figur des Fremden Ivan und Malina hervortreten. Einen ersten Hinweis auf die Präsenz Malinas in der Legende erhält der Leser durch die Erwähnung des »heiligen Georg«

(KA

3.1,

348), mit

dem

das Ich schon

an früherer

Stelle Malina

assozilerte.‘'' Die Stimme des Fremden ähnelt der Stimme Malinas.''” Mit Ivan wird die Figur des Fremden durch das Motiv des Türkenbundes in Beziehung gesetzt. Jener Blume, die im Roman zum Sinnbild für Ich und Ivans Liebe wird und die auch in der Legende auftaucht.'” Ivan und der Fremde werden beide als Angehörige des jüdischen Volkes gezeichnet. In der Legende teilt der Fremde der Prinzessin mit: »Mein Volk ist älter als alle Völker der Welt und es ist in alle Winde zerstreut.« (KA 3.1, 355) Mit Ivan wird im Roman das Symbol des Leuchters verknüpft,'* der sich, folgt man weiteren Spuren im Text, als ""Vel. KA 3.1, 289. '# Beide Stimmen, die des Fremden und die Malinas, werden als Gesang bezeichnet, der nur für das Ich bzw. die Prinzessin hörbar ist. Vgl: »Tief in der Nacht, da meinte sie,

eine Stimme zu hören, die sang und sprach nicht [. . .], dann aber sang sie nicht mehr vor Fremden, sondern klang nut noch für sie und in einer Sprache, die sie bestrickte und von der sie kein Wort verstand. Trotzdem wußte sie, daß die Stimme ihr allein

galt und nach ihr rief« (KA 3.1, 349); und: »Mir fällt ein, was Malina zum erstenmal für mich gespielt hat, ehe wir anfingen, miteinander wirklich zu reden, und ich möchte

ihn bitten, es noch einmal für mich zu tun. [...| Er spielt wirklich und spricht halb und singt halb und nur hörbar für mich« (KA 3.1, 672£.). "3 Die Assoziation der Blume, die in der Legende mit der Figur des Fremden verbunden ist, mit dem Türkenbund nimmt das Ich selbst vor, wenn sie ihre Erzählung mit folgenden Worten einleitet: »In die Majuskel würde ich mit einer roten Tinte die Blüten vom Türkenbund zeichnen« (KA 3.1, 347). "4 Vg].: »habe ich Ivans Namen genannt? Habe ich »Leuchter gesagt?%« und: »ich zünde den Leuchter an, der sonst nur für Ivan brennt.« (KA 3.1, 526, 686) 162

jener Leuchter zu erkennen gibt, der nach jüdischem Brauch am Vorabend des Sabbat angezündet wird. Am deutlichsten tritt uns die Verdichtung von Malina und Ivan in der Figur des Fremden in der Traumfortsetzung der »Kagran«-Erzählung entgegen. Seine Herkunft aus Pecs, der Türkenbund und die Erwähnung der zwei Kinder verweisen auf Ivan.

Die Worte,

die der Fremde

an das Ich richtet — »Sei ganz

ruhig [...]! Es wird jetzt gleich der Mond aufgehen. [...] Sei ganz ruhig, denk an den Stadtpark« (KA 3.1, 523) —, verbinden ihn wiederum mit Malina. Im Roman wird der Stadtpark mit dem Schönbergschen »Pierrot lunaire« (»Mond«) assoziiert und erinnert an Ich und Malinas »Märchenzeit«, an ihre ersten gemeinsamen Tage." Und so ist es denn auch Malina, der, nachdem das Ich aus diesem Traum erwacht,

die Worte des Fremden wiederholt: »Bleib ganz ruhigl« (KA 3.1, 524) Betrachten wir nun »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« genauer, so finden sich eine Reihe frühromantischer 'Topoi, die auf Novalis’ Roman »Heinrich von OÖfterdingem bezogen werden können. Die Szene, in der die Türkenbundlilie in die Legende eingeführt wird, hat verblüffende Ähnlichkeit mit jener Traumszene im >Heinrich von Ofterdingen«, in der der Protagonist zum erstenmal der blauen Blume ansichtig wird. Die Prinzessin befindet sich »in der Region des Flusses, wo er ins Totenreich führt« (KA 3.1, 353). Im Innern eines Berges läßt

Heinrich sich von einem »leuchtenden Strome« (HKA I, 197) forttragen, der ihn an den Ort führt, wo er die blaue Blume findet. Die Höhle im Gebirge, die »unterirdischen Zimmer« (HKA I, 222) symbolisieren im ‚Heinrich von Ofterdingen« durchgängig das Totenreich. Durch das Erscheinen des Fremden,

mit dem die rote Blume verknüpft ist, wird

die Prinzessin von Kagran vor dem drohenden Identitätsverlust, symbolisiert durch die Bedrohung des »Wassers« und der »Weiden«, bewahrt: aber in der größten Finsternis ging ein Licht an vor ihr, und da sie wußte, daß es [...] nur ein Geisterächt sein konnte, ging sie in Todesangst darauf zu, aber bezaubert, bestrickt. Es war kein Licht, es war eine Blume, gewachsen in der entfgsselten Nacht, röter als rot und nicht aus der Erde gekommen, Sie streckte die Hand nach der Blume aus, da berührte ihre Hand zugleich mit der Blume eine andere Hand. (KA 3.1, 354, H.v.m.)

Zur Erinnerung zitiert:

sei jene Szene aus dem »Heinrich von Ofterdingen«

5 YgL: »Aber in diesen Stadtpark, über dem für mich ein kalkweißer Pierrot mit überschnappender Stimme angetönt hat, O alter Duft aus Märchenzeit« (KA 3.1, z81).

163

das Tagessicht [,] das ihn umgab, war heller und milder als das gewöhnliche [. . .]. Was ihn aber mit voller Macht anzog, war eine hohe /ichtfblaue Blume, die zunächst

an der Quelle

stand, und

ihn mit ihren breiten,

glänzenden

Blättern berührte. [...] Endlich wollte er sich ihr nähern, [...] die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blüthenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, H.v.m.)

in welchem

ein zartes Gesicht

schwebte.

(HKA I, 197,

Auffällig ist die beiderseitige Verwendung der Lichtmetaphorik, ebenso wie der Sachverhalt, daß die Berührung der Blume zugleich zur Berühtung mit dem affinen Anderen wird. Auch darin folgt die »Kagran«Erzählung frühromantischer Motivik, daß die Liebesvereinigung als Todeserfahrung umschrieben wird: und sie sank zu ihm hin und in seinen Armen auf den Sand nieder, er legte ihr die Blume wie einer Toten auf die Brust und schlug den Mantel über sie und

sich.

Die

Sonne

stand

schon

hoch

am

Himmel,

als der Fremde

die

Prinzessin aus ihrem totenähnlichen Schlaf weckte. (KA 3.1, 354)

Im Heinrich von Ofterdingen« wird im Traum vom blauen Strom der Liebesakt als gemeinsamer

Liebestod

von Heinrich

und

Mathilde

in-

szeniert, aus dem beide in verwandelter Gestalt hervorgehen. Wie bereits vermerkt, wird der Tod im Denken Hardenbergs zugleich als Akt der Selbstauflösung und Transformation verstanden. »Tod — eine nähere Verbindung liebender Wesen.« (HKA II, 389) »Tod ist Verwandlung — Verdrängung des Individualprincips — das nun eine neue haltbarere, fähigere Verbindung eingeht.« (HKA HI, 259) Schon mit dem ersten Einsatz seines philosophischen Denkens hat Novalis in den »Fichte-Studien eine Dialektik des Lebens

>Schweben

zwischen

Seyn

im emphatischen

und

Nichtseyn«

Sinne

entworfen,

begriffen

das als

wird.’

Die

»Selbstentäußerung« (HKA II, 422f.) bzw. »Selbsttödtung« ist der Mo-

ment der liebenden Hingabe an die / das Andere, Moment einer dialogischen Vermittlung. Gegenüber Fichtes Philosophie der Selbstsetzung führt Novalis den »ächt philosophischen Act« der »Selbsttödtung« (HKA II, 395) ein. In dieser Dialektik des Lebens wird das Individuum als Prinzip einer permanenten Transformation gedacht. Die Liebe und die Poesie werden im Denken Hardenbergs zu jenen gesellschaftlichen Freiräumen,

in denen

sich die Dialektik

des

Lebens

entfalten

kann,

ohne daß der Tod endgültiger Stillstand bzw. reale Abwesenheit be-

deuten würde.

»s Vgl. HKAII, 106.

164

Diese paradoxe Verbindung von Leben und Tod begegnet uns in »Malina in Form eines ins Futurum abgewandelten Zitats aus Paul Celans Gedicht »Erinnerung an Frankreich« wieder. In einem der prophetischen Fragmente des Ich heißt es: »wir werden tot sein und atmen«

(KA 3.1, 455). In der »Kagran«-Erzählung

ist der selbstentwor-

fene Tod als Liebestod zudem durch die Anspielung auf Celans Gedicht ‚Ein Krieger gegenwärtig, aufgenommen wird die Zeile »Schweigsam entwerf ich mir Tod« (3, 16). In der Legende entwirft der Fremde »schweigsam seinen und ihren ersten Tod.« (KA 3.1, 357) Ebenfalls zur Todesmetaphorik des »Heinrich von Ofterdingen: gehört das Motiv des Rollentauschs im Wechsel von Tod und Rettung. Unter dem Stichwort »Umgekehrtes Märchen« notiert Novalis für den zweiten Teil des Romans: »Heinrich geräth unter Bacchantinnen — Sie tödten ihn |[...]. Mathilde steigt in die Unterwelt und holt ihn.« (HKA I, 345) Dies ist eines der Fragmente aus den »Berliner Papieren«, das Paul Celan mit Anstreichungen versehen hat.'"” In der »Kagran«Erzählung klingt in der Zeile »Sie sagten sich Helles und Dunkles« (KA 3.1, 355) das Orpheus-Motiv in Form eines Verweises auf Inge-

borg Bachmanns Gedicht »Dunkles zu sagen« (WAT, 32) an. Als mißlingender — Versuch gehört auch hier, ebenso wie in »Das Buch Franza«, der Rollentausch im Wechsel von Tod und Rettung zur Lie-

besmetaphorik des Bachmannschen Texts. Während der Fremde in der Legende die Prinzessin vor dem Ertrinken im Fluß bewahrt, gelingt dem Ich die Rettung im Barackentraum nicht, der Fremde »ist auf dem Transport im Fluß ertrunken« (KA 3.1, 524).

In der »Kagran Vgl KA 3.1, 349, 357-

° Novalis verwendet den Ausdruck »Fremder« durchgängig für die Bestimmung des Dichters. Zur Erinnerung sei nur erwähnt, daß es ein Frernder ist, der Heinrich von der blauen Blume berichtet, und daß dieser selbst, wenn er im zweiten Teil des Ro-

mans zum Dichter wird, als »Fremdling«e (HKA 1, 322) bezeichnet wird. “Vgl: »Er hatte die wahren Unsterblichen, die Elemente, zum Schweigen gebracht. [...] Das Hochwasser war gesunken, und ehe die Sonne unterging, hörte die Prinzessin ihren Rappen aufstehen, schnauben und durch das Gebüsch traben.« (KA 3.1,

354£.} Jener Rappe war zuvor dem Tode nahe. 166

Flecken besetzt«.”" Werden diese Hinweise ernst genommen, so ergibt sich für die Interpretation der Legende eine merkwürdige Verkehrung, die auf den Roman im ganzen übertragbar ist. Frühromantische Utopien werden aufgerufen und im Text bewahrt, sie werden aber zugleich als Formen eines Denkens gekennzeichnet, »das zum Sterben führt.« (KA 2, 78) Dieses Sterben ist in Ingeborg Bachmanns Todesarten«Projekt eines, das sich bewußt gegen die frühromantische Todesmetaphorik abgrenzt, diese entstellt. Darauf macht schon der altertümliche

Begriff »Todesarten« aufmerksam. zeichnet

unter »Todesart«

Das Grimmsche Wörterbuch ver-

Textstellen von

Hofmannswaldau,

Wieland

und Ewald von Kleist.'” Daß auch Novalis die Wendung »Arten des tödtens im Munde führt, wurde bereits eingangs im Motto zu Ingeborg Bachmanns Entwürfen des Ich vermerkt. Im weiteren wird in Jean Pauls Titan« um die »schönsten Todesarten« zwischen »Schlaftrunk« und »Donnertod« gestritten. Eine Textstelle, die Paul Celan in seiner Jean Paul-Ausgabe, in deren erstem Band notiert ist »Paul Celan, Wien,

Mai 1948«, angestrichen hat. Den Begriff »schönste "Todesart« hat er sich gesondert auf der letzten Seite des Buches herausgeschrieben.'”* In »Malina wird das Adjektiv »schön« gerade den 'Todesarten entgegengestellt: In Reaktion auf Ivans Mißfallen, der unter ihren Aufzeichnungen einen Zettel mit der Aufschrift »TODESARTEN« (KA 3.1, 333) gefunden hat, will das Ich ein »schönes Buch« (KA 3.1, 335) schreiben. Doch bleibt diese Entgegensetzung vergeblich, denn unversehens reihen sich auch die Versuche des Ich, ein schönes Buch zu schreiben — die »Ka-

gran«-Erzählung und die prophetischen Fragmente -, in die »Todesarten ein. Aufschlüsse darüber, warum die Utopien in »Malina« zum Tode führen, wird uns ein genauerer Blick auf jenen Text gewähren, der vermittels der Türkenbundlilie eine weitere Quelle für die Legende darstellt — Paul Celans Erzählung »Gespräch im Gebirge.

“Wörterbuch

der deutschen Pflanzennamen.

Hrsg.

von

H. Marzell,

Sp.

ı300. Vgl.

G. Kohn-Waechter, »... ich liebte ihr Herunterbrennen«, S. 226. Hier läßt sich auch

die Assoziation zu Jung-Stillings »blutroter Blume aus dem »Joringel und Jorinde«Märchen herstellen, auf die ja schon Novalis’ blaue Blume angespielt hatte, vgl. H. J. Jung-Stilling, Henrich Stillings Jugend, Jünglingsjahre, Wanderschaft und häusliches Leben, 8. 75.

"3 Vgl. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch, Sp. 553. '" Die Ausgabe >Jean Pauls Werke: (60 Teile in 19 Bänden. Berlin: Gustav Hempel, o. ].) ist in Marbach einsehbar. In Teil 15-16, 5. 87, findet sich die Textstelle zu den schön-

sten Todesarten.

167

Das »Gespräch im Gebirg« findet zwischen den »Geschwisterkindern« (Celan 3, 170),'” dem Juden Groß und dem Juden Klein statt. In seiner »Meridianc-Rede nennt Celan den Anlaß dieser Erzählung: Und vor einem Jahr, in Erinnerung an eine versäumte Begegnung im Engadin, brachte ich eine kleine Geschichte zu Papier, in der ich einen Menschen »wie Lenz« durchs Gebirg gehen ließ. (201)

1959 war ein Treffen in Sils im Engadin mit Theodor W. Adorno geplant, Celan mußte jedoch aus familiären Gründen vor Adornos Ankunft nach Paris abreisen.'” Diese versäumte Begegnung wird von Celan im fiktiven »Gespräch im Gebirg« eingeholt, das sich mit dem Diktum Adornos auseinandersetzt, ein Gedicht nach Auschwitz zu schreiben, sei barbarisch. »Klein, der Jude«, der zuvor seinen Stock auf der

Straße, »der schönen«, hören ließ, »hieß seinen Stock schweigen vor dem Stock des Juden Groß« (169), hinter dem sich Adorno verbirgt. Die Straße im Gebirge, auf der sich die beiden Geschwisterkinder begegnen, ist die Straße der »schönen« Kunst. An ihrem Wegesrand blüben Türkenbund, Rapunzel und Nelke: Da stehn sie also, die Geschwisterkinder, links blüht der Türkenbund, blüht wild, blüht wie nirgends, und rechts, da steht die Rapunzel, und Dianthus

superbus, die Prachtnelke, steht nicht weit davon. (170)

In Anklang an die frühromantische Tradition wird mit der schönen Kunst durch das Motiv von aus dem Stein wachsenden Blumen eine »stummex« dialogische Natursprache (Türkenbund/öe) evoziert.'”” Neben dem roten Türkenbund und der blaßlilafarbenen Prachtnelke ist mit der Rapunzel auch in diesem Text ein versteckter Hinweis auf die blaue Blume gegeben. Beide in der Alpenregion vorkommenden Arten der Rapunzel (Halbkugelige Rapunzel, Betonika-Rapunzel) sind blau bzw. blauviolett.'” Auffällig ist hier die Sonderstellung, die die Pracht"=; Im nachfolgenden wird aus diesem Band im Text nur unter Angabe der Seitenzah) zitiert.

»® Vgl. D. Kohler-Luginbühl, Poetik im Lichte der Utopie, S. 81. "7" Zu erinnern ist an die »Lehrlinge zu Saisc: »Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall [.. .] in Steinbildungen, [, . .] im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen [...] erblickt.« (HKAI, 79) Die Rede des Juden Klein zum Stein — »mein Stock, der hat gesprochen, hat gesprochen zum Stein« (172) - läßt an Novalis’ Frage denken: »Wird nicht der Fels ein eigenthümliches Du, eben wenn ich ihn anrede« (HKA IL, 100) Gudrun Kohn-Waechter gibt den Hinweis, daß bei Novalis das »Grenzgebürge der Welt« Ort der Begegnung mit dem Göttlichen und der Initiation zum Dichter ist (». ... ich liebte ihr Herunterbrennen«, S. 236). Die Assoziation zu Heinrichs Weg »ins Gebürg« (vgl. HKAI, 3ı0ff.) nach Mathildens Tod liegt nahe. “® Im Katalog der Celanschen Bibliothek ist folgender Titel verzeichnet: Walter Rytz: 168

nelke einnimmt. Sie steht etwas abseits und ist die einzige, deren lateinischer Pflanzenname

genannt wird. Dianthus, aus dem Griechischen,

setzt sich zusammen aus Diös (des oder von Zeus) und änthos (Blüte, Blume).'”” Diese Blume des Zeus wird nun noch durch das lateinische superbus (hochmütig, stolz) charakterisiert. Hier klingt die frühromantische Bestimmung der Poesie als Sprache des Göttlichen an. Im Fortgang der Erzählung wird dies noch einmal in der poetischen Anrede an den großen »Niemand: aufgenommen. Am Ende des »Gesprächs im Gebirg« wird das Ich wiederum von Türkenbund und Rapunzel begleitet, aber die Prachtnelke fehlt. An ihre Stelle ist die heruntergebrannte

Kerze getreten: »ich mit dem Türkenbund

Rapunzel, ich Die Straße ner« Welt an, im Gebirge.””

links, ich mit der

mit der heruntergebrannten, der Kerze« (173). der schönen Kunst gehört jedoch einer suntergegangeihre Sprache ist verstummt — Stock und Stein schweigen Der Jude Klein sagt: »Aber ich, Geschwisterkind, ich,

der ich da steh, auf dieser Straße hier, auf die ich nicht hingehör, heute,

jetzt, da sie untergegangen ist, sie und ihr Licht«. Die historische Zäsur, die das »Gespräch im Gebirg« umkreist, Juden im Nationalsozialismus, stellt sowohl stenz des Künstlers in Frage: »Und bist trotzdem, gekommen hierher — warum und im Gebirg« wird in Umkehrung

die Massenvernichtung der die Kunst als auch die Exigekommen trotzdem, bist, wozu%« (171) Im »Gespräch

solcher Motive, die die Assoziation zu

frühromantischen Bestimmungen der Poesie zulassen, die Unmöglichkeit vor Augen geführt, an diese Kunstform bruchlos anzuknüpfen. Denn gerade das Medium der Poesie, die Sprache, hat teil an den Verheerungen, die Auschwitz hinterlassen hat. Eine »verkrüppelte« Sprache wird zum Ausdruck für die Zerstörungen, die die Geschwisterkinder als Überlebende des Faschismus erlitten haben. Beide, der Jude Klein Alpenblumen I/II. Bern: Hallwag, o. J. In beiden Bänden findet sich auf dem vorderen Buchdeckel innen von Gisele Celan-Lestranges Hand die Eintragung »Sils Baselgia, juillet r959«. Leider sind die Bücher in Marbach nicht vorhanden, aber die mir zugängliche Ausgabe der »Alpenblumen« (Bern, Stuttgart 1979), die beide Bände zusammenfaßt und einen neu bearbeiteten Text vorlegt, hat die Auswahl der Pflanzen und die Farbtafeln beibehalten; vgl. S.96 (Türkenbundlilie [Lilium Martagon], Abb. $. 97), S. ıı2 (die »blaue« Halbkugelige Rapunzel, Abb. S. 113), $. 116 (die »blauviolette« Betonika-Rapunzel, Abb. S. 117). 'SR. Schubert und G. Wagner, Botanisches Wörterbuch, S. 166. 3° Vol: »Armer Türkenbund, arme Rapunzel! Da stehn sie, die Geschwisterkinder, auf einer Straße stehn sie im Gebirg, es schweigt der Stock, es schweigt der Stein, und das

Schweigen ist kein Schweigen, kein Wort ist da verstummt und kein Satz, eine Pause ists bloß, eine Wortlücke ists, eine Leerstelle ists, du siehst alle Silben umherstehn«

(170).

169

und der Jude Groß, kommen am Stock, an Sprachkrücken ins Gebirge.'”' Der Sprachgestus der Erzählung, der durch »Wiederholungen und Doppelungen [....| abgehackte, ruckartige Rhythmus«, suggeriert einen »krummbeinigen, hinkenden Gang« auf Sprachkrücken. Ebenso wie

die »Verwendung

des Judendeutschen«

in diesem

Text,

wie

Ste-

phane Moses ausführt, »in jedem Augenblick an die Wunde« rührt, »welche die deutsche Sprache (und in gewissem Maße vielleicht die Sprache überhaupt) seit der Ausrottung der Juden in ihrem Innersten trägt.«'”*

Die wesenhaft nachdem »einiges verkehrt. »[D]ie Sprache, je nun,

dialogische Sprache der untergegangenk ist, zu Sprache, die hier gilt«, ohne Ich und ohne Du,

Poesie" hat sich im Gebirge, einer Sprache des Neutrums'”* sagt der Jude Groß, ist »eine lauter Er, lauter Es, verstehst

du, lauter Sie, und nichts als das.« Die Poesie ist im Gebirge verwaist,

ihr sind Ich und Du, der Änsprechende und der Hörende abhanden gekommen: Von den Geschwisterkindern heißt es, daß sie »keine Augen« haben für die aus dem Stein wachsenden Blumen. Obwohl sie potentiell

die

Ansprechenden

sein

könnten

(»Zunge

sind

sic

und

Mund«), sagt der Erzähler von ihnen: »und ihr, ihr armen, ihr steht nicht und blüht nicht, ihr seid nicht vorhanden« (170f.). Das Du, an das sich die Sprache des Steins / der Poesie wendet, ist gleich in zweifacher Weise verloren. Der Stein spricht »zu niemand, [....] weil niemand ihn hört, niemand und Niemande«. Hinter der Doppelung des sniemand und Niemand: verbirgt sich zum einen die Anrede der Poesie an Gott (Niemand), deren »Hörstdu« verklingt, denn der dreifaltige Gott, »der sagt nichts, der antwortet nicht« (171).'”’ Das Gebirge, in der Frühromantik der Ort der Gottesbegegnung und der Initiation zum Dichter, wird in Celans Text zum Ort der Erkenntnis der Nicht-Existenz Gottes. Zum anderen richtet sich die Anrede an das menschliche Gegenüber, die = Vgl. Celans Gedichte :. . . rauscht der Brunnenc: »Ihr meine mit mir ver- / krüppelnden Worte, ihr / meine geraden. [....| Krücke du, Schwinge« (1, 237) und »Die Winzer« »der Stein, über den ihr Krückstock dahinspricht / ins Schweigen der Antwort - / ihr Krückstock, [. . .| der einmal durchs Stumme hindurchspricht, hinab / in den Schacht 133%

des Erdachten« (1, 140). S. Moss, »Wege, auf denen die Sprache stimmhaft wird«, S. 48, so.

'3 Vgl. hierzu Paul Celans »Meridianc-Rede: »Das Gedicht will zu einem Andern, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu. |...] es wird Gespräch — oft ist es verzweifeltes Gespräch.« (3, 198) "Vgl. ]. E. Jackson, Die Du-Anrede bei Paul Celan, S. 64. '» Vgl.:»Und Hörstdu, gewiß, Hörstdu, der sagt nichts, der antwortet nicht, denn Hörstdu, das ist der mit den Gletschern, der, der sich gefaltet hat, dreimal, und nicht für die

Menschen« (171), vgl. J. E. Jackson, Die Du-Anrede bei Paul Celan, 3. 66.

170

gemordeten Geschwisterkinder, und darum wird das »Hörstdu« von »niemand« vernommen.” Das Gebirge wird zum Ort der Begegnung mit dem Trauma der Judenvernichtung.” Indem die Geschwisterkinder die verlorene Sprache des Steins thematisieren, zeigt sich dann doch ein Weg auf, wie der Stein zum Sprechen gebracht werden kann, in einer Zeit, nachdem »einiges untergegangen ist. Es ist dies der Weg der Erinnerung, die ihren Anfang nimmt durch die metonymische Assoziation von »Stein« zu »Steinfliesen«. Der Jude Klein beginnt zu erzählen: Auf dem Stein bin ich gelegen, damals, du weißt, auf den Steinfliesen; und neben mir, da sind sie gelegen, die andern, die wie ich waren, die andern, die

anders waren als ich und genauso, die Geschwisterkinder; [....] und se liebten nich nicht und ich liebte sze nicht, denn ich war ezner, und wer will Einen lieben, und sie waren sze/e, mehr noch als da herumlagen um mich, und wer will alle lieben können, und, ich verschweigs dir nicht, ich liebte sze nicht, sze,

die mich nicht lieben konnten (171f., H.v.m.). In der Erinnerung

an damals entbergen

sich die Gründe,

warum

im

hier und jetzt die Poesie schweigt. Die Sprache des Neutrums, die im Gebirge gilt — das »Sie« mit Großbuchstaben -, ist eine Folge der faschistischen Sprache, die sowohl den Erzählenden als auch seine Geschwisterkinder ihrer Individualität und ihrer Existenzberechtigung betaubte. Der Verlust des Ich und Du, der Verlust der Liebe rührt aus der

Zeit der Judenvernichtung. Die Poesie trägt im hier und jetzt die Zeichen dieser Zerstörung in sich, ebenso wie Klein und Groß als Überlebende durch ihre Sprachkrücken gezeichnet sind. Die Erinnerung von Klein setzt sich fort: ich liebte die Kerze, die da brannte, links im Winkel, ich liebte sie, weil sie herunterbrannte, nicht weil sie herunterbrannte, denn sie, das war ja seine Kerze, die Kerze, die er, der Vater unsrer Mütter, angezündet hatte, weil an 36 Eine Verbindung zwischen diesen beiden »niemand« (Toten) und »Niernand« (Gott) stellt Celan in seinem Gedicht »Dein Hinübersein« her: »Gott, das lasen wir, ist / ein

Teil und ein zweiter, zerstreuter: / im Tod / all der Gemähten } wächst er sich zu. /] Dorthin / führt uns der Blick, / mit dieser / Hälfte / haben wir Umgang.« (1, 218) Hier wird der Versuch, den Massenmord an den Juden in einem religiösen Kontext (»das lasen wir«) als ein ungeheures Opfer (»im Tod all der Gemähten / wächst er sich zu«) zu deuten, seiner Absurdität überführt. Im »Gespräch im Gebirg« kehrt dies wieder. ‘7 Zum Gebirge als Sinnbild der Verheerungen der NS-Zeit, hinter dessen Versteinerun-

gen sich das gemordete Du verbirgt, vgl. Celans Gedichte »Zuversicht« (1, 153), »Heute und Morgen (1, 158), »Engführung: (t, 195-204), Was geschah% (1, 269). In dieser Motivik verrät sich eine Nähe zu Novalis. Im »Heinrich von Ofterdingen« ist die Höhle im Gebirge Sinnbild für das Totenreich, vgl. hierzu K. Voswinckel, Paul Celan, S. 25f.

171

jenem Abend ein Tag begann, ein bestimmter, ein Tag, der der siebte war, der siebte, auf den der erste folgen sollte, der siebte und nicht der letzte, ich liebte, Geschwisterkind, nicht sie, ich liebte ihr Herunterbrennen, und, weißt

du, ich habe nichts mehr geliebt seither (172).

Was sich hier artikuliert, ist das Eingeständnis einer Schuld, deren Kern sich aus der Aussage des Erzählenden »ich liebte ihr Herunterbrennen« entschlüsseln läßt. Das »ihr« ist hier merkwürdig doppeldeutig, es läßt sich sowohl auf die Kerze als auch auf die Geschwisterkinder beziehen. In der Erinnerung von Klein überlagern sich zwei Bildebenen, in denen Motive der jüdischen Religion mit den Erfahrungen im KZ zusammengeschlossen werden. Die Steinfliesen erinnern an die Steinfliesen des Tempels, das »Liegen« erinnert an die Gefangenschaft während der NS-Zeit. Die Kerze ist die Sabbatkerze, deren Anzünden in der jüdischen Religion unmittelbar mit der Verheißung der messianischen Zeit verbunden ist, und zugleich wird ihr Herunterbrennen zum Bild für die Vernichtung der Geschwisterkinder — »ich habe nichts mehr geliebt seither [... .] oder vielleicht das, was da herunterbrannte wie jene Kerze an jenem Tag« (172). Die Schuld, die sich hier artikuliert, ist jene, daß

der Erzählende damals dem Schicksal der Juden den Sinn eines ungeheuren Opfervorgangs zu verleihen suchte.’* Durch dieses Überblenden von heilsgeschichtlichen Motiven mit den erinnerten Erlebnissen aus der Zeit des Faschismus wird in Celans Text die Unmöglichkeit vor Augen geführt, angesichts des Massenmordes an den Juden an irgendeiner Form von Sinngebung festzuhalten." Hinter dem sich selbst destruierenden Symbol der $Sabbatkerze läßt Celan die Ermordeten hervortreten. Das »Gespräch im Gebirg« zeigt den Weg auf, den Dichtung nach Auschwitz zu gehen hat, wenn sie sich Adornos Diktum stellt: Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch,

und

das

frißt auch

die Erkenntnis

an, die ausspricht,

warum

es

unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.'* "W# Vgl.: »Eben das geschieht ja auch mit der Bezeichnung »Holocaust«, griechisch »Ganzbrandopfer«, die in den fünfziger Jahren geprägt wurde — also kurz bevor die Erzählung entstand — und sich mittlerweile allgemein eingebürgert hat.« (G. Kohn-Waechter, »..... ich liebte ihr Herunterbrennen«, S. 230f.) ” Vgl. J. E. Jackson, Die Du-Anrede bei Paul Celan, $. 68 und G. Kohn-Waechter, ». .. ich liebte ihr Herunterbrennen«, S. 230ff., vgl. auch Paul Celans Prosatext »Edgar Jene und der Traum vom Traumec: »So mußte ich auch erkennen, daß sich zu dem, was

zutiefst in seinem Innern seit unvordenklichen Zeiten nach Ausdruck rang, auch noch die Asche ausgebrannter Sinngebung gesellt hatte und nicht nur diesel« (3, 157) ‘* T,W. Adorno, Prismen, 5. 26.

172

Celans Text nimmt

den Einwand

ernst, Klein und

Groß

werden

die

»Geschwätzigen« genannt, und weiß dennoch um die Lebensnotwen-

digkeit, sich diesem Diktum nicht gänzlich zu unterwerfen. Denn das Sprechen, das Aussprechen der eigenen Zerstörung erscheint im »Gespräch im Gebirg« als einzige Möglichkeit, das Ich und Du wieder zu konstituieren. Durch die Erinnerung an das Damals erschreibt sich das Ich seine Existenz. Hatte der Erzähler zuvor von Klein und Groß gesagt, sie seien »nicht vorhanden« (170), so befindet sich das erinnernde Ich im Gebirge am Ende der Erzählung auf dem Weg zu sich selbst (»ich auf dem Weg hier zu mir, oben«). In der Erinnerung an die toten Geschwisterkinder,

von

denen

der Erzählende

eingestand, daß er sie

damals nicht liebte, tritt hinter diesen vielen das Du hervor (»ich, be-

gleitet vielleicht — jetzt! - von der Liebe der Nichtgeliebten, ich auf dem Weg hier zu mir, oben« 173). In Celans »Gespräch« wird das Festhalten am toten Du zum poetischen Auftrag. Dichtung wird zum Zwie-

gespräch zwischen den Überlebenden und den Toten, für das Celan das Bild der Sprache des Stocks zum Stein geprägt hat: »und mein Stock, der hat gesprochen, hat gesprochen zum Stein« (172). Ihr ist die Hoffnung immanent, daß auf diesem Wege etwas von dem Stein, und das

heißt von den Toten, zur Artikulation gebracht werden kann. So äußert Celan im »Meridian«: Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt es sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit. (198)

Das in der Kunst geborgene,

tote Du wird so gleichsam zum Mit-

sprechenden, das sein Anderssein an diesem Ort artikuliert.'* Um dieser Zuversicht willen, daß die Kunst nach Auschwitz noch in der Lage ist, ihr eigentliches Wesen, die Dialogizität, neu zu konstituieren, muß

sie sich jedoch in einem paradoxen Akt von ihrer eigenen Destruktion herschreiben. Und das heißt, nur durch die Bloßstellung ihrer eigenen Zerstörung, auf Sprachkrücken kann der Weg ins Gebirge gegangen werden, auf einer Straße, von der es dann nicht mehr heißen kann, daß

sie »schön« ist. Die schöne Kunst hat nach Auschwitz abgedankt. Aus diesem Grund distanziert sich Klein im »Gespräch« von jenem Beiwort, '*In Pauli Celans Gedicht »Zuversicht: wird das vom Ich angesprochene, tote Du zum

Sprechenden, das das (Kunst-)Werk erschafft: »Es wird noch ein Aug sein, / ein fremdes, neben / dem unsern: stumm [ unter steinernem Lid. // Kommt, bohrt euren Stollen! // Es wird eine Wimper sein, / einwärts gekehrt im Gestein, [.....] Vor euch tut sie das Werk, / als gäb es, weil Stein ist, noch Brüder.« (1, 153)

173

das traditionellerweise der Kunst zur Seite gestellt wird: »denn da bin ich ja, hier, auf dieser Straße, von der sie sagen, daß sie schön ist« (172). Jene Motive, die auf die Hoch-Zeit der schönen Kunst, die Frühro-

mantik, verweisen - Novalis hat die Poesie bzw. die Ästhetik einmal als »Schönheitslehre« (HKA II, 399) bezeichnet -, werden auch zur Bestimmung der nicht mehr schönen Kunst herangezogen, erfahren jedoch eine merkwürdige Verkehrung. Die blaue Blume und die (Türkenbund-)Lilie, bei Novalis Chiffren der Geschwisterliebe und des Androgynen, werden zu Sinnbildern für die Liebe zu den gemordeten Geschwisterkindern.'* Die Lilie wird zu einer 'Totenblume.

Der Tod,

der uns im »Gespräch im Gebirg« begegnet, ist aber nicht ein solcher, dem Sinn verliehen werden könnte. Sondern der Massenmord an den Juden ist jenes Absolutum, angesichts dessen jedwede Sinngebung absurd wird. So ist denn auch das Gebirge und mit ihm die Straße der Kunst, die durch das Gebirge

begegnung,

sondern

führt, nicht mehr

es/sie wird

zum

der Ort der Gottes-

Ort der Begegnung

mit dem

Trauma der NS-Zeit — die Prachtnelke wird von der heruntergebrannten Kerze verdrängt.

Der Stern, von dem es im Text heißt, das er »jetzt

überm Gebirg« (172) steht, deutet auf den Davidstern als Sinnbild der

Durchdringung der sichtbaren und der unsichtbaren Welt in der jüdischen Religion, ebenso wie auf den Mißbrauch dieses Zeichens durch

die Nationalsozialisten, den gelben judenstern, den die Juden zwangsweise tragen mußten. Durch diese Brechung

frühromantischer und religiöser Motive ge-

lingt es Celan zum einen, das Ausmaß der historischen Zäsur, die der Faschismus bedeutet, vor Augen zu führen. Die Sprache der Poesie ist gänzlich ungeeignet, die Gegenwart in Worte zu fassen, da Auschwitz

die äußerste Negation dieser Welt der Poesie darstellt. Zum anderen wird im »Gespräch

im Gebirg«

jener Weg

beschritten, den Celan in

seiner »Meridianc-Rede als Weg der Dichtung beschrieben hat: »Ioposforschung? Gewiß! Aber im Lichte des zu Erforschenden: im Lichte der U-topie« (199). Die Kunst kann das Licht der Utopie nur dann bewahren, wenn sie sich gegen sich selbst wendet: im Eingeständnis ihrer Zerstörung; mit einer verkrüppelten Sprache; mit der »Gedächtnisschwäches;'*

im Wissen

darum,

daß

kein Erinnerungsvermögen

aus-

'# Vgl.: »ich mit dem Türkenbund links, ich mit der Rapunzel, [.. .] ich, begleitet viel-

leicht — jetzt! - von der Liebe der Nichtgeliebten« (173). '# In den Worten des Juden Groß artikuliert sich ein Schuldbewußtsein, das der Überlebende gegenüber den Toten empfindet. Das eigene Leben erscheint durch den Tod der anderen erkauft: »ich mit meiner Stunde, der unverdienten, ich, den’s getroffen

174

reichen wird, hinter der Masse der toten Geschwisterkinder jedes einzelne Du hervortreten zu lassen; und im Wissen um die Unwiederbringlichkeit des toten Du, dem die Poesie einzig einen Grabstein setzen kann. In Paul Celans Gedicht >Es ist alles anders< heißt es, »die Sprache,

/ wirf sie weg, wirf sie weg, / dann hast du sie wieder«. Der Weg der Kunst führt »aufs Grab, auf die Gräber«, um dann vielleicht »ins Le-

ben« (1, 285) zurückzuführen.'* Auf dem Wege der Toposforschung vollzieht das »Gespräch« eine Kreisbewegung, in der die Poesie im emphatischen, frühromantischen Sinn aufgerufen wird, in Kontrast zur

Gegenwart stehend und angesichts ihrer eigenen Zerstörung sich dann selbst zum Schweigen bringt. Aber gerade in diesem Verstummen vollzieht sich eine »Art Heimkehr« (3, 201) zu dem, was Novalis, und darin folgt ihm Celan, als eigentliches Wesen der Poesie bestimmt hatte, ihre Dialogizität. Das ersprochene Schweigen schafft Raum, in dem im Lichte ihres Verlustes sowohl die Sprache als auch das Ich zu sich selbst finden. Im Kontext der Analyse des »Gesprächs im Gebirg« lassen sich nun einige der Geheimnisse der Prinzessin von Kagran entschlüsseln. Die Erkenntnisse, für die der Fremde die Prinzessin hellsichtig macht, sind

jene des »Gesprächs«.

Einen ersten Hinweis hierauf erhalten wir da-

durch, daß nach der Begegnung mit dem Fremden, durch die die Prin-

zessin das »zweite Gesicht« bekommen hat, die Erzählung in verstärktern Maße mit Zitaten aus Celans Lyrik durchsetzt ist. Die Prinzessin erscheint als Geschwisterkind der Juden Groß und Klein. Auf die Verbundenheit mit ihnen macht ihr letzter Satz aufmerksam: »Sie lächelte aber und lallte im Fieber: Ich weiß ja, ich weiß!« (KA 3.1, 357) Durch die im »Gespräch« in ständiger Wiederholung artikulierten Worte »ich weiß, Geschwisterkind, ich weiß« (Celan 3, 171) versicherten sich Klein und Groß ihres gemeinsamen Schicksals als Überlebende der NS-Zeit. In diese Schicksalsgemeinschaft bezieht sich nun auch die Prinzessin mit ein und teilt das Wissen, das im Gespräch zwischen Klein und hat, ich, den’s nicht getroffen hat, ich mit dem Gedächtnis, ich, der Gedächtnisschwache, ich, ich, ich .. .« (171). Mit dieser Gedächtnisschwäche ist auch die über-

lebende Kunst gezeichnet. '4 Eine Hoffnung,

die sich auch in Celans Gedichten »Coronat

Stein sich zu blühen bequemt« Berge. / Wer erwachte? Du und Wissen um ihre Unmöglichkeit sprechen begännen, würde sich nische Sprache verkehren.

(»Es ist Zeit, daß der

r, 37) und Was geschah% (»Der Stein ich« ı, 269) artikuliert. Dieser Hoffnung eingeschrieben. Denn erst dann, wenn die Sprache des Anorganischen wieder

trat aus dem ist jedoch das die Toten zu in eine orga-

175

Groß zur Mitteilung kam. So kann das »Lallen«, mit dem die Legende endet, als Ausdruck der Sprachzerstörung gedeutet werden'* und steht in Bezug zum Schweigen des weiblichen Ich, mit dem der Roman endet. Am deutlichsten wird die Verbindung der Legende »Die Geheimnisse der Prinzessin von Kagran« zu Paul Celans »Gespräch im Gebirg« in der Traumfortsetzung vor Augen geführt. Die Ich-Erzählerin findet den Fremden aus der »Kagran«-Erzählung in einer Baracke wieder, vor dem Abtransport in ein Vernichtungslager. Diese Szene erscheint als Wiederholung dessen, woran sich der Jude Klein im »Gespräch im Gebirg« erinnerte.'* In den vielen Baracken, im hintersten Zimmer, finde ich ihn, er wartet dort müde auf mich, es steht ein Strauß Türkenbund in dem leeren Zimmer,

neben ihm, der auf dem Boden liegt, in seinem schwärzer als schwarzen siderischen Mantel, in dem ich ihn vor einigen tausend Jahren gesehen habe. (KA 3.1, 522) Die Ich-Erzählerin will in diesem Schuld sprechen:

Traum

mit dem

Fremden

über

eine

ich fürchte schon, daß er vor mir abtransportiert worden ist, obwohl ich nur

mit ihm darüber sprechen kann, mit ihm allein und bis ins siebente Glied, für das ich nicht einstehen kann, weil nach mir nichts mehr kommen

wird.

(KA 3.1, 522) Worum

es sich bei dieser Schuld

handelt,

die bis ins siebente

Glied

vererbt wird und darin an die alttestamentarischen Verfluchungen Gottes erinnert,'*” läßt sich aus der Schuld rekonstruieren, um die das »Ge-

spräch« kreiste. Durch die Siebenzahl wird auf die Sabbatkerze verwiesen, die in Erwartung des »Tausendjährigen Reiches: der göttlichen Ver-

heißung am Vorabend des siebten Tages angezündet wird. Und dadurch wird auf jene Schuld gedeutet, deren sich Klein bezichtigte: angesichts

sinnloser Monstrosität noch an Sinnstiftung festgehalten zu haben. Schon im »Gespräch im Gebirg« wird deutlich, daß diese Schuld nicht nur die persönliche des Erzählenden ist, sondern die Möglichkeit von Dichtung nach Auschwitz überhaupt in Frage stellt. Diese muß unter '# Siehe hierzu Paul Celans Gedicht Tübingen, Jänner: »käme heute, mit / dem Lichtbart der / Patriarchen: er dürfte, / spräch / dürfte / nur lallen und lallen, / immer-, immer- | zuzu.« (ı, “6 Vgl. G. Kohn-Waechter, ». . . ich liebte ihr Herunterbrennen«, '# Bis ins »dritte und vierte Glied«

(z. Mos.

20, 5) wird

ein Mensch zur Welt, er von dieser / Zeit, er 226) S. 232.

der Götzendienst

geahndet,

»siebenfältig« will Gott das Volk Israel heimsuchen bei Mißachtung seiner Gebote (3. Mos.

176

26, 18, 24, 28).

Verzicht auf jegliche Sinngebung, angesichts einer Katastrophe, vor der sich jeder Sinn verschließt, und im Eingeständnis des eigenen »Schuldig-geworden-Seins, welches bei Celan Ausdruck in einer zerstörten Sprache fand, das Erbe von Auschwitz auf sich nehmen. Daß dies eines jener Geheimnisse ist, für die der Fremde die Prinzessin hellsichtig gemacht hat und das sie aus diesem Grund nur mit ihm besprechen kann, erschließt sich aus einer Äußerung des Ich im Mühlbauer-Interview: Ich werde Ihnen ein furchtbares Geheimnis verraten: die Sprache ist die Strafe. In sie müssen alle Dinge eingehen und in ihr müssen sie wieder vergehen nach ihrer Schuld und dem Ausmaß ihrer Schuld.

In der Sprache »muß man die Vergangenheit ganz ableiden« (KA 3.1, 393). Und so wie die Juden in Celans Erzählung auf Sprachkrücken durchs Gebirge gehen, gibt auch das Ich in »Malina zu erkennen, daß eine verkrüppelte Sprache bzw. Schrift Ausdruck ihrer eigenen Zerstörung ist. »Avec ma main brulee, j’ecris sur la nature du feu.« (KA 3.1, 390) Im Mühlbauer-Interview, das in ironischer Brechung Zerrbild gängiger Interviewpraxis ist, gibt das Ich, als Autorin befragt, dann auch Auskunft darüber, welche Mission sie der Dichtung in der Gegenwart zubilligt. Ihre Äußerungen verraten eine deutliche Nähe zum »Gespräch im Gebirg«, so daß man sagen könnte, das Ich gibt hier preis, welches Wissen ihr der Fremde in der Legende mitgeteilt hat, das in dieser selbst jedoch ausgespart blieb. Auf die Frage, was sie von Wien halte, skizziert das Ich diese Stadt als einen Ort, der dem Celanschen Gebirge darin gleicht, daß von dieser Stadt aus, »die aus der

Geschichte ausgetreten« ist, die Abgründe, die der Faschismus aufgerissen hat, deutlich sichtbar sind: von dieser Stelle der Welt aus, an der nichts mehr stattfindet, erschreckt es einen viel tiefer, die Welt zu sehen, nicht selbstgerecht, nicht selbstzufrieden,

weil hier keine verschonte Insel'* ist, sondern an jeder Stelle Untergang ist, es ist alles Untergang (KA 3.1, 391£.). “* Hierin ist eine Bezugnahme auf die »Kagran«-Erzählung zu sehen, auf die untergehende Insel, auf der sich die Prinzessin befindet, bevor sie von dem Fremden gerettet wird

(KA 3.1, 353). Im folgenden stellt das Ich in diesem Interview die Beziehung zur Legende ganz explizit her und verweist damit auf den Kontext des »Gesprächs im Gebirge. Sie spricht von ihrer Vergangenheit als Prinzessin: »Ich muß gelebt haben in diesem Haus [Österreich] zu verschiedenen Zeiten, [.. .] ich war immer zu Hause in diesem Haus und, außer im "Traum, in diesem geträumten Haus, ohne die geringste Lust, es noch einmal zu bewohnen, in seinen Besitz zu gelangen, einen Anspruch zu erheben, denn die Kronländer sind an mich gefallen, ich habe abgedankt, ich habe die

älteste Krone in der Kirche Am Hof niedergelegt.« (KA 3.1, 397)

177

Schweigen in Celans »Gespräch« Stock und Stein im Gebirge, so heißt es später in »Malina« von dem hier bezeichneten Ort der Kunst: »Wien schweigt.« (KA 3.1, 500) Über die Mittlerrolle des Künstlers befragt, äußert das Ich, es gelte nicht in die geistigen Höhen zu steigen, sondern »man muß nach unten gehen« (KA 3.1, 394). Die »kultische Administration eines Totenreichs« (KA 3.1, 395) sei die Aufgabe, der sich die Kunst jetzt zu stellen habe. Und folgerichtig werden die Künstler als »Totengräber« bezeichnet, deren Arbeit das Totengedächtnis ist und das

Ableiden der Vergangenheit in der Sprache, im Gestus des zu Ende Sagens. [je heimlicher unsre Totengräber arbeiten, je verborgener alles geschieht, je unhörbarer es gespielt und zu Ende gesagt wird, desto größer würde vielleicht aber die wahrhaftige Neugier werden. (KA 3.1, 396)

Als komplementäres Bild zum Herunterbrennen der Kerze in Celans »Gespräch im Gebirg« benennt die Ich-Erzählerin das »Krematorium von Wien« als »geistige Mission« (KA 3.1, 396) der Totengräber / Künstler. Es ist eine Sprache des Absurden, die hier die Bachmannsche

Poetologie auszeichnet, und zwar nicht zuletzt dadurch, daß Anklänge an die Bestimmung des existentiell Absurden vorhanden sind.'* In der Begrifflichkeit des zu Ende

Spielens

ist der direkte Verweis

auf das

absurde Theater Becketts (Endspiel) und Sartres (»,Das Spiel ist aus)” augenscheinlich. Zudem läßt sich die Äußerung »Wien schweigt« als Anspielung auf Camus’ 1942 in der Resistance, in einem »mörderischen« Klima entworfene Philosophie des Absurden lesen: »Das

Absurde

entsteht

aus dieser Gegenüberstellung des

Menschen,

der fragt, und der Welt, die vernunftwidrig schweigt.«'” Zum

Entsetzen von Herrn Mühlbauer, der cher an »Privatgeschich-

ten und ähnlichen Peinlichkeiten« (Gul 88) interessiert ist, stellt das Ich in diesem Interview die »Schuldfragen« (WA IV, 190) der Kunst und erweist sich darin als Verwandte Paul Celans. Nicht zufällig erwähnt das Ich in diesem Interview die »Verwandten in Czernowitz« (KA 3.1, 398), dem Geburtsort Celans. Die Ich-Erzählerin schreibt sich in das »Gespräch im Gebirg« ein und setzt dieses Gespräch in »Malina« fort. Die Figuren Ich, Malina und Ivan werden als Geschwisterkinder und in diesem Sinne als Überleben'# Vgl. R. Görner, Die Kunst des Absurden, $. 86-99. '# Vgl. KA 4, 30 und 623f. (Kommentar). BUygl. KA 3.1, 376 und Ingeborg Bachmanns Gedicht »Das Spiel ist ausc (WA I, 8af.). „= A, Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. zgf.

178

de gezeichnet. »Malina und ich haben, trotz aller Verschiedenheit, die

gleiche Scheu vor unseren Namen« (KA 3.1, 379). Darin gleichen sie dem Juden Klein, von dem es heißt: »und mit ihm ging sein Name, der unaussprechliche« (Celan 3, 169). In beiden Fällen ist die Distanz zum eigenen Namen Ausdruck einer gestörten / zerstörten Identität." Ivan wird im Roman die Sabbatkerze zur Seite gestellt, von der am Ende des Romans berichtet wird: »Die Kerze im Leuchter ist niedergebrannt.« (KA 3.1, 687) Dadurch wird an das Herunterbrennen der Kerze erinnert, von dem der Jude Klein sagte, daß er es liebte und daß er seither

nichts mehr geliebt habe. Ivan teilt dem Ich mit: »Ich liebe niemand. Die Kinder selbstverständlich ja, aber sonst niemand.« Die darauffolgenden Sätze des Ich stellen Ivans Äußerung deutlich in den Kontext des »Gesprächs im Gebirg« — verfolgt man die in ihnen angelegten intertextuellen Spuren: »JUBILATE. Über einem Abgrund hängend, fällt es mir dennoch ein, wie es anfangen solite: EXSULTATE.« (KA 3.1, 339) Das Ich hängt nach dieser Äußerung Ivans über einem Abgrund, ebenso wie der Jude Klein im »Gespräch« »den Himmel als Abgrund unter sich« (Celan 3, 195) hat, da er, so Celan im »Meridian«, wie Lenz durchs

Gebirge geht, und d.h. er geht auf dem Kopf. Der Himmel / Abgrund, der sich dem Ich auftut, wird durch die Großbuchstaben der Mozart-

schen Motette »Exsultate, jubilate« umrissen, die Celan in seinem Gedicht »Anabasis« zitiert. Mozarts Werk wird in »Malina in Verbindung gebracht mit dem schönen Buch, das das Ich für Ivan schreiben will. Wie im »Gespräch im Gebirg« erscheinen die schöne Kunst und die Liebe dem Ich hier als Untergegangenes, als ein Abgrund, der sich in der Zeit des Faschismus aufgetan hat. In diesem Kontext wird Ivans Äußerung, er liebe sniemanden« außer den »Kindern«, selbst abgründig. Was sich zunächst nur auf die beiden Kinder Ivans, die schon im Personenverzeichnis des Romans eingeführt werden, zu beziehen scheint,

läßt sich jetzt auch als Liebe zu den toten (Geschwister-)Kindern lesen.””* Hinter der Anrede sniemand« verbarg sich schon im »Gespräch« das tote Gegenüber. So sind die Figuren in »Malina« durch die intertextuellen Bezüge zum Werk Paul Celans als Überlebende gezeichnet. Diese Deutung wird noch dadurch gestützt, daß im Roman von den verschiedenen To"Vgl. J. E. Jackson, Die Du-Anrede bei Paul Celan, S. 63. '% Diese Thematik hat Ingeborg Bachmann schon in der Figur des Juden Goldmann in den Entwürfen zum »Requiem für Fanny Goldmann« aufgenommen: »sie dachte an Goldmann, der auch nichts mehr lieben konnte, der eines Tags aufgehört hatte, Fanny zu lieben, um sich den Toten zuzuwenden« (KA ı, 332), vgl. auch KA ı, 298ff.

179

desarten der Protagonisten die Rede ist. Im Kapitel »Der dritte Mann« erleidet das Ich mehrere Tode. Aber auch von Malinas und Ivans Todesarten wird berichtet, wie bereits herausgearbeitet werden konnte. Dieser Sachverhalt ist in der Forschung bislang übersehen worden. Er

wird jedoch besonders dadurch herausgestellt, daß sowohl Ivan als auch Malina mit dem Fremden der »Kagran«-Erzählung assoziiert werden. Im Umgang mit der eigenen Zerstörung gehen Malina / Ivan und das Ich jedoch andere Wege. Während Malina und Ivan auf je unterschiedliche Weise das Überleben durch Anpassung an das Bestehende praktizieren, verweigert das Ich das Überleben, hält an einem emphatischen Begriff von Leben fest, beschreitet darin aber einen Weg der Selbstzerstörung. »Sie geht aus dem Nicht-Leben, nicht aus dem Leben« (D 570), schreibt Christa Wolf zur Günderrode und hat damit Worte gefunden, die auch den Tod des weiblichen Ich in »Malina« treffen. Ingeborg Bachmann und Paul Celan ist gemeinsam, daß sich beide bei der Bestimmung ihrer literarischen Herkunft auf die Frühromantik, im besonderen auf Novalis beziehen. Die frühromantischen Motive erscheinen jedoch in einer Doppelung: Sie werden sowohl als Utopien einer untergegangenen Welt aufgerufen, als sie auch auf das Hier und

Jetzt angewandt werden. Angesichts einer Wirklichkeit, die sich als vollkommene Negation dieser untergegangenen Welt darstellt, destruieren sich jene Motive selbst. In diesem Vorgang denunzieren sie aber zugleich die Wirklichkeit als eine solche, in der ihre Anwendung absurd wird. Als historische Zäsur, die jede ungebrochene Aktualisierung der Frühromantik unmöglich macht, wird in »Malina« der Holocaust benannt. Ingeborg Bachmann nimmt diese geschichtliche Verortung der Frühromantik in ihrem Roman

dadurch vor, daß jene Motive, die ihre

Verwandtschaft zu dieser Epoche bekunden, in einer Doppelung erscheinen.” Das in der 'Traumfortsetzung der »Kagran«-Erzählung explizit vollzogene Verfahren einer Gegeneinanderführung von blauer Blume (Paulownia) und roter Blume (Türkenbund) läßt sich schon in der Legende selbst verfolgen und kann auf den »Malina--Roman im ganzen ausgeweitet werden. Die Paulownia erinnert an die erste Begegnung des Ich mit dem Fremden in Wien und läßt durch das Motiv des Stadtparks die Assoziation mit einer »Märchenzeit« zu, während der Türkenbund auf die Traumgegenwart bezogen ist, auf das Wiedersehen ’# Das Verfahren der Doppelung in bezug auf die Topographie des »Todesarten«-Projekts hat Jürgen Wertheimer (»Ich bin eine Papua«) herausgearbeitet. 180

der beiden im Lager, in dem sie auf den Transport in ein Vernichtungs-

lager warten. Die blaue Blume und die mit ihr kontextualisierten Utopien sind im Roman nur im Modus der Erinnerung an eine Märchenzeit gegenwärtig. Sie gehören einer alten Form der Kunst an. Der Türkenbund hingegen ist an die Traumzeit /Zeute gebunden, die auch diejenige der Romangegenwart ist. Durch die Topographie der Traumfortsetzung der »Kagran«-Erzählung — das Lager -, ebenso wie durch die mit dem Türkenbund assoziierte Poetologie, diejenige des Celanschen »Gesprächs im Gebirg«, wird dieses Feste mit der NS-Zeit zusammengeschlossen. Im weiteren führt Ingeborg Bachmann dieses kontrastive Verfahren in der 'Traumfortsetzung anhand der metonymischen Verschiebung des Wortes »siderisch« in »sibirisch« vor Augen. Dieses Wort, dessen utopischer Gehalt die Ich-Erzählerin zuvor in ihren »Ein Tag wird kommen«-Fragmenten deutlich herausgestellt hatte, kehrt im Traum in der Bezeichnung »sibirische[r] Judenmantel« wieder und verwandelt sich noch einmal in den »schwärzer als schwarzen siderischen Mantel« (KA 3.1, 521£.) des Fremden. Da in diesem Traum zudem noch ein Kind erwähnt wird, kann angenommen werden, daß hier auf den siderischen Menschen, das Kind Heinrichs und Mathildens, Bezug ge-

nommen wird. Dadurch, daß das Adjektiv ssiderisch« von dem Kind abgetrennt ist und dieses »in einer Ecke« (KA 3.1, 523) liegt, so wie die

Kerze im »Gespräch« »links im Winkel« (Celan 3, 172) stand, wird hier die Zerstörung dieses Symbols zu Bewußtsein gebracht. Drastisch gesagt, wartet in dieser Szene Novalis’ Utopie des siderischen Kindes, das

im ‚Heinrich von Ofterdingen« als Vorbote einer neuen Welt galt, mit den anderen Geschwisterkindern auf ihren Abtransport in ein Vernichtungslager. In den ’Iräumen des Ich ist das Trauma des Nationalsozialismus — die Gaskammer,

das KZ,

die Bücherverbrennung

wart.'”° Das Heute der Erzählgegenwart

des Romans

— Gegen-

ist der Postfa-

schismus, das Fortbestehen des Faschismus »in Beziehungen zwischen

Menschen«, »zwischen einem Mann und einer Frau« (Gul 144). In der Kollision von blauer und roter Blume, von »siderisch« und »sibirisch«,

Frühromantik und NS-Zeit nimmt Ingeborg Bachmann eine historische Verortung ihrer eigenen Produktion vor, und es gelingt ihr zugleich, in diesem Zusammenprall das Ausmaß der Zerstörung sichtbar 's Zur Thematik des Nationalsozialismus im ‚Todesarter«-Projekt siehe die Arbeiten von Irene Heidelberger-Leonard (Ingeborg Bachmann und Jean Amery; Ingeborg Bachmanns »Todesartenc-Zyklus und das Thema Auschwitz) und Holger Gehle (NS-Zeit und die literarische Gegenwart bei Ingeborg Bachmann; Die NS-Verbrechen und das Erzählproblem). 181

zu machen,

das die Zäsur

des Holocaust

bedeutet.

Eine Zerstörung,

von der auch die Sprache nicht ausgenommen ist. Novalis’ Utopien fungieren im »Todesarten«-Projekt als Kontrastmittel, auf deren Hintergrund sich die Gewaltstrukturen des Patriarchats in aller Schärfe abzeichnen. In einer Gesellschaft, die als der allergrößte Mordschauplatz beschrieben wird, ist das frühromantische Denken ein vollkommen unzeitgemäßes, es wird als eine Form des Denkens gefaßt, das zum Sterben führt. Das Gegeneinanderführen von Motiven, die einer alten Form der Kunst angehören, nämlich der schönen, mit jener absurden Form, die diese Motive annehmen, wenn sie im Kontext des

Faschismus auf die moderne Wirklichkeit angewandt werden, eröffnet einen Freiraum, in dem

sich Dichtung

nach Auschwitz

konstituieren

kann. In seinen Gedichten ‚Wer sein Herz (KA ı, 174.) Diese dialektische Figur, derzufolge der erste Tod durch den zweiten, selbstgemachten Tod in der Kunst überwunden werden kann, ruft das

Motiv des Sündenfalles auf. Schon Novalis sah in der Doppelung bzw. Wiederholung - einem »zten, höheren Sündenfallk« (HKA II, 321), ei-

nem zweiten Apfelbiß — die Möglichkeit zur Rückkehr ins Paradies. »Adam

und

Eva.

Was

durch

eine Revolution

bewürkt

wurde,

muß

durch eine Revolution aufgehoben werden. / Apfelbiß« (HKA II, 275). Heinrich von Kleist hat diese Gedankenfigur in seinem Text »Über das Marionettentheater« wiederaufgenommen: »Mithin [...] müßten wir wieder

von

dem

Baum

der Erkenntnis

essen, um

in den

Stand

der

Unschuld zurückzufallen?«’“ Ingeborg Bachmann bezieht sich in ihrer Argumentation auf diese Tradition des Denkens, jedoch nimmt ihre

Dialektik eine Wendung

zum Absurden.'” Der Sündenfall ist nicht

mehr der frühromantische der Reflexion bzw. Erkenntnis, sondern die gesellschaftliche Vernichtung des Selbst, der »erste Todk, für den in der

Folge im Todesarten«-Projekt die Mordmetapher stehen wird. Der zweite Apfelbiß wird in diesem Kontext zum Selbstmord. Auch kann nicht mehr von einer Rückkehr ins Paradies gesprochen werden, sondern der Weg des Denkens richtet sich auf die Rückkehr zu den / der Toten. Diese Gedankenfigur der Doppelung wiederholt sich in Bachmanns ‚Todesarten< noch einmal in bezug auf die geschlechtsspezifische Gewalt, die in diesen Texten zur Darstellung kommt. Durch die neue Kritische Ausgabe wird ersichtlich, daß die Vergewaltigungs-Thematik von

»Zeit

für

Gomorrha,

über

»Das

Buch

Franza,

den

»Gold-

mann/Rottwitze-Roman bis zu »Malina die Texte durchzieht. Vergleichbar dem ersten und zweiten 'Tod wird auch hier in zum Teil eschatologischer Metaphorik die zweite Vergewaltigung als Moment der Erkenntnis bzw. der Veränderung des Selbst stilisiert. Ist Franza in ihrer Jugend in eine Liebessprache sozialisiert, in der ihr »Besetzen« und '“ H. von Kleist, Werke in einem Band, S. 807. Wie aus einem Brief an seine Schwester

Ulrike aus dem Jahre 1808 hervorgeht, plante Kleist eine Gesamtausgabe der Schriften Hardenbergs, vgl. H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 19.

'%* Kurt Bartsch hat im Blick auf Ingeborg Bachmanns Büchnerpreisrede den Begriff des Grotesken ins Spiel gebracht (Ein Ort für Zufälle). 184

»Vergewaltigen« zu »ersehnten Idolen« (KA 2, 176) werden, so wird die Vergewaltigung an der Pyramide in Gizeh, die zu ihrem Tod führt, als »Wiederholung«, als »Stellvertretung« (KA 2, 322) ihrer Vergewaltigung in der Ehe mit Jordan erfahren, durch die sie zur Erkenntnis der tatsächlichen Sachverhalte kommt: »Er muß ja krank sein, ich bin nur

davon krank geworden.« (KA 2, 321) Durch diese Doppelung findet sie ihre »andre Stimme: Nein. Nein.« (KA 2, 323) Fast noch prägnanter sind die eschatologischen Züge in den Szenen mit dem Somalistudent und Abdu im »Goldmann/Rottwitz75. Weigel, Vom Sehen zur Seherin, S. ı7ı1, 183. Diesem Tenor schließen sich auch

Irene Heidelberger-Leonard (Literatur über Frauen = Frauenliteratur?) und Mechthild Quernheim (Das moralische Ich, 5. 4-18) an. Sabine Eickenrodt hat hingegen überzeugend den Zusammenhang von Essay und Prosa im Werk Christa Wolfs herausgearbeitet und auf diesem Wege auch der Kritik an »Kassandra« den Boden entzogen, vgl. Ein lebendiges Kunstwerk?

249

braucht sie, ihre ästhetische Kategorie des Texts als Gewebe aufnehmend, das Bild des »Weiterstrickens« den Text »um einen weiteren Kno-

ten und eine weitere Masche erweitern. Das ist wirklich eine Art Zusammenarbeit, und das finde ich viel anregender als dieses Beurteiltwerden.« Gefordert wird eine »Kongenialität« (D goıf.) von Kritiker und Autor. Mit der Kategorie des »Gewebes — das übrigens, falls ich eine Poetik hätte, als ästhetisches Gebilde in ihrem Zentrum stünde —« (V 7) ist im weiteren ein Faden geknüpft zur Ästhetik Ingeborg Bachmanns. Auch sie verweist auf die Gewebestruktur ihrer Texte: »So eine Geschichte ist ja ein Gewebe.« (Gul 114) Seit der Frühromantik gilt: »Die Fabel fängt zu spinnen an.« (HKA I, 318)” Das Aufzeigen einiger Maschen und Knoten dieses intertextuellen »Netzwerks« (D 72), das sich im Grenzgang zwischen Frühromantik und Moderne gebildet hat,

ist Ziel dieser Untersuchung. »Erzähltechniken« transportieren »in ihrer jeweiligen Geschlossenheit oder Offenheit auch Denk-Muster« (V 120). Das Denk-Muster, das durch die offene Form des frühromantischen Romans tradiert wird, ist eines, in dessen

ideellem Zentrum

der Begriff »Lebenskunst«

zu finden

ist. Und es ist kein Zufall, daß auch Christa Wolfs »Ästhetik des Wi-

derstandes« (V 94) auf das Leben im emphatischen Sinn fokussiert ist. »Zwischen Töten und Sterben ist ein Drittes: Leben.« (K 134)” Wider-

ständig ist ihre Ästhetik gegen jedes Regelwerk, das »die lebendige Erfahrung ungezählter Subjekte« (V 8) ertötet, das erfunden wurde, um »sich

Wirklichkeit

vom

Leib

zu

halten,

sich

vor

ihr

zu

schützen«

(V 150). Das »Gewebe der Literatur« (D 73) bildet in seiner formalen,

komplexitätsfähigen

Struktur einen Gegenentwurf zum

abendländi-

schen »Weg der Sonderung, der Analyse, des Verzichts auf die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zugunsten des Dualismus, des Monismus, zugunsten der Geschlossenheit von Weltbildern und Systemen; des Verzichts auf Subjektivität zugunsten gesicherter »Objektivität«.« (V 139) Positiv gewendet,

sind

Christa Wolfs

Texte

an der »Verklammerung

zwischen Leben und Stoff« (V 8) interessiert, durch die eine Erkenntnisform Ausdruck wird, die mit den Wendungen »denkend fühlen und fühlend denken« (D 35) und »Geist im Leben, Leben im Geist« (K 122) eine literarische Überschreitung des erkenntnistheoretischen Dualismus 9 Joseph Pischel hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Kategorie des Gewebes auch im Werk Anna Seghers’ zu finden ist (Gewebe von Gesittung - Gewebe des Erzählens, $. 390). #9 Siehe auch: »Ein Leben, das sich nicht auf Überleben reduzieren ließe; zu dem Schrei-

ben, Reden gehören.« (D 691)

250

anstrebt. Dieser Form der Erkenntnis wird zugetraut, den Fehlentwicklungen einer Dialektik

der Aufklärung

entgegenzuwirken,

die durch

einseitigen Rationalismus bis zu der »ungeheuren Kriegsgefahr« geführt hat, »in der wir uns [heute] befinden.« (D 906) Ein Aspekt dieser Lebenskunst

ist auch

die besondere

Aufmerksamkeit,

die Wolf dem

Alltäglichen in seiner Verschränkung mit den Fragen nach der moralischen Existenz des Menschen und der Weltpolitik widmet. Diese »Poetik des Alltags«'” ist prägendes Stilmerkmal der Erzählungen »Juninachmittag«,

»Störfalk

des täglichen Lebens«

und

»Sommerstück«,

(HKA IV,

die Novalis’

»Philosophie

255) fortschreiben. Der literarische

Text wird damit zu einem Ort, an dem Individualität sich ohne Defor-

mation produktions- und rezeptionsästhetisch hervorbringen kann, orientiert an der Vision des »Dritten«, des »lächelnd Lebendigen, das imstande

ist, sich immer wieder aus sich selbst hervorzubringen,

das

Ungetrennte, Geist im Leben, Leben im Geist.« (K ızıf.) Vom »Gewebe der Literatur« heißt es: Es scheint mir doch dasjenige Netz zu sein, das sich dem alltäglichen Netz menschlicher Beziehungen am dichtesten anschmiegt und das, vor allem, nicht versucht, den Erscheinungen, die es nachzeichnet und miteinander verknüpft, Gewalt anzutun. (D 73£.) Anhand

dieser

zwei

Momente:

einer

Individualität,

die

Gefühl

und

Gedanke, geschärfte Ratio und gesteigerte Empfindungsfähigkeit verbindet, und einer Ästhetik, die den Prozeß der Selbstkonstitution an den Akt des Schreibens bindet, läßt sich noch einmal Wolfs Assoziation

zu den »Todesarten« aufgreifen, mit der dieses Kapitel begonnen wurde, denn diese Momente korrespondieren dem Doppelwesen Malina/Ich und dem Ansatz einer imaginären Autobiographie: am genausten, so daß Christa Wolfs Verortung des Bachmannschen Todesarten«-Projekts im Gesprächsraum der Frühromantik plausibel erscheint.

5.

Zusammenfassung

Christa Wolf hat mit besonderer Deutlichkeit herausgestellt, welches Interesse eine Autorin des zwanzigsten Jahrhunderts an die Frühromantik bindet. Den radikalen Anspruch »als ganzer Mensch zu leben, von allen Sinnen und Fähigkeiten Gebrauch machen zu können« (D 207), sieht sie vor allem von Frauen formuliert. So äußert die Gün’=° Siehe hierzu K. von Ankum, Christa Wolfs Poetik des Alltags.

derrode in »Kein Ort. Nirgends« »Wir sind auf den ganzen Menschen aus und können ihn nicht finden.« (KON 94) In ihren Texten begibt sich Wolf auf die Suche nach diesem ganzen Menschen, und dieser Weg führt sie seit Mitte der sechziger Jahre zum Projektionsraum der Jenenser Romantik. Besonderes Merkmal ihrer Art und Weise der Aktualisierung der Frühromantik ist, daß sie ihrem Werk eine weibliche Genealogie des Romantisierens eingeschrieben hat, indem Anna Seghers und Ingeborg Bachmann zu Gesprächspartnerinnen und Mitreisenden

auf der Suche nach dem wirklichen Blau werden. Die auch heute noch gültige Relevanz

dieser

Epoche

verdankt

sich der erkenntnis-

und

handlungstheoretischen Konzeption des sich selbst schreibenden Ich und dem Ethos, das dieser Entwurf mit sich führt. Die Frühromantik

hat eine Form von Ichheit philosophisch und literarisch erarbeitet, die das Ich nicht auf die Reflexion reduziert, sondern ausgehend von der Wechselwirkung von Selbstgefühl und Selbstgedanke eine Individuali-

tät erfaßt, die sich in fließenden Übergängen mit dem Anderen, dem Fremden, der Natur in einer ästhetischen Beziehung gewaltfrei vermittelt und in diesem Grenzgang zugleich die Überschreitung der binären

Geschlechteropposition antizipiert. Hierin gründet die Attraktivität dieses Modells für Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Protagonistinnen der Werke Ingeborg Bachmanns und Christa Wolfs ge-

hören dem Geschlecht derer von Ofterdingen an, indem sie gegenüber gesellschaftlichen Machtstrukturen, die Arten des Krankmachens mit letztlich letalen Folgen, eben Todesarten generieren, an dieser Form

etho-poetischer Selbstkonstruktion als einzig lebbarer Möglichkeit, in der Welt zu sein, festhalten. Die Vision vom ganzen Menschen, der sich

nicht vampirhaft Welt einverleibt, sondern sich in Auflösung der eigenen Grenzen dem Anderen liebend zuwendet, wird in ihrer Prosa vornehmlich von der weiblichen Stimme getragen. Damit haben beide Autorinnen

sehr konsequent literarisch und theoretisch das ethische

Potential des frühromantischen Entwurfs des Ich ausgeschöpft, das sich in Bachmanns und Wolfs Werk in den Gedankenfiguren des Ordo inversus,

der Geschwisterliebe,

des Androgynen

und

der Liebesutopie

tradiert. Wobei bei Ingeborg Bachmann mit dem Malina-Ich-Doppel in seiner Analogie zu Novalis’ Ordo inversus-Struktur noch einmal die erkenntnistheoretische Dimension

aufscheint, während

diese im Werk

Christa Wolfs fast gänzlich fehlt und sich ihre Fassung des empirischautobiographischen Ich dem psychoanalytischen Modell zuwendet, das

seinen Ausdruck in der melancholischen Struktur des offenen Kunstwerks findet. Im weiteren konnte das Genre des transzendentalen Bil252

dungsromans

als geeignetes

darstellerisches

Konstruktion

des Selbst ausgewiesen werden,

Medium

der poetischen

das in Bachmanns

»To-

desarten-Projekt und Wolfs Konzeption des offenen Kunstwerks in je eigener Form Aufnahme gefunden hat. Exemplarisch für die gedankliche Innovativkraft der Frühromantik wurde dieser etho-poetische Denkstil am Werk Friedrich von Hardenbergs veranschaulicht, das seine intertextuellen Spuren in den Texten Bachmanns und Wolfs hinterlassen hat, die in den vorangehenden Kapiteln zur Verhandlung standen. Die auffälligsten Chiffren dieses Grenzgangs zwischen Frühromantik und Moderne sind wohl die im Gespräch zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan als Schibboleth fungierende b/aue Blume und

das im literarischen Dialog zwischen Christa Wolf und Anna Seghers als Losungswort ausgewiesene wirkliche Blau. Die in Novalis’ Diktum der Lebenskunst zusammengezogene Verbindung von Ethik und Ästhetik lebt in Musils »moralischer Phantasie, in Bachmanns »moralischem An-

trieb vor aller Moral« und in Wolfs Fragestellung nach der moralischen Existenz des Menschen: weiter, die Gewissen und Phantasie als dasje-

nige benennt, was für den Fortbestand der Menschheit notwendig ist.

Im folgenden wollen wir uns einem Autor zuwenden, der in seinem Spätwerk eine Ästhetik bzw. Ethik der Existenz entworfen hat, in deren Zentrum der Begriff der Lebenskunst steht. Michel Foucault ist in

der deutschen Dinge: und der daß mit seinem jekts: und ‚Tod Jahren

Diskussion vornehmlich als Autor der Ordnung der »Archäologie des Wissens« wahrgenommen worden, so Denken zunächst einmal Stichworte wie Tod des Subdes Autors: assoziiert werden. Erst in den neunziger

ist durch

die Arbeiten

von

Gilles Deleuze,

Wilhelm

Schmid,

Hans Herbert Kögler und Francisco Ortega auch der späte Foucault in

den Blickpunkt des Interesses gerückt. Keine Beachtung hat jedoch bislang die Tatsache gefunden, daß Foucault in den Anfängen seines Denkens sich programmatisch der deutschen Frühromantik zuwendet und in diesem Kontext erste Ansätze zu einem Begriff von Individualität entwickelt, der im Spätwerk im Projekt einer Ästhetik der Existenz zum Tragen kommt. Im folgenden Kapitel werden wenig bekannte, zum Teil noch nicht übersetzte Texte Foucaults im Vordergrund stehen. So z.B. die erst 1992 ins Deutsche übersetzte Einleitung zu Ludwig Binswangers Essay ’Iraum und Existenz (1954), in der Foucault eine »Anthropologie der Einbildungskraft« entwirft, die ihre Begrifflichkeit aus der Frühromantik schöpft. In diesem Text vermerkt er zitierend und kommentierend, daß Novalis mehr als jeder andere« dem ethischen 253

Gehalt des Traumbewußtseins und der Poesie zur Darstellung verholfen habe, indem

ihm beide Formen

der Auffassung der menschlichen

Existenz zu Garanten der Freiheit des Individuums werden. Dieser frühe Text ragt scheinbar monolithisch im Werk Foucaults heraus, da seine Fragestellung und Begrifflichkeit erst wieder im Spätwerk in dieser expliziten Form Anwendung findet. Es läßt sich jedoch zeigen, daß die in diesem Text erarbeiteten Einsichten als Stilprinzip des Foucaultschen Denkens fortleben. Unter der Thematik »Vorwortpolitik — die Stile Foucaults« soll das »Ästhetisch-Werden« der Philosophie Foucaults anhand seiner großen Studien der sechziger bis zu denen der achtziger Jahre nachgezeichnet werden. Durch die literarischen Inszenierungen von Autor-, Werk- und Leserfunktion an den Rändern seiner Texte propagiert Foucault in diesem Zeitraum eine Individualität, die sich der Reflexionsphilosophie entzieht und sich so einem frühromantischen Denkstil verwandt weiß. In einem nächsten Schritt wird unter dem Motto Wege des Anders-Denkens« aufgezeigt, daß Foucault sich in den sechziger Jahren auch thematisch nicht gänzlich von seinen frühroman-

tischen Anfängen abwendet, sondern daß sein Verständnis moderner Literatur entscheidend durch diese Epoche geprägt ist. In dem bislang nicht übersetzten Hölderlin-Artikel »Le »non« du pere:« (1962) skizziert er besonders klar das enge Verhältnis von Wahnsinn und Literatur in der Moderne, das dafür verantwortlich zeichnet, daß sich die moderne Literatur in seinem Denken als subversiver Gegendiskurs zu den Humanwissenschaften qualifizieren kann, denen seine archäologische Arbeit zu dieser Zeit gilt. Mit der Rückwendung zu den antiken Existenzkünsten im Kontext von »Sexualität und Wahrheit« hat Foucault in den achtziger Jahren »Wege des Anders-Seins in den Blick genommen, in deren Zentrum der Begriff der Lebenskunst steht. Für diese Arbeit von besonderem Interesse wird der 'Text »L’Ecriture de soi« (1983) sein, in dem der Akt des Schreibens als Form eines ethischen Selbst- und Weltverhältnisses reflektiert wird. Interviewaussagen zufolge hielt Foucault das im Kontext der Antike erarbeitete Modell von Individualität für aktualisierungswürdig, und so ist die aus dieser Tradition stammende Betrachtungsweise des bios als Kunstwerk in seinem Spätwerk zum nucleus des Entwurfs einer modernen Ethik geworden.

Der Blick von der Frühromantik auf das Foucaultsche Denken relativiert die gängige Rede von einer ethisch-ästhetischen Wende und läßt den für sein ganzes Werk prägenden Zusammenhang von etho-poetischer Subjektivität und »Schrift seiner selbst« deutlicher in den Vordergrund treten. Autobiographie, Reise und Rückkehr zu sich selbst sind

254

Stichworte, mit denen er in den achtziger Jahren politisch widerständige

Selbstpraktiken

benennt,

die auch

Kennzeichen

seines

eigenen

Denkens sind. Die Wendung »Rückkehr-zu-sich-selbst-als-einem-anderen« soll im folgenden als Leitfaden gelten, anhand dessen Foucaults Bildungs- und Zeitreise durch die Welt der Diskurse, der Macht und des Selbst von seinen frühromantischen Anfängen bis zur antiken Ethik / Ästhetik der Existenz verfolgt wird. Dabei werden punktuell immer wieder Verwandtschaften zu den bereits verhandelten literarischen Entwürfen der poetischen Konstruktion des Selbst augenscheinlich, die zum einen auf der gemeinsamen Frühromantik- respektive NovalisRezeption gründen, zum anderen Signum eines wahlverwandten Denkstils sind, für den die Affinität zur Frühromantik nur eis» Merkmal ist. So hat Foucault z.B. im Vorwort zu Deleuze/Guattaris »Anti-Ödipus« die Lebenskunst als »Einführung in das nicht-faschistische Leben« bezeichnet. Dies wäre ein markanter Punkt, an dem Ingeborg Bachmanns

»Todesarten«-Projekt und Christa Wolfs literarisches Schaffen mit Foucaults Werk eine gemeinsame Zielrichtung nehmen. Bachmanns literarische Analyse postfaschistischer Gewaltstrukturen in den zwischen-

menschlichen Beziehungen findet ihr handlungstheoretisches Pendant in Foucaults Mikrophysik der Macht, die von den face-to-face Beziehungen aufsteigend die Gesellschaft in den Blick nimmt. Fast gleich-

lautend ist beider Bestimmung des Faschismus als »privates Verhalten«. Als ein weiteres Verbindungsglied kann der sich im konstruktiven Umgang mit der Kategorie Geschlecht ausdrückende Anti-Essentialismus angeführt werden, der sich von der Frühromantik über Autorinnen wie

Bachmann und Wolf bis zu Foucaults Analyse des Sexualitätsdispositivs in »Der Wille zum Wissen« tradiert. Diese beiden Themenkomplexe

»Lebenskunst

als Einführung

in das nicht-faschistische Leben«

‚Konstruktivität des Geschlechts

und

streichen noch einmal heraus, was

bereits anhand der Werke Ingeborg Bachmanns und Christa Wolfs augenscheinlich wurde, daß die Frühromantik in ihren Aktualisierungen im zwanzigsten Jahrhundert mit deutlich realpolitischen Zügen versehen wird. Vor allem Foucaults später Entwurf der modernen Lebenskunst, der durch die archäologisch-genealogische Machtkritik hindurchgegangen

ist, macht auf diesen Sachverhalt aufmerksam,

indem

der Akzent auf den lebensweltlichen Existenzkünsten und ihrem konkret-politischen Widerstandspotential gegenüber den Welten des Diskurses und der Macht liegt.

255

IV.

Antike Ästhetik der Existenz und moderne Lebenskunst: Zum Werdegang des etho-poetischen Subjekts im Denken Michel Foucaults

Vor allem fällt mir auf, daß Kunst in unserer Gesellschaft etwas geworden ist, was nur die Gegenstände, nicht aber die Individuen und das Leben betrifft. [---] Doch warum sollte nicht jeder einzelne aus seinem

(VdF 80)

Leben

ein

Kunstwerk

machen

können?

Michel Foucaults späte Äußerungen zur Ästhetik der Existenz und zur Lebenskunstlehre nehmen im Kontext der Frühromantik fast Zitatcharakter an und dies nicht von ungefähr. Anhand zweier früher Texte

läßt sich die Relevanz dieser Epoche für sein Denken veranschaulichen. In einer seiner ersten Veröffentlichungen aus dem Jahre 1954, der Einleitung zur französischen Ausgabe von Ludwig Binswangers Essay Traum und Existenz legt Foucault eine Kritik der Freudschen Traumdeutung« vor, die vornehmlich von der Position der Frühromantik aus

den 'Traum als Erkenntnisform der radikalen Freiheit des menschlichen Subjekts rehabilitiert. »Mehr als jeder andere war Novalis diesem Gedanken nahe«, im Traum »die ursprüngliche Bewegung der Freiheit und die Geburt der Welt in der Bewegung der Existenz« (TE 47) zu sehen,

so Foucault.

1962 veröffentlicht

er den Hölderlin-Artikel

»Le

»non« du pere, in dem — der Titel zeigt es schon an — Lacan und

Hölderlin zusammen- und gegeneinandergeführt werden. In beiden Texten weist sich Foucault zitierend und kommentierend als Kenner der philosophisch-literarischen Frühromantik aus.’ Foucaults Aktuali-

sierung der Frühromantik steht also im Kontext der Fragmente einer »Archäologie der Psychoanalyse« (WW 156), der zwar keine der großen

Studien gewidmet ist, die aber als Subtext sein Denken von Anfang an begleitet und im ersten Band von »Sexualität und Wahrheit« offen zu'In der Binswanger-Einleitung zitiert Foucault den »Heinrich von Ofterdingen«, »Blüthenstaub«, »Das Allgemeine Brouillon: und die »Freiberger-Studiem: nach der MinorAusgabe, vgl. TE 39, 40, 45, 48 und in der französischen Ausgabe: Introduction, S. 85, 86, 89, gı. Der Hölderlin-Artikel hebt mit einer Würdigung der wissenschaftlichen Leistungen des Hölderlin-Jahrbuchs seit 1946 an und läßt erkennen, daß Fou-

cault gute Kenntnis der Lyrik, der verschiedenen Fassungen des »Hyperion«, der verschiedenen Fassungen des Tod des Empedokles: und des »Grund zum Empedokles besaß, vgl. NP 189-203.

257

tage tritt. Dort wird die Psychoanalyse zum tragenden Pfeiler des im 19. Jahrhundert entstehenden Sexualitätsdispositivs und reiht sich neben Medizin, Pädagogik, Kriminologie und Psychiatrie in das Feld der »Geständnis-Wissenschaften (WW 83) ein, die die Beichtpraktiken der christlichen Pastoralmacht wissenschaftlich ritualisieren.” Das Individuum wird verpflichtet, die Wahrheit seiner selbst in der Sexualität zu suchen, und kann diese doch nur im Sprechen über den Sex gegenüber einem anderen entdecken, der stets »Herr der Wahrheit« (WW 86) im analytischen Diskurs bleibt.’ Sowohl in Lacans Praxis der Psychoanalyse — auf diesen spielt Foucault mit dem Terminus »Herr der Wahrheit«* an — als auch in der theoretischen Verbindung von Gesetz und Begehren, die »im Namen des Vaters« (Nom-du-Pere) gestiftet wird, sind die Spuren der Genese der Psychoanalyse aus dem Christentum lesbar.’ Foucault wirft ein ganz anderes Licht auf den Prozeß der Säkularisierung, der nicht als »Entchristianisierung« verstanden wird, sondern als »der Anfang einer in die Tiefe [des Unbewußten, M.S.] gehenden Christianisierung«.° In der Binswanger-Einleitung spricht er in bezug auf Freuds ‚Traumdeutung« von einer »Thheologie der Bedeu-

tungen« (TE 15). Foucaults Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse kann in dieser Arbeit nur ein Nebenschauplatz sein.’ Im folgenden gilt es jedoch her* Freud selbst bedient sich der christlichen Metaphorik zur Skizzierung der psychotherapeutischen Tätigkeit: »Man wirkt, so gut man kann [...] als Beichthörer, der durch die Fortdauer seiner Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Geständnisse gleichsam Absolution erteilt« (Studien über Hysterie S. 299). * Eine ähnliche Kritik an der Pragmatik der Analysesituation als fixiertem Herrschaftsverhältnis zwischen Patient und Analytiker hat Foucault schon in ‚Wahnsinn und Gesellschaft: formuliert, Freud habe »dem Arzt den quasi göttlichen Status der Allmächtigkeit« verliehen. »Er hat aus dem Arzt den absoluten Blick, das reine und stets verhaltene Schweigen, den strafenden und durch ein Urteil, das nicht einmal bis zur Sprache sich herabläßt, belohnenden Richter gemacht.« (WG 535)

*]. Lacan, Schriften 1, S. 159. ' Vgl.: »Die Koppelung von Gesetz und Begehren scheint ziemlich charakteristisch für das Christentum zu sein.« (GdS 160) Im Anschluß an Foucault spricht auch Judith Butler von »der religiösen Tragödie in Lacans Theorie« (UG 92), in der das väterliche Gesetz den alttestamentarischen Gott restituiert, vgl. auch diesselbe UG 225, KG 38. * M. Foucault, Kursvorlesung vom 19. Februar 1975, zit. nach J. W. Bernauer, Jenseits von Leben und Tod, S. 177. ’ Vgl. J. W. Bernauer, Jenseits von Leben und 'Tod, der Foucaults »anti-freudianische

Politik des Selbst« (S. 172) nachzeichnet; J.-A. Miller, Michel Foucault und die Psychoanalyse, der andeutet, daß sich Foucault »in den letzten Jahren seines Lebens in einer Auseinandersetzung mit Lacan befunden hat.« ($. 71) Millers Äußerung »Foucault zitiert ihn [Lacan] nie« (ebd.) läßt sich revidieren: Lacan wird in der Binswanger-Einleitung erwähnt (TE 20), ist Gegenstand der Auseinandersetzung im Hölderlin-Artikel und wird in »Der Wille zum Wissen, wie oben bemerkt, unausgewiesen zitiert. Vgl. 258

auszustellen,

daß

Foucault

in Novalis’

träumendem®

und

Hölderlins

wahnsinnigem/tragischem Subjekt? einerseits einen Gegenentwurf zur psychoanalytischen Entmündigung des Subjekts, dem »Aomo psychologieus« (PG 131)'° gesehen hat. »Die »Psychologie« ist nur eine dünne Haut über der ethischen Welt, in der der moderne

Mensch

seine Wahrheit

sucht - und verliert.« (PG 114) Andererseits wird das frühromantische Selbst für Foucault zu einer konstruktiven Möglichkeit, das Subjekt/Objekt-Doppel idealistischer Subjektphilosophie zu überschreiten, das in der ‚Ordnung der Dinge in Anlehnung an Kant als »empirischtranszendentale Dublette« (OD 384) bezeichnet wird, mit Blick auf Hegel als »Subjekt Herr und Diener Objekt«, als » Homo dialecticus« (SzL ız1) erscheint. Es wird sich zeigen, daß zwischen beiden Argumentationen, gegen die Psychoanalyse und gegen das Subjekt/ObjektDoppel des Idealismus, eine gencalogische Verbindung besteht, indem erstere gerade in ihrer Lacanschen Prägung ein Subjektverständnis tradiert, das an der Dialektik Hegels orientiert ist.'' Demgegenüber entauch DdM 149; CT zıf. und Foucaults »Nachruf auf Lacan: Lacan, le liberateur de la psychanalyse. In: Dits et Ecrits, Bd. 4, 5. 204. Siehe im weiteren: Foucault und die

Psychoanalyse. Hrsg. von M. Marques; J. Rajchman, Truth and Eros; W. Seitter, Das Spektrum der Genealogie, 5. 48-51, 61-83;J. Butler, PL 83-105. ® Wilhelm Schmid ist bislang der einzige, der eine kurze Bemerkung

zu Novalis

in

bezug auf Foucaults Lebenskunstlehre macht, ohne jedoch Foucaults Novalis-Lektüre in der Binswanger-Einleitung zu erwähnen, vgl. Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, 5. 330. Manfred Frank hat auf die Übereinstimmung von Foucault mit dem sprachtheoretischen Reflexionsmodell von Novalis aufmerksam gemacht: Was ist Neostrukturalismus? 5. 161, ıgıf. und Das Sagbare und das Unsagbare, S. 383. ® Vgl.: »Dieses Verhältnis (das nicht moralisierbare zwischen Vernunft und Unvernunft, M.S.] ist in den Werken Hölderlins, Nervals, Roussels und Artauds gegenwärtig und sichtbar, allen Miseren der Psychologie zum Trotz, und verheißt dem Menschen, daß

er eines Tages vielleicht, aller Psychologie ledig, frei sein könnte für die große tragische Begegnung mit dem Wahnsinn.« (PG 115) Rajchman bemerkt: »In literary modernism, Foucault sought a romantic alternative to a culture obsessed with the principle of systematic reason and the idea of a foundational humanism. He found a madness that was not a mental disease and a writing that had fled the representational paradigm of language; the two were interconnected in a transgressive »counter-discourse«« (J. Rajchman, Michel Foucault, 5.6) Zu Hölderlin und Foucault vgl. W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, S. 163-180. '" Vgl.: »T'he psychological subjectivity that the psychoanalysts deal with — we have to be liberated from this kind of subjectivity.« (Foucault Live, S. 298 [Truth is in the Future])

“ Lacan selbst hat in vielen seiner Schriften auf die Anleihen von Hegel aufmerksam gemacht, im Zentrum steht die »Phänomenologie des Geistes«. Im folgenden werde ich punktuell darauf eingehen, für eine umfassendere Auseinandersetzung sei auf die Register der »Schriften« und »Seminare: verwiesen. Zu Lacans Aneignung der Hegelschen Herr-Knecht-Dialektik vgl. J. Butler, Subjects of Desire, $. 186-204 und im weiteren die Arbeiten von Slavoj ZiZek zu Hegel und Lacan: Der erhabenste aller Hysteriker;

Verweilen beim Negativen. 259

wirft Foucault die Konzeption eines etho-poetischen Subjekts — »Ethopoiein heißt Ethos zu machen« (FuS 5o) —, dessen erster Auftritt auf der Gedankenbühne seiner Texte in der Binswanger-Einleitung beobachtet werden kann. Und es ist die deutsche Frühromantik, die ihm hier die wichtigsten Stichworte liefert, indem sowohl Traum und Poesie als rationalitätskritische Erkenntnisformen gewürdigt werden, als auch die Einbildungskraft in ihrer Ethos und Welt bildenden Funktion zur Darstellung kommt. Die in diesem Text eingeführte Begrifflichkeit von radikaler Subjektivität, Existenz, Freiheit, Erfahrung, Stil, Kunstwerk und

Ethik wird in den sechziger und siebziger Jahren weitestgehend von der Oberfläche

der Schriften Foucaults verschwinden,

um

in dieser Kon-

stellation erst wieder im Spätwerk im Kontext der Ästhetik der Existenz aufzutauchen. Foucault hat in späten Äußerungen immer wieder

betont, daß sein ganzes Werk eine »Geschichte der »Subjektivität««'” sei, der Versuch, »eine Genealogie des modernen Subjekts als einer historischen und kulturellen Realität« zu schreiben, »d.h. als etwas, was sich eventuell ändern kann (was natürlich politisch wichtig sein kann).« (VAR 34f.)” Die Einleitung zu Traum und Existenz« läßt diese Aussagen in einem neuen Licht erscheinen, indem nun Foucaults späte Thematisierung des Subjekts als möglicher politischer Widerstandspunkt weniger als ein von vielen konstatierter Bruch in seinem Denken'* denn als eine konstante Verschiebung in seinem Werk beschrieben werden "Vgl.: »Il s’agit en somme de l’histoire de la »subjectivit&, si on entend par ce mot la maniere dont le sujet fait l’exp£rience de lui-m&me dans un jeu de verite oü il a rapport ä soi.« (M. Foucault,

Foucault,

S. 633); »Nicht die Macht,

sondern

das Subjekt ist

deshalb das allgemeine Thema meiner Forschung.« (SM 243); »My problem is the relation of self to self and of telling the truth.«; »At the limit, I would say that power, as an autonomous question, does not interest me.« (CT 32, 39); und FuS 17. » Unter der Genealogie des Subjekts versteht Foucault eine »Geschichtsanalyse [.. .], die die Konstitution des Subjekts im geschichtlichen Zusammenhang zu erklären vermag.« (DdM 32) "Von einem »tadikale[n] Bruch« spricht Fink-Eitel (Foucault zur Einführung, S. 98). Dieser Gestus macht sich auch in zahlreichen Interviews durch die deutliche Irritation der Interviewer angesichts der letzten beiden Bände von »Sexualität und Wahrheit« (vgl. GdS 162) bemerkbar, die dann auch Foucault einige Bemerkungen über seinen Wechsel von den Wissens- und Machtpraktiken zu den Technologien des Selbst entlocken: Er spricht von einem Frontwechsel von einer »Praxis der Herrschaft der Anderen« zu einer »Herrschaft über sich selbst« (GdS 1358), vgl. auch: »Vielleicht habe ich die Bedeutung der Technologien von Macht und Herrschaft allzu stark betont. Mehr und mehr interessiere ich mich für die Interaktion zwischen einem selbst und anderen und für die Technologien individueller Beherrschung, für die Geschichte der Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt, für die Technologien des

Selbst.« (TS 27); »An den vorangegangenen Büchern stört mich, daß ich die beiden ersten Erfahrungen [Wahrheit, Macht] berücksichtigt habe, ohne die dritte [individuelles Verhalten] zu beachten.« (RM 134); vgl. RM 137. 260

kann, das, erst nachdem es den Hauptgefahren der Subjektphilosophie ins Auge geblickt hat, wieder die subjektive Erfahrungsdimension hervortreten läßt. In der französischen (wie auch der englischen) Sprache tritt diese Gefahr direkt in der Doppeldeutigkeit der Begriffe sujet und assujetisserment zu tage, die sowohl Subjekt und Subjektivierung als auch Untertan und Unterwerfung bedeuten." In diesem Sinne sind die Subjektivierungsprozesse der Moderne, in denen das Subjekt als Subjekt/Objekt des Wissens Die Ordnung der Dinge) wie auch als Objekt der Macht (Überwachen und Strafen«) konstituiert wird, Gegenstand der mittleren, archäologisch-genealogischen Phase im Werk Foucaults. Wobei zu bemerken

bleibt, daß er schon in seinen frühen Stu-

dien Wahnsinn und Gesellschaft« und »Die Geburt der KlinikPsychologie und Geisteskrankheir: »[DJer Mensch ist eine psychologisierbare Gattung erst geworden, seit sein Verhältnis zum Wahnsinn eine Psychologie ermöglicht hat«, er ist »Bedingung ihrer Möglichkeit«: »Niemals wird die Psychologie die Wahrheit über den Wahnsinn sagen können, weil im Wahnsinn die Wahrheit der Psychologie beschlossen liegt.« (PG ı13, 114) Auf das intime Verhältnis von Psychose und Psychoanalyse weist Foucault noch in der »Ordnung der Dinge: hin: »Deshalb findet die Psychoanalyse in jenem Wahnsinn par excellence, den die Psychiater Schizophrenie nennen, ihre intimste, aber unüberwindlichste Qual. Denn in jenem Wahnsinn ergeben sich in einer absolut offenbaren und absolut zurückgezogenen Form die Formen der Endlichkeit [. . .j. Infolgedessen »erkennt sich darin« die Psychoanalyse, wenn sie vor die gleichen Psychosen gestellt wird, denen sie jedoch (oder vielmehr aus eben diesem Grund) keinen Zugang abgewinnen kann: als breitete die Psychose in einer grausamen Beleuchtung das aus und gäbe uns in einer nicht allzu fernen, sondern geradezu nahen Weise das, wohin die Analyse langsam schreiten soll.« (OD a49f.) "Vgl, ]. Lacan, Schriften I, S. 124, 155, 159, 168. 356, Deleuze, F. Guattari, Anti-Ödipus, S. 143. Foucault nennt in seinem Vorwort

312

zu

Ödipus gefunden, der »sehenden Auges: (»l’aveuglement d’C@Edipe pourra bientöt s’avancer les yeux ouverts« NP 200) das Gesetz des Vaters verwirft und damit sowohl den Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache wie auch der Geschlechterdifferenz verweigert. Wie

Lacan

am Fall Schreber demonstriert,

gehört Homosexualität bzw.

»Verweiblichung des Subjekts«'”' zu den psychotischen Strukturen, die eine Verwerfung des väterlichen Gesetzes zeitigt. Die frühromantischen ‚unsicheren« Geschlechtsidentitäten, der Rollentausch zwischen Männlichem und Weiblichem, die Geschlechtswechsler und Zwitterwesen, die

bislang Gegenstand der Untersuchung waren, verbinden sich alle in diesem Nein gegenüber dem väterlichen Gesetz,'”’ das das weibliche Ich in Ingeborg Bachmanns »Malina« mit dem Ausspruch »Es ist nicht mein Vater. Es ist mein Mörder«

(KA 3.1, 564) arm deutlichsten

formuliert

hat. Auch Novalis’ Märchen von »Eros und Fabek läßt sich in dieser Hinsicht als Allegorie eines Anti-Ödipus lesen, der in Eros und Fabel gespalten nicht das Gesetz des Vaters, sondern das der Mutter (Herz) verinnerlicht, woraus eine neue fabelhafte Welt des Androgynen (Astralis) entsteht." Nicht übersehen werden sollte, daß in diesem Nein zum Vater auch ein politisch subversives Potential liegt, worauf Foucault mit dem Hinweis deutet, daß der Gegner des Empedokles nicht nur das Gesetz der Sprache, sondern auch das »loi royale de Y’institution« (NP 195) verkörpert. Empedokles’ »Dies ist die Zeit der Könige nicht mehr«'” opponiert den »Lacanschen Gleichsetzungen von Obrigkeit, Vater und (sei’s natürlichem, sei’s gesellschaftlichem) Gesetz«.'”” Gegenüber den Normierungs- und Normalisierungstendenzen der Psychoanalyse’”? lassen sich mit Foucault verschiedene Versionen des Hölderlinschen »Gottes Fehl hilft«" benennen: in bezug auf die Sprache diesem Text als einen der Gegner des »Anti-Ödipus« »Die armseligen Techniker des Wunsches — Psychoanalytiker und Semiologen jedes Zeichens und Symptoms -, die die Vielheit des Wunsches unter das Joch des doppelten Gesetzes der Struktur und des Mangels zwingen möchten.« (DdM z27) Auch Deleuze/Guattari haben sich in ihrem Buch produktiv auf die deutsche Frühromantik berufen, vgl. S. 30 und im weiteren J. Heinz: »Den zo. Jannuar ging Lenz durch’s Gebirge«. 47]. Lacan, Schriften II, $. 98.

‘=; Bernhard Greiner hat ım Blick auf Christa Wolfs Kassandra deren wahnsinnige Rede als Weigerung ‚gegenüber dem Gesetz des Vaters gedeutet, vgl. »Mit der Erzählung geh ich in den Todk, 5. 362-366. ": Siehe hierzu F. A. Kittler, Die Irrwege des Eros und die »absolute Familie«. "" Hölderlin TI, 65. "® [. Forrester, Michel Foucault und die Geschichte der Psychoanalyse, S. 100. "2 Vgl.: »Die Psychoanalyse zeitigt in einigen ihrer Leistungen Wirkungen, die sich in den Rahmen von Kontrolle und Normalisierung einfügen.« (M. Foucault, Mikrophysik der Macht, $. ıı1) "° Hölderlin I, 334.

315

als Fehlen eines despotischen Signifikanten, als Befreiung von durch das väterliche Gesetz normierten Geschlechtsidentitäten, als Absage an souveräne Herrschaftsverhältnisse. Dies wäre allerdings ein Vorgriff auf spätere Formulierungen Foucaults, in denen er Stellungen bezieht, die sich in »Le »non« du pere< allererst andeuten: [E]ndlich muß man die Souveränität des Signifikanten aufheben. (OdD 33) Ich denke, wir müssen uns freimachen von dem mehr oder weniger Freudschen Schema der Verinnerlichung des Gesetzes auf dem Wege über den Sexus.'?’ Es ist ein Diskurs, der im Grunde dem König den Kopf abschlägt, der sich

in jedem Fall des Souveräns entledigt und ihn denunziert. (VLK 24)

Zunächst wird der in der Binswanger-Einleitung und in »Le »non« du pere« praktizierte kritisch-archäologische Blick auf die Psychoanalyse in den "Texten der sechziger Jahre zugunsten einer strategischen Allianz zwischen moderner Literatur und Psychoanalyse zurücktreten, die sich beide in ihrer Überschreitung des humanwissenschaftlichen Bildes des Menschen als Gegendiskurs qualifizieren. Mit Beginn der siebziger Jahre rückt Foucault von der archäologischen Kritik der Humanwissenschaften ab, die sich der Darstellung von Brüchen und Erfahrungsstrukturen der Wissenschaftsgeschichte verschrieben hatte, und wendet sich der Verschränkung von sozialer Praxis und Wissensstrukturen, den sogenannten

Macht/Wissens-Komplexen

zu, die unterschwellig

schon

die Studien »Wahnsinn und Gesellschaft« und »Die Geburt der Klinik« durchzogen,

nun

aber

zum

zentralen

Analysegegenstand

avancieren.

Mit Foucaults genealogischer Wende, die das duale Denken nach dem Schema

Diskurs und Gegendiskurs verabschiedet,

fallen sowohl Lite-

ratur wie auch Psychoanalyse unter das Verdikt der Machtanalysen. Daß die Psychoanalyse im Blick auf das Arzt-Patient-Verhältnis schon im Sinne einer genealogischen Einstellung betrachtet wurde, konnten wir bereits beobachten, neu ist aber, daß Foucault in einer selbstkriti-

schen Wendung auch die moderne Literatur diesem Blick aussetzt. Die »subversive[n]

Helden der Archäologie«"”” verschwinden, fortan gibt es

kein literarisch-künstlerisches Archiv mehr in den Texten. Das ehemalige »Draußen« des Diskurses wird nun im Innern der Macht/WissensKomplexe verortet. Schon in >»Wahnsinn und Gesellschaft« stand das Widerstandspotential der Sprache der Unvernunft auf tönernen Füßen, > M. Foucault, Truth and Subjectivity. Berkeley University, Howison Lecture, 20. Oktober 1980, $. 8, zit. nach}. Lagrange, Lesarten der Psychoanalyse im Foucaultschen Text, 8. 55.

'®R. Bellour, Auf dem Weg zur Fiktion, $. 129.

314

da es sich allenfalls im »Aufblitzen« in Werken moderner Literatur gegen einen allmählich sich verfestigenden Diskurs stellen konnte. Nun wird Foucault die soziale Wirkung von Avantgarde-Literatur gänzlich in Frage stellen, da sich ihre Leserschaft auf den Raum der Universität beschränkt,

so daß

zwischen

moderner

Literatur und

Universität ein

geschlossener Produktions- und Rezeptionskreislauf entsteht. Die Verschränkung der Institution Literatur mit der Institution Universität hat zu einer »Sakralisierung« der Literatur geführt, deren »unantastbares Recht auf Subversion« allein auf der »Selbstbezüglichkeit der Literatur« beruhen soll, so lautet jetzt die Diagnose, die den zentralen Punkt von Foucaults eigenen »Schriften zur Literatur denunziert. In der Folge wird Foucault die systemkonforme Funktion der Literatur herausstreichen: In »Überwachen und Strafen« ist nur noch von »schlechter Literatur« (FL 230f.) die Rede, die Kriminalliteratur produziert ein der Gefängnisdisziplin konformes Bild des Delinquenten, der als das ganz Andere gezeichnet wird, das doch zugleich eine ständige Bedrohung des Alltags darstellt (US 80£., 369ff.). Schließlich wird Sade, dessen Sprache der Sexualität in den sechziger Jahren neben Hölderlins Sprache des Wahnsinns zu den ersten Formen eines Denkens des Draußen gehörte, in »Der Wille zum Wisser« umstandslos als direkte Projektion der Geständnispraktiken der christlichen Pastoralmacht auf die Literatur gelesen (WW 32, VdF 67). Das ehemals der Literatur zugebilligte subversive Potential wandert für Foucault hingegen in solche Texte ab, die die Schwelle zur Literatur nicht erreichen. Die Volkszeitungen werden zur »Gegen-Kriminalberichterstattung« (ÜS 373), da sie es sind, die die gesellschaftlichen Ursachen der Delinquenz analysieren. An den autobiographischen Aufzeichnungen des Elternmörders Paul Riviere, den »Lettres de cachet« und den Memoiren des Hermaphroditen Herculine Barbin

läßt

sich

beobachten,

daß

sich Foucaults

Interesse

auf diese

Form nicht-literarischer »Gebrauchstexte« verlagert. Diese zeugen von »der seltsamen Intensität und einer Art Schönheit« (LM 50), die das Sprechen im Angesicht der Macht erlangt. Als »Novellen« bzw. »befremdende

Gedichte«

bezeichnet

Foucault

diese Texte,

deren

»Intensität«

darin besteht, daß diese »Diskurse [.....] wirklich Leben gekreuzt [haben]; diese Leben sind tatsächlich riskiert und verloren worden in diesen Wörtern.« (LM 44) Die existentielle Dimension des Schreibens hat-

te Foucault schon an Novalis und Hölderlin hervorgehoben, auf die sich ebenfalls beziehen ließe, was Christa Wolf zu den Frühromantike-

tinnen formuliert, »dann schrieben sie - wenn die Wendung erlaubt ist mit ihrem Leben und um ihr Leben« (D sır). Nun ist es die existen315

tielle Dimension der Alltagsschrift, der die Aufmerksamkeit gilt. Die schriftlichen Fragmente des »Lebens der infamen Menschen«, die ihre Spuren in den Internierungs- und Polizeiarchiven hinterlassen haben, erhalten ihre ästhetische Qualität gerade aufgrund der in ihnen gegenwärtigen Verschränkung von Alltäglichem und Politischem. Diese Textgruppe, bei deren Präsentation sich Foucault in die Rolle des Herausgebers zurückzieht, bildet ein Gegen-Archiv zu jenen in »Überwachen und Strafen« und »Der Wille zum Wissen« versammelten Dokumenten einer Experten-Kultur bestehend aus Juristen, Rechtstheoretikern, Gefängnisreformern, Pädagogen, Ärzten, Psychiatern und Psychoanalytikern. Hier sind es die Subjekte selbst, die in ihrer persönlichen Konfrontation mit der Macht zu Wort kommen: der »Delinquent« Riviere, das »Subjekt des Begehrens« Herculine oder wie im Fall der »Lettres de cachetx Personen aus den unteren Volksschichten,

die sich

der Macht des Königs zur Lösung familiärer Konflikte bedienen. Den Mechanismus dieser Bittschriften hat Foucault folgendermaßen skizziert: »Sich zur Sprache bringen, um nicht zur Sprache zu kommen: Subjekt bleiben, ohne irgend jemandem, nicht einmal dem König, die Möglichkeit zu geben, einen zum Objekt zu machen.« (FK 283) Hier zeichnen sich bereits Züge ab, die auf die Ästhetik der Existenz vorausdeuten: Das Sprechen / Schreiben im Raum des Politischen als Selbstpraxis wird in bezug auf die Tätigkeit des Wahrsprechens wieder aufgenommen werden, deren prägendes Merkmal das Sprechen angesichts tyrannischer Macht ist, ein Sprechen, bei dem der Einsatz das Leben ist.” Das Ästhetische — anders als das Literarische, das seinen Ort in einem Draußen des Diskurses fand — wird nun im Innern, an dem

Punkt der Konfrontation zwischen wirklicher Existenz und Macht situiert und deutet damit auf die Einheit von Leben und Kunst voraus.

Diese vornehmlich aus klassischer Zeit stammenden »Gebrauchstexte« zeigen aber auch die Relevanz einer Ästhetik / Ethik des Selbst an, da hier in seinen Anfängen beobachtet werden kann, was dann zum bedrohlichen Merkmal der Moderne wird: der sich zunehmend systematisierende Zugriff der Macht auf die einzelne Existenz, den Alltag, das Privatleben und die Familie. Demgegenüber heißt es: »sich selber zur Sprache bringen, Subjekt bleiben bzw. Subjekt werden, um nicht zum Objekt gemacht zu werden«. Damit wird das Ethos des Einzelnen zum dringlichen Hauptanliegen, dem sich Foucault in den achtziger Jahren '» Vgl.: »Die Situation des Parrhesiasten ist die desjenigen, der sich erhebt, der dem Tyrannen gegenüber das Wort ergreift, wahrspricht und sein Leben riskiert.«

(WAA 31) 316

zuwendet,

wobei

die Funktion

des Ästhetischen

dann

darin bestehen

wird, dem ethischen Selbstverhältnis eine schöne Form zu geben, Ästhetik zur Form des Ethos wird.

3.2.

Das Subjekt und die moderne Macht

Zwei Verschiebungen innerhalb seiner Konzeption der Macht haben es

Foucault erlaubt, jenseits des scheinbar vollständig disziplinierten, sexualisierten und

verwalteten Individuums,

das als Produkt

der Diszi-

plinarmacht aus »Überwachen und Strafen« und als Produkt der BioMacht aus »Der das fähig ist, im schluß an diese mus, der sowohl

Wille zum Wissen« hervorging, ein Selbst zu denken, Angesicht der Macht zu sprechen. Dem sich im AnArbeiten einstellenden Verdacht eines Macht-MonisWahrheit und Wissen auf Macht reduziert, als auch das

Subjekt als möglichen Agent des Widerstands nur als Produkt der Macht wahrnimmt,"’* entzieht sich Foucault, indem er in der Folge zum einen seinen Ansatz klarer handlungstheoretisch akzentuiert, zum anderen Macht als Regierungs- bzw. Führungsverhältnis (Gouvernement) faßt, so daß die Problemstellung in den achtziger Jahren auf Möglichkeiten der »Selbstregierung« (GE 284) und Fragen der Lebensführung ausgeweitet werden konnte. Vielleicht eignet sich ein Begriff wie Führung gerade kraft seines Doppelsinns

gut dazu, das Spezifische an den Machtverhältnissen zu erfassen. »Führung« ist zugleich die Tätigkeit des »Anführens« anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmechanismen) und die Weise des Sich-Verhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten. (SM 255)

[W]enn man also unter Regierungsdenken ein strategisches Feld von beweglichen, transformierbaren und umkehrbaren Machtbeziehungen versteht,

dann kommt ein solcher Begriff und die Reflexion über den Begriff des Regierungsdenkens weder theoretisch noch praktisch um das Element eines Subjekts herum, das durch den Selbstbezug zu sich definiert wäre. (FuS 54)

Seine »Mikrophysik der Macht: ist keine allgemeine Theorie der Macht, die als »mysteriöse Substanz« (SM 251) gefaßt würde, sondern eine '# Die dezidierteste Kritik hat Jürgen Habermas geübt, der argumentiert, Foucault habe der Macht jenen Subjektstatus zugebilligt, den die Subjektphilosophie dem Menschen eingeräumt hatte: »Wie einst bei Bergson, Dilthey und Simmel »Leben« zum transzendentalen Grundbegriff einer Philosophie erhoben worden ist, [...] so erhebt nun Foucault »Macht« zum transzendental-historistischen Grundbegriff« (Der philosophische Diskurs der Moderne, $. 298). Von einem handlungstheoretischen Ansatz aus kritisiert Axel Honneth, daß Foucaults Machttheorie politischen Widerstand denkunmöglich macht, vgl. A. Honneth, Kritik der Macht, S. 169-225. Siehe hierzu im wei-

teren H. H. Kögler, Die Macht des Dialogs; H. H. Kögler, Michel Foucault, $. 107117.

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Analyse historisch-konkreter Machtformationen, die ihren Akzent auf die Frage des Wie und nicht auf das Was und Warum legt. Obwohl dies in »Der Wille zum Wissen« in der Definition der Macht als »Kraftverhältnisse« (WW 118) schon angelegt ist, wird Foucault ab 1976 den handlungstheoretisch-relationalen Aspekt seiner Analytik deutlicher herausstellen. Dort spricht er von einer »Wechselwirkung von Macht und Wissen«

(WW

124), und dieser Terminus,

dessen handlungstheo-

retische Konnotierung schon bei Fichte und Novalis beobachtet werden konnte, trifft auch Foucaults Machtkonzeption,

ist diese doch ein

»Ensemble von Handlungen, die sich gegenseitig hervorrufen und beantworten« (SM 252). Macht wird als eine soziale Beziehung gefaßt, die sich nur in actu als ein Handeln vollzieht, das auf ein anderes Handeln

einwirkt. In Abgrenzung zur Gewalt, die auf den Körper und letztlich auf dessen Destruktion

zielt, beruht Macht auf der Anerkennung

des

anderen als Handlungssubjekt: Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, eine Handlungsweise, die nicht direkt und unmittelbar auf die anderen einwirkt, sondern eben auf deren Handeln. Handeln auf ein Handeln, [. . .] so daß der sandere< (auf den

es einwirkt) als Subjekt des Handelns bis zuletzt anerkannt und erhalten bleibt und sich vor dem Machtverhältnis ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen, Wirkungen, Erfindungen eröffnet. [...] Macht wird nur auf »freie Subjekte« ausgeübt und nur sofern diese »freic sind.

(SM 254, 255) Das agonale Verhältnis von Macht und Freiheit ist eines wechselseitiger Bedingung und ständiger Provokation: »Machtbeziehungen als strategische Spiele zwischen Freiheiten« (FuS 26). Widerstand läßt sich in dieser Konzeption in der prinzipiell gegebenen Möglichkeit der Umkehrung von Machtverhältnissen, der Möglichkeit des Rollentauschs verorten,'” Freiheit wird als Wahl zwischen Handlungsmöglichkeiten gedacht. Sind die Machtverhältnisse in festen Strukturen erstarrt, so daß die Möglichkeit der Umkehrung und das Moment der Wahl auf ein Minimum reduziert ist, so spricht Foucault von Herrschaftszuständen (FuS ıı, 20, 26; DdM

zı1). Mit der Differenzierung zwischen Macht-

verhältnissen und Herrschaftszuständen wird zugleich ein negativer Freiheitsbegriff als Befreiung von Herrschaft und eine positive Freiheitspraxis als Wahlfreiheit unterschieden. Dieses dezisionistische Frei'# Vgl: »Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand.« (WW 116); »So resistance comes first, and resistance remains superior to the forces of the process; power relations are obliged to change with the resistance. So I think that resistance is the main word, Zhe key word, in this dynamic.« (SPP 386); vgl. auch DdM 196, FuS$ 19.

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heits-Modell wird in der Folge im Kontext der Ästhetik der Existenz ausgearbeitet, indem die persönliche Wahl - des relevanten Wissens und der Praktiken, die es ermöglichen, dem Leben eine schöne Form zu geben -, den Lebensstil bestimmt. Beide Verschiebungen innerhalb seiner Konzeption der Macht (Macht als eine Form sozialer Beziehungen unter anderen und Macht als Regierung bzw. Führung) lassen sich auf Foucaults Auseinandersetzung mit der deutschen Tradition zurück führen. Von Habermas entlehnt er die Unterscheidung zwischen Produk-

tionstechniken, die auf Dinge gerichtet sind, Kommunikationstechniken als Technik zur Verwendung von Zeichen und schließlich Regie-

rungstechniken, die auf die Bestimmung des Verhaltens von Individuen oder Gruppen zielen.” In Annäherung an Max Weber führt er im weiteren einen vierten Typus ein, die Technologien des Selbst bzw. der Lebensführung: Techniken, die es Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer

eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, daß sie sich selber transformieren, sich selber modifizieren und einen bestimmten Zustand von Vollkommenheit, Glück, Reinheit, übernatürlicher Kraft erlangen. (VdF 3 5f.)

Foucaults Interesse gilt in den siebziger Jahren der Verschränkung der Technologien der Produktion, der Kommunikation und der Regierung,

in dem, was in »Überwachen und Strafen« »Disziplin«, in »Der Wille zum Wissen »Dispositiv« heißt.'’”” Ex negativo stehen schon hier die Technologien des Selbst zur Disposition, zeigt doch Foucault in seiner Analyse moderner Machtmechanismen, daß diese Formen von Selbstver-

hältnissen produzieren, die heteronom bestimmt sind: das Subjekt als »Disziplinarindividuum« (ÜS 241) und »Geständnistier« (WW 77). Da

die späte Ästhetik der Existenz Punkt für Punkt als Gegenentwurf zu # In »Das Subjekt und die Macht« definiert er Regieren bzw. Führen als eine Verhaltensweise, »das Feld eventuellen Handelns der anderen zu strukturieren.« (SM 255) Zur Differenzierung

der drei Technologien

vgl. SM a5ıf., TS 26, VdF 35, M. Foucault,

Foucault Live, S. 416 [Problematics]. #7 Foucault stellt nun seinen Askese-Begriff explizit in die Webersche Tradition (FuS 10; TS 25, 168), während er sich in »Der Wille zum Wissen« noch von Weber abgegrenzt hat (WW 147, 168f.). Siehe im weiteren VdF ıı8£., WA 35, CT 25ff. Foucaults ÄuBerungen zu Max Weber beziehen sich wohl vornehmlich auf dessen Analyse der asketischen Lebensführung des Protestantismus (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus). Wilhelm Hennis hat die Problematik der Lebensführung zur zentralen Fragestellung des Weberschen Werkes erklärt, vgl. Max Webers Fragestellung. Zu Foucault und Max Weber vgl. F. Ortega, Michel Foucault, S. 129-133, der auch weitere Literatur zu diesem Thema verzeichnet. "! Siehe hierzu WW 34f., DdM rı9ff. und G. Deleuze, Was ist ein Dispositiv?

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den Gefahren moderner Subjektivierung gelesen werden kann, moderne »Lebens-Macht