Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens: Festschrift für Anton Rauscher [1 ed.] 9783428477654, 9783428077656

Unter dem Titel: »Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens« versammelt der Band Beiträge, die dem Ordinarius

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Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens: Festschrift für Anton Rauscher [1 ed.]
 9783428477654, 9783428077656

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Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens Festschrift für Anton Rauscher

Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens Festschrift für Anton Rauscher

llerausgegeben von Norbert Glatzel und Engen Kleindienst

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens : Festschrift für Anton Rauscher I hrsg. von Norbert Glatze! und Eugen Kleindienst - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 ISBN 3-428-07765-2 NE: Glatze!, Norbert [Hrsg.]; Rauscher, Anton: Festschrift

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3-428-07765-2

Zum Geleit "Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens", so lautet der Titel eines Beitrags, den der Jubilar, dem die Festschrift zum 65. Geburtstag am 8. August gewidmet ist, im letzten Jahr geschrieben hat. Treffender läßt sich nicht umschreiben, was Anton Rauscher in seiner wissenschaftlichen Karriere bewegt hat. Während seines Theologiestudiums an der Gregoriana in Rom lernte er von Gustav Gundlach S .J., daß die Katholische Soziallehre auf dem personalen Fundament ruht und von ihm her die Normen für die Gestaltung der wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Ordnung abzuleiten sind. Die Promotion 1956, von Gustav Gundlach betreut, mit dem Thema "Subsidiarität und berufsständische Ordnung in 'Quadragesima anno"' (Münster 1958) sowie seine ganze spätere Arbeit ist von diesem Ansatz geprägt. Der Eintritt in den Jesuitenorden 1956 nach seiner Priesterweihe führte ihn nach Irland und Japan, aber schon Anfang der 60er Jahre traf in Münster und in Mönchengladbach sein Weg wieder den seines Lehrers. 1963 wurde er nach Gundlachs Tod am 23. Juni 1963 dessen Nachfolger als Leiter der kurz vorher von der Deutschen Bischofskonferenz eingerichteten Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach (KSZ). Er hat bis heute mit Energie und hohem persönlichen Einsatz diese Aufgabe ehrenamtlich weitergeführt und der Zentralstelle ein unverwechselbares Profil gegeben. Nicht minder intensiv aber verschrieb sich Anton Rauscher seiner Wissenschaft, der Christlichen Gesellschaftslehre. Als Assistent im Institut für Christliche Sozialwissenschaften, dem sogenannten "Höffner-Institut" bereitete er seine Habilitationsschrift vor: "Die soziale Rechtsidee und die Überwindung des wirtschaftsliberalen Denkens. Hermann Roesler und sein Beitrag zum Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft" (Paderborn 1969). In ihr wird das, was theoretisch in der Promotion grundgelegt wurde, an einem Beispiel verdeutlicht. Nach der Habilitation 1968 bei Wilhelm Weber, der dem 1962 zum Bischof von Münster ernannten Professor Joseph Höffner nachgefolgt war, er-

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ging 1971 an den damaligen Wissenschaftlichen Rat und Professor der Ruf an die Theologische Fakultät der neu gegründeten Universität Augsburg. Das breite Schaffensfeld des Lehrstuhlinhabers für Christliche Gesellschaftslehre dokumentiert sich in einer großen Zahl von Aufsätzen zum Selbstverständnis der Katholischen Soziallehre und ihrer Entwicklung, zu den Ordnungsprinzipien der Gesellschaft, zu Fragen der Ethik in Politik und Wirtschaft und zu vielen anderen Problemfeldern des sozialen Lebens. Eine repräsentative Auswahl dieser Beiträge sind in den zwei Sammelbänden zu finden, die 1988 unter dem Titel "Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung" erschienen. Die von ihm initiierten Forschungskolloquien über den Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert (abgeschlossen, 24 Bände) und das noch laufende Kolloquium "Kirche heute" (bisher 6 Bände) haben wegweisende Wirkung. Gleiches gilt für die Reihe "Soziale Orientierung" (bisher 7 Bände) und die in der Tradition des Volksvereins stehende Reihe "Kirche und Gesellschaft" mit nun schon über 200 Titeln zu aktuellen, sozialethisch brisanten Fragen. Anton Rauschers Engagement reicht aber noch über die schon skizzierten Aufgabenfelder als Professor und Leiter der KSZ hinaus. Zu nennen sind die Organisation der jährlich stattfindenden Sozialethikertagung in Mönchengladbach, dokumentiert in der Reihe "Mönchengladbacher Gespräche" (bisher 13 Bände), seine langjährige Tätigkeit als Sekretär der Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz für gesellschaftliche und soziale Fragen, seine Mitarbeit im Zentralkomitee der deutschen Katholiken in den verschiedenen Funktionen und Aufgaben, im Verein für Sozialpolitik und in vielen Kommissionen der Diözese Augsburg. Darüber hinaus findet er immer noch Zeit zu intensiven Gesprächen mit seinen zahlreichen Schülern über deren Promotions- und Habilitationsvorhaben sowie mit Kollegen seines Fachs, aber auch mit vielen aus anderen Fakultäten, mit Wirtschaftswissenschaftlern und Juristen, mit Historikern und Politologen. So war es nicht verwunderlich, daß aus dem breiten Kreis derer, mit denen er im Gespräch ist und zusammenarbeitet, auf die Bitte der Herausgeber zur Mitwirkung an dieser Festschrift ein überaus postives Echo kam. So finden sich in diesem Band zusammen die Bischöfe Karl Lebmann und Klaus Hemmerle, seine Schüler, Mitglieder der wissenschaftlichen Kommission der KSZ, des Vereins für Sozialpolitik und seine Fachkollegen sowie Kollegen der Universität Augsburg und anderer Universitäten, mit denen Anton Rau-

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scher seit Jahren über die Fachgrenzen eng verbunden ist. Zwei hätten wohl gerne einen Beitrag zu dieser Festschrift beigetragen, die verstorbenen, mit Anton Rauscher persönlich aufs Engste verbundenen Kollegen Karl Forster und Wilhelm Weber. Ihrer soll an dieser Stelle dankbar gedacht werden. Festschriften enthalten in der Regel eine Bibliographie des Geehrten. Darauf wurde hier bewußt verzichtet. Die beiden Sammelbände "Kirche in der Welt" enthalten ein Verzeichnis aller Publikationen bis zum Jahr 1988. Die Fortführung bis heute wäre aber ein kurzlebiges Unternehmen, da von Anton Rauscher auch in den kommenden Jahren sicher noch so manche Beiträge zu erwarten sind. Um diese Festschrift auf den Weg bringen zu können, brauchten die Herausgeber viele Helfer. Ihnen gilt an dieser Stelle Dank: Professor Sirnon für das Verlegen dieser Festschrift in seinem Verlag, der Diözese Augsburg und der Erzdiözese München für die finanzielle Unterstützung, Günter Baadte (Mönchengladbach) und Dr. Anton l..osinger sowie Christa Manusch (Augsburg) für manchen guten Rat, den Mitarbeitern im Arbeitsbereich Christliche Gesellschaftslehre (Freiburg), Dr. Hans Thomas Pospischil, Dipl.-Verw.Wiss. Johannes Brandt und Uwe Kohnle, besonders aber Josefa Stricker und Dipl. theol. Christina Drepper für ihre Mühen, die Beiträge redaktionell für den Druck vorzubereiten. Ohne Herrn Kohnles Fähigkeiten hätten die unterschiedlichen Textverarbeitungssysteme nicht auf einen Nenner gebracht werden können. Die guten Wünsche der Autoren, der Herausgeber und aller an der Festschrift Beteiligten sollen den Jubilar in seinem weiteren Schaffen begleiten.

Norbert Glatzel

Eugen Kleindienst

Inhalt I. Personalität und Menschenwürde Amo Anzenbacher Das Personalitätsprinzip und die Krise des Personbegriffs .. . . . . .......... 15 Klaus Hemmerle Person und Gemeinschaft - eine philosophische und theologische Erwägung ............................................................................. 31 Alfred Klose Menschenwürde und politische Kultur........................................ 45 Bugen Kleindienst Asyl, Migration und die Kirche................................................ 59 Reinhard Blum Marktwirtschaft zwischen Person und homo oeconomicus ................ 75 Anton Losinger Ökonomische Rationalität in allen Lebensbereithen? Der "ökonomische Ansatz" Gary S. Beckers im Kritikfeld der theologischen Anthropologie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . . . . . . .. .. . .. . . .. .. .. . . . 93 ll. Familie und Familienlastenausgleich Joachim Genosko Familienlastenausgleich als Bevölkerungspolitik? .......................... 111 Heinz Lampert Wer "produziert" das Humanvermögen einer Gesellschaft? ............... 121 Norbert Glatzel Familie und Staat- ein kritisches Verhältnis ................................. 135

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Inhalt

m. Subsidiarität als Ordungsprinzip Franz Knöpfte Zur Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für die verfassungsrechtliche Ordnung ...................................................................... 151 Christian Watrin Europas ungeklärte Ordnungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Herbert Buchner Die Gestaltung des Arbeits- und Sozialrechts in der Europäischen Gemeinschaft unter den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips ....... 191 Wolfgang Ockenfels Europäische Sozialordnung und Subsidiarität. ............................... 213 Helmut Lecheier Beiträge der christlichen Soziallehre zur Europäischen Union. Möglichkeiten und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Franz Furger Unterschätzte Eigenverantwortung -Das Subsidiaritätsprinzip und der schnelle Ruf nach gesetzlicher Regelung. Sozialethische Überlegungen zur Legislatur im biomedizinischen Umfeld ............................ 243 IV. Wirtschafts- und Sozialordnung

Eduard Gaugier Führungsentscheidungen und Führungsverantwortung in der Wirtschaft ............................................................................... 263 Bernhard Külp Wirtschaftliche Ordnung und Moral .......................................... 277 Henry W. Briefs Staat, Wirtschaftsordnung und Gemeinwohl ................................. 297 Lothar Roos Markt und Moral. Zur Fortentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft zwischen Institutionen- und Tugendethik ..................................... 317

Inhalt

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Friedrich Beutter Die menschliche Person als Urheber des Geldes, seiner Ordnung und Unordnung ........................................................................ 343 Anita B. Pfaff Sozialer Ausgleich wider Äquivalenz in der Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ............................................................ 357 Gerhard Kleinhenz Ökonomisches Paradigma und Sozialpolitik. Zur Relevanz einer neuen ökonomischen Theorie der Sozialpolitik .............................. 379 Horst Sanmann Realsozialismus, Sozialpolitik und Katholische Soziallehre. Eine Skizze .............................................................................. 401 V. Staat, Recht und Kirche Joseph Listl Der Wiederaufbau der staatskirchenrechtlichen Ordnung in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland .................................... 413 Jörg Tenckhoff Strafrecht und abweichende Gewissensentscheidung ....................... 437 Wilhelm Dütz Kirchliche Vereine und ihr Vermögen nach kanonischem und weltlichem Recht ........................................................................ 455 Wilfried Bottke Juristische und biblische Hermeneutik ........................................ 469 VI. Christen, Politik und Geschichte Winfried Becker Bismarck, Windthorst und der Kulturkampf ................................. 489 Günter Baadte Krieg, christliche Ethik und Völkerrecht. Zum politischen und publizistischen Engagement von Joseph Mausbach im Ersten Weltkrieg ................................................................................ 511

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Inhalt

Rudolf Morsey Fritz Gerlieh - der Publizist als Prophet. Die Voraussetzungen seines Kampfes gegen Hitler 1931-1933 .............................................. 529 Hans Maier Christlicher Widerstand im Dritten Reich .................................... 549 Alois Baumgartner Aufarbeitung der Vergangenheit. Sozialethische Zugänge zum Problem fortwirkender Schuld ...................................................... 569

Vß. Glaube und Weltverantwortung Kar! Lebmann Fundamentalismus als Herausforderung. Versuch einer Antwort ........ 585 Jürgen Schwarz Die nationale Frage in der internationalen Politik und einige Sichtweisen der Katholischen Kirche ................................................ 603 Rudolf Henning Amoltem und seine Heiligen. Erinnerungen an den Versuch einer dörflichen Gütergemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 631 Pranz Josef Stegmann Glaube an Gott und gesellschaftliches Engagement. Zum Weltauftrag des Christen ....................................................................... 643 Monika Pankoke-Schenk Katholische Soziallehre-Frauenfrageund Weltkirche ..................... 659 Rudolf Weiler Interessenkalkül und moralisches Prinzip .................................... 673 Verzeichnis der Herausgeber und Mitarbeiter ................................... 685

I. Personalität und Menschenwürde

Das Personalitätsprinzip und die Krise des Personbegriffs Von Arno Anzenbacher Bezieht man die bekannte Formulierung des Personalitätsprinzips in der Friedensenzyklika Johannes XXIII. [Pacem in terris ( = PT) 9] auf die vielzitierte Aussage von Gaudium et spes, die gesellschaftliche Ordnung hätte sich dauernd am Wohl der Personen zu orientieren, da die Ordnung der Dinge der Ordnung der Personen dienstbar zu sein habe [Gaudium et spes ( = GS) 26], dann hat man jenen Kerngehalt kirchlicher Sozialverkündigung vor Augen, von dem 0. v. Nell-Breuning meinte, er lasse sich auf einem Fingernagel niederschreiben 1• Dieser Kerngehalt bildet zugleich die normative Basis aller sozial ethischen Argumentation und Systematik. Worum es dabei geht, hat A. Rauscher in einer prägnanten Skizze entfaltet2 . Die Aspekte des Personbegriffs, die er dabei zur Sprache bringt, verweisen einerseits auf das Menschenbild der philosophia perennis und andererseits auf die christliche Tradition. Dieser Personbegriff dürfte im kirchlichen Binnenbereich nach wie vor weitgehend anerkannt sein. Gesamtgesellschaftlich jedoch befindet sich der Personbegriff seit langem in einer Krise. Einerseits ist es zwar durchaus üblich, sich etwa im Sinne der ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes oder der Präambel der Charta der Vereinten Nationen von 1945 auf den Wert und die Würde der menschlichen Persönlichkeit zu berufen und für die Wahrung der Menschenrechte einzutreten. Andererseits aber ist der diesen Optionen zugrunde liegende Begriff der menschlichen Person vielfältig umstritten. Die rechtliche Verankerung von Wert und Würde der Person sowie deren unverletzliche Rechte in nationalen Verfassungen und internationalen Abkommen, Pakten und Konventionen mag die Bedeutung der Krise zeitweilig relativie1 Nell-Breuning, Oswald von: Soziallehre der Kirche. Erläuterungen lehramtlicher Dokumente, Wien 1977, 20. 2 Rauscher, Anton: Personalität, Solidarität, Subsidiarität, in: ders.: Kirche in der Welt, Bd. I, Würzburg 1988, 259-272.

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Amo Amenbacher

ren, in welcher sich der Begriff befindet. Längerfristig jedoch werden positivrechtliche Formulierungen stumpf, wenn ihre Begriffe im sozialen Ethos nicht mehr greifen. Der Rekurs der katholischen Soziallehre auf das Personalitätsprinzip setzt einen bestimmten Begriff der menschlichen Person voraus. Die gesamtgesellschaftliche Relevanz kirchlicher Sozialverkündigung und sozialethischer Argumentation hängt davon ab, wieweit dieser Begriff rational-argumentativ gerechtfertigt werden kann. Ich möchte im folgenden auf drei aktuelle Relativierungen dieses Begriffs hinweisen, welche die Geltung und Tragweite des Personalitätsprinzips betreffen. Diese sind freilich nicht die einzigen, denen heute Relevanz zukommt. Die Anschläge auf Asylantenheime und jüdische Friedhöfe zeigen, daß auch rassistische und nationalistische Relativierungen virulent sind. Im Unterschied zu letzteren erheben jedoch die drei, auf die ich hinweisen will, einen diskussionswürdigen theoretischen Anspruch.

I. Die aktualistische Relativierung Die große Beachtung, die Peter Singers Praktische Ethik3 in einer breiten Öffentlichkeit fand, läßt sich teilweise dadurch erklären, daß Singer die philosophisch-ethische Theorie für eine Einstellung lieferte, die unterschwellig ziemlich verbreitet ist und beispielsweise in den Diskussionen um den § 218 immer wieder zum Ausdruck kam. Die zuweilen heftige Ablehnung der Position Singers und seines öffentlichen Auftretens darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß seine Theorie heute von etlichen Ethikern vertreten wird und beträchtliche Bedeutung erlangen konnte. Ihre einfache, gut lesbare Darstellung sowie ihre beachtliche Konsistenz und Differenziertheil erwecken den Eindruck hoher Plausibilität. Zwar begründet Personalität auch nach Singereinen Status, der die Person über alle nichtpersonalen Wesen erhebt, moralische Anerkennung fordert und unverletzliche Rechte begründet. Er konzipiert aber seinen Personbegriff so, daß menschliches Leben weder die hinreichende noch die notwendige Bedingung der Personalität ist. Es ist nicht die hinreichende, weil es auch nichtpersonales menschliches Leben gibt, und es ist nicht die notwendige, weil es auch nichtmenschliche Personalität gibt, etwa im Fall bestimmter hochent3 Singer, Peter: Practical ethics, Cambridge 1979, dt.: Praktische Ethik, Stuttgart 1984.

Personalitätsprinzip und die Krise des Personbegriffs

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wickeher Tiere. Ich beziehe mich im folgenden auf die erste Einschränkung: Nicht jedes menschliche Leben ist personal. Der Gedankengang, der zu dieser Auffassung führt, läßt sich folgendermaßen skizzieren4 : Singer unterscheidet drei Klassen von Wesen und differenziert im Sinne dieser Unterscheidung die moralischen Pflichten, die wir ihnen gegenüber haben. Es gibt (a) nichtbewußte Wesen (leblose, Pflanzen, Tiere ohne Zentralnervensystem), (b) Lebewesen mit Bewußtsein, jedoch ohne Selbstbewußtsein (z.B. höhere Tiere) und (c) Personen, d.h. selbstbewußte Lebewesen. Die Klasse (c) wird von (b) in folgender Weise abgegrenzt: Zunächst werden Indikatoren oder Kriterien der Personalität angegeben. Im Anschluß an John Locke wird die Person im Sinne dieser Indikatoren definiert als ein "selbstbewußtes Wesen", das "sich seiner selbst als einer distinkten Entität bewußt" ist, "mit einer Vergangenheit und Zukunft" 5 . Aus dieser Definition ergibt sich, daß Personen Wesen sind, die Wünsche, Interessen bzw. Präferenzen haben können. Entscheidend für die Position Singers ist es, daß er die individuellen Wesen nicht ihrer Spezies nach diesen Klassen zuordnet, sondern in strikt aktualistischer Weise. Ein Individuum ist also genau insofern Element einer der drei Klassen, als es faktisch und aktuell jene Kriterien zu realisieren vermag, durch welche die Klasse bestimmt ist. Darum ist ein menschliches Wesen nur dann Person, wenn es die Indikatoren der Personalität aktuell vollziehen kann, d.h. wenn es sich seiner selbst als einer distinkten Entität mit Vergangenheit und Zukunft bewußt ist und insofern Wünsche, Interessen bzw. Präferenzen hat. Nicht die Zugehörigkeit zur Spezies Mensch qualifiziert also Leben zu personalem Leben, sondern die aktuelle Fähigkeit, die Indikatoren der Personalität zu realisieren. Darum werden menschliche Föten von weniger als 18 Wochen als nichtbewußte menschliche Lebewesen der Klasse (a) und ältere Föten sowie geborene Kinder etwa bis zu einem Jahr als nicht-selbstbewußte, aber bewußt-empfindende Wesen der Klasse (b) zugeordnet.6 Analoges gilt für geistig Schwerstbehinderte, Altersdemente und Komatöse.

4 Singer, 101-128, vgl. Anzenbacher, Amo: Sterbehilfe für unverfiigbares Leben. Eine Auseinandersetzung mit Peter Singer, in: Hepp, Hermann (Hrsg.): Hilfe zum Sterben? Hilfe beim Sterben!, Düsseldorf 1992, 74-93. · 5 Singer, 109. 6 Singer, 162-163, 168-169. 2 FS RaiiiCbtr

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Arno Anzenbacher

Die moralischen Pflichten, die wir gegenüber anderen Wesen haben, bestimmt Singer im Hinblick auf die Unterscheidung der drei Klassen. Dabei faßt er den Wert der Wesen hedonistisch. Wesen der Klasse (a) haben keinen eigenen Wert in sich, da sie kein Bewußtsein haben und darum nicht Lust erleben können. Insofern haben wir ihnen gegenüber auch keine Pflichten. 7 Die Elemente der Klasse (b) können als bewußt -empfindende Wesen Lust erleben; darum hat ihr Leben in sich Wert. Da sie aber nicht selbstbewußt sind, können sie diesen Wert nicht auf sich selbst als individuell-distinkte Entitäten beziehen. Sie sind gewissermaßen austauschbare "Behälter von Lust und Schmerz" 8 und haben insofern keine subjektiven Rechte. Singer bestimmt den Verpflichtungstypus ihnen gegenüber klassisch-utilitaristisch9 : Wir sollten bestrebt sein, die Gesamtsumme ihrer Lust zu vermehren und die Gesamtsumme ihrer Schmerzen zu vermindern. Da Personen als Elemente der Klasse (c) selbstbewußte Wesen sind, welche die Lust, um die es in ihren Wünschen, Interessen bzw. Präferenzen geht, auf sich selbst als distinkte Entitäten beziehen können, sind sie Träger subjektiver Rechte, z.B. eines individuellen Rechts auf Leben. Unsere Pflichten gegenüber Personen faßt Singer präferenz-utilitaristisch10: Hier gilt das Prinzip der gleichen Erwägung von Interessen. Es geht darum, "daß wir unseren moralischen Überlegungen gleiches Gewicht geben hinsichtlich der ähnlichen Interessen all derer, die von unseren Handlungen betroffen sind" 11 . Dieses Prinzip geht über den klassischen Utilitarismus hinaus und behauptet deootologisch eine gewisse Unverfügbarkeit von Personen. Singer faßt also den Personbegriff so, daß in moralisch und rechtlich relevanter Weise das menschliche Leben von Föten, Neugeborenen, geistig Schwerstbehinderten, Altersdementen, Komatösen etc. nicht mehr als personales Leben zu gelten hat. Hinsichtlich des Tötungsverbots ergibt sich damit folgende Konsequenz: Ein subjektives Recht auf Leben gibt es nur für Individuen der Klasse (c), also dort, wo explizit oder implizit (in Wünschen, Interessen bzw. Präferenzen) ein aktueller Wunsch zu leben möglich ist. Wo das nicht der Fall ist, gibt es zumindest kein direktes Argument gegen die Tötung menschlichen Lebens. Zwar darf auch nach Singer kein menschliches Wesen 1 Singer, 125-127.

8 Singer, 141. 9 Singer, 118-120.

10 Singer,

112-113.

II Singer, 32.

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getötet werden, das leben möchte. Ist es aber nicht in der Lage, aktuell diesen Wunsch zu haben, so hat es kein Recht auf Leben.t2 Ein solches Personverständnis widerspricht natürlich diametral jenem Personbegriff, der dem Personalitätsprinzip der katholischen Soziallehre zugrunde liegt. Darum widersprechen auch die angedeuteten rechtlichen und moralischen Konsequenzen dem normativen Gehalt dieses Prinzips. Die skizzierte Position stellt insofern eine ernste theoretische und didaktische Herausforderung an eine christliche Ethik dar, zumal die (zumindest auf den ersten Blick) klare, einfache, konsistente und plausible Argumentation vermutlich auch weiterhin öffentlichen Anklang finden wird. Sucht man ein theologisches Argument gegen diese Position, so dürfte der Rekurs auf die Imago-Dei-Bewandtnis der menschlichen Person unzureichend sein, da zusätzlich gezeigt werden müßte, warum die personale Gottebenbildlichkeit nicht im Sinne Singers aktualistisch auf die Klasse (c) eingeschränkt werden darf. Das einzige strikt theologische Argument, das hier trägt, dürfte jenes sein, das sich z.B. aus Psalm 139,15-16. nahelegt: "Als ich geformt wurde im Dunkeln, I kunstvoll gewirkt in den Tiefen der Erde, I waren meine Glieder dir nicht verborgen. I Deine Augen sahen, wie ich entstand, I in deinem Buch war schon alles verzeichnet; I meine Tage waren schon gebildet, /als noch keiner von.ihnen da war." Hier wird Gott als die absolute Synthesis gefaßt, in welcher das Leben des Menschen vom Anfang bis zum Ende gewollt und vorgesehen ist. Es ist von Gott her eine Einheit, die den Fötus ebenso umfaßt wie den Komatösen und die insofern als ganze personal ist. In dieser gläubigen Perspektive wäre es sinnlos, Phasen aktualistisch zu ontologisieren und sie zur Basis rechtlicher und moralischer Konsequenzen zu machen. Singer würde dieses Argument als Resultat eines gesamtgesellschaftlich unverbindlichen religiösen Vorurteils zurückweisen. In der Tat wird es vor allem darum gehen müssen, den Personbegriff philosophisch so zu präzisieren, daß die prinzipielle Personalität allen menschlichen Lebens stringent aufgewiesen werden kann. Eine solche Argumentation müßte weiterhin in didaktischer Hinsicht so klar und einfach aufbereitbar sein, daß sie in der Öffentlichkeit kommunikabei ist. In der Sache dürfte es vor allem um folgendes gehen: Singer stützt sich auf den Personbegriff Lockes, der die personale Iden12 Singer, 113-115.

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tität mit der Identität des Selbstbewußtseins gleichsetzt 13 . Im Gegensatz dazu ist zu zeigen, daß personale Identität nur begriffen werden kann, wenn der Kontinuität verbürgende Gesichtspunkt der Substantialität ins Spiel kommt, also jener Gesichtspunkt, den die alte, wirkungsgeschichtlich so bedeutsame Definition des Boethius im Auge hatte und den Locke eliminierte. Es gilt aufzuweisen, daß die Einheit von Subjekt und Substanz für Personalität primär konstitutiv ist, was nicht ausschließt, daß Personalität auch durch Relationalität bestimmt ist. Allerdings sollten Theologen vielleicht etwas vorsichtiger sein, wenn sie sich in ihren Personbegriffen auf den Aktualismus Max Schelers oder auf den Dialogismus Martin Bubers beziehen. 14

ß. Der Streit um die Anthropozentrik Nach Thomas von Aquin steht der Mensch innerhalb der geschaffenen Natur auf der vollkommensten Stufe des Lebens [perfectissimus gradus vitae est in homine, Summa theologiae ( = Sth) I q 72 a 1 ad 1]. Diese höchste Vollkommenheit und Dignität gründet in der geistigen Vernunftfähigkeit, vor allem in der darin fundierten Bestimmung des Menschen, in Entscheidungsfreiheit (liberum arbitrium habens) Prinzip seiner Handlungen (suorum operum principium) zu sein, worin nach Thomas die Imago-Dei-Bewandtnis vor allem besteht (Sth 1.11 prol.). Insofern unterscheidet sich der Mensch von den Tieren und den anderen Lebewesen wesentlich. Seine Stellung im Kosmos unterscheidet ihn prinzipiell von allen anderen Lebewesen. Als das vernünftige und freie Wesen ist er um seiner selbst willen da, während alle anderen Lebewesen auf anderes und zuletzt auf ihn hingeordnet sind (Summa contra Gentiles III, 112). Diese anthropozentrische Perspektive der philosophischtheologischen Tradition konvergiert mit dem biblischen Befund. Die Sonderstellung der menschlichen Person im Raum der Schöpfung wurde bereits durch die empiristische Aufklärung, etwa in den anthropologischen Entwürfen von Thomas Hobbes und David Hume, grundsätzlich in Frage gestellt. Die empiristische Reduktion von Vernunft und Freiheit auf Sinnlichkeit verflüssigte und gradualisierte die Differenz von Mensch und Tier und stellte damit die Voraussetzung der Anthropozentrik in Frage. Dazu 13 Singer, 106; vgl. Locke, John: Essay Concerning Human Understanding, 1690, Buch II, Kap.27, §§ 10-29. 14 Vgl. dazu: Lotz, Johannes B.: Person und Freiheit. Eine philosophische Untersuchung mit theologischen Ausblicken, Freiburg 1979.

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kommt, daß der legitime methodische Empirismus der Humanwissenschaften auf Grund seiner methodischen Abstraktion jenes Nichtempirische schlechthin nicht zu thematisieren vermag, um welches es von Platon bis Hegel bei der Sonderstellung des Menschen ging. Der methodische Empirismus gebärdete sich zunehmend philosophisch und bewirkte so jenes postmetaphysische Klima, das heute weithin geschichtsmächtig ist. Hinsichtlich unserer Fragestellung kommt hier der Ethologie besondere Bedeutung zu, da sie als empirisch-biologische Disziplin tierisches und menschliches Verhalten vergleichend aufeinander bezieht. Dabei entsteht folgendes Grundproblem: In einem methodischen Vorgehen, das konsequent empirisch ist, läßt sich die eigenständige Bedeutung menschlichen Handeins nicht scharf und prinzipiell abgrenzen gegenüber tierischem Verhalten. Daß Liebe und Treue im Kontext der sittlich-rechtlichen Institution Ehe auf einer wesentlich anderen Ebene liegen als das "monogame" Verhalten von Graugänsen, läßt sich nicht zwingend aufweisen, solange man sich darauf beschränkt, in einem bestimmten Typus von Empirie gewisse phänomenal-äußerliche Analogien des Verhaltens zu konstatieren. Darum zögert Konrad Lorenz nicht, sowohl von der Liebe und Treue der Graugänse als auch von deren Ehe zu sprechen. 15 Solche Nivellierungen tangieren massiv das sozialethische Personalitätsprinzip. Dabei liegt die Gefahr weniger darin, daß die Zahl der Vegetarier zunimmt; das wäre vielleicht sogar wünschenswert. Vielmehr geht es um die Grundlegung der Ethik schlechthin. Die Preisgabe der Anthropozentrik und der wesentlichen Differenz von Mensch und Tier stellt prinzipiell die Anerkennung der menschlich-personalen Selbstzweckhaftigkeit als Basis aller Individual- und Sozialethik in Frage. Dabei ist es gleichgültig, ob man die Alternative pathozentrisch, biozentrisch oder physiozentrisch faßt. 16 Alle diese Varianten blenden genau das als Kriterium moralischer Anerkennung aus, was Kant als den eigentlichen Grund personaler Selbstzweckhaftigkeit und Würde annahm: die Autonomie im Sinne moralischer Selbstbestimmung aus Freiheit, also das, was bei Thomas primär die menschliche Imago-Dei-Bewandtnis ausmacht. Alternative Varianten müssen auf andere Kriterien rekurrieren. Dabei kommen angesichts der gegebenen Problemlage letztlich nur Kriterien in Frage, die nicht spezifisch menschlich sind. 15 Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse. Zur Narurgeschichte der Aggression, München 1974, 162-164. 16 Vgl. dazu die Übersicht: Irrgang, Bernhard: Christliche Umweltethik, München 1992, 52-63.

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Amo Anzenbacher

Das geschieht bei Konrad Lorenz, wenn er Moral als einen "Kompensationsmechanismus" faßt, "der unsere Ausstattung mit Instinkten an die Anforderungen des Kulturlebens anpaßt und mit ihnen eine funktionelle Systemganzheit bildet" 17 . In dieser moralischen Kompensation wird die biologische Teleonomie der Stammesgeschichte zur Grundnorm der Ethik. Moralisch-vernünftig sind Verhaltensweisen genau dann, wenn sie "die arterhaltende Leistung vollbringen, zu der sie von den großen Konstrukteuren des Artenwandels (Selektionsdruck und Anpassung) erschaffen wurden" 18 . Am Grundproblem ändert sich nichts, wenn man anstelle der Arterhaltung den Egoismus der Gene ins Spiel bringt. Der Gegensatz ist klar: Auf der einen Seite steht der Typus einer biologischen Naturrechtsethik, deren Grundnorm nicht die Würde der Person, sondern die teleonome Intention der evolutionären Konstrukteure ist. Auf der anderen Seite basiert das Personalitätsprinzip auf einer Ethik, die in der Anerkennung der Würde und Selbstzweckhaftigkeit der Person gründet. Beide Typen von Ethik werden die "Todsünden der zivilisierten Menschheit" (Lorenz) sehr unterschiedlich bestimmen. Am Rande sei daran erinnert, daß die Ideologie der Nationalsozialisten ein Ethos propagierte, dessen Grundnorm biologisch (Rasse, Volksgesundheit) war und eben darum die extremste Verletzung personaler Würde rechtfertigte. Es ist auf diesem Hintergrund erstaunlich, wie problemlos jenseits der Anthropozentrik mit dem Rechtsbegriffumgegangen wird. So etwa konstruiert Klaus M. Meyer-Abich eine Analogie zwischen dem "menschlichen Absolutismus gegenüber der natürlichen Mitwelt" und "dem des absolutistischen Staates" und plädiert dafür, "daß auch in der Natur der moderne Rechtsstaat an die Stelle des Absolutismus treten soll"; Ziel ist eine "Rechtsgemeinschaft der Natur", "welche die Menschheit und die natürliche Mitwelt gleichermaßen umfaßt" 19 . Was soll hier mit den Ausdrücken "Recht", "Rechtsgemeinschaft" und "Rechtsstaat" präzise gemeint sein? Auf dem Boden des Personalitätsprinzips läßt sich mit Hegel sagen: "Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht. "20 Und nur als "das Dasein des absoluten Begriffes, der selbstbewußten Freiheit" ist das Recht "etwas Heiliges 17 Lorenz, 352; vgl. Anzenbacher, Amo: Einführung in die Ethik, Düsseldorf 1992, 214218. 18 Lorenz, 358. 19 Meyer-Abich, Klaus M.: Wege zum Frieden mit der Natur, München 1984, 139. 20 Hege!, Georg Wilhelm Friedrich: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Sämtliche Werke (Giockner) Bd. VII, Stuttgart, § 29.

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überhaupt" 21 • In einer "Rechtsgemeinschaft der Natur", die durch "Men-

schen, Tiere, Pflanzen und die Elemente" 22 gebildet wird, muß die Rede vom Recht jede präzise Bedeutung verlieren. Darum ist es zwar gewiß gut gemeint, aber doch äußerst fragwürdig, wenn eine Gruppe von Juristen und Theologen eine "Erweiterung der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte" um "Rechte der Natur" vorschlägt. 23 Eine solche Ausweitung droht, die in der Personalität fundierte Menschenrechtsidee, welche die Mitte modern-naturrechtlicher Normativität bildet, zu verwässern, indem sie deren eigentliche Pointe nivelliert. Diese Bedenken aus der Sicht des traditionellen Personalitätsprinzips wollen keineswegs die sozialethische Dringlichkeit des ökologischen Anliegens abschwächen. Es soll auch nicht bestritten werden, daß nicht-menschliche Lebewesen (etwa im Sinne der Entelechie des Aristoteles oder des Naturzwecks bei Kant) in natürlich-unmittelbarer Weise Selbstzweckhaft sind und darum ontologisch in sich Wert haben. Man kann Hans Jonas24 darin durchaus zustimmen, daß naturales Sein sowie die Natur im ganzen auf Grund ihrer teleologischen Verfaßtheit gut und werthaft sind und darum auf die menschliche Verantwortung bezogen werden müssen. Ebenso mag man den Vorschlag Peter Singers begrüßen, gegenüber nichtpersonalen empfindenden Wesen einen moralischen Verpflichtungstypus zu bestimmen, der sich von jenem gegenüber personalen Wesen unterscheidet; dabei ist Singer zurecht bestrebt, sowohl die Differenz beider Klassen von Wesen als auch jene der beiden Verpflichtungstypen präzise zu fassen. Kritisch wird die Sache erst, wenn die natürlich-unmittelbare Selbstzweckhaftigkeit des Vormenschlichen vermengt wird mit jener selbstbewußt-vermittelten Selbstzweckhaftigkeit der Person als eines moralischen Subjekts; wenn also das Infrahumane personalisiert und unter Begriffe (z.B. den des Rechts) gefaßt wird, die jenseits des Humanen nicht mehr präzisierbar sind. Die Gefahr liegt vermutlich weniger darin, daß damit der Status des Vormenschlichen verbessert, sondern eher darin, daß die Würde der menschlichen Person durch diese Nivellierung fraglich wird.

21 Hege!, § 30. 22 Meyer-Abich, 190. 23 Zitiert nach: Altner, Günter: Naturvergessenheit Grundlagen einer umfassenden Bioethik, Darmstadt 1991, 102-103. 24 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt 1979.

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m. Bedürfnisbefriedigung versus Anerkennung Francis Fukuyama25 weist mit Recht auf folgende zentrale Differenz der Ansätze hin, deren sich die Modeme in der theoretischen Grundlegung der liberalen Menschenrechtsidee bediente: Die angelsächsische Tradition (im Anschluß an Thomas Hobbes, John Locke und Thomas Jefferson) faßte die Menschenrechtsidee primär vom Gesichtspunkt der Selbsterhaltung her. Sie interpretierte insofern die Freiheitsrechte als Abwehrrechte, die ein sicheres Leben sowie die Möglichkeit unbehinderter Bedürfnisbefriedigung, also das freie Streben nach Eigentum, Wohlstand und Glück garantieren sollten. Das typische Produkt dieser Menschenrechtsperspektive ist nach Fukuyama der Bourgeois. "Der Begriff bezeichnet eine menschliche Existenz, die sich nahezu ausschließlich ihrer eigenen, unmittelbaren Selbsterhaltung und materiellen Wohlfahrt widmet und nur insoweit an der sie umgebenden Gemeinschaft interessiert ist, als die Gemeinschaft ihr privates Wohl fördert oder ihr als Mittel zu diesem Zweck dient. "26 Das Paradigma des homo oeconomicus entspricht dem Typus der empiristisch zum Bedürfniswesen reduzierten Person. Sarkastisch zitiert Fukuyama Nietzsche: "Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das. "27 Im Unterschied zu dieser Perspektive des Bourgeois kommt bei Kant und Hegel - so Fukuyama - ein ganz anderer Ansatz ins Spiel: Die Menschenrechtsidee wird in der inneren Freiheit fundiert. Der Mensch als autonomes Subjekt ist zunächst frei im Sinne der Möglichkeit moralisch relevanter Selbstbestimmung und erweist sich genau darin als absoluter Zweck bzw. als Zweck an sich selbst, d.h. er hat Würde; er verdient und fordert darum Achtung und Anerkennung. Der Grund dieser Würde liegt für "Kant und Hegel und die christliche Tradition, auf der sie aufbauten, "28 in dieser metaphysischen "Insel" der moralisch relevanten Freiheit29 . Diese begründet die menschenrechtliche Freiheit, die nur das rechtliche Dasein der ersteren ist. Allerdings sieht Fukuyama auch, wie seit Hegel diese Basis der Würde philosophisch wie einzelwissenschaftlich in Frage gestellt und destruiert wurde. 25 Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte, München 1992, 203-227. 26 Fukuyama, 226. 27 Fukuyama, 253; Nietzsche, Friedrich: Götzendämmerung, Sämtliche Werke, hg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6, Berlin u.a. 60-61. 28 Fukuyama, 394. 29 Fukuyama, 213.

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"Heutzutage ist viel von Menschenwürde die Rede, aber es besteht keine Einigkeit darüber, warum der Mensch Würde besitzt. Sicherlich glaubt kaum noch jemand, daß der Mensch Würde hat, weil er eine moralische Entscheidung treffen kann. [... ] Menschliches Verhalten verstand man nur noch im Sinne subhumaner und subrationaler Impulse. "30 Die sozialethische Tragweite der Differenz dieser beiden Ansätze kam bei Kant noch nicht voll zum Ausdruck. Sein rechtsphilosophischer Entwurf, Freiheit und Gleichheit menschenrechtlich als Basis einer bürgerlichen Verfassung zu sehen3 1, unterscheidet sich nicht wesentlich von der liberalen Konzeption im Anschluß an Locke. Anders verhält es sich bei Hegel, der das Ringen um Anerkennung - angefangen bei jenem Urkampf in der Phänomenologie, der zum Gegensatz von Herr und Knecht führt 32 , - zum Grundmotiv der Geschichte machte. Die sozialethische Pointe des Anerkennungsmotivs findet sich in seiner Rechtsphilosophie. Zunächst rezipiert auch Hegel (im "abstrakten Recht") die von Locke und Kant her vorgegebene liberale Tradition, nach welcher das Recht ein äußeres, vertragstheoretisch faßbares Anerkennungsverhältnis darstellt, dessen Angelpunkt das Eigentum ist. Die entscheidende Weiterentwicklung des Anerkennungsmotivs erfolgt im Abschnitt über die bürgerliche Gesellschaft. Hegel skizziert die bürgerliche Gesellschaft ganz im Sinne des von Locke und Hobbes vertretenen Ansatzes bei der je-individuellen Selbsterhaltung und Bedürfnisbefriedigung. Die bürgerliche Gesellschaft ist die nur durch das abstrakte Recht geregelte Spielwiese des Eigennutzes. "In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen: diese andem sind daher Mittel zum Zwecke des Besonderen. "33 Dabei sieht Hegel - bezugnehmend auf "Smith, Say, Ricardo" 34 - durchaus das eminent Positive des Prozesses, der auf dem Boden dieser formellen Freiheit möglich wird und als Marktprozeß in wachsendem Ausmaß das System der Bedürfnisse befriedigt. "Durch die Verallgemeinerung des Zusammenhangs der Menschen durch ihre 30 Fukuyama, 395. 31 Kant, Immanuet: Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhetm Weihschedet, Wiesbaden 1956 ff., Bd. IV, 345-346, 432-434 sowie Bd. VI, 143-164. 32 Hege!, Bd. n, 148-158. 33 Heget, Bd. VII, § 182. 34 Heget, § 189.

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Bedürfnisse, und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, vermehrt sich die Anhäufung der Reichtümer, denn aus dieser doppelten Allgemeinheit wird der größte Gewinn gezogen ... ". Aber er sieht auch die Kehrseite des Prozesses, "die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse" 35 und darüber hinaus das "Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise" , was zum Entstehen des "Pöbels" führt 36 . Angesichts dieser negativen Folgen des sozioökonomischen Prozesses weiß Hegel zwei Dinge zu unterscheiden: Es kann nicht nur darum gehen, die unbefriedigten Elementarbedürfnisse der Notleidenden etwa durch Armenfürsorge37 zu befriedigen, denn der Mensch ist nicht nur Bedürfniswesen, sondern es muß auch darum gehen, ihn so in Arbeit zu bringen, daß er durch Arbeit sein Auskommen finden und in dieser seiner Arbeit Ehre und Anerkennung erlangen kann. Denn das ist "im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht "38 . Solange der sozioökonomische Prozeß bloß naturwüchsig verläuft und dieses Problem nicht in den Griff nimmt, vollzieht er sich nach Hegel bloß verständig, d.h. ohne Vernunft und Sittlichkeit. Die Lösung, die Hegel vorschlägt, ist dieselbe, die auch in der Tradition des katholisch-sozialen Denkens in vielen Variationen vertreten wurde und in Quadragesima anno (81-87) Aufnahme fand: die korporative Idee. Auch wenn diese Idee ihre Zeit gehabt hat und als überholt gelten muß, so ist doch das Anliegen, das damit bei Hegel (und bei vielen ihrer Vertreter in der katholisch-sozialen Tradition) angesprochen wurde, keineswegs überholt, sondern nach wie vor eine nur unzulänglich bewältigte Aufgabe. Nach Hegel umfaßt diese Aufgabe folgende Elemente: Die Person muß im Prozeß eine soziale Stellung finden können, in welcher sie durch Arbeit ihre besondere Subsistenz zu sichern vermag. Diese Stellung ist "nach der objektiven Eigenschaft ihrer Geschicklichkeit und Rechtschaffenheit" zu bestimmen, wobei "gegen die besonderen Zufälligkeilen sowie für die Bildung zur Fähigkeit, ihr zuge. teilt zu werden," Sorge zu tragen ist. 39 Da der Zweck dieser Stellung nie bloß 35 Hege!, 36 Hege!, 37 Hege!, 38 Hege!, 39 Hege!,

§ 243. § 244. § 242. § 244. § 252.

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im Eigennutz liegt, sondern "einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gesellschaft ist, angehört und für den uneigennützigen Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemühung hat", vermag die Person in dieser Stellung Selbsterhaltung, soziale Anerkennung und "Ehre" zu finden und dies in einer Weise, die sich nicht "auf die selbstsüchtige Seite des Gewerbes" bzw. auf die "äußerlichen Darlegungen [des] Erfolgs" reduzieren läßt. 40 In diesem Sinne sollte jede Person die Chance sozialer Integration realisieren können. Dabei bedenkt Hegel durchaus, daß es bei dieser Integration nicht nur um die Person als individuell-abstrakten Erwerbstätigen geht, sondern daß auch der Widerspruch zwischen Familie und bürgerlicher Gesellschaft abgearbeitet werden muß, damit die Familie in der Naturwüchsigkeit des sozioökonomischen Prozesses nicht unter die Räder gerät41 , sondern "ihren festen Boden" erhält42 . In einem derartigen sozialen Anerkennungs- und Integrationsgefüge "verliert die Hilfe, welche die Armut empfängt, ihr Zufälliges sowie ihr mit Unrecht Demütigendes" 43 . Das natürliche Recht, "seine Geschicklichkeit auszuüben und damit zu erwerben, was zu erwerben ist," wäre in diesem Gefüge "zur Vernünftigkeit bestimmt, nämlich von der eigenen Meinung und Zufälligkeit, der eigenen Gefahr wie der Gefahr für andere, befreit, anerkannt, gesichert und zugleich zur bewußten Tätigkeit für einen gemeinsamen Zweck erhoben" zu sein. 44 Hegel nahm in seiner Analyse der bürgerlichen Gesellschaft entscheidende Motive der Marxschen Theorie vorweg, entwickelte aber - mit zeitbedingten Beschränkungen -eine Perspektive zur Überwindung ihres Widerspruchs, die sich von jener bei Marx wesentlich unterscheidet. Während Marx die revolutionäre Negation der bürgerlichen Gesellschaft fordert, geht es Hegel um deren Versöhnung mit dem "allgemeinen Zwecke" 45 , um deren vernünftigsittliche Gestaltung mit dem Ziel der "Wirklichkeit der konkreten Freiheit" 46 . In dieser Hinsicht konvergiert die Perspektive Hegels mit jener des katho40 Hege!, § 253. 41 Heute könnte hier verwiesen werden auf Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Modeme, Frankfurt 1986, 161-204. 42 Hege!, § 253. 43 Hege!, § 253. 44 Hege!, § 254. 45 Hege!, § 256. 46 Hege!, § 260.

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tisch-sozialen Denkens bzw. der katholischen Sozialverkündigung, sofern diese bestrebt waren, die Idee des Gemeinwohls als die Idee der konkreten Freiheit auf dem Boden der Modeme zu bestimmen. Sie konvergiert aber auch mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, zumindest wenn man es von jener sozialethischen Ausprägung her versteht, in welcher es Alfred Müller-Armack entwickelte. Wenn auch Fukuyama die sozialpolitische Tragweite der Differenz der beiden skizzierten Ansätze kaum bedachte, so hat er doch darin recht, daß dieser Differenz zwei prinzipiell gegensätzliche Personbegriffe zugrunde liegen. Auf der einen Seite wird die Person auf das Bedürfniswesen reduziert, dessen Präferenzen im Streben nach Selbsterhaltung, Wohlstand und (hedonistisch gefaßtem) Glück aufgehen. Auf der anderen Seite wird die Person nicht nur als Bedürfniswesen gefaßt, sondern darüber hinaus als selbstzweckhaft-autonomes Subjekt, das insofern Würde hat und dem es darum nicht nur um Bedürfnisbefriedigung, sondern auch um soziale Anerkennung, um Subjektstellung, um "Ehre" sowie um Selbstachtung geht. Aus dieser Differenz ergeben sich sehr unterschiedliche sozialpolitische Ansätze. In grober idealtypischer Vereinfachung können wir folgende drei charakterisieren: Wird die Person begrifflich auf das Bedürfniswesen reduziert, so ergeben sich zwei mögliche sozialpolitische Ansätze: Der erste beschränkt die menschenrechtliche Freiheit negativ auf die Chance, in rechtlich gesicherten Spielräumen unbehindert Bedürfnisse zu befriedigen, bzw. nach Glück und Wohlstand zu streben. Wieweit diese abstrakt-negative, formale Freiheit für die einzelnen Personen material konkretisierbar ist, wird als deren private Angelegenheit ausgeblendet und damit sozial irrelevant. Verbunden mit der wirtschaftsliberalen Markttheorie führt dieser Ansatz zu jenen Positionen, die wir heute oft als neokonservativ oder neoklassisch bezeichnen; man denke etwa an die Locke-Rezeption bei Robert Nozick, an das Freiheitsverständnis bei Friedrich August von Hayek oder allgemeiner an jenen Typus von Ökonomietheorie, den man mit dem Namen Chicago-Schule assoziiert. - Der zweite an der Reduktion der Person auf das Bedürfniswesen orientierte Ansatz tritt zwar im Unterschied zum ersten für eine aktive Sozialpolitik ein, tendiert aber dazu, diese auf kompensatorische Versorgungsmaßnahmen zu beschränken, etwa auf Transferleistungen oder sonstige Begünstigungen, durch welche ein gewisses Minimum an Bedürfnisbefriedigung für alle gewährleistet werden soll. Solange die Sozialpolitik an diesem Ansatz orientiert bleibt, mildert sie zwar Not, erfaßt aber noch nicht die Dimension von Anerkennung, Sub-

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jektstellung und Selbstachtung als sozialpolitisch relevantes Problem. Das geschieht erst (dritter Ansatz), wenn sich die Sozialpolitik darüber hinaus am Begriff der Person als selbstzweckhaft-autonomem Subjekt orientiert, das Würde hat. Weil die katholische Soziallehre in ihrem Personalitätsprinzip grundsätzlich einen Personbegriff voraussetzt, der die Person nicht auf das Bedürfniswesen reduziert, tritt sie (vor allem seit GS) für eine Sozialpolitik ein, die über den zweiten Ansatz hinausgeht und die Perspektive des dritten ins Spiel bringt. Es geht nicht nur um Bedürfnisbefriedigung und Existenzminimum, so wichtig diese Anliegen auch sind; es geht vielmehr darüber hinaus um die Subjektstellung einer jeden Person in der Gesellschaft, d.h. um ihre Anerkennung als Person nicht bloß im Sinne des politisch-demokratischen Bürgerrechts, sondern auch in der Wirklichkeit des sozioökonomischen Prozesses. Darum betont Laborern exercens so vehement die Subjektstellung der Arbeit und den Vorrang der Arbeit vor dem Kapital47 . Seit Pius XII. "das naturgegebene persönliche Recht, durch Arbeit für das eigene Leben und das Leben der Seinen Vorsorge zu treffen" 48 hervorhob, kennt die kirchliche Sozialverkündigung das Motiv eines Rechts auf Arbeit, das im Personalitätsprinzip gründet. 49 Der Wirtschaftshirtenbrief der US-Bischöfe (1986) fordert über den "Aufbau eines Mindestniveaus an materiellem Wohlstand für alle Menschen" hinaus die Ermöglichung aktiver und produktiver Beteiligung am Leben der Gesellschaft im Sinne "kontributiver" Gerechtigkeit. 50 Johannes Paul II. insistierte mehrfach darauf, daß der sozioökonomische Prozeß so organisiert werden müsse, daß er die familialen Erfordernisse und Bindungen der Personen berücksichtigt. 51 Diese Hinweise, die sich vielfältig erweitern ließen, machen folgendes deutlich: Der katholischen Soziallehre geht es vom Personalitätsprinzip her nicht bloß um eine sozial versorgte Gesellschaft, sondern um eine mitbestimmte, partizipative und solidarische Gesellschaft, die allen Personen die Chance eröffnet, in ihrer Würde Anerkennung zu finden.

47 Johannes Paul 11.: Laborern exercens (= LE) 6 und 12. 48 Pius XII.: Pfmgstbotschaft 1941. Ansprache zur Fünfzigjahrfeier des Rundschreibens "Rerum Novarum" Papst Leo XIII. über die soziale Frage. 49 Z.B. PT 18 und 64, GS 67, LE 18.1, Johannes Paul 11.: Centesimus annus 43. SO Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle. Katholische Soziallehre und die US-Wirtschaft, 74, 71-73;- vgl. dazu auch GS 31 und 68. 51 Familiaris consortio 23, LE 19,5.

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Unter diesem Gesichtspunkt stellt das Personalitätsprinzip der katholischen Soziallehre auch für den hochentwickelten modernen Sozialstaat nach wie vor eine Herausforderung dar. Die Tendenz ist groß, Sozialpolitik darauf zu beschränken, Personen bloß als Bedürfniswesen zu sehen und zu versorgen. Der empiristische Personbegriff, der keine Würde kennt, droht zur Leitlinie der Sozialpolitik zu werden. Dabei ist zuzugeben: Es ist schon viel erreicht, wenn elementare Bedürfnisse befriedigt werden und ein menschenwürdiges Existenzminimum gesichert ist. Wie weit sind die meisten Weltgegenden davon entfernt! Außerdem ist es oft sehr schwierig, bestimmten Personengruppen die Chance zu eröffnen, sich am sozialen, vor allem am konkurrenzorientierten ökonomischen Prozeß aktiv und produktiv zu beteiligen. Aber die Herausforderung ist da. Worum es geht, läßt sich durch folgendes Beispiel illustrieren: Im Lauf des letzten Jahrzehnts wurde deutlich, daß es in den hochentwickelten Industriestaatentrotz konjunktureller Prosperität nicht möglich war, eine relativ hohe Sockelarbeitslosigkeit abzubauen. Vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit erwies sich trotz starker Nachfrage nach Arbeitskräften als weitgehend konjunkturimmun. Diese (strukturelle) Arbeitslosigkeit scheint die Konsequenz folgender Entwicklung zu sein: Einerseits wächst im Zuge technologischer Innovation und organisatorischer Rationalisierung ständig die Produktivität. Damit wachsen zugleich die Anforderungen am Arbeitsplatz bezüglich Qualifikation, Innovation, Mobilität und Arbeitseinsatz. Andererseits wächst parallel dazu die Zahl der Menschen, die diesen Anforderungen nicht mehr zu entsprechen vermögen, weil sie an die Grenzen ihrer Qualifizierbarkeit stoßen, gesundheitliche Btf8chränkungen aufweisen oder als zu alt gelten. Es scheint, daß sich dieser Trend, verstärkt durch die technologische Substitution der wenig qualifizierten Arbeit, in Zukunft fortsetzen wird. Wird Personalität auf das Niveau des bloßen Bedürfniswesens reduziert, dann mag es genügen, auf das soziale Netz zu verweisen, das die Betroffenen versorgt und die ökonomische Entwicklung sozial kompensiert. Aus der Sicht des Personalitätsprinzips der katholischen Soziallehre jedoch genügt das nicht. Soll "die Ordnung der Dinge [ ... ] der Ordnung der Personen dienstbar gemacht werden und nicht umgekehrt" 52 , dann wird man Wege finden müssen, die Entwicklung so zu beeinflussen, daß möglichst alle in der sozialen Kooperation eine Rolle spielen (Beteiligung) und Anerkennung finden können. 52 GS 26.

Person und Gemeinschaft eine philosophische und theologische Erwägung Von Klaus Hemmerle Anton Rauscher rückt die Person in die Mitte seines Denkens und Arbeitens auf dem Feld der christlichen Soziallehre. Wie dringend es ist, diesen Ansatz zu wählen, ihn in sich zu klären und die entsprechenden Konsequenzen aus ihm zu ziehen, steht außer Zweifel. Um Anton Rauscher und seinen Beitrag zu dieser uns allen aufgegebenen Sache zu würdigen, legt es sich nahe, ihm Erwägungen zu widmen, die, auf anderen Denkwegen erwachsend, in dieselbe Mitte zielen. In dieser Perspektive sind die nachfolgenden Bemerkungen zum Thema "Person und Gemeinschaft" zu lesen, deren sieben Schritte mehr an Türen hinführen, als daß es in solchem Kontext bereits möglich wäre, diese Türen zu öffnen und gar die Räume auszuleuchten, die hinter ihnen einladen. I. Erster Schritt: Die Frage nach Person und Gemeinschaft Wer Gemeinschaft sagt, sagt Person. Wie steht es mit dem Umgekehrten: Sagt, wer Person sagt, auch Gemeinschaft? So vielfliltig der Gebrauch des Wortes Gemeinschaft ist, so deutlich eignen ihm doch einige konstitutive Momente, ohne die das Sprechen von Gemein~ schaftseine Kontur verlöre. Gemeinschaft ist nicht bloße Vielheit von Individuen, die durch dieselbe Gattung oder Art zusammengehalten werden. Gemeinschaft hat zwar Voraussetzungen im Wesen derer, die sie bilden, das aber, was sie bildet, erschöpft sich nicht im Wesen oder in der Natur. Gemeinschaft ist ebenfalls nicht die Konstitution eines einzigen Subjektes, in dem das Subjektsein jener, die sie bilden, verschwände. Die Einheit, die in Gemeinschaft geschieht, ist eine Einheit in Unterschiedenheit; die Worte Ge-

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meinschaft und Kollektiv lassen sich in achtsamem Sprechen nicht miteinander vertauschen. Worin besteht dann aber das Einende von Gemeinschaft? Eine große Bandbreite von Möglichkeiten tut sich hier auf; das Wort Gemeinschaft läßt sich mit schier beliebig vielen spezifizierenden Worten zusammensetzen. Es muß zunächst fragwürdig erscheinen, wenn gesagt wird: Die Gemeinschaft gründenden und bestimmenden Momente haben es allesamt mit der Freiheit der Partner zu tun. Gibt es nicht Schicksalsgemeinschaft, Blutsgemeinschaft, Notgemeinschaft? Doch auch und gerade dort, wo keineswegs durch Wahl entsprungene Gemeinsamkeiten den Hintergrund für Gemeinschaft bilden, sagt das Wort Gemeinschaft als solches aus, daß durch dieselbe Vorgabe eine Herausforderung an die Freiheit der Partner erfolgt, sich in das Verhältnis zur objektiven Gemeinsamkeit zu begeben, sie als Verbindendes wahrzunehmen und ernstzunehmen. Tragen wir die beobachteten - für eine Wesensbestimmung von Gemeinschaft noch keineswegs genügenden - phänomenalen Momente zusammen, die zumindest im Begriff von Gemeinschaft enthalten sind und sie mitkonstituieren, so bemerken wir: Gemeinschaft hat keinen bloß wesensmäßigen, sondern einen existentiellen, geschichtlichen Charakter. Sie ist Einheit zwischen vielen Subjekten, die in ihrem Subjektsein nicht in die Gemeinschaft hinein nivelliert werden; sich zum Seiben verhaltend, verhalten sie sich vielmehr zueinander, bleiben somit unterschieden. Sich verhalten aber ist Sache der Freiheit. Gemeinschaft ist als solche Gemeinschaft von freien Partnern, die, sich zu einem Gemeinsamen verhaltend, sich zu sich selbst und zueinander verhalten. Wir fragten bislang noch nicht danach, wie denn Person zu verstehen sei; dennoch ist unschwer auszumachen, daß die Kennzeichen der Partner von Gemeinschaft dem Vorverständnis von Person entsprechen. Wer Gemeinschaft sagt, der sagt in der Tat auch Person. Die schon eingangs erwähnte Gegenfrage bleibt so aufgegeben: Sagen wir, Person sagend, auch Gemeinschaft? In diese Frage wollen uns die nächsten Schritte unseres Nachdenkens hineingeleiten.

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II. Zweiter Schritt: Der theologische Hintergrund des Personbegriffs und sein latenter Gemeinschaftsbezug Wir versuchen eine Annäherung an den Personbegriff nicht, wie im Falle des Begriffes Gemeinschaft, phänomenologisch, sondern in einem freilich sehr summarischen Sinne geschichtlich. Dies hat sachliche Gründe. Das Wort Gemeinschaft wächst uns zu aus einem allgemeinen Sprachgebrauch, der- wie der Blick in unterschiedliche lexikalische Literatur bestätigt - kaum mit einer von langer Hand her faßbaren begrifflichen Arbeit verbunden und durch sie differenziert ist. Das Wort Person ist, vom griechischen "prosopon" und vom lateinischen "persona" zwar durchaus in einem vor- und unphilosophischen Sinn von Gestalt, Rolle, einzelnem Menschen als Akteur in die deutsche Sprache gekommen - die philosophischen Implikationen eines solchen Gebrauches mögen hier einmal auf Seite bleiben; doch läuft abgehoben davon die philosophische und theologische Ausarbeitung des Personbegriffs in einer eigenen Bemühung, wie es sie parallel für das Wort Gemeinschaft nicht gibt. Der Blick in die Geschichte dieser philosophischen und theologischen Bemühung überrascht indessen. Wir dürfen sagen: Person ist ein Hauptbegriff der Anthropologie, der Ethik, des verantwortlichen Sprechens und Nachdenkens über gesellschaftliche Zusammenhänge geworden. Die reflexive Ausdrücklichkeit des Sprechens von Person im heute uns gängigen Sinne setzt aber erst verhältnismäßig spät ein; der Personbegriff ist nicht die Wurzel, eher die Bekrönung jener gedanklichen Arbeit, die auf der Basis der griechischen Philosophie im Abendland Wesen und Existenz des Geistigen klärte. Dabei ist von besonderem Belang, daß der Anlaß zur Erarbeitung des Personbegriffs ein theologischer war, und dies in zwei Zusammenhängen, die ihrerseits wieder miteinander verknüpft sind. Christologie und Trinitätslehre sind die Punkte, die zur denkerischen Entwicklung des Personbegriffs führten. Christologie: In Jesus Christus schenkt Gott nicht etwas von sich, sondern sich, er ist als Gott da, unvermischt, unverkürzt. Er selbst will ganze Gemeinschaft mit uns haben. Dazu gehört aber, daß nicht nur er als er selber ganz inne ist in diesem Christusgeschehen, in dieser Christuswirklichkeit, sondern auch wir, unser Menschsein sind in ihm unverkürzt, unvermischt zugegen. Dann aber können in Jesus Christus nicht ein göttliches und ein menschliches Selbstverhältnis nebeneinander stehen, sondern der sich zu seinem 3 FS Rauschtr

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Gottsein und zu seinem Menschsein Verhaltende ist Einer. Die Lehre von der einen göttlichen Person des Sohnes in ihren zwei Naturen, der göttlichen und der menschlichen, wird zum Punkt, an dem in einem mühsamen und keineswegs nur geradlinig verlaufenden Ringen der Personbegriff als solcher erbildet wird. Das Interesse ist nicht das einer Gedankenspielerei, sondern gilt dem gemäßen Verständnis jener Gemeinschaft, die Gott mit uns Menschen in Jesus Christus hat und haben will. Diese theologische Präzisierung des Personbegriffs in der Christologie kann aber gar nicht statthaben, ohne daß in einem Atem im Verhältnis von Vater, Sohn und Geist die entsprechende Klärung des Personseins geschieht: in der Trinitätslehre also. Die einschlägigen Denkbemühungen setzen sich fort bis hinein in das hohe Mittelalter; Thomas von Aquin und Bonaventura, aber auch Duns Scotus tragen Wichtiges dazu bei. Auch hier sei nicht so sehr die immanente spekulative Arbeit in unserem Blick als vielmehr das leitende Interesse: Wie kann die absolute Einheit, Einmaligkeit und Einfachheit Gottes gedacht werden in der Freiheit der Personen, die absolut gleich, miteinander eins und voneinander unterschieden sind? Die Einheit Gottes ist da in einer immanenten Beziehung, sein absolut eines und einziges Wesen im gegenseitigen Schenken und Beschenktwerden, sich schlechterdings in sich selber schließend und so gerade offen zur Selbstmitteilung. Dieser trinitarische Personbegriff ist ebenso weit entfernt von dem Gedanken des Tritheismus, also der drei Götter, wie von einem Gottesbegriff, der sich an der endlichen Einzelperson orientierte und ihr das Spiel dreier Rollen zuwiese (Sabellianismus, Modalismus). So wenig also die Trinität einfach im Paradigma einer menschlichen Gemeinschaft aufgeht, so tief muß doch das sowohl Person wie Gemeinschaft Konstituierende von seinem trinitarischen Woher verstanden und in Blick genommen werden. Hier sind theologische und anthropologische Aufgaben, die, in Treue zur großen Tradition und ihrem frappierend genauen Ansatz, doch auf neuen Denkwegen anzugehen sind. Wir können unseren zweiten Gedankenschritt dergestalt zusammenfassen: Der Anlaß zur Ausbildung des modernen Personbegriffs liegt im verantworteten Verstehenwollen jener ganzen Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen, in die Gott sich als Gott ganz einbringt und in der wir als Menschen ganz von ihm und in ihm angenommen sind. Dies heißt aber, daß die eine göttliche Person des Sohnes, ihre göttliche Natur wahrend, die menschliche Natur an-

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nehmen kann, daß göttliche und menschliche Natur also in der einen göttlichen Person zu subsistieren vermögen. Darin freilich ist eingeschlossen, daß der Sohn, seine göttliche Person, sich von jener des Vaters und des Sohnes als Person unterscheidet, in solcher Unterscheidung aber diese drei Personen der eine und einzige Gott sind. Die darin mitgesetzten Konsequenzen für menschliches Personsein sind in diesem Denken angelegt, aber in ihm allein noch nicht entfaltet. Welche Chancen und Schwierigkeiten einer reflexiven Erfassung des Zusammenhangs Person und Gemeinschaft das bislang entworfene Denken in sich birgt, soll uns bei den nächsten Schritten unseres Weges ansichtig werden.

111. Dritter Schritt: Fragwürdigkeit des Zusammenhanges Person und Gemeinschaft im klassischen Personbegriff Der initiierende und bis heute durchtragende Versuch, Person begrifflich zu fassen, stammt von Boethius: "Persona est naturae rationalis individua substantia" (De duabus naturis III). An dieser Stelle unseres Gedankenweges geht es uns nicht um die Auslegung der Formel, sondern um den Hinweis darauf, daß diese anfängliche und dann leitend gebliebene Prägung des Personbegriffs auf das Selbstsein und nicht auf das Mitsein zielt. Der Personbegriff ist in seiner Anlage also nicht auf Gemeinschaft hin gelesen, sondern gerade auf den Stand in sich, das Sich-Schließen in sich selbst. Dies wird in der weiterführenden Ausarbeitung des Personbegriffs in der Scholastik eher noch verschärft, wenn Thomas von Aquin Person etwa (Sentenzenkommentar I, 30) als incommunicabilis subsistentia bezeichnet. Das steht, konsequent weitergedacht, freilich nicht im Gegensatz zu der im zweiten Schritt gezeichneten theologischen Intention, aus welcher der Personbegriff heraus entfaltet wird. Denn nur der Stand in sich, nur die Unterscheidung vom anderen läßt Gemeinschaft zu, konstituiert Partnerschaft in ihr. Die Kommunikation mit dem anderen wird nur dadurch gewährleistet, daß der Kommunizierende sich nicht in den Partner hinein auflöst. Kommunikation und in und mit ihr Gemeinschaft "brauchen" die Eigenständigkeil und Unterscheidung gegenüber dem Partner, sie brauchen aber auch die Unterschiedenheil dieses Partners in sich von dem, was diesem mitgeteilt, worin mit diesem kommuniziert wird: Unterscheidung von Person und Person, Unterscheidung von Person und Wesen.

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Eine Verschärfung der Inkommunikabilität von Person und der Betonung von Substanz bzw. Subsistenz in sich scheint auf im Satz des Thomas: "Excluditur a persona ratio assumptibilis" [Summa theologiae (= Sth) q 29 a 1 ad 2]. Eine Person kann nicht als Person von einer anderen "angenommen" werden, so wie die Natur des Menschseins von der Person des Sohnes angenommen worden ist. In aller Kommunikation bleibt Person in sich selbst bestehen. Hiermit ist eindeutig ausgedrückt, daß Person nicht ein kommunikahles Gut ist, das ontisch der andere werden kann. Freilich klingt gerade in dem Ton, der auf dem "assumere" liegt, im Annehmen und In-sich-Nehmen also, zugleich mit, daß solches Stehen in sich und Sich-Unterscheiden der Ort ist, in dem das, was des anderen ist, auch mein zu werden vermag. Die Person ist zwar das, was ihr Wesen ist; sie ist das Da und Daß der Geistnatur. Aber sie ist nicht Geistnatur, sondern eben ihr Dasein. Und dieses Dasein, das sich nicht in seine eigene Natur hinein auflöst, sondern zu ihr verhält, indem es sich über sich hinaus verhält, kann der Ansatzpunkt sein, um in einem nächsten Schritt die Formel des Boethius und ein auf sie gründendes Denken im Blick auf Gemeinschaft neu zu lesen. Die Problematik eines Denkens bloß von der Substanz her für das Verständnis von Person sei nicht geleugnet, aber es gilt, zuerst und zunächst in die innere Tiefe dieses Substanzdenkens einzudringen. Dies gilt auch für die vielleicht schärfste Formulierung, die uns die mittelalterliche Philosophie im Nachdenken über die Person beschert. Bonaventura spricht in Blick auf Personalität von einer "privatio communitatis", bemerkt aber hierzu: "Privatio illa in persona magis est positio quam privatio." [Sentenzenkommentar ( = Sent) I 25,2, 1 Conclusio I 443]. Für Bonaventura bedeutet solche positive "privatio" den Ausschluß einer Reduktion von Person auf Allgemeinwesen, aber so gerade die Öffnung in eine durch Beziehung ausgezeichnete Fülle der Einheit (vgl. seine Reflexionen über die Einheit als indivisio in Hexaemeron XI 8). IV. Vierter Schritt: Die Öffnung der Subsistenz in sich zur Kommunikation Die Formel des Boethius und ihr folgende, teilweise präzisierende Formeln bei den Scholastikern können, ja müssen in doppelter Richtung gelesen werden. Dies wird exemplarisch deutlich an einer Bemerkung von Thomas von

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Aquin: " ... persona significat id quod est perfectissimum in tota natura; scilicet subsistens in rationaH natura." (Sth I q 29 a 3 c.a.) Hierbei kommt das Wort Natur in zwei Bedeutungen vor. Am Schluß, als "rationalis natura" im bei Thomas üblichen Sinne, nämlich gleichsinnig mit Wesen, essentia, aber akzentuiert als Prinzip jenes Wirkens, das mit dem Sein unmittelbar verbunden ist und aus ihm folgt. Doch der Gebrauch des Wortes Natur im ersten Halbsatz hebt sich davon ab, hier ist offenbar die Gesamtheit des Seienden gemeint. Die Vorstellung des Seienden ist jene der "physis", der Entfaltung, des Aufgangs des Seins in die Fülle seiner Wesenheiten und Arten hinein. Dieses Gesamt, das in naturhafter Gliederung angeschaut wird, gipfelt im Geist, genauer in der Person, die die in sich stehende Existenz eines Seienden meint, dessen Wesen eben Geist ist. Person wird in diesem Ansatz nicht von Geschichte, Verantwortung, Kommunikation, Gemeinschaft her gelesen, sondern von Natur, von einem Sein her, das in sich unterscheidende genera und species gegliedert ist. Wo dieses Grundverständnis des Seins vorherrschend ist, da läßt sich ontologisch kaum ein Verbindungsweg zwischen Personalität und Gemeinschaft vermuten. Es gibt aber eine zweite Sichtweise, die bei der inhaltlichen Füllung dessen ansetzt, was als die rationalis natura erscheint. Dieses Geistwesen (rationalis natura) geht nicht darin auf, eine Seinsweise neben anderen Seinsweisen zu bezeichnen, im gesamten Kosmos des Seins (in der Natur als dem alles, was ist, Umfangenden) eine Region neben anderen Regionen des Seins zu umschreiben; vielmehr geht es beim Geistwesen um das Sein als solches, um das Sein im ganzen. Es besetzt nicht nur einen umgrenzten Bereich auf der Landkarte des Seienden, vielmehr ist sein Bereich die Landkarte im ganzen. Was etwa Thomas von der "anima", von der Geistseele des Menschen sagt, erhellt - bei aller fälligen Distinktion zwischen Seele, Person und Geistwesen - inhaltlich das Geistwesen als solches. Dieanima ist "nata" (also von ihrer Natur her angelegt darauf), mit allem, was ist, übereinzukommen. Sie ist in diesem Sinne "gewissermaßen alles" (vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae de Veritate q 1 a 1). Es gehört nicht nur zur menschlichen Seele, sondern zur Geistnatur als einer solchen, daß das Sein als Sein in den Blick kommt, daß alles unter der Hinsicht auf das Sein selber gesehen, gewollt, ergriffen, vollzogen wird. So aber ist der "Anteil" der Geistnatur das "Ganze", das sie Unterscheidende die universale EinschließlichkeiL

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Es versteht sich von selbst, daß hiermit keineswegs eine ontische Vereinnahmung aller Seienden für die Geistnatur erfolgt, ganz im Gegenteil. Indem alles, was ist, in seinem Sein gesehen und bejaht wird, indem von dort aus der Wahrheits- und Gutheitsvollzug in Gang kommt, ist ja zugleich ein Gegenübersein zu allem, was ist, begründet, das nicht untergeht, indem z. B. die Seele alles ist. Die Geistnatur kann subsistieren nur in der Person. Die Person aber, die kraft der in ihr subsistierenden Geistnatur alles in ihren eigenen Horizont einbezieht, ist ihrerseits der Seihstand des geistig Seienden, somit der Grund des Gegenüberseins zu allem, was ist. Das Convenire", die wesensmäßige Verbundenheit mit dem, was ist, die Einung mit dem Seienden und seinem Sein hat in der Person zugleich den Charakter der Unterscheidung. Geistnatur ist also bestimmt durch den untrennbar einen Bezug zum Sein, zu allem, zu sich selbst. Im Lichte des Seins nämlich ist alles im Blick und ist der Blick auf alles sich selbst im Blick. Der Vollzug der Geistnatur, ihr Ort, in dem sie stehen und bestehen kann, ist die Person. So rücken, tiefer betrachtet, in den Aussagen des Boethius, des Thomas und der anderen großen Denker, die zwischen den trinitarischen und christologischen Auseinandersetzungen der frühen Kirche und dem Hochmittelalter das Verständnis der Personalität entfaltet haben, die beiden Charaktere der Ausschließlichkeit und Einschließlichkeit von Person in einen unmittelbaren, sich gegenseitig bedingenden Kontext. Weil die Person nicht von einem anderen aufgenommen und übernommen werden kann, sondern in sich selber steht, steht sie zu allem, steht alles in ihr; weil ihr der Bezug zu allem aus dem Bezug zum Sein her eignet, steht sie zu sich selbst in Bezug und somit allem gegenüber. In dieser Verfaßtheit aber eröffnet sich eine Annäherung zwischen Person und Gemeinschaft. Das Bedenken ihres inneren Zusammenhanges gewinnt einen Ansatz. II

II

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V. Fünfter Schritt: Personalität - Universalität - Interpersonalität

Die Konvenienz, das "Zusammenkommen" von Seele und Sein, von Seele und Universalität, ist im Sinne scholastischen Denkens zum einen kein bloß subjektiver Prozeß ohne allgemeine Verbindlichkeit, ohne ontologischen Rang; zum anderen- und darauf legt Thomas immer wieder Wert- darf dieser Prozeß nicht gedeutet werden als ein Vollzug, der nicht der einzelnen Person angehörte, sondern einer Allseele, einem einzigen "intellectus agens" im ontisch-numerischen Sinn. Es handelt sich um allgemeine, objektive Erkennt-

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nis und um ein Streben, das vom wahrhaft Guten geleitet ist und es zu ergreifen vermag; doch ist der Akt des Erkennensund des Wollens der Akt des je einzelnen, der Akt der Person, die eben individuale, inkommunikable Subsistenz einer Geistnatur bedeutet. Es ist also nicht der Fall, daß einzelne mit Geistnatur begabte Seiende sich ihre jeweiligen Bilder machen und Ziele suchen, die nicht an der Sache selbst, am wahrhaft Wahren und wahrhaft Guten zu bemessen wären. Es geht im Vollzug der einzelnen Personen in ihrer unvertretbaren Einmaligkeit um das wahrhaft Wahre und Gute, um das Sein selbst, das über den Rang der jeweiligen Individualität hinausreicht. Anderseits ist es aber auch nicht der Fall, daß dieses Wahre und Gute, daß das Sein in den einzelnen geistbegabt Seienden sich selber in einer Art Automatik und Egalität abbildeten und einprägten, vielmehr ist ein vielfältiger Selbstvollzug der einzelnen Personen der Weg, auf dem sich Übereinkunft im wahrhaft Wahren und Guten vollzieht; und solche Übereinkunft vollzieht sich von der je einzelnen Person her, aber eben dergestalt, daß die einzelne Person sich am Sein, am Wahren und Guten selber orientiert, von ihnen her, von ihrer Gegebenheit her denkend, wollend, handelnd. Damit aber ist unausweichlich Zusammenkommen, Konvenienz zwischen Geistnatur und Sein (das Wahrheit und Gutheit umschließt) in personalem Vollzug auch Zusammenkunft zwischen personalen Vollzügen, die sich unterscheiden und dennoch dasselbe, eben das Sein des Seienden, seine Wahrheit und Gutheit vollziehen. Die Individualität des personalen Vollzuges vollzieht die Universalität des Seins, und in dieser Universalität der Geltung des Wahrheits- und Gutheitsvollzugs ist zugleich lnterpersonalität, Gemeinschaft von Personen angelegt. Sie ist in nuce mitgegeben mit der Personalität. Was aber bedeutet solche Interpersonalität als Kennzeichen von Personalität? VI. Sechster Schritt: Interpersonalität als Einung und Unterscheidung Halten wir fest: Person ist die Subsistenz, der seinshafte, konstitutive (nicht notwendigerweise faktisch je realisierte und bewußte) Vollzug (Seinsakt) der Geistnatur; diese Geistnatur aber umspannt (als Natur, als Wesen) das Verhältnis zum Sein, somit aber zu allem und somit zu je sich selbst. Daraus nun folgt: Personen kommen kraft ihrer Geistnatur (wieder in einem konstitutiven, nicht jeweils notwendig vollauf realisierten Sinne) von sich aus

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überein mit dem, was von sich her ist und, im Ansatz, wie es ist. Damit aber ist in der seinshaften Unterschiedenheil der Personen ihnen zugleich aufgrund ihrer Geistnatur auch der Bezug zum Selben, zum Sein, zum Ganzen, zu jeweils sich selbst zu eigen. Aus diesen Verhältnissen nun läßt sich erschließen, daß sie, zum Seiben sich verhaltend, sich auch zueinander verhalten, und zwar so, daß in diesem Verhalten auch die Unterscheidung voneinander präsent und keineswegs nivelliert ist. Wir haben es hier also mit einer erschlossenen Interpersonalität zu tun. lnterpersonalität ist in dieser Betrachtungsweise nicht unmittelbar angeschaut, sondern eben als Konsequenz ermittelt, der freilich in der Begegnung eine unmittelbare Intuition entspricht. Bleiben wir im Feld solcher erschlossener lnterpersonalität. Wir nehmen zwei an ihr ablesbare Eigentümlichkeiten in den Blick. Die erste betrifft die Ebene der Beziehung zwischen Personen. Sofern eine Person sich auf Seiendes bezieht, dem nicht oder sofern ihm nicht ein Geistwesen eignet, ist die Beziehung zwischen der Person und diesem Seienden von seiten der Person und von seiten des Seienden her jeweils fundamental verschieden. Während das Sein des Seienden als solches eingeht in die Beziehung der Person zu diesem Seienden, ist das Sein des Seienden und somit das Sein der Person als Person im Vollzug des Seienden, in seiner Beziehung zur Person nicht gegenwärtig. Wenn hingegen Personen in der Offenbarkeit ihres Personseins einander begegnen, dann tritt die Beziehung der einen zur anderen und der anderen zur einen wechselseitig und gemeinsam ins Licht. Wechselseitig und gemeinsam: Es bleibt nicht bei einer Addition in sich wesensmäßig gleicher, aber einander nicht betreffender Bezüge. Es kommt vielmehr zu einer Einheit, welche die Pole der beiden Bezüge, die Personen und ihre je eigene Beziehung zur anderen nicht ineinander auflöst, sondern sie in einen einzigen lichten Zwischenraum (es geht ums Selbe, es geht ums Ganze, es geht um dich und mich) einfügt; in dieser Einfügung aber wird gerade die Unterscheidbarkeil und Unterscheidung gewährleistet, es wird in diesem lichten Zwischenraum die Pluralität der Bezüge in ihrer Einheit miteinander hell. Eine zweite Eigentümlichkeit betrifft die Kommunikation der unterschiedenen und in ihrer Unterschiedenheil aufs Selbe bezogenen, im Seiben füreinander hellen Personen. Weil die Geistnatur in Personen subsistiert, können sie in einem fundamentalen Sinn miteinander sprechen, sie sind der Namen und

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Begriffe fähig. Was die Sache in sich bezeichnet, das kann sie für mich und dich bezeichnen, Worte können gemeinsame Worte werden, Sprache, in der dasselbe gegenwärtig ist und mir gleichzeitig die II anderen 11 als Partner gegenwärtig sind. Sprache ist Ausdruck zugleich der Sache, die sich in die Seinsbezogenheit der Personen als sie selbst hineingibt, wie auch Ausdruck der Personen in ihrer Eigenheit und SelbstgehörigkeiL Doch muß dieser Blick auf die ontologische Genese von Sprache aus dem Sein und der Person sich auf einen dritten Pol hin öffnen: Sprechen als je mein Sprechen setzt nicht beim Nullpunkt an, sondern bei der von anderen Personen bereits zugesprochenen und von ihnen mitgesprochenen Sprache. Zwar kann diese Beziehung nicht aus dem Personbegriff abgeleitet werden, sofern dieser bei der natural verstandenen Geistigkeit ansetzt - oder doch? Jedenfalls gehört zur Geistnatur die Fähigkeit, das Sich-Zeigen und somit Sich-Mitteilen dessen, was ist, zu empfangen und mitzuvollziehen. Zum Sein dessen, was ist, gehören aber auch die Sprachlichkeit und sprachliche Geprägtheit der anderen Personen als höchste Weise des Sieh-Zeigens und Sich-Mitteilens von Person als Person. Sprachlichkeit ist dem Geistwesen eingeschrieben als Möglichkeit des gegenseitigen Austauschs der Personen über das Sein und im Sein. Eine ontologisch verstandene Sprachgemeinschaft ist der Punkt, an dem beim Ausgang vom klassischen Personbegriff Gemeinschaft als zugehörig zur Personalität in den Blick kommt. Sprechen heißt im Ansatz: miteinander sprechen, auch dort, wo dieses Sprechen miteinander nicht aktualisiert wird. Die Einheit in der Unterscheidung, die grundsätzliche Freiheit des Sich-Einbringens der Partner, die Bezogenheit aufs Selbe, somit aber Wesensmerkmale von Gemeinschaft tragen sich der Interpersonalität ein, wenn sie sich auf Sprache hin auslegt. Mit dieser Bemerkung ist freilich die leitende Eingangsfrage erst in einem recht anfänglichen Sinne beantwortet: Sagt, wer Person sagt, auch Gemeinschaft? Ein weiterer Schritt soll die Einsicht in den Zusammenhang zwischen Person und Gemeinschaft aus einem die Person konstituierenden Grund, aus einem sie ontologisch fundierenden Akt sichtbar machen.

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VII. Siebter Schritt: Konstitution von Person als Konstitution von Gemeinschaft Kehren wir nochmals zurück zur Fassung des Personbegriffs in der Tradition, die von Boethius ausgeht. Die "individua substantia", thomasisch ausgedrückt die inkommunikable Subsistenz, sagt zwar aus, daß der Vollzug ihrer selbst, ihrer Hinordnung aufs Sein, aufs Ganze, auf den und die anderen durch die Person selbst geschieht. Sie ist nicht "assumptibilis", kann sich nicht dispensieren von sich selbst, sich selbst nicht "abgenommen" werden. Noch viel weniger aber kann sich die Person ihr Personsein, ihre Geistnatur oder kann die Geistnatur sich ihr Personsein selber geben. Natürlich kommt jedem Seienden sein Sein nicht aus sich selber, sondern von dem her zu, der das Sein selber ist. Doch diese ontologische Konstitution reicht im Fall der Person ins Ontische hinein, in Entstehen und Bestand des Personseienden. Gegenstände können in ihrem ontischen Bestand hergestellt werden, Naturseiendes, Lebewesen können aufgrund von naturalen Zusammenhängen entstehen. Seiendes, zu dem es gehört, daß in ihm es selber und das Sein im ganzen anwesend sind, tritt durch diese seine für es konstitutive Qualität aus der Reihe des Zeugens, Herstellens, Erwachsens aus ihm äußerlichen Zusammenhängen heraus. Personalität hat es mit einer unmittelbaren Relation ihrerseits zum Schöpfer zu tun, andernfalls kann sie - im Kontext klassischer Ontologie betrachtet - nicht sein und nicht verstanden werden. Dem entspricht die Lehre von der unmittelbaren Erschaffung der Seele durch Gott, in der ja a fortiori die Erschaffung der Person eingeschlossen ist (vgl. Thomas von Aquin, Sth I q 76 a 6 ad 1) Dieser Tatbestand bedarf zwar der spekulativen Vermittlung; in dieser aber wird offenbar, daß Personsein eine Teilhabe am absoluten Sein, die nicht auf Zweitursachen reduzierbar ist, zum inneren Seinsgrund hat. Wohl ist bei Boethius die Rede von der Person als einer "individua substantia", doch gilt für diese "Individualität" gerade nicht als Individuationsprinzip die "materia quantitate signata" (vgl. Thomas von Aquin, Sth I 29 a 1 insgesamt). Bonaventura hebt eigens hervor, daß das Unterscheidende der Person nicht in der Materie liegen kann wie bei der Individuation, weil eben Person Würde bezeichnet (vgl. Sent II 3,1,2,3 Conclusio II 110 sowie Sent I 25,2,1 Conclusio I 443). Die naturale Gotteserkenntnis nach Thomas von Aquin ist für den Menschen nicht eine unmittelbare Erleuchtung, sondern Ergebnis des von der Wirkung auf die Ursache schlußfolgemden Denkens, in dem die noch vorre-

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flexive Hinordnung des Menschenwesens auf Gott sich selber durchsichtig und begrifflich faßbar wird (vgl. Sth I q 2 a 1-3). Nichtsdestoweniger aber ist die Seele sich selbst und ist Gott der Seele zwar nicht in actu, aber habitualiter seinshaftgegenwärtig (vgl. Thomas von Aquin, Sth I q 93 a 7 ad 4). Was hat dies indessen mit unserer Frage nach Person und Gemeinschaft zu tun? Der Grund von Personalität ist das Gewolltsein und Gerufensein der Person von Gott. Dieses Gewollt- und Gerufensein, das die Person mit dem Seienden gemeinsam hat, ist im spezifischen Fall der Person aber dadurch ausgezeichnet, daß es dem Prinzip und der Möglichkeit nach als solches bei der Person ankommt, in ihr lebt. Sie ist im qualifizierten Sinne in ihr Sein gerufen; und dieses Gerufensein ruft zugleich nach Antwort, ermöglicht zugleich Antwort, ermöglicht Anrufung Gottes durch die Person. So sehr es sich bei dem beschriebenen Tatbestand um geschöpfliehe Person handelt, so deutlich ist doch, daß - im Kontext einer christlichen Theologie - sich Entsprechendes auch für Person überhaupt sagen läßt, da personale relatio den dreifaltigen Gott in sich selber kennzeichnet. Kehren wir in den Bereich geschöpflieber Personalität zurück: Die "Sprachlichkeit", die, Gemeinschaft stiftend, dem Personsein zugehört, ist verankert im Ursprungsverhältnis der geschaffenen Person zu Gott selbst. Das Ich-Sagen der Person ist von ihrem Wesen her bereits Antworten - wie auch immer dieses Antworten Stellung bezieht zu dem die Person gründenden Ruf ins Sein -. Die Hinordnung der Person auf den sie gründenden Anruf Gottes bringt die Verhältnisse ins Spiel, die sich uns in der Sprachlichkeit personaler Existenz aufdeckten. Diese Sprachlichkeit steht nicht beziehungslos neben der Ursprungsbeziehung der Person, sondern ist mit ihr unlöslich verbunden. Die Beziehung zum Schöpfer, in welcher die Person konstituiert und zur Gemeinschaft mit ihm gerufen ist, umfängt ja mit dem Schöpfer zugleich das Sein im ganzen und das eigene Selbstsein der Person. Der Schöpfer ist untrennbar als je mein Schöpfer auch der Schöpfer des Ganzen. Die Antwort an ihn ist Verantwortung fürs Ganze. Die Sprachlichkeit, die Intersubjektivität, die sich als Sprachgemeinschaft auslegt, umschreibt einen Verantwortungsraum, der unteilbar ist: Er umfaßt im Ansatz mich, die anderen, alles. Er legt sich darin aus als Raum der Verantwortung für ... und Raum der Verantwortung mit ....

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Sprechen ermöglicht grundsätzlich die Begegnung mit einem anderen, die Ich-Du-Beziehung. Sprechen begründet zugleich aber die Gemeinschaft mit dem anderen, das gemeinsame Ionesteben in derselben Welt, inder-im Ansatz- selben Sprache. Begegnung und Gemeinschaft ermöglichen und durchdringen sich gegenseitig im personalen Mitsein. Beide aber sind miteinander verbunden in jener Verantwortung vor dem Ruf Gottes, der die Person gründet und so zugleich die Zugehörigkeit der Personen zueinander gründet, die bewußt oder unbewußt, ausdrücklich oder unausdrücklich vor Gottes Angesicht und in gleicher Unausweichlichkeit voreinander und miteinander im Sein stehen. In der Personalität sind so unlöslich miteinander verknüpft der Charakter des Ich, jener des Du und jener des Wir. Und sie sind verknüpft in der Beziehung zu Gott und in der Beziehung zu dem, ja zu allem, was ist. In voraufgehender Skizze wurde versucht, den Weg von Person zu Gemeinschaft aus dem scheinbar einer solchen Synthese widerstrebenden "naturalen" Personbegriff der klassischen Metaphysik eines Boethius und, in der Folge, eines Thomas zu gehen. Die Offenheit dieser klassischen Metaphysik für "moderne" Fragestellungen trat dabei zutage. Es wäre reizvoll, auch den umgekehrten Weg einzuschlagen, der von einem Seinsverständnis, das in der relatio als solcher gründet, ausgeht, um zu denselben Bestimmungen und Einsichten zu gelangen. Beide Weisen des Vorgehens treffen sich, sofern sie sich theologisch durchsichtig werden, in jenen Voraussetzungen, die für die Entwicklung des spekulativen Personbegriffs tragend wurden: in dem Verstehen jener Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen, die in der Menschwerdung Gottes sich vollzieht und in der Trinität den Grund ihrer Möglichkeit, ihr höchstes Modell und ihr Ziel hat. Auf beiden Wegen zeigt sich ebenfalls die Dringlichkeit und Möglichkeit des Überstiegs über eine "reine" Philosophie und Theologie zu einer Lehre und Theorie von gesellschaftlichem Handeln aus christlicher Verantwortung, dessen Pole dieselben sind: Unterscheidung und Einheit zwischen Person und Gemeinschaft.

Menschenwürde und politische Kultur Von Alfred Klose

I. Grundlegung Das 20. Jahrhundert zeigt auch in seiner letzten Phase, daß Verletzungen der Menschenwürde und der Menschenrechte durch Krieg und politische Verfolgung nach wie vor weit verbreitet sind. Der Zerfall Jugoslawiens, die Neuordnung der GUS-Staaten und immer neue revolutionäre Ereignisse in Afrika, Hunger und Elend in den Massenquartieren der Dritten Welt, die traditionellen Konfliktherde im Nahen und Mittleren Osten sind nur die wichtigsten Bereiche immer neuer Mißachtung der in internationalen Deklarationen und Verfassungen verankerten Menschenrechte, ganz allgemein der Würde eben dieses Menschen. Können wir hoffen, daß das neue Jahrtausend eine bessere Ausgangslage für die dauerhaften Grundlagen für ein Leben des einzelnen Menschen in Würde und Freiheit sicherstellt? Oder wird das 21. Jahrhundert auch grauenvolle Fehlentwicklungen bringen wie in dem zu Ende gehenden Jahrhundert der menschenverachtenden Ideologien des Nationalsozialismus, des Faschismus und des totalitären Kommunismus, der Weltkriege und der Atomwaffen? Anton Rauscher weist darauf hin, daß die Würde des Menschen besagt, daß er mit Verstand und freiem Willen ausgestattet ist, deshalb einen Eigenwert um seiner selbst willen habe, damit eben die Fähigkeit sittlicher und eigenverantwortlicher Freiheit besitze. 1 Entscheidend ist nun, daß diese Würde jedem Menschen zukommt, sosehr auch die soziale und politische Wirklichkeit damit in so krassem Widerspruch steht. Rauscher sagt dazu, daß diese Menschenwürde dem einzelnen nicht vom Kulturprozeß verliehen werde: Dennoch ist deutlich, daß erst der geistig-kulturelle Fortschritt die Chancen eröffnet 1 Rauscher, Anton: Das Grundgesetz und das christliche Menschen- und Gesellschaftsverständnis, in: ders.: Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung (= Kirche in der Welt), 2. Bd., Würzburg 1988, 53-69, 57.

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hat, daß ein Bewußtsein von dieser Menschenwürde verbreitet wird, wenn auch weltweit gesehen erst in einem so unvollkommenen Ausmaß. Mit Recht wird heute in der politikwissenschaftlichen Literatur darauf hingewiesen, daß der Begriff der politischen Kultur mehr Verhaltensweisen als Zielvorstellungen umschreiben will; es wirken hier viele Faktoren zusammen; so besonders die sozioökonomische Struktur, die institutionellen Gegebenheiten im politischen System, weiterhin Formen der politischen Verwirklichung.2 Noch so perfekte Umschreibungen der Menschenwürde und der Menschenrechte in den Verfassungen nützen wenig, wenn die politische Wirklichkeit durch gewaltsame Eingriffe in das politische Leben, durch willkürliche Verhaftungen mißliebiger Bürger oder durch Toleranz gegenüber aggressiven Gruppierungen durch die Staatsgewalt gekennzeichnet ist. Es ist, wie die Erfahrung in einer Reihe von Staaten immer wieder zeigt, nicht immer eine Mißachtung der Menschenwürde durch die zentralen staatlichen Institutionen beabsichtigt, vielfach fehlt einfach die Fähigkeit, sich auch gegenüber allen Staatsorganen durchzusetzen. So wurde von einem demokratisch gesinnten Vertreter eines großen lateinamerikanischen Staates dem Autor erklärt, daß die Kontrolle einzelner entlegener Polizeiposten bei den gewaltigen Ausdehnungen dieses Staates überaus schwierig sei, Übergriffe daher nicht immer geahndet würden. Tatsächlich gewinnen wir als Besucher solcher Staaten immer wieder den Eindruck, daß die institutionellen Voraussetzungen eines Rechtsstaates von entscheidender Bedeutung sind, freilich noch wichtiger die Entschlossenheit der maßgebenden Staatsorgane, Menschenwürde und Menschenrechte auf allen Ebenen der politischen Wirklichkeit durchzusetzen. D. Wertorientierung des politischen Handeins

Politisches Handeln ist in dem Sinn wertorientiert, als es von einem Menschenbild ausgeht. Geht politisches Hendeln aber von einer ganzheitlichen Betrachtungsweise in dem Sinn aus, daß etwa die Staatsräson im Mittelpunkt steht, daß die Stabilität des Staates erstrangiges Ziel ist, wird es zu einer Abwertung des einzelnen Menschen kommen, auch wenn dies nicht unmittelbar beabsichtigt ist. Wir sehen auch hier die Wirklichkeit vor allem vieler Staaten 2 Rausch, Heinz: Art. Politische Kultur, in: Staatslexikon, 7. Aufl., Bd. 4, 462 ff.

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der Dritten Welt, wo kollektive Interessen so sehr betont werden, daß demgegenüber der einzelne sehr weitgehend zurücktritt. Daß dieses Denken auch nach dem Zusammenbruch des totalitären Kommunismus in fast allen Staaten da und dort nicht überwunden ist, können wir immer wieder erkennen. Politik als umfassende Ordnungsaufgabe ist immer interessenbestimmt: Johannes Messner spricht hier von einem interessengeleiteten Kampf um die rechte Ordnung. 3 Das, was darunter zu verstehen ist, hat die politische Ethik herauszuarbeiten, zu deren grundlegenden Zielvorstellungen die Verwirklichung der Menschenwürde gehört. Die traditionelle Naturrechtslehre geht dabei von der Menschennatur aus, der Staat wurzelt als Gesamtgesellschaft in der sozialen Natur des Menschen. 4 Im Pluralismus einer vielschichtigen Gesellschaft hat der Staat die Aufgabe, an der Schaffung einer politischen Kultur zu wirken, die ihm selbst Grenzen setzt in seiner Machtausübung: Dabei ist der Grundwert der Menschenwürde entscheidend; er ist unverzichtbar beim Aufbau des Rechtsstaates, aber auch bei der Entwicklung eines politischen "Alltagslebens", das vom Grundwert der Menschenwürde bestimmt und geprägt ist. 5 Die politische Praxis vieler Staaten, die sich um eine mehr oder minder weitreichende Sozialgesetzgebung bemühen und damit einem Massenelend entgegenwirken wollen, vernachlässigt immer noch weitgehend jene Randgruppen der Gesellschaft, die sich sogar in Ländern mit durchschnittlich hohem Lebensstandard finden. Alte und zugleich kranke Menschen, Behinderte, Drogensüchtige, Strafentlassene und andere sehr heterogene Gruppen stehen auch im Sozialstaat vielfach im Schatten einer auf die Großgruppen konzentrierten Sozialpolitik. Ohne Jeremy Bentham zu kennen, sehen viele populistisch eingestellte Politiker im Bewußtsein, die große Masse der Wähler hinter sich zu haben, im "größten Glück der größten Zahl" ein vorrangiges politisches Ziel. Valentirr Zsifkovits hat deutlich gemacht, daß eben dieses größte Glück der größten Zahl vom größten Unglück einer kleinen Zahl erkauft werden kann. 6 Diese Zahl benachteiligter Menschen und Gruppen muß gar nicht so klein sein; Kritiker sprechen von einer Zweidrittel3 Messner, Johannes: Politik - Weltanschauung - Ideologie, in: Gesellschaft und Politik, 411969. 25 ff. 4 Weiler, Rudolf: Einführung in die politische Ethik, Graz 1992, 18. 5 Zsifkovits, Valentin: Politik ohne Moral?, Linz 1989, 13. 6 Ebd.: 18-19.

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gesellschaft und meinen damit, daß ein Drittel sozial Schwacher zwei Drittel gutsituierter Bürger gegenübersteht. Dies ist natürlich von Staat zu Staat verschieden. Messen wir die politische Kultur an der Menschenwürde und ihrer Realisierung im politischen System, genügt aber schon eine kleine Zahl Benachteiligter und in ihrer sozialen und personalen Existenz Gefährdeter, um Mängel der politischen Kultur festzustellen. Gertraud Putz hat in ihrem Standardwerk über "Christentum und Menschenrechte" neben den politischen und sozialen Grundrechten die "Menschenrechte der dritten Generation" herausgestellt: Der Begriff ist schwierig, die Terminologie umstritten; handelt es sich doch hier um Solidarrechte, die nicht eigentlich oder nicht unmittelbar auf den einzelnen Menschen hin bezogen sind, für dessen Wohlbefinden freilich von Bedeutung sind. Putz spricht hier von kollektiven Rechten, die jene Situation herstellen sollen, welche die politischen und sozialen Rechte bei den Menschen zur Entwicklung bringen kann. Dazu rechnet Gertraud Putz das Recht auf Entwicklung, auf Solidarität, das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf eine lebenswerte Umwelt, auf Frieden und auf Eigentum am gemeinsamen Erbe der Menschheit. 7 Es steht außer Zweifel, daß wir die politische Kultur eines Landes besonders im Zusammenhang mit diesen Menschenrechten der dritten Generation beurteilen werden, auch wenn wir die entsprechende Terminologie problematisch finden; die hier aufgezeigten Anforderungen an ein politisches System, das am Grundziel der Menschenwürde orientiert ist, wird sich um die Verwirklichung der in diesen Thesen enthaltenen Gemeinwohlziele bemühen müssen. Politische Kultur bedeutet, daß die Politik Kulturbereich sein soll, daß sie als Teil der menschlichen Gesamtkultur verstanden wird und nicht als Mittel allein zur Machtausübung. Damit ist die Forderung verbunden, politische Auseinandersetzungen in jenen Formen zu vollziehen, die der Menschenwürde entsprechen. Dies erfordert den Vorrang friedlicher Mittel der Politik, es sei denn in Notwehr gegen aggressive Gruppen und Aktionen, die die staatlich Gemeinwohlorientierung bedrohen. Daß in diesem Zusammenhang der Grundwert des Konsenses an Bedeutung gewinnt, daß Kooperation nicht nur zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen verlangt wird, sondern möglichst auch im Verhältnis zwischen den maßgebenden politischen Gruppen im Staat, folgt aus den gegebenen Überlegungen. Vor allem geht es 7 Putz, Gertraud: Christentum und Menschenrechte, Innsbruck 1991, 234 und die auf Seite 235 zitierte Literatur.

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um den Grundkonsens über die Basiswerte der Demokratie, um das Bewußtsein gemeinsamer Werte. Diese müssen, wie etwa das Ziel des sozialen Friedens, schon bei der Verwirklichung eines sozialpartnerschaftliehen Systems gegeben sein, aber auch bei der Realisierung einer Konsensdemokratie, die heute immer bedeutender wird. Die tragische Entwicklung mancher Staaten, die den totalitären Kommunismus überwunden haben, ist vielfach dadurch gekennzeichnet, daß gemeinsame Basiswerte noch nicht gefunden sind: Es genügt nicht, die Demokratisierung und die Einführung eines marktwirtschaftliehen Systems herauszustellen; diese Grundziele müssen durch konkrete Zielvorstellungen realisiert werden, durch darauf aufbauende gesellschaftspolitische Maßnahmen in allen Kultursachbereichen, vor allem in der Wirtschaft und im politischen Entscheidungsprozeß. In diesem Sinn geht es um wertorientiertes Handeln im gesamten politischen System. Anton Rauscher hat in diesem Sinn immer wieder deutlich gemacht, daß der Pragmatismus in eine Sackgasse führt, daß eine Wertorientierung in der Politik unerläßlich ist. 8

m. Im Mittelpunkt die Menschenwürde Unter dieser Überschrift stellt Anton Rauscher fest, daß der Kern der Lehre von Johannes Paul II. die durchgängige Verbindung zwischen den Menschenrechten und der Menschenwürde ausgemacht habe. 9 Gerade bei diesem Papst gewinne dieser Grundgedanke ein besonderes Gewicht. Mit RecRt sieht Rauscher hier eine deutliche Linie beginnend von der ersten Enzyklika "Redemptor hominis" über viele Ansprachen bis zu den weiteren Sozialenzykliken unseres Papstes. Ohne diese Verankerung in der Würde des Menschen würden eben diese Menschenrechte immer wieder gefährdet sein. Wir sehen dies so deutlich bei jenen GUS-Staaten, in denen in der Verfassung Grundrechte verankert sind, die brutale Wirklichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen Leben und Freiheit vieler Menschen bedroht. Ähnlich und zum Teil noch schlechter ist die Situation in einer Reihe von Ländern der Dritten Welt. Wir stehen so auch immer wieder vor der unfaßbar grauenvollen Wirklichkeit jener afrikanischen Staaten, in denen alle Existenzgrundlagen für ein

8 Rauscher, Anton: Die Entwicklung der Gesellschaft. Ordnungspolitik zwischen Ideologie und Pragmatismus, in: ders.: Kirche in der Welt, 2. Bd., 21-39, bes. 24-29. 9 Rauscher, Anton: Arbeit und Eigentum in der Problematik der paritätischen Mitbestimmung, in: ders.: Kirche in der Welt, 2. Bd., 217-252, 219-220. 4 FS RouschfJ'

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menschenwürdiges Leben fehlen, sowohl Hunger als auch Gewalt dieses Leben immer wieder vernichten. Der Apostolische Nuntius in Österreich, Erzbischof Donato Squicciarini, hat die Weltfriedensbotschaften von Johannes Paul II. in einem Band herausgegeben, kommentiert von profunden Kennern der einschlägigen Materie. Es ist die Katholische Kirche, die weltweit und auch auf nationaler und regionaler Ebene sich immer wieder für die Menschenwürde und die Menschenrechte einsetzt, damit für eine menschenwürdige politische Kultur. Der Nuntius stellte in diesem Sinn fest, daß auch die päpstlichen Weltfriedenstage zu den hervortretenden Gedenktagen des kirchlichen und global-politischen Jahres zählen. 10 Sie sollen immer mehr Anlaß zum Nachdenken über jene Fehlentwicklungen sein, die uns heute in so vielen Staaten und letztlich weltweit bedrohen und die Errungenschaften einer politischen Kultur bedrohen. Der enge Zusammenhang von Friede und politischer Kultur ergibt sich gerade im Hinblick auf die Menschenwürde: Herbert Schamheck sieht in der weltweiten Sicherung einer Friedensordnung, die das politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Leben in gleicher Weise erfaßt, die Voraussetzung für eine Verwirklichung der Demokratie in jenen Ländern, die heute um diese politische Ordnung ringen. In diesem Sinn verlangt Schamheck eine Mitwirkung aller Christen in einer weltweiten Solidarität an der Schaffung dieser neuen Demokratie in Mittel- und Osteuropa. Mit ausgeprägtem Realismus stellt Schamheck fest, daß in einer solchen Zeit des Umbruchs die Gefahr besteht, daß die frühere ideologisch bedingte Zwangsherrschaft von einerneuen Diktatur abgelöst wird. 11 In seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1992 hat Papst Johannes Paul II. auf die große Bedeutung des ökumenischen Dialogs und der interreligiösen Kooperation zur Verwirklichung einer weltweiten Friedensordnung hingewiesen. Heute seien die Religionen fester entschlossen, sich nicht "von parteilichen Interessen oder politischen Zielen instrumentalisieren zu lassen"; sie seien vielmehr darauf bedacht, "eine bewußtere und ausgeprägtere Haltung einzunehmen und die sozialen und kulturellen Wirklichkeiten in der Völker-

10 Squicciarini, Donato (Hrsg.): Die Weltfriedensbotschaften Papst Johannes Pauls Il., Berlin 1992, S. 11 ff. II Schambeck, Herbert: Die Gläubigen vereint im Aufbau des Friedens, in: Squicciarini, 309 ff.

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gemeinschaft mit Leben zu erfüllen." 12 Darin liegt wohl der so bedeutsame Beitrag auch der christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Verwirklichung einer von der Menschenwürde geprägten politischen Kultur. Es ist vor allem die Jugend, der sich die Aufgabe stellt, jenen Wertewandel herbeizuführen, den eine zukunftsorientierte Gesellschaftspolitik voraussetzt: Ist doch die Jugend immer wieder ein "Motor des Wertewandels" (Gerhard Bonelli) - freilich durchaus nicht immer im positiven Sinn. 13 Leopold Neuhold hat die große Bedeutung des Christentums für die Werteordnung und den Wertewandel in jene Richtung herausgestellt, die zu einer menschenwürdigen politischen Kultur führen soll. 14 Eben dieses Christentum wirkt heute auch in den GUS-Staaten als wohl stärkste Kraft der Erneuerung und der Hoffnung. Karl Forster hat von der "dumpfen Unsicherheit um das Menschenbild der Zukunft" gesprochen: Der Mensch in einer immer mehr säkularisierten Welt werde von den möglichen Folgen totaler Rationalisierung geängstigt. Die Menschen könnten zwar ihr Wertbewußtsein ändern, aber nicht aus der fundamentalen ethischen und religiösen Problematik ihrer Existenz auswandern.15 Gerade die christlichen Kirchen sind an der Jahrtausendwende aufgerufen, am Aufbau einer zukunftsweisenden - und wohl weithin einer christlichen Tradition orientierten - Wertordnung mitzuwirken: Hier nimmt die Menschenwürde eine zentrale Position ein. Es ist wieder Anton Rauscher, der darauf hinweist, daß sich aus dem Wert und der Würde der menschlichen Person die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen ergibt: Daraus wiederum ist eine Gesellschaftsordnung abzuleiten, die keine allzu großen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen den einzelnen Gliedern und Schichten innerhalb der Staaten, aber auch nicht zwischen den Völkern zulasse.l6 12 Johannes Paul II.: Botschaft zum Weltfriedenstag 1992; abgedruckt in: Squicciarini, 301 ff.

13 Bonelli, Gerhard: Entwicklungslinien der politischen Kultur Österreichs, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik, Wien 1958, 577 ff. 14 Neuhold,

34 ff.

Leopold: Wertwandel und Christentum, Linz 1988 (= Soziale Perspektiven 4),

15 Forster, Karl: Die Kirche und die moderne Gesellschaft, in: ders.: Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute, Bd. 2, Würzburg 1982, 23-39; ders.: Kirchlicher Glaube in einer säkularisierten Welt, in: ebd., 76-83, bes. 80. 16 Rauscher, Anton: Die natürlichen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens, in: ders.: Kirche in der Welt, Bd. 1, 180-192, 190ff.

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IV. Wirtschaftliche Entwicklung und Menschenwürde

Der Bund Katholischer Unternehmer Deutschlands stellt in einer kritischen Analyse zur Thematik "Wirtschaftliche Entwicklung und Gerechtigkeit" fest, daß sich in den meisten Entwicklungsländern die Lebensverhältnisse der Armen im letzten Jahrzehnt nicht wesentlich verbessert haben, daß vielfach gegenteilige Entwicklungen eingetreten sind: die Verschuldungskrise, ökologische Probleme, kriegerische Auseinandersetzungen und das Bevölkerungswachstum haben neue Probleme gebracht und bestehende Schwierigkeiten verschärft. Auch wenn reales Wirtschaftswachstum gegeben war, ist das ProKopf-Einkommen vielfach geringer geworden. Nun habe der Zusammenbruch im kommunistischen Osten zu einer teilweise Verlagerung westlicher Hilfen in diese Länder geführt. Der Bund Katholischer Unternehmer weist darauf hin, daß es überaus verhängnisvoll wäre, wenn dadurch die Nord-Süd-Problematik in ihrer weltgeschichtlichen Bedeutung als nicht mehr so vordringlich angesehen würde. Aus dem Versagen der kommunistischen Wirtschaftssysteme sollten aber die Länder der Dritten Welt lernen: Eine erfolgreiche Entwicklung sei nur im Rahmen einer sozialen und marktwirtschaftliehen Ordnung möglich. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung der unternehmerischen Funktion besonders herausgestellt. Die Unternehmer haben, betont der Bund, für eine moderne und dynamische Wirtschaft unverzichtbare, nicht durch andere zu ersetzende Funktionen: Diese bestehen im Aufspüren neuer Marktchancen, in der rationellen Nutzung knapper Ressourcen für Produktion und Dienstleistungen, in der Einführung und ständigen Entwicklung von Innovationen sowie der Schaffung von Arbeitsplätzen. 17 Die Erfahrungen in den ehemals kommunistischen Staaten haben allerdings auch deutlich gemacht, daß der Übergang von einem zentralen Planungssystem in eine Marktwirtschaft gewisse Übergangszeiten braucht, nicht zuletzt weil die Unternehmer nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind, ebenso nicht das Kapital. In den Ländern der Dritten Welt ist die Situation von Staat zu Staat sehr unterschiedlich: Im allgemeinen sind es gleichfalls die Engpässe bei den Unternehmern und beim Produktionskapital, die zu überwinden sind; dazu kommen entscheidende Rahmenbedingungen wie die öffentliche Sicherheit und die ausreichende Infrastruktur im Bildungswesen und im Verkehrssektorvielfach unermeßlich schwierige und aufwendige Investitionen. Dennoch darf 17 Bund katholischer Unternehmer: Wirtschaftliche Entwicklung und Gerechtigkeit. Leitsätze zur Entwicklungspolitik, Trier 1991 (= Diskussionsbeiträge 13), 5 ff.

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die Größe der gegebenen Aufgaben nicht zur Resignation führen. Ein erfahrener Politiker, Anton Jaumann, spricht von der Zukunftsangst als politischer Herausforderung: Wie vor 1000 Jahren scheint heute - eine freilich vielfach begründete - Angstsituation vor der Jahrtausendwende gegeben zu sein. Jaumann meint nun, daß Angst Zukunftschancen vernichtet. Sie vermindere die Vitalität einer Gesellschaft und schwäche ihr Reaktions- und Gestaltungsvermögen. Ein Übermaß an Zukunftssorgen verleite überdies zu kurzfristigem Aktionismus und verhindere die Orientierung an langfristigen Konzepten. 18 Gerade diese brauchen wir aber, wenn wir den Ländern der Dritten Welt, aber auch den kommunistischen Staaten bei ihrem Weg in eine wirtschaftlich, politisch und sozial besser gestaltete Zukunft helfen wollen. Es ist so ungemein schwierig, aus einer künstlich geschaffenen Einheitsgesellschaft eine demokratische und pluralistische zu entwickeln. Es mag richtig sein, daß auch der totalitäre Kommunismus nie wirklich so eine klassenlose Einheitsgesellschaft geschaffen hat. Dennoch zeigt sich, daß auch Demokratie ihre Zeit der Entwicklung braucht. Wir sehen nach der deutschen Wiedervereinigung viele Probleme, viele Schwierigkeiten im gegenseitigen Verständnis der Bewohner der alten Bundesrepublik und der neuen Bundesländer - nicht nur in der Ausländerfrage. Lotbar Roos sagt, daß eine pluralistische Gesellschaft nichts Selbstverständliches sei, nichts Naturgegebenes. 19 Am ehesten entsteht noch der Pluralismus der wirtschaftlichen Interessen. Der politische und der religiös-weltanschauliche Pluralismus bedarf eines hohen Ausmaßes an Toleranz, die nicht von heute auf morgen in bisher mehr "monistischen" Gesellschaften gegeben ist. Dennoch ist die moderne Welt vom Pluralismus bestimmt: Er wird sich im neuen Jahrhundert und neuen Jahrtausend in einer heute noch nicht voll erfaßbaren Form weiter entwickeln. Roos spricht von der Freiheit als anthropologischer Sinnmitte des Pluralismus: Damit sind wir wieder bei der Menschenwürde angelangt, mit der die Freiheit untrennbar verbunden ist: "die freie Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit" (Roos). Es geht in diesem Sinn auch als Ziel einer zukunftsorientierten Entwicklungspolitik um die Schaffung einer von der Menschenwürde und der Freiheit geprägten politischen Kultur in den Staaten der Dritten Welt ebenso wie in den früher kommunistisch beherrschten Ländern. 18 Jaurnann, Anton: Müssen wir Angst vor der Zukunft haben?, Köln 1981, 7. 19 Roos, Lothar: Pluralismus und Grundwerteinigung, in: Böckle, Franz - Stegrnann, Franz Josef (Hrsg.): Kirche und Gesellschaft heute, Paderbom 1979, 155-156.

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In der Sozialenzyklika "Centesimus annus" wird zum Ausdruck gebracht, daß der Mensch, wenn er auf die Anerkennung des Wertes der Person bei sich selbst und bei anderen verzichtet, sich dadurch der Möglichkeit beraubt, sich seines Menschseins zu erfreuen (41). "Gaudium et spes" spricht von einem "Recht auf Kultur", von der Notwendigkeit, möglichst allen Menschen die Chance auf volle Entfaltung ihres kulturellen Lebens zu geben (60). In diesem Sinn können wir auch von einem Recht auf politische Kultur sprechen, deren Realisierung einer an den Grundwerten der Freiheit und Menschenwürde orientierten Entwicklungspolitik bedarf. "Centesimus annus" stellt fest, daß die Demokratie nur auf der Grundlage einer richtigen Auffassung vom Menschen und in einem Rechtsstaat möglich sei; dies deshalb, weil nur dann die Menschenwürde gesichert ist. Dagegen sauge der totalitäre Staat die Nation, die Gesellschaft, die Familie, die Religionsgemeinschaften und die Menschen in sich auf! (45,46). Wir können auf die erste Enzyklika von Johannes Paul II. "Redemptor hominis" zurückgreifen, in der die Bedeutung und der Eigenwert des einzelnen Menschen so sehr hervorgehoben wird: Es gehe wirklich um jeden Menschen auf diesem Planeten, unserer Erde: um jeden Menschen in all seiner unwiederholbaren Wirklichkeit im Sein und im Handeln, im Bewußtsein und im Herzen. Der Mensch habe in seiner Einmaligkeit, weil er Person sei, seine eigene Lebensgeschichte (14). Vielleicht verstehen wir erst nach Erfassen dieser These der Enzyklika, was eine auf dem Personprinzip und der Menschenwürde begründete politische Kultur sein soll. Auch in den reicheren Ländern sind viele Menschen in das soziale Abseits gestellt, zu "Randexistenzen" geworden. Sollen wir diese politische Kultur, wie sie Johannes Paul II. skizziert, nur als unerreichbares Idealbild ansehen? Wir sollen sie wohl als eine zukunftsweisende gesellschaftspolitische Konzeption betrachten: sie soweit als möglich in jeder geschichtlichen Situation zu verwirklichen ist Aufgabe einer an christlichen Werten orientierten Politik. Wir brauchen immer wieder solche politischen Visionen; sie sind nicht politische Utopien! Kardinal Joachim Meisner hat kürzlich festgestellt, daß der Zusammenbruch der kommunistischen Ideologie in den Oststaaten in der Konfrontation mit jener Weltanschauung erfolgt ist, die den Einzelmenschen und sein Recht auf Freiheit in den Vordergrund gestellt hat. So haben eben diese auf dem Freiheitsprinzip begründeten Ideale "die christlichen Freiheitsinseln im Ozean kommunistischer Zwangsherrschaft gestärkt und ausgeweitet". Dabei hat gewiß jener Liberalismus eine bedeut-

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same Rolle gespielt, der letztlich in einer vom Christentum geprägten Freiheitsidee seine wichtigste geistige Grundlage hat. 20 V. Die Lebenswelt des Menschen erhalten Immer wieder geht es darum, eine menschenwürdige Lebenswelt des Menschen zu erhalten. Dieses Ziel steht nicht nur im Mittelpunkt der Politik der einzelnen Staaten, sondern muß auch immer mehr die internationale Kooperation bestimmen, in den Integrationsräumen wie der EG und des EWR ebenso wie auf weltweiter Ebene. Karl-Heinz Peschke stellt die Forderung heraus, eine menschenwürdige Existenz für alle Menschen zu verwirklichen. Dazu gehören ein ausreichender Lebensunterhalt und eine sinnvolle Arbeit. 21 Immer wichtiger wird aber die Erhaltung eben dieses Lebensraumes, in dem der Mensch lebt und wirkt. Es geht ganz einfach um die existentielle Sicherung eines Lebens in Würde und Freiheit gegenüber der globalen und regionalen Bedrohung unserer Lebenswelt. Die so zahlreichen Gefahren im Umweltbereich, die Zerstörung der Ozonschicht der Erde, die Vernichtung lebenswichtiger Regenwälder, die konzentrierte Luftverunreinigung in städtischen Agglomerationen, die Gefährdung der Wasserversorgung, atomare Bedrohungen, die Vergiftung wichtiger Nahrungsmittel und Rohstoffe, zunehmende Belastungen durch Schadstoffe in agrarischen Böden sind nur einige der wichtigsten Gefahren, die unsere Lebenswelt und Gesundheit bedrohen. Daß damit vielfach auch die Menschenwürde und die Freiheit beeinträchtigt werden, steht außer Zweifel: Abgesehen von Erkrankungen zahlloser Menschen durch eine immer mehr zerstörte Lebenswelt sind viele Menschen einer nahezu unerträglichen Lärmbelastung ausgesetzt, müssen da und dort auch - vielfach unter großen Opfern- ihren Wohnort wechseln. Die unfaßbare Gleichgültigkeit vieler Politiker gegenüber solchen Entwicklungen ist nicht nur in einem Mangel an Sachkenntnissen begründet, sondern in einer Verantwortungslosigkeit, die einer geradezu nihilistischen Einstellung gleichkommt. Wenn Wolfgang Kraus von einem Nihilismus des Beamtentums spricht, dann kann man auch von einem solchen Nihilismus vieler Politiker sprechen, die letztlich aus einer rein pragmatischen Einstellung nur die unmittelbar gegebenen Probleme kurzfristig sehen und nicht über eine Le20 Vortrag in Wien, Kath-Press 2.12.1992. 21 Peschke, Kari-Heinz: Wirtschaft aus christlicher Sicht, Trier 1992, 76-77.

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gislaturperiode hinaus denken. Eine Veränderung des geistigen Klimas erhofft sich Kraus von einer "Religiosität mit humaner Wertbezogenheit", welche die einzige Alternativer zum Nihilismus biete22 . Wir können diese Ziele nur erreichen, wenn wir auch zu Opfern bereit sind. Heute wird immer deutlicher, daß die Erhaltung unserer Lebenswelt nur durch Einschränkungen des Individualverkehrs, Begrenzungen der Schadstoffemissionen im gewerblich-industriellen Bereich, vor allem aber durch steuerliche Belastungen und Gewinnung entsprechender Finanzierungsmittel zur Umweltsanierung möglich ist. Die Verwirklichung echter Gemeinwohlziele ist in jeder Gesellschaft nur durch Opfer möglich: In der so komplexen nachindustriellen Gesellschaft werden diese Opfer sehr groß sein müssen. Zu weit sind die Zerstörungen der Lebenswelt schon fortgeschritten. Bis in die Strafgesetzgebung reichen die Konsequenzen: Wer etwa Gifte unsachgemäß entsorgt, bedroht das Leben seiner Mitmenschen und muß mit scharfen strafrechtlichen Folgen rechnen. Eine humane politische Kultur muß hier ein anderes Verantwortungsbewußtsein entwickeln, sich aber auch gegen jene Bedrohungen des menschlichen Lebens wenden, die heute so sehr zunehmen. Ganz allgemein müssen wir auf strengere Umweltstandards übergehen, wenn wir der bedrohlichen Luft- und Wasserverschmutzung entgegenwirken wollen. Weil eben das Recht auf Leben im Mittelpunkt der Menschenrechte steht, stellt die Bedrohung lebenswichtiger Güter wie Luft und Wasser eine so große Gefahr dar, nicht nur für das Leben der Menschen, sondern auch für ihr Miteinander in Gesellschaft und Politik, also für die politische Kultur. Kritische Beobachter der politischen Szene im Nahen Osten sehen in der Auseinandersetzung um die Wasserversorgung größere Gefahren als in der um das Erdöl. Gerhard Merk hat im Zusammenhang mit der Umweltpolitik gesagt, daß Politik ein Vorgang sei, an dessen Ende immer eine Entscheidung steht. Auch eine bewußte Nichtentscheidung sei in diesem Sinn Entscheidung. Wenn man etwa in die Konsumgewohnheiten der Mehrheit der Bürger eingreifen will, müsse vorher im demokratischen Staat ein Konsens darüber vorhanden sein. Ein solcher Konsens liege vielfach noch in weiter Ferne. 23 Umso wichtiger 22 Kraus, Wolfgang: Nihilismus heute, Wien 1983, 18 ff, 156. 23 Merk, Gerhard: Konfliktstau durch Ungüter, in: Klose, Alfred - Köck, Heribert Franz Schambeck, Herbert (Hsrg.): Frieden und Gesellschaftsordnung, Festschrift für Rudolf Weiler, Berlin 1988, 197 ff.

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wird die der Politik und den Politikern aufgetragene Informationsaufgabe: Sie müssen die Staatsbürger rückhaltlos über die Folgen einer mangelnden Umweltpolitik aufklären, müssen die Gefahren für Kinder und Enkel, für die nachfolgenden Generationen mit aller Deutlichkeit herausstellen. Politische Kultur verlangt auch Wahrhaftigkeit: Diese muß immer mehr im Mittelpunkt einer zukunftsweisenden politischen Ethik stehen. Gerhard Merk ist relativ pessimistisch in der Einschätzung der heute gegebenen Möglichkeiten für eine zukunftsweisende Umweltpolitik: Eine Änderung heute gegebener Einstellungen zum Konsum auch von "Ungütem" würde sich erst anbahnen, wenn die gesellschaftlichen Folgeschäden der heute gegebenen Fehlentwicklungen zu einer erheblichen Einschränkung der staatlichen Aufgabenerfüllung führen. Erst bei einer erheblichen Beeinträchtigung des Gemeinwohls wäre eine ökonomisch sinnvolle Umlegung der gesellschaftlichen Folgekosten nach dem Verursacher-Prinzip politisch durchsetzbar. 24 Vielleicht lassen sich manche Entwicklungen dennoch beschleunigen. Junge Menschen verlangen immer deutlicher eine umweltbewußte Politik: Sie erkennen, daß ihr Leben und das ihrer (zukünftigen) Kinder ganz einfach nicht mehr gesichert ist, wenn die weltweiten und die regionalen Umweltzerstörungen sich verstärken. Letztlich geht es gerade bei allen diesen Fragen um eine Einsicht in die Grundgegebenheiten einer politischen Kultur, die auf die Menschenwürde und das Recht des Menschen auf sein Leben und das seiner Kinder gegründet ist. Der Christ weiß um die großen Zusammenhänge: die Gestaltung der Gesellschaftsordnung und die Erhaltung der Lebenswelt des Menschen sind untrennbar miteinander verbunden und sind Aufgaben, die dem Menschen "als Mitarbeiter Gottesam Schöpfungswerk" anvertraut sind, wie "Centesimus annus" hervorhebt (3 7, 51).

24 Ebd.: 210-211.

Asyl, Migration und die Kirche Von Eugen Kleindienst I. Das Recht auf Asyl Seit geraumer Zeit vergeht kaum noch ein Tag ohne eine Nachricht zum Thema Asyl. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gewährt dem politisch Verfolgten Asylrecht. Der einschlägige Satz in Artikel 16 Abs. 2 Satz 2 lautet: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" 1 . Damit besteht in Deutschland im Verfassungsrang ein individuell einklagbares Recht auf Asyl für alle jene Menschen, die persönlich in ihren Heimatländern einer politischen Verfolgung ausgesetzt sind. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit dieser Regelung unter den Staaten der Welt eine besondere Stellung gegenüber politisch verfolgten Menschen eingenommen. Mit der verfassungsmäßigen Festlegung auf ein individuell einklagbares Recht auf Asyl für politisch verfolgte Menschen aller Länder und Völker geht Deutschland über die humanitären Konstitutionen der übrigen Welt hinaus. Die Vereinten Nationen haben 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu Fragen des Asyls für politisch Verfolgte lediglich erklärt: "Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen "2 • Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß damit zunächst kein bindendes Völkerrecht geschaffen wurde, sondern lediglich eine Empfehlung und daß ferner kein Individualanspruch auf Aufnahme eines Flüchtlings begründet wird3 • Auch die Genfer Flüchtlings-Konvention, der die Bundesrepublik Deutschland beigetreten ist, begründet kein Recht eines politisch

1 Art. 16 Abs 2 GG. 2 Vereinte Nationen: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 vom 10.12.1948, Art. 14. 3 Vgl. Tremmel, Hans: Grundrecht Asyl, Freiburg 1992, 91-92. Die umfangreiche Studie von Tremmel stellt derzeit wohl die aktuellste und informationsreichste Arbeit zum Thema Asyl dar.

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Verfolgten auf Asyl. Allenfalls stellt sie die Grundlage für die Duldung von Flüchtlingen dar. Der Sonderweg der Bundesrepublik Deutschland, der weltweit ein einzigartiges Recht auf Asyl enthält, rechtfertigt sich auf dem Hintergrund der deutschen Geschichte, insbesondere mit den Erfahrungen der Schrecken des Zweiten Weltkrieges und des nationalsozialistischen Terrors. Auf diesem Hintergrund zog der Gesetzgeber bei der Erstellung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland den Schluß, in der neuen Verfassung den Belangen der Menschenwürde und hier insbesondere den Belangen verfolgter Menschen in besonderer Weise entsprechen zu müssen. Diese Absicht wurde dem Grundgesetz bereits in Artikel 1 deutlich und ausdrücklich vorangestellt. Dieser lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung der staatlichen Gewalt "4 • Aus der vorausgegangenen Erfahrung des ungeheuren Mißbrauches der staatlichen Gewalt, die sich über alle Aspekte der Menschenwürde hinweggesetzt hatte und menschenverachtend eingesetzt wurde, kann diese Bindung der staatlichen Gewalt an die Würde des Menschen nicht hoch genug geschätzt werden. Sie ist das Lehrstück deutscher Geschichte, an die sich der neue deutsche Staat als Grundlage seiner Existenz bewußt binden wollte. ll. Das Asylrecht wird zum Problem Die Anwendung dieses Grundsatzes in Art. 16 GG war über lange Zeit kein nennenswertes Problem. Zum Problem wurde Art. 16 GG erst durch die Zunahme der Asylbewerber. Allein im Jahre 1992 mußten in der Bundesrepublik Deutschland etwa 450.000 neue Asylbewerber aus aller Welt registriert werden, im Monat Oktober 1992 etwa 45.000. Da die Zahl der Asylbewerber jährlich .beachtlich ansteigt - 1991 waren es insgesamt etwa 260.000 -, gewinnt das Problem des Umgangs mit Asylbewerbern immer mehr eine Dimension, die diese Frage zu einem hochpolitischen Grundsatzthema macht. Folgt man aktuellen Umfragen unter der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, so sehen nahezu 70% in den Themen Asyl und Ausländer das Hauptproblem Deutschlands5 . Die zunehmend negative Sicht des Asylthemas in weiten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit wird natürlich durch die der4 Art. I GG. 5 Vgl. Tremrnel, 143.

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zeitigen innenpolitischen Probleme verschärft. Die überaus hohen Kosten der Wiedervereinigung, die zunehmende Arbeitslosigkeit, gerade auch unter jungen Menschen in den neuen Bundesländern und eine allgemeine gesellschaftliche Unsicherheit über die künftigen Lebensbedingungen stellen zusätzliche Faktoren für eine stets wachsende Furcht vor einer zunehmenden Zahl von Asylbewerbern dar. Hinzu kommen Erfahrungen der Bürger, daß deren Renten mitunter niedriger sind als die Sozialhilfe der Asylbewerber, eine Tatsache, die großen sozialen Konfliktstoff in sich birgt. Die zunächst aus der Abneigung gegen Asylbewerber entstehende Furcht wird bewußt oderunbewußt immer mehr auf Ausländer überhaupt übertragen und gerät so sichtlich mehr zu einer schwer definierbaren Stimmungslage gegen alles Fremde und gegen Ausländer, fast ausschließlich jedoch gegen solche Ausländer, die nicht aus den westlichen Industrienationen stammen. Treffen diese Beobachtungen zu, dann darf man wohl die These wagen, daß es sich bei diesem Phänomen nur vordergründig um Angst vor Ausländern und Asylbewerbern handelt. In Wahrheit handelt es sich vielmehr um einen nach Deutschland verlagerten Teil der Auseinandersetzung zwischen arm und reich. Deshalb hat die Öffentlichkeit auch das geringste Verständnis für den sog. "Wirtschaftsasylanten", den man unter die Kategorie des Asylmißbrauches einreiht. Wenn weltweit die Zahl der Länder abgenommen hat, in denen politische Verfolgung herrscht, dann müßte entsprechend die Zahl derer abnehmen, die nach dem Grundgesetz aufgrund individueller politischer Verfolgung ein Recht auf Asyl geltend machen können. Aus dem Umstand, daß das Gegenteil der Fall ist und daß nach langwierigen und kostspieligen Verfahren kaum mehr als 10% der As~·lbewerber tatsächlich als Asylanten im Sinne des Grundgesetzes anerkannt werden, kann zurecht der Schluß gezogen werden, daß es in Deutschland derzeit eine massenweise Inanspruchnahme des Grundrechtes auf Asyl gibt, die von den Intentionen des Grundgesetzes nicht gedeckt ist. Die offenbare Schwierigkeit, zwischen begründeten und im Sinne des Grundgesetzes nicht begründeten Asylanträgen rechtzeitig zu unterscheiden, bedroht die Existenz des im Grundgesetz verankerten Asylrechtes immer mehr. Es gilt daher, zunächst zu unterscheiden, wo in der Tat politische Verfolgung vorliegt und wo es sich im Grunde um einen nach Deutschland importierten Reflex der weltweiten Armutsproblematik handelt. Für beide Bereiche ist dann eine differenzierte Antwort zu geben.

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In der bisherigen Diskussion wird diese Unterscheidung zu wenig geleistet. Dies dürfte eine Lösung eher behindern. Einer Abschaffung des individuellen Asylrechtes wegen massenhaften Mißbrauches stehen doch die Grundintentionen der Verfassung entgegen. Sollte etwa ein Grundrecht, das Menschen in größter Not helfen kann, nur wegen der Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen zu einer rechtzeitigen Klärung der Situation aufgegeben werden? Wo wird diese Entwicklung schließlich aufhören? Was könnte damit in der Folge alles legitimiert werden? Schließlich nutzen auch allgemeine Appelle an die Solidarität der Menschen nur wenig, wenn der Wille und die Fähigkeit zu einem differenzierten und entschlossenen Handeln nicht zu erkennen sind. Das Recht auf Asyl ist zu einem Problem geworden. Diese Problemlage dürfte nicht durch ein plötzliches Unverständnis der Bevölkerung für politisch Verfolgte entstanden sein. Die Ursache des Problems liegt in der Verquickung des Grundrechtes auf Asyl mit der weltweiten Armutsmigration6 • Die Kritik am Asyl in Deutschland dürfte daher auch nicht so sehr auf das im Grundgesetz festgelegte Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte zielen als auf die Unfähigkeit oder besser wohl Hilflosigkeit der Politik und ebenso der Gesellschaft, dem weltweiten Armutsthema und der damit zusammenhängenden Armutsmigration einigermaßen ernsthaft zu begegnen.

m. Das Problem hat eine weltweite Dimension Es trifft zu, daß die Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihres Sonderwegs im Falle des Asylrechtes von Asylbewerbern aus aller Welt leicht angesteuert werden kann. Das gilt natürlich auch für alle diejenigen Menschen, die der Aussichtslosigkeit und Armut ihrer Heimat entkommen wollen, um in einem der reichsten Wohlstandsländer der Erde eine Existenz aufbauen zu können. Ein Lösungsversuch für diese Problematik besteht darin, den deutschen Sonderweg in der Frage des Asyls zu korrigieren. Das könnte durch eine einseitige Grundgesetzänderung geschehen. Das könnte aber auch durch eine Rechtsangleichung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft angestrebt 6 Vgl. zum Thema Migration: Kleber, Karl-Heinz (Hrsg.): Migration und Menschenwürde. 23. Internationaler Kongreß der deutschsprachigen Moraltheologen und Sozialethiker 1987 in Passau, Passau 1988; darin besonders Rauscher, Anton: Das Anliegen der Familienzusammenführung, 108-127.

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werden. Was wäre dadurch zu erreichen? Unzweifelhaft könnte es gelingen, das einklagbare Recht auf Asyl so zu verändern, daß die Zahl der Asylbewerber und der damit verbundenen rechtsstaatliehen Verfahren reduziert wird. Ob es jedoch gelingt, die Zahl der durch die Armutsmigration entwurzelten Flüchtlinge zu verringern, muß bezweifelt werden. Menschen aus aller Welt, insbesondere aus den armen Ländern, die in Deutschland oder in Europa Zuflucht suchen, wird es in Zukunft eher in wachsendem Maße geben. Denn die Kluft zwischen armen und reichen Völkern nimmt zu, und damit wachsen auch die Armut und die daraus folgende Armutsmigration. Es sollte unstrittig sein, daß in dieser Lage eine europäische Rechtsangleichung erforderlich ist. Das könnte dann auch Folgen für das deutsche Grundgesetz oder zumindest für dessen Ausführung haben. Es bleibt aber die Frage, ob die einzige und wichtigste Antwort Deutschlands und Europas auf die Armutsmigration die Schließung der Grenzen ist. Und schließlich muß man fragen, ob es gerade angesichts des Anspruchs des Grundgesetzes vertretbar ist, für das Ziel der Abwehr der Armutsmigration den Schutz politisch Verfolgter preiszugeben. So sehr in Deutschland und in Europa Handlungsbedarf in der Asylfrage besteht, so sehr muß doch auch im Blick bleiben, daß mit deutschen oder auch europäischen Lösungen dem Problem insgesamt nicht beigekommen werden kann. Es hat eine weltweite Wurzel. Es resultiert aus dem wirklich großen Thema der Welt, aus dem Gefälle zwischen arm und reich, aus der zunehmenden Verarmung eines größeren Teils der Menschheit. Nur wer sich diesem Thema stellt und die Ausländer-, Asyl- und Migrationsproblematik in Deutschland in diese weltweite Dimension einordnet, hat die Chance, einen angemessenen Lösungsansatz zu entwickeln7 • Alle anderen Lösungen stehen in der Gefahr der Kurzsichtigkeit. Sie würden im Grunde allenfalls Probleme vertagen oder verlagern. IV. Das Problem hat eine ethische Dimension

Das Bekenntnis zur unantastbaren Würde des Menschen, das die Grundlage des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bildet, resultiert nicht al7 Vgl. Schrnölz, Franz-Martin: Migration und Menschenwürde, in: Kleber, 13ff. Koch, UJrich: Kirchliche Entwicklungsarbeit, Erfahrungen, Probleme, Aufgaben, Köln 1979 ( = Kirche und Gesellschaft 57). Trappe, Paul: Entwicklungsproblematik und Bericht der Nord-Süd-Kommission, Köln 1980 (= Kirche und Gesellschaft 71). Hemmer, Hans-R.: Neuorientierung der Entwicklungspolitik, Köln 1991 (=Kirche und Gesellschaft 184).

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leinaus dem Schock der deutschen Geschichte. Dieses Bekenntnis ist zugleich eine ethische Selbstbindung des Staates an eine ganz bestimmte Sicht des Menschen, die den Kontext christlicher Überlieferung und des christlichen Menschenbildes voraussetzt. Das Grundgesetz definiert auch noch weitere Grundwerte, die sich auf diesen christlichen Hintergrund beziehen. Die Entwicklung der vergangeneu vierzig Jahre, insbesondere seit dem Ende der sechziger Jahre, macht nun aber mehr und mehr offenbar, daß sich diese Werte verschoben haben und weiter verschieben. 8 Die Grundwertedebatte der siebziger Jahre war ein Teil dieses Phänomens. 9 Besonders signifikant stellt sich die innere Erosion der Akzeptanz der ethischen Grundlagen der Verfassungswerte im Falle der seit Jahren heftig geführten Abtreibungsdebatte dar. Ganz besonders in diesem Fall handelt es sich eben auch um die unantastbare Würde des Menschen. Diese Unantastbarkeit aber scheint immer mehr in Bezug gesetzt zu werden zu anderen Werten und so immer stärker auf eine Abwägung verschiedener Güter zuzulaufen. Tritt die Unantastbarkeit der Würde des ungeborenen Menschen in Konkurrenz zum Selbstentfaltungsanspruch der Frau, so besteht akute Gefahr für die Unantastbarkeit der Würde des ungeborenen Menschen. Tritt die Würde eines schwachen Menschen in Konkurrenz zu den dafür aufzuwendenden Kosten, so scheint es wahrscheinlich, daß diese Konkurrenz zu Lasten der unantastbaren Würde des Menschen ausgeht. Diese bedenkliche Relativierung der ethischen Grundlagen des Staates aufgrund gegenläufiger gesellschaftlicher Entwicklungen hat auch beträchtlichen Anteil an der veränderten Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Asylbewerbern und Ausländern. Immer öfter mahnen daher auch Politiker und warnen vor einer "Insel des Egoismus" in Deutschland. Die Erosion der ethischen Grundlagen des Staates, insbesondere im Bereich der Definition der Würde des Menschen, wirft auf unsere Gesellschaft ein Licht, in dem diese als weitgehend materialistisch erscheint. Ihr Hauptinteresse und somit auch die wesentlichen Elemente der öffentlichen Auseinandersetzung drehen sich um materielle Fragen, denen sich alles andere unterordnet. Daß diese Beobachtung in der Tendenz richtig ist, dürfte durch die oben genannten Bei8 Vgl. Forster, Karl: Der Einbruch im sittlichen Bewußtsein, in: ders.: Glaube und Kirche im Dialog mit der Welt von heute, II. Band, Kirche und Welt (= Glaube und Kirche), Würzburg 1982, 538-547. Zu dieser Thematik werden einzelne Beispiele ausgeführt bei: Kleindienst, Eugen: Wege aus dem Säkularismus, Versuche zur Bestimmung des Weges der Kirche in säkularisierter Gesellschaft, Donauwörth 1988. 9 Zur Grundwertediskussion vgl. Forster, Karl: Glaube und Kirche, in: ders.: Glaube und Kirche, 479-554.

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spiele der ethischen Erosion ebenso bestätigt werden wie durch die veränderte Einstellung der Deutschen zur deutschen Einheit, seit diese jeden Bürger mehr als erwartet kostet. Letztlich treffen diese Veränderungen auch die Ausländer und Asylbewerber, weil deren Würde in sehr unmittelbarer Weise in Beziehung zu den Kosten gesetzt werden, die sie unserem Lande aufbürden. In der Behandlung des Asylthemas sollte man sich dieser für Staat und Gesellschaft sehr grundsätzlich bedeutsamen ethischen Erosion bewußt sein. Es muß dabei auch Klarheit darüber herrschen, daß die Unantastbarkeit der Würde des Menschen unteilbar ist. Darum ist es irgendwie unverständlich, wenn Parteien je nach Interessenlage das Bekenntnis zu den ethischen Grundlagen des Staates gerade im Blick auf die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ungleich, das heißt geteilt behandeln. Beim Thema Asyl geht es in Deutschland also nicht nur um Fragen der Praktikabilität und Finanzierbarkeit, sondern auch sehr wesentlich darum, ob sich Staat und Gesellschaft noch weiter zu den ethischen Grundlagen ihrer Existenz bekennen wollen. Man sollte sich nicht leichtfertig davon entfernen. Ganz grundlegend ethisch sind schließlich die Fragen, die mit der Spaltung der Welt in Arme und Reiche zusammenhängen, eine Grenze, die heute ebenso zwischen Nord und Süd wie zwischen West und Ost verläuft 10 . In einem Meer von Armut bildet Westeuropa eine Insel des Reichtums. Es wäre eine irrige Annahme, diese Insel durch Erhöhung der Dämme bewahren zu wollen. In dieser Situation wird gezielte Entwicklung mehr denn je zu einem anderen Wort für Frieden. Papst Paul VI. hat in der Tradition der katholischen Soziallehre diesen Zusammenhang aufgezeigt und zu einer neuen Form der internationalen Solidarität aufgerufen 11 • Sie ist bis heute mehr Postulat geblieben als Wirklichkeit geworden. Weder ein nationaler noch ein individueller Isolationismus können den Anforderungen gerecht werden, die auf uns durch Asyl und Migration zukommen. Der einzig zu verantwortende Weg ist die Entwicklung einer Strategie internationaler Solidarität. Dies aber ist wiederum keine Frage, die mit ökonomischen oder materiellen Kategorien zu beantworten ist. Es handelt sich um

10 Vgl. Merks, Karl-Wilhelm: Migration als ethische Aufgabe, in Kleber, 35ff. II Paul VI.: Populorum Progressio 76; vgl. auch: Johannes Paul II.: Sollicitudo Rei Socialis 82. 5 FS Rauschor

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eine eminent ethische Frage, die Bereitschaft zu ethischem Handeln voraussetzt. Eine angemessene Behandlung des Problems Asyl und Migration setzt in hohem Maße ethische Maßstäbe, ethisches Handeln und Treue zu ethischen Grundsätzen voraus. V. Was die katholische Kirche dazu sagt Da das Problem der Asylbewerber ebenso wie das der Armutsmigration kein bloß ökonomisches oder technisches ist, sondern ebenso viele ethische Implikationen besitzt, ist es nicht nur rechtens, sondern erforderlich, daß sich die Kirche zu diesen Fragen äußert. Die Äußerungen der Kirche müssen sich jedoch darüber Rechenschaft geben, daß sie zwar die grundsätzlichen ethischen Belange ins Bewußtsein rufen sollen, nicht jedoch mit derselben Autorität unmittelbar praktische Lösungen für die Gestaltung der Politik geben können. 12 Die Erklärung der deutschen Bischöfe zur Flüchtlings- und Asylproblematik, die während der Herbstvollversammlung in Fulda 1992 beschlossen wurde, ist sich dieser Begrenzung bewußt. Mit Hinweis auf Art. 84 der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" des II. Vatikanischen Konzils erklären die Bischöfe 13 : "Angesichts dieser komplexen Situation können wir Bischöfe keine einfache Antwort und keine glatte Lösung anbieten, zumal es in diesen Fragen im einzelnen unter Christen auch legitimerweise unterschiedliche Meinungen geben kann" 14 . Diese Zurückhaltung vor der Formulierung einer politischen Lösung ist kein Zeichen von Schwäche. Es ist vielmehr die Freisetzung eines Raumes, innerhalb dessen die Kompetenz und Verantwortung der Politiker gefordert ist. Die Bischöfe nennen jedoch ethische Orientierungen für das politische Handeln. Dazu zählt vor allem die Bedeutung des individuellen Rechtes auf Asyl.

12 Vgl. Forster, Karl: Glaube- Kirche- Politik. Zur Rolle des christlichen Glaubens und des geistlichen Amtes in politischen Auseinandersetzungen, in: ders.: Glaube und Kirche, 444-460. Losinger, Anton: "lusta autonomia". Studien zu einem Schlüsselbegriff des ll. Vatikanischen Konzils, Paderbom 1989 (=Abhandlungen zur Sozialethik 28.) 13 li. Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et Spes" 84. 14 Die Deutschen Bischöfe: Erklärung zur Flüchtlings- und Asylpolitik vom 24. September 1992: vgl. die Amtsblätter der einzelnen Diözesen Deutschlands, 2.

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"Die Ausformung unseres Asylrechts nach Art. 16 GG sichert politisch Verfolgten ein individuelles Recht auf Asyl zu. Diese besondere Fassung des Asylrechts ist ein Vermächtnis aus den Erfahrungen unserer besonderen Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus und ist ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschenrechte. Die Kirchen haben immer davor gewarnt, das Asylrecht in seiner Substanz ausruhölen" 15 • Die Bischöfe treten also für den Erhalt des individuellen Rechtes auf Asyl ein, weil es sehr grundsätzlich mit der Würde des Menschen zusammenhängt und es nicht zu vertreten wäre, diese Weiterentwicklung der Menschenrechte aufzugeben, die im Grundgesetz festgehalten worden ist. Damit treten die Bischöfe in der Frage des Asylrechtes wie auch in allen anderen vergleichbaren Fragen ungeteilt für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen ein. Mit dieser Position wird die ethische Verpflichtung, die aus dem Grundgesetz zugunsten des politisch verfolgten Menschen hervorgeht, deutlich herausgestellt. Im Grunde handelt es sich bei dieser ethischen Verpflichtung um einen Reflex des christlichen Menschenbildes. Die Haltung der Bischöfe darf gerade auch auf dem Hintergrund der Erosion der Werte des Grundgesetzes als erneuter Einsatz gegen die Erosion der ethischen Grundlagen des Staates und der Gesellschaft verstanden werden. Die Bischöfe verkennen aber auch nicht die in der Praxis mittlerweile aufgetretenen Probleme und anerkennen einen Präzisierungsbedarf bei der Ausgestaltung des Asylrechtes. Dabei ist eine angemessene Differenzierung das Gebot der Stunde. "Politisch Verfolgte - Menschen, die ... an Leib, Leben und Freiheit bedroht sind, haben das Recht, Schutz zu suchen; ihnen muß der Zugang auch zu unserem Land gewährleistet sein. Jede begründete Bitte um Schutz oder Asyl in dem oben erläuterten Sinne muß geprüft werden; eine Ablehnung muß überprüfbar sein. Es darf keine Abschiebung in ein Land, wo Gefahr für Leib, Leben und Freiheit besteht, erfolgen .... Flüchtlinge und Vertriebene aus Kriegs- oder Katastrophengebieten, die an Leib und Leben bedroht sind, finden für die Dauer der Bedrohung in unserem

15 Die Deutschen Bischöfe, Asylpolitik 3.

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Land Schutz; für sie muß eine eigene gesetzliche Regelung außerhalb des Asylverfahrens geschaffen werden, einschließlich der Kostenregelung. Für Menschen, die aufgrundvon wirtschaftlicher Not aus ihrer Heimat geflohen sind, ist eine eigenständige Zugangsregelung zu schaffen. Die Verantwortlichen in der Politik müssen ihre Anstrengungen noch mehr verstärken, die Ursachen der Flucht in den Herkunftsländern zu beheben. Wir fordern eine gerechtere Wirtschaftspolitik, die Einhaltung der Menschenrechte und eine konsequente Armutsbekämpfung" 16. Aus dieser Erklärung geht neben dem eindeutigen Bekenntnis zum individuellen Recht auf Asyl die Bereitschaft hervor, eine differenzierte Behandlung der Fremdenproblematik auch aus kirchlicher Sicht mitzutragen. Nicht alle Fremden sollen über die Einforderung des Asylrechtes Zugang zur Bundesrepublik Deutschland finden können. Dies ist, wie bereits dargestellt wurde, für das Asylrecht insgesamt ohnehin überaus schädlich und setzt diese Fortentwicklung des Menschenrechtes unter erheblichen Akzeptanzdruck durch die Öffentlichkeit. Das Asylrecht kann und muß also so gestaltet werden, daß es tatsächlich nur von solchen in Anspruch genommen werden kann, die als politisch Verfolgte Zuflucht suchen. Es erhebt sich in der Tat die Frage, ob diese Möglichkeiten wirklich schon ausgeschöpft sind oder ob man zu schnell nach einer Aufhebung des individuellen Asylrechtes verlangt. Darüber hinaus treten die Bischöfe für eigene gesetzliche Zugangsformen für diejenigen ein, die als Flüchtlinge oder aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen wollen. Die Regelungen für diesen Personenkreis müssen vom Artikel 16 GG getrennt angegangen werden. Schließlich machen die Bischöfe auf die weltweite Dimension der Ursachen der Migration aufmerksam und fordern aus ethischen Gründen eine andere Wirtschaftspolitik und eine konsequente Bekämpfung der Armut ein. Mit ganz ähnlichen Begründungen argumentiert die jüngste Erklärung des Päpstlichen Rates "Cor unum" und des Päpstlichen Rates für die Seelsorge der Migranten und Menschen unterwegs. Unter dem Titel "Flüchtlinge - eine Herausforderung zur Solidarität" wird an das Wort erinnert, das Papst Johannes Paul II. am 25. Juni 1982 an den Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gerichtet hat. Darin bezeichnete er die Flüchtlingsproble16 Die Deutschen Bischöfe: Asylpolitik 3-5.

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matik als "eine schmachvolle Wune unserer Zeit" 17 . Dieses Dokument setzt vor allem auf die Einforderung neuer weltwirtschaftlicher Strukturen zur Behebung der Armutsproblematik und damit der Ursachen der massenweisen Armutsmigration. Es appelliert in diesem Zusammenhang an die Industrieländer, sich dieser Aufgabe zu stellen. Es geht dabei nicht mehr nur um einzelne Hilfsprogramme im Stil caritativer Maßnahmen. Es geht vielmehr um eine neue und gerechtere Form internationaler Solidarität. Mit dem Appell an die internationale Solidarität ist die Aufforderung verbunden, Grenzen für Flüchtlinge nicht zu schließen und in der Entwicklungsarbeit zu kooperieren. Ein Wort aus diesem Dokument ist besonders bedenkenswert, da es in die Mitte der Wertverschiebungen trifft, die einer angemessenen Behandlung dieser Fragen in den Industrieländern immer mehr im Wege zu stehen scheinen. "Der Weg der Solidarität verlangt von allen die Überwindung des eigenen Egoismus und der Angst vor dem anderen" 18. In den Äußerungen zum Thema Flüchtlinge und Asylproblematik ist sich die Kirche vor allem der ethischen Dimension dieser Frage bewußt. Es geht zunächst um Menschen, deren Würde zu achten und zu schützen ist. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat in dieser Frage einen Entwicklungsgrad der Menschenrechte erreicht, der von besonderem Rang ist. Man sollte diesen Rang nicht aufgeben. Allerdings muß auch um der Sache und der Menschen willen, für die dieses Asylrecht geschaffen worden ist, eine wirksame Unterscheidung getroffen werden zwischen Asylbewerbern, Flüchtlingen und Armutsmigranten. Ein Teil des letzteren Problems kann mit befristeten Duldungen oder bestimmten Zugangsregelungen behandelt werden. Der größere Teil dieses Problemes aber ist eine weltweite Aufgabe, die nicht innerhalb unserer Grenzen, sondern nur durch eine bessere Entwicklungspolitik angegangen werden kann. Unter dem Oberbegriff der Solidarität versuchen die kirchlichen Dokumente eine Maxime für das Handeln anzubieten, das in diesen Fragen geboten ist. Es handelt sich dabei um einen Begriff, der christlich gefüllt, eine ethische Maxime ist, die in der Achtung vor der Würde des anderen und im christlichen Menschenbild wurzelt. 19 17 Päpstlicher Rat 'Cor unum' und Päpstlicher Rat für die Seelsorge der Migranten und Menschen unterwegs: Flüchtlinge - eine Herausforderung zur Solidarität, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Arbeitshilfen 101, Bonn 1992, 5-6. 18 Päpstlicher Rat 'Cor unum': Flüchtlinge, 24. 19 Vgl. Forster, Karl: Die Menschenrechte aus katholischer Sicht, in: ders.: Glaube und Kirche, 538-547. Rauscher, Anton: Personalität, Solidarität, Subsidiarität, in: ders.: Kirche in der

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Eine Aufgabe des Asylrechtes und eine grundsätzliche Wendung in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik würde wohl das christliche Menschenbild berühren, das hinter den ethischen Grundüberzeugungen der Verfassung steht. Es wäre durch eine Änderung des Asylrechtes im übrigen nicht zum erstenmal berührt, wenn nicht gar gefährdet. Wenn die Kirche sich für den Erhalt des Asylrechtes ausspricht, geht es um die Erhaltung des christlichen Menschenbildes und seiner Konsequenzen für die Grundlagen unseres Staates. Die Kirche tut dies in dieser Frage ebenso wie in allen vergleichbaren Fragen ungeteilt. VI. Was die Kirche tun kann In der tagespolitischen Auseinandersetzung hört man nicht selten einen Vorwurf an die Adresse der Kirche. Die Kirche verlange einerseits das Festhalten an den Grundsätzen der auf Artikel 16 GG gestützten Asylpolitik, andererseits aber helfe sie nicht bei der Lösung der damit auftretenden tatsächlichen Alltagsprobleme. Klaffen also Reden und Tun der Kirche in der Frage des Asyls auseinander? In der Tat bleibt zunächst einmal festzustellen, daß es primär eine Aufgabe des Staates ist, sich um Asylbewerber zu sorgen und ihnen Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Dennoch haben kirchliche Einrichtungen in Zusammenarbeit mit Staat und Kommunen regelmäßig Unterbringungsmöglichkeiten angeboten. Bisweilen wurden auch Pfarrzentren und andere für den pastoralen Auftrag der Kirche wichtige Räume für die Unterbringung von Asylbewerbern oder Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Allein durch das Bistum Augsburg wurden 1989/1990 nahezu 1500 Plätze für diese Zwecke bereit gestellt. Wesentlicher noch als die Bereitstellung von Räumen ist gerade aus kirchlicher Sicht die menschliche Zuwendung und das seelsorgliche Engagement für Asylbewerber und Flüchtlinge. Auf diesem Gebiet wird durch Beratung, Eingliederungshilfen und seelsorgliche Dienste sehr viel ehrenamtlich in Welt, Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung, Bd. 1 ( = Kirche in der Welt), Würzburg 1988, 253-295, insbesondere Menschenwürde und Personrechte, 262-264. Punt, Jozef: Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung, Paderbom 1987 (= Abhandlungen zur Sozialethik 26). Maier, Hans: Menschenrechte und christliches Denken, in: ders.: Nachdenken über das Christentum, München 1992, 9-23.

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Pfarrgemeinden und Verbänden geleistet. Es handelt sich um menschliches Engagement, das zwar keine Schlagzeilen macht, aber dennoch von großer Bedeutung ist. Insbesondere auf dem Hintergrund solcher Beobachtungen rechtfertigt sich die Aussage des Regensburger Rechtswissenschaftlers Otto Kimminich bei einer Veranstaltung der Katholischen Akademie in Bayern im Oktober 1992: "Ich bin sicher, daß die Zahl derjenigen, die Ausländern in Deutschland helfen, die Zahl der Randalierer um ein Vielhundertfaches oder Vieltausendfaches übersteigt" 20 . Die von den deutschen Bischöfen angemahnte Haltung findet in katholischen Kirchengemeinden vielerorts offene Ohren. "Wir bitten die Pfarrgemeinden zu prüfen, ob und wie sie Wohnraum oder Bauland oder auch Grundstücke für eine vorübergehende Unterbringung zur Verfügung stellen können. Fremde und Obdachlose aufzunehmen, ist und bleibt ein leibliches Werk der Barmherzigkeit. ... Wir bitten alle Verantwortlichen in unseren Gemeinden - so weit es noch nicht geschehen ist -, Kontakte zu knüpfen und Gesprächsräume für alle Beteiligten einschließlich der Betroffenen anzubieten "21 . In gleicher Weise äußern sich, insbesondere im Blick auf die seelsorgliche und soziale Betreuung der Päpstliche Rat "Cor unum" und der Päpstliche Rat für die Seelsorge der Migranten und Menschen unterwegs. Ein sehr wesentlicher Beitrag der Kirche zur Asyl- und Flüchtlingsthematik dürfte in der Bildung des Gewissens und Bewußtseins bestehen. Dabei muß es der Verkündigung ein Anliegen sein, das Thema in seiner christlichen und humanen Bedeutung aufzuschließen. Nur so kann es gelingen, der Gefahr einer platten Vereinfachung oder demagogischen Vereinnahmung dieses Themas durch wenig einsichtige politische Kräfte entgegen zu wirken. Es sollte den Verkündern der Frohen Botschaft ein Anliegen sein, in diesen Fragen zur Vermittlung der tragfähigen Kriterien zu einer Problemlösung wesentlich beizutragen. Schließlich vermag die Kirche auch den Teil des Problems in den Blick zu nehmen, der die Ursachen der Armutsmigration betrifft. Die Kirche hat fast überall auf der Erde direkten Zugang zu den Menschen und zu deren Lebensbedingungen. Deshalb ist humanitäre Hilfe über kirchliche Organisationen meist auch wesentlich effektiver als über den Weg staatlicher Bürokratien. 20 KNA: Nr. 186 vom 27.10.1992. 21 Die Deu!Schen Bischöfe: Asylpolitik, 5.

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Aber auch über aktuelle und befristete Hilfsmaßnahmen hinaus stellt die Arbeit der Kirche in Ländern der Dritten Welt schon seit langem ein Entwicklungsprogramm dar, das die Fähigkeit in sich trägt, den Ursachen der Armutsmigration zu begegnen. Allerdings sind Mittel und Möglichkeiten der kirchlichen Einrichtungen zu gering, um die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß die notwendigen Änderungen erwirkt werden könnten. Bei einer Verbesserung der Lebensverhältnisse und damit bei einem Programm gegen die Ursachen der Armutsmigration kann die Kirche jedoch in jedem Fall wertvolle Hilfe leisten und leistet sie auch tatsächlich bereits seit langer Zeit. In der Sorge um die Würde des Menschen, die in Gott begründet ist, steht die Kirche auch im Dienst am Asylsuchenden, am Flüchtling und am Armutsmigranten. Hier gilt in ganz besonderer Weise das Programmwort von Papst Johannes Paul II., daß alle Wege der Kirche zum Menschen führen22 . VII. Thesen für das Handeln Aus diesen Anstößen ergeben sich einige Thesen für das Handeln in der Flüchtlings- und Asylproblematik, die als kleines Summarium festgehalten werden sollen. 1. Das individuelle Recht auf Asyl für politisch verfolgte Menschen muß erhalten bleiben. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland bewahrt in diesem Rechtsanspruch auf Asyl nicht nur ein besonderes Erbe geschichtlicher Erfahrung. Diese Form des Rechtsanspruchs auf Asyl, den der deutsche Asyl-Sonderweg bedeutet, ist zugleich eine Fortentwicklung der Menschenrechte. Die darin enthaltene Unantastbarkeit der Würde des Menschen entspricht dem christlichen Menschenbild und gehört zugleich zum ethischen Grundbestand des Staates Bundesrepublik Deutschland.

22 Johannes Paul II.: Redemptor Hominis 14; vgl. dazu auch: Rauscher, Anton: DieMenschenrechte in der Lehre Papst Johannes Paul II., in: ders.: Kirche in der Welt, Bd. 1 212-229. Rauscher weist dabei besonders auf die Verankerung der Menschenrechte in der Menschenwürde hin. Papst Johannes Paul II. schöpft dabei - so Rauscher - aus den in der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" und der Erklärung "Dignitatis humanae" des II. Vatikanischen Konzils entfalteten Grundlinien der christlichen Anthropologie, die die Menschenrechte aus der von Gott gegebenen, unveräußerlichen und allen Menschen gemeinsamen Menschenwürde ableiten.

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2. Ein Asylrecht ohne Rechtsweg entspricht nicht dem Anspruch des Rechtsstaates. Darum muß das Asylrecht für politisch verfolgte Menschen überprüfbar bleiben. Der Rechtsweg darf nicht völlig entfallen. 3. Das Thema Asyl für politisch verfolgte Menschen ist von anderen Flüchtlingsphänomenen grundsätzlich und praktisch zu trennen. Asyl im Sinne des Grundgesetzes soll nur der beanspruchen können, für den dieses Recht geschaffen worden ist und der aus politischen Lebensbedingungen kommt, in denen Verfolgung nicht ausgeschlossen werden kann. Es liegt im Interesse dieses hohen Wertes des Asyls, wenn die notwendigen Differenzierungen und Definitionen geschaffen und zur Anwendung gebracht werden. 4. Für Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wäre eine befristete Aufnahme möglich zu machen. 5. Für Armutsmigranten sollten allenfalls neue Zugangsregelungen geschaffen werden, wobei dieses Problem auch dadurch nicht erkennbar gelindert werden kann. Eine verstärkte Anstrengung für eine wirksamere Entwicklungspolitik und -hilfe liegt, wie durch das Phänomen der Armutsmigration deutlich wird, ebenso im Interesse der armen wie der reichen Staaten. In dieser Aufgabe verbirgt sich im übrigen wohl der Kern der Überlebens- und Friedensstrategie der Menschheit für die nächste Zukunft.

Marktwirtschaft zwischen Person und homo oeconomicus Von Reinhard Blum In den vor wenigen Jahren erschienenen Enzykliken von Papst Johannes Paul II "Sollicitudo rei socialis" (1987) und "Centesimus annus" (1991) stellt der an wirtschaftlichen Fragen interessierte Leser fest, daß ein Wandel in der grundsätzlichen Einstellung zur Marktwirtschaft erfolgt. Die Enzyklika aus dem Jahre 1987 kritisiert "Strukturen der Sünde". Das geschieht mit Formulierungen, die unschwer erkennen lassen, daß auch die bestehenden "marktwirtschaftlichen Strukturen" gemeint sind, ohne daß der Begriff Marktwirtschaft auftaucht. In der Enzyklika 1991 kommen "spezifische Strukturen der Sünde" wieder vor, aber es gibt ein eigenständiges Kapitel über "das Privateigentum und die universale Bestimmung der Güter". Hier erfolgt ein grundsätzliches Bekenntnis zur Marktwirtschaft, ohne die Grenzen dieses Abstimmungsmechanismus außer acht zu lassen. Es fehlt jedoch ein Hinweis auf die Soziale Marktwirtschaft, wie wir in der Bundesrepublik die neue marktwirtschaftliche Ordnung nach 1945 umschreiben. Die unterschiedliche Berücksichtigung der Marktwirtschaft läßt sich nicht aus den unterschiedlichen Anlässen für die beiden Enzykliken erklären. Beiden ist gemeinsam die "soziale Sorge der Kirche mit dem Ziel einer wahren Entwicklung des Menschen und der Gesellschaft, welche die menschliche Person in allen ihren Dimensionen achten und fördern soll". Auch wenn mit diesem Bekenntnis die Einleitung zu der Enzyklika von 1987 beginnt, so zeigen die weiteren Ausführungen und Bezüge zu den vorhergehenden Enzykliken, daß es sich um einen durchgehenden gemeinsamen Bezugspunkt der katholischen Soziallehre handelt. "Personsein bedeutet so selbst Besitz eines Subjekts als solchen in einem wissenden und freien Bezogensein auf das Ganze" 1 •

I Kar! Rahner zitiert bei Losinger, Anton: Orientierungspunkt Mensch. Der anthropologische Ansatz in der Theologie Kar! Rahners, St. Ottilien 1992, 62.

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Es wäre auf diesem Hintergrund zu fragen, inwieweit der "wirtschaftliche Mensch" (homo oeconomicus) in der Marktwirtschaft und in der diesem Leitbild folgenden Wirtschaftswissenschaft, insbesondere in der Wirtschaftstheorie, mit dem "Personsein" der katholischen Soziallehre vereinbar ist. Dann ließe sich die Frage beantworten, welche Probleme der homo oeconomicus und mit ihm die Marktwirtschaft für die katholische Soziallehre aufwerfen. Da die Auseinandersetzung mit der Wirtschaftswissenschaft, insbesondere der Wirtschaftstheorie, Grundsatzfragen wissenschaftlichen, von den Naturwissenschaften und ihren Methoden beeinflußten Denkens darstellt, wird zunächst gefragt, was wir eigentlich denken, wenn wir denken (Teil 1), was speziell Ökonomen als "reine Ökonomen" oder "reine Theoretiker der Marktwirtschaft" bzw. der "freien Marktwirtschaft" über Menschen denken (Teil 2) und die Gesellschaft (Teil 3). Diese Überlegungen führen zu der Vermutung, daß das "Personsein" das Bekenntnis zur Marktwirtschaft erschwert bzw. behindert (Teil 4). So gehen offenbar die beiden genannten Enzykliken aus den Jahren 1987 und 1991 unterschiedlich mit diesen Behinderungen um.

I. Was denken wir, wenn wir denken? Zum Denken muß man, wie Goethe einmal festgestellt haben soll, "von Natur richtig sein". Denken schaffe eine Welt, die von Endursachen und Endzwecken frei ist, wo Gut und Böse ihren Platz haben. Goethe hielt es - so ein Interpret - für ein Unglück, in Opposition zu sein. Daraus ergeben sich drei Kriterien "gescheiten Denkens" : (1) Es soll wertfrei sein. Der Denkende wird außerhalb des Objekts seiner Gedanken gedacht. Traditionelles wirtschaftliches Denken beginnt deshalb mit der Abgrenzung des Objektes der Wissenschaft. Vorbild könnte eine der ersten Wissenschaften, die Astronomie, sein. Was die Menschen auch denken, sie werden den Lauf der Gestirne dadurch nicht beeinflussen. Die Übertragung auf die Gesetze menschlichen Lebens und menschlichen Zusammenlebens brachte Kant in die klassische Formulierung: "Der gestirnte Himmel über mir und das Sittengesetz in mir." Diese Trennung zwischen dem Denker und seinem Objekt machte Max Weber mit seiner Forderung nach Wertfreiheit auch zum Kriterium wissenschaftlichen Denkens in den Sozialwissenschaften. Es war ein Ausdruck von Wirklichkeitsnähe, daß diese Forderung, insbesondere in den Wirtschaftswissenschaften um die Jahrhundertwende, den "Werturteilsstreit" auslöste. 2

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(2) Gescheites Denken soll widespruchsfrei sein, es den Denkenden ersparen, "in Opposition zu sein". Den Weg zu Widerspruchsfreiheit weisen die Logik und ihre Gesetze. Eine besondere Ausprägung erhält das logische Denken im rationalen Denken. Hier geht es darum, beste und schlechteste Zustände (maximal oder minimal) zu bestimmen. Dies bildet den Kern ökonomischen Denkens. Ökonomisches Prinzip und Rationalprinzip gelten in der Wirtschaftswissenschaft als austauschbare Begriffe. (3) Denken tendiert dazu, auch Gut und Böse einen Platz zuzuweisen. Ob dies "gescheit" ist, wird im folgenden noch zu prüfen sein. Logisches und rationales Denken zumindest scheinen jedoch einen "Alleinherrschaftsanspruch" zu erheben, der auch Gut und Böse erfaßt. Als "Königin der Wissenschaft" verstand sich in ihren Anfängen die Philosophie (in wörtlicher Übersetzung aus dem Griechischen "Liebe zur Weisheit"). Der griechische Philosoph Plato, der unsere "klassische Bildung" geprägt hat, dachte sich deshalb den "Idealstaat" als von Philosophen regiert. Als aus Religion "Theo-Logie" entstand, stritt sie sich mit der Philosophie um die "Alleinherrschaft". Die Philosophie wurde angeblich zur "Magd der Theologie". Daneben erhob bereits seit ihren mythologischen Ursprüngen die Naturwissenschaft als "Astrologie" einen Alleinherrschaftsanspruch, der Mensch, Erde und Himmel zu einer "Einheit" machte. Mit dem Siegeszug der Naturwissenschaften löste sich die Einheitlichkeit des Denkens in Philosophie oder Theologie endgültig auf, ohne neue "Einheit" zu schaffen. Entsprechend der alten Weisheit irdischer Herrscher, zu teilen und zu herrschen, löste sich das Reich der Wissenschaft auf in Natur- und Geisteswissenschaften. Die einen sahen den Ursprung der Welt in der "Materie" und begründeten ein Denken, das zukünftig als Materialismus galt. Die entsprechende Gegenposition, der Ursprung der Welt im Geiste, erhielt den Namen Idealismus. Selbst der Mensch zerfällt seit Descartes in Körper und Seele. Der Körper wird als Forschungsobjekt den Naturwissenschaften zugeteilt. Die Seele bleibt den Theologen bzw. den Geisteswissenschaften vorbehalten. Die Aufteilung des Denkens in fachwissenschaftliches Denken erhöht die Vielfalt der "wissenschaftlichen Reiche", läßt aber den Ursprung in den Gesetzen der Logik unberührt. Zumindest ist es seit Arehirnedes strittig, ob es den "festen Punkt" gibt, der es erlaubt, die Welt aus den Angeln zu heben. 2 Kromphardt, Jürgen- Clever, Peter- Klipper!, Heinz: Methoden der Wirtschafts- und Sozialwissenschaft. Eine wissenschaftskritische Einführung, Wiesbaden 1979, 92 ff.

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Logisches Denken tut so, als ob es diesen Festen Punkt gäbe (Denken "als ob"). Die Gesetze der Logik erschließen dann die Welt von einem Anfang zu einem vorgegebenen Ende, bzw. erlauben vom "Ende" einen Rückschluß auf den Anfang. Die Erscheinungen der Wirklichkeit ordnen sich so nach Ursache und Wirkung. Wenn das Denken bei der Erfassung der einzelnen Erscheinungen ansetzt (Induktion), führt die fortlaufende "Ordnung" der Einzelerscheinungen zu der Erkenntnis der Gesetze, die die Welt regieren. Die Kenntnis dieser Gesetze erlaubt es umgekehrt (Deduktion), einzelne Erscheinungen zu "erschließen", zu prognostizieren. Der Ökonom ist geneigt, diese Art zu denken mit der "doppelten Buchhaltung" eines ordentlichen Geschäftsmannes zu vergleichen. Wie auch "gerechnet" wird, in beiden Rechenwerken muß sich derselbe Gewinn oder Verlust ergeben. Auch dieses Denken in Gewinn oder Verlust, Sein oder Nichtsein, kennzeichnet das logische Denken, ist die Garantie seiner WiderspruchsfreiheiL Etwas kann nur "sein oder nicht", ein Drittes gibt es nicht (tertium non datur). Ein Teil bzw. Teilchen der Welt setzt ein entsprechendes Anti-Teil bzw. Anti-Teilchen voraus. Himmel und Hölle der Theologie entsprechen Welt und Anti-Welt im naturwissenschaftlichen Denken. Die Philosophen und nach ihnen - Platos Tradition fortsetzend in alternativen Denkrichtungen - die Politologen und Politiker teilen das Denken in Materialismus und Idealismus, Individualismus und Sozialismus. Die Ökonomen denken entsprechend die Welt als Marktwirtschaft oder Planwirtschaft. Das "marktwirtschaftliche Denken" als "Alleinherrschaftsanspruch" schafft die Alternativen Freiheit oder Sozialismus, das "sozialistische Denken" denkt Freiheit nur als Freiheit durch Sozialismus. Dieses Denken, "als ob alles logisch und rational wäre", stellt ein durch Logik und Rationalität - "geschlossenes System" dar, und fordert gemäß der Trennung der Erscheinungen nach Ursache und Wirkung, Prinzip und Negation durch das "Anti-Prinzip" einen Anfang oder ein Ende. In den Naturwissenschaften besteht dafür das Bild des "Ur-Knalls" oder des absoluten Stillstandes (absoluter Nullpunkt). Gestritten wird lediglich darüber, ob dieses Ende die Welt als Kälte- oder Wärmetod ereilt und neuerdings, inwieweit Naturgesetze Selbstorganisation zulassen. 3

3 Jantsch, Erich: Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist, 2. Auf!., München 1984; Davies, Paul: The Cosmic Blueprint. New Discoveries in Nature's Creative Ability to Order the Universe, New York u.a. 1988.

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Die Welt als ständiges "Stirb und Werde", wie Goethe es beschrieb, erscheint der beschriebenen "Denk-Mechanik" als "unlogisch". Daraus entstand, um bei Goethe zu bleiben, die für die Sozialwissenschaft vor allem verheerende Erfahrung, daß grau alle Theorie und grün des Lebens güldener Baum. Dieses Denken übersieht, daß es - mathematisch gesprochen - nur einem möglichen "Vektor der Logik" folgt, ohne Anspruch auf "Alleinherrschaft". Demgegenüber schirmt sich "reine Theorie" gegenüber der entscheidenden Frage ab, ob sich die "Theorie" entlang dem "von Natur richtigen" Vektor bewegt, in dem die notwendige Entscheidung als "wertend", politisch oder irrational abgestempelt wird. Max Weber trennt, um dieser Sackgasse rationalen Denkens in der Wirklichkeit zu entgehen, die Rationalität in Wertund Zweckrationalität. Damit wurde erkannt, daß sowohl in idealistischer (wertrational) als auch in materialistischer Perspektive (zweckrational) rational (gemäß demjeweiligen Vektor) gedacht werden könnte. Da es im wirklichen sozialen Leben und Denken gleichzeitig eine Vielzahl von Werten und Zwecken gibt, wird sich der "Verstand" dem Alleinherrschaftsanspruch eines Prinzips oder einer "Sachlogik" beugen, einen Weg gemäß den Gesetzen der Logik und Rationalität richtig gehen, während "Vernunft" die entscheidende Frage einbezieht, ob es sich um den richtigen Weg, den richtigen "Vektor der Logik" handelt. Damit beginnt "gescheites Denken". Denken in Systemen mit unterschiedlichen Zielen, Zwecken und Leistungen. 4 Der Zweifel, eventuell nicht auf dem richtigen Weg sein, hindert logisches und rationales Denken daran, sich zu einem "Alleinherrschaftsanspruch" zu steigern, zum Hochmut des Wissens statt zur Demut der Weisheit zu führen. Sie erläutert Montaignes, der französische Begründer einer "pragmatischen Philosophie" im 16. Jahrhundert als erste Antwort auf den "Alleinherrschaftsanspruch" der Rationalität mit der Aufklärung und der Neuzeit: "Den wirklich gelehrten Männern geht es wie den Ähren auf dem Feld. Solange sie noch leere Köpfe haben, halten sie sie stolz nach oben gereckt, wenn die Köpfe aber voller werden, fangen sie an, sich demütig zu senken." Auch hier könnte man wieder bei Goethe fündig werden: Das Erforschliehe erforschen und das Unerforschliche still verehren.

4 Blum, Reinhard: Organisationsprinzipien der Volkswirtschaft. Neue mikroökonomische Grundlagen für die Marktwirtschaft(= Blum, Organisationsprinzipien), Frankfurt, New York 1983.

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Aus der "Liebe zur Weisheit" entstand ursprünglich die Philosophie. Ihr sollte es eigentlich darum gehen, in der konkreten Wirklichkeit von Wissenschaft und sozialer Organisation "Gut und Böse ihre Plätze zuzuweisen". Stattdessen droht - wie Montaignes mit seiner Forderung nach pragmatischer Philosophie bereits deutlich machte - die Hinwendung zur "reinen Theorie", zur Entfremdung von Theorie und Praxis. Dabei scheint der Siegeszug der Naturwissenschaften die Philosophen zu blenden, wenn sie zulassen, daß statt der Philosophie die Mathematik zur "Königin der Wissenschaft" gekrönt wird. Die Begrenztheit der Mathematik bzw. - noch schlimmer - die Begrenztheit der Fachwissenschaftler bei der Benutzung der Mathematik, bestimmt dann den "wissenschaftlichen Fortschritt". Die moderne "mathematische Wirtschaftstheorie" gerät in diese Gefahr und mathematisch nicht umfassend "gebildete" Ökonomen und Laien folgen diesen Ableitungen.

ß. Der Mensch als homo oeconomicus Die Wissenschaft vom und über den Menschen, die sich als Theologie, Biologie, Psychologie, Soziologie, Politologie mit der Logik verbindet, braucht nach den bisherigen Überlegungen einen festen Punkt, an dem die Logik ansetzt. Dieser ist in den Wirtschaftswissenschaften besonders gut auszumachen. Es ist die als ökonomisches Prinzip verstandene Rationalität. Der Mensch ist zwar im Prinzip frei, er nutzt diese Freiheit aber lediglich, um entsprechend dem ökonomischen Prinzip Nutzen und Gewinn zu maximieren, Kosten zu minimieren. Der Weg vom Nutzen des einzelnen (lndividualprinzip) zum Gemeinwohl (Wohlfahrtsmaximum in der Wirtschaftstheorie) führt über Arbeitsverteilung, Wettbewerb und Tausch. Der Stammvater dieses wirtschaftswissenschaftlichen Denkens - von Karl Marx als klassisch bezeichnet -, scheint nicht zufallig der Engländer Adam Smith zu sein. Er befaßte sich als "Moralphilosoph" zu einer Zeit des beginnenden Liberalismus und der "industriellen Revolution" in England auch mit der Einordnung der Wirtschaft in die Gesellschaft. Den Menschen sieht er in seinem moralphilosophischen Werk eingebettet in die Sympathie der Menschen füreinander, die Moral sowie Recht und Ordnung. Für das wirtschaftliche Verhalten erkennt er als besonderen "Kontrollmechanismus" den Wettbewerb der Menschen untereinander, um die Möglichkeiten zur Maximierung des persönlichen Nutzens und Gewinns bestmöglich für die Mehrung des eigenen Wohlstandes einzusetzen. 5

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Die Wirtschaftswissenschaft, insbesondere die Wirtschaftstheorie als "reine Theorie", löste sich in den folgenden Jahrzehnten aus der moralphilosophischen Einbettung bei Adam Smith und konstruierte mit Hilfe der Mathematik als neuer "Königin der Wissenschaft" eine Welt, in der die Menschen von ihrer Freiheit nur nach dem ökonomischen Prinzip Gebrauch machen. Die reine Theorie erreichte ihren Höhepunkt in der "Wohlfahrtstheorie". Sie liefert den Nachweis, daß bei "vollständiger Konkurrenz" das Streben der einzelnen Individuen nach Maximierung ihres materiellen Nutzens und Gewinns auch zu einem "Wohlfahrtsmaximum" der Gesellschaft führt. Diese Verkoppelung "materialistischen" Denkens mit dem Wohlfahrtsmaximum" einer im übrigen "idealistisch" gedachten Gesellschaftsordnung kennzeichnet den im dritten Abschnitt zu behandelnden Übergang vom Markt zur Marktwirtschaft, einer Gesellschaft als "Tauschgesellschaft". Gleichzeitig liefert dieses wirtschaftstheoretische Denken mit der Ersetzung von individueller Freiheit durch den Mechanismus der Rationalität die Fiktion, Wertrationalität gemäß dem Prinzip individueller Freiheit (Idealismus) mit der Zweckrationalität des Strebens nach maximalem Nutzen und Gewinn zu verbinden (Materialismus). Aus Liberalismus entsteht Wirtschaftsliberalismus. Ihn verwechseln liberale Denker und Parteien bis heute mit Liberalismus, insbesondere die marktwirtschaftliche Theorie und Philosophie. Ohne den "Alleinherrschaftsanspruch" des wirtschaftlichen Denkens nach dem ökonomischen Prinzip wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Teilbereich der Gesellschaft durch wirtschaftliches bzw. rationales Denken erklärt wird. Aber gerade die neuesten Entwicklungen in der Wirtschaftstheorie geben Anlaß zu der Sorge, daß die ursprüngliche Begrenzung des ökonomischen Denkens auf einen Teilbereich der Gesellschaft und auf einen Teil des menschlichen Verhaltens bzw. der Menschen - der "Krämer", wie Adam Smith zuweilen geringschätzig die so denkenden Zeitgenossen charakterisierte - in einen Alleinherrschaftsanspruch für menschliches Verhalten, soziales Leben und soziale Organisation verwandelt wird. Diese Befürchtungen nähren Wirtschaftswissenschaftler, die es als den größten Fortschritt feiern, daß wirtschaftstheoretisches Denken als "ökonomische Theorie der Politik" eine neue wissenschaftlich fundierte Verknüpfung von Wirtschaft und Politik herstellt, 5 Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, London 1776. Neueste Übersetzung: Entstehung und Verteilung des Sozialprodukts, 4 Bände, Neu aus dem Englischen übertragen von Horst Claus Recktenwald, München 1974, XV. 6 FS Rauscher

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nämlich als "neue politische Ökonomie" und Alternative zum Marxismus. Diese Verallgemeinerung wirtschaftlichen Denkens führt dann zu einer "ökonomischen Theorie" der Demokratie, des Rechts, der Gerechtigkeit, der Gesundheit, der Familie und der Kriminalität. 6 Erst kürzlich versuchten darüber hinaus ein Ökonom und ein Sozialpsychologe den Nachweis, daß der in der Wirtschaftstheorie aus dem Rationalprinzip abgeleitete homo oeconomicus nicht "unpsychologisch" seP Damit wird unterstellt, daß psychologisch mit menschlich gleichzusetzen ist. Genau besehen folgt aber aus der Übereinstimmung von Ökonomie und Psychologie nur, daß auch diese Wissenschaft vom Menschen sich offenbar ein Menschenbild geschaffen hat, das als "homo psychologicus" ähnlich dem Rationalitätsprinzip entspringt wie der homo oeconomicus. Damit erweist es sich als eine große Gefahr für die Sozialwissenschaft als Erfahrungswissenschaft, daß wissenschaftliches Denken sich um so eifriger mit der Logik verbindet (vgl. Theologie, Biologie, Soziologie, Politologie), je mehr sie vom oder über den Menschen handelt. Daraus entsteht dann jeweils ein eigener "homo logicus". Derhomo oeconomicus, der aus dieser Logik im wirtschaftlichen Denken entsteht, widerspricht mit zunehmender Verallgemeinerung zur "ökonomischen Theorie" der Politik, der Demokratie, des Rechts und der Gerechtigkeit immer weniger der Realität menschlichen Verhaltens sowie wirtschaftlichen und sozialen Lebens, sondern bedeutet Ersetzung individueller Entscheidungsfreiheit durch die Mechanik der Rationalität. Sie alleine erlaubt es, ein Gewinnmaximum des Unternehmens und gar ein Wohlfahrtsmaximum für die gesamte Gesellschaft abzuleiten. Das steht im Widerspruch zum Menschenbild in unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung, die gerade eine Reduzierung menschlichen Verhaltens auf Maximierung .individuellen wirtschaftlichen Nutzens und Gewinns als materialistisch abstempelt. Die deter-

6 Schäfer, Hans Bemd - Wehrt, Klaus (Hrsg.): Die Ökonomisierung der Sozialwissenschaften. Sechs Wortmeldungen, Frankfurt, New York 1989; sowie Losinger, Anton: Ökonomische Rationalität in allen Lebensbereichen? Der "ökonomische Ansatz" Gary S. Beckers im Kritikfeld der theologischen Anthropologie, in dieser Festschrift. 7 Frey, Bruno S. - Stroebe, Wolfgang: Ist das Modell des Homo oeconomicus "unpsychologisch"?, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 136 (1980) 82 ff. Kritisch dazu Rotschild, Kurt W.: Wie nützlich ist der Homo oeconomicus? Bemerkungen zu einem Aufsatz von Frey, Bruno S. - Stroebe, Wolfgang, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 137 (1981) 289 ff.

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ministische Vorstellung von einem Wohlfahrtsmaximum für die gesamte Gesellschaft verstößt gegen das Selbstverständnis einer freiheitlich-demokratischen Ordnung als "offene Gesellschaft" 8 . Die gleichzeitige "Prognose" von Feinden bedroht jedoch wieder die postulierte Offenheit. Diese Kritik an dem traditionellen wirtschaftstheoretischen Denken und seinem homo oeconomicus steht im Widerspruch zum herkömmlichen Selbstverständnis wirtschaftlichen Denkens als "marktwirtschaftliches Denken". Gemäß seiner Logik wird individuelle wirtschaftliche Freiheit als Streben nach materiellen Vorteilen durch Tausch und Wettbewerb über den Markt gerade zu einem Garanten bzw. einer Voraussetzung freiheitlich -demokratischer Ordnung. Der Markt als Abstimmungsmechanismus (unsichtbare Hand gemäß einem Bild von Adam Smith), der diese Verknüpfung individueller wirtschaftlicher Freiheit als individuelles Streben nach materiellen Vorteilen mit maximaler Wohlfahrt der Gesellschaft insgesamt sowie der freiheitlich-demokratischen Ordnung garantieren soll, ist ein Beispiel für einen Alleinherrschaftsanspruch wirtschaftlichen Denkens auch im Denken über soziale Beziehungen und soziale Organisation der Gesellschaft. Um diese Behauptung zu verstehen, ist es notwendig, Markt und Marktwirtschaft - den Versuch, die gesamte Gesellschaft als Tauschgesellschaft zu interpretieren - zu unterscheiden.

irr. Vom Markt zur Marktwirtschaft und zur Marktgesellschaft Der Markt als Ort des Gütertausches ist sicher eine der größten und ältesten "sozialen Erfindungen" gesellschaftlicher Organisation. Im wirtschaftlichen Bereich ersetzt damit der Tausch von Gütern das archaische "Recht des Stärkeren". Voraussetzung ist jedoch, daß alle Beteiligten sich an die Regeln des Tausches halten und nicht ungleich mit "wirtschaftlicher Stärke" (Kaufkraft) ausgestattet sind. Dies wiederum erfordert eine gewisse Kontrolle der wirtschaftlichen Organisation durch die politische Organisation der Gesellschaft, d. h. durch den Staat. Sein Interesse und seine Verantwortung für "Recht und Ordnung" erfassen auch den Tausch über den Markt. Die Verleihung von Marktrechten durch Feudalherren als Repräsentanten des mittelalterlichen Staates war nicht selten die Geburtsstunde neuer Städte.

8 Popper, Kar!: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bände, Bem 1980.

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Verletzung der "Markt-Regeln" wurde hart bestraft. Dies geschah meistens öffentlich auf dem "Markt-Platz". Die Anerkennung des Marktes als Ort des Tausches von Gütern sagt aber noch nichts über seine Bedeutung für die gesamte soziale Organisation aus. Im Gegenteil, Händler und Kaufleute - abgesehen von den Großkaufleuten, die als Patrizier mittelalterliche Städte beherrschten - genossen kein großes gesellschaftliches Ansehen. In der griechischen Mythologie war der Gott Merkur gleichzeitig für Händler und Wegelagerer zuständig. Das Christentum hat an dieser Geringschätzung erst durch den Protestantismus, insbesondere den Calvinismus, etwas geändert. Es lohnt sich, die Verwandlung von Eigennutz in Gemeinwohl, Wohlfahrtsmaximum in der Wirtschaftstheorie, durch den "Marktmechanismus" etwas näher zu betrachten, um einerseits den Übergang vom Markt als gesellschaftlich geordneten Ort des Gütertausches zur Marktwirtschaft als Garanten wirtschaftlicher Freiheit, und mit ihr auch freiheitlich-demokratischer Ordnung sowie maximaler Wohlfahrt, klarer zu erkennen. Zum anderen läßt sich die Logik und Geschlossenheit dieser (markt-)wirtschaftlichen Theorie nicht leugnen. Erst die Einsicht in die Logik des Gedankengebäudes bzw. "die List der Idee" vermag jedoch aufzuzeigen, wo und wann wirtschaftliche Freiheit und marktwirtschaftliche Prinzipien nicht mehr dieser Idee, sondern nur purem Eigennutz wirtschaftlicher Interessen dienen und damit einen Mißbrauch der marktwirtschaftliehen Idee bzw. ihrer Prinzipien darstellen. 9 Wirtschaftsliberalismus - das übersieht politischer Liberalismus bis heute sowie Wirtschaftstheorie verallgemeinern eine historisch einmalige Situation in den Beziehungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft. Wirtschaftliche Unabhängigkeit und wirtschaftliche Freiheit dienen den wirtschaftlich erfolgreichen Untertanen als Waffe zur Durchsetzung bürgerlicher, politischer Freiheiten gegenüber dem autoritären Staat. Er sowie seine "Philosophen", die die individuelle Freiheit der Bürger - insbesondere wirtschaftliche Freiheit - mit Chaos verbinden, müssen davon überzeugt werden, daß individuelle Freiheit, vor allem als wirtschaftliche Freiheit, nicht nur Wohlstand, sondern auch Ordnung erzeugt und garantiert. Dazu dient als Modell eine - zunächst nur auf die wirtschaftliche Aktivität beschränkte - (Wirtschafts-)Gesellschaft ohne Staat, d. h. ohne Reglementie9 Blum, Organisationsprinzipien 230 ff.

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rung des Wirtschaftsablaufs nach kollektiven, politischen Zielsetzungen und Zwecken (lndividualprinzip). Die Wirtschaftstheorie nach Adam Smith formalisiert dessen Idee der Selbststeuerung wirtschaftlicher Aktivität durch individuelles Streben nach materiellem Vorteil und Transformation dieses Vorteils durch Wettbewerb um Tauschgeschäfte auf dem Markt in volkswirtschaftliche Vorteile und damit in Vorteile für das Gemeinwohl. Der entscheidende Motor für die Verwandlung von Eigennutz in Gemeinwohl ist der als "Naturtrieb" des wirtschaftlichen Menschen 10 verstandene Drang zum Wettbewerb. Er wird gefördert durch die Anerkennung und Garantie des durch eigene Leistung erworbenen Eigentums - nicht des von Gott geschaffenen. Das entscheidende Signalsystem für die Selbststeuerung durch Wettbewerb und Tausch über den Markt stellen die Preise dar. Angebot und Nachfrage von Gütern verbinden sich mit Preisvorstellungen, in denen die Stärke des Bedürfnisses nach bestimmten Gütern (Präferenz) zum Ausdruck kommt (Bedarfsgerechtigkeit). Gleichzeitig steuert die Stärke des Bedürfnisses das Angebot von eigener Arbeitsleistung. Sie sorgt für das Einkommen, mit dem über den Markt Güter nachgefragt werden können (Leistungsgerechtigkeit). Was fehlt, ist jedoch die in unserem Zusammenhang wichtige "soziale Gerechtigkeit", die in der Sozialen Marktwirtschaft Ergebnis der Einbindung des Marktes in die politische und gesellschaftliche Ordnung ist. 11 Auf dem Markt bildet sich aus den unterschiedlichen Preisvorstellungen der vielen Anbieter und Nachfrager ein einheitlicher Preis, zu dem alle, die die Güter kaufen möchten, genauso zum Zuge kommen wie die, die zu diesem Preis Güter anbieten. Diejenigen, deren Preisvorstellungen dem "Marktpreis" nicht entsprechen, müssen ihre Erwartungen korrigieren oder auf Nachfrage nach bzw. Angebot von Gütern verzichten - ein Ansatzpunkt der Sozialen Marktwirtschaft. Unternehmen, die bei den bestehenden Marktpreisen große Gewinne erzielen, reizen dadurch neue Produzenten, in den betreffenden Markt einzudringen und Nachfrage durch günstigeren Preis auf sich zu lenken. Dieser Wettbewerb zwingt alle Anbieter dazu, mögliche Gewinne in niedrigeren Preisen an die Nachfrager weiterzugeben. Hierin liegt die eigent-

10 Blum, Reinhard: Die Zukunft des Homo oeconomicus, in: Biervert, Bemd - Held, Martin (Hrsg.): Das Menschenbild der ökonomischen Theorie. Zur Natur des Menschen(= Blum, Die Zukunft), Frankfurt, New York 1991, 111-131. II Lampert, Heinz: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl., München 1992 ( = Geschichte und Staat 278).

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liehe "List der marktwirtschaftliehen Idee", die einzelwirtschaftliches Gewinnstreben in den volkswirtschaftlichen Vorteil größerer Güterproduktion (wirtschaftliches Wachstum) zu niedrigeren Preisen verwandelt. Bei wichtigen Gütern (Ressourcen der Natur z. B.) fehlt diese Voraussetzung, was "marktwirtschaftliche Denker" gern übersehen. Der Endverbraucher, der Konsument, ist in diesem Modell souverän (Konsumentensouveränität). Er steuert die wirtschaftlichen Prozesse nach seinen individuellen Bedürfnissen über das Preissystem. Soziale (soziale Frage im 19. und 20. Jahrhundert) und wirtschaftliche Fehlentwicklungen (insbesondere die Weltwirtschaftskrise während der 20er und 30er Jahre dieses Jahrhunderts) gaben Anstöße, das marktwirtschaftliche Denkmodell zu korrigieren oder die Fehlentwicklungen aus Versagen des Markts oder der Praxis (nicht "vollständiger Wettbewerb") zu erklären. Sowohl "Marktversagen" als auch "Praxisversagen" liefern eine Begründung für staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsablauf, d. h. staatliche Wirtschaftspolitik. Die "soziale Frage" im 19. Jahrhundert, ausgerechnet während einer nie vorher erlebten Steigerung der Güterproduktion durch die industrielle Revolution, führte zu der Einsicht, daß eine zivilisierte Gesellschaft mit ethischen, gesellschaftlichen und sozialen Normen für menschenwürdiges Leben die Verteilung wirtschaftlicher Güter nicht nur über die Kaufkraft am Markt zulassen kann, schon deshalb nicht, weil die einzelnen (besitzenden und besitzlosen) Bürger unterschiedliche Chancen haben, sich mit Kaufkraft zu versorgen. Daraus folgte die Notwendigkeit ergänzender Sozialpolitik - nicht zuletzt auch erzwungen durch die politische Mobilisierung der Arbeiter und ihrer Anfalligkeit für die marxistische Alternative der staatlichen Lenkung der Wirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik knüpfte an diese im 19. Jahrhundert entstandenen Einsichten an. Die Weltwirtschaftskrise in den 20er und 30er Jahren unseres Jahrhunderts ließ das Bewußtsein entstehen, daß Arbeitslosigkeit und Inflation als volkswirtschaftliche Fehlentwicklungen kein Schicksal sind, sondern Vollbeschäftigung und Vermeidung von Inflation Aufgaben staatlicher Wirtschaftspolitik darstellen. Daraus entstand eine neue (makroökonomische) Wirtschaftstheorie, die die Stabilisierung des Wirtschaftsablaufs nicht aufgrund individueller, rationaler Entscheidungen "rein theoretisch" bewies, sondern Ansatzpunkte für staatliche Wirtschaftspolitik zugunsten von Vollbeschäftigung und Preisniveaustabilität im gesamtwirtschaftlichen Kreislauf zwischen Haushalten, Unternehmen und Staat aufzeigte. Mit dem Wandel des Staates vom Feuda-

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lismus und Absolutismus zur freiheitlich-demokratischen Ordnung geraten so marktwirtschaftliche Abstimmungsprozesse immer mehr in Konkurrenz zu politischen, demokratischen Abstimmungsprozessen. 12 Das Ergebnis ist der moderne Wohlfahrtstaat. Ein neuer, der katholischen Soziallehre verpflichteter "Wirtschaftsliberalismus" (Ordoliberalismus), der aus den Wirren der Weltwirtschaftskrise entstand und auch der Sozialen Marktwirtschaft der Bundesrepublik als Vorbild diente 13 , trug dem Wandel der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen durch die Idee der Wirtschaftsordnung Rechnung. Dem traditionellen wirtschaftstheoretischen Denken fällt es jedoch schwer, den "Alleinherrschaftsanspruch" des ökonomischen Prinzips im Modell der "freien Marktwirtschaft" zugunsten politischer, demokratischer und damit auch "irrationaler" Entscheidungen, gemessen am ökonomischen Prinzip, aufzugeben. Statt einer Integration des wirtschaftlichen Denkens in die politischen Prozesse durch eine "politische Theorie der Ökonomie" (sie entstand als Politische Ökonomie) versuchen die Ökonomen eine Integration der Politik, der Demokratie, des Rechts und der sozialen Gerechtigkeit in die ökonomische Theorie durch die schon erwähnte "ökonomische Theorie" der Politik, der Demokratie, des Rechts und der Gerechtigkeit. In der Soziologie findet dieses Denken eine Ergänzung in Interpretationen der Gesellschaft als "Markt- und Tauschgesellschaft" 14 . Versucht marktwirtschaftliches Denken in den früheren Jahrzehnten, wirtschaftliche und soziale Fehlentwicklungen in der marktwirtschaftliehen Ordnung durch "Marktversagen" zu erklären und damit Wirtschaftspolitik des Staates zu begründen, so erscheinen die wirtschaftlichen Krisen bzw. Fehlentwicklungen des letzten Jahrzehntes in der "ökonomischen Theorie der Politik" als "Staatsversagen". Die Botschaft dieser "neuen politischen Ökonomie" 15 ist

12 Blum, Organisationsprinzipien. 13 Blum, Reinhard: Soziale Marktwirtschaft. Wirtschaftspolitik zwischen Ordoliberalismus und Neoliberalismus, Tübingen 1969. (= Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung 18). 14 Dahrendorf, Ralf: Der Markt als Kraft des Fortschritts, in: Dahrendorf, Ralf: Der Markt als Kraft des Fortschritts, in: Die Zeit vom 17.10.1980, 16. Romans, George Caspar: Social Behavior as Exchange, in: American Journal of Economics and Sociology, New York 63 (1958) 597 ff.; Opp, Klaus-Dieter: Individualistische Sozialwissenschaft, Stuttgart 1979; Schäfer Wehrt. 15 Frey, Bruno S.: Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, München 1981; hierzu Blum, Die Zukunft.

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damit eher die alte des klassischen Wirtschaftsliberalismus als die neue des Ordoliberalismus und der Sozialen Marktwirtschaft. Sie erscheint als "Pleonasmus" 16 , eine Folge der "Verketzerung" der Marktwirtschaft als "unsozial" durch ihre Gegner, so daß ein "freiheitliches Wirtschaftssystem" als "unsozial" angesehen wird. Diese marktwirtschaftliche Logik "verketzert" ihrerseits die Demokratie: Einem "gütigen Alleinherrscher" wird mehr Vertrauen entgegengebracht als der Demokratie als "Diktatur der Mehrheit" _17 Demokratie und Marktwirtschaft bzw. generell Rationalität führen zu einem Konflikt. 18 Die "ökonomische Rationalität" wehrt sich selbst gegen eine "Domestizierung" durch die Ethik. 19 Die Hypothese, daß jede Ethik auch ökonomische Grundlagen besitzt, führt zu einer "ökonomischen Theorie der Ethik", zur "Wirtschaftsethik" statt zur Ethik in der Wirtschaft. 20 Schließlich glauben kritische Theologen, auch schon Ansätze einer "ökonomischen Theorie" der katholischen Soziallehre zu erkennen.21 Wenn sie aber das "Personsein" in den Mittelpunkt stellt, dürfte sie sich durch den homo oeconomicus und die Marktwirtschaft nicht vereinnahmen lassen.

IV. Die Person als Hindernis für die Marktwirtschaft in der katholischen Soziallehre Aus den vorhergehenden Überlegungen ließe sich folgern, daß die einleitend festgestellten unterschiedlichen Gewichtungen der Marktwirtschaft in den Enzykliken von 1987 und 1991 eine unterschiedliche Bereitschaft zeigen, der ökonomischen Rationalität zu folgen. Dem muß kein Wandel im Bewußtsein vorausgehen, sondern nur das Bemühen, sich den ökonomischen Leitbildern 16 Woll, Artur: Wirtschaftspolitik, 2. Aufl., München 1992, 85. 13.

17 Woll, Artur: Weniger Staat als Gebot der Stunde, in: Wirtschaftsdienst 64 (1984) 11-14,

18 Homann, Kar!: Rationalität und Demokratie, Tübingen 1988. 19 Homann, Kar!: Die Rolle ökonomischer Überlegungen in der Grundlegung der Ethik, in:

Hesse, Helmut (Hrsg.): Wirtschaftswissenschaft und Ethik, Berlin 1988 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, neue Folge 171) 215-240, 216. 20 Blum, Reinhard: Wirtschaftsethik oder Ethik in der Wirtschaft, in: Krupp, Helmar (Hrsg): Technologie-Politikangesichts der Umweltkatastrophe, Heidelberg 1990, 127-146. 21 Utz, Arthur Fridolin, Rezension von: Hünermann, Peter - Eckholt, Margit (Hrsg.): Katholische Soziallehre -Wirtschaft- Demokratie. Ein lateinamerikanisch-deutsches Dialogprogramm, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 111 (1991) 99-104, 101-102.

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nicht zu verschließen und zu demonstrieren, daß "die kirchliche Botschaft" mit "ökonomischer Kompetenz gepaart" 22 ist. Damit entsteht jedoch die Gefahr, daß am Ende nicht die katholische Soziallehre gemäß ihrer Entstehungsgeschichte die Wirtschaft "domestiziert", sondern die "ökonomische Kompetenz" die katholische Soziallehre. Unter diesem Blickwinkel verdient es besondere Beachtung, daß zwar die Marktwirtschaft Eingang findet in die Enzyklika "Centesimus annus" von 1991, nicht aber die Soziale Marktwirtschaft.23 Eine Erklärung könnte sein, daß der Papst nicht den Eindruck aufkommen lassen wollte, als ob das deutsche Modell zur Nachahmung empfohlen werden sollte. 24 Wenn jedoch die Grundelemente der Sozialen Marktwirtschaft nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen wirtschaftlichen und sozial fortgeschrittenen Ländern verwirklicht sind, dann ist es zumindest verwirrend, wenn die Enzyklika - zumal in der deutschen Fassung - den Begriff Soziale Marktwirtschaft vermeidet, aber andererseits versuchen muß, zwischen einem schlechten "Kapitalismus" und einem guten "Kapitalismus" zu differenzieren. Für diesen werden dann "passendere" Begriffe wie "Unternehmerwirtschaft" oder "Marktwirtschaft" oder "freie Wirtschaft" vorgeschlagen. 25 In der Abgrenzung zum Kommunismus wird aber auch der Begriff "freie Marktwirtschaft'' gebraucht. 26 Andererseits wird vor der Gefahr gewarnt, "daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breit macht", die es ablehnt, sich mit dem "großen materiellen und moralischen Elend" in der Welt auseinanderzusetzen und die Lösung "in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überläßt "27 . Wenn dies jedoch möglich ist in einer Gesellschaft, so ließe sich mit der Enzyklika "Sollicitudo rei socialis" von 1987 argumentieren, so sind "Strukturen der Sünde" 28 zu vermuten. Sie kommen in der Enzyklika von 1991 zwar 22 Homann, Kar!: Die kirchliche Botschaft muß mit ökonomischer Kompetenz gepaart sein, in: Herder Korrespondenz 45 (1991) 311 -zitiert nach Rauscher, Anton: Die Entdeckung der sozialen Marktwirtschaft. Wirtschaftsethische Positionen in "Centesimus annus" (= Rauscher, Die Entdeckung), in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 37 (1992) 9-24, 10 Anm. 2. 23 Rauscher, Die Entdeckung, 14. 24 Raucher, Die Entdeckung, 14. 25 Johannes Paul 11.: Centesimus Annus (= CA), 42. 26 CA 19. 27 CA 42. 28 Johannes Paul II.: Sollicitudo Rei Socialis, 36-37.

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auch noch vor29 , beziehen sich aber mehr auf die gesellschaftliche Struktur. Der besondere kritische Unterton gegenüber "sündigen Strukturen" in der Wirtschaft verschwindet auf diese Weise oder wird gemildert, d. h. jedoch nicht, daß die Enzyklika von 1991 die "Grenze des Marktes" 30 nicht sieht. Es wird sogar von der Gefahr einer "Vergötzung" des Marktes gesprochen, "der die Existenz von Gütern ignoriert, die ihrer Natur nach weder bloß Waren sind noch sein können". Die Argumentation erinnert jedoch mehr an die erwähnte "ökonomische Theorie" der Politik, nach der sich Politik als Ausdruck sozialer Steuerung nur bei Marktversagen rechtfertigen läßt. Der oberflächliche Leser könnte leicht vermuten, daß die Vermeidung der Sozialen Marktwirtschaft als "sozial verantwortlich gesteuerte Marktwirtschaft" auch Vorstellungen zugrunde liegen, die Soziale Marktwirtschaft als Pleonasmus bewerten. Selbst Marktwirtschaft erhält noch einen negativen Klang, wenn daneben "freie Marktwirtschaft" oder "freie Wirtschaft" gebraucht werden. Gemäß dem Selbstverständnis der Marktwirtschaft wäre "freie Marktwirtschaft" ein Pleonasmus. Schon gar nicht zur Abgrenzung gegenüber dem Kommunismus oder Sozialismus bedürfte es der Betonung der "freien Marktwirtschaft". Sie erscheint eher - aber vielleicht ist das auch eine besondere Sensibilität aufgrund der deutschen Entwicklung - als Alternative zur Sozialen Marktwirtschaft. Für sie als "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus, wie es der geistige Vater der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, sah, spricht die Feststellung, daß die Niederlage des "realen Sozialismus" nicht den "Kapitalismus als einziges Modell wirtschaftlicher Organisation" übrig läßt. 31 Angesichts der begrifflichen Vielfalt und auf dem Hintergrund der Denkstrukturen, zu denen die Benutzung des Begriffsapparates der marktwirtschaftliehen Theorie zwingt, ist es nicht ganz so unverständlich, wenn Kritiker der Enzyklika von 1991 nicht nur die Entdeckung der Sozialen Marktwirtschaft32 herausstellen, sondern den Verdacht äußern, die Enzyklika stufe die Marktwirtschaft in die "Kategorie einer Ideologie" ein. 33 . Dies tut die En-

29 CA 38. 30 CA 40. 31 CA42. 32 Rauscher, Die Entdeckung.

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zyklika sicher nicht. Sie weist aber auf die Gefahr hin, daß Marktwirtschaft als Ideologie benutzt werden kann. Wenn sich die katholische Soziallehre jedoch mit "ökonomischer Kompetenz" paaren möchte, wofür wie gezeigt die Enzyklika "Centesimus annus" von 1991 Hinweise liefert, dann wäre es wichtig zu erkennen, wann die "Paarung mit ökonomischer Kompetenz" nicht die Wirtschaft "domestiziert", sondern die katholische Soziallehre. Ihre Orientierung an der Person, dem Personsein, bietet da besseren Schutz als der homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften. Die Soziale Marktwirtschaft vermag dabei - zumindest in der deutschen Fassung der Enzyklika mehr Klarheit zu schaffen als das Jonglieren zwischen den Begriffen Kapitalismus, Marktwirtschaft, freie Marktwirtschaft, freie Wirtschaft und Unternehmerwirtschaft. Dafür spricht auch die Diskussion in der katholischen Soziallehre nach 1945 34 sowie in der Evangelischen Kirche35 . Solange eine Scheu besteht, sich zur Sozialen Marktwirtschaft zu bekennen, ist die Gefahr größer, eine sozialistische Ideologie durch eine marktwirtschaftliche einzutauschen. Auch in diesem Punkte zeigt die Enzyklika "Centesimus annus" von 1991 mehr Weitblick als manche "ökonomische Kompetenz", wenn davor gewarnt wird, nach dem Scheitern des "realen Sozialismus" den "Kapitalismus" als "einziges Modell wirtschaftlicher Organisation" zu betrachten. 36 Die immer lauter werdenden Klagen in der Bundesrepublik, man habe bei der Transformation der neuen Bundesländer vom Sozialismus in die marktwirtschaftliche Ordnung sich zu sehr auf die marktwirtschaftliehen Prinzipien verlassen, sprechen dafür, daß die "ökonomische Kompetenz" sich mehr an der freien statt an der Sozialen Marktwirtschaft orientierte.37 Dann besteht die Gefahr, daß nicht nur die Soziale Marktwirtschaft 33 Kölle, Hans Martin: Sozialenzyklika in der Diskussion. Contra, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt 17.5.1991, 27, zitiert bei Rauscher, Die Entdeckung, 14 Anm. 10. 34 Rauscher, Anton: Zur Diskussion um freie und soziale Marktwirtschaft nach 1945 im Bereich der katholischen Soziallehre, in: Lampen, Heinz (Hrsg.): Freiheit als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, St. Ottilien 1992 ( = Interdisziplinäre gesellschaftspolitische Gespräche an der Universität Augsburg, 2), 1-17. 35 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung für die Zukunft. Eine Denkschrift, Gütersloh 1991.

36 CA 35. 37 Blum, Reinhard: Theorie und Praxis des Übergangs zur marktwirtschaftliehen Ordnung in

den ehernals sozialistischen Ländern, Augsburg 1991 (= Volkswirtschaftliche Diskussionsreihe des Instituts für Volkswirtschaftslehre der Universität Augsburg 54); Blum, Reinhard: Art. Soziale Marktwirtschaft, in: Woll, Artur (Hrsg.): Wirtschaftslexikon, 6. überarb. und erw. Aufl., München, Wien 1992, 623-626, 625.

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aufgrund von neuen Fehlentwicklungen neu erfunden werden muß bzw. der Ordoliberalismus, sondern auch der "Sozialismus" neu erfunden wird. Tendenzen dazu gibt es in dem Land, aus dem wir gerade nach 1945 alte deutsche Einsichten gern in amerikanischer Version oder Transformation übernahmen, nämlich die USA mit ihrer "freien Unternehmerwirtschaft" als Grundlage der "freien Marktwirtschaft". Sie stützte in den letzten Jahrzehnten die schon erwähnte "neue politische Ökonomie", aber vor allem die (neoklassische) Denkschule der Monetaristen (Chicago-Schule) unter Führung von Milton Friedman und Friedrich A. von Hayek, dem gewichtigsten Philosophen des modernen Wirtschaftsliberalismus. Ihm gegenüber entdecken nun amerikanische Autoren beim Nachdenken über die "gute Gesellschaft" 38 (Bellah u. a., Papcke) die "Sozialisten" (communitarians) als Gegengewicht zu den "Liberalisten" (libertarians) erneut bzw. das Sozialprinzip gegenüber dem Individualprinzip und der an ihm festgemachten "marktwirtschaftlichen Logik". So entsteht Dialektik in der Geschichte der Menschheit aus den Wechselwirkungen alternativer (feindlicher) Prinzipien und dem Menschen als Person und mündigem Bürger, wenn die Menschen nicht aus der Geschichte lernen, daß es - wenn nicht gar Pluralität viele "dritte Wege" gibt. In der Geschichte ist für den Christen Gott der Herr der Geschichte. Er aber machte den Menschen "gottgleich", indem er ihn auch mit Schöpferkraft versah, vor allem in der Gestaltung der gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und "personalen" Beziehungen. Der Mensch als Person oder als mündiger Bürger sind demnach schon eine alte Herausforderung in der Menschheitsgeschichte. Der homo oeconomicus sowie der auf ihn gründende "Marktmechanismus" erweist sich- um auch mit der Weisheit unseres größten Dichters zu schließen - als homunculus, als ständige Versuchung des Menschen, sich Menschen nach dem eigenen Bilde (in der Wissenschaft nach dem der Logik und Rationalität) zu schaffen.

38 Bellah, Robert N. u. a.: The Good Society, New York 1991; Papcke, Sven: Die Wiederkehr des Gemeinwohls, in: Die Zeit vom 28.02.1992, 48.

Ökonomische Rationalität in allen Lebensbereichen? Der "ökonomische Ansatz" Gary S. Beckers im Kritikfeld der theologischen Anthropologie

Von Anton Losinger Die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften des Jahres 1992 an den amerikanischen Ökonomen Gary S. Becker, der lange Zeit an der Universität von Chicago in diesem Fachgebiet lehrte, war dazu angetan, über die engeren Wirtschaftsfachkreise hinaus ein gewisses Erstaunen zu erregen. Anlaß zu diesem Erstaunen gab die Begründung der Stockholmer Jury, Becker habe den Preis erhalten "für seine Verdienste um die Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen breiten Bereich menschlichen Verhaltens." In der Tat geht Beckers Forschungsansatz von der Grundannahme aus, daß sich das Verhalten der Menschen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen nach den gleichen, letztlich nur ökonomisch erklärbaren Grundsätzen richte. Diese Grundsätze, sozusagen die atomaren Elementarstrukturen menschlicher Verhaltensmuster lassen sich in ihren wesentlichen Gehalten zusammenfassen und zurückführen auf das, was Becker den "ökonomischen Ansatz"' nennt. Einzelpersonen, Haushalte, Unternehmen und alle übrigen Organe und Einheiten der Gesellschaft verhalten sich stets und in allen Lebenslagen rational und zweckorientiert, agieren - in der Terminologie des Ökonomen ausgedrückt- nutzen-, ertrags-, einkommens-und vermögensmaximierend. I. Der universale "ökonomische Ansatz"

In seiner Publikation "The Economic Approach to Human Behavior" stellt Becker die wesentlichen Grundzüge seiner Theorie des "ökonomischen AnI Der Begriff entspricht dem Titel seines populären Werkes: Becker, Gary S.: The Economic Approach to Human Behavior, Chicago: University of Chicago Press 1976. Deutsche Ausgabe: ders.: Der ökonomische Ansatz. Zur Erklärung menschlichen Verhaltens (= Becker, Der ökonomische Ansatz), Tübingen 1982.

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satzes" vor, die in der zentralen These gipfeln: "Ich behaupte, daß der ökonomische Ansatz einen wertvollen, einheitlichen Bezugsrahmen für das Verständnis allen menschlichen Verhaltens bietet. "2 Ohne den Erkenntniswert der Ergebnisse aller übrigen human-, sozial- und naturwissenschaftlichen Disziplinen über anthropologische Zusammenhänge diskreditieren zu wollen 3 , bestimmt Becker als den Brennpunkt, in dem sich die Motivationsstruktur aller menschlichen Aktionen bündelt, das ökonomische Rationalprinzip, dessen faktische Realisierung in der Nutzenmaximierung aller agierenden Subjekte besteht. "Der Kern meines Argumentes ist, daß menschliches Verhalten nicht schizophren ist: einmal auf Maximierung ausgerichtet, einmal nicht; manchmal durch stabile Präferenzen motiviert, manchmal durch unbeständige; manchmal zu einer optimalen Akkumulation von Informationen führend, manchmal nicht. Alles menschliche Verhalten kann vielmehr so betrachtet werden, als habe man es mit Akteuren zu tun, die ihren Nutzen, bezogen auf ein stabiles Präferenzsystem, maximieren und sich in verschiedenen Märkten eine optimale Ausstattung an Information und anderen Faktoren schaffen. "4 In der Koordination und Integration dieser drei Strukturelemente: (1.) tendenzielles Gleichgewicht des Marktes über Angebot und Nachfrage, (2.) relative Stabilität bzw. Eindeutigkeit der Präferenzen der Marktteilnehmer und (3.) Nutzenmaximierung als umfassendes Ziel und Verhaltensnorm aller im gesellschaftlichen Interaktionsrahmen agierenden Subjekte und Organe sind die Grundlagen des ökonomischen Ansatzes gegeben. "Die Annahmen des nutzenmaximierenden Verhaltens, des Marktgleichgewichts und der Präfe-

2 Becker, Der ökonomische Ansatz 15. Vgl. auch 3: "Ich bin der Auffassung, daß die besondere Stärke des ökonomischen Ansatzes darin liegt, daß er eine breite Skala menschlichen Verhaltens integrativ erfassen kann." 3 Becker erkennt zwar a.a.O. 15 durchaus eine "nichtökonomische Variable für das Verständnis menschlichen Verhaltens" an und mindert auch nicht "die Beiträge von Soziologen, Psychologen, Soziobiologen, Historikern, Anthropologen, Politologen Juristen und anderen." Zwar - das wird widerspruchslos anerkannt - "stammen viele wichtige Begriffe und Methoden von anderen Disziplinen und werden auch weiterhin von diesen erbracht werden", doch kommt es nach Beckers Selbstverständnis eindeutig dem "ökonomischen Ansatz" zu, den "einheitlichen" und "umfassenden Bezugsrahmen" für die Analyse und das Verständnis des menschlichen Verhaltens im Ganzen zu liefern. 4 Becker, Der ökonomische Ansatz 15. Der umgreifende Anspruch dieser Argumentation Beckers wird deutlich, wenn er nicht ohne ein gewisses Selbstbewußtsein a.a.O. schreibt: "Trifft dieses Argument zu, dann bietet der ökonomische Ansatz einen einheitlichen Bezugsrahmen für die Analyse menschlichen Handelns, wie ihn Bentham, Comte, Marx und andere seit langem gesucht, aber verfehlt haben."

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renzstabilität - strikt und ohne Einschränkung angewandt - machen zusammen den Kern des ökonomischen Ansatzes aus, so wie ich ihn sehe. "5 In Hinblick auf die Begründung der Hypothese des umfassenden Geltungsbereiches des ökonomischen Ansatzes als essentieller Elementarstruktur zur Erklärung aller humanen Lebensbereiche werden von Becker drei erläuternde Praeliminaria vorausgeschickt: Erstens gilt das dem ökonomischen Ansatz zugrundeliegende Handlungsmuster unabhängig von der Reflexionsstufe oder dem Bewußtheilsgrad der agierenden Subjekte. Es handelt sich nach Beckers Überzeugung vielmehr um eine vorbewußte, im Unterbewußtsein des Menschen bereits angelegte Verhaltensweise. "Im Übrigen unterstellt der ökonomische Ansatz nicht, daß die Entscheidungsträger sich notwendigerweise ihrer Maximierungsbemühungen bewußt sind, oder daß sie in informativer Weise Gründe für die systematischen Muster in ihrem Verhalten verbalisieren oder sonstwie beschreiben können. Der ökonomische Ansatz ist daher vereinbar mit der Betonung des Unbewußten in der modernen Psychologie oder mit der Unterscheidung von manifesten und latenten Funktionen in der Soziologie. "6 Zweitens gilt der ökonomische Ansatz als Entscheidungsgrund unabhängig von der existentiellen Wichtigkeit oder lebensmäßigen Bedeutung des zur Entscheidung anstehenden Gegenstandes. Er ist im banalsten Alltagsgeschäft ebenso virulent wie in fundamentalen Krisensituationen menschlicher Existenz. "Darüberhinaus macht der ökonomische Ansatz keinen grundlegenden Unterschied zwischen wichtigen und unwichtigen Entscheidungen, wie etwa Entscheidungen, bei denen es um Leben und Tod geht im Gegensatz zur Wahl einer Kaffeesorte; er unterscheidet nicht grundsätzlich zwischen stark gefühlsbeladenen Entscheidungen und solchen mit geringer emotionaler Beteiligung, wie etwa der Wahl eines Partners oder der Entscheidung über die gewünschte Kinderzahl auf der einen Seite und der Entscheidung über den Kauf von Anstrichfarbe auf der anderen Seite. "7 5 Becker, Der ökonomische Ansatz 4.

6 Ebd. 4. Becker nimmt bei dieser Argumentation Bezug auf Friedman, Milton: The Methodology of Positive Economics, in: Essays in Positive Economics, Chicago: University of Chicago Press, 1953 und Merton, Robert K.: Social Theory and Social Structure, New York: Free Press 1968. 1 Becker, Der ökonomische Ansatz 6-7. In Hinblick auf die zu vermutende vordergründige Widersprüchlichkeit zwischen der Emotionalität der Entscheidung und der dem ökonomischen Ansatz definitionsgemäß zugrundeliegenden Rationalität ist der Verweis auf Bentharn, Jeremy:

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Drittens umfaßt der ökonomische Ansatz nach Beckers Ansicht in quasi universaler Wirkung die gesamte Gesellschaft; es besteht weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung nach Einkommen, Erziehung, Alter, Bildung, Geschlecht oder sonstigen Merkmalen der Entscheidungsträger. Der ökonomische Ansatz "macht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Entscheidungen von Personen mit verschiedenem Einkommen, verschiedener Erziehung oder familiärer Herkunft. In der Tat bin ich zu der Auffassung gekommen, daß der ökonomische Ansatz so umfassend ist, daß er auf alles menschliche Verhalten anwendbar ist, sei es nun Verhalten, das monetär meßbar ist oder unterstellte 'Schatten'-Preise hat, seien es wiederkehrende oder seltene Entscheidungen, seien es wichtige oder nebensächliche Entscheidungen, handle es sich um emotionale oder nüchterne Ziele, reiche oder arme Menschen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, kluge oder dumme Menschen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsleute oder Politiker, Lehrer oder Schüler. Die Anwendungsmöglichkeiten eines so aufgefaßten ökonomischen Ansatzes sind ebenso breit, wie es der Reichweite der Ökonomie ... entspricht. "8 Die konkreten Lebensbereiche, die Becker mit dem Prinzip des "ökonomischen Ansatzes" zu erklären versucht, sind ebenso umfassend wie vielfältig. Während seine Arbeiten zur Wirtschaftstheorie9 , zum Humankapital10, zur Ökonomie der Ausbildung und der Allokation der Zeit 11 noch relativ nah im Rahmen des konventionellen Wirtschafts- und sozialwissenschaftliehen Forschungskataloges beheimatet sind, führen die für Beckers Theorie typischen Untersuchungen über die außermarktliehen Beziehungen zwischen Menschen in den eigentlich interessanten Anwendungsbereich des "ökonomischen Ansatzes" hinein. Es geht um Ehe 12 , Familie und Fruchtbarkeit 13 , KinAn Introduction to the Principles of Morals and Legislation, New York: Hafner 1963 bezeichnend, der von einer klaren Fähigkeit zur Kalkulation gerade leidenschaftlicher Menschen ausgeht. "Die These, daß Leidenschaft nicht kalkuliert, ist wie die meisten solcher allgemeinen und orakelhaften Thesen nicht wahr .... Ich würde noch nicht einmal sagen, daß ein Geistesschwacher nicht kalkuliert. Leidenschaft kalkuliert, mehr oder weniger, bei allen Menschen." (7). 8 Becker, Der ökonomische Ansatz 7. 9 Becker, Gary S.: Economic Theory, New York: Knopf 1971. 10 Becker, Gary S.: Human Capital: A Theoretical and Empirical Analysis, 2. ed., New York: Columbia University Press 1975. 11 Becker, Gary S.: A Theory of the Allocation of Time, in: Economic Journal 75 (1965). Dt. in ders.: Der Ökonomische Ansatz 97-130. 12 Becker, Gary S.: A Theory of Marriage, in: Journal of Political Economy, 81,4 (1973); 82,2 (1974). Dt. in ders.: Der Ökonomische Ansatz 225-281.

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derzahl und Kindererziehung 14 , Kriminalität und Strafe15 , Rassendiskriminierung16 und Konsumverhalten. Dabei fördert besonders die Applikation des "ökonomischen Ansatzes" als Analyse- und Interpretationskategorie auf die Lebens- und Entscheidungsvorgänge in der Familie eine Reihe von "gewöhnungsbedürftigen" Ergebnissen zutage. Familien etwa werden als "kleine Fabriken" aufgefaßt, die Grenzprodukte wie Mahlzeiten und Wohnung, Geborgenheit und Zuwendung produzieren und dafür Arbeit, Zeit und Kapital einsetzen. Das Humankapital "Kinder" und deren Zahl wird dabei ebenfalls als Funktion der Einkommen und Preise abgeleitet, wie weitreichende Entscheidungen über das Zusammenleben in der Familie, der Partnerwahl oder der Ehescheidung. Mit Hilfe des dem ökonomischen Ansatz inhärenten Rationalkalküls intendiert Becker in Konsequenz daraus auch eine Erklärung so weitreichender Phänomene wie des Bevölkerungswachstums in den Industrie- bzw. Entwicklungsländern.

ll. Der Begriff und die Reichweite der Ökonomie Um der Bedeutung und dem Sinngehalt des Begriffs "ökonomischer Ansatz", wie Becker ihn konzipiert und auf die gesamte Bandbreite menschlichen Verhaltens applizieren will, auf die Spur zu kommen, erscheint es sinnvoll, zunächst bei der grundlegenderen Frage anzusetzen, was der Begriff "Wirtschaft" im Kontext seines wissenschaftlichen Werkes besagt. Becker selbst spricht zu Beginn seines Buches "Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens" von "mindestens drei konfligierenden Definitionen"17 der Ökonomie, die er gleichsam als Basisüberlegung seinem eigenen Ansatz vorausschickt: "Ökonomie wird definiert als die Wissenschaft (1) von der Allokation materieller Güter zur Befriedigung menschlicher Wünsche,

13 Becker, Gary S.: An Economic Analysis of Fertility, in: Demographie and Economic Change in Developed Countries, Princeton: University Press 1960. Dt. in ders.: Der Ökonomische Ansatz 188-214. 14 Becker, Gary S. - Tomes, Nigel: Child Endowments and the Quantity and Quality of Children, in: Journal of Political Economy 84 (1976) 143-162.

15 Becker, Gary S. -Landes, William M. (Eds.): Essays in the Economics of Crime and Punishment, New York: Columbia University Press 1981. 16 Becker, Gary S.: The Economics of Discrimination, 2. ed., Chicago: University of Chicago Press 1971. Dt. in: ders.: Der ökonomische Ansatz 16-32. 17 Becker, Der ökonomische Ansatz I. 7 FS Rauscher

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(2) vom Markt-Bereich, und (3) von der Allokation knapper Mittel zur Verfolgung konkurrierender Ziele. "18 Als exemplarische Ausformulierung des erstgenannten Ansatzes benennt Becker die in dem Artikel "Economics" in "The Columbia Encyclopedia" vorgelegte Definition "[Ökonomie] ist die Wissenschaft von der Erfüllung der physischen Bedürfnisse und Wünsche des Menschen" 19 , distanziert sich aber deutlich von dieser allzu eng auf den materiellen Bereich eingegrenzten, zur Erklärung der vielfältiger Formen und Phänomene des menschlichen Zusammenlebens ungeeigneten Position. "Die Definition der Ökonomie durch den Bezug auf materielle Güter ist die eingeschränkteste und am wenigsten befriedigendste. Sie beschreibt weder den Markt-Bereich adäquat, noch das, was Ökonomen 'tun'. "20 Aber auch der letztgenannte Definitionsansatz21 von der Allokation knapper Mittel zur Verfolgung konkurrierender Ziele genügt Heckers Anforderungen nicht. Diese Erklärung ist so weitläufig und "so allgemein, daß sie bei vielen Ökonomen eher Ärger als Stolz weckt" und nach Heckers Sicht zudem "den größten Teil des Nicht-Markt-Verhaltens ausschließt. "22 Offensichtlich ist die Definition des Wirtschaftsgeschehens durch die Beziehung von knappen Mitteln und konkurrierenden Zielen "von allen am allgemeinsten" und kann darum dem speziellen Problem der Eingrenzung des elementar "ökonomischen" an der Ökonomie nicht genügen. Sie definiert Ökonomie "durch die Art des Problems, das sie lösen soll und umfaßt weitaus mehr, als den MarktBereich oder das, 'was die Ökonomen tun'. "23 So bleibt für Becker angesichts dieser Ansätze definitorisches Unbehagen zurück. "Die genannten Definitionen geben alle nur den Geltungsbereich der Ökonomie an, aber keine sagt uns auch nur das Geringste über das, was spe18 Ebd. 1-2. 19 Art. Economics, in: The Co1umbia Encyclopedia, 3. Aufl., 624; Vgl. dazu die analoge Definition von Rees, Albert: Art. Economics, in: Sills, David L. (Ed.): International Encyclopedia of the Social Sciences, New York: Macmillan and Free Press 1968. 20 Becker, Der ökonomische Ansatz 2. 21 Exemplarisch für diesen Definitionsansatz steht etwa Robbins, Lionel: The Nature and Significance of Economic Science, London: Macmillan 1962, 16: "Ökonomie ist die Wissenschaft, die menschliches Verhalten als Beziehung zwischen Zielen und knappen Mitteln mit alternativen Nutzungsmöglichkeiten untersucht." 22 Becker, Der ökonomische Ansatz 2. 23 Ebd. 2.

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zieH den ökonomischen Ansatz ausmacht. "24 Nach Beckers Überzeugung ist das "punctum saliens" der Definition und zugleich das typisch unterscheidende der Ökonomie als Disziplin von allen anderen wissenschaftlichen Theorien und Disziplinen "nicht ihr Gegenstand, sondern ihr Ansatz. "25 Dieser zentrale Ansatz einer adäquaten Definition ist nach Becker der "ökonomische Ansatz". Seine wesentliche Grunddimension ist das Prinzip der Nutzenmaximierung. "Es ist allgemein bekannt, daß der ökonomische Ansatz expliziter und extensiver als andere Ansätze nutzenmaximierendes Verhalten unterstellt. "26 I

I

m. Ansatzpunkte der Kritik des "ökonomischen Ansatzes" Die explizite Eingrenzung ökonomischer Theorie und Praxis auf der Grundlage des Prinzips der Nutzenmaximierung einerseits und die universale Ausweitung bzw. Totalisierung der Hypothese des "ökonomischen Ansatzes" als generelles wissenschaftliches Erklärungsmuster für das Gesamt der wissenschaftlich faßbaren Wirklichkeit andererseits bilden die Brennpunkte der Theorie Gary S. Beckers. Die Kritik dieses "ökonomischen Ansatzes" mit seinen implizierten wissenschaftstheoretischen Grundannahmen und Zielen kann und muß darum an dieser Stelle, dem Kernstück der Theorie Beckers in zweifacher Richtung einsetzen: Einerseits als Kritik des enggeführten Begriffs von Ökonomie nach dem Zuschnitt des Theoriekonzepts des "ökonomischen Ansatzes", der Wirtschaft in selektiver Tendenz auf das ausschließliche Prinzip reiner Nutzenmaximierung herabsetzt und begrenzt, andererseits als Kritik der unzulässigen methodischen Ausweitung dieser hypothetisch enggeführten Position als universales Erklärungsmuster der gesamten anthropologischen Wirklichkeit, der Conditio humanal im Ganzen. Es geht also bei dieser Kritik der These Beckers letztlich um die Frage nach dem Ziel und der Reichweite der Ökonomie als wissenschaftlicher Teildisziplin vor dem Hintergrund der Elemente eines ganzheitlich-integralen Menschenbildes. Diese ganzheitlich-integrale Sicht des Menschen und der humanen Grundlagen der Gesellschaft basiert auf einem anthropologischen Entwurf, der Ethik und Verantwortung, Gerechtigkeit, Frei1

24 Ebd. 3. 25 Ebd. 3. 26 Ebd. 3. 7•

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heit und Solidarität nicht nur funktional aus sekundären ökonomischen Konstellationen erklärt, sondern als Fähigkeiten und Eigenschaften erkennt, die zutiefst aus dem Wesenskern der menschlichen Person und ihrer unveräußerlichen Würde entspringen. Mit dieser integrativ-anthropologisch motivierten Sicht ökonomischer Prozesse korrespondiert die für die neuere wirtschaftswissenschaftliche Forschung markante Beobachtung einer Renaissance der Wirtschaftsethik, die sich inzwischen verstärkt auf die Analyse von Wirtschaftsordnungsmodellen und realisierten Wirtschaftsordnungen in Hinblick auf deren Wertgrundlagen konzentriert. Diese Rennaissancebewegung - darauf weist Heinz Lampert hin - "hat sich nicht nur in einer Reihe von Monographien und Sammelwerken zu den theoretischen Grundlagen der Wirtschaftsethik niedergeschlagen, sondern auch in einer Reihe von Aufsätzen zu den ethischen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft und zum Gehalt an Gerechtigkeit, den marktwirtschaftliche Ordnungen aufweisen. "27 Die anthropologisch fundierte ethische Grundlinie der Kritik an rein funktionalen ökonomischen Zielbestimmungen bringt Joseph Höffner aus der Perspektive der christlichen Soziallehre prägnant auf den Nenner, wenn er feststellt: "Der Sinn der Wirtschaft liegt weder - rein formalistisch - im bloßen Handeln nach dem ökonomischen Rationalprinzip, noch in der Technokratie, noch in der bloßen Rentabilität, noch im größtmöglichen materiellen 'Glück' einer größtmöglichen MenschenzahL Auch wäre es irrig, die Wirtschaft als Befriedigung von Nachfrage durch Bereitstellung eines entsprechenden Angebots zu definieren; dann entspräche nämlich der Bau von KZ-Marteranstalten, weil eine entsprechende Nachfrage von seiten eines Menschenschinders vor-

27 Lampert, Heinz: Die Bedeutung der Gerechtigkeit im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, in: Bottke, Wilfried - Rauscher, Anton: Gerechtigkeit als Aufgabe. Interdisziplinäres Gespräch über ein zentrales Problem der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialethik, St. Ottilien 1990, 115. Lampert gibt a.a.O. einen gerafften Überblick über einige grundlegende Publikationen aus diesem Forschungsbereich. Zum Überblick wird hier lediglich eine eng umgrenzte exemplarische Auswahl von Monographien und Sammelwerken angeführt: Küng, Emil: Wirtschaft und Gerechtigkeit, Tübingen 1967; Rawls, John: A Theory of Justice, Cambridge 1971; Rieb, Arthur: Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Gütersloh 1984; Buchanan, Allen: Ethics, Efficiency and the Market, Oxford 1985; Ulrich, Peter: Transformation der ökonomischen Vernunft, Bem 1986; Koslowski, Peter: Prinzipien der ethischen Ökonomie, Tübingen 1988; Hesse, Helmut (Hrsg.): Wirtschaftswissenschaft und Ethik, Berlin 1988; Bievert, Bemd (Hrsg.): Ethische Grundlagen der ökonomischen Theorie, Frankfurt, New York 1989; Molitor, Bruno: Wirtschaftsethik, München 1989; Lampert, Heinz: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, 10. Auf!., München 1990.

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liegt, dem Sachziel der Wirtschaft. "28 Wenn es um das Sachziel der Wirtschaft geht, dann sind ohne Frage all jene materiellen Voraussetzungen gemeint, ohne die menschliches Leben sich nicht entfalten und verwirklichen kann. Doch steht- wie das Exempel des von Höffner angeführten Menschenschinders zeigt - die Realisierung materieller Voraussetzungen menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten immer in Korrespondenz zu der wesentlichen ethischen Frage, ob und in welcher Weise ökonomisches Handeln der Würde der menschlichen Person gerecht zu werden vermag. 29 Jenseits der Funktionalität und Logik der reinen Marktgesetze30 figuriert somit das Sachziel der Wirtschaft in einem evidenten Zusammenhang mit Forderungen der Ethik, der sozialen Gerechtigkeit und der Menschenwürde. "Das Sachziel der Wirtschaft besteht vielmehr in der dauernden und gesicherten Schaffung jener materiellen Voraussetzungen, die dem einzelnen und den Sozialgebilden die menschenwürdige Entfaltung ermöglichen. "31 Die Dimensionen von Ethik und Verantwortung bestimmen somit quasi a priori die Kategorien einer Wirtschaftsordnung, die diesen Namen verdient, "ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft. "32

28 Höffner, Joseph: Christliche Gesellschaftslehre, 7. Aufl., Kevelaer 1978, 159-160. 29 Vgl. Höffner, 160-161: "Ziel ist nicht die unaufhörlich wachsende Güterversorgung, sondern der Dienst an den gesamtmenschlichen, vor allem auch an den sozialen Werten." 30 Zur Problematik und wirtschaftsethischen Ambivalenz der durch das Prinzip des Wettbewerbs gekennzeichneten marktwirtschaftliehen Ordnung vgl. die nach wie vor klassische Publikation von Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage, 5. Aufl., Bern, Stuttgart 1979. 31 Höffner, 160. Vgl. dazu die prägnante Definition des Zieles der Wirtschaft, die Oswald v. Neli-Breuning im 1949 erschienenen "Wörterbuch der Politik" gab: "Ziel der Wirtschaft, d.i. des wirtschaftlichen Tuns, ist dieses, die Menschen als Geist-Leib-Wesen mitalldem zu versorgen, dessen sie zur Erhaltung ihres Daseins und zu einer menschenwürdigen Lebensführung bedürfen. Gegenstand dieses Bedarfs sind zunächst die Unterhaltsmittel, d.h. diejenigen Mittel, die der Mensch benötigt, um sein physisches Leben zu erhalten. Es sind weiter alle diejenigen Mittel, ohne die der Mensch als Geist-Leib-Wesen ein kulturelles Leben nicht führen, eine menschliche Kultur nicht aufbauen kann." (Neli-Breuning, Oswald v.: Art. Wirtschaft, in: Wörterbuch der Politik IV, Freiburg 1949, 1). 32 li. Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes" 63. "Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft." - Als eine der formal und systematisch maßgeblichen Quellen der Katholischen Soziallehre orientiert sich die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils bei der Bewertung ökonomischer Verhältnisse ausdrücklich an den ethischen Prämissen des in der theologischen Anthropologie fundierten Menschenbildes. Vgl. dazu Losinger, Anton: Iusta autonomia. Studien zu einem Schlüsselbegriff des li. Vatikanischen Konzils, Paderborn 1989 (= Abhandlungen zur Sozialethik 28).

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Oswald von Nell-Breuning weist darum zu Recht auf die aus der Orientierung an ethischen Grundprinzipien erwachsende und aus der Verantwortung vor der menschlichen Würde und Integrität resultierende gewaltige Aufgabe hin, der ökonomische Wissenschaft und Praxis in zunehmendem Maße unterliegen: "Und ebenso, wie die fortschreitende Erkenntnis der Naturgesetze die sittliche Verantwortung des Menschen in seinem Umgang mit der Natur nicht mindert, sondern ins Ungeheure gesteigert hat (Atombombe!), so kann auch die fortschreitende Erkenntnis der Wirtschaftsgesetze die sittliche Verantwortung des in der Welt tätigen Menschen nicht mindern oder gar aufueben, sondern nur in immer höherem Grade steigern. "33 IV. Der "ökonomische Ansatz" im Kritikfeld der theologischen Anthropologie Die Wissenschaftskonzeption der Neuzeit hat Sachzusammenhänge von ständig wachsender und vielfach unüberschaubarer Komplexität entstehen lassen. Das Schlagwort von der "neuen Unübersichtlichkeit" der Wirklichkeit kennzeichnet diese Situation und Entwicklung ebenso wie der stetige, inzwischen als utopisch bewertete Versuch, eine dieses Wissen zentrierende und integrierende einheitliche Weltformel zu synthetisieren. Vielmehr setzt sich in allen wissenschaftlichen Einzeldisziplinen eine konsequente Parzellierung, Autonomisierung und Ausdifferenzierung fort. Die für den Aktionsraum der modernen Industriegesellschaft typische Grundtendenz zur arbeitsteiligen Spezialisierung in sämtlichen, der technischen Vernunft und wissenschaftlichen Methodik zugänglichen Bereichen und der erklärte, der Philosophie der Aufklärung entsprechende Wille, die Wirklichkeit in ständig steigendem Maß unter die Verfügung des Menschen zu bringen, sind zur wesentlichen Begleitursache dieser zunehmenden Differenzierung und Aufsplitterung beinahe aller Sachbereiche in autonome Einheiten geworden. Dabei forcierte der in der modernen Ökonomie systematisch beschrittene programmatische Weg der Effektivitätssteigerung diesen Prozeß- einerseits theoretischer Art in Wissenschaft und Forschung, andererseits praktischer Art im Bereich der Technik, der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Kommunikation - und leitete so eine Dynamik ein, die im Endeffekt notwendig zum Verlust einer alle Sachbereiche integrierenden Einheit führen mußte. Das Bild der extrem arbeitsteiligen 33 Nell-Breuning, 16.

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hochproduktiven Gesellschaft, in der dem einzelnen Mitarbeiter der Blick und das Verständnis für das Endprodukt längst abhanden gekommen sind, spiegelt in Zuspitzung diese Problematik und die Ausweglosigkeit der Situation der modernen wissenschaftlich-technischen Weltbegegnung und Weltbeherrschung wieder: Immer mehr Sachbereiche und Leistungszusammenhänge entziehen sich der gegenseitigen Zuordnung. Die Folge ist: "Das Ganze dissoziiert sich. "34 1. Verlust der Einheit der Wirklichkeit

In der skizzierten Situation entspricht der äußere Prozeß autonomer Differenzierung der Wirklichkeit dem inneren Merkmal der Auflösung ihrer transzendenten Einheit. "Die Auflösung dieser transzendenten Bindung ist das spezifische Merkmal des neuzeitlichen Kulturschaffens, "35 diagnostiziert Schmucker-von Koch im Anschluß an die weitblickende Wirklichkeitsanalyse Romano Guardinis. "Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Recht, Philosophie und Kunst begründen sich aus eigenem Wesen und gewinnen ihre klar umrissene Gestalt, indem sie sich aus ihren ... Bindungen wie aus ihren engen wechselseitigen Verflechtungen lösen. "3 6 Die Relativierung von Kontexten im Gefolge der autonomen Dissoziierung des Daseins geht zudem Hand in Hand mit einer lebenspraktischen Einstellung, die objektive Bindung und Orientierung nur noch dort anerkennt, wo sie von einem angeblich wissenschaftlich festgestellten Sachverhalt oder soziologischer Notwendigkeit begründet wird. Eine ganzheitliche Sinnbestimmung menschlichen Daseins auf der Grundlage ethischer Wertigkeiten ist erschwert. Im Bereich existentieller menschlicher Daseinsbewältigung, vor allem vor der Frage einer sinnstiftenden Selbst- und Weltdeutung des Menschen bedeutet eine solche, auf angeblich "reine" Wissenschaftlichkeit37 reduzierte an34 Schmucker-von Koch, Josef F.: Autonomie und Transzendenz. Untersuchungen zur Religionsphilosophie Rarnano Guardinis, Mainz 1985, 27. 35 Ebd. 26. 36 Ebd. 26. 37 Die ideologische Annahme der Möglichkeit einer "wertfreien" Wissenschaft, deren ideelle Forschungsgrundlage in einem notwendigen "methodologischen Atheismus" bestünde, und die vordergründige Annahme, daß "sachliches" wissenschaftliches Forschen mit Theologie unvereinbar sei, beruht, wie Bernhard Häring feststellt, "auf einer ganzen Anzahl irriger Voraussetzungen: 1) Die Begrenzung des 'Wissenschaftlichen' auf das empirisch-quantitativ Nachprüfbare unter völliger Vernachlässigung der philosophischen Wahrheit; 2) Philosophie selbst reduziert sich bisweilen auf Sprachanalyse und ähnlich begrenzte Ziele ohne das Suchen nach dem Ge-

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thropologische Wirklichkeitsauffassung eine essentielle Unmöglichkeit. Hier wird von wissenschaftlicher Forschung in Teildisziplinen erwartet, was sie innerhalb ihres Forschungsbereiches und methodischen Bezugsrahmens ohne Kompetenzüberschreitung nicht leisten kann: die Generierung und Fundierung eines umfassenden sinnstiftenden Menschenbildes. Daraus folgt evident die strikte Unmöglichkeit einer im Rahmen und aus den Prinzipien partikularer einzelwissenschaftlicher Ergebnisse begründbaren umfassenden Anthropologie, wie es das universale Erklärungsmodell des "ökonomischen Ansatzes" zu suggerieren versucht.

2. Konfliktfeld: Theologie- Wissenschaft Der exklusive Wissenschaftsanspruch natur-, sozial- oder humanwissenschaftlicher Forschung in autonomen Teilbereichen, verbunden mit einem umgreifenden Wahrheitsanspruch in der Erkenntnis und Erklärung der Weltwie es der "ökonomische Ansatz" G. S. Beckers für alle Bereiche des menschlichen Verhaltens intendiert - führt im Kontext der gezeichneten neuzeitlichen autonomen Wirklichkeitssicht konsequent zu unübersehbaren Konfliktzonen mit dem Anspruch der theologischen Anthropologie. Eine markante und zugleich exemplarische geschichtliche Wegmarke dieses kritischen Konfliktes war ohne Zweifel der militante Impuls seitens der "klassischen" Naturwissenschaften, der während des 19. Jahrhunderts im berühmten Darwinismusstreit38 eskalierte. In der heutigen Situation scheinen inzwischen zwar auf pragmatischer Ebene die elementaren Ansprüche der theologischen Anthropologie einerseits und die Postulate empirisch forschender wissenschaftlicher Anthropologien andererseits nach längerer, weitgehend kontrovers geführter Debatte grundsätzlich so weit abgestimmt, daß auf dem Weg vernünftiger gegenseitiger Begrenzung der Kompetenzen ein eklatanter Widerspruch im Grundansatz gegenwärtig nicht mehr denkbar ist. Doch bleibt gerade auf der samtsinn des Lebens; 3) das allzu eng definierte 'Wissenschaftliche' erlaubt sich Grenzüberschreitungen, indem man daraus Schlüsse zieht, die nur in einer Art Philosophie, in der Tat einer falschen Philosophie, vollziehbar sind; 4) die oft unbewußte Haltung einer Art 'Unfehlbarkeit', die Wissenschaftler daran hindert, ihre eigenen Grenzen und ihre Vorurteile, von denen sie ausgehen, zu sehen; 5) in der gleichen Art von Reduktionismus verwechselt man religiösen Glauben mit einer vagen Meinung." Vgl. Häring, Bernhard: Frei in Christus II, Freiburg 1981, 330-331. 38 Vgl. Rahner, Kar!: Art. Anthropologie. Theologische Anthropologie(= Rahner, Anthropologie), in: LThK 2. Aufl., I, 618-627; ders.: Experiment Mensch, in: Schriften zur Theologie vm. 260-285.

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Ebene dieses Lösungsansatzes rein pragmatischer formaler Begrenzung der gegenseitigen Ansprüche das Grundproblem der Anthropologie ungelöst: Im Raume steht nach wie vor die Frage nach dem integrierenden Ganzen anthropologischer Forschung, nach der ethischen Bewertung der Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Forschung, und vor allem die Frage nach dem Wert und dem Grund einer solche Entscheidungen tragenden Orientierung. Die nahezu ungeahnten Manipulationsmöglichkeiten und die daraus erwachsenen unkalkulierbaren Risikopotentiale modernster naturwissenschaftlicher Technik, wie sie exemplarisch etwa im Bereich der Kerntechnik oder der Genforschung virulent werden, haben für die Kontroverszone zwischen Ethik, Theologie und empirischer Wissenschaft einen anthropologischen Problembereich ganz neuer Art und Dringlichkeit entstehen lassen. Nicht die vielbeschworene natur-, human- oder sozialwissenschaftliche "Einheitsformel" der Wirklichkeit, sondern ein qualitativ anderer Standpunkt ist gesucht, wenn es um eine verantwortliche Bewertung der Wirklichkeit im Ganzen und eine Integration des wissenschaftlichen Einzelwissens zu einer Gesamtschau von Welt und Mensch geht.

3. Die Integrationsaufgabe der theologischen Anthropologie Die wesentlichen Eckpunkte des hier entwickelten integralen anthropologischen Entwurfs basieren auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes. Sie sind daher im Bereich der theologischen Erkenntnis angesiedelt, ohne wie etwa die Frage der Begründung der Menschenrechte auf der Grundlage ehendieses Menschenbildes und seiner Vorstellung von der Würde der menschlichen Person zeigt39 - auf den Bereich der Theologie begrenzt zu sein. Auch wenn man feststellen muß, daß das gesellschaftswissenschaftliche Interesse an integrierenden grundsatzwissenschaftlichen Positionen in den zurückliegenden Jahren phasenweise in dem Maße zurückging, "als der Glaube an die Machbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse, an funktionale Mechanismen bei der Regelung der sozialen Prozesse vorgedrungen war", so kann man mit Anton Rauscher inzwischen ein durch die forcierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme sensibilisiertes Bewußtsein dafür registrieren, "daß das zur Verfügung stehende empirisch-wissenschaftliche und technischorganisatorische Instrumentarium allein keine ausreichende Lösungskapazität 39 Vgl. Losinger, Anton: Gerechtigkeit und Menschenrechte. Zur Begriindungsproblernatik der Menschenrechte im theologischen Kontext, in: Gerechtigkeit als Aufgabe, 21-38.

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besitzt. In den aufgebrochenen Fragen nach dem Sinn, nach verläßlicher Orientierung, nach Prioritäten in der Politik äußert sich die Erwartung an die Grundsatzwissenschaften, den ihnen möglichen Beitrag zur Bewältigung der gesellschaftlichen Ordnungsprobleme zu leisten. "40 Aufgabe der Grundsatzwissenschaften, insbesondere der Philosophie und Theologie ist es, anthropologische Erkenntnisse im Wertebereich zu synthetisieren und "als Orientierungspfeiler einerseits bei der Zusammenschau und Deutung der empirischen Fakten und Prozesse, andererseits für die konkrete Gestaltung" 41 der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Anschlag zu bringen. Damit kommt der theologischen Anthropologie eine essentielle Integrationsaufgabe im Bereich der verschiedenen anthropologischen Ansätze der wissenschaftlichen Teildisziplinen zu. Die "Integration dieses Einzelwissens zu einer 'Anthropologie', die dann in Beziehung zur 'Theologie' gesetzt werden könnte" 42 ist allein und immanent "auf Seiten der Anthropologie nicht gegeben" 43 und innerhalb der in den einzelwissenschaftlichen Teildisziplinen anvisierten Zielsetzungen auch nicht beabsichtigt. Gerade der kontemporäre Versuch der Begründung einer "neuen" umfassenden Anthropologie von H. G. Gadamer44 beweist diese Aporie erneut und muß sich der dargestellten kritischen Hinterfragung stellen: Das 40 Rauscher, Anton: Die spezifische Leistung der Grundsatzwissenschaften im Hinblick auf die praktische Bewältigung gesellschaftspolitischer Fragen, in: ders.: Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung Bd. I, Würzburg 1988, 93. 41 Ebd. 100. Anton Rauscher öffnet in diesem ZusaiJliiienhang einen überzeugenden Blick auf die Fundierung der Anthropologie in "Offenheit für die Transzendenz" als Möglichkeitsbedingung der Begründung der Grundwerte: "Die Bedingung und Verankerung des Menschen in Gott, wie sie dem Begriff der Geschöpflichkeit zugrundeliegt, hat nun nicht eine bloß atmosphärische Bedeutung, sondern bestimmt in eminenter Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit, weil dadurch eine beliebige Machbarkeit ausgeschlossen ist. Die Grundwerte sind dem Menschen vor-. und aufgegeben. Für die empirischen Sozialwissenschaften ist es nur scheinbar gleichgültig, ob sie sich in einem weltimmanenten oder in einem transzendent-offenen System abspielen." (Ebd. 100- 101). 42 Raffelt, Albert - Rahner, Kar!: Anthropologie und Theologie, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft Bd. 24, Freiburg, Basel, Wien 1980, 9. 43 Ebd. 9. Zutreffend ist der kritische Hinweis, daß die Ganzheitsaufgabe der Anthropologie von der kontemporären philosophischen Anthropologie nur unzureichend geleistet wird. Raffelt undRahnerweisen neben den Ansätzen von Scheler, Plessner und Gehlen auf die knappe Übersicht in Gadamer, Hans-Georg (Hrsg.): Neue Anthropologie, Bde. I - VII, München 1972 1974, bes. Bd. IV, 4 ff. sowie auf die Bände VI und VII hin. Bedeutenden Einfluß auf die Entstehung einer "integralen Anthropologie" im philosophisch-theologischen Denken des 20. Jahrhunderts nahm die Idee eines "humanisme integral" von Jacques Maritain: Maritain, Jacques: L'humanisme integral, Paris 1936 (dt. Übersetzung v. Gebauer, Werner: Christlicher Humanismus, Heidelberg 1950). 44 Gadamer, Hans-Georg (Hrsg.): Neue Anthropologie I- VII, München 1972- 1974.

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"Großunternehmen" der "Neuen Anthropologie", in der auf dem Stand der gegenwärtigen Erkenntnis Ergebnisse aus allen human- und naturwissenschaftlichen Disziplinen zum Gesamtentwurf einer mehrbändigen universalen Anthropologie zusammengefaSt werden sollten, leidet unter dem Problem, diesem elementaren anthropologischen Einheitsanspruch nur sehr bedingt gerecht zu werden und sich im Grunde wiederum "auch häufig auf ein Nebeneinander vieler Ansätze "45 ZU beschränken. Es ist ohne Frage evident, "daß jede partikuläre Anthropologie - etwa die der Biochemie, Biologie, Genetik, Soziologie usw. - den Menschen von einem bestimmten Standpunkt aus angeht und nicht die eine und ganze Anthropologie zu sein beansprucht. "46 Damit fehlt jeder Einzelwissenschaft die grundlegende Kompetenz, unter Wahrung ihrer bestimmenden Methoden "den Menschen aus Einzeldaten zu erklären, indem sie ihn in seine Elemente destruiert und diese wieder konstruierend zusammenfügt. "47 Darum ergibt sich für jede partikuläre Anthropologie die notwendige Beschränkung, über den Menschen als einen und ganzen etwas zu sagen und "beanspruchen zu können, die letzte, umfassende Grundaussage über den Menschen zu treffen. "48 Die unverzichtbare Zielsetzung eines theologisch-anthropologischen Ansatzes zeigt sich in dem Bemühen, den Menschen in seiner wesentlichen Einheit und Ganzheit zur Sprache zu bringen. Voraussetzung dieses Unternehmens ist die Grundeinsicht, daß der Mensch in seiner theologisch konstitutiven Verwiesenheit auf Gott verstanden wird. Das "Mehr", das die theologische Anthropologie der Erkenntnisgrundlage profaner Anthropologien und regionaler Humanwissenschaften voraus hat, ist die Thematisierung jener Offenheit des Menschenwesens auf Gott hin, das es in seiner Einheit und Ganzheit zu begründen vermag. Als Grundaxiom theologischer Anthropologie gilt darum: "Das Wesen der theologischen Anthropologie ist Radikalisierung der profanen Anthropologie, "49 weil die theologische Anthropologie die Frage nach dem Wesen des Menschen auf ihren transzendentalen Grund zurückführt, oder mit anderen Worten ausgedrückt: "Die theologische Dimension der Frage nach dem Menschen ist identisch mit allen Dimensionen des 45 Raffelt- Rahner, 9; vgl. Rahner, Anthropologie 618-627. 46 Raffelt- Rahner, 15. 47 Ebd. 15. 48 Ebd. 15. 49 Ebd. 51.

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Menschen, auf die die profanen Anthropologien blicken, vorausgesetzt, daß diese Dimensionen in ihrer ganzen radikalen Tiefe gesehen, angenommen und als solche thematisiert werden. "5 Für das Verhältnis von theologischer Anthropologie zu allen anderen wissenschaftlichen Anthropologien ist dieser fundamentale Sachverhalt bestimmend: "Die theologische Sicht des Menschen steht zum vielfältigen Fragen und Suchen des Menschen nach sich selbst nicht - jedenfalls nicht prinzipiell - in Konkurrenz, sie thematisiert vielmehr das, was als verborgener Grund und entzogenes Ziel alles Humanum trägt und ermöglicht: die Relation des Menschen zu Gott, seine Verwiesenheil auf das unverfügbare, unendliche Geheimnis. "5 1

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50 Ebd. 49.

51 Greshake, Gisbert: Art. Mensch. I. Theologie des Menschen, in: Staatslexikon 7. Auf!., 1987, Bd. 3, 1096. Gisben Greshake bringt- im musikalischen Bild gesprochen- das Grundanliegen der theologischen Anthropologie im Verhältnis zu den "autonomen" Ansproehen und Ergebnissen aller anderen wissenschaftlichen Anthropologien auf den markanten Vergleichspunkt: Die theologische Anthropologie sei mit einem "cantus firmus ... in der vielstimmigen Symphonie der übrigen Anthropologien" gleichzusetzen.

II. Familie und Familienlastenausgleich

Familienlastenausgleich als Bevölkerungspolitik? Von Joachim Genosko

I. Einführung Ein Charakteristikum der Familienpolitik im Dritten Reich war ihre bevölkerungspolitische Ausrichtung. Nur wer ein nützliches und wertvolles Glied der Volksgemeinschaft darstellte, wurde für würdig befunden, in den Genuß familienpolitischer Leistungen zu kommen, die unter anderem nach der Kinderzahl gestaffelte Steuerermäßigungen sowie Familienbeihilfen für kinderreiche Familien vorsahen. 1 Dieser Mißbrauch der Familienpolitik durch die Nationalsozialisten hat ihren bevölkerungspolitischen Aspekt in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit diskreditiert. Erst in neuererZeithat der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen auch der bevölkerungspolitischen Seite der Familienpolitik wieder mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen, auch wenn er eindeutig die Reproduktionsfunktion gegenüber der Sozialisationsfunktion bei der Begründung familienpolitischer Maßnahmen hintanstellt. 2 Gleichwohl erscheint es angesichts der derzeitigen demographischen Situation und der politischen Diskussion (z.B. über Fragen des Schwangerschaftsabbruches) in der Bundesrepublik Deutschland legitim, sich auch über die bevölkerungspolitischen Konsequenzen familienpolitischer Maßnahmen bzw. Maßnahmen des Familienlastenausgleichs Gedanken zu machen. Zu diesem Zweck wird wie folgt vorgegangen: Im Abschnitt 2 werden theoretische Überlegungen zur Aufzucht von Kindem bzw. zur Familienplanung vorgetragen, die im Abschnitt 4 des Aufsatzes in die Darstellung einer empirischen Untersuchung münden, wie sie von Genosko und Weber für die "alte" Bundesrepublik durchgeführt worden ist. Vorher werden im Abschnitt 1 Lampert, Heinz: Lehrbuch der Sozialpolitik, 2. überarb. Aufl., Berlin, Beideiberg 1991, 94-95; Scheur, Wilhelm: Einrichtungen und Maßnahmen der sozialen Sicherheit in der Zeit des Nationalsozialismus, Köln 1967; Mühlfeld, Christian- Schönweiss, Friedrich: Nationalsozialistische Familienpolitik, Stuttgart 1989. 2 Lampert, 333.

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3 noch die wichtigsten Maßnahmen des Familienlastenausgleichs in Deutschland skizziert. Im 5. Abschnitt werden die Ergebnisse der empirischen Untersuchung kritisch beleuchtet, um abschließend, eine, wenn auch nur sehr vorläufige Antwort, auf die Themafrage zu geben. II. Einige theoretische Anmerkungen zum Zusammenhang zwischen Familienlastenausgleich und Fertilität Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die "neue" Haushaltsökonomik, wie sie von Becker angerlacht worden ist. 3 Im Gegensatz zur traditionellen neoklassischen Haushaltstheorie behandelt dieser Ansatz die Fertilität als endogene Variable in dem Sinne, daß sich Eltern über die Zahl und die Wohlfahrt ihrer Kinder bewußt Gedanken machen. 4 Mit anderen Worten: Es wird von einer, zumindest in Grenzen, wirksamen Familienplanung ausgegangen5 . Die theoretischen Anmerkungen seien in einem ersten Schritt an einem einfachen einperiodigen Entscheidungsmodell über die Familiengröße "festgezurrt". Dabei betrachten wir ein Ehepaar, das eine bestimmte Menge eines Güterbündels konsumiert, zusätzlich aber auch Nutzen aus der Zahl seiner Kinder sowie deren Wohlbefinden bzw. deren "Qualität" zieht. Des weiteren wird unterstellt, die Kinder des Paares seien identisch in ihren Präferenzen sowie Anlagen und alle Kinder würden von den Eltern gleich behandelt. Das Ehepaar hat demzufolge eine Nutzenfunktion mit den Argumenten "Konsumgüterbündel", "Zahl der Kinder" und "Qualität der Kinder". Die Eltern seien nun Nutzenmaximierer, d.h. sie maximieren ihren Nutzen hinsichtlich jedes der eben genannten Argumente ihrer Nutzenfunktion. Die Eltern seien gleichzeitig mit einer Budgetrestriktion konfrontiert, die auf der "Einnahmenseite" das Arbeitseinkommen der Frau, das Arbeitseinkommen des Mannes, das Nicht-Arbeitseinkommen der Familie (z.B. aus Kapitalerträgen) sowie die staatlichen Kinderbeihilfen umfaßt, auf der "Ausga-

3 Becker, Gary S.- Lewis, Henry G.: On the integration between the quantity and quality of children, in: Journal of Political Economy 81 (1973) 279-299; Nerlove, Mark - Razin, AssafSadka, Efraim: Hausehold and economy, New York 1987. 4 Nerlove- Razin- Sadka, 53. 5 Wolfe, Barbara L. - Behrman, Jere R.: The synthesis economic ferti1ity model, in: Journal of Population Economics 5 (1992) 1-16, stellen im einzelnen dar, welche Grenzen einer exakten Familienplanung gesetzt sind.

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benseite" die Konsumausgaben und die Ausgaben, die die "Qualität" der Kinder zum Gegenstand haben. Im Hinblick auf die später darzustellende empirische Untersuchung interessieren natürlich die zu erwartenden Vorzeichen in bezug auf die Veränderung gewisser Variablen. So ist beispielsweise zunächst von Interesse, wie der Nutzen der Eltern mit ihrer Kinderzahl variiert. Die ökonomisch-theoretischen Überlegungen erlauben hierzu keine eindeutige Antwort. Dies hängt damit zusammen, daß über die staatlichen Kinderbeihilfen einerseits das Familieneinkommen erhöht wird (Einkommenseffekt), andererseits aber ein Elternteil, mindestens für eine gewisse Zeit, wegen der Kindererziehung auf Arbeitseinkommen (teilweise oder ganz) verzichten muß, und Ausgaben von dem Konsum hin zur Kindererziehung "umgeleitet" werden müssen (Substitutionseffekt). Aus der erwähnten Budgetrestriktion läßt sich für das Ehepaar eine Nachfragefunktion ableiten, die die Arbeitseinkommen, das Nicht-Arbeitseinkommen und die Familienbeihilfen als Argumente hat. Aus der Nachfragefunktion wird unmittelbar einsichtig, daß aus einer Zunahme der Familienbeihilfen eindeutig eine Nachfragesteigerung zu erwarten ist, denn der Familie steht jetzt mehr Haushaltseinkommen zur Verfügung. Ebenso eindeutig erhöht sich die Nachfrage, auch nach Kindern, wenn das Nicht-Arbeitseinkommen des Haushaltes ansteigt. Sehr viel komplexer ist jedoch die Beantwortung der Frage, welche Wirkungen Veränderungen in den Arbeitseinkommen auf die Nachfrage nach Gütern und Kindem zeitigen. Dies hängt erneut mit den bereits geschilderten Einkommens- und Substitutionseffekten zusammen. In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, daß das Arbeitseinkommen das Produkt aus Lohnsatz und Arbeitszeit ist. Erhöht sich der Lohnsatz, so bedeutet dies ceteris paribus einen Anstieg des Arbeitseinkommens und damit gleichzeitig einen positiven Einfluß auf die Zahl der Kinder, die durch ein Ehepaar "nachgefragt" werden; hiermit ist die Wirkung des Einkommenseffektes beschrieben. Zugleich muß jedoch dem Substitutionseffekt Rechnung getragen werden. Die Argumentationslinie läuft hier wie folgt: Im Falle der Geburt eines Kindes muß, wie oben ausgeführt, eine Mutter auf Arbeitszeit in der einen oder anderen Form verzichten. Ein steigender Lohnsatz führt folglich zu einem höheren (Schatten-)Preis (oder zu höheren Opportunitätskosten) für die Zeit der Mutterschaft. "Normale" Nachfragereaktionen vorausgesetzt, vermindert ein 8 FS Rauscher

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Preisanstieg die Nachfrage nach "Mutterschaftszeit" und konsequenterweise nach Kindern. 6 Es ist also das Fazit zu ziehen, daß theoretisch nicht eindeutig geklärt werden kann, ob ein höheres Arbeitseinkommen, insbesondere von Frauen, die Fertilität begünstigt oder beeinträchtigt. Anders ausgedrückt, die Antwort hierauf kann nur empirischer Natur sein. Obwohl bislang das Arbeitseinkommen des Mannes in der theoretischen Betrachtungsweise ähnlich behandelt worden ist wie das der Frau, muß gleichwohl die diesbezügliche Betrachtungsweise etwas differenzierter ausfallen; sie hängt nämlich letztlich davon ab, welches "Familienbild" man unterstellt. Sieht man die Frau als für die Aufzucht und Erziehung der Kinder alleinverantwortlich an, so wird das Arbeitseinkommen des Ehemannes ökonomisch zu einem Bestandteil des "Familienvermögens", d.h., es braucht nur der Einkommenseffekt in Rechnung gestellt zu werden und demgemäß wird die "Nachfrage nach Kindern" mit dem Einkommen des Ehemannes positiv korreliert sein. Geht man hingegen davon aus, daß beide Elternteile für die Kinderaufzucht und -erziehung Verantwortung tragen, dann wird auch der Ehemann einen Teil der Arbeitszeit in die Kindererziehung miteinbringen müssen; die oben beschriebenen gegenläufigen Einkommens- und Substitutionseffekte werden wirksam. Das bisher skizzierte Modell läßt sich nun noch erweitern, indem man die Wirkungen von Mietpreisen auf die Fertilität in die Betrachtung miteinbezieht. Spaltet man den gesamten Mietpreis in einen "fixen" Bestandteil und einen "kinderzahlabhängigen" Bestandteil auf7, so kommt man unter einigen vereinfachenden Annahmen, die aber den Gehalt des Ableitungsergebnisses nicht schmälern, zu dem Resultat, daß zwischen der Kinderzahl und den Mietpreisen ein negativer Zusammenhang existiert. 8 Will man den Kreis der theoretischen Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Familienbeihilfen und Fertilität schließen, so sind noch einige weitere Variablen einzubeziehen. Eine dieser Variablen ist das Alter der Mutter. 6 Cigno, Allessandro - Ermisch, John: A microeconomic analysis of the timing of birth, in: European Economic Review 33 (1989) 737-760, 758; Zimmermann, Klaus F.: Die ökonomische Theorie der Familie, in: Felderer, Bemhard (Hrsg.): Beiträge zur Bevölkerungsökonomie, Berlin 186, 11-63, 32-33. 7 In der Modellbetrachtung wird eine Warmmiete angenommen. 8 Vgl. zu Einzelheiten der Ableitung Genosko, Joachim -Weber, Reinhard: The Impact of Family Allowances on Demographie Chang.es. A Case Study for Germany, Diskussionsbeitrag Nr. 18 der WWF Ingolstadt der KUE, 1992, 7 ff.

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Das Alter der Mutter wird virulent, wenn man sich vor Augen führt, daß die "Qualität" der Kinder das Ergebnis einer "Produktionsfunktion" ist, in die die Eltern zeitliche, materielle und personale Ressourcen einbringen. Aus dieser Tatsache läßt sich der Schluß ziehen, daß aufgrund medizinischer und anderer Überlegungen tendenziell die "Qualität" der Kinder mit zunehmendem Alter der Mutter (und auch des Vaters) abnimmt. Der "Qualitätsbegriff" ist dabei nicht nur physisch zu interpretieren, sondern bezieht auch psychische Aspekte mit ein, die sich mit dem "Nesthäkchensyndrom" umschreiben lassen. Schließlich ist noch das "Humankapital" der Frau von Bedeutung. Soweit hiermit Lohn- bzw. Einkommenssachverhalte angesprochen werden, sind diese bereits weiter oben abgehandelt worden. Das "Humankapital" der Frau hat aber noch in andere Richtungen Auswirkungen: Zum einen dürfte der Umgang mit Kontrazeptiva und folglich der "Erfolg" der Familienplanung wesentlich vom Bildungsstand der Mutter abhängen. Zum zweiten beeinflußt der Bildungsstand der Mutter sicherlich auch das Verhalten während einer Schwangerschaft und damit letztlich die "Qualität" des Kindes. 9 Zum dritten verweist beispielsweise Ermisch 10 auf die Tatsache, daß der Bildungsstand der Frau auch das "Heiratsmuster" beeinflußt und demzufolge das "Familienvermögen". Mit anderen Worten: Es läßt sich beobachten, daß relativ häufig zukünftige Ehepartner ähnliche "Humankapitalausstattungen" aufweisen. 11

Im. Der Familienlastenausgleich in Deutschland - eine Skizze 12 Bevor die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung referiert werden, erscheint es zweckmäßig, die wichtigsten familienpolitischen Maßnahmen in Deutschland zu skizzieren. Der Familienlastenausgleich im engeren Sinne umfaßt das Kindergeld und die Kinderfreibeträge im Rahmen der Einkommensteuer. Das Kindergeld ist nach der Kinderzahl gestaffelt. Grundsätzlich erhält eine Familie für das erste Kind DM 70,-, für das zweite Kind DM 130,-, DM

9 Vgl. zu den beiden genannten Aspekten Wolfe -Behnnan. 10 Ennisch, John: Purchased child care, optimal family size, and mother's employment, in: Journal of Population Economics 2 (1989) 79-102, 93. II Vgl. hierzu Cigno - Ennisch, 744. 12 Die Beschreibung beruht im wesentlichen auf den Ausführungen bei Lampen und Frerich, Johannes: Sozialpolitik, 2. Aufl., München, Wien 1990. 8*

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220,- für das dritte Kind und DM 240,- für alle weiteren Kinder 13 • Familien mit niedrigerem Einkommen erhalten zusätzlich einen Betrag von bis zu DM 65,- zum "normalen" Umfang des Kindergeldes. Dieser "Zusatzbetrag" ist eng verbunden mit den steuerlichen Kinderfreibeträgen, denn er soll einen Ausgleich bieten für die nur beschränkte Möglichkeit der Ausschöpfung steuerlicher Kinderfreibeträge durch solche Familien. Gegenwärtig beträgt der Kinderfreibetrag DM 4104,- je Kind 14 . Offenkundig hängt damit die Steuerersparnis, die mit diesem Freibetrag verbunden ist, vom jeweiligen Grenzsteuersatz der Familie ab. Anders ausgedrückt, die Steuerersparnis ist je nach Familieneinkommen unterschiedlich; je höher das Familieneinkommen ist, desto höher wird im Prinzip wegen des progressiven Einkommensteuersystems, die Steuerersparnis ausfallen. Die steuerlich unterschiedliche Behandlung von Kindem wird dabei durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes gedeckt. Gemäß diesem Urteil ist nämlich eine Familie dazu verpflichtet, den Kindem den gleichen Lebensstandard einzuräumen, wie ihn die Eltern für sich in Anspruch nehmen. Wenn aber diese Verpflichtung der Eltern besteht, dann ist dem in einer Einkommenbesteuerung nach Belastungsfahigkeit Rechnung zu tragen, da "reichere" Eltern höhere Ausgaben für ihre Kinder zu tätigen haben. Der Familienlastenausgleich in einem weiteren Sinn verstanden, erstreckt sich daneben auf staatliche Maßnahmen wie das Erziehungsgeld, die Berücksichtigung von Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung, auf Ausbildungsbeihilfen, auf das Baukindergeld oder auf die (beitragsfreie) Mitversicherung von Kindem in der gesetzlichen Krankenversicherung. 15 In der anschließenden empirischen Untersuchung ist es allerdings aus Datengründen nicht möglich, die enumerierten familienpolitischen Maßnahmen separiert in ihrer Wichtigkeit zu analysieren. In Sonderheit können die Erziehungszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht explizit ausgewiesen bzw. quantifiziert werden, obwohl gerade sie von nicht unerheblicher Bedeutung für die Fertilitätsentscheidung sein dürften. 13 Im Einzelfall wird das Kindergeld nach der Kinderzahl und nach dem Familieneinkommen angepaßt. Vgl. Willeke, Franz-Uirich- Onken, Richard: Allgemeiner Familienlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt, New York 1990, 406, 410. 14 Es handelt sich hierbei um einen von der Bundesregierung vorläufig festgesetzten Betrag in Reaktion auf ein Urteil des BVG aus dem Jahre 1990. 15 Vgl. zu einer detaillierten Darstellung Heldmann, Erich: Kinderlastenausgleich in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt, New York 1986, 33.

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IV. Eine empirische Untersuchung

Genosko und Weber 16 haben in einer empirischen Studie untersucht, ob eine Auswirkung familienpolitischer Maßnahmen auf die Geburtenhäufigkeit bzw. die Fertilitätsrate in der (alten) Bundesrepublik erkennbar ist. Sie nehmen zu diesem Zweck eine PROBIT-Schätzung vor, in der die abhängige Variable - die Wahrscheinlichkeit, daß im darauffolgenden Jahr ein Kind geboren wird - den Wert 1 annimmt, wenn das Ereignis "Geburt" eingetreten ist, den Wert 0 im anderen Fall. Als unabhängige Variable werden Mietgrößen, Arbeitseinkommensgrößen für die Ehefrau und den Ehemann, Variable, die das Humankapital der Frau klassifizieren, eine Variable, die über die Dauer der letzten Beschäftigung der Frau Auskunft gibt, das Lebensalter der Mutter, die Nationalität der Mutter, die Zahl der bereits vorhandenen Kinder sowie eine Variable, die die familienpolitischen Maßnahmen einfängt, verwendet 17 • In welcher Weise die verschiedenen Variablen quantifiziert werden, läßt sich im einzelnen bei Genosko und Weber finden. Lediglich die Quantifizierung der Variablen "familienpolitische Maßnahmen" soll hier explizit ausgeführt werden. Es handelt sich hier um eine Dummy-Variable, die die wichtigsten Änderungen in den familienpolitischen Maßnahmen widerspiegeln soll. Da die wichtigsten Veränderungen in den Familienbeihilfen 1986 stattgefunden haben, wird die eben genannte Variable mit dem Wert 1 für die Jahre 1986, 1987 und 1988 versehen dagegen mit dem Wert 0 für die Jahre 1984 und 1985. Um möglichen einkommensabhängigen Effekten auf die Fertilität auf die Spur zukommen, werden neben einer Schätzung für das totale Sample, auch Schätzungen für drei (Netto-)Einkommensgruppen (bis DM 2500.-, DM 2500.- bis DM 4000.-, über DM 4000.-) von Frauen durchgeführt. Soweit bei der empirischen Untersuchung Mikrodaten vonnöten sind, sind sie dem Sozioökonomischen Panel des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) entnommen. Für die Studie sind, wie oben angedeutet, fünf Wellen des Panels, nämlich der Jahre 1984 bis 1988, benutzt worden. Die Daten beziehen sich ausschließlich auf das Gebiet der "alten" Bundesrepublik. Sie setzen sich aus "kombinierten" Zeitreihen- und Querschnittsdaten zusam16 Genosko- Weber, 13-27. 17 Die große Zahl von unabhängigen Variablen ist notwendig, um den Effekt der familienpolitischen Maßnahmen möglichst "sauber" schätzen zu können.

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men 18 , so daß die Schätzungen insgesamt 5988 Fälle erfassen. Der Begriff "Fälle" meint in diesem Zusammenhang Frauen in der Altersgruppe 16 bis 38 Jahre, die entweder verheiratet sind oder in eheähnlichen Gemeinschaften leben. Beide Lebensformen werden deshalb berücksichtigt, weil davon auszugehen ist, daß das Partnerverhalten je Lebensgemeinschaft heutzutage recht ähnlich ist und weil die wesentlichen Komponenten des Familienlastenausgleichs unabhängig davon gewährt werden, ob die Kinder ehelich oder unehelich geboren sind. Aus einer ganzen Reihe von Schätzergebnissen der eben beschriebenen Studie sollen in diesem Beitrag drei herausgegriffen werden. Das erste Resultat bezieht sich auf den Einfluß der Familien- bzw. Kinderbeihilfen auf die Geburtenwahrscheinlichkeit Hier zeigt sich, daß über alle Schätzungskonfigurationen hinweg der Einfluß dieser Beihilfen positiv und hoch signifikant ist. Anders ausgedrückt, nach diesen Schätzungen begünstigen familienpolitische Maßnahmen eindeutig die Fertilität. Des weiteren wird erkennbar, was ebenfalls plausibel ist, daß diese Maßnahmen von besonderer Bedeutung für Frauen aus der Niedrig-Einkommen-Gruppe sind, denn der Koeffizient der einschlägigen Variablen ist für die zuletzt genannte Einkommensgruppe um rund 37 % höher als für die Gruppe der Frauen mit dem höchsten Einkommen 19. Ein zweites wesentliches Ergebnis lautet, die Mieten beeinträchtigen die Geburtenwahrscheinlichkeit20 , wobei sicherlich von besonderem Interesse ist, daß dieser negative Effekt bei der Gruppe mit dem höchsten Einkommen am ausgeprägtesten auftritt und dort deutlich die positive Wirkung der Familienbeihilfen überwiegt. Schließlich hat das Arbeitseinkommen der Frau einen negativen, wenn auch nicht immer signifikanten Einfluß auf die GeburtenwahrscheinlichkeiL Auch hier ist wiederum besonders bemerkenswert, daß dieser Effekt am deutlichsten bei der mittleren Einkommensgruppe auftritt, was den vorsichtigen 18 Vgl. hierzu Kmenta, John: Elements of Econometrics, 2nd ed., New York 1986, 616 ff. 19 Zwischen den entsprechenden Koeffizienten der mittleren und der höchsten Einkommensgruppe bestehen allerdings kaum Unterschiede. Während im ersten Fall der KoeffiZient einen Wert von 0,296 hat, beläuft er sich im zweiten Fall auf0,309. 20 Vgl. auch Felderer, Bernhard: Geburtenentwicklung und Wohnungskosten, in: Birg, Herwig u.a. (Hrsg.): Zusammenhänge zwischen Bevölkerungsentwicklung und Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1984, 127-146.

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Schluß zuläßt, gerade bei der mittleren Einkommensgruppe sei die Erwerbstätigkeit der Frau, aus welchen Gründen auch immer, von erheblicher Bedeutung. V. Fazit und Schlußfolgerungen Zieht man ein Fazit aus der vorgelegten empirischen Studie, so scheint auf den ersten Blick die Folgerung unzweifelhaft zu sein, daß auf alle Fälle der Familienlastenausgleich im engeren Sinne die Fertilität fördert. Daß dieses aber möglicherweise nur auf den ersten Blick gültig ist, wird deutlich, wenn man sich die Fertilitätsrate in den neuen Bundesländern ansieht. Es läßt sich dann nämlich feststellen, daß seit dem politischen und sozialen Wandel in der ehemaligen DDR, in Sonderheit seit der deutschen Einigung, in den neuen Bundesländern wegen der mit der Transformation verbundenen Schwierigkeiten die Geburtenrate um rund 45 % abgenommen hat. 21 Dies führt zu dem vorsichtigen Schluß, die Wirkung der familienpolitischen Maßnahmen auf die Geburtenraten sei offensichtlich nur dann positiv, wenn die gesamtwirtschaftliche Lage "stimmt" bzw. wenn günstige Erwartungen über die gesamtwirtschaftliehe Entwicklung bestehen. 22 Trotz dieser Einschränkung bleibt aber das Ergebnis, daß die familienpolitischen Maßnahmen die Fertilität begünstigen. Schon aus diesem Grund soll deshalb zumindest der status quo der Familienpolitik in der Bundesrepublik beibehalten werden. Es wäre sicherlich falsch, im Sinne der Eingangsfragestellung zu erwarten, der Familienlastenausgleich könne Bevölkerungspolitik "im großen Stil" sein. Insofern ist das Fragezeichen in der Überschrift zu diesem Beitrag durchaus berechtigt. Gleichwohl kann aber der Familienlastenausgleich, wenn auch nur in einem sehr geringen Umfang, zur Lösung der mit der demographischen Entwicklung verbundenen Probleme beitragen. 23 Allerdings darf man dabei 21 Institut der Deutschen Wirtschaft (Hrsg.): Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1992. 22 Albers, Willi: Die Beeinflussung der Verhaltensweise mit ökonomischen Mitteln, in: Felderer, Bemhard (Hrsg.): Familienlastenausgleich und demographische Entwicklung, Berlin 1988, 53-65, 55 ff. 23 Schmäh!, Winfried: Demographie change and social security, in: Journal of Population Economics 3 ( 1990) 159-177, 165; Erbe, Rainer: Familienlastenausgleich über die gesetzliche Rentenversicherung?, in: Wirtschaftsdienst 1986, 194-202, 194-195; Prinz, Aloys: Endogenous

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nicht übersehen, daß der "demographische Effekt" des Familienlastenausgleichs sich erst mit jahrzehntelanger Verzögerung niederschlägt. 24 Noch zwei weitere Bemerkungen erscheinen angebracht: Angesichts der derzeitigen Debatte über die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruches ist es in Verbindung mit den vorgelegten empirischen Ergebnissen nachgerade kontraproduktiv, wenn in der aktuellen finanzpolitischen Diskussion auch der Familienlastenausgleich in die Kürzungsmasse miteinbezogen wird. Im übrigen hat Rauscher25 in einer jüngsten Veröffentlichung nachdrücklich betont, daß Sozialpolitik - und eines ihrer Glieder ist der Familienlastenausgleich ein unverzichtbarer Bestandteil der "Sozialen Marktwirtschaft", verstanden im Sinne der katholischen Soziallehre, ist.

fertility, altruistic behavior across generations, and social security systems, in: Journal of Population Economics 3 (1990) 179-192, 179. 24 Schmäh!, 167. 25 Rauscher, Anton: Zur Diskussion um freie und soziale Marktwirtschaft nach 1945 im Bereich der katholischen Soziallehre, in: Lampert, Heinz (Hrsg.): Freiheit als zentraler Grundwert demokratischer Gesellschaften, St. Ottilien 1992, 1-17, 11.

Wer "produziert" das Humanvermögen einer Gesellschaft? Von Heinz Lampert Die Analyse der Familie und der Familienpolitik sowie insbesondere die Förderung der Familie gehören seit langem zu den Anliegen, die Anton Rauscher in seiner kirchlichen, wissenschaftlichen und politischen Arbeit verfolgt. Schon 1964 hat er über den Beziehungswandel von Familie und Beruf gearbeitet1. 1978 hat er die Familienpolitik der sozial-liberalen Koalition auf den Prüfstand gestellt2 • 1979 befaßte er sich mit den Auswirkungen des seinerzeit vorgelegten Gesetzentwurfes zur Reform des Jugendhilfegesetzes auf den Erziehungsauftrag der Eltern, auf die staatlichen Eingriffsbefugnisse in diesen Erziehungsauftrag und auf das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern3 und 1980 warf er die Frage auf, ob die Kindergelderhöhungen der Jahre 1975 bis 1979 als eine Wende in der Familienpolitik verstanden werden konnten4 • Er trat seinerzeit für die Wiedereinführung der steuerlichen Kinderfreibeträge, die Einführung eines Erziehungsgeldes, die Anerkennung von Erziehungszeiten im Rentenrecht und eine familienfreundlichere Wohnungspolitik ein. 1981 wurde sein Referat vor dem Ausschuß für Sozialpolitik des Vereins für Socialpolitik über die Familie als Träger intertemporaler Ausgleichsprozesse veröffentlicht5 . 1986 folgte eine Untersuchung der 1 Rauscher, Anton: Zum Beziehungswandel von Familie und Beruf, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 5 (1964) 51-62. 2 Rauscher, Anton: Die Familienpolitik auf dem Pliifstand, in: Herrmann, Ludolf Rauscher, Anton (Hrsg.): Die Familie - Partner des Staates. Eine Auseinandersetzung mit falschen Gesellschaftstheorien, Stuttgart 1978, 37-68. 3 Rauscher, Anton: Jugendhilfe. Ein untauglicher Gesetzentwurf, in: ders. (Hrsg.): Kirche in der Welt. Beiträge zur christlichen Gesellschaftsverantwortung ( = Rauscher, Kirche in der Welt), Bd. 2, Würzburg 1988, 525-540. 4 Rauscher, Anton: Eine Wende in der Familienpolitik? In: Raucher, Kirche in der Welt, Bd. 2, 541-554. 5 Rauscher, Anton: Die Familie als Träger intertemporaler Ausgleichsprozesse, in: HerderDorneich, Phitipp (Hrsg.): Dynamische Theorie der Sozialpolitik, Berlin 1981 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 123), 81-111.

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Auswirkungen des Wandels der sozioökonomischen Verhältnisse auf die Stellung und die Rolle der Frau6. Der diese Arbeit einleitende Hinweis, "daß sich eine kulturelle Revolution vollzieht, deren Ausmaß und deren Auswirkungen auf die Struktur der Gesellschaft noch gar nicht absehbar sind "7 , sollten die Vertreter aller wissenschaftlichen Disziplinen, zu deren Forschungsgegenstand die Familie gehört, als Anregung verstehen, sich verstärkt diesem Problemkreis zuzuwenden. 1988 setzte sich Anton Rauscher für die Familienzusammenführung ein8 . Schließlich ist sein Festschriftbeitrag zum 75. Geburtstag von Bischof Josef Stimpfle zu erwähnen, in dem er seine tiefe Besorgnis darüber äußerte, daß der Schutz, den Art. 6 des Grundgesetzes der Ehe und der Familie gewährt, aufgeweicht werden und in der Gesellschaft das Bewußtsein für den Wert von Ehe und Familie an sich und für die Gesellschaft verloren gehen könnte9 . Mein Beitrag zu dieser Festschrift soll einen Versuch darstellen, einen spezifischen "Wert" der Familie für die Gesellschaft zu verdeutlichen, nämlich die Leistungen der Familien für die Bildung und für die Erhaltung von Humanvermögen oder Humankapital.

I. Was ist Humanvennögen? In der Ökonomie wird Humanvermögen definiert als "die Gesamtheit der Erfahrungen, Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten eines Individuums, einer Gruppe oder der Erwerbsbevölkerung einer Volkswirtschaft, welche im Produktionsprozeß aktiv eingesetzt werden kann 10 . Dies ist eine weithin akzeptierte Definition. Dieses Humanvermögen, das auch als Arbeitsvermögen bezeichnet wird, stellt zusammen mit dem Sachkapital oder Produktivvermögen die wichtigste Komponente des Volksvermögens dar. Beiden Komponen6 Rauscher, Anton: Die Auswirkungen der sozioökonomischen Verhältnisse auf Stellung und Rolle der Frau, in: ders. (Hrsg.): Die Frau in Gesellschaft und Kirche -Analysen und Perspektiven, Berlin 1986, 41-57. 7 Ebd., 41. 8 Rauscher, Anton: Das Anliegen der Familienzusammenführung. Zur Diskussion innerhalb der Kirche, in: Kleber, Kari-Heinz (Hrsg.): Migration und Menschenwürde, Passau 1988, 108-127. 9 Rauscher, Anton: Ehe und Familie in unserer Gesellschaft, in: Ziegenaus, Anton (Hrsg.): Sendung und Dienst im bischöflichen Amt. Festschrift für Josef Stimpfle zum 75. Geburtstag, St. Ottilien 1991, 197-218. 10 Geigand, Friedrich - Sobotka, Dieter- Westphal, Horst (Hrsg.): Lexikon der Volkswirtschaft, 4. überarb. Aufl., Landsberg 1983, 52.

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ten des Vermögens kommt für die Entwicklung und das Wachstum der Wirtschaft grundlegende Bedeutung zu. Es lohnt sich, diesen Begriff des Humanvermögens bzw. des Arbeitsvermögens näher unter die Lupe zu nehmen. Er weist nämlich Defizite auf, die für eine gesellschafts-, Wirtschafts- und familienpolitisch zutreffende Einschätzung der für Gesellschaft und Wirtschaft relevanten Leistungen der Familien erhebliche Bedeutung haben. Im Anschluß an die Begriffsanalyse sollen sowohl die Leistungen der Familie für Gesellschaft und Wirtschaft dargestellt als auch die Berücksichtigung und Würdigung dieser Leistungen in der Wirtschaftswissenschaft angesprochen werden. Abschließend soll versucht werden, den Wert der Leistungen der Familie für Gesellschaft und Wirtschaft abzuschätzen. ll. Die Defizite des Humanvennögensbegriffs Ein erstes Defizit des Humanvermögensbegriffs liegt darin, daß dieses Vermögen nur definiert wird als "Gesamtheit der Erfahrungen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten" eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen, also als eine spezifische qualitative Ausprägung der Träger von Humankapital, daß aber in die Definition die für die Bildung neuen Humanvermögens und für die Ersetzung nicht mehr vorhandenen Humanvermögens wesentliche Grundlage nicht einbezogen ist, nämlich die Träger dieser Qualitäten oder das, was Heinz Galler 11 den "natürlichen Grundstock" des Humankapitals nennt. Diese "Träger" sind Menschen, die erst geboren, versorgt und erzogen werden müssen. Wer dies übersieht, verkennt die Bedeutung der Familie für den Fortbestand der Gesellschaft und für die Funktionsfähigkeit einer Volkswirtschaft. Ein zweites Defizit liegt darin, daß von "Erfahrungen, Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten" die Rede ist, "welche im Produktionsprozeß eingesetzt werden", also von Eigenschaften, die die Berufsausübung und die berufliche Qualität prägen und in der Wirtschaft eingesetzt werden. Nicht zuletzt deswegen werden - völlig zu Recht - Bildungsinvestitionen als Voraussetzung einer Akkumulation von Arbeitsvermögen, von Humankapital angeII Galler, Heinz Peter: Opportunitätskosten der Entscheidung für Familie und Haushalt, in: Gräbe, Sylvia (Hrsg.): Der private Haushalt als Wirtschaftsfaktor, Frankfurt, New York 1991, 118-152, 121.

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sehen. Bei dieser Akzentuierung der berufsrelevanten Qualitäten wird zu wenig erkennbar, daß für eine effiziente, möglichst friktionsfrei arbeitende Volkswirtschaft die Erziehung der Menschen zu kommunikations-, zu kooperations-sowie zu solidaritätsfähigen und -bereiten Menschen ebenso erforderlich ist wie eine Erziehung zu verantwortungsbewußten und gruppenbezogenen Mitgliedern wirtschaftender Einheiten, eine Erziehung, die die Menschen befähigt, die Grundwerte einer Gesellschaft, in der sie leben, in ihrer Bedeutung zu erkennen und dieser Bedeutung gerecht zu werden. Ein weiteres Problem liegt in der nicht selten anzutreffenden Gleichsetzung von Arbeitsvermögen und Humanvermögen. Humanvermögen ist jedoch mehr als Arbeitsvermögen. Denn zum einen braucht, hat und erwirbt der Mensch Vermögen im Sinne bestimmter Erfahrungen, Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht nur, um seine Existenz durch Erwerbsarbeit sichern zu können, sondern auch dazu, seiner Aufgabe und Chance gerecht werden zu können, sich als Person zu entfalten. Zum andern benötigt nicht nur die Wirtschaft, sondern die Gesellschaft menschliches Vermögen im Sinne der eben angesprochenen Fähigkeit, gruppen- und gemeinschaftsorientiert zu denken, zu entscheiden und zu handeln. Humanvermögen ist aus dieser Sicht nicht nur für die Welt der Arbeit, sondern für den sozialen, den kulturellen und den politischen Bereich von Bedeutung. Wer dies verkennt, steht sowohl in der Gefahr, die Bildungspolitik und die Bildungsförderung zu stark als Berufsbildungspolitik und Berufsbildungsförderung zu betreiben und die Vermittlung von Werten und Normen gemeinschaftsorientierten Verhaltens zu vernachlässigen, als auch in der Gefahr, die bedeutenden und unverzichtbaren Leistungen der Familien für die Gesellschaft zu übersehen, die durch die Sozialisation der Kinder, insbesondere in Form der Vermittlung individueller und gesellschaftlicher ethischer Grundwerte und in Form der Einübung gemeinschaftsbezogenen solidarischen Handeins von den Familien erbracht werden12. Die Familie ermöglicht als sozialer Schutzraum wie keine andere Institution eine volle Entfaltung der Person durch die Äußerung und den Empfang von Zuwendung. Die Begründung und Sicherung eines solchen Schutzraumes verlangt und ermöglicht gegenseitiges Verständnis und Hilfsbereitschaft, d.h. Solidarität. Diese spezifischen Leistungen der Familienerziehung sind eine unverzichtbare Grundlage der Humanvermögensbildung, die nicht 12 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Kaufmann, Franz-Xaver: Zukunft der Familie. Stabilität, Stabilitätsrisiken und Wandel der familialen Lebensformen sowie ihre gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, München 1990, 44 ff.

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weniger wichtig ist als die Vermittlung von Arbeitsvermögen. Rene König hat in diesem Zusammenhang davon gesprochen, daß die Familie durch ihre Aktivitäten eine "zweite Geburt" des Menschen, gleichsam die geistig-psychische nach der biologischen Geburt, bewirkt. 111. Die gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Leistungen der Familie

Im einzelnen erbringt die Familie, d.h. in der Terminologie der Kreislauftheorie der Privathaushalt mit nicht erwachsenen Kindern, die im folgenden angeführten Leistungen. 1. Die Geburt und die Versorgung von Kindern ist als erste Leistung zu nennen, also die Sicherung des physischen Fortbestandes der Gesellschaft, oder- um es in ökonomischer Terminologie deutlich auf den ökonomisch entscheidenden Punkt zu bringen - die physische Reproduktion der Gesellschaft, die "Produktion" der physischen Basis des Humanvermögens einer Gesellschaft. 13 Natürlich geben Eltern das Leben nicht weiter und natürlich versorgen Eltern ihre Kinder nicht um der Gesellschaft willen. Geburt und - als deren Konsequenz - die Versorgung der Kinder sind vielmehr ganz und gar "private" Entscheidungen. Diese privaten Entscheidungen haben aber - wiederum ökonomisch formuliert- positive externe Effekte. Sie stellen einen entscheidenden Beitrag zum Überleben der Gesellschaft und zur Sicherung ihrer ökonomischen Überlebensfähigkeit durch die Geburt und die Versorgung nachwachsender Generationen dar. 2. Eine weitere Leistung der Familie wird erbracht durch die Erziehung und die Sozialisation der Kinder, also durch Beiträge zur Ausprägung der qualitativen Komponente des Humanvermögens in ihrer geistigen, kulturellen, sozialen und beruflichen Dimension. 3. Die Familie trägt zur Regeneration und zur Erhaltung des Arbeitskräftepotentials bei: durch die Versorgung der Haushaltsmitglieder, 13 Dem Verfasser ist bewußt, daß es der Würde des Menschen, auch des ungeborenen, und dem Sinngehalt der Weitergabe menschlichen Lebens nicht adäquat ist, von der "Produktion" des Humanvennögens zu sprechen. Er verwendet diesen Terminus daher widerstrebend, aber in der Überzeugung, daß es angesichtsder verbreiteten Verkennung der Bedeutung der Leistungen der Familie für die Gesellschaft und auch für diejenigen, die sich für ein Leben ohne Kinder entscheiden, geboten ist, die ökonomischen Zusammenhänge unmißverständlich anzusprechen.

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durch die Bereitstellung eines privaten Schutz-, Entfaltungs- und Erholungsraumes sowie durch Gesundheitsvorsorge und durch Pflege erkrankter erwerbsfähiger Haushaltsmitglieder. 4. Gesellschaftlich relevant sind schließlich die Versorgung und Pflege kranker und behinderter, nicht mehr erwerbsfähiger Haushaltsmitglieder. IV. Die Familie als Untersuchungsgegenstand in der Volkswirtschaftslehre

Die angeführten produktiven Leistungen der Familien werden in der Wirtschaftswissenschaft und in der Politik nicht zutreffend gewürdigt. "Gedankenlos sieht bis heute die traditionelle Wirtschaftswissenschaft an gesellschaftlich ganz zentralen Leistungen der Familie vorbei" 14 . Die produktiven Tätigkeiten der Haushalte werden bei der Bemessung der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung nicht berücksichtigt 15 . Es ist zu wünschen, daß bald eine dogmengeschichtliche Darstellung der volkswirtschaftlichen Analyse der Humanvermögensbildung und der Familie erarbeitet wird, um abzuklären, warum, wie Rosemarie von Schweitzer zu recht meint, "in der öffentlichen Meinung und den diese Meinung produzierenden Institutionen der Gesellschaft" die privaten Alltagsleistungen der privaten Haushalte für die Daseinsvorsorge, "seit der Aufklärung .... nach allen Regeln der Kunst in Randstellungen manövriert werden. Sie werden erkannt, in den Himmel gehoben und sogleich auch wegdefiniert. Die elementarste Form dieser Wissensmanipulation ist, diese Leistungen als Letztverbrauch, Wertvernichtung oder Konsum zu bezeichnen und der 'Freizeit' der Bürger, insbesondere der Frauen, zuzuordnen" 16 . In diesem Beitrag jedoch ist es nicht möglich, zu dieser Frage mehr beizutragen als einige Hypothesen zur Erklärung der Vernachlässigung der Erforschung der produktiven Leistungen der privaten Haushalte, insbesondere der Familien. 14 Krüsselberg, Hans-Günther: Einige Hypothesen der "economies of the family" im empirischen Test, in: Todt, Horst (Hrsg.): Die Familie als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung, Berlin 1987 (= Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 164), 101-127, 119. 15 Hilzenbecher, Manfred: Die (schattenwirtschaftliche) Wertschöpfung der Hausarbeit. Eine empirische Untersuchung für die Bundesrepublik Deutschland, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 201 (1986) 107-130, 108. 16 Schweitzer, Rosemarie von: Haushaltsproduktion und Aufwendungen der Haushalte für die nachwachsende Generation, in: Gräbe, 107-117, 107.

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Eine erste Hypothese lautet: Der Faktor Arbeit an sich war im Zeitalter der klassischen Nationalökonomie bis in das 20. Jahrhundert hinein - quantitativ gesehen - eher ein Überflußfaktor als ein knappes Gut; daher fand nur die qualifizierte Arbeit, die auch seinerzeit ein knappes Gut war, also die qualitative Komponente der Arbeit, die Aufmerksamkeit der Ökonomen. Eine zweite Hypothese könnte im Produktivitätsbegriff der Klassiker liegen. Der nur auf die materielle Produktion ausgerichtete Produktivitätsbegriff von Adam Smith versperrte den Blick darauf, daß die Versorgung und die Erziehung von Menschen Werte schaffende Tätigkeiten sind. Daher konnte Friedrich List in seiner Auseinandersetzung mit der klassischen Nationalökonomie den Vorwurf erheben: "Wer Schweine erzieht, ist nach dieser Lehre ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft" 17 . Eine dritte Hypothese: die sinkende quantitative Bedeutung des Familienbetriebes in den neuzeitlichen Industriegesellschaften hat einen Rückgang der Familienforschung nach sich gezogen. Eine vierte Hypothese schließlich läßt sich aus dem Realitätsverlust der Theorie ableiten, der eine Folge der Formalisierung und Mathematisierung der Theorie durch die Neoklassik war. Diese Art theoretischer Arbeit wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auch in der deutschen Nationalökonomie dominant. Um quantifizierbare, mit Hilfe der Mathematik formulierbare Modelle zu gewinnen, ging man in der Abstraktion von der Wirklichkeit so weit, daß diese Modelle keine (vereinfachten) Abbilder der Wirklichkeit mehr waren. Was sich der Quantifizierung entzog, wurde eliminiert. Die schon 1955 ausgesprochene Warnung von Edgar Salin vor einem "Verlust an Menschlichkeit" 18 der ökonomischen Theorie und die ähnliche Warnung von William Kapp vor der "Enthumanisierung" 19 der reinen Theorie bliebenunbeachteL Es ist in diesem Zusammenhang vor allem als ein gravierender, folgenschwerer Fehler anzusehen, daß in der Kreislauftheorie und in der Volks17 List, Friedrich: Das nationale System der politischen Ökonomie, im Auftrag der List Gesellschaft von Artur Sommer, Basel1959, 151. 18 Salin, Edgar: Politische Ökonomie- heute, in: Salin, Edgar (Hrsg.): Lynkeus. Gestalten und Probleme aus Wirtschaft und Politik, Tübingen 1963, 213-227, 216. 19 Kapp, William K.: Zum Problem der Enthumanisierung der "reinen Theorie" und der gesellschaftlichen Realität, in: Kyklos 20 (1967) 307-330, 307.

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Heinz Lampert

wirtschaftlichen Gesamtrechnung der Privathaushalt als eine konsumierende, nicht wertschöpfende Einheit definiert wurde. Der Haushalt wurde in der Theorie zwar auch als Anbieter von Produktionsfaktoren, insbesondere auch von Arbeit, definiert. Aufgrund welcher Entscheidungsdeterminanten aber Kinder als spätere Träger von bestimmten Arbeitsvermögens- und Humanvermögensqualitäten geboren werden und mit Hilfe welcher Aufwendungen ihr erblich angelegtes Humanvermögen entwickelt und gebildet wird, wer also das Humanvermögen "produzierte", wurde nicht gefragt. Auch die von Gary Becker begründete und zwischenzeitlich weiterentwickelte Theorie der Haushaltsproduktion und der Familie haben diese Defizite (noch) nicht beseitigt20 . Eine Folge dieser Entwicklung ist es, daß in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, der nationalen Buchführung einer Wirtschaftsgesellschaft, die produktiven Leistungen der Privathaushalte nicht auftauchen. Bei den sich derzeit auch in der amtlichen Statistik abzeichnenden Bemühungen einer Einbeziehung dieser Leistungen sollte die folgende Mahnung von Rosemarie von Schweitzer beachtet werden: "Eine Satellitenrechnung zur Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung überzeugt nicht, wenn nur betrachtet wird, daß der 'private Sektor' Arbeitskräfte für die Wirtschaft bereitstellt, um das Sozialprodukt zu schaffen, um dafür Einkommen zu erhalten, und nicht auch, daß berücksichtigt wird, daß der 'private Sektor' in der Bundesrepublik 75 % der Aufwendungen dafür trägt, daß dieses Arbeitskräftepotential herangebildet wird" 21 . V. Was sind die Beiträge der Familien

zur Humanvermögensbildung wert?

Zur Ermittlung des Wertes der Aufwendungen von Familien für die Versorgung, Betreuung und Erziehung der Kinder liegen mehrere Untersuchungen vor. Im folgenden sollen Arbeitsergebnisse angeführt werden, die Wolfram Engels, Heinz Peter Galler, der Verfasser dieses Aufsatzes und Amd 20 Vgl dazu Becker, Gary S.: A Treatise on the Family, Cambridge, Mass. 1981; Zimmermann, Klaus F.: Familienökonomie. Theoretische und empirische Untersuchungen zur Frauenerwerbstätigkeit und Geburtenentwicklung, Berlin u.a. 1985; Kriisselberg, in Todt: 101-127; Auge, Michael: Humanvermögen, Sozialisation und Familienlastenausgleich. Zur vermögenstheoretischen Perspektive der Familienpolitik, Spardorf 1984. 21 Schweitzer von, 107.

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Jessen sowie der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit vorgelegt haben. Vorausgeschickt sei der Hinweis, daß solche Ermittlungen Schätzcharakter haben, weil es z.B. keine Marktpreise für den Zeitaufwand von Familien für die Betreuung der Kinder gibt. Daher müssen Annahmen gesetzt werden. Je nachdem, wie der Preis für den Betreuungsaufwand angesetzt wird, ergeben sich unterschiedliche Ergebnisse. Diese methodische Problematik setzt sich jedoch nicht in so grobe und gewichtige Schätzfehler um, daß die Ergebnisse inakzeptabel werden. Denn es geht, wie im folgenden erkennbar werden wird, um Größenordnungen, bei denen es nicht auf Genauigkeit im Bereich vier- und fünfstelliger Zahlen ankommt, sondern es geht um Größenordnungen im Bereich sechs- und siebeosteiliger Summen. Eine häufig genutzte Methode der Ermittlung der Aufwendungen von Familien besteht in der Erfassung der sog. Opportunitätskosten. Diese Opportunitätskosten werden nach wie vor überwiegend von den mit der Kinderbetreuung und der Haushaltsproduktion befaßten Frauen getragen. Sie sind definiert als der Wert der Verzichte, die geleistet werden müssen, weil durch die Entscheidung für Kinder bestimmte Handlungsaltemativen, wie etwa der Erwerb eines zweiten Einkommens, nicht mehr gewählt werden können. Zu diesen Opportunitätskosten sind zu rechnen: der mehr oder weniger lang anhaltende Ausfall des Erwerbseinkommens eines der Familienmitglieder, meistens der Mutter; der Einkommensausfall, der durch eine Unterbrechung der Erwerbstätigkeit wegen der damit verbundenen Qualifikationsverluste verursacht wird; Beeinträchtigungen der Ansprüche gegen die Sozialversicherung, insbesondere die Alterssicherung; Verzichte auf bestimmte individuelle Entwicklungsmöglichkeiten, u.a. auf Entfaltung der Persönlichkeit durch Erwerbsarbeit und Verzichte an sozialer Integration. Zum Teil werden die Opportunitätskosten reduziert durch eine sinkende Steuerbelastung aufgrund der sinkenden Steuerprogression und aufgrund des Ehegattensplittings, durch Sozialleistungsansprüche, die mit sinkendem Familieneinkommen entstehen oder wachsen und durch die beitragsfreie Mitversicherung nicht erwerbstätiger Familienmitglieder in der Krankenversicherung. Heinz Peter Galler, der für verschiedene Modellfälle die Opportunitätskosten abgeschätzt hat, stellt allerdings fest, "daß die durch die Einschränkung der Erwerbsarbeit induzierten Einkommenseinbußen durch solche direkten und indirekten Transfers bei weitem nicht ausgeglichen werden"22. 9 FS Rauscher

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Heinz Lampen

An dem skizzierten Opportunitätskostenkonzept sind die Untersuchungen von Wolfram Engels und Heinz PeterGaller orientiert. Wolfram Engels 23 hat die Einkommenssituation eines Ehepaares ohne Kinder mit zwei Erwerbseinkommen in Höhe von je 2 500 DM brutto monatlich mit der Situation eines Ehepaares verglichen, das nur über das Einkommen des Mannes in Höhe von ebenfalls 2 500 DM verfügt, weil die Frau sich der Versorgung der Familie und der Betreuung von drei Kindem widmet. Das Ergebnis: Der Entgang des Erwerbseinkommens für die Frau, ihre im Vergleich zur erwerbstätigen Frau niedrigere Rente und die Kosten für die Versorgung der Kinder ziehen für das kinderversorgende Paar einen Vermögensnachteil nach Steuern in Höhe von rund 1,5 Millionen DM nach sich. Engels hat für diese Familien ferner ermittelt, daß das nach Deckung der elementaren Lebensbedürfnisse verbleibende, frei verfügbare Einkommen des kinderlosen Paares mehr als zehnmal so hoch ist wie das der Drei-Kinder-Familie. Galler hat errechnet, wie groß die Einbußen der Lebenseinkommen aus Arbeit durch unterschiedlich lange Unterbrechungen der Erwerbstätigkeit, durch die mit diesen Unterbrechungen verbundenen Qualifikationsverluste und durch niedrigere Altersrentenansprüche für Frauen mit unterschiedlicher Schulbildung sind24 . Grundlage seiner Berechnungen war das Einkommensniveau des Jahres 1984. Die Ergebnisse sind in der folgenden Tabelle enthalten, die der Verfasser aus einer graphischen Darstellung bei Galler errechnet hat. Wie Tabelle zeigt, reichen die Nettoeinkommensverluste von etwa 110 000 DM bis zu rund 540 000 DM. Für eine Hochschulabsolventin belaufen sich die Nettoeinkommensverluste bei dreijähriger Unterbrechung auf etwa 10 % des potentiellen Lebensnettoeinkommens, bei zehnjähriger Unterbrechung auf etwa 30 %25.

22 Galler, 120. 23 Engels, Wolfram: Über Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, Bad Hornburg 1985, 17. 24 Galler, 134-143. 25 Ebd., 143.

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Tabelle 1

Lebenseinkommensverluste in DM bei einer Unterbrechung von ..• Jahren 3

6

10

brutto Hauptschule Realschule Hochschule

167 000 190 500 300 000

286 000 321 500 500 000

428 500 500 000 774 000

netto Hauptschule Realschule Hochschule

109 500 116 500 193 000

190 500 214 000 345 000

297 500 335 000 540 500

Vorbildung

Der Verfasser dieses Aufsatzes hat ebenfalls die Aufwendungen von Modellfamilien für ihre Kinder errechnet. Das für eine Angestellten- und für eine Arbeiterfamilie berechnete Modell beruht auf folgenden Annahmen: 1. Ein Ehepaar versorgt und erzieht zwei in einem Abstand von zwei Jahren geborene Kinder jeweils bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Die Mutter unterbrach die Erwerbstätigkeit mit der Geburt des ersten Kindes vom 1. Januar 1983 bis zum vollendeten 6. Lebensjahr des zweiten Kindesam 31. Dezember 1990. Zur Ermittlung des Einkommensverzichts der Familie wurde ein kinderloses Ehepaar mit zwei Erwerbseinkommen herangezogen. 2. Als Einkommen wurde das jeweilige geschlechtsspezifische Durchschnittseinkommen eines bzw. einer Angestellten und eines Arbeiters bzw. einer Arbeiterin angesetzt. 3. Um die Entlastungswirkung der aktuellen familienpolitisch relevanten Gesetzeslage erfassen zu können, wurden schon ab 1983 die seit 1992 geltenden Werte für das Kindergeld und die Steuerfreibeträge für Kinder sowie die ab 1993 geltenden Werte für das Erziehungsgeld und für die rentenrechtliche Anrechnung der Kindererziehungsjahre zugrunde gelegt. 4. Für die Jahre ab 1991 wurden das Arbeitseinkommen, die Lebenshaltungskosten der Kinder und das Kindergeld als konstant unterstellt. 9"

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Heinz Lampert

Neben dem Nettoeinkommensverlust, bei dem der Gewinn bzw. Verlust von Rentenversicherungsbeiträgen und der Freizeitgewinn der nicht erwerbstätigen Mutter berücksichtigt sind, wurden der monetäre Aufwand für die Versorgung der beiden Kinder und der Wert des Betreuungsaufwandes sowie der kinderbedingten Haushaltstätigkeiten ermittelt. Grundlage waren Zeitbudgeterhebungen des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg. Die Aufwandsstundenzahlen wurden mit dem Stundenlohn einer Kindergärtnerin nach BAT VI b bzw. (ab 1991) V c bewertet26 . Die Berechnungen führten zu einem Wert des Versorgungsaufwandes von rund 300 000 DM und der Betreuungsleistung von rund 600 000 DM. Tabelle 2

Versorgungs- und Erziehungsaufwand für zwei Kinder, Nettoeinkommensverlust und finanzielle Entlastungen Angestelltenhaushalt

Arbeiterhaushalt

(1) Monetärer Aufwand für die Versorgung der Kinder, Betreuungsaufwand und Wert der Haushaltstätigkeit

892 000 DM

892 000 DM

(2) Finanzielle Entlastungen durch staatliche Transfers

130 000 DM

139 000 DM

(3) Beitragsfreie Krankenversicherung

67 000 DM

63 000 DM

(4) Nettoeinkommensverlust durch Unterbrechung der Erwerbstätigkeit

84 000 DM

62000 DM

(5) Anteil der staatlichen Leistungen (2) am Aufwand für die Kinder (1)

14,6%

15,6%

(6) Anteil der staatlichen Leistungen und der beitragsfreien Krankenversicherung am Aufwand für die Kinder

20,6%

21,2%

26 Vgl. zu weiteren Details der Berechnung der Modelle: Lampert, Heinz: Der Beitrag von Familien zur Humanvermögensbildung, in: Halfa, Bemd- Plaschke, Jürgen (Hrsg.): Sozialpolitik und Wissenschaft. Positionen zur Theorie und Praxis der Sozialhilfen, Stuttgart u.a. 1992.

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Um die finanziellen Entlastungen zu ermitteln, wurden die Kindergeldzahlungen, die Erziehungsgeldzahlungen, der Wert der Erziehungsjahre, die Steuerersparnis durch die Kinderfreibeträge und der Wert der beitragsfreien Mitversicherung der Mutter während der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit sowie der Kinder in der Krankenversicherung berücksichtigt. Das Ergebnis der Berechnungen ist in Tabelle 2 zusammengefaßt. Aus allen bisher vorliegenden Ermittlungen des Wertes der Beiträge der Familien zur Humanvermögensbildung ergibt sich, daß es sich um beachtliche Größenordnungen handelt, die sich pro Kind auf einige Hunderttausend Mark belaufen und für zwei Kinder allein für die Versorgung und Betreunung in die Nähe der Millionengrenze kommen. Die Zahlen über den Anteil der staatlichen Leistungen am Versorgungs- und Betreuungsaufwand zeigen, daß sie selbst unter Einbeziehung der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherungen für nichterwerbstätige Familienmitglieder, die ja nicht vom Staat, sondern von der Solidargemeinschaft finanziert werden, nur einen Bruchteil der Aufwendungen der Familien ersetzen. Ein sehr ähnliches Ergebnis erbrachte eine makroökonomisch orientierte Studie des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit aus dem Jahre 1979. Die seinerzeit für das Jahr 1974 ermittelten Aufwendungen für Kinder dürften in bezug auf die Struktur der Verteilung des Aufwandes durchaus noch aktuell sein, wenngleich die Einführung des Erziehungsgeldes und die Anerkennung von mittlerweile drei Erziehungsjahren in der Rentenversicherung und die Kindergelderhöhungen der Jahre 1975 bis 1979 den Beitrag der öffentlichen Hand zu den Aufwendungen für die nachwachsende Generation um einige Prozentpunkte angehoben haben. In die Berechnungen einbezogen hat der Beirat die Geldausgaben und den bewerteten Zeitaufwand der Familien sowie das Angebot von Gütern und Dienstleistungen durch außerfamiliale Träger. Zu diesem Angebot gehörten sowohl finanzielle Hilfen an Familien mit Kindem (als wichtigste Kindergeld, Wohngeld, Ausbildungshilfen und Steuerfreibeträge) wie auch die Sach- und Dienstleistungen in den Bereichen Bildung, Wohnungsversorgung und Gesundheit. Von den Gesamtaufwendungen in Höhe von 320 Milliarden DM, die sich aus 111 Milliarden DM für individuelle monetäre Aufwendungen, 47 Milliarden DM kollektive monetäre Aufwendungen und 162 Milliarden DM bewertetem Zeitaufwand für die Kinderbetreuung zusammensetzten, trugen

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Heinz Lampert

die privaten Haushalte 74 %, die öffentlichen Hände, vor allem die Länder, 24 %und die Wohlfahrtsverbände 2 %27. Es erscheint bemerkenswert, daß eine Untersuchung von Amdt Jessen über die Aufteilung des Gesamtaufwandes für Kinder für das Jahr 1935 auf die privaten Haushalte und die öffentliche Hand eine Relation von zwei Dritteln zu einem Drittel ergeben hat und für das Jahr 1954 bei einem Gesamtaufwand für Kinder in Höhe von 20 Milliarden DM unter Einschluß des Betreuungsaufwandes eine Relation von 73 % zu 27 %28 . Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint also der Anteil des Staates an den Kinderkosten relativ konstant geblieben zu sein. Diese Tatsache und alle angeführten mikroökonomischen Untersuchungen legen eine Schlußfolgerung nahe: angesichts der Bedeutung der Humanvermögensbildung für die Sicherung der Gesellschaft und des Staates und angesichts der vergleichsweise geringen Entlastung der Familien durch den Staat ist ein weiterer Ausbau der Familienpolitik geboten, oder - um auf eine Formulierung von Gerhard Mackenrothaus dem Jahre 1952 zurückzugreifen: der Familienlastenausgleich ist nach wie vor "die sozialpolitische Großaufgabe des 20. Jahrhunderts"29.

27 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit (Hrsg.): Leistungen für die nachwachsende Generation in der Bundesrepublik Deutschland. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Stuttgart u.a. 1979, 102. 28 Jessen, Amd: Der Aufwand der Kinder in der Bundesrepublik im Jahre 1954, in: Gesellschaft für Sozialen Fortschritt e.V. (Hrsg.): Familie und Sozialreform, Berlin 1955, 83-155, 90 und 152. 29 Mackenroth, Gerhard: Die Reform der Sozialpolitik durch einen deutschen Sozialplan, in: Albrecht, Gerhard (Hrsg.): Verhandlungen auf der Sondertagung in Berlin 1952, Berlin 1952 (=Schriften des Vereins für Socialpolitik, N.F. 4), 39-76, 58.

Familie und Staat - ein kritisches Verhältnis Von Norbert Glatze!

I. Problemstellung Familie und Staat stehen in einem höchst ambivalenten Verhältnis zueinander. Die Familie muß zum einen vom Staat unabhängig sein in ihren Entscheidungen über die ihr Zusammenleben prägenden Wertvorstellungen, über die gewünschte Kinderzahl und die Erziehungsziele, zum anderen ist sie auf den rechtlichen Schutz und die finanzielle Förderung durch den Staat angewiesen'. Der Staat darf sich folglich nicht in genuine Familienangelegenheiten einmischen, als Sachwalter des Gemeinwohls auf der anderen Seite muß er aber daran interessiert sein, daß in den Familien genügend Kinder heranwachsen und durch die Leistungen des Erziehungssystems zum Besten aller für ihre künftigen Aufgaben befähigt werden. Er muß deshalb die Familie in ihren Aufgaben schützen2 , aber auch dafür sorgen, daß die finanziellen Belastungen durch die Kinder gerecht auf alle verteilt werden. Die Ausgestaltung dieser Hilfen für die Familie (Kindergeld, Kinderfreibeträge, Ehegattensplitting, Erziehungsgeld, Wohngeld, Eigenheimförderung, Bildungsförderung und andere mehr) und die jeweilige Höhe aller dieser Einzelhilfen hat nicht nur Auswirkungen auf den Lebensstandard der Familien, sondern auch auf die verantwortliche Entscheidung der Eltern über die Zahl ihrer Kinder3 sowie über die Wahlmöglichkeit zwischen Familien- und Berufsarbeit. In diesem Beziehungsgefüge zwischen Familie und Staat ist letzterer der dominante Pol. Familien haben keine starke Lobby und ihre Verbände gegenüber dem Staat wenig Durchsetzungsmacht. So sind Leistungen des Staates für die Familien stark abhängig von der jeweiligen Finanzkraft von Bund und

I Vgl dazu Leo XIII.: Rerum novarum 28. 2 Vgl. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG. 3 Vgl. dazu den Beitrag von Genosko in diesem Band.

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Norbert Glatzel

Ländern, es sei denn ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts4 verpflichte den Gesetzgeber, auch bei knapper Kassenlage bestimmte Leistungen zu verbessern. Wie solche Leistungsgesetze im einzelnen ausgestaltet werden, ist dann noch einmal davon abhängig, welche Parteien bzw. Koalitionen gerade an der Regierung sind.

ll. Gründe für das Abhängigkeitsverhältnis Die Familien durch den Staat wirtschaftlich zu stützen wurde notwendig "durch die Veränderung der modernen Produktionsordnung .. , die nicht mehr die ganze Familie, sondern den einzelnen Erwachsenen zum Träger der Erwerbs- und Produktionsstruktur machte und daher die Kinder, ökonomisch gesehen, von produktiven Arbeitskräften zu bloßen Kostenfaktoren degradierte"5. Mit dem Übergang von der Groß- zur Kleinfamilie hörten Kinder auch auf, Gewähr für die Altersicherung zu sein. Die Invaliden- und Altersversicherungsgesetzgebung von 1889 war die Reaktion auf diesen Wandlungsprozeß. Sie sicherten damals - wenn auch in einem bescheidenen Rahmen- unabhängig von der Kinderzahl die Versorgung im Alter. Ökonomisch und sozial war es nun vorteilhaft, wenig Kinder zu haben6 • Solange Rentenbezieher ihre Altersrente zum großen Teil über eigene Beiträge finanzierten, war dadurch nicht zwangsläufig ein Lastenausgleich zwischen den Generationen gefordert. Er wurde aber eine Forderung der Gerechtigkeit, als man mit dem Reformgesetz von 21. Januar 1957 die Renten über ein Umlageverfahren finanzierte. Der Vater der dynamischen Rente, Wilfrid Schreiber7 , machte in seinen Ausführungen unmißverständlich klar, daß Solidarität zwischen den Generationen einer Gesellschaft sich nicht nur auf die Beziehung zwischen 4 BVerfGE 82, 60. 5 Schelsky, Helmut: Der Irrtum eines Familienministers, in: ders.: Wandlungen der deut-

schen Familie in der Gegenwart. 4. Aufl., Stuttgart 1960, 376-393, 387. Erweiterte Fassung eines Beitrags des Autors in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Juni 1954 anläßlich der Errichtung des Familienministeriums in der zweiten Regierung Konrad Adenauers 1953, der über diesen Anlaß hinaus "die grundsätzliche Problematik einer staatlichen Familienpolitik" (376) beleuchtet. 6 Auf veränderte Rahmenbedingungen reagieren Betroffene nicht schlagartig, sondern mit Verzögerungen. Die Geburtenrate auf 1000 Einwohner sank relativ stetig von 35,7 im Jahr 1890 auf 17,6 im Jahr 1930. 7 Vgl. besonders sein Buch: Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, Köln 1955. In Teilen wieder abgedruckt in: Neii-Breuning, Oswald von- Fetsch, Comelius G. (Hrsg.): Drei Generationen in Solidarität. Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan, Köln 1981 (= Beiträge zur Gesellschaftspolitik 18), 81-100.

Familie und Staat

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Erwerbstätigen und den aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen, den Rentnem, beziehen darf, sondern auch die noch nicht Erwerbstätigen, die Kinder und Jugendlichen, einbeziehen muß. Er forderte deshalb eine "Kindheits- und Jugendrente" als "Vorgriff auf das spätere Arbeitseinkommen", eine Art Darlehen, das ab dem 35. Lebensjahr gestaffelt nach der eigenen Kinderzahl hätte zurückerstattet werden sollen8 . Für Schreiber stand unabweisbar fest, "daß die Institutionen der Altersrente und des Kindergeldes mit Notwendigkeit zusammengehören und als Einheit gesehen werden müssen, weil beiden der gleiche und einheitliche Tatbestand und dasselbe Problem zugrunde liegen"9. Noch drastischer hat es 1981 Oswald von Nell-Breuning formuliert. Für ihn sind drei Generationen in ein gemeinsames Schicksal "verstrickt". Sie können sich überhaupt nicht davon lösen, daß die zwei Generationen (gemeint sind Kinder- und Altengeneration d. Verf.) durch die Produktivität der einen Generation (d.h. von den Erwerbstätigen d. Verf.) erhalten werden müssen. Diese eine Generation muß die Bereitschaft aufbringen, von dem, was sie produziert, einen namhaften Teil abzugeben für die Generation, die ihr vorausgegangen ist. Sie entgilt damit gewissermaßen ... , was sie von ihr erhalten hat; zugleich zieht sie die nachwachsende Generation auf, von der sie erwartet, sie werde, ins produktive Alter eingetreten, ihr in gleicher Weise entgelten, was sie von der ihnen vorausgegangenen Generation erfahren hat" 10 . Nell-Breuning lehnt aber den von Schreiber für diesen Tatbestand geprägten Begriff "Generationenvertrag" ab, weil Generationen keine Verträge schließen, die sie auch wieder aufkündigen könnten; vielmehr üben sie Solidarität, die es schlicht anzuerkennen gilt. Anders gesagt: Familienlastenausgleich ist im Kontext einer kollektiven Alterssicherung unabdingbar notwendig, um unterschiedliches generatives Verhalten auszugleichen, damit nicht die Kinderreichen die Lasten für ihren Nachwuchs aufbringen müssen und in ihrem Alter - das betrifft insbesondere die Witwen, die sich ganz ihrer Familie gewidmet haben - von einer geringen Rente leben müssen, während die Kinderarmen und die Kinderlosen wenig oder keinen Aufwand hatten und - weil die Ehepartner dann oft beide berufstätig waren - über einen höheren Lebensstandard verfügten und darüber 8 Schreiber, 96. 9 Schreiber, 98. 10 Nell-Breuning, Oswald von: Drei Generationen in Solidarität - Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan. In: Nell-Breuning, Oswald von - Fetsch, Comelius G. (Hrsg.): Drei Generationen in Solidarität. Rückbesinnung auf den echten Schreiber-Plan. Köln 1981, 27-42, 29.

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hinaus ihren Lebensabend auch noch mit zwei Renten verbringen können. Das ist die heutige Realität, denn der Schreiberplan wurde nur in bezug auf die ältere Generation verwirklicht. Erst ab 1986 werden Geburten auf das Rentenalter angerechnet 11 , zunächst ein, ab 1992 drei Jahre- ein richtiger Schritt, aber noch längst keine befriedigende Lösung, um Frauen, die ihre ganze Kraft ihren Kindem widmen, mit jenen in etwa gleich zu stellen, die ihre Altersversorgung über berufliche Tätigkeit aufbauen. Da aber Alterssicherung und Familienlastenausgleich nur zwei Seiten einer Münze sind, braucht man Lasten wegen unterschiedlich hoher Kinderzahlen nicht unbedingt über die Rentengesetzgebung auszugleichen. Ein entsprechender Ausgleich ist auch über andere Leistungen an Familien mit Kindem zu bewerkstelligen. Im folgenden sollen schwerpunktmäßig Kinderfreibeträge und Kindergeld als direkte Leistungen (III) und Ehegattensplitting, Erziehungsgeld und die Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf die Altersrente als indirekte Familienlastenausgleichsmaßnahmen (IV) behandelt werden. Bewußt ausgeklammert bleiben die staatlichen Leistungen für das Bildungssystem, die nicht unmittelbar der Familie zugute kommen, sondern eher den Kindern, und die daher den Familienetat nicht tangieren, auch wenn sie Leistungen im Rahmen der Generationensolidarität darstellen.

m. Kindergeld und Kinderfreibeträge Vielleicht ist der Schreiberplan in bezug auf Kinder und Jugendliche nicht weiter diskutiert worden, weil zum 1. Januar 1955 das Gesetz zur Neuordnung von Steuern vom 16. Dezember 1954 12 in Kraft trat, durch das die tariflichen Freibeträge in der Einkommensteuertabelle für das erste und zweite Kind vo_n 600 DM auf 720 DM und für das dritte und jedes weitere Kind von 840 DM auf 1680 DM erhöht wurden. Ebenfalls zum gleichen Datum erhielten Familienaufgrund des Kindergeldgesetzes vom 13. November 1954 13 ab dem dritten Kind ein (umlagefinanziertes) Kindergeld in Höhe von 25 DM, das ab 1. Oktober 1957 auf 30 DM erhöht wurde. 11 Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz vom 11.7.1985, Bundesgesetzblatt I, 1450. 12 Bundesgesetzblatt I, 373. 13 Bundesgesetzblatt I, 333.

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Diesen Gesetzen waren lebhafte Diskussionen vorausgegangen. Beispielhaft erwähnt werden sollen hier die "Leitsätze für familiengerechte Politik" der Evangelischen Aktionsgemeinschaft für Familienfragen vom 10. März 1954 14 , in denen gefordert wird, "der Staat möge nach Möglichkeit dazu beitragen, daß es zu einer echten Kaufkraftverlagerung zugunsten der kinderreichen Familie kommt". Begründet wird diese Forderung mit dem Tatbestand, "daß die Kinder als Leistungsträger von morgen die Garanten der Wirtschaft sowie der Sozialversicherung sind". Die "Behebung der sozialen Notlage der Familie" sei "in erster Linie auf dem Wege der Steuerpolitik anzustreben. Die Gewährung und Autbringung von Kinderbeihilfen in der zur Zeit erörterten Form und Höhe könnte nur ein geringfügiger Schritt zur Ordnung dieser anerkannten Aufgabe der Gesetzgebung sein." Diesen Forderungen und Wünschen waren die oben genannten Gesetze ein Stück entgegengekommen. Eine detaillierte Würdigung 15 macht aber deutlich, daß das Problem "Familienlastenausgleich" durch die Veränderungen im Steuersystem nicht gelöst wurde. "Eine wirkliche Lösung ist erst dann gegeben, wenn in jeder Einkommenstufe einerseits der wirtschaftliche Vorsprung der Unverheirateten, der Kinderlosen und der Kinderarmen und andererseits die Mehrbelastung der Familien mit drei und mehr Kindem weitgehend ausgeglichen und damit in ihrer sozialschädlichen Wirkung aufgehoben werden. Das bedingt, daß die Einkommensteuertarife nach familiengerechten Grundsätzen umgebaut werden müssen .... Daneben wird für kleine Lohn- und Gehaltsempfänger sowie für Familien mit großer Kinderzahl auf die zusätzliche Gewährung von Kindergeld nicht verzichtet werden können. Beide Maßnahmen sind so miteinander zu verbinden und abzustimmen, daß ein echter Ausgleich erreicht wird. "16 In diese Richtung gingen die Anpassungsversuche bis zum Jahr 1974. 1958 wurde der Kinderfreibetrag als Abzug von der Steuerbemessungsgrundlage eingeführt: 900 DM (ab 1962: 1200 DM) für das erste, 1680 DM für das 14 Abgedruckt in Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 1 (1954) 9-10, die folgenden Zitate, 9. Zu nennen wären für die damalige Diskussion der Bericht des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen zur Organischen Steuerreform, Bonn 1953, sowie die Diskussionsbeiträge des Arbeitsausschusses für die große Steuerreform, hrsg. v. Hessischen Finanzminister Heinrich Troeger, Stuttgart 1954. 15 Paulik, Heinz: Betrachtungen zum Kindergeldgesetz vom 13. 11. 1954 (BGBI I S. 333). Insbesondere: der Sachzusammenhang zwischen Kindergeldgesetz und Einkommensteuerrechtsreform, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2 ( 1955) 87-91. 16 Paulik, 91.

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zweite und 1800 DM für jedes weitere Kind - Sätze, die bis Dezember 1974 konstant blieben. Das Kindergeld stieg und betrug zuletzt in der Zeit vom 1. September 1970 bis zum 31. Dezember 1974: 25 DM für das zweite Kind 17 , 60 DM für das dritte und vierte und 70 DM für das fünfte und jedes weitere. Zum 1. Januar 1975 wurden von der sozialliberalen Koalition die Kinderfreibeträge abgeschafft. Dafür wurde das Kindergeld erhöht und auf alle Kinder ausgeweitet: 50 DM für das erste, 70 DM für das zweite (ab 1978: 80 DM, ab Juli 1979: 100 DM und ab Februar 1981: 120 DM) und 120 DM für alle weiteren Kinder (ab 1978: 150 DM, ab 1979: 200 DM und ab Februar 1981: 240 DM). Begründet wurde diese Neuregelung mit ungerechtfertigten Vorteilen von Eltern mit höheren Einkommen durch Freibeträge. Verfassungsbeschwerden gegen diese Regelung, die den Unterhalt für die Kinder nicht im Einkommensrecht berücksichtigte, hatten keinen Erfolg 18. Das bedeutete einen totalen SystemwechseL In seinem Aufsatz "Kritik der Pläne zur Beseitigung der Kinderfreibeträge des Einkommensteuerrechts" hatte der Diplom-Mathematiker Hans Laux den Gesetzgeber "vor einem unverzeihlichen Sündenfall" gewarnt 19 . Er weist den Einwand, staatliche Leistungen hätten bei den Familien wegen ihrer unterschiedlichen Einkünfte ungleiche Wirkungen und seien deshalb ungerecht, zurück, "weil er Steuerpflichtige mit unterschiedlich hohem Einkommen miteinander vergleicht" 20 . Schwerwiegender ist aber wohl die Tatsache, daß in dieser Argumentation über ungerechtfertigte Vorteile unterschiedliche Entlastungseffekte durch Steuerfreibeträge miteinander verglichen werden, dabei aber übersehen wird, daß es nicht um diesen Entlastungseffekt geht, sondern um die Belastung (in Höhe des Freibetrags), die Eltern mit (mehreren) Kindem gegenüber (kinderarmen bzw.) kinderlosen Familien oder Ledigen zu tragen haben. Erst nach Abzug dieser (an der untersten Grenze der tatsächlichen Kosten21 liegen17 Für das zweite Kind am 1. 4. 1961 eingeführt jedoch mit (im Laufe der Jahre steigenden) Einkommensgrenzen-anfangs 600 DM, zuletzt 1530 DM. 18 BVerfGE 43, 108 (120). Vgl. dazu Moderegger, Martin: Der verfassungsrechtliche Familienschutz und das System des Einkommenssteuerrechts. Baden-Baden 1991, 131. 19 Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 22 (1974) 10-12, 10. 20 Laux, 11. 21 Vgl. dazu den Beitrag von Heinz Lampert in diesem Band.

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den) Freibeträge läßt sich das verbleibende zu versteuernde Einkommen von Eltern mit (mehreren) Kindem in Relation zu dem Einkommen eines anderen Ehepaares setzen, das weniger oder keine Kinder hat. Kinderfreibeträge sind anders ausgedrückt keine "sozialpolitischen Maßnahmen" 22 sondern ein notwendiger und unverzichtbarer "Faktor der Leistungsfähigkeitsindikation"; auch sind sie keine "Steuervergünstigung", sondern umschreiben die Teile des Einkommens, die -weil von den Kindem verbraucht- nicht mehr für die Versteuerung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit zur Verfügung stehen. In der kritischen Diskussion über diese Regelung des Kinderlastenausgleichs wurde zu Recht darauf hingewiesen, daß sie Familien mit bis zu zwei Kindem günstiger stellte als größere Familien23 . Schwerwiegender aber - darauf wurde selten24 hingewiesen - erscheint die Tatsache, daß es die Aufgabe der Eltern ist, für ihre Kinder zu sorgen. Aufgabe des Staates ist, sie in dieser Aufgabe zu schützen und sie notfalls dabei subsidiär zu unterstützen. Im Steuerrecht bedeutet das die Verpflichtung, bei den Familien die jeweilige Kinderzahl zu berücksichtigen. In der ab 1975 geltenden Regelung aber wurden alle behandelt, als seien sie kinderlos und mit entsprechend hohen Steuern belegt. Dafür alimentierte der Staat - gleichsam wie ein gütiger Vater - alle Kinder und erhöhte diese Beträge je nach Finanzlage (unabhängig von der wirtschaftlichen und inflationären Entwicklung). In vielen Fällen wurde wie mit einem Taschenspielertrick den Eltern nun über die Steuer der Betrag abgenommen, der ihnen (mit entsprechendem bürokratischen Aufwand) über das Kindergeld wieder zufloß. Erst die "Regierung Kohl" führte 1982 den Kinderfreibetrag in Höhe von 432 DM wieder ein, kürzte25 dafür aber das Kindergeld für das zweite Kind

22 Lang, Joachim: Familienexistenzminimum und Steuerrecht, in: Recht der Jugend und des Bildungswesens 39 (1991) 395-407, 397. Lang unterscheidet zu Recht zwischen der "horizontalen Steuergerechtigkeit", gemessen an der steuerlichen Leistungsfähigkeit, nachdem vorher alle leistungsmindernden Tatbestände (hier: die Kosten für die Kinder) in Abzug gebracht wurden, und der "vertikalen Steuergerechtigkeit", durch die bestimmt wird, wie unterschiedlich hohe Einkommen nach der horizontalen Bereinigung gerecht zu versteuern sind. 23 Vgl. Laux, 12. 24 Lang, 399-400 verweist (mit Bezug auf Josef Isensee) auf das Subsidiaritätsprinzip, das das Eigenleistungsprinzip in den Vordergrund stellt und vom Staat zunächst verlangt, das Existenzminimum steuerfrei zu belassen; erst im zweiten Schritt ist, wo die eigenen Leistungen nicht ausreichen, staatliche Hilfe gefordert. 25 Zu weiteren Kürzungen vgl. Lampen, Heinz: Familienlastenausgleich. Leistungen, Defizite, Aufgaben. Köln 1990 (= Kirche und Gesellschaft 167), 10-11.

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von 120 DM auf 100 DM und für das dritte von 240 DM auf 220 DM. 1992 wurde das Kindergeld für das erste Kind von 50 DM auf 70 DM erhöht. Erst 1986 wurde der Freibetrag, an die Tradition vor 1975 anknüpfend, auf 2484 DM und 1990 auf 3024 DM erhöht. Für jene, die diese Freibeträge nicht oder nur teilweise nutzen können, werden ab 1986 Zuschläge zum Kindergeld bis zur Höhe von 552 DM (ab 1990: 576 DM) gezahlt. Aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 199026 wurde der Freibetrag 1992 noch einmal auf nunmehr 4104 DM angehoben. Das Gericht hatte in seinem 2. Leitsatz festgestellt, daß "bei der Einkommensbesteuerung .. ein Betrag in der Höhe des Existenzminimums der Familie steuerfrei bleiben (muß); nur das darüber hinausgehende Einkommen" dürfe der Besteuerung unterworfen werden. Mit den Kinderfreibeträgen und dem Kindergeld wird damit der Tatsache Rechnung getragen, daß die steuerliche Leistungsfähigkeit durch Kinder gemindert und die Besteuerungsgrundlage durch den Abzug des Unterhaltsaufwands für die Kinder von deren Zahl unabhängig wird. IV. Indirekter Familienlastenausgleich Unter indirektem Familienlastenausgleich werden hier das Ehegattensplitting und das Erziehungsgeld sowie die Anrechnung von Kindem auf die Altersrente verstanden. Indirekt sind diese Förderungsmaßnahmen, da sie nicht unmittelbar der Familie zukommen, sondern zum einen der Ehe, in der ein Partner die Berufstätigkeit zugunsten der Familie einschränkt, und zum anderen der Versorgung besonders der Frau im Alter. (1) Das Ehegattensplitting wurde 1958 eingeführt. Es geht davon aus, daß die Ehe eine Erwerbsgemeinschaft ist und deshalb das von den Ehepartnern gemeinsam erzielte Einkommen beiden je zur Hälfte angerechnet wird. Es hat deshalb zunächst nichts mit der Familie zu tun. Die Kritik am Ehegattensplitting, es würde kinderarme und vor allem kinderlose Ehen begünstigen, ist so gesehen völlig unberechtigt. Ehegattensplitting ist keine sozialpolitisch begründete Maßnahme des Familienlastenausgleichs, sondern ist "eine an dem

26 BVerfGE 82, 60

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Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare (Art. 3 Abs. 1 GG) orientierte sachgerechte Besteuerung" 27 . Der Bezug zur Familie ist natürlich mittelbar vorhanden, denn dieses Verfahren eröffnet Eheleuten die Möglichkeit, häusliche und außerhäusliche Arbeit so zu verteilen, wie es ihren Vorstellungen zum Besten von Ehe und Familie entspricht. In der Regel arbeiten beide Ehepartner nämlich auch nach der Eheschließung in ihrem jeweiligen Beruf weiter. Der sogenannte Splittingvorteil ist dann gering und tendiert zu Null, wenn beide Partner gleich viel verdienen. Erst wenn der Kinder wegen ein Partner - meist die Frau ihren Beruf aufgeben muß, wird ein Teil des Lohnausfalls durch das Splittingverfahren ausgeglichen, ein anderer durch das am 1. Januar 1986 eingeführte Erziehungsgeld, das während der ersten zwei bis drei Jahre gewährt wird. Jede Veränderung des Splittingtarifs - diskutiert wird die Verkürzung des Anrechnungsfaktors des Ehepartners von 1 auf 0, 7 - würde deshalb die Mütter mit mehreren Kindem treffen, besonders jene, die auch nach den ersten Lebensjahren ihrer Kinder nicht wieder berufstätig werden wollen und sich ganz ihrer Familie (und oft auch der Betreuung von Enkelkindern, Eltern und Schwiegereltern) widmen wollen oder die dann keine Chance mehr haben, in ihren Beruf zurückzukehren. Es träfe aber auch jene, die nach der Kinderpause diesen Sprung wieder schaffen, dann aber wegen der raschen Entwicklung des beruflichen Wissens, nicht mehr die Stellung erreichen, die ohne Kinderpause möglich gewesen wäre. Diesen Nachteil würde ein verkürztes Splitting nicht mehr ausgleichen. Auch wenn die über die Kürzung des Splittingfaktors erhöhten Steuereinnahmen familienpolitischen Maßnahmen (erhöhtes Kindergeld, Erziehungsgeld) zuflössen, wären die Mütter die Leidtragenden, denn verheiratete Frauen mit einer durchgängigen Karriere und damit mit einem dem Mann nahekommenden Lohn oder Gehalt wären kaum betroffen und Selbständige könnten auf andere Weisen der Splittingverkürzung aus dem Wege gehen. Das heißt aber mit anderen Worten, daß von einer solchen Kürzung die Kinderlosen am wenigsten betroffen würden. Vergleicht man in dieser Diskussion die Aussagen der Familienrechtier in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit denen der Sozialpolitiker, die dem Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen28 27 BVerfGE 61, 319 (347). 28 Vgl. dazu die Leitsätze und Empfehlungen zur Familienpolitik im vereinigten Deutschland: Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für

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angehören, dann wird deutlich, daß nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung "das Ehegattensplitting keine beliebig veränderbare Steuer-'Vergünstigung'(ist), sondern - unbeschadet der näheren Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers - eine an dem Schutzgebot des Artikels 6 Abs. 1 GG und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Ehepaare (Artikel 3 Abs. 1 GG) orientierte Besteuerung" 29 . Nach diesem Urteil vom 3. November 1982 hilft das Splittingverfahren, drei Nachteile auszuschließen: die zu hohe Besteuerung bei Zusammenveranlagung von Ehen, in der beide Partner berufstä_tig sind, die "Benachteiligung der Hausfrauen- oder Hausmannehe" bei getrennter Veranlagung und schließlich die Benachteiligung von Eheleuten "mit mittleren und kleineren Einkommen in der Progressionszone . . . gegenüber Eheleuten mit hohen Einkommen" 30 . Wichtiger erscheint aber eine andere Aussage dieses Urteils: "Das Splittingverfahren entspricht dem Grundsatz der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit. Es geht davon aus, daß zusammenlebende Eheleute eine Gemeinschaft des Erwerbs und Verbrauchs bilden, in der ein Ehegatte an den Einkünften und Lasten des anderen wirtschaftlich zur Hälfte (eigene Hervorhebung d. Verf.) teilhat. ... Damit knüpft das Splitting an die wirtschaftliche Realität der intakten Durchschnittsehe an, in der ein Transfer steuerlicher Leistungsfähigkeit stattfindet. . . . Diese Ehegattenbesteuerung steht auch im Einklang mit den Grundwertungen des Familienrechts. Die Institute des Zugewinnausgleichs und neuerdings des Versorgungsausgleichs lassen den Grundsatz erkennen, daß das während der Ehe Erworbene gemeinschaftlich erwirtschaftet ist" 3 1. Schließlich ist für das Gericht das Splitting "eine besondere Anerkennung der Aufgabe der Ehefrau als Mutter" und damit "auch Ausdruck der Gleichwertigkeit (eigene Hervorhebung d. Verf.) der Arbeit von Mann und Frau, ohne Berücksichtigung, ob es sich um Haus- oder Berufsarbeit handelt" 32 . Wenn hier von Gleichwertigkeit der in der Ehe geleisteten Arbeit gesprochen wird, deren Ergebnis beiden Partnern zur Hälfte zuzurechnen ist, wenn in diesem Urteil zudem (zu Recht) kein Bezug auf die Kinderzahl genommen Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Stuttgart, Berlin, Köln 1991 (= Schriftenreihe des Bundesministers für Familie und Senioren 1), insbesondere 45-51. 29 BVerfGE 61, 319 (347). 30 Ebd. 31 Ebd., 345-346. 32 Ebd., 346.

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ist, wohl aber auf den Zugewinn- und den Versorgungsausgleich, dann fällt es schwer, sich eine Splittingregelung vorzustellen, die der Frau einen Faktor zuweist, der kleiner als 1 ist. Die dem Gesetzgeber zugestandene "Gestaltungsfreiheit" endet dann dort, wo die genannten Grundsätze nicht mehr gewahrt sind. Ebenso unvorstellbar ist die "Anbindung des Splitting-Divisors an die Existenz und Anzahl von Kindern" zum "Einstieg in ein erweitertes Familiensplittingsystem "33 , da es im Ehegattensplitting um die Besteuerung des gemeinsamen Arbeitseinkommens - erzielt aus Erwerbsund/oder Hausarbeit - geht, an deren Zustandekommen Kinder nicht beteiligt sind, und nicht um den Verbrauch dieses Einkommens durch die gesamte Familie. So gesehen sind die Argumente der Sozialpolitiker34 gut gemeint, sie stehen aber gegen die Entscheidungen des Verfassungsgericht. Daß in der politischen Diskussion noch einmal anders gedacht wird, wird deutlich in der Forderung der SPD, die "Kindergeld, Kinderfreibetrag bei der Steuer und einen Teil des Ehegattensplittings zusammenfassen und damit das Kindergeld vom ersten Kind an auf 250 DM pro Monat erhöhen" will 35 . (2) Eine indirekte Familienlastenausgleichsmaßnahme ist die Anrechnung der Kindererziehungszeiten auf die Altersrente. Bis 1986 war das Rentenrecht davon ausgegangen, daß der Mann mit seinem Verdienst die Familie ernährt und die Frau sich um den Haushalt kümmert. Nach dem Tode des Mannes erhielt deshalb nur die Frau eine Witwenrente. Die wachsende Berufstätigkeit von Frauen und der Gleichheitsgrundsatz von Mann und Frau führte ab 1986 endgültig zur Einführung der Witwerrente36 . Die damit eingetretene Ungerechtigkeit gegenüber den Frauen, die um ihrer Familie und ihrer Kinder willen keine oder keine ausreichende eigene Rentenanwartschaft aufbauen konnten, wurde mit Anrechnung von Zeiten für die Kindererziehung zu vermindern gesucht, die wie Beitragszeiten gerechnet werden. Die Anrechnung von einem Jahr (und für Geburten ab 1992 von drei Jahren) sind aber nur für jene Mütter ein adäquater Ausgleich, die nach diesen Zeiten wieder voll in 33 Leitsätze, 45. 34 Vgl. Lampert, 14-15 und viele andere. 35 Aus der Haushaltsrede von Ingrid Matthäus-Maier am 8.9.1992, in: Das Parlament 42 (1992, 39/40) 3-4, 4. 36 1975 hatte das Bundesverfassungsgericht die Regelung noch als verfassungsgemäß angesehen, daß Witwer nur dann eine Rente erhalten, wenn die verstorbene Ehefrau tatsächlich wesentlich zum Unterhalt des überlebenden Ehegatten beigetragen hat, aber gleichzeitig den Gesetzgeber beauftragt, diesen Tatbestand neu zu ordnen. Vgl. BVerGE 39, 169. 10 FS Rauscher

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ihre frühere Berufstätigkeit eintreten können. Mütter, die sich länger ihrer Familie widmen, werden also noch immer benachteiligt. Sie ziehen Kinder groß, die später die höheren Renten derer bezahlen, die der Belastung durch Kinder aus dem Wege gegangen sind. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. April 1992 hat das zwar anerkannt, aber den Gesetzgeber zu keinen rückwirkenden Maßnahmen verpflichtet.

V. Fazit (1) Der Familienlastenausgleich muß den Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität genügen.

(a) Da alle im Alter auf die Leistungen der nachwachsenden Generation angewiesen sind, müssen alle solidarisch an den Lasten für diese Generation beteiligt sein. Nur die Vorteile im Alter genießen und nicht die Lasten mittragen zu wollen, ist unsolidarisch. (b) Der Subsidiarität entspricht es, daß die Eltern die Erstverantwortlichen für ihre Kinder sind. Aufgabe des Staates ist es aber, durch entsprechende Ordnungen die Lasten der Eltern für ihre Kinder abzufedern, daß deren Lebensstandard mit jenen ohne Kinder (und der mit vielen gegenüber jenen mit wenig Kindern) in etwa vergleichbar wird, und zwar nicht nur während der Zeit, in der die Kinder von den Eltern unterhalten werden, sondern auch im Alter. (2) Im einzelnen sind deshalb politische Maßnahmen erforderlich zum Ausgleich der Kosten für die Kinder (Steuerfreibeträge und Kindergeld), Maßnahmen zum Lohnausgleich für die Frauen, die sich ihrer Familie und ihren Kindem widmen (Erziehungsgeld und evtl. Pflegegeld) und schließlich Maßnah~en zum Ausgleich für fehlende Beitragszeiten in der Rentenversicherung (Babyjahre). (3) In bezugauf den Ausgleich für die Kosten für die Kinder genießen nach dem Subsidiaritätsprinzip jene Maßnahmen den Vorzug, die bei den Eltern die Teile des Einkommens unversteuert lassen, die - orientiert an den soziokulturellen Mindestkosten - Kinder zum Leben brauchen (das heißt Steuerfreibeträge und entsprechende Zuschläge für jene, die wegen eines geringen Einkommens ihre Freibeträge nicht ausschöpfen können) gegenüber jenen Maßnahmen, die allein auf die Alimentation der Kinder durch den Staat

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(Kindergeld) setzen. Neben dem schon in Ziffer (1 b) dazu Gesagten passen sich steuerrechtliche Lösungen dynamischer den jeweiligen Veränderungen in der Wirtschaft, insbesondere der Lohnentwicklung an, während Maßnahmen der Familiensozialpolitik stark von der Haushaltslage und von politischen Konstellationen abhängig sind und daher in der Regel durch ihr zeitliches Nachhinken Familien benachteiligen. (4) Steuerrechtliche Regelungen zum Ausgleich familiärer Lasten dürfen nicht von der Illusion ausgehen, als wären alle erwerbstätigen Bürger Singles mit der gedanklichen Folgerung, entsprechende steuermindernde Sachverhalte im Kontext der Familie seien staatliche Subventionen. Ein Steuersystem, das den Lebensstand und die Zahl der Kinder sowie die damit geminderte Leistungsfähigkeit nicht zur Kenntnis nimmt und folglich dem betroffenen Personenkreis ungerechtfertigt hohe Steuern abnimmt, um sie ihm (vielleicht) über entsprechende Hilfen zurückzugeben, macht Ehen und Familien zu unmündigen Subventionsempfängern und zu lästigen Bittstellern. (5) Das in Ziffer (2) genannte Maßnahmenbündel zum Ausgleich für die Kosten der Kinder, den Lohnausfall während den Zeiten der Betreuung von Familie und Kindem und schließlich zum Aufbau einer ausreichenden Altersversorgung der Mütter sollte zwar als Einheit gesehen, aber in der Praxis nicht miteinander vermengt werden. Kosten für die Kinder sind von deren Zahl abhängig und nicht davon, ob ihre Eltern ledig, verheiratet oder geschieden sind; das Ehegattensplitting beruht auf der Einheit der Ehe (nicht auf der Frage, ob und wieviele Kinder ein Ehepaar hat) sowie auf der von den Eheleuten frei und ohne staatliche Vorgaben zu treffenden Entscheidung, in welcher Weise beide Partner Familienund Berufsarbeit untereinander aufteilen wollen. Die Förderung einer eigenständigen Alterssicherung schließlich knüpft an die Leistungen der Mütter zur Sicherung der kollektiven Alterssicherung aller Bürger an. Eine Vermengung dieser drei Bereiche (z.B. das immer wieder diskutierte Familiensplitting) würde das System des Familienlastenausgleichs völlig unüberschaubar machen. (6) Der Familienlastenausgleich muß stetig und für die Familien verläßlich sein. Mit der Entscheidung für ein Kind übernehmen Eltern Lasten für die Dauer von 15-25 Jahren. Deshalb dürfen Regelungen über einen angemessenen Lastenausgleich durch die staatliche Gemeinschaft als Grundlage, von der her sich Eltern für Kinder entscheiden, nicht in jeder Regierungsperiode in ih-

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ren Gewichtungen verändert oder gar verkürzt werden. Unter dieser Rücksicht gilt auch das unter Ziffer (4) Gesagte, da Gelder, die aufgrund eines ehe- und familiengerechten Steuersystems erst gar nicht erhoben werden, sondern gleich auf dem Familienkonto bleiben, weniger in Gefahr sind, für andere Zwecke verwandt zu werden als jene, die über Steuern erhoben werden und erst über sozialpolitische Entscheidungen den Familien zufließen. Die im einzelnen vom Staat geleisteten Hilfen müssen den vielfältigen Problemfeldern von Familien gerecht werden, sollten aber so geregelt sein, daß sie nicht zu Verhaltensweisen zwingen, die ohne finanzielle Gründe von Familien und deren Mitgliedern nicht gewählt würden (Zwang zur Erwerbstätigkeit beider Partner, Abstände der Geburten ihrer Kinder). (7) In wirtschaftlich schwierigen Zeiten wird immer wieder gefordert, daß auch die Leistungen für Familien wie alle anderen Leistungen der Sozialpolitik auf den Prüfstand müßten. Eine solche Überprüfung kann aber wohl nur zu dem Ergebnis kommen, daß Familientrotz aller guten Ansätze gegenüber Kinderlosen benachteiligt werden. Folglich müssen die Leistungen für die Familien weiter erhöht und dynamisch an die wirtschaftliche Entwicklung angepaßt werden.

111. Subsidiarität als Ordnungsprinzip

Zur Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für die verfassungsrechtliche Ordnung Von Franz Knöpfte I. Einleitung

"Sich ganz auszuwirken, mit den Kräften des Verstandes und der Seele, mit seiner ganzen Persönlichkeit schöpferisch tätig sein zu können, ist der schönste Inhalt menschlichen Lebens." Diese bekennende wie programmatische Aussage Konrad Adenauers 1 konturiert auch Anion Rauscher- gleichermaßen als Wissenschaftler und als Ordensmann - wie sein Werk, in dem die Homogenität zwischen seiner durch Forschung gewonnenen Einsicht und seiner Glaubensüberzeugung ihren Ausdruck findet. Sie schlägt weiter einen Grundakkord des Schaffens des Jubilars an, nämlich sein Bemühen, dem Individuum, das dem Zugriff übermächtiger staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte ausgesetzt ist, einen Freiraum eigenverantwortlicher Betätigung und Entfaltung zu sichern. Eine solche Zielsetzung wird schon erkennbar in dessen Münsteraner Dissertation aus dem Jahr 1958, die sich der Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips als eines gesellschaftlichen Ordnungsprinzips auch für die berufsständische Ordnung annimmt 2 . Den Forderungen, die dieser Grundsatz an die richtige Zuordnung von Staat, Gesellschaft, Verbänden und Individuum zueinander stellt, galt auch weiterhin sein wissenschaftliches Interesse3 . Das Suqsidiaritätsprinzip - jedoch nur als Leitlinie für die Zuweisung von öffentlichen Aufgaben und die Regelung von Zuständigkeiten im HandlungsI Nach seiner Wahl zum Oberbürgermeister der Stadt Köln im Jahr 1917; Craig, Gordon A.: Überdie Deutschen, München 1991,52. 2 Rauscher, Anton: Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung in "Quadragesima Anno" (= Rauscher, Subsidiaritätsprinzip), Münster 1958 (= Schriften für Christliche Sozialwissenschaften 6). 3 Rauscher, Anton: Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens ( = Rauscher, Personale Struktur), in: Bracher, Karl-Dietrich u.a.(Hrsg.): Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, 333 ff; s. auch die Veröffentlichung Rauscher, Personalität unten in Fn. 5.

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hereich des Staates und ihm zugeordneter anderer Träger hoheitlicher Gewalt unter Vernachlässigung weiterer ihm innewohnender Sinnelemente (Abschnitt II) bilde deshalb auch den Gegenstand dieses Beitrags. In dessen Mittelpunkt steht nicht seine Bedeutung als tragendes Strukturelement der katholischen Soziallehre, sondern die Frage, ob ihm - bis zu seiner Aufnahme in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG im Dezember 1992 - auch die Eigenschaft eines rechtlich verbindlichen Grundsatzes zukommt (Abschnitt III). Zunächst wird anband des Textes des Grundgesetzes und der bayerischen Verfassung geprüft, ob es im geschriebenen Recht statuiert war (Abschnitt III 1). Im Kern geht es indes darum, ob dieses Prinzip einen allgemeinen Rechtsgrundsatz oder Rechtssatz darstellt, der als solcher einer Positivierung nicht bedarf, um als Recht zu gelten (Abschnitt III 2). Den Abschluß bilden die Erörterung seiner nunmehrigen Verankerung im Grundgesetz als Handlungsmaxime für die Verwirklichung eines vereinten Europas (Abschnitt IV) und ein kurzer Ausblick (Abschnitt V). II. Das Subsidiaritätsprinzip als Leitlinie für die Zuweisung von Aufgaben und die Regelung von Zuständigkeiten Das Subsidiaritätsprinzip, dessen Bezeichnung auf Gustav Gundlach zurückgeht4, fand seine klassische Formulierung in der Sozialenzyklika "Quadragesima anno" des Papstes Pius XI. vom 15. Mai 1931, in Nr. 795 , die in ihm einen "obersten sozialphilosophischen Grundsatz" erblickt. Hiernach beruht die richtige Ordnung des Verhältnisses zwischen einzelnem, Ge4 Nell-Breuning, Oswald von: Stichwort "Subsidiaritätsprinzip", in: Staatslexikon, 7. Bd., 6. Aufl., 1962, 826 ff, 826; Rauscher, Personale Struktur 338; ders.: Stichwort "Subsidiarität", I. Sozialethik, in: Staatslexikon, 5. Bd., 7. Aufl., 1989, 386 f, 386. 5 Veröffentlicht im Original in: Acta Apostolicae Sedis 23 (1931) 177 ff, 203, n. 79. Eine Übersetzung ins Deutsche ist enthalten in: Gundlach, Gustav (Hrsg.): Die sozialen Rundschreiben Leos XIII. und Pius XI., 3. Aufl., Paderbom 1960, I 13, n. 79. Sie hat auszugsweise folgenden Wortlaut: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; ... Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen". Der Hl. Stuhl hat auch in späteren Äußerungen wiederholt auf diese Kernsätze Bezug genommen; hierzu s. Rauscher, Anton: Personalität. Solidarität. Subsidiarität (= Rauscher, Personalität), Köln 1975 (=Katholische Soziallehre in Text und Kommentar 1), 39.

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sellschaft und Staat auf dem christlichen Bild vorn Menschen (Gen 1,27). Anton Rauscher bemerkt zu ihm erläuternd, "daß der Ausgangspunkt des sozialen Lebens nur das geistig-sittlich freie Individuum sein kann, das als endliche Person wesenhaft sozial ist und durch Wertverwirklichung inmitten der Gesellschaft seine Ergänzung und Entfaltung zum immer größeren Ebenbilde Gottes sucht und findet. "6 Dies geschieht dadurch, daß der einzelne gemeinsam mit den anderen das Gemeinwohl, das auch eine sittliche Größe bildet, als wesentliches Ziel der Gesellschaft und als soziale Ordnung der Gerechtigkeit und Liebe verwirklicht. Da sich das Subsidiaritätsprinzip die Entfaltung der Eigenpersönlichkeit zum Ziel setzt, bildet es ein fundamentales Element zur "Sicherung der personalen und gesellschaftlichen Freiheit "7 . Angesichts der abstrakten Fassung des Prinzips als "durchgehendes Aufgaben- und Gestaltungsgesetz des gesellschaftlichen Lebens überhaupt" 8 ist es nicht verwunderlich, daß aus ihm verschiedene Sinnmomente entfaltet werden. So stellt Anton Rauscher heraus, es fordere "als Ordnungsprinzip unter verschiedenen Gemeinschaften" ... "eine Vielheit eigenständiger gesellschaftlicher Funktionsträger". Wäre der Staat das einzige Ordnungsgefüge des gesellschaftlichen Lebens und wären die kleineren Gemeinschaften nur dessen verlängerte Arme mit von ihm delegierten Rechten, so könnte es diese seine Funktion überhaupt nicht erfüllen9 . Theodor Adam Schrnitt 10 , der sich mit der Begründung und Verwirklichung dieses Prinzips befaßt, prüft, inwieweit es "Normen für einen föderativen Staatsaufbau geben kann". Obwohl er es als einen "naturrechtliche(n) Grundsatz der Gerneinschaftstätigkeit" erachtet, gelangt er nicht zu dem Ergebnis, daß es einen föderativen Staatsaufbau erfordere. Dabei stützt er sich auf die Auffassung Oswald von Nell-Breunings, der Föderalismus könne nicht "als staatsrechtliche Grundsatzforderung" aufgestellt werden, weil sich die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips "auch auf anderen verfassungs-und gesetzestechnischen Wegen bewerkstelligen" lasse. So könne "das Lebensrecht der kleineren Lebenskreise" auch in Einheitsstaaten "durch volle Entfaltung der gemeindlichen ... Selbstverwaltung und durch 6 Rauscher, Subsidiaritätsprinzip 41; s. hierzu auch Link, Ewald: Das Subsidiaritätsprinzip, Freiburg 1955, 69-70. 7 Rauscher, Personalität 47. 8 Zuck, Rüdiger: Subsidiaritätsprinzip und Grundgesetz, München 1968, 7, m. w. N. in Anm. 6. 9 Rauscher, Subsidiaritätsprinzip 111. 10 Schmitt, Theodor Adam: Das Subsidiaritätsprinzip. Ein Beitrag zur Problematik der Begründung und Verwirklichung, Würzburg 1979, 7, 79, 81-82.

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Ausbau einer echten leistungsgemeinschaftlichen (berufsständischen) Ordnung" gewährleistet werden 11 . Es sprengte den Rahmen dieser Abhandlung, aufalldie Ausformungen, die das Subsidiaritätsprinzip im Schrifttum erfahren hat 12 , einzugehen. Wenn im folgenden der Frage nachgegangen wird, ob ihm - über seinen Charakter als sozialphilosophischem Leitsatz für die richtige Ordnung des Verhältnisses des Einzelmenschen zu den ihn umgebenden Gemeinschaften und dieser zueinander hinaus - die Eigenschaft eines auch rechtlich verbindlichen Gebotes zukommt, dann sei diese Prüfung beschränkt auf die ihm innewohnenden Sinnelemente als einer Vorgabe für die Verteilung öffentlicher Aufgaben auf den Staat und unterstaatliche öffentlich-rechtliche und private Institutionen sowie für die strukturgerechte Zuweisung von Zuständigkeiten und Abgrenzung ihrer Kompetenzsphären. Mögliche andere Bezüge des Prinzips sollen hier außer Betracht bleiben.

111. Das Subsidiaritätsprinzip - ein Element der Rechtsordnung? Die einleitende Feststellung lsensees 13 in seiner geistesgeschichtlich wie rechtsdogmatisch gleichermaßen fundierten Monographie über das Subsidiaritätsprinzip aus dem Jahr 1968, dieses gehöre zu den "frag-würdigsten Gegenständen der heutigen Staatsrechtslehre", ist, was dessen rechtliche Geltung anlangt, auch heute noch nicht überholt. Hebt man auf die vorstehend bezeichnete, ihm innewohnende Sinnvariante der Zuweisung hoheitlicher Aufgaben und der Konstituierung und Abgrenzung ihrer Träger ab, so erweist sich das Staatsrecht als sedes materiae:

11 Nell-Breuning, Oswald von: Beitrag "Föderalismus", in: Nell-Breuning, Oswald von- Sacher, Hermann (Hrsg.): Zur christlichen Staatslehre, 2. Aufl., Freiburg 1957, 165 ff, 168. 12 Zu den verschiedenen Bedeutungen, die allein der Subsidiaritätsregelung in Art. 130 r Abs. 4 Satz I EWG-Vertrag (in der bis zur Ratifizierung des Vertrages über die Europäische Union vom 07.02.1992 geltenden Fassung) s. Kahl, Wolfgang: Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, Heidelberg 1993 ( = Augsburger Rechtsstudien 17), 27 ff. 13 Isensee, Josef: Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin 1968 (= Schriften zum öffentlichen Recht 80), Vorwort. S. auch Wolff, Hans J. - Bachof, Otto: Verwaltungsrecht 111 (= Wolff- Bachof, Verwaltungsrecht 111), 4. Auf!., München 1978, 195: "Die Auffassungen reichen von der Behauptung eines unmittelbar anwendbaren Verfassungsgrundsatzes über die Deutung als Rechtsgrundsatz oder jedenfalls als Auslegungsregel bis zur Vemeinung jeder verfassungsrechtlichen Bedeutung."

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I. Statuierung im geschriebenen Verfassungsrecht bis zum Gesetz zur Anderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992 (BGBll S. 2086)? In der bayerischen Verfassung 14 und im Grundgesetz - in letzterem jedoch nur bis zum lokrafttreten des vorbezeichneten Gesetzes zu seiner Änderung fehlt es an einer expliziten Normierung des Subsidiaritätsprinzips. Mochten die Verfassungen auch -ebenso wie einzelne Vorschriften des einfachgesetzlichen Rechts 15 - einige ihm inhaltlich gerecht werdende Regelungen enthalten haben16 , so war dieses Prinzip als solches doch nicht Bestandteil der Verfassungstexte geworden. Die Anwendung der "herkömmlichen Auslegungsregeln", die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten sind, 17 konnte zu keinem anderen Ergebnis führen, denn nach der vom ihm für richtig gehaltenen "objektiven Auslegungsmethode" ist bei der Interpretation einer Verfassungsnorm der in ihr zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Normgebers, wie er sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang ergibt, maßgeblich. 18 Der Entstehungsgeschichte hingegen kommt hiernach nur insofern Bedeutung für die Normauslegung zu, "als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können"19: - Bei der Beratung der bayerischen Verfassung wurde das Thema "Subsidiaritätsprinzip" nur ein einziges Mal im Verfassungsausschuß der 14 Sie sei paradigmatisch herangezogen als eine "vorkonstitutionelle" Verfassung, in der die Gemeinden als Elemente des Aufbaus eines demokratischen Staates von unten nach oben ausdrücklich aufgeführt sind (Art. 11 Abs. 4 BV). Zu diesem Begriffs. Hollerbach, Alexander: Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Friesenhahn, Ernst - Scheuner, Ulrich - List!, Joseph (Hrsg.): Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, Berlin 1974, 215 ff, 230 f, und zur Bedeutung der bayerischen Verfassung als einer "nachgrundgesetzlichen" insbesondere Bartlsperger, Richard: § 96. Das Verfassungsrecht der Länder in der gesamtstaatlichen Verfassungsordnung, in: Isensee, Josef - Kirchhof, Paul (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV., Heidelberg 1990, 457 ff, Rdnr. 5. 15 Vgl. z. B. Art. 89 Abs. 1 Nr. 3 BayGO, Art. 4 Abs. 1 LKrO, § 2 Abs. 1 BSHG u. a. 16 Vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 2 Satz 1, 28 Abs. 2 Satz 1, 30 und 79 Abs. 3 GG. 17 Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. Aufl., Heidelberg 1991, § 2, Rdnr. 59. Hesse bemerkt aber auch, daß die Beschränkung auf diese Regeln das Ziel der Verfassungsinterpretation verkenne und "daher die Aufgabe richtiger Interpretation nach festen Grundsätzen nur bedingt bewältigen" könne. 18 BVerfGE 1, 299 ff, LS 2 (312); 8, 274 ff (307); 10, 234 ff (244); 11, 126 ff (130 f), und die folgende ständige Rechtsprechung, so zuletzt BVerfGE 62, 1 ff (45). 19 BVerfGE 1, 299 ff, LS 2 (312).

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Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung von einem Abgeordneten der Christlich-Sozialen Union im Rahmen der Erörterung des jetzigen Artikels 11 und insbesondere des Absatzes 4 desselben, in dem vom Aufbau der Demokratie "von unten nach oben" die Rede ist, zur Sprache gebracht20 . Von den anderen Mitgliedern dieses Ausschusses wurde aber der Gedanke, es im Text der Verfassung niederzulegen, nicht aufgegriffen21 . -Ein Blick in die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes lehrt, daß das Subsidiaritätsprinzip im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee zwar diskutiert, jedoch, wie schon erwähnt, nicht in die Verfassung aufgenommen wurde22 , da es sich "wegen zahlreicher Formulierungsschwierigkeiten" 23 anscheinend als zu kompliziert erwiesen hatte, "das Prinzip zum Inhalt des positiven Rechts zu machen" 24 • Der Parlamentarische Rat hat, wie lsensee zutreffend bemerkt, "den Bereich gar nicht betreten ... , innerhalb dessen die Geltung des Subsidiaritätsprinzips in Frage stehen könnte" 25 . Während er hieraus jedoch den Schluß zieht, daß dieses Organ die Entscheidung über die Geltung dieses Grundsatzes "in bewußter Selbstbeschränkung offen halten wollte", dürfte angesichts des Fehlens entsprechender Anhaltspunkte hierfür in den Verfassungsmaterialien eher anzunehmen sein, daß es die verfassunggebenden Organe in der bayerischen Verfassung und im Grundgesetz seinerzeit nicht positiviert sehen wollte26 , und zwar weder in einer abstrakten Fassung, wie es sie in der Enzyklika "Quadragesimo anno" gefunden hat, noch in Gestalt der rechtlichen Verselbständigung einzelner Sinnelemente im Zusammenhang mit bestimmten Regelungsgegenständen.

20 Schwalber, Josef in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des VerfassungsAusschusses der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, Bd. I, 1. bis 12. Sitzung, 16. Juli 1946 bis 5. August 1946, 135. 21 Ebd., 133 ff. 22 Stober, Rolf: Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, 1. Aufl., Stuttgart, Berlin, Köln 1989, 288. 23 Hablitzel, Hans: Wirtschaftsverfassung und Grundgesetz, in: Bayerische Verwaltungsblätter 1981, 65 ff, und 100 ff, 74. 24 Münch, Ingo von: Staatliche Wirtschaftshilfe und Subsidiaritätsprinzip, in: Juristenzeitung 1960, 303 ff, 304. 25 Isensee, 145. 26 Anderer Ansicht Bernzen, Uwe: Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des deutschen Staatsrechts, Düsseldorf 1966, 75 ff.

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2. Das Subsidiaritätsprinzip - eine Norm des ungeschriebenen Rechts? Nach Meinung Anton Rauschers hat das Subsidiaritätsprinzip seit Ergehen der Enzyklika "Quadragesima anno" "das allgemeine wissenschaftliche Denken, in dem Maße es sich vom reinen Rechtspositivismus abkehrte, wieder befruchtet(e)" 27 . Es sei deshalb geprüft, ob es unabhängig von seiner möglichen Positivierung im Gesetzestext - jedenfalls in der Beschränkung auf seine oben in Abschnitt II herausgestellten Sinnelemente- als ungeschriebene Norm Eingang auch in die geltende Rechtsordnung gefunden hat. a) Arten ungeschriebener Rechtsnormen von Verfassungsrang So sehr heute ein breiter Konsens in Wissenschaft und Rechtsprechung darüber besteht, daß das in der Weimarer Zeit auf dem Gebiet des Staatsrechts vorherrschende positivistische Verständnis überwunden ist und daß dem geschriebenen Recht vorausliegende präpositive Rechtsprinzipien sogar den pouvoir constituant zu binden vermögen, so sehr gehen die Auffassungen über die Arten ungeschriebener Rechtsnormen von Verfassungsrang, über die Kriterien, anhand derer die Frage der Existenz derselben zu prüfen ist, und über die rechtlichen Wirkungen überpositiven Rechts auseinander: -Schon in den späten vierziger Jahren hat sich der Bayerische Verfassungsgerichtshof - in Abkehr von der positivistischen Lehre und Tradition zu einem Rechtsverständnis bekannt, nach dem die bayerische Verfassung von "dem positiven Recht vorausliegende(n) allen Menschen zustehende(n) natürliche(n) Rechte(n)", die "eine unübersteigbare Schranke" für die Staatsgewalt bilden, ausgeht28 . Die geistigen Grundlagen dieses nichtpositivistischen Verfassungsverständnisses, das auf der Annahme von menschlicher Setzung unabhängiger "Konstitutionsprinzipien des Rechts "29 basiert, wurden vor allem 27 Rauscher, Subsidiaritätsprinzip 10. 28 BayVerfGHE 2, 45 ff (47); 4, 51 ff, LS 2 (58 t). 29 Wintrich, Josef Marquard: Über Eigenart und Methode verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung, in: Verfassung und Verwaltung in Theorie und Wirklichkeit. Festschrift für Wilhelm Laforet, Bd. 3 der vom Institut für Staatslehre und Politik e. V. in Mainz hrsgg. Veröffentlichungen, München 1952, 227 ff, 232 und 235; s. hierzu auch ders.: Die Rechtsprechung des bayerischen Verfassungsgerichtshofs, in: Wandersleb, Hermann (Hrsg.): Recht. Staat. Wirtschaft, Bd. 4 der Schriftenreihe des Innenministers des Landes Nordrhein-Westfalen für Staatswissenschaftliche Fortbildung, Düsseldorf 1953, 139 ff, sowie ders.: Die Bedeutung der "Menschenwürde" für die Anwendung des Rechts, in: Bayerische Verwaltungsblätter 1957, 137 ff.

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von dem damaligen Generalsekretär des Gerichtshofs, dem späteren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Josef Marquard Wintrich (gestorben 1958), erarbeitet. - Das Bundesverfassungsgericht hat diese Sicht übernommen. Dementsprechend hat es eine Bindung der verfassunggebenden Gewalt "an die jedem geschriebenen Recht vorausliegenden überpositiven Rechtsgrundsätze" bejaht30 und unter Ablehnung "eine(s) Rückfall(s) in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus" angenommen, daß selbst eine Verfassungsnorm nichtig sein kann, "wenn sie grundlegende(n) Gerechtigkeitspostulate(n), die zu den Grundentscheidungen dieser Verfassung selbst gehören, in schlechthin unerträglichem Maße mißachtet". Nach seiner Ansicht ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein freiheitlich demokratischer Verfassunggeber diese Grenzen überschreitet, "freilich so gering, daß die theoretische Möglichkeit originärer 'verfassungswidriger Verfassungsnormen' einer praktischen Unmöglichkeit nahezu gleichkommt"3t. - Im Schrifttum hat sich der Klassifizierung ungeschriebener, aber der Rechtsordnung zuzurechnender Normen mit systematisierender Kraft vor allem Hans J. Wolff angenommen32 : Er verwirft die Unterscheidung von positiven und überpositiven Rechtsquellen, denn jede rechtliche Norm, die in Geltung stehe, gehöre dem Bereich des positiven Rechts an, auch wenn es sich bei ihr um ungeschriebenes, insbesondere vorstaatliches Recht handle. Die "Fundamentalnormen allgemeinen Charakters" 33 gliedert er in "Rechtsgrundsätze" und "verfassungsgestaltende Grundentscheidungen": --Erstere ergeben sich "aus der Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit", sind "wegen ihres allgemeinen Charakters mit objektiver ErkenntnisDer Bayerische Landtag ist diesem Rechtsverständnis entschieden entgegengetreten. S. hierzu Knöpfte, Pranz: Verfassungsgerichtsbarkeit in Bayern, in: Bayerische Ve!Waltungsblätter 1984,257 ffund 296 ff, 261. 30 BVerfGE I, 14 ff, LS 21 a (61); s. auch LS 27. 31 BVerfGE 3, 225 ff, LS 2 (232 0. Auf diese Entscheidung und die in der vorigen Pn. zitierte hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung BayVerfGHE II, 127 (133 0. zurückgegriffen. 32 Hierzu s. Wolff, Hans J. - Bachof, Otto: Ve!Waltungsrecht I(= Wolff- Bachof, Ve!Waltungsrecht 1}, 9. Auft., München 1974, 112 ff und 120 ff. 33 Ebd., 123. -Er spricht nicht von Rechtssätzen, sondern von "Rechtsquellen" und versteht hierunter "dasjenige ... ,woraus man das geltende Recht entnehmen kann" (113). Demgemäß rechnet er hierzu neben den ungeschriebenen auch die geschriebenen Rechtsquellen, so die Verfassungen, die formellen Gesetze, die Verordnungen und die Satzungen, 120 ff. und 140 f.

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gewißheit aus dem Rechtsprinzip ableitbar und können daher von keinem Rechtsgenossen ernsthaft angezweifelt werden". Er gliedert sie in "allgemeine" und "besondere" Rechtsgrundsätze34 . -- Bei den "verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen" handelt es sich hingegen um "Gestaltungsprinzipien des staatlichen Lebens, die Art und Form der konkreten staatlichen Existenz bestimmen", jedoch- im Unterschied zu den Rechtsgrundsätzen - "nicht so sehr rechtsethische als vielmehr politische Grundwertungen" enthalten. Da sie "wesentlich auf willensmäßiger Entscheidung beruhen, sind sie Ausdruck der jeweiligen Welt- und Lebensanschauungen, der sozialen Machtverhältnisse, der geschichtlichen Lebensform und des politischen Gestaltungswillens"35. b) Rechtliche Qualifikation des Subsidiaritätsprinzips Legt man der Beurteilung der Frage, ob dem ·Subsidiaritätsprinzip als einem sozialphilosophischen oder -ethischen Solleussatz auch die Eigenschaft einer ungeschriebenen Norm der Rechtsordnung zukommt, das vorstehende begriffliche System zugrunde, dann dürfte ihm die Qualität einer auch rechtlich verbindlichen Norm abzusprechen sein: -Auch bei Verwerfung eines Vorverständnisses, das jegliches materiale Sinn-a-priori des Rechts als unwissenschaftlich zurückweist, weil "absolute Werte" rational nicht faßbar seien, kann es kaum der Kategori~ aus sich selbst heraus geltender, ungeschriebener Rechtsnormen zugerechnet werden: Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat als dem positiven Recht vorausliegende Rechte die Würde der menschlichen Persönlichkeit, den Gleichheitssatz im Sinne materieller Gerechtigkeit mit dem in ihm enthaltenen Willkürverbot, 34 Ebd., 121. Jene "sind unmittelbar aus dem Rechtsprinzip ableitbar, da sie keine weiteren sozialen Gegebenheiten voraussetzen als die Existenz einer Vielheit von Menschen als Rechtsgenossen und den Bestand irgendeiner Rechtsordnung. Sie sind daher zugleich mit jeder Rechtsordnung als deren ethischer Mindestgehalt und normatives Fundament (Heller) gegeben." Die "besonderen" Rechtsgrundsätze hingegen "ergeben (sich) bei Anwendung des Gerechtigkeitsprinzips auf deutliche Interessenlagen innerhalb raum-zeitlich besonderer sozialer Lebensverhältnisse und Rechtsordnungen oder Rechtsordnungsteile. Sie sind keine unmittelbaren Ableitungen aus der Rechtsidee mehr, sondern setzen jene besonderen Lebensverhältnisse, zuweilen auch schon die Grundzüge der geltenden Rechtsordnung als Zwischenglieder voraus. Mit der Zahl der Zwischenglieder wird notwendig das Maß der Erkenntnisgewißheit geringer, der Bestand eines Rechtsgrundsatzes zweifelhafter." (121 f.). 35 Ebd., 123 f. Hierher rechnet erz. B. die Entscheidungen für einen Einheits- oder einen Bundesstaat, für ein parlamentarisches oder plebiszitäres System, für eine freiheitliche oder gelenkte Wirtschaft.

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die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Meinungs- und Rundfunkfreiheit und das Elternrecht, aber auch - als objektiven Rechtssatz - das Rechtsstaatsprinzip und den in ihm enthaltenen Grundsatz der Gewaltenteilung anerkannt36 • Das Subsidiaritätsprinzip hingegen als Direktive für die Verteilung zu erfüllender öffentlicher Aufgaben auf den Staat, unterstaatliche Verwaltungsträger und gesellschaftliche Institutionen und eine dieser Strukturierung entsprechende Gestaltung der Zuständigkeitsordnung berührt wohl nicht die Sphäre "oberster Gerechtigkeitswerte", dies jedenfalls so lange nicht, als seine Außerachtlassung der Würde der Persönlichkeit als einem Konstitutionsprinzip allen Rechts keinen Abbruch tut. Die Würde der Persönlichkeit wird aber in der bayerischen Verfassung durch ihren Art. 101 und im Grundgesetz durch seinen Art. 1 Abs. 1 sowie in beiden Verfassungen durch die Anerkennung und Statuierung benannter Grundrechte und die Zubilligung umfassenden Rechtsschutzes durch die Judikative bei deren Verletzung hinlänglich geschützt. Zur Verwerfung eines totalitären Regimes bedarf es eines Zurückgreifens auf ein staats- und gesellschaftsorganisatorisches Prinzip wie den Subsidiaritätsgrundsatz nicht; eine den nötigen Freiheitsraum des Bürgers, der Familie und gesellschaftlicher Zusammenschlüsse wahrende Gestaltung wird schon durch das Gebot der Achtung der Würde der Person, die auch die Zubilligung angemessener Entfaltungschancen für das Individuum in sich schließt, ausgeschlossen37 . Der Bayerische Verfassungsgerichtshof selbst hat erklärt, daß dieser Grundsatz als Maßstab für die Regelung des Verhältnisses zwischen Individuum und Staat nicht in der Verfassung enthalten seP 8 • - Dieselben Erwägungen führen auch dazu, dem Subsidaritätsprinzip die Qualität eines allgemeinen ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes abzusprechen, weil die von Wolff hierfür geforderten, oben aufgeführten Kriterien kaum er36 Vgl. die oben in Fn. 28 aufgeführten grundlegenden Entscheidungen sowie hinsichtlich der Fundstellen weiterer Entscheidungen Knöpfte, Franz, in: Nawiasky, Hans- Schweiger, Kar! - Knöpfte, Franz (Hrsg.): Die Verfassung des Freistaates Bayern, Lieferungen 1-7, München 1993, Vorbem. vor Art. 98-123, Rdnr. 12 f. 37 Zu der Funktion des Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 GG, dem einzelnen Bürger einen unantastbaren, der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogenen Bereich privater Lebensgestaltung zu sichern, s. die bei Leibholz, Gerhard - Rinck, Klaus - Hesselberger, Dieter: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 6. Auft., Köln 1989, Art. 2, Rdnrn. 36 - 38, aufgeführten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 38 BayVerfGHE 8, 1 ff (10). Das Gericht erblickt im Subsidiaritätsprinzip ein Regulativ nur für "die Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen Gemeinschaften". Zu der Frage, ob die bayerische Verfassung das Prinzip mit diesem Sinngehalt enthält, äußert es sich allerdings nicht.

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füllt sein dürften, denn für eine verfassungsmäßige Ordnung, die dem einzelnen und den gesellschaftlichen Kräften - unter dem Schutz umfassender Grundrechte - einen weiten Betätigungsspielraum offenhält, läßt sich kaum die These aufstellen, die Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit verlange "mit objektiver Erkenntnisgewißheit" beim Autbau des Staates die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, was von keinem Rechtsgenossen ernsthaft angezweifelt werden könne39 . Während Wolff selbst unter den "allgemeinen Rechtsgrundsätzen", die unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbar sind, auch das Subsidiaritätsprinzip anführt, allerdings nur "soweit es vom materiellen Rechtsstaatsprinzip gefordert wird "40 , verwirft Otto Bachof in der nach dem Tod von Wolff erschienenen 4. Auflage des Buches "Verwaltungsrecht III" die Auffassung, aus den im Grundgesetz enthaltenen partiellen Subsidiaritätsregelungen könne "auf eine allgemeine Geltung des Subsidiaritätsprinzips als Rechtsgrundsatz oder gar als Verfassungsrechtssatz geschlossen werden "41 . In der Tat bietet weder die Entstehungsgeschichte der bayerischen Verfassung noch die des Grundgesetzes einen Anhalt dafür, daß der jeweilige Verfassunggeber bei der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 11 Abs. 4 BV und in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 GG davon ausging, derartige Dezentralisationsnormen in Verwirklichung eines für ihn verbindlichen ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes erlassen zu müssen. - Das Subsidiaritätsprinzip dürfte auch kaum das weitere Kriterium für die Annahme eines ungeschriebenen Rechtsgrundsatzes erfüllen, nämlich die Möglichkeit der Ableitung situationsbezogener Rechtssätze im Wege seiner Konkretisierung. Selbst wenn man sich auf die beiden Inhaltselemente als Direktive für die Verteilung von Aufgaben und Zuständigkeiten beschränkt und dabei andere Sinnmomente des Prinzips, wie etwa die Zuordnung gesellschaftlicher Substrate zueinander und zum staatlichen Bereich - außer acht läßt, erweist es sich inhaltlich als zu unbestimmt, als daß sich im Einzelfall normative Sätze mit der zu fordernden Erkenntnisgewißheit und inhaltlichen Bestimmtheit ableiten lassen. Während beispielsweise im Einzelfall ohne unüberwindbare Schwierigkeiten ermittelt werden kann, ob eine Handlungsweise gegen den allgemeinen Rechtsgrundsatz von Treu und 39 Zutreffend Schrnidt-Jortzig, Edzard: Kommunale Organisationshoheit, Göttingen 1979 (= Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien 102), 103-104. 40 Wolff- Bachof, Verwaltungsrecht I 122. 41 Wolff- Bachof, Verwaltungsrecht III 195. II FS Rauscher

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Glauben verstößt, läßt sich, auch "unter Zuhilfenahme weiterer Prämissen und spezifisch juristischer Argumentation "42 , im Wege einer hinlänglich sicheren rechtsschöpferischen Ableitung aus ihm beispielsweise kaum bestimmen, ob und inwieweit der Staat selbst Krankenhäuser betreiben darf, ob kommunale Kliniken unter dem Aspekt der Subsidiarität wie staatliche oder private zu behandeln sind, ob und inwieweit der Staat gehalten ist, von ihm selbst nicht betriebene Krankenhäuser zu subventionieren, um sie lebensfähig zu erhalten, oder ob staatliche Einrichtungen der Daseinsvorsorge unterstaatlichen Trägern zu überlassen sind, wenn diese willens und in der Lage sind, sie weiterzuführen. Schließlich würde das Subsidiaritätsprinzip als zu konkretisierender ungeschriebener Rechtsgrundsatz Fragen aufwerfen wie die, ob der Staat darauf hinwirken muß, daß sich im gesellschaftlichen Bereich Gemeinschaften bilden, die als "untergeordnete Gemeinwesen" mit für sie erfüllbaren Aufgaben zu betrauen sind. Eine derartige inhaltliche Unbestimmtheit, die eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten als zulässig erscheinen läßt, wenn diese nur zielgerichtet sind, mag bei außerrechtlichen programmatischen Aussagen unschädlich sein, schließt jedoch die Annahme eines Rechtssatzes mit einem "vollnormativen Charakter" 43 aus. - Das Subsidiaritätsprinzip ist aber auch nicht ein "besonderer Rechtsgrundsatz" im Sinne Wolffs 44 , weil es weder für eine einzelne bestimmte Interessenlage innerhalb besonderer sozialer Lebensverhältnisse noch für einen abgegrenzten Teil der Rechtsordnung, etwa für das Familien- oder das Verwaltungsrecht45, Geltung beansprucht, sondern universell als aufbauorganisatorische Regel. Als solche bildet es jedoch auch keine "verfassunggestaltende Grundentscheidung", da es an einem eindeutigen Votum des Staatsträgers für sie als durchgängiges Gestaltungsprinzip des staatlichen Lebens offensicht42 Wolff- Bachof, Verwaltungsrecht I 122. 43 Übereinstimmend Isensee, 313, der dem Subsidiaritätsprinzip "in seiner allgemeinsten

Form als Prinzip diesen Charakter abspricht und betont, daß es sich auf seiner höchsten Abstraktionsstufe nicht zum Obersatz eines rechtlichen Subsumtionsschlusses eigne und rechtstechnisch nicht "vollziehbar" sei. Die "vermittelnden Konkretisierungen", deren es bedürfe, seien die Grundrechte. Er erblickt den Kern des Prinzips in der "Ordnungsentscheidung ... des Staates gegenüber den Grundrechtsträgem in ihrer Individualität wie in ihrer gesellschaftlichen Gesamtheit", fügt dem allerdings sogleich hinzu, daß "mit dieser These .. . die Lösung einzelner 'Kompetenzkonflikte' von Staat und Gesellschaft noch nicht erzielt, sondern nur die Richtung aufgewiesen (sei), in der die Lösung zu suchen ist"; 318. 44 Hierzu s. oben Fn. 34. 45 Als "besondere Rechtsgrundsätze" erachtet Wolff- Bachof, Verwaltungsrecht I 122, etwa die Rechtsgrundsätze des deutschen Verwaltungsrechts.

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lieh fehlt 46 . Daher bedarf es auch keines Eingehens mehr auf die Frage, ob dieses Prinzip mehr ein rechtsethisches oder mehr Ausdruck einer politischen Leitvorstellung ist. - Aus den vorstehend dargelegten Gründen wird man der Ansicht im Schrifttum zu folgen haben, die dem Subsidiaritätsprinzip rechtsnormative Qualität nicht zuspricht. So verneint beispielsweise Rupert Scholz47 seine Existenz als verfassungsrechtlicher "allgemeingültiger Vorrangentscheidung zugunsten einzelner gesellschaftlicher oder - gemessen am Staat - kleinerer Einheiten und ihrer Zuständigkeiten" mit der Begründung, es sei "mit einer offenen Gesellschaftsverfassung und dem klaren Bekenntnis des Grundgesetzes zur staatlichen Demokratie und ihren vorrangigen Zuständigkeiten" nicht vereinbar; einem Übermaß staatlicher Zuständigkeitsentfaltung und der ihr entsprechenden Freiheitsbeschränkung stehe allein das dem Rechtsstaatsprinzip immanente Übermaßverbot entgegen. Auch nach Auffassung namhafter Exponenten der katholischen Soziallehre ist der Subsidiaritätsgrundsatz trotz der wichtigen Funktion, die er nach ihr zu erfüllen hat, als sozialethisches Prinzip, nicht aber als Satz des geltenden Rechts zu verstehen. 48 -Von den Stimmen, die es demgegenüber als Norm des geltenden Rechts erachten, ist vor allem die von Isensee zu nennen: Er gelangt zu dem Ergebnis, daß es zwar kein "vollnormativer" Rechtssatz sei, der rechtstechnisch "vollziehbar" ist, da es "sich auf seiner höchsten Abstraktionsstufe nicht zum Obersatz eines rechtlichen Subsumtionsschlusses" eigne, daß es wohl aber "Bestandteil der objektiven Rechtsstaatlichkeit" sei und seine Konkretisierung in den Grundrechten gefunden habe. 49 In ähnlicher Weise sieht es auch Rüdiger Zuck50 als einen dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechenden und dem Art. 1 GG zugrundeliegenden Rechtssatz des Inhalts, daß der 46 Hienru s. Herzog, Roman: Stichwort "Subsidiaritätsprinzip", in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. II, 3. Aufl., 1987, 3564 ff, 3566 f, Abschnitt A. S. auch Krüger, Herbert: AUgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, 772 ff. 47 Scholz, Rupert: § 151. Koalitionsfreiheit, in: Isensee- Kirchhof, Bd. VI, 1989, 1115 ff, 1137-1138. Literaturangaben a.a.O. in Fn. 87 bis 89. 48 Nur als solchen - und nicht auch als rechtlichen - bezeichnet es beispielsweise Ne11Breuning, Subsidiaritätsprinzip 826 ff., 832, und ders.: Der Königswinterer Kreis und sein Anteil an "Quadragesimo anno", in: Broermann, Johannes - Herder-Domeich, Philipp (Hrsg.): Soziale Verantwortung. Festschrift für Goetz Briefs zum 80. Geburtstag, Berlin 1968, 571 ff., 582-583. 49 Isensee, 313-314. 50 Zuck, 124.

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Mensch vom Grundgesetz als "Person in der Gemeinschaft" gesehen wird. So habe der Subsidiaritätssatz "keine andere Funktion, als die ... Personhaftigkeit des Menschen und die vom GG getroffene Entscheidung für die Person rechtlich zu realisieren". Ernst Friesenhahn51 spricht von dem- von ihm "hier vorsichtig eingeführte(n), - nicht aus dem Naturrecht oder der katholischen Sozialethik . . . abgeleitete(n) - Subsidiaritätsgedanke(n)" als einem, freilich umstrittenen "Grundsatz des objektiven Verfassungsrechts" mit der Begründung, er ergebe sich "aus dem Wesen des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates" . IV. Die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG Das Subsidiaritätsprinzip hat nach seiner - vor allem dem Drängen der deutschen Länder zuzuschreibenden - Statuierung in Titel I Artikel B des Vertrages über die Europäische Union vom 07.02.1992 und in Art. 3 b Abs. 2 des EWG-Vertrages52 nunmehr als solches auch Eingang gefunden in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992 (BGBl I S. 2086), das nach seinem Art. 2 am 25.12.1992 in Kraft trat. Das Ziel seiner Aufnahme - wenn auch in abgeschwächter Fassung - in den Unionsvertrag53 , nämlich Zentralismus zu verhindern, die Identität der Regionen zu sichern und Bürgernähe der Entscheidungen zu bewirken54 , verfolgt auch der deutsche Verfassunggeber mit dem 51 Friesenhahn, Ernst: Kirchliche Wohlfahrtspflege unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Adamovich, Ludwig - Pemthaler, Peter (Hrsg.): Auf dem Weg zur Menschenwürde und Gerechtigkeit. Festschrift für Hans R. Klecatsky, Erster Teilband, Wien 1980, 247 ff, 253-254. Der von ihm entwickelte "verfassungsrechtliche Grundsatz" bildet für ihn die verfassungsrechtliche Basis für die Begründung eines grundsätzlichen Anspruchs der gesellschaftlichen Träger freier Wohlfahrtseinrichtungen auf finanzielle Förderung durch den Staat in dem Maß, in dem sie diesen "unter Einsatz eigener Mittel von 'öffentlichen' Aufgaben entlasten, die er sonst voll selbst erfüllen und finanzieren müßte". Auf ihn nimmt bei der Behandlung der "schwierige(n) Abgrenzungsprobleme zwischen staatlicher Vorsorge und Hilfeleistung einerseits und dem Anspruch der Kirchen und der übrigen Träger der freien Wohlfahrtsverbände andererseits" grundsätzlich zustimmend Bezug List!, Joseph: § 113. Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: List!, Joseph- Müller, Hubert- Schmitz, Heribert (Hrsg.): Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983, 1050 ff, 1068. 52 S. hierzu das Gesetz vom 28.12.1992 zum Vertrag über die Europäische Union vom 07.02.1992, BGBlll, 1251. 53 Auf seine Positivierung im Europarecht und die hieraus erwachsenden Probleme kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. hienu den Aufsatz von Herbert Buchner in diesem Band 54 So der Bundesrat in seiner Entschließung vom 18.12.1992 zum Ratifikationsgesetz zum Unionsvertrag, Abschnitt II, Nr. 3, 1. Absatz, BR-Drucks. 810/92 (Beschluß), 2.

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neuen "Europa-Artikel", der in seiner "Struktursicherungsklausel" den Verfassungsorganen der Bundesrepublik Deutschland gebietet, bei der weiteren Entwicklung der Europäischen Union darauf bedacht zu sein, daß diese auch "dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist" 55 . Die Materialien zu Art. 23 GG neuer Fassung rechtfertigen nicht den Schluß, daß die an dieser Rechtssetzung beteiligten vorberatenden und legislativen Gremien und Organe der Bundesrepublik Deutschland der Auffassung waren, das Subsidiaritätsprinzip sei als ein höchstrangiger ungeschriebener und sie deshalb per se bindender - Rechtsgrundsatz lediglich in geschriebenes Recht zu transferieren. Sie haben dazu vielmehr nur rechtspolitische Erwägungen eingebracht - dies in der Meinung, einer Herausforderung de lege ferenda mit einer neuen rechtlichen Gestaltung begegnen zu sollen. Die Aufnahme des Grundsatzes der Subsidiarität in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG geht zurück auf eine Empfehlung der nach Art. 5 des Einigungsvertrags vom 31.08.1990 (BGBl II S. 889) gebildeten Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat56 . Einer ihrer beiden Vorsitzenden, Rupert Scholz, konnte zu Recht konstatieren, das "Bekenntnis zum Subsidiaritätsprinzip" sei "dem Grundgesetz bisher nicht bekannt gewesen" 57 . Seine Statuierung in diesem löste, gleich der Formulierung, die es im Unionsvertrag gefunden hat58 , wegen seiner - schon oben in Abschnitt II angesprochenen - inhaltlichen Unbestimmtheit Bedenken darüber aus, ob es die

55 Zu den Zielen und zur Entstehungsgeschichte des neuen Art. 23 GG s. Scholz, Rupert: Grundgesetz und europäische Einigung, in: Neue Juristische Wochenzeitschrift 1992, 2593 ff. 56 S. die Begründung des Regierungsentwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes, BR-Drucks. 501192 vom 14.08.1992, die in ihrem Allgemeinen Teil Nr. 1, S. 4, auf die Empfehlungen dieser Kommission vom 26. Juni 1992 verweist. Deren Überlegungen zum Subsidiaritätsprinzip sind enthalten in dem - soweit ersichtlich unveröffentlichten - Bericht der Berichterstattergruppe "Grundgesetz und Europa" der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 18. II. 1992 zu ihren Empfehlungen vom 26.06.1992. 57 Scholz, 2599.

58 S. hierzu die Forderungen des Bundesrats, dessen Formulierung sei bei nächster Gelegenheit zu verbessern, in seiner Entschließung vom 18.12.1992, Abschnitt li, Nr. 3, 2. Absatz, BRDrucks. 810/92, 2, und Borchmann, Michael -Memminger, Gerd: Das Subsidiaritätsprinzip, in: Brokenhagen u.a. (Hrsg.): Die deutschen Länder in Europa, Baden-Baden 1992, 17 ff, 24, und Schink, Alexander: Die europäische Regionalisierung, in: Die Öffentliche Verwaltung 1992, 385 ff, 387. Kritisch zu den Auswirkungen der Aufgabenverteilung unter dem Aspekt des Subdidiaritätsgrundsatzes auch Stewing, Clemens: Das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzverteilungsregel im Europäischen Recht, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1992, 1516 ff, 1518.

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ihm zugedachte Funktion als "Instrument gegen überzeichnete Kompetenzanmaßungen"59 der Europäischen Union werde erfüllen können: Es kann zwar "als grundlegende Richtschnur für die europarechtliche Kompetenzsystematik" der "Gefahr einer unverhältnismäßigen Konzentration von Zuständigkeiten auf der supranationalen Zentralebene" entgegenwirken, stellt jedoch "nur sehr bedingt einen normativ praktikablen Maßstab für die Abgrenzung von jeweils 'größerer' und jeweils 'kleinerer Einheit' parat", weswegen es noch einer konkreten Kompetenzverteilung bedar:f60. Noch skeptischer äußert sich der Bundesrat zum normativen Gehalt des Prinzips allerdings nicht zu seiner Positivierung im Grundgesetz, sondern zu seiner Fassung in Art. 3 b Abs. 2 des EWG-Vertrags, der jedoch von dem genannten "Europa-Artikel" des Grundgesetzes vorausgesetzt wird -, wenn er erklärt, es sei davon auszugehen, "daß Subsidiarität nach der gegenwärtigen Vertragsdefinition zu einem ständigen Ringen in einem dynamischen Prozeß anband von konkreten Sachfragen führen wird "61 . Bemerkenswerterweise verläßt sich auch die "Struktursicherungsklausel" in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG nicht allein auf die normierende Kraft des Subsidiaritätsgrundsatzes, sondern statuiert daneben auch die Verpflichtung der Europäischen Union auf "föderative Grundsätze"62.

V. Ausblick Unbeschadet der Prognose des Bundesrats, daß es auch nach der Positivierung des Subsidiaritätsprinzips im Grundgesetz in konkreten Sachfragen "zu einem ständigen Ringen in einem dynamischen Prozeß" kommen wird, ist zu erwarten, daß dieses für den Bereich der Strukturierung der Europäischen Union seine Funktion als Direktive von verfassungsrechtlichem Rang, die von den Organen der Bundesrepublik bei ihrer Mitwirkung an dieser Aufgabe zu beachten ist, erfüllen kann. Jedoch bildet es auch insoweit, als es nunmehr zum Bestandteil des geschriebenen Rechts wurde, nur einen richtungsweisen-

59 So Borchmann- Memminger, 21.

60 So zutreffend Scholz, 2599. 61 S. seine Entschließung vom 18.12.1992, Abschnitt II 3, BR-Drucks. 810/92 (Beschluß), s. 4. 62 S. hierzu Scholz, 2599: Das Gebot einer föderativen Struktur der Union, das deren dreistufigen Aufbau impliziere, finde seine Grundlage in dieser Verfassungsdirektive.

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den Handlungsauftrag, der den verfassungsrechtlichen Programmsätzen und Staatszielbestimmungen gleichzustellen ist. Da dieser sozialethische Grundsatz - weit über den Regelungsgehalt von Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG hinaus - geeignet ist, zur Gestaltung einer Gesellschafts- und Rechtsordnung beizutragen, die durch ihre dezentralisierte Struktur dem einzelnen und den gesellschaftlichen Zusammenschlüssen ein Höchstmaß an Entfaltungsfreiheit gewährt, ist dem Anliegen Anton Rauschers, ihm als "regulative(m) Prinzip von grundsätzlicher Bedeutung" 63 zunehmend auch im Bereich des Rechts zum Durchbruch zu verhelfen, weiterhin Erfolg zu wünschen.

63 Als solches erachtet es Hollerbach, Alexander: Stichwort "Subsidiarität", II. Rechtliche Aspekte, in: Staatslexikon 7. Aufl., 1989, Bd. 5, 389 f, 389; auch er bezweifelt, ob ihm der "Rang eines im strikten Sinn normativen Verfassungsprinzips" zukommt. Nach Herzog, 3567, kann es als "Grundausrichtung für die Ausgestaltung des Gemeinwesens" verstanden werden.

Europas ungeklärte Ordnungsfragen Von Christian Watrin I. Westeuropäische Integration und die Probleme einer gesamteuropäischen Wirtschaftsordnung

Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa hat nicht nur das traditionelle Weltbild, die bipolare Sicht der Dinge, obsolet werden lassen, sondern gleichzeitig auch die ordnungspolitische Problemlage in Europa dramatisch verschoben. Die Europäische Gemeinschaft (EG), ein Geschöpf des Kalten Krieges, kann nicht länger als ausschließliche Repräsentantindessen gelten, was unter Buropa zu verstehen ist; denn die Länder Mittelund Osteuropas sind ihrem Selbstverständnis nach ebenso Erben der europäischen Kultur und Zivilisation wie die in Westeuropa lebenden Völker. Die Europäische Gemeinschaft, die schon während des Kalten Krieges nur einen Teil, wenn auch den größten, des damals freien Europas umfaßte, muß deswegen heute eher als Westeuropäische Gemeinschaft bezeichnet werden. Ihr steht jenseits der EFT A-Länder ein neues, von den drückenden Lasten der Diktatur hoffentlich auf Dauer befreites Osteuropa gegenüber. Die Frage, wie weit reicht Europa, stellt sich mithin erneut, und zwar sowohl in religiöser, kultureller, politischer, rechtlicher, geographischer als auch in wirtschaftspolitischer Sicht. Die Politik der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft orientiert sich jedoch vorerst nur unvollständig an der neuen Lage. Nach wie vor gilt die Mitte der achtziger Jahre getroffene Entscheidung, daß der Vertiefung der EG Vorrang vor ihrer Erweiterung gebühre. Vor diesem Hintergrund verblaßt die durch das annus mirabilis 1989 entstandene neue Frage, wie denn eine gesamteuropäische, also eine den Osten und den Westen Europas umfassende Wirtschaftsordnung zu gestalten sei. Ihr wird allenfalls nachgeordnete Bedeutung im Rahmen einer so genannten "Erweiterung" des westeuropäischen Handelsblocks eingeräumt.

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Ausdruck der Grundhaltung, daß die "Vertiefung" oder "Konsolidierung" der EG die vordringliche Aufgabe sei, ist der Vertrag von Maastricht. Er löst die bisherige EG - verstanden als Staatengemeinschaft - durch den "Vertrag über die Europäische Union" (EU) ab 1 . Diese Union, die im Maastrichter Vertragstext nicht genauer umschrieben wird, ist in ihrer letzten Ausbaustufe als ein europäischer Bundesstaat zu verstehen. Der Weg dorthin soll über die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) führen. Dabei kommt vor allem der Währungsvereinheitlichung eine entscheidende Rolle zu. Durch sie betritt erstmals eine echte supranationale Einrichtung die europäische Bühne, denn die Mitgliedstaaten werden, sofern sie an der Währungsunion teilnehmen, ihre nationale Souveränität in Geld- und Währungsfragen unkündbar auf das neu zu schaffende Europäische System der Zentralbanken (ESZB) übertragen. So gesehen gewinnt die heutige EG in ihrer Fortsetzung durch die künftige EU verfassungsrechtlich "staatsähnlichen Charakter" 2 . Sie kann nicht länger als ein "Zweckverband" mit begrenzter Ermächtigung nach dem Muster der bisherigen Europäischen Gemeinschaft und auch nicht mehr als eine "zwischenstaatliche" Einrichtung angesehen werden, sondern wird selbst ein staatsähnliches Gemeinwesen mit grundsätzlicher Allzuständigkeit3 . Diese Sicht der westeuropäischen Integration entspricht der Position jener, die in den Römischen Verträgen von 1957 nicht nur die Gründungsurkunden eines Gemeinsamen Marktes sehen, sondern die gleichzeitig argumentieren, daß die eigentliche Absicht des Vertragswerkes das Fortschreiten von der Marktintegration zur politischen Union Europas sei. Die programmatischen Aussagen hierzu hat jüngst Bundeskanzler Helmut Kohl formuliert: "In Maastricht haben wir den Grundstein für die Vollendung der Europäischen Union gelegt. Der Vertrag über die Europäische Union leitet eine neue, entscheidende Etappe des europäischen Einigungswerkes ein, die in wenigen Jah1 FonneU baut der neue Vertrag auf dem EWG-Vertrag von 1957 auf. Er definiertjedoch die Aufgaben der Gemeinschaft neu und wesentlich umfassender als der ursprungliehe Vertrag. Siehe: Läufer, Thomas: Europäische Gemeinschaft- Europäische Union. Die Vertragstexte von Maastricht, Bonn 1992, 17. 2 Rupp, Hans Heinrich: "Muß das Volk über den Vertrag von Maastricht entscheiden?", Neue Juristische Wochenschrift 111993, 39. - Ferner Müller, Lothar: Maastricht - der Grundstein zum europäischen Bundesstaat in: Deutsche Bundesbank, Auszüge. aus Presseartikeln Nr. 35, 1992, 5-7. - Tettinger, Peter J.: Weg frei für die Europäische Währungsunion?, in: Recht der Internationalen Wirtschaft, Beilage zu Heft 12, 1992, 10-11; Müller, Lothar: Gedanken zur politischen Verfassung Westeuropas, in: Wertpapiennitteilungen (erscheint in Kürze). 3 Rupp, 39.

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ren dazu führen wird, das zu schaffen, was die Gründungsväter des modernen Europanach dem letzten Krieg erträumt haben: Die Vereinigten Staaten von Europa" 4 . Ähnlich spricht die Europäische Volkspartei davon, daß die EG als "Bundesstaat" zu verfassen sei. Diese Position kann mit dem Hinweis untermauert werden, daß die EG in der Kette gescheiterter und erfolgreicher europäischer Einigungsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen sei. Der erste Schritt war Churchills Einigungsappell (1946); ihm folgten die auf den Europarat gesetzten, aber schließlich enttäuschten Hoffnungen (1949). Diese wiederum führten zu den Plänen, den Weg über die Wirtschaftsintegration einzuschlagen5 . Der erste Niederschlag war die Montanunion (1951). Durch das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im französischen Parlament (1954) erlebten die politischen Integrationsbemühungen einen Rückschlag. Vor allem die durch die Römischen Verträge (1957) begründete EG wurde dann von vielen als eine Art Umweg zur politischen Einigung Europas verstanden. Die mit dieser Auffassung konkurrierende Position der Maastricht-Kritiker lautet, daß der EG-Vertrag als völkerrechtlicher Vertrag seinem eindeutigen Wortsinne nach lediglich ein Abkommen über die Gründung einer Wirtschaftsgemeinschaft sei. Dies komme einmal darin zum Ausdruck, daß er sich strikt auf Fragen des zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehrs beziehe und anders als die ehemalige Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl keine nationalen Souveränitäten auf die EG-Kommission übertrage. Das entscheidende Organ sei deswegen trotz des Initiativrechtes der Kommission der europäische Ministerrat, der sich aus den Vertretern aller Mitgliedsländer zusammensetze. Die EG sei also eine Gemeinschaft souveräner Staaten, ein völkerrechtlicher Zusammenschluß oder um es in einer bekannten Formel auszudrücken: ein Markt und zwölf Nationen. Zu dieser Interpretation paßt, daß das Europäische Parlament keine echte parlamentarische Einrichtung mit Besteuerungs- und Gesetzgebungshoheit auf europäischer Ebene, sondern eine Vertretung der Mitgliedsländer - ähnlich einem Bundes-

4 Kohl, Helmut: Zielvorstellungen und Chancen für die Zukunft Europas. Rede des Bundeskanzlers vor dem Bertelsmann-Forum am 3.April 1992. 5 Zu Einzelheiten siehe Wildenmann, Rudolf: Einleitung zu dem Sammelband: Staatswerdung Europas?, in: ders. (Hrsg.): Staatswerdung Europas?, Baden-Baden 1991, 7-8 und Oppennann, Thomas: Europarecht, München 1991, 300-304.

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rat - ist6 • Der entscheidende Kritikpunkt aus dieser Sicht geht dahin, daß die politische Union im Sinne eines anzustrebenden europäischen Bundesstaates, wie ihn z.B. die Europäische Volkspartei fordert, derzeit nicht von den Völkern Europas gewollt und auch nicht in naher Zukunft zu verwirklichen sei. Dieser, die EG seit ihrer Gründung - und nicht erst seit den MaastrichterBeschlüssen - begleitende ordnungspolitische Gegensatz zwischen einem "Staat im Werden" und einer auf Handelsfreiheit ausgerichteten Gemeinschaft7 hat auch erhebliche Bedeutung für die neuen Probleme, die mit dem Verschwinden des Eisernen Vorhanges von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer entstanden sind. Wer die politische Union im Sinne eines mehr oder minder zentralisierten Bundesstaates als Endziel anvisiert, wird die Wirtschaftsbeziehungen zu anderen europäischen Ländern vor allem unter dem Gesichtspunkt sehen, wie sie den politischen Zusammenhalt und Ausbau der heutigen Zwölfer-Gemeinschaft beeinflussen. Der Beitritt zu einem bundesstaatlich verfaßten Gemeinwesen aber wirft gleichzeitig wesentlich mehr Probleme auf als der Eintritt in eine auf freiem Handel und Freizügigkeit der Menschen und des Kapitals beruhenden Wirtschaftsgemeinschaft. Dies verdeutlicht sowohl die deutsche Vereinigung im Jahre 1990 als auch die Diskussion um den Beitritt neutraler Staaten wie Schweden, Österreich und der Schweiz zur EG. Ein Bundesstaat schafft letztlich ein hierarchisches Verhältnis, d.h. er zwingt die Mitgliedsländer zur Unterordnung unter den Zentralstaat und ist primär machtpolitisch orientiert. Eine Wirtschaftsgemeinschaft aber kann als eine Organisation selbständiger Staaten verfaßt werden, deren zentrales Ziel die Förderung des wirtschaftlichen Wohlstands ihrer Völker ist. Wer die EG als Instrument der Integration nationaler Märkte auffaßt, kann davon ausgehen, daß die Zahl der Beitrittswilligen und der Assoziationsbereiten in Buropa derzeit groß ist. Als Beitrittskriterium kann weiterhin das von der EG gewählte gelten: die Anerkennung der Regeln des freien zwischenstaatlichen Handels- und Dienstleistungsverkehrs einschließlich der freien Mobilität des Kapitals und der Menschen sowie die demokratische 6 Siehe hierzu Seidel, Martin: Zur Verfassung der Europäischen Gerneinschaft nach Maastricht, in: Europarecht 2/1992, 127-128. - lpsen, Hans-Peter: Die europäische Integration in der deutschen Rechtswissenschaft, in: Ress, Georg - Stein, Torsten (Hrsg.): Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut 250, Saarbrücken 1991, 57-58. 7 Siehe hierzu z.B. Röpke, Wilhelrn: Nation und Weltwirtschaft, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 17 (1966) 44.

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Ordnung. Auf dieser Grundlage könnte aus der Gemeinschaft der Zwölf sehr bald eine Gemeinschaft der Vielen werden. Neben den Beitrittsgesuchen der Türkei8 , Maltas, Österreichs, Schwedens, Zyperns und der Schweiz sind die Assoziationsabkommen mit den übrigen EFTA-Staaten (lsland, Norwegen und Finnland) im Rahmen der Verhandlungen über das EWR-Abkommen zu nennen; weitere potentielle Beitrittskandidaten sind Polen, Ungarn, die Tschechei und die Slowakei, die drei baltischen Staaten und die aus dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien hervorgehenden souveränen Staaten. Und selbst damit ist die Liste der zu berücksichtigenden Länder noch keineswegs abgeschlossen. Denn mehrere aus dem sowjetischen Riesenreich hervorgegangene souveräne Staaten erheben ebenfalls den Anspruch in eine als offene Gemeinschaft definierte EG eintreten zu können. Und selbst Rußland ist nicht auszuschließen. Es mag den Anschein haben, daß eine Wirtschaftsgemeinschaft, die zwanzig und mehr Staaten umfaßt, nicht mehr mit den üblichen Mitteln des Völkerrechtes und der Wirtschaftsunion zu organisieren sei. Dabei wird jedoch übersehen, daß der freie Handel einschließlich der Freizügigkeit von Menschen und Kapital ein weltweites Organisationsprinzip ist. Das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT) mit weit über hundert Mitgliedsstaaten, das sich allerdings nur auf den Handel bezieht, ist hierfür ebenso ein Beleg wie die Zeit des freien Welthandels, der freien Wanderung und der internationalen Kapitalmärkte vor dem Ersten Weltkrieg. Es ist allerdings zutreffend, daß bundesstaatliche Organisationsformen, zumal wenn die Föderation viele historisch gewachsene Nationalstaaten mit ausgeprägter Identität ihrer Völker umfassen soll, wahrscheinlich sehr viel schneller an organisatorische Grenzen stößt. Zwar haben die Vereinigten Staaten von Amerika fünfzig Mitgliedsländer. Die Homogenität der Bevölkerung war jedoch, bedingt durch die Wanderungsgeschichte und die Staatswerdung der USA, seit der Kolonialzeit unvergleichlich größer als sie es heute in Europa mit seinen zahlreichen kriegerischen Konflikten in früheren Jahrhunderten und zwei Weltkriegen in diesem Jahrhundert ist.9

8 In diesem Fall wird diskutiert, ob die Türkei - jenseits der üblichen geographischen Abgrenzung - ein "europäischer" Staat ist. 9 In jüngster Zeit glauben amerikanische Soziologen unter dem Druck neuer Zuwanderungen eine Auflösung der Bindekraft des amerikanischen Ideals beobachten zu können. Aber selbst diese Entwicklung spielt sich auf einer anderen Ebene ab als die gegenwärtige EG-Problernatik.

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Die ordnungspolitischen Probleme Europas - Europa verstanden als die Gesamtheit seiner demokratisch und marktwirtschaftlich verfaßten Staaten - haben also in der jüngsten Vergangenheit eine neue Dimension angenommen. Europa kann nicht länger in den traditionellen EG-Kategorien von "Vertiefung" und "Erweiterung" gesehen werden. Es geht jenseits der wirtschaftlichen Beziehungen nicht mehr darum, ein westeuropäisches Widerlager gegen eine totalitäre Supermacht und ihre Satelliten im Osten zu schaffen, sondern um die Begründung einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Dies ist auch das zentrale Argument der europäischen Unionisten. Aus beiden Perspektiven, der der politischen Union und der des Freihandelsraumes, ist zu beachten, daß selbst intensive wirtschaftliche Beziehungen noch kein Garant des Völkerfriedens sind. Umgekehrt gilt, daß wirtschaftliche Spannungen zur Quelle politischer Konflikte werden und am Ende zur Gewaltanwendung führen können. Friedfertige wirtschaftliche Beziehungen verbreiten jedoch jenes Klima, das schon die klassischen Ökonomen als den politischen Vorzug des wohlstandsmehrenden zwischenstaatlichen Austausches priesen: die kosmopolitische Einstellung. Die den Europäern heute gestellten Aufgaben gehen weit über den Bereich des Ökonomischen hinaus und reichen neben der Außenpolitik tief in die Wirtschafts- und Sozialethik hinein. Ihr widmet Anton Rauscher seine Schaffenskraft seit Jahrzehnten. Die wichtigste aus der Ethik ableitbare Nutzanwendung für die Ordnungspolitik aber dürfte lauten: Eine Gestaltung der Wirtschaftsbeziehungen in Europa, die als ungerecht empfunden wird, wird keinen langen Bestand haben. Nicht zuletzt der Zerfall des Comecon zeigt, daß selbst eine Hegemonialmacht von der Dimension der UdSSR ihre Satelliten einschließlich der okkupierten Völker dann nicht mehr unter Kontrolle halten kann, wenn die bestehende wirtschaftliche Ordnung allgemein als unfair und überdies wirtschaftlich als schädigend empfunden wird. Ein Schwächeanfall des Hegemon führt unweigerlich zum Zerfall des Ganzen. Die Schaffung einer gesamteuropäischen Wirtschaftsordnung ist daher auch kein Problem, dessen Lösung primär aus der Perspektive angegangen werden kann, welche Interessen der dominierende Handelsblock in Europa mit seiner Erweiterungspolitik verfolgt. Ökonomisch gesehen geht es um die Frage, ob die zu schließenden Verträge wechselseitig vorteilhaft sind. Sie sind es nicht, wenn ihnen der Makel einseitiger Interessendurchsetzung anhaftet. Beitritte, die mit wirtschaftlichen Mitteln erzwungen werden, sind nicht der

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Stoff, aus dem verläßliche und dauerhafte wirtschaftliche Kooperation erwächst10. Während der Ethiker die umfassende Frage nach dem, was sein soll, stellt, konkret: der Vorzugswürdigkeit einer politischen Union West-Europas vor einer gesamteuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft und umgekehrt, kann der Ökonom aus der für ihn typischen Sicht lediglich Prolegomena zur Beantwortung dieser Frage liefern. Worin bestehen die Kosten und Nutzen einer primär auf Westeuropa ausgerichteten Vertiefungspolitik und was sind demgegenüber die Vor- und Nachteile eines an gesamteuropäischen Erwägungen ausgerichteten Wirtschaftsraums? Ohne zumindest implizite Wertungen sind solche Fragen nicht zu beantworten. Schon die Auswahl der als relevant erachteten Gesichtspunkte enthält eine Wertung. Ein Urteil aber muß verschiedene Ebenen in Betracht ziehen: die nationale, die europäische und die weltweite Sicht. II. Von der EG zur politischen Union?

Die beiden Maßnahmen, die Europa zur Politischen Union führen sollen, sind nach Meinung ihrer Anhänger die Schaffung des europäischen Binnenmarktes und die westeuropäische Währungseinheit. An der grundsätzlichen Eignung einer Strategie, die vom wirtschaftlichen zum politischen Zusammenschluß führen soll, hat es jedoch seit der Gründung der EG Zweifel gegeben. Und in der Tat sind die immer wieder zitierten historischen Vorbilder, das Entstehen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz sowie der Deutsche Zollverein keine überzeugenden Fälle für die Hauptthese der Unionisten, daß die politische Integration aus der wirtschaftlichen hervorgehen werde. Im amerikanischen Fall schlossen sich 1789 souveräne Staaten, die siegreichen Kolonien, zu einem Staatenbund zusammen. Sie erwogen sorgfältig, welche Zuständigkeiten auf den neugeschaffenen Bund übertragen und welche 10 Das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) enthält Elemente, die unter diesem Aspekt zu kritisieren sind. Die EG übt als großer Handelsblock auf kleinere Länder wie Österreich und die Schweiz erheblichen wirtschaftlichen Druck aus und belastet sie im Rahmen des EWR-Abkommens mit Zahlungen für die EG-Regionalpolitik ohne im Gegenzug Einfluß auf die politische Ausgestaltung der EG einzuräumen (Einzelheiten siehe Vaubel, Roland: Perspektiven der europäischen Integration: Die politische Ökonomie der Vertiefung und Erweiterung. Als Manuskript vervielfältigt, Januar 1993, 16).

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bei den Einzelstaaten verbleiben sollten. Unter dem damals geschaffenen gemeinsamen Dach, das der Zentrale lediglich die Sicherung des freien Wirtschaftsverkehrs im Inneren der Union und den Schutz gegen äußere Feinde übertrug, vollzog sich dann die wirtschaftliche Entwicklung der Vereinigten Staaten von Amerika, die Expansion nach Westen und die Gründung neuer souveräner Staaten, die häufig erst nach vielen Jahren dem Staatenbund beitraten. Die politische Einigung war mithin die Voraussetzung, nicht die Folge der wirtschaftlichen Einheit 11 • Ähnlich war es in der Schweiz. Dort wurde nach einem halben Jahrtausend wechselnder Allianzen der Kantone und der gemeinsamen Abwehr begehrlicher Nachbarn erst in der Bundesverfassung von 1848 der Schritt zur Beseitigung kantonaler Zollschranken und zur Währungsvereinheitlichung getan 12 . Im Falle des Deutschen Zollvereins aber war das Hegemonialstreben Preußens die treibende Kraft für die Zollunion. Fünf Jahre vor der Reichsgründung kämpfte die Mehrheit der Zollvereinstaaten noch auf der Seite der unterlegenen Österreicher 13 . In allen drei Fällen und das verdient Beachtung - aber erwiesen sich die Staatenbünde als nicht stabil, denn es entfalteten sich in ihnen - durch verschiedene Umstände bedingt - so starke Zentralisierungstendenzen, daß im Laufe der Zeit mehr oder minder zentralisierte Bundesstaaten entstanden 14 • In ihnen spielen föderale Elemente, vor allem der Wettbewerb der Teilnehmerländer mit öffentlichen Gütern, nur noch eine nachgeordnete Rolle. Historische Beispiele machen nicht das Argument zunichte, daß es unter anderen Bedingungen doch gelingen könnte, die politische Einigung auf dem Umweg über den ökonomischen Zusammenschluß zustandezubringen. Führen ein gemeinsamer Binnenmarkt und/oder eine Währungsunion zur angestrebten politischen Vereinigung?

1. Über den Binnenmarkt zur politischen Union? Der 1. Januar 1993 war das offizielle Datum für den Beginn des europäischen Binnenmarktes. Versteht man unter einem Binnenmarkt eine Markt11 Hughes, Jonathan: American Economic History, 2. Aufl., Glenview, Ill. 1987, 85-86. 12 Röpke, 47.

13 Siehe hierzu die detaillierte Darstellung bei Viner, Jacob : The Customs Union Issue, New York 1950, 97-103. 14 Buchanan, James M.: Europe's Constitutional Opportunity, in: Institute of Economic Affairs (Hrsg.), London 1990, 4-6 (mit Beiträgen von J. M. Buchanan u.a.).

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und Preisgemeinschaft, wie sie in Nationalstaaten üblich ist, so ist die Antwort auf die Frage, ob ein "grenzenloses Europa" entstanden ist, nicht positiv. Faktisch ist das Binnenmarktprojekt ein weiterer Versuch, den Auftrag des EWG-Vertrages, einen Gemeinsamen Markt zu schaffen, in einem Kraftakt zustandezubringen 15 . Zwar war der Zollabbau in der Gemeinschaft erfolgreich und die innere Zollfreiheit wurde vor der vertraglich festgelegten Zeit (1968) erreicht. Aber die von allen Mitgliedsstaaten praktizierten nicht-tarifären Handelshemmnisse gegenüber Drittländern hatten innergemeinschaftlich die Konsequenz, daß die kontingentierenden Staaten Umwegimporte über liberalere EG-Mitgliedstaaten nur dadurch verhinderen konnten, daß die Handelsfreiheit in der Gemeinschaft erneut beschränkt wurde 16. Aus dieser Situation und zahlreichen anderen Hemmnissen wollte das Binnenmarktprogramm herausfinden. Unterstellt man, daß es das Anliegen der EG-Staaten ist, aus freien Stücken zur politischen Einheit zu finden, so müßte der Durchbruch auf binnenhandelspolitischem Gebiet mit Beginn des Jahres 1993 vollzogen worden sein. Dies stimmt nicht mit den Fakten überein. Der Handels- und Dienstleistungsverkehr ist nach wie vor Beschränkungen ausgesetzt; die Kapitalverkehrsfreiheit ist nicht hinreichend gesichert und auch die Freizügigkeit der Menschen unterliegt trotz Wegfall der nationalen Arbeitsgenehmigungen noch Zuzugsschranken. Zwar wurden die Zollstationen an den Binnengrenzen Westeuropas geschlossen. Da jedoch weder eine Einigung über die Allgleichung der indirekten Steuern im Rahmen des Bestimmungslandprinzips zustande kam, noch das Ursprungslandprinzip eingeführt wurde, erfolgte lediglich eine Verlagerung der Steuergrenzen von den Landesgrenzen in die Unternehmen, und zwar mit so großen administrativen Erschwernissen, daß der Deutsche Industrie- und Handelstag um die Jahresmitte 1992 glaubte, von einem Schein-Binnenmarkt sprechen zu müssen. -Unabhängig davon bleiben aber noch binnenwirtschaftliche Handelshemmnisse bestehen. So erlaubt es Art. 36 des EG-Vertrages nach wie vor 15 Siehe Molsberger, Josef: Offenes Europa oder Wirtschaftsfestung?, in: Koslowski, Peter (Hrsg.): Europa imaginieren. Der europäische Binnenmarkt als kulturelle und wirtschaftliche Aufgabe, Berlin 1992, 376. 16 Auf Details verweist Flam, Harry: Product Markets and 1992: Full Integration, Large Gains?, Journal of Economic Perspectives, 6, 12. 12 FS Rauscher

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aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverbote zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen, zum Schutze des nationalen Kulturgutes oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums zu ergreifen. Andere Argumente hat es für die Einführung von Handelshemmnissen in der Zollgeschichte selten gegeben. -Der ominöse Artikel 115 EWG-Vertrag, der die Grundlage für bilateral vereinbarte nichttarifäre Handelshemmnisse mit Drittländern bildet, ist entgegen allen Erwartungen nicht gestrichen worden. Da die liber~ orientierten Länder nicht Willens sind, die niedrigen Einfuhrkontingente der hochprotektionistischen Mitglieder zu übernehmen, was ihnen und ihren Handelspartnern erheblichen Schaden zufügen würde, gibt es zur Zeit die Möglichkeit erfolgreicher Umwegimporte -eine Lage, die die protektionistischen EG-Staaten sicher nicht lange dulden werden. -Schwerwiegend ist auch die temporäre Wiedereinführung von Kapitalverkehrskontrollen durch Staaten, die aus dem Europäischen Währungssystem ausgetreten sind. Dadurch wird das Herzstück des Binnenmarktes, der gemeinsame westeuropäische Kapitalmarkt, gefährdet 17 .

17 Auch das berühmte Cassis-de-Dijon-Urteil des EuGH, nach dem das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von nationalen Standards und Normen gilt, hat längst nicht jene Bedeutung erlangt, die es im Interesse eines freien innereuropäischen Handels verdient hätte. Zwar ist es mittlerweile geltendes Recht, daß auf dem deutschen Markt ausländisches Bier, das nicht nach deutschen Normen gebraut wurde, frei verkauft werden darf. Ähnliches gilt für Margarine und Fruchtliköre. Aber der eigentlich heikele Punkt ist das Beharren der EG auf der Harmonisierungspolitik. Sie steht im Gegensatz zum Prinzip der wechselseitigen Anerkennung von Normen und Standards. Folgt man letzterem, so ist Harmonisierung zwischen den EG-Staaten überflüssig. Folgt man der Harmonisierungsidee, so verhält es sich umgekehrt. Nationale Normen und Standards müssen dann zugunsten gemeinsamer europäischer Standards aufgegeben werden. Das schafft einmal äußerst mühevolle Abstimmungsprobleme, zum anderen aber können diese zu Normen und Standards führen, die einen Rückschritt gegenüber den bisherigen bedeuten und schließlich wird der Wettbewerb der Normen und Standards, der große gesamtwirtschaftliche Vorteile hat, unterbunden. In der EG läuft das Harmonisierungsprinzip darauf hinaus, daß die rechtlichen Bedingungen in nahezu allen wirtschaftlich relevanten Gebieten durch Direktiven der EG angeglichen werden. Das Argument zugunsten dieses Vorgehens ist die ökonomisch problematische Behauptung, nur unter gleichen Rechtsregeln könne erfolgreich auf einem Markt konkurriert werden. Was den Weltmarkt angeht, so vertritt eigentlich niemand diese Meinung. Wir kümmern uns nicht um die Rechtsordnung Japans, wenn wir ein japanisches Auto kaufen. Warum soll das plötzlich anders sein, wenn es sich um ein italienisches oder französisches Fabrikat handelt? Auch das Argument, daß unterschiedliche Rechtsregeln verschiedene Kostenbelastungen zur Folge haben, verfangt allenfalls einzelwirtschaftlich, nicht aber gesamtwirtschaftlich, denn es gibt viele Kostenunterschiede im internationalen Handel, die nicht ausgeglichen werden, so etwa

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Auf der positiven Seite des europäischen Binnenmarktes steht ein umfangreiches Programm des Abbaus wettbewerbsbehindernder nationaler Regulierungen vor allem im Dienstleistungsbereich, aber auch bei öffentlichen Aufträgen und den mit Monopolrechten ausgestatteten öffentlichen Unternehmen, wie nationalen Fluggesellschaften. Das entlastet Konsumenten und Steuerzahler. Sie mußten bisher die Kosten der Privilegierung einzelner Branchen oder Unternehmen tragen. Die EG-Kommission reklamiert hier für sich, daß sie die Speerspitze einer Liberalisierungsbewegung sei, die - angesichts des Widerstandes nationaler Interessengruppen - das durchsetze, was nationale Parlamente nicht mehr durchzusetzen wagten. Dieses positive Selbstzeugnis wird jedoch getrübt durch die Erfahrung, daß die enge Verklammerung zwischen der EG-Bürokratie und den Vertretern verschiedenster Interessenverbände erhebliche Spielräume für das Eingehen auf Partikularinteressen bietet 18 . Das Instrument ist hier die Harmonisierungspolitik. Durch sie kommen die von der Kommission zu initiierenden Mindestnormen zustande, die an die Stelle der nationalen Deregulierungen treten. Das auf lange Sicht wichtigste Problem im innereuropäischen Liberalisierungsprogramm aber ist die Umsetzung der rechtsvereinheitlichenden Vorgaben der EG in nationales Recht. Da der Ministerrat nicht einfach durch Direktiven nationales Recht ändern kann und den nationalen Parlamenten ein wenn auch enger- Spielraum für die nationale Umsetzung der Brüsseler Vorgaben zugestanden wird, ist damit zu rechnen, daß es trotz allem Harmonisierungsdruck zu divergenten Rechtsentwicklungen in den Mitgliedsländern kommt. Der Sutherland-Bericht (1992) mahnt daher aus der Sicht der EGKommission an, daß die EG-Vorgaben peinlich genau in nationales Recht umgesetzt werden müßten. Faktisch läuft das auf die Aufhebung der Gesetzgebungshoheit der nationalen Parlamente durch europäische Beamtenkader hinaus. Inwieweit der Rechtsumsetzungsprozeß zu gewichtigen neuen Handelshemmnissen führt, bleibt vorerst abzuwarten. Angesichts der hohen Komplexität der Materie- jede europäische Direktive führt zu zwölf verschiedenen nationalen Ausgestaltungen - fehlt vorerst noch jede Übersicht. Rückfalle in neue Binnenprotektionismen sind nicht ausgeschlossen. Lohnkostenunterschiede. Die internationale Arbeitsteilung lebt von Kostenunterschieden. Warum aber soll es innereuropäisch anders sein? 18 Siehe hierzu das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundeswirtschaftsministerium: Außenwirtschaftliche Herausforderung der Europäischen Gemeinschaft an der Schwelle zum Binnenmarkt. Juni 1990, 12. 12•

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Aus ökonomischer Sicht ist vorerst festzuhalten, daß der in fünfunddreißig Jahren erreichte Integrationsgrad noch zu wünschen übrig läßt. Eigentlich müßte ein Gemeinsamer Markt bei den gehandelten Gütern zu einer weitgehenden Freisangleichung führen. Preisdifferenzen dürften nicht nennenswert über die Arbitragekosten hinausgehen. Tatsächlich sind die Preisunterschiede bei wichtigen Produkten auch heute noch so beachtlich, daß sie nur auf private oder staatlich geduldete oder aber staatlich veranlaßte Marktsegmentierungen zurückzuführen sind 19. Fragt man nach einer Erklärung hierfür, so sind die protektionistischen Kräfte, die in jeder Gesellschaft wirksam sind, zu nennen. Könnten diese wirkungsvoll durch eine Politische Union im Zaum gehalten werden? Das ist nicht in Abrede zu stellen, wie ein einfacher Vergleich mit dem normalen Binnenhandel in Nationalstaaten zeigt. Allerdings müßte die politische Macht der Zentrale sehr weit in Richtung eines Bundesstaates gehen. Ob daraus ein Wohlstandsgewinn für die Gemeinschaft resultiert, wie die EG-Kommission behauptet, hängt jedoch entscheidend von der Ausgestaltung des gemeinsamen Außenhandelsregimes ab. Ist dieses selbst wiederum protektionistisch und nach der Idee gestaltet, "das Plus an Integration nach innen durch ein Minus nach außen" 20 zu erkaufen, so zählt nur der Nettoeffekt. Versucht man, die binnenhandelspolitische Entwicklung der EG als Ganzes zu überblicken, so spricht kaum etwas dafür, daß die politische Europa-Idee eine mächtige Strömung zur Beseitigung nationaler Handelshemmnisse ist. Eher drängt sich der Eindruck auf, daß die im demokratischen Staat weit verbreitete Neigung der politisch Herrschenden den Sonderwünschen einzelner nationaler Gruppen zu entsprechen, nach wie vor vorherrscht. Gerade an dieser Stelle verspricht die EG nur insoweit Abhilfe, als die Herstellung des freien Binnenhandels dem Ziel bürokratischen Machtgewinns dient. Aus einem solchen Prozeß aber kann kein freiheitlicher europäischer Gesamtstaat erwachsen.

19 Flam, 12. 20 Röpke, Wilhelm: Gemeinsamer Markt und Freihandelszone: 28 Thesen als Richtpunkte.

ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 10 (1958) 31-62.

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2. Die europäische Währungsunion- Tor zur politischen Union? Der eigentliche Hebel für die Herbeiführung der politischen Union ist nach Meinung ihrer Befürworter die Vergemeinschaftung der Geldpolitik der Mitgliedsländer. Diese ist primär als politischer Akt und nicht als wirtschaftliche Maßnahme geplant. Denn die Währungseinheit soll nicht - was in vieler Hinsicht vorzugswürdig wäre - durch Marktprozesse bewirkt werden, sondern es ist beabsichtigt, sie allein auf institutionellem Wege zu schaffen; die Währungsunion soll also die Klammer sein, die die EG-Staaten endgültig zusammenschmiedet. Die monetäre Integration eines Wirtschaftsraumes kann auf zwei Wegen zustandekommen. Der erste ist die Integration der Geld- und Kapitalmärkte durch den Abbau aller Arten von Devisen- und Kapitalverkehrskontrollen, kurz: die Herstellung der freien Konvertibilität. Der zweite Weg ist die Einführung eines gemeinsamen und die Abschaffung des nationalen Geldes: die im Maastrichter Vertrag vorgesehene Lösung. Die marktliehe Integration führt zum Währungswettbewerb und hat den großen Vorteil, daß schlechte Währungen unter Wettbewerbsdruck geraten und eventuell abgewählt werden. Für die Schaffung eines Einheitsgeldes spricht, daß die sonst durch den Geldumtausch entstehenden Kosten ebenso entfallen wie das Wechselkursrisiko. Prinzipiell aber ist ein Binnenmarkt sowohl mit freien Wechselkursen als auch bei Einheitswährung funktionsfähig 21 . Die Wahl der Einheitswährung als Ordnungsmodell für die EG hat lautere und weniger lautere Gründe. Zu den unlauteren zählt die Beseitigung der vermeintlichen Diktatur der D-Mark. Der lautere ist die Beförderung der politischen Union. In der Praxis bedeutet das, daß an die Stelle der einzelstaatlichen die kollektive Geld- und Kreditpolitik tritt. Das hat für alle Teilnehmerstaaten zur Folge, daß sie durch verfassungsändernde Akte ihre nationale Souveränität über das Geldwesen unwiderruflich aufgeben und auf das als supranationale Einrichtung verfaßte System der Europäischen Zentralbanken (ESZB) übertragen müssen. Die nationalen Notenbanken erlangen dann den Status nachgeordneter Behörden der Euro-Notenbank. Es wird somit im zentralen Gebiet der Wirtschaftspolitik eine Funktionsspaltung vorgenommen. 21 Auf die Abwägung der Vor- und Nachteile der einzelnen Wechselkursregime kann hier nicht näher eingegangen werden. Die Literatur ist kaum noch überschaubar. Hervorgehoben sei deswegen nur Vaubel, Roland: Currency Competition and European Monetary Integration. The Economic Journal 100 (1990) 936-946.

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Für die Geldpolitik ist die Gemeinschaft zuständig, alle übrigen Gebiete der Wirtschaftspolitik (Finanz-, Regional-, Lohnpolitik) bleiben auf der Ebene und in der Zuständigkeit der Nationalstaaten. Die neue Lage wird sich grundlegend vom jetzigen Zustand der EG als Staatengemeinschaft unterscheiden. Bis jetzt wirken alle Mitglieder - gewissermaßen zur gesamten Hand - gleichberechtigt zusammen. Die von der EGKommission beanspruchte Supranationalität in der Außenhandelspolitik oder der Agrarpolitik ist derjenigen in der Geld- und Kreditpolitik nicht vergleichbar. So ist die gemeinsame Handelspolitik durch viele nationale nicht-tarifäre Handelsbeschränkungen auf breiter Front aufgeweicht und die EG-Agrarpolitik kennt eine Unzahl von nationalstaatliehen Ergänzungen. Eine gemeinsame Geldpolitik aber zeichnet sich dadurch aus, daß in ihr kein Raum für nationale Abweichungen ist. Sie muß einheitlich für den gesamten Wirtschaftsraum und ohne jede Berücksichtigung regionaler Besonderheiten betrieben werden. Bei rein funktioneller Betrachtung ist es durchaus möglich, daß eine künftige gemeinsame Notenbank stabiles Geld bereitstellt22 . Vorausgesetzt werden muß jedoch, daß alle übrigen Mitspieler in der europäischen Wirtschaftspolitik, die teilnehmenden Staaten und die in ihnen angesiedelten intermediären Gewalten, bereit sind, sich dem geldpolitischen Kurs einer europäischen Notenbank unterzuordnen. Letztere müßte also in Einsamkeit und Freiheit die Geldwertstabilität verteidigen. Sie dürfte sich weder von nationalen Regierungen noch von Interessengruppen verschiedenster Schattierungen in ihrer Stabilitätspolitik beeinflussen lassen, sondern müßte sich allein auf die Bereitstellung eines wertstabilen Geldes, das heißt einer Währung, die ein vertrauenswürdiger Geldspeicher sowie ein zuverlässiges Rechen- und Zahlungsmittel ist, konzentrieren. Wenn es je dazu käme, dann wären die positiven Wohlstandseffekte eines solchen unpolitischen Geldes kaum hoch genug zu preisen. Der Vertrag von Maastricht ist jedoch nicht so angelegt. So wünschbar ein Geld ist, das allein seinen ökonomischen Funktionen dient, so wenig ist die Hoffnung berechtigt, daß im Rahmen des Maastrichter Vertrages diese große Aufgabe erfolgreich

22 Sievert, Olaf: Geld, das man nicht selbst herstellen kann. Ein ordnungspolitisches Plädoyer für die Europäische Währungsunion, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.09.1992.

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gelöst wird. Das politische Versprechen, daß zumindest die Stabilität der DMark garantiert23 sei, ist nicht gut begründet. Probleme werfen nicht nur die viel genannten Detailmängel des Maastrichter Vertrages auf (so unzureichende Zulassungsbedingungen zur Währungsunion, die Möglichkeit des Aushebeins jeglicher Stabilitätspolitik, wenn der Ministerrat falsche Wechselkurse dekretieren sollte24 ), sondern der unvermeidliche Konflikt zwischen nationalen Interessen auf der einen und europäischer Stabilitätspolitik auf der anderen Seite, der in der Maastrichter Konstruktion angelegt ist. Die Zuordnung der Geld- und Kreditpolitik zur EG-Ebene und das Belassen aller übrigen Bereiche der Wirtschaftspolitik auf der nationalstaatliehen Seite hat unweigerlich die Konsequenz, daß die politischen Kosten einer von der Öffentlichkeit für falsch gehaltenen oder auch tatsächlich falschen europäischen Geldpolitik von den nationalen Politikern getragen werden müssen25 . Dies ist zwar eine Situation, die auch im Fall weisungsunabhängiger Notenbanken - er ist selten - auftritt und sich dort in Konflikten zwischen der Geld- und Finanzpolitik oder der Geld- und Lohnpolitik niederschlägt. Aber eine nationale Notenbank, die das eigene Geld bereitstellt, steht jedem Bürger vermutlich näher als jede europäische Zentralbank. Überdies kann die nationale geldwertpolitische Diskussion, zumal da keine sprachlichen Partizipationsschranken bestehen, in ganz anderer Weise und auf viel breiterer Basis geführt werden, als das in einem vielsprachigen Gemeinwesen, wo die Kommunikation notgedrungen beschränkt ist und in der Breite vermutlich nie hergestellt werden kann, je möglich sein wird. Nationale Politiker aber werden, wenn die europäische Geldpolitik auf Ablehnung stößt, bei Fortexistenz der Nationalstaaten sich kaum mit dem Argument salvieren können, daß sie der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank wehrlos unterworfen seien und folglich außerstande wären, etwas zu ändern. Sie werden sich vielmehr in der Lage befinden, für Handlungen gerade23 Selbst die D-Mark verlor in den ersten vierzig Jahren ihres Bestehens immerhin zwei Drittel ihres Binnenwertes - weltweit ist das dennoch das beste Ergebnis. 24 Zu den zahlreichen Kritiken am Maastrichter Modell der Währungsunion siehe z.B. Welcker, Johannes - Nerge, Carsten: Die Maastrichter Verträge - zum Scheitern verurteilt? Landsberg/Lech 1992, 75 ff. 25 Das ist allein schon die Folge des Fehlens eines echten Parlaments auf europäischer Ebene.

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stehen zu müssen, die sie selbst nicht verursacht haben. Das verschärft die Gegensätze zwischen nationaler und europäischer Ebene, zumal wenn die wirtschaftspolitische Philosophie durch das Leitbild des viel regierenden Interventionsstaates geprägt wird. Es bedarf daher keiner großen Phantasie sich vorzustellen, daß bei sich verschärfendem Konflikt eines weichen muß, entweder die Unabhängigkeit der Euro-Notenbank von politischen Weisungen oder die Zuordnung zahlreicher wirtschaftspolitischer Zuständigkeiten zur nationalen Ebene. Wer auf die politische Vereinigung über den Umweg die Währungsunion setzt, muß aber bereit sein, solche Spannungen und Konflikte in Kauf zu nehmen, um so den Hebel für die Durchsetzung der Politischen Union in die Hand zu bekommen. In Auseinandersetzung zwischen nationaler und europäischer Ebene wird es Gewinner und Verlierer geben. Zu den Gewinnern gehört die kleine Zahl von Politikern und Beamten, die in den europäischen Organen ihre Karriere fortsetzen können. Verlierer ist die große Zahl jener, deren politische Macht durch weitere Schritte in Richtung eines Bundesstaates drastisch zurückgeschnitten wird. Der im Deutschen Bundestag verabschiedete Vorbehalt beim endgültigen Eintritt in die Europäische Währungsunion signalisiert ein erstes Unbehagen an einer Vorgehensweise, die undifferenziert jede Souveränitätsverlagerung auf die EG-Ebene gutheißt. 26

3. Der Preis der politischen Union Demoskopische Erhebungen ergeben durchweg eine hohe Zustimmungsquote zu "Europa", solange der Inhalt des Begriffs im Unbestimmten gehalten wird. Geht es um konkrete Ausgestaltungen, so in jüngster Zeit um die Ersetzung der nationalen Währungen durch eine europäische Einheitswährung, so ändert sich das Bild schlagartig. Befragungen in Deutschland und anderen Ländern weisen hohe Ablehnungsquoten aus. Dies wird auf Ängste der Bürger vor dem Unbekannten, mangelnde Aufklärung oder schlicht Uneinsichtig26 Bundespräsident Richard von Weizsäcker räumt dies beispielsweise ein, wenn er ausführt: "Unsere Gemeinschaft wird ein Europa der Regionen werden ... Weit eher als die Regionen oder die Bundesländer sind es die Nationalstaaten, die etwas für den Aufbau Europas hergeben müssen". (Siehe von Weizsäcker, Richard: Maastricht als historische Chance begreifen. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. April 1992, 9). Soweit hier das "Europa der Regionen" als Alternative bzw. Substitut für den nationalen Souveränitätsverlust angeboten wird, ist einzuwenden, daß dieses Argument nur dann Gültigkeit besitzt, wenn den Regionen Eigenstaatlichkeit zugesprochen wird. Dann sind sie aber der Sache nach nichts anderes als "Nationalstaaten."

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keit zurückgeführt. Die ökonomisch rationale Erklärung aber ist der Preis, der für den politischen Zusammenschluß zu erbringen ist, und die mangelnde Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung ihn für eine politische Union zu bezahlen. Die zu erbringenden Opfer sind allerdings nicht in naiver Weise in Mark und Pfennig zu kalkulieren, wohl aber spielt die ökonomische Idee, daß jedes Handeln den Verzicht auf andere Möglichkeiten beinhaltet, eine zentrale Rolle. Zunächst aber hängt es von der Ausgestaltung zahlloser Details eines künftigen europäischen Staates ab, wenn es um die Frage geht, was gegen was eingetauscht werden und auf was verzichtet werden muß, wenn man eine politische Union will. Aber auch bei im einzelnen schwer vergleichbaren institutionellen Alternativen muß letztlich rational über deren Vorteilhaftigkeit aufgrund des jeweils gegebenen Kenntnisstandes entschieden werden. Entscheidungsträger sollte in diesem Fall aber -anders wie bisher in zahlreichen Ländern - nicht die kleine Gruppe der Parlamentsabgeordneten sein. Subjekt der Entscheidung in einer solch fundamentalen Frage kann in einer freiheitlichen Demokratie nur der Souverän, die wahlberechtigte Bevölkerung, sein27 . Auch wer den Weg über eine Wirtschafts- und Währungsunion präferiert, kann daher an einer entscheidenden Stelle des Weges nicht der breiten öffentlichen Diskussionen ausweichen, es sei denn er hielte - in historischer Analogie - den von Bismarck 1871 zustandegebrachten "ewigen Fürstenbund" für erstrebenswert. Eine politische Union bedeutet zunächst im organisatorischen Aufbau des Staates, daß die zentrale Entscheidungsebene weiter vom einzelnen Bürger wegrückt und zwar um so mehr, je weniger klar die Kompetenzabgrenzungen zwischen den einzelnen Ebenen des neu verfaßten Staates sind. Die in Maastricht beschlossene Europäische Union ist ein Beispiel dafür, wohin machtpolitisch bestimmte Verhandlungen und Kompromisse führen; denn der Vertrag ordnet der EG neben der Geld- und Kreditpolitik noch ein ordnungspolitisch unentwirrbares Knäuel neuer Kompetenzen zu. Es reicht von der Kulturpolitik über das Gesundheitswesen, den Verbraucherschutz, die transeuropäischen Netze bis hin zur Industriepolitik. Warum die supranationale Ebene z.B. besonders befähigt sein soll, ein Gebiet, in dem sich der Wettbewerb der Ideen so stark niederschlägt wie in der Kultur, unter ihre Kontrolle zu nehmen, statt dieses Feld der dezentralen Organisation über Märkte zu 27 So vor allem Rupp, 39.

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überlassen, ist genauso wenig einsichtig wie die Einführung der Industriepolitik als übernationale Aufgabe in eine Gemeinschaft, die als Gemeinsamer Markt gegründet wurde. Mit steigendem Kompetenzanspruch einer Europäischen Union und stufenweisem Ausbau ihrer Zuständigkeiten werden aber nicht nur auf Dauer die nationalen Regierungen sondern auch alle jene Institutionen, die auf nationaler Ebene der öffentlichen Diskussion, der Vermittlung und Durchsetzung von partikulären und allgemeinen Interessen dienen, obsolet. Dies wird schon deutlich bei der Wirtschaftsunion, wo die Verlagerung der Interessenverbände zur Kommission deutlich zu beobachten ist. Aber nicht nur die Verbände son~ern schlicht alle Gebiete der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzungen Würden von der zunehmenden Funktionsentleerung auf nationaler und dem Entstehen neuer Einrichtungen auf supranationaler Ebene betroffen28 . Dort müßten sich die Loyalitätsbeziehungen gegenüber dem neuen Staatswesen herausbilden. Historisch überkommenes "Sozialkapital" müßte also abgeschrieben und neuesaufgebaut werden. Da schließlich ein Staat nicht ohne ein Mindestmaß an Solidarität und Loyalität gegenüber den ihn tragenden Institutionen funktionsfahig ist, bleibt auch zu fragen, ob sich ein entsprechendes "Kapital" gegenüber einem "Vaterland Europa" aufbauen läßt. Zumindest ist hier mit langen Fristen zu rechnen. Ein Lehrbuch-Beispiel für die sich abzeichnenden Probleme ist der politische Streit um die regionalen Transfers und der Kampf um das Vermeiden der Nettozahlerposition in der EG. Er läßt wenig europäische Gemeinsamkeit erkennen. Da es unter den Regeln demokratischer Herrschaft Mehrheits- und Minderheitskoalitionen gibt und diese im europäischen Fall durchaus regional organisiert sein können, sind auch Verteilungskonflikte zwischen ärmeren und reicheren Ländern nicht auszuschließen. In einem straff unitarischen Euro-Staat können diese möglicherweise von der Zentrale unter Kontrolle gebracht werden. Unter den gegenwärtigen Bedingungen der ordnungspolitischen Punktionsspaltung zwischen einem supranationalen Bereich und einem nationalstaatlichen Sektor fallt es jedoch schwer, sich vorzustellen, daß solche Konflikte nicht von der europäischen auf die nationale Ebene durchschlagen. Damit stellt sich die Frage, ob ein westeuropäischer Staat überhaupt anders denn als ein Nationalitätenstaat zu verfassen ist. In einem Nationalitätenstaat aber 28 Siehe hierzu Lepsius, M. Rainer: Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: Wildenmann, 29.

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kann das Demokratieprinzip nicht in gleicher Weise wie in einem Bundesstaat zum Zuge kommen. Anderenfalls müßten die kleinen Völker um ihre Identität fürchten. Soll ihnen diese Sorge genommen werden, so müssen die Stimmgewichte ungleich verteilt werden. Grundsätzlich ist daher die gemeinsame Übereinkunft, das Einstimmigkeitsprinzip, hier die geeignete Form der Kooperation. Ein westeuropäischer Bundesstaat - gleich welcher Ausprägung im Detail bedeutet ein hohes Maß an administrativer Regulierung, Vereinheitlichung und Homogenisierung. Die angestrebte Rechtsvereinheitlichung verdeutlicht dies. Das aber bedeutet, daß der eigentliche Vorteil Europas, seine Vielgestaltigkeit und die daraus hervorgehende Vielfalt, redressiert werden muß. Die in den Gründerjahren der EG vorherrschende Meinung, die sich bis heute in der Kommissionsrhetorik gehalten hat, ging dahin, daß Kopfzahl mit gesellschaftlichem Wohlstand positiv korreliert sei. Jede Erweiterung der EG wurde mit dem Argument gestützt, daß sich die Zahl der in ihr lebenden Menschen vermehre und daß schon die größere geographische Ausdehnung des Binnenmarktes ökonomisch vorteilhaft sei. Daß beides unzutreffend ist, zeigt allein schon ein Blick auf die Schweiz, die nach vielen Indikatoren die Wohlstandsspitze in Europa einnimmt. Neuere wirtschaftshistorische Untersuchungen haben überdies der Großraumidee einen empfindlichen Stoß versetzt29. Neben dem Rechtsstaat und der Vertragssicherheit, dem Schutz des Eigentums von Inländern und Ausländern, der weltweiten Übertragbarkeit von Wissen beruht der Wohlstand der Nationen auf offenem Wettbewerb. Er schlägt sich nieder im Freihandel, dem freien Zutritt zu Märkten, der Meistbegünstigungsregel und der offenen Konkurrenz mit Monopolen30 , aber auch im Wettbewerb der Systeme, also wo öffentliche Güter bereitgestellt werden. Wettbewerb aber bedarf der unabhängigen Wettbewerber, auch auf der Ebene der Staaten.

111. Die gesamteuropäische Perspektive Wählt man zum Ausgangspunkt für Überlegungen zur Wirtschaftsordnung Europas nicht den von Bundeskanzler Kohl beschworenen Traum der Grün29 Bahnbrechend ist hier das Buch von Jones, Eric L.: Das Wunder Europa, Tübingen 1991 (Englisches Original 1981). Ferner die auf ihm aufbauenden Arbeiten von Weede, Erich: Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, Tübingen 1991. 30 Siehe hierzu auch Willgerodt, Hans: 1991, 64-65.

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dervätersondern die nüchterne Feststellung, daß der Nationalstaat - man mag ihn schätzen oder ablehnen - die Einrichtung ist, in der unser politisches Leben abläuft, dann verschiebt sich das Gewicht der Alternativen vom europäischen Bundesstaat in Richtung auf eine umfassende europäische Marktwirtschaftsordnung. Die Idee einer möglichst weiten Marktintegration zwischen den europäischen Staaten wird zwar mitunter als "Freihandelszone" abgetan. Aber wenn sich ein europäischer Staat nicht so bald an die Stelle der Nationalstaaten setzen läßt, wie das die Europa-Enthusiasten meinen, wenn es vorerst kein europäisches Staatsvolk, keine integrierten europäischen Parteien und keine europäische Regierung geben wird, dann sind die Probleme des menschlichen Zusammenlebens in Europa nur auf der Basis der bestehenden Nationalstaaten zu lösen. Vom ökonomischen Standpunkt wünschenswert wären allerdings weltweite Lösungen, so wie sie gegenwärtig im Rahmen des GATT und seiner Uruguay-Runde angestrebt werden. Daß daneben regionale Zusammenschlüsse, die hoffentlich nicht zu geschlossenen Handelsblöcken entarten, eine Rolle spielen werden, liegt auf der Hand. Ausgangspunkt der ursprünglichen Sechser-Gemeinschaft war ja die These, daß die Liberalisierung des Handels sich schneller und leichter in kleineren Gruppierungen als in weltumfassenden Organisationen verwirklichen läßt. Je größer aber die Zahl der Mitgliedsländer eines regionalen Freihandelsklubs ist und je mehr kleinere Staaten ihm angehören, umso mehr steigt die Chance, daß der überkommene Protektionismus einiger großer europäischer Länder zugunsten weltoffener Vorgehensweisen zurückgedrängt wird. Eine gesamteuropäische Wirtschaftsunion wäre auch die ökonomisch bessere Antwort auf die seit dem annus mirabilis 1989 entstandene Lage. Ob es den osteuropäischen Staaten gelingt, die Transformation zur Marktwirtschaft durchzu~tehen, ist auch von vitaler Bedeutung für die künftigen wirtschaftlichen Aussichten der westeuropäischen Länder. Es genügt daher nicht, mit guten Ratschlägen und einigen Finanzüberweisungen zu Hilfe zu kommen. Auch ist es höchst unzureichend, mit Assoziationsabkommen guten Willen zu bekunden, denn diese verengen eher den Zugang der ex-kommunistischen Länder zum EG-Markt, statt ihn zu öffnen. Nur offene westeuropäische Märkte aber schaffen jene ökonomischen Chancen, die die neuen Demokratien festigen und sie auf das westliche Modell von Demokratie und Marktwirtschaft festlegen.

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Im übrigen ist freier Handel auch ein Ersatz für Abwanderung, denn er verbessert die ökonomische Lage vor Ort und senkt so den Auswanderungsdruck. Steigt jedoch die wirtschaftliche Not in den osteuropäischen Ländern, weil die Absatzmärkte fehlen, so ergibt sich mit zunehmender Hoffnungslosigkeit auch ein immer höherer Wanderungszwang. Daß dieser auf Dauer auch von robusten Ländern nicht aufgefangen werden kann, zeigt die Freihandelszonezwischen den USA und Mexiko. Sie ist -jenseits hehrer Worte ökonomisch zu werten als der Versuch, mit einem nicht mehr kontrollierbaren Problem der illegalen Zuwanderung durch Öffnung des US-amerikanischen Marktes fertig zu werden3t . Gegen eine staatenübergreifende Wirtschaftsintegration wird häufig der Einwand vorgebracht, daß sie im Gegensatz zu einem Zentralstaat ein labiles Gebilde und dem Verfall anheimgegeben sei. Dies ist nur in dem generellen Sinne zutreffend, wie jede gesellschaftliche Ordnung der Gefahr ausgesetzt ist, durch egoistisches Handeln einzelner Gruppen und kurzsichtige Politik zu erodieren. Der Sinn von marktwirtschaftliehen Lösungen liegt ja darin, die Eigeninteressen der Marktteilnehmer so zu kanalisieren, daß sie nicht sozialschädlich sind, sondern daß das Verfolgen von Eigeninteressen - ungewollt den allgemeinen Wohlstand fördert. Für das Demokratieprinzip gilt die "List des Marktes" nicht in gleicher Weise. Hier kann es zu massiven Konflikten zwischen Gewinnern und Verlierern kommen. Die Brisanz politischer Konflikte kann aber abgebaut werden, wenn ein friedlicher Austritt aus einer Union möglich ist. Die "Sezessionisten" werden dann sorgfältig zwischen den Vorteilen eines Verbleibs und eines Verlassens des gemeinsamen Staates bzw. der Wirtschaftsunion abwägen. Wird die Trennung mehrheitlich gewünscht, ist sie auf jeden Fall besser als die Fesselung an die bestehende Organisation. Auch ein europäischer Bundesstaat sollte deswegen - im Gegensatz zur jetzigen Unkündbarkeit des EG-Vertrages- eine Austrittsklausel in seine Verfas-

31 Stinunt man dieser Analyse zu, so bedarf auch das Europäische Währungssystem (EWS) einer günstigeren Bewertung als sie ihm im Vergleich zur Währungsunion von vielen zugesprochen wird. Es hat sich in Grenzen als ein System erwiesen, das freien Handel mit freier Konvertibilität und freiem Kapitalverkehr paaren kann. Die Krise im September 1992 war Ausdruck eines falschen Managements, und zwar des Versuches, dem EWS den Stachel des Realignments zu nehmen und es stattdessen in eine de-facto-Währungsunion zu verwandeln. Diese konnte keinen Bestand haben, da die einzelnen Teilnehmer nicht willens waren, sich den Regeln eines echten Festkurssystems zu unterwerfen.- Hierzu Krüger, Malte: Was dem EWS geschehen ist, in: Wirtschaftsdienst 1992, 516.

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sung schreiben32 . Dies wäre ein Mittel, welches die Mitglieder einer politischen Union davon abhielte, Energien in das Zusammenschmieden wechselseitig schädigender Verteilungskoalitionen zu investieren. So gesehen kann aber ein lockerer Zusammenhalt stabiler sein als ein Bundesstaat, der noch auf der Suche nach seinem Staatsvolk ist.

32 Siehe zu Einzelheiten die von Peter Bemholz initiierte und verfaßte Erklärung der EuropaGruppe am Frankfurter Institut "Für ein Buropa des Wettbewerbs", in: Frankfurter Institut. Argumente zur Europa-Politik. Nr. 1, Dezember 1989.

Die Gestaltung des Arbeits- und Sozialrechts in der Europäischen Gemeinschaft unter den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips Von Herbert Buchner Die gerechte Gestaltung der Arbeits- und Sozialordnung ist seit Jahrzehnten ein zentrales Anliegen Anton Rauschers. Daß Ordnungssysteme vom Grundsatz der Subsidiarität bestimmt werden sollen, hat Anton Rauscher von Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn an in überzeugender Weise dargelegt. Es trifft sich gut, daß die zu seinen Ehren erstellte Festschrift zu einem Zeitpunkt erscheint, in dem die weitere Entwicklung unseres Arbeitsund Sozialrechts als Folge der Schaffung des Europäischen Gemeinsamen Marktes kritischer Überprüfung bedarf, und in dem zugleich die politische Entwicklung aufgrund erheblicher Vorbehalte der Bürger Europas gegen eine nicht mehr einsichtig zu machende Verlagerung der Kompetenzen auf die Europäische Gemeinschaft dahin geht, dem Gedanken der Subsidiarität nicht nur als theoretis