Die Ordnung der Praxis: Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik [Reprint 2011 ed.] 9783110935288, 9783484365681

Key events like the discovery of America, the collapse of denominational unity, the increasing significance of new trade

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Die Ordnung der Praxis: Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik [Reprint 2011 ed.]
 9783110935288, 9783484365681

Table of contents :
Vorwort
I. ÖFFENTLICHER ABENDVORTRAG – ANSTELLE EINER EINLEITUNG
Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit
II. RECHTSPHILOSOPHIE
Naturrecht als Rechtstheorie: Die Systematisierung der ›res scolastica‹ in der Naturrechtslehre des Domingo de Soto
Lex Aeterna. Zu Francisco Suárez’. Tractatus de legibus ac Deo Legislatore
Francisco Suárez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation
Die Wörter des Gesetzes und ihre Auslegung. Einige Thesen von Francisco Suárez
Naturrecht und Menschenrecht. Der Beitrag der Spanischen Spätscholastik zur Entwicklung der Menschenrechte
III. POLITISCHE THEORIE
Die Zustimmung des Volkes in der politischen Theorie von Francisco de Vitoria, Bartolomé de las Casas und Francisco Suérez
Toleranz und Kommunikation. Das Recht auf Mission bei Francisco de Vitoria
Die Theorie des gerechten Krieges im Denken des Francisco de Vitoria
The Good Man and the good Citizen. Miguel de Palacios and an Aristotelian question in the Spanish second scholastic
Widerstand gegen den ungerechten Herrscher bei Juan de Mariana und einigen anderen Autoren
Potestas multitudinis bei Suárez und potentia multitudinis bei Spinoza. Zur Transformation der Demokratietheorie zu Beginn der Neuzeit
IV. STRAFRECHTSTHEORIE
Die gelehrte Strafrechtsliteratur in der spanischen Spätscholastik. Skizze eines Forschungsprojektes
»Punienda ergo sunt maleficia«. Zur Kompetenz des öffentlichen Strafens in der Spanischen Spätscholastik
Ketzerei und Ketzerbestrafung im Werk des Alfonso de Castro
V. WIRKUNGEN
Les ›Magni Hispani‹ dans l’oeuvre de Grotius
Gesetz und Obligation. Die spätscholastische Gesetzestheologie und ihr Einfluß auf die Naturrechtsdebatte der Frühen Neuzeit
Spanische Spätscholastik und kanonistische Lehrbuchliteratur
VI. ANHANG
Salamanca und sein Ambiente. Ein Repertorium zur Jesuitenscholastik des 17. Jahrhunderts
VII. NAMENREGISTER

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Frühe Neuzeit Band 68 Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext In Verbindung mit der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit" an der Universität Osnabrück Herausgegeben von Jörg Jochen Berns, Klaus Garber, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller und Friedrich Vollhardt

Die Ordnung der Praxis Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik Herausgegeben von Frank Grunert und Kurt Seelmann

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Ordnung der Praxis : neue Studien zur spanischen Spätscholastik / hrsg. von Frank Grunert und Kurt Seelmann. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Frühe Neuzeit; Bd. 68) ISBN 3-484-36568-4

ISSN 0934-5531

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Wolfgang Thoeben, Münster Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Buchbinderei Koch, Tübingen

Inhalt

Vorwort I. ÖFFENTLICHER ABENDVORTRAG - ANSTELLE EINER EINLEITUNG. . .

IX 1

Rainer Specht Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit

3

II. RECHTSPHILOSOPHIE

19

Merio Scattola Naturrecht als Rechtstheorie: Die Systematisierung der >res scolastica< in der Naturrechtslehre des Domingo de Soto

21

Norbert Brieskorn Lex Aeterna. Zu Francisco Suärez' Tractatus de legibus ac Deo Legislatore

49

Robert Schnepf Francisco Suärez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation

75

Ernesto Garzön Valdös Die Wörter des Gesetzes und ihre Auslegung. Einige Thesen von Francisco Suärez

109

Felix Hafiier, Adrian Loretan, Christoph Spenlö Naturrecht und Menschenrecht. Der Beitrag der Spanischen Spätscholastik zur Entwicklung der Menschenrechte . .

123

III. POLITISCHE THEORIE

155

Mariano Delgado Die Zustimmung des Volkes in der politischen Theorie von Francisco de Vitoria, Bartolome de las Casas und Francisco Suärez

157

VI

Inhalt

Michael Sievernich Toleranz und Kommunikation. Das Recht auf Mission bei Francisco de Vitoria

183

Dieter Janssen Die Theorie des gerechten Krieges im Denken des Francisco de Vitoria

205

Annabel Brett The Good Man and the good Citizen. Miguel de Palacios and an Aristotelian question in the Spanish second scholastic

245

Ulrich Dierse Widerstand gegen den ungerechten Herrscher bei Juan de Mariana und einigen anderen Autoren

269

Manfred Walther Potestas multitudinis bei Suärez und potentia multitudinis bei Spinoza. Zur Transformation der Demokratietheorie zu Beginn der Neuzeit

281

IV. STRAFRECHTSTHEORIE

299

Kurt Seelmann Die gelehrte Strafrechtsliteratur in der spanischen Spätscholastik. Skizze eines Forschungsprojektes

301

Frank Grunert »Punienda ergo sunt maleficia«. Zur Kompetenz des öffentlichen Strafens in der Spanischen Spätscholastik

313

Daniela Müller Ketzerei und Ketzerbestrafung im Werk des Alfonso de Castro . . . 333 V . WIRKUNGEN

349

Alfred Dufour Les >Magni Hispani< dans l'oeuvre de Grotius

351

Gerald Härtung Gesetz und Obligation. Die spätscholastische Gesetzestheologie und ihr Einfluß auf die Naturrechtsdebatte der Frühen Neuzeit. . . .

381

Inhalt

VII

Peter Landau Spanische Spätscholastik und kanonistische Lehrbuchliteratur

403

V I . ANHANG

427

Sven K. Knebelund sein Ambiente. Salamanca Ein Repertorium zur Jesuitenscholastik des 17. Jahrhunderts

429

V I I . NAMENREGISTER

459

Vorwort

Die Spanische Spätscholastik hat mit Beginn der neunziger Jahre und zweifellos begünstigt durch die 500-Jahr-Feiem zur Entdeckung Amerikas erneut das Interesse der unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen auf sich gezogen. Nachdem bereits verschiedene monographische Studien zu einzelnen Autoren erschienen waren und ein Teil der bedeutendsten Quellen in neuen Ausgaben vorgelegt wurde, schien es sinnvoll, die unterschiedlichen Initiativen zu bündeln, um der interdisziplinären Diskussion neue Perspektiven zu erschließen. Dennoch war nicht die zufällige Einsicht in eine neuerdings entstandene Forschungssituation für die Idee ausschlaggebend, eine Reihe von international ausgewiesenen Spezialisten zu einem interdisziplinären Kolloquium einzuladen. Das aktuelle Interesse der Herausgeber, eine weiterfuhrende Diskussion über die Spanische Spätscholastik zu initiieren, beruhte vielmehr auf Forschungen, die dem gelehrten Strafrecht der Spanischen Spätscholastik galten. Diese Arbeiten wurden im Rahmen des DFGForschungsschwerpunkts >Die Entstehung des öffentlichen Strafens< durchgeführt, der bereits 1999 abgeschlossen wurde und dessen Ergebnisse unter der Ägide von Dietmar Willoweit kontinuierlich vorgelegt werden. Um auch jenseits strafrechtlicher Fragestellungen Hintergründe zu beleuchten und Besonderheiten der Spanischen Spätscholastik zu reflektieren, fand im Mai 1998 auf dem Landgut Castelen der Römer-Stiftung Dr. Ren6 Clavel in Äugst unweit von Basel eine Tagung statt, deren Beiträge sich - den vorrangigen theoretischen Interessen der Spanischen Spätscholastik entsprechend auf Problemkonstellationen aus dem weiten Gebiet der praktischen Philosophie konzentrierten. Denn angesichts der bedeutenden politischen, wirtschaftlichen und religiösen Verwerfungen des 16. Jahrhunderts war es der Spanischen Spätscholastik darum zu tun, eine Ordnung der Praxis theoretisch zu begründen, die einerseits am tradierten christlichen Selbstverständnis anschließen konnte und gleichzeitig geschmeidig genug war, um den veränderten Bedingungen gerecht werden zu können. Die aus theologischer, juristischer, philosophischer und historischer Perspektive gehaltenen Referate können nun der wissenschaftlichen Öffentlichkeit übergeben werden, dabei werden sie durch Studien ergänzt, die Annabel Brett, Ulrich Dierse, Ernesto Garzön Valdös, Dieter Janssen, Sven K. Knebel und Michael Sievernich dankenswerterweise frühzeitig dem entstehenden Sammelband beigesteuert haben.

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Vorwort

Die Römer-Stiftung Dr. Ren£ Clavel und die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel haben die Tagung in logistischer wie finanzieller Hinsicht großzügig unterstützt, die Freiwillige Akademische Gesellschaft Basel war darüber hinaus bereit, die Erstellung der Druckvorlage zu finanzieren; beiden Institutionen sei an dieser Stelle ganz ausdrücklich gedankt. Zu besonderem Dank sind die Herausgeber Wolfgang Thoeben verpflichtet, der mit routinierter Kompetenz und Umsicht die mühselige Einrichtung der Manuskripte und die Arbeit an dem Register engagiert übernommen hat. Ihm zur Seite standen für die verschiedenen Korrekturdurchgänge Kay Zenker und für die Erstellung des Registers Petra Schulz und Dr. Inge Weiler, auch ihnen möchten die Herausgeber sehr herzlich danken. Ein letzter Dank geht an die Adresse der Herausgeber der Reihe Frühe Neuzeit, und hier namentlich an Prof. Dr. Friedrich Vollhardt, der schon von Anfang an sein Interesse bekundet und schließlich das Erscheinen des Bandes ermöglicht hat. Basel und Gießen, im Mai 2001

Kurt Seelmann, Frank Grunert

I. ÖFFENTLICHER ABENDVORTRAG - ANSTELLE EINER EINLEITUNG

Rainer Specht (Mannheim)

Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit

»Wie sehr die Menschheit auch in unterschiedliche Völker und Nationen geteilt sein mag, sie behält doch immer eine Art von Einheit, die nicht nur artspezifisch, sondern sozusagen politisch und moralisch ist.«1 Diesen Satz, auf dessen Kontext und Vorgeschichte ich nicht eingehe, hat 1612 Francisco Suärez geschrieben. Er ist nicht singular, aber charakteristisch für die geistige Bewegung, der die Basler Tagung >Die Ordnung der Praxis« gewidmet ist. Die sogenannte Spanische Spätscholastik oder Spanische Schule entsteht gegen Ende der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts, und mit ihr beginnt der Aufbruch der spanischen Nation in ihre Klassik. Die Blüte reicht ins 17. Jahrhundert. 1479 hatten die Könige von Kastilien und Aragön ihre politisch und ökonomisch heterogenen Territorien vereinigt und sie danach mit großer politischer Kunst in einen modernen Staat verwandelt,2 der sich nun anschickte, eine Weltmacht zu werden.3 Die Könige leiteten behutsame, aber wirkungsvolle politische Reformen ein, die die gewachsenen Ordnungen ihrer Länder respektierten, und förderten Gewerbe, Wissenschaften und Künste. 1478 gründeten sie als erste gesamtspanische Institution die Spanische Inquisition. Während zeitgenössische Zeugnisse sie mit Achtung erwähnen, empfinden sie heutige Beobachter wegen ihres Spitzelsystems und wegen der Geheimhaltung ihrer Verfahren und Haftorte im besten Fall als ambivalent. Auffällig ist ihr Interesse am Rechtsschutz der Angeklagten und die Großzügigkeit ihrer Bücherzensur.4 F. Suärez: Opera Omnia. Bd. 5: Tractatus de legibus ac Deo legislatore, Paris 1856, 2.19.9, S. 169a: »Ratio autem hujus partis et juris est, quia humanuni genus quantumvis in varios populos et regna divisum, semper habet aliquam unitatem non solum specificam, sed etiam quasi politicam et moralem, quam indicat naturale praeceptum mutui amoris et misericordiae, quod ad omnes extenditur, etiam extraneos, et cujuscumque rationis.« Vgl. Horst Pietschmann: Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980. Gut lesbare Übersichtswerke in deutscher Sprache sind R. Trevor Davies: Spaniens goldene Zeit 1501-1621, München 1939 (deutsche Ausgabe von The Golden Century of Spain, London 1937) und Miguel-Angel Ladero Quesada: Das Spanien der Katholischen Könige. Ferdinand von Aragön und Isabella von Kastilien 1469-1516, Innsbruck 1992 (deutsche Ausgabe von Los reyes catölicos. La corona y la unidad de Espana, o.O. 1989). Die Folter wurde sparsam verwendet. Die Angeklagten hatten Anspruch auf Rechtsbeistand und durften Richter wegen Befangenheit ablehnen. Die Alleinzuständigkeit der Inquisition für Glaubensverfahren war nicht nur eine Last, sondern insofern ein Sicherheitsfaktor, als sie improvisierte Verfolgungen von dritter Seite ausschloß; die Inquisition

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Rainer Specht

Die Befassung der Könige mit Glaubensdingen entspricht der damals allgemeinen Überzeugung, daß innerer Friede mit ideologischer Homogenität zusammenhängt; daran rütteln erst das Edikt von Nantes, der Westfälische Friede und die Praxis der nördlichen Niederlande. Zu den frühen Konsequenzen dieser Überzeugung gehört die Vertreibung der ungetauften und rückfälligen Juden im Jahr 1493. Mit der Eroberung Granadas verschärft sich das Problem der ungetauften und rückfälligen Muslim; die Könige ziehen tolerante Lösungen vor, aus sehr komplexen Gründen bleibt es aber nicht dabei. Das welthistorische Ereignis der Entdeckung der Neuen Welt wird zunächst fast nur unter dem Gesichtspunkt der Edelmetallgewinnung wahrgenommen; erst später treten administrative und soziale Probleme in den Blick. Die Kirche5 gewinnt durch die Reformen der Könige ein hohes moralisches und geistiges Niveau; schon deshalb ist in Spanien das Interesse an einer Reformation geringer als anderswo. Die Praxis der Orden und die Ausbildung des Klerus werden neu organisiert, auch werden regelmäßige Gemeindevisitationen eingeführt. Man fordert die Laienreligiosität und hat ausgeprägte nationalkirchliche Tendenzen. Päpstliche Verlautbarungen dürfen nur mit königlicher Genehmigung veröffentlicht werden, und die personellen Einflußmöglichkeiten des Papstes sind schon deshalb eingeschränkt, weil Ausländer in Spanien keine kirchlichen Stellungen bekleiden dürfen. Die Krone besitzt das Patronatsrecht für beinahe alle höheren Kirchenämter. Mit der Thronbesteigung Karls V. im Jahr 1516 nimmt für das Reich, in dem die Sonne nicht untergeht, die Zahl der auswärtigen Konflikte rasch zu. Bis ins 17. Jahrhundert ist Spanien militärisch führend; seine Stärke beruht auf seiner Infanterie, die extrem diszipliniert und belastbar ist. Auch in der theoretischen und praktischen Seemannsausbildung gilt das Land als richtungweisend, bis seine Feinde zum Einsatz kleiner, beweglicher und seemännisch bewaffneter Einheiten übergehen. Schon zwischen 1526 und 1559 gibt es vier Kriege mit Frankreich, Konflikte mit Mauren und Türken und Auseinandersetzungen mit Protestanten, Niederländern und England, die teils mit empfindlichen Niederlagen und teils mit glänzenden Siegen enden. Anfangs ist auch der innere Friede gefährdet. Weil sich der junge Monarch erstaunliche Mißgriffe erlaubt, kommt es zu Aufständen kastilischer und

zwang zum Beispiel die Dominikaner von San Esteban zur Freilassung des Clochards Ignatius von Loyola, den sie wegen laienpriesterlicher Anmaßungen in ihrem Kloster eingesperrt hatten. In Spanien gab es weniger Ausschreitungen religiöser Mobs und weniger Hexenverfolgungen als in anderen Landern. Die fllr Spanien zuständige Zensur der Inquisition, die von der römischen Zensur unabhängig war, verfuhr vergleichsweise argumentativ und hatte manchmal die Tendenz, literarische Qualitäten gegen dogmatische Schwächen aufzurechnen. Gegen eine Ungeheuerlichkeit wie die Schrift De lmmortalitate Animae des jungen Pietro Pomponazzi unternahm man nichts, und keine Arbeit von Kopernikus, Giordano Bruno oder Galilei wurde beanstandet. Das dreibändige Obersichtswerk von Pius B. Gams: Die Kirchengeschichte von Spanien, Regensburg 1862-1879, wurde 1956 in Graz nachgedruckt.

Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit

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aragonesischer Städte6 mit klaren Sozialrevolutionären Tendenzen. Später erschüttert unter Philipp II. der Moriskenaufstand von 1568-1570, den politische Falken herausgefordert haben, den inneren Frieden noch einmal. Dieser Aufstand hat außenpolitische Aspekte, denn die verzweifelten Morisken knüpfen - ähnlich wie später die Calabresen um Campanella - Kontakte mit dem Sultan und mit Frankreich an. Die Spannungen enden mit der Maurenvertreibung von 1609 und 1610, die unter anderem zu Lasten der Landwirtschaft geht. Der Verlust der nördlichen Niederlande ist eine empfmdliche Schlappe; zum Ausgleich gelingt die Angliederung Portugals. Die Wirtschaftslage ist meistens schwierig, und auch das wird zu einem der Themen der Spanischen Schule.7 Im 16. Jahrhundert hat Spanien grob 10 Millionen Einwohner. Zum Zeitpunkt der Vereinigung ist die Textilproduktion der wichtigste Wirtschaftsfaktor. Millionen von Merinoschafen liefern erstklassige Wolle. Die Schafzüchter haben sich in der politisch mächtigen Selbstverwaltungskörperschaft der Mesta organisiert, und die Blüte ihrer Wanderwirtschaft beeinträchtigt den Ackerbau. Schon 1520 ist Spanien auf Weizenimporte angewiesen, aber die Krone stützt die Mesta, die eine ihrer wichtigsten Einnahmequellen ist. Das Aufblühen der Städte am Anfang der Regierung Karls hängt vor allem mit der wachsenden Nachfrage aus den Kolonien zusammen, die einen Boom der Seiden- und Wollmanufaktur und der Metallverarbeitung auslöst. Die zahlreichen kleinen Adligen hindert ihr Standesbewußtsein daran, von diesem Wirtschaftsaufschwung zu profitieren, doch läßt sich der Personalbedarf durch landflüchtige Bauern decken, die in Spanien nicht durch Rechtsbestimmungen an ihre Scholle gebunden sind. Allerdings führt die exzessive Edelmetallzufuhr schon bald zu Geldmengen- und Preisproblemen.8 Der Staat braucht Geld für seine Verwaltung, für seine Bauten und fur seine Kriege. Deren Nützlichkeit wird unterschiedlich beurteilt, doch hat sich das Land zumindest bei der Eindämmung der türkischen Expansion im Interesse Europas verschuldet. Die Steuerlast, die ebenfalls zu den Themen der Spanischen Schule gehört, wächst enorm und heizt die Inflation an, ruiniert den Export und ermuntert die Kolonien zur Eigenproduktion. Zur Preissenkung verordnet der Staat Qualitätsminderungen, die vor allem den Ruf der spanischen Waren untergraben. Der Ackerbau profitiert nicht mehr vom Niedergang der Schafzucht nach 1560. Durch die Vertreibung moriskiAuf Konsequenzen dieser Aufstände für die politische Theorie geht der Beitrag von Mariano Delgado ein. Es wird auch zum Anlaß ökonomischer Erörterungen; siehe Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie 2: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. I: Allgemeine Themen, Iberische Halbinsel, Italien, hrg. v. Jean-Pierre Schobinger, Basel 1998, S. 457-459 (Darstellung); (S. 430a-434b) (Primärliteratur); Angaben zur Sekundärliteratur ab S. 498b (Nr. 440). Daß deren Ursache in Spanien erkannt wurde, zeigt der Beitrag von Peter Bernholz: The Discovery of the New World and the Development of the Purchasing Power Parity Theory, in: Economic Effects of European Expansion, 1492-1824, hrg. v. Josi Casas Pardo, Stuttgart 1992.

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Rainer Specht

scher Fachkräfte verschlimmert sich die Lage, denn christliche Nachrückarbeiter bleiben nicht zuletzt aufgrund sozialer Vorurteile aus. Die Situation des Landes wird unbeherrschbar, als gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Edelmetallimporte schrumpfen, nicht zuletzt zu Lasten der Münzqualität Vorkommen erschöpfen sich, der Eigenverbrauch der Kolonien wächst, und Schmuggel und Piraterie verlangen ihren Anteil. Der Staatsbankrott von 1575 ruiniert europäische Börsenplätze wie Sevilla und Antwerpen und entscheidet auf lange Sicht den Krieg in den Niederlanden. Die Städte verkraften die Landflucht nicht mehr, und wer sich nicht zur Auswanderung entschließt, verstärkt die Armeen von Armen, Bettlern, Strolchen und Vagabunden, die im Roman der spanischen Klassik geschildert werden. Es handelt sich nicht nur um eine Zeit kultureller Höchstleistungen, sondern auch um eine Zeit höchst einfallsreicher Kleinbetrugsdelikte. In diese Epoche des wirtschaftlichen Niedergangs fällt eine heftige kulturelle Blüte. Das Druckgewerbe floriert seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts. Seit 1480 dürfen ausländische Bücher zollfrei eingeführt werden, doch werden im Inland vor 1500 schon ca. 700 Titel gedruckt. Zwischen 1520 und 1572 entstehen neun Universitäten. An der Neugründung Alcalä de Henares studieren regelmäßig über 2000 Studenten. Die alte Universität Salamanca, an der es 1566 fast 8000 Studenten gibt, hätte in Deutschland noch in den fünfziger Jahren als große Universität gegolten; allerdings ist die Studentenzahl 1602 auf 4000 gesunken. Dort vertritt man das kopernikanische System und darf Leichen sezieren; Frauen werden nicht nur zum Studium, sondern auch zur Lehre zugelassen. Weil niemand so viele Hochschulabsolventen einstellen kann, entsteht ein unruhiges und einfallsreiches akademisches Proletariat. In Spanien gehören Klassik und Renaissance9 zusammen. Die Initialzündung kommt wie bei allen europäischen Renaissancen aus Italien. In der Architektur und bildenden Kunst treten Renaissanceformen seit der Wende zum 16. Jahrhundert auf, ohne die Spätgotik mit ihren schönen Mud6jarelementen zu verdrängen. Das ist bezeichnend. Diese frühe Klassik folgt auf die Zeit der Reconquista und kennt schon deshalb keine Polarisierung von Mittelalter und Moderne - Liebe zur Antike verbindet sich unmittelbar mit Liebe zum Mittelalter. Die literarische Renaissance kommt nicht wie in Frankreich plötzlich wie ein Gewitter. Spanien ist in Italien seit langem präsent, Neapel steht seit 1280 bei Aragön, und Dante, Petrarca, Boccaccio, Alberti, Bruni, Valla und Pico werden fast zeitgleich rezipiert. Die Liebe zur Antike ist ausgeprägt. Griechische Texte werden früh gepflegt, und zwischen 1538 und 1600 erscheinen acht verschiedene griechische Grammatiken. Man zitiert Pindar und die Vorsokratiker und entwickelt einen autochthonen Renaissancearistotelismus von hohem philologischem Niveau. Daneben finden sich von Florenz inspirierte Versuche zur Versöhnung Piatons

Eine informative Darstellung bietet Aubrey F. G. Bell: El renacimiento en Espafla, Zaragoza 1944.

Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit

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mit Aristoteles.10 Die lateinische Klassik ist in Originalen und in hervorragenden Übersetzungen präsent. Cicero wird wie überall in Europa geliebt, aber der späte Stoizismus Senecas, der aus Cordoba stammt, durchtränkt geradezu die klassische Literatur. Der Liebe zum Mittelalter entspringen Phänomene, die bei uns erst ftlr die Romantik charakteristisch sind. In sorgfältig redigierten Liedersammlungen werden Heldensagen, Reconquista-Szenen, Ritterepisoden und Ereignisse des Mittelalters überliefert. Man interessiert sich für mittelalterliche Literatur-, Rechts- und Wissenschaftsquellen und entwickelt eine bemerkenswerte Kultur der Historiographie; nicht ohne Grund entsteht das erste europäische Staatsarchiv in Simancas. Zugleich erscheinen Grammatiken und Wortschatzsammlungen für gepflegtes spanisches Sprechen und Schreiben. Das Interesse an der Natur ist lebhaft. Daß es in Spanien genau so einfallsreiche Naturhistoriker und Naturphilosophen wie in Italien oder im Reich gibt, zeigt die eigenwillige Physiologie von Gömez Pereira und die klassifikatorische Charakterlehre von Juan Huarte.11 In typischen Renaissanceinteressen wie dem an Magnetismus, Gestirnen, Mineralien, Fossilien, Metallen, Bergbau und Meteoren unterscheidet man sich nicht vom Rest Europas. Man tut es allenfalls dadurch, daß man auf Gebieten wie der Ophthalmologie, der Chirurgie des menschlichen Hauptes und der Tropenmedizin mehr weiß als anderswo, denn man verfügt über Hinterlassenschaften der Mauren und über neue Erfahrungen aus Übersee. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts blühen Musik und bildende Künste, aber auch die philosophisch disziplinierte spekulative Mystik, die Texte von unvergleichlicher Schönheit hervorbringt. Die schöne Literatur12 mit ihrem lebhaften Drama, ihrer bezaubernden Lyrik und ihrem fesselnden Roman, der den Schein der Welt durchschaut, ist offen für Philosophie. Gedichte variieren philosophienahe Themen.13 Das fur Comedia und Roman fundamentale Welttheater-Motiv ist ein Topos der Stoa und das Traummotiv ein Topos der Skepsis. Einheimische Theorien der Mitwirkung Gottes mit den Geschöpfen, aber auch Motive aus der Rechtsphilosophie der Spanischen 10

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Das meistgenannte Beispiel ist Sebastiän Fox Morcillos Abhandlung De natura philosophiae von 1554, von der meines Wissens eine moderne Ausgabe nicht vorliegt. Gömez Pereira: Antoniana Margarita, Medina del Campo 1554. Zu diesem Werk, das nur in wenigen Exemplaren erhalten ist, siehe Marcelino Mendndez Pelayo: Historia de los heterodoxos espafloles, Bd. 59, Madrid 1953; Juan Huarte de San Juan: Examen de ingeniös para las sciencias (1575), moderne Ausgabe: Examen de ingeniös para las ciencias, hrg. v. Guillermo Serös (Letras hispänicas. 311), Madrid 1989. Lessing hat das Werk übersetzt: Juan Huart's Prüfung der Köpfe zu den Wissenschaften, aus dem Spanischen übersetzt von Gotthold Ephraim Leßing. Zweyte [...] verbesserte Auflage, Wittenberg und Zerbst 1785, ND München 1968. Ludwig Pfandl: Geschichte der spanischen Nationalliteratur in ihrer Blütezeit, Freiburg 1929; Hans Flasche: Geschichte der spanischen Literatur. Bd 2: Das Goldene Zeitalter. Sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, Bern 1982. Ein bekanntes Beispiel ist das Gedicht Que descansada vida, Übersetzung von Horaz' Epode 2 (Beatus ille qui procul negotiis) von Luis de Leön. Text und deutsche Übersetzung in Karl Vossler: Luis de Leön, München 1946, S. 121-124 und 167-171.

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Rainer Specht

Schule strukturieren Dramen von Lope, Tirso und Calderön.14 Die Weisheitslehre des Periquillo-Romans von Francisco Santos15 und die Moralkapitel in Mateo Alemäns Schelmengeschichte Guzmän de Alfarache klingen wie stoisch-kynische Diatriben, und Vicente Espinels pikareske Biographie des Marcos de Obregön könnte man heute als Lehrbuch für spätscholastische Physik verwenden.16 Neben der Philosophie, die sich in Dichtung inkarniert, gibt es eine Blüte philosophischer Literatur für gebildete Laien. Erasmus von Rotterdam, den Kardinal Cisneros auf einen Lehrstuhl in Alcalä zu berufen versucht, ist eins der großen und hart verteidigten Vorbilder. Die Krise des Erasmianismus wird nicht durch die Publikumsschriften, sondern durch reformationsverdächtige theologische Äußerungen veranlaßt. Weil ausgerechnet der Generalinquisitor für Erasmus auf die Barrikaden geht, bleiben die Maßnahmen moderat. Die zahlreichen Übersetzungen von ErasmusTexten ins Spanische werden verboten, aber die vorhandenen lateinischen Fassungen bleiben unbehelligt, denn wer Latein kann, hat auch Verstand. Nur künftige lateinische Ausgaben sind von den neuen Richtlinien betroffen.17 In Verbindung mit der Furcht vor reformatorischen Ansteckungskeimen, die den Erasmusstreit entfesselt hat, kommt es 1559 zu dem folgenreichen Verbot des Auslandsstudiums, das zur Isolierung Spaniens vom Rest Europas beitragen wird. Zur spanischen popularphilosophischen Literatur gehören im Grunde auch die später für Spinoza wichtigen Dialoghi d'amore des jüdischen Emigranten Jehuda Abrabanel, der nun Leone Ebreo heißt.18 Von ihnen erscheinen zwischen 1568 und 1590 drei spanische Übersetzungen und ein Plagiat, das seinerseits noch einmal plagiiert wird. Noch heute in Europa bekannte Autoren sind Luis Vives und Miguel Servet,19 der als Jurist beginnt, den 14

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Auf die Beziehung zwischen der Verbindlichkeitstheorie von Suärez und der Comedia El mejor alcalde, el rey von Lope de Vega verweise ich in dem Aufsatz Über den Sinn des sogenannlen Voluntarismus in der Gesetzestheorie des Suärez, in: Wissenschaft, Ethos, Politik. Festschrift für Joseph Höffiier (Jahrbuch des Instituts für christliche Sozialwissenschaften der Westfiliischen Wilhelms-Universität Münster. Bd. 7/8), Münster 1967, S. 253-255. Den selten gedruckten Text Periquillo el de las Gallineras findet man in der Leseausgabe La novela picaresca espanola, hrg. v. Angel Valbuena y Prat, Madrid 1946 u.ö., S. 18511918. Deutsche Übersetzungen beider Romane in: Spanische Schelmenromane, hrg. v. Horst Baader, München 1964, Bd. 1, S. 65-845, und Bd. 2, S. 155-525. Siehe die Literaturangaben in Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie (wie Anm. 7), S. 494, Nr. 303-304, 306, 309, sowie den Abschnitt Vitoriayel erasmismo en Espafia bei Urdänoz: Relecciones teolögicas (wie Anm. 28), S. 30-35. Leone Ebreo: Dialoghi d'amore/Hebräische Gedichte, hrg. v. Carl Gebhardt (Bibliotheca Spinozana. 3), Heidelberg 1929. - Der Text der Madrider Ausgabe von 1590 (Diälogos de amor) wurde 1989 mit einer Einleitung von Miguel de Burgos Nuflez in Sevilla neu herausgegeben. In deutschen Bibliotheken gibt es ungewöhnlich viele alte Vives-Ausgaben. In den letzten Jahrzehnten sind mehrere Übersetzungen von Einzelschriften in europäische Sprachen bzw. zweisprachige Ausgaben erschienen. Die Werkausgabe Johannis Ludovici Vivis

Die Spanische Spätscholastik im Kontext ihrer Zeit

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kleinen Blutkreislauf entdeckt, als Pamphletist Papisten, Protestanten, Trinität und Kindertaufe angreift und 1553 auf einem Genfer Scheiterhaufen stirbt. Die Richtung besteht aber nicht nur aus Emigranten. Der Jesuit Juan de Mariana verhandelt brisante religiöse und polititsche Themen nicht nur auf Latein, sondern auch in der Landessprache.20 Den Höhepunkt der Strömung bilden Schriften Baltasar Graciäns, der bei uns durch Schopenhauer berühmt geworden ist,21 und Franciscos de Quevedo, eines literarisch vielfältig begabten Autors, der unter anderem einen makabren Gaunerroman hinterlassen hat.22 Quevedos Verehrer bezeichnen ihn als spanischen Seneca; er steht in Verbindung mit dem Neostoizismus der Niederlande, aus dem später die Bewegung der Arminianer hervorgeht. Beides hindert ihn aber nicht daran, schon lange vor Gassendi für das Ansehen Epikurs zu kämpfen. Vor einer so eindrucksvollen Kulisse von Gipfeln und Schluchten entwickelt sich die Spanische Spätscholastik als die früheste Europa prägende Leistung der spanischen Klassik. Ihre Gründung fällt in die noch glückliche Zeit nach den kastilischen und aragonesischen Aufständen und vor dem ersten Französischen Krieg. Angesichts des wachsenden Elends, des Einbruchs in die Neue Welt,23 der Kriege und der Hungerperioden ist das Inter-

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Opera Omnia, Valencia 1782-1790, wurde 1964 in London nachgedruckt. Die Briefausgabe Epistolario, hrg. v. Josö Jiminez Delgado (Biblioteca de la literatura y del pensamiento hispänicos. 37) erschien 1978 in Madrid. - Zur Wirkung siehe Juan Luis Vives. Sein Werk und seine Bedeutung für Spanien und Deutschland. Akten der internationalen Tagung vom 14.-15. Dezember 1992 in Münster, hrg. v. Christoph Strosetzki (Studia Hispanica. 1), Frankfurt am Main 1995. - Von Miguel Servet sind auch in deutschen Bibliotheken zahlreiche Einzelschriften erhalten. Eine deutsche Übersetzung erschien meines Wissens zuletzt gegen Ende des vorigen Jahrhunderts (Michael Servet: Sieben Bücher über die Dreieinigkeit, hrg. v. Bernhard Spieß, Wiesbaden 1892). Obras del Padre Juan de Mariana, hrg. v. Francisco PI y Margall (Biblioteca de autores espafioles. 30 u. 31), Madrid 1950. - Lateinisch-deutsche Ausgabe: De Monetae mutatione / Über die Münzverschlechterung, hrg. v. Josef Falzberger, Heidelberg 1996. - Zu Marianas politischer Theorie siehe Guenter Lewy: Constitutionalism and Statecraft during the Golden Age of Spain. A Study of the Political Philosophy of Juan de Mariana, S.J., Genf 1960. Eine handliche einbändige Leseausgabe der Werke Graciäns ist Obras completas, hrg. v. Arturo del Hoyo, Madrid 1960 u.ö. - Bibliographien und Darstellung in Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie (wie Anm. 7), S. 464a-465b (Primärliteratur), S. 465-472 (Darstellung), S. 508b-510a (Sekundärliteratur). - Von Schopenhauers Übersetzung des Oräculo manual y arte de prudencia erschienen in Deutschland allein in diesem Jahrzehnt drei Einzelausgaben: Essen 1990 (Phaidon, 2. Aufl.), Stuttgart 1992 (Kröner, 13. Aufl.) und Stuttgart 1995 (Reclams UB 2771). Eine handliche einbändige Leseausgabe der Werke Quevedos ist Obras completas, hrg. v. Felicidad Buendla, Madrid 1958 u.ö. - Bibliographien und knappe Darstellung in Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie (wie Anm. 7), S. 346a-347b (Primärliteratur), S. 347-351 (Darstellung), S. 493a-494a (Sekundärliteratur). - Eine deutsche Übersetzung des Gaunerromans Historia de la vida del Buscön llamado Don Pablos findet sich in Spanische Schelmenromane, hrg. v. Horst Baader, München 1965, Bd. 2, S. 7 154. Dazu Joseph Höffner: Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947.

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esse der Autoren an aktuellen Problemen, über das sich heutige Leser zu wundem pflegen, fast selbstverständlich. Der Wortteil >Scholastik< in >Spätscholastik< bezeichnet keine inhaltliche, sondern eine formale Bestimmung: Die Gruppe bedient sich vor allem der literarischen Formen Quaestion und Kommentar, die für die Hochscholastik charakteristisch sind; abgesehen davon handelt es sich um neuzeitliche Autoren. Sie bilden keine Schüler-Lehrergemeinschaft mit doktrinaler Geschlossenheit, sondern einen lockeren Kreis von Gleichgesinnten, die das Verfahren und die Grundsätze des Schulstifters Francisco de Vitoria billigen oder teilen. Dieser steht nicht nur Ordensbrüdern wie Domingo de Soto (1494-1560) und Melchor Cano (1509-1560) nahe,24 der für das Römische Bekenntnis eine ähnliche Rolle spielt wie Melanchthon für das Augsburgische, sondern auch Franziskanern,25 Jesuiten und Säkularklerikern. Der Schulstifter Francisco de Vitoria wird gegen Ende des 15. Jahrhunderts geboren. Er tritt in den Dominikanerorden ein und studiert in Paris am Co Höge de Saint-Jacques, in dem sich später die Jakobiner treffen, aber auch bei Lehrern des innovativen Coltege de Montague. Dort erhält er seine wichtigsten Anregungen - die Spanische Schule ist ein europäisches Phänomen. Vitorias nächster Lehrer ist der Flame Pieter Crockaert, ein Schüler des Schotten John Major. Beide sind Nominalisten, beide haben eine Vorliebe für aktuelle Themen, und beide entdecken Thomas von Aquino neu, obgleich er der Leitautor der stärksten Gegenrichtung ist. Vitoria wird zunächst Sorbonne-Professor, wechselt aber bald nach Valladolid und übernimmt 1526, als seine Gesundheit bereits geschwächt ist, den ranghöchsten Theologielehrstuhl von Salamanca. Hier gründet er eine der einflußreichsten Schulen, die es je gab. Er modernisiert den theologischen Unterricht. Wie im Reich und wie bei Crockaert in Paris dient nun nicht mehr die Sentenzensammlung von Petrus Lombardus, sondern die jüngere und systematischer aufgebaute Summa Theologiae von Thomas von Aquino als offizieller Kommentiertext. Weil Vorlesungen fesselnd und faßbar sein müssen, treten formale Argumentationen zugunsten von Sacherörterungen in den Hintergrund. Der Lehrer muß sich intensiv vorbereiten, denn Kollegs haben jetzt so deutlich strukturiert zu sein, daß Studenten selbständig mitschreiben können und sich nicht mehr mit diktierten Inhaltsangaben der Professoren be-

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In den letzten Jahrzehnten erschienen Nachdrucke logischer und theologischer Schriften von Domingo de Soto O.P., ferner eine Microfiche-Ausgabe seines Kommentars zu IV Sententiarum nach der zweibändigen Ausgabe Valladolid 1S81 (Leiden 1987) und mehrere spanisch-lateinische Ausgaben, darunter die Releccion De Dominio, Ubersetzt und kritisch hrg. v. Jaime Brufau Prats, Granada 1964, sowie De la justiciay del derecho en diez libros, übers, v. Marcelino Gonzalez Ordöüez, O.P., 5 Bde., Madrid 1967-1968. Auf dieses Werk geht der Beitrag von Merio Scattola ein. - Von Melchor Canos Standardwerk De Locis Theologicis wurden bis ins 18. Jahrhundert zahlreiche Ausgaben gedruckt. In diesem Jahrhundert erschien 1987 eine Microfiche-Ausgabe von Canos Werken in Leiden. Auf Vitorias franziskanischen Schuler Alfonso de Castro geht der Beitrag von Daniela Müller ein.

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gnügen müssen. Das alles überzeugt die Studenten so sehr, daß Vitoria über tausend Hörer hat. Als Unterrichtssprache dient ein Latein, das zwar den Korrektheitsansprüchen der Humanisten zu genügen versucht, das im Zweifel aber lieber eindeutig und informativ als schön ist. Die Lehrmethode ist dreistufig: Beschreibung des Sachverhalts; Diskussion der konkurrierenden Lösungen; Entscheidung in der Sache. Vor allem auf der ersten und zweiten Stufe werden aktuelle Wissenschaftsentwicklungen berücksichtigt, z.B. frühe Korpuskularhypothesen und neuartige Physiologien.26 Bei der Würdigung bisheriger Diskussionen bemüht man sich darum, den Texten der Gegenseite auch philologisch gerecht zu werden. Weil man vorerst noch davon überzeugt ist, daß sich die Wissenschaft nur kumulativ entwickelt, sind alte Autoren nicht weniger aktuell als zeitgenössische. Das täuscht heutige Leser manchmal darüber hinweg, daß es sich um innovationsfreudige Texte handelt. Das literarische Genus erfordert die Berücksichtigung von Autoritäten, aber man beherrscht zugleich die Kunst, in klassischen Stellen einen aktuellen Sinn zu entdecken. Der Unterschied zu unseren Usancen beruht weniger auf Desinteresse an Innovationen als auf anderen Methoden zu ihrer Durchsetzung. Vom Schulgründer Vitoria sind unter anderem wertvolle Thomaskommentare überliefert.27 Die größte Wirkung hatten aber seine dreizehn Relektionen.28 Relektionen sind feierliche öffentliche Vorlesungen, die der Selbstdarstellung der Universität nach außen dienen; in Salamanca ist jeder Professor zu einer Relektion pro Jahr verpflichtet. Hier präzisiert Vitoria Grundpositionen des Kirchen-, Staats- und Völkerrechts. Unter dem Eindruck der Kolonisierung und des päpstlich und kaiserlich nicht mehr steuerbaren Nebeneinanders von politischen Herrschaften entwickelt er moralische Regeln der Kriegführung, die von der Theorie des inhaltlich gerechten Kriegs ausgehen und die schon wegen ihrer Problematik von Interesse sind. Wenig später erleichtert in Europa der Verdacht, daß der gerechte Krieg ein

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Zum Beispiel erörtert Suärez Thesen aus Gömez Pereiras Antoniana Margarita in: ders.: De Anima, in: Opera Omnia Bd. 3, Paris 1856, 1.5.3, S. 500ab, und ebd. 3.2, S. 616625a, ferner in ders.: Disputationes Metaphysicae, in: Opera Omnia Bd. 25, Paris 1866, 23.10.13, Seite 889ab. Die meisten davon sind unveröffentlicht. Einen Eindruck von den Texten vermitteln Comentarios a la Secunda Secundae de Santo Tomas und Comentario al Tratado de la ley (1-11, Qq. 90-108). Fragmentes de relecciones, dictämenes, sobrecambios, beide hrg. v. Vicente Beiträn de Heredia, O.P., Salamanca 1932 bzw. Madrid 1952. - Über die Manuskriptlage informiert Los manuscritos del Maestro Fray Francisco de Vitoria, Madrid o.J. Luis G. Alonso Getino, O.P.: Relecciones Teolögicas del Maestro Fray Francisco de Vitoria, 2 Bde., Madrid 1933-1934. - Spanisch-lateinische ausführlich kommentierte Ausgabe: Obras. Relecciones Teolögicas, hrg., Ubers, u. eingel. V. Teöfilo Urdänoz O.P. (Biblioteca de Autores Cristianos. 198), Madrid 1960. - Deutsch-lateinische Ausgabe: Vorlesungen / Relectiones. Völkerrecht, Politik, Kirche (Theologie und Frieden. 5 u. 8), hrg. v. Ulrich Horst, Heinz-Gerhard Justenhoven und Joachim Stuben, Stuttgart 1995 und 1997.

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Krieg des Siegers ist, den Übergang zur Formalisierung der Kriegsgerechtigkeit, die inzwischen wieder der Vergangenheit angehört. Die ruhmvollste Leistung der Schule sind Vitorias Relektionen über die öffentliche Gewalt und über die Indios.29 Der Dominikaner Bartolom^ de las Casas prangert seit 1514 Mißstände in den Kolonien öffentlich an,30 und der Dominikanerkonvent San Esteban in Salamanca, in dem Vitoria lebt, ist die wichtigste Schnittstelle für Nachrichten aus den amerikanischen Missionen. Vitoria greift das heiße Thema, das die Interessen der Kolonisten und indirekt die Interessen der Krone tangiert, gegen starke Widerstände auf und kann sich dabei auf frühere Bemühungen Salamancas stützen. Als Rechtfertigungsgründe für die Unterwerfung der Indios wurden unter anderem angeführt: 1. Sie sind nur menschenähnliche Tiere, wie unter anderem ihre Anfälligkeit für sexuelle Perversionen zeigt. 2. Ohne Eroberung gäbe es keine Mission. 3. Der Papst darf Teile seiner universalen Gewalt auf den König übertragen. Gegen die erste Rechtfertigung wendet sich die Universität Salamanca schon seit 1512; nicht zuletzt ihrer Beharrlichkeit ist die päpstliche Bulle Sublimis Deus von 1537 zu danken, die die Indios glaubensverbindlich zu Menschen erklärt. 1512 wird die Oberherrschaft des Königs von Spanien über die Indios, die Cajetan bestreitet, vom offiziellen Gutachten für Ferdinand den Katholischen und von der Theologentagung in Burgos noch ohne Vorbehalt angenommen; man betont allerdings, daß bekehrte und friedliche Indios als Vasallen des Königs im Besitz ihrer Eigentums· und Herrschaftsrechte bleiben und daß ihre Versklavung ein Rechtsbruch ist.31 Der Nutzen der Eroberung für die Mission wird vor Vitoria am massivsten von Kardinal Cajetan bestritten, den wir heute noch aus der Reformationsgeschichte kennen, und zwar in seinem 1522 abgeschlossenen Summenkommentar.32 Auch Christus hat die Welt nicht mit Soldaten be29

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An deutschen Übersetzungen liegen, abgesehen von der in Anm. 28 genannten deutschlateinischen Ausgabe, meines Wissens vor: Robert Schnepf: Francisco de Vitoria, Über die staatliche Gewalt / De potestate civili (Collegia. Philosophische Texte), Berlin 1992; Walter Schätze!: De Indis recenter inventis et de jure belli Hispanorum in Barbaras. 1539 (Klassiker des Völkerrechts. 2), Tübingen 1952. - Die Sekundärliteratur ist fast unüberschaubar; siehe die Bibliographie in Heinz-Gerhard Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden (Theologie und Frieden. 5), Köln 1991, S. 187-213. Bartolomö de las Casas: Deutsche Werkauswahl, hrg. u. übers, v. Mariano Delgado. Bisher erschienen I: Missionstheologische Schriften, Paderborn 1994. - II: Historische und ethnographische Schriften, Paderborn 1995. - III. 1 und III.2: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, Paderborn 1996 und 1997. - Neue deutschsprachige Sekundärliteratur: Matthias Gillner: Bartolomö de las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents (Theologie und Frieden. 12), Stuttgart 1995; Mariano Delgado: Abschied vom erobernden Gott, in: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft (1996). - Zu erinnern ist an Reinhold Schneiders Roman Las Casas vor Karl V. Szenen aus der Konquistadorenzeit, zuletzt Frankfurt 1990. Vgl. die Angaben im Abschnitt Fuentes inmediatas de la relecciön in Urdänoz: Obras. Relecciones teolögicas (wie Anm. 28), S. 496-502. Dieser Kommentar (1507-1522) ist abgedruckt in Bd. 4-12 der Leonina Maior (S. Thomae Aquinatis Opera Omnia iussu Leonis XIII edita cura et studio Fratrum Praedicato-

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kehrt, und wer es anders hält, der ist ein Räuber und hat die Pflicht, den von ihm verursachten Schaden wiedergutzumachen. Eine vergleichbar radikale Bestreitung der Gewalt des Papstes oder des Königs über die Indios gibt es vor Vitoria nicht. Diesen interessieren nicht Einzelgeschichten, sondern systematische Klärungen.33 Indianer sind keine Tiere, sondern Menschen. Sie sind nicht schwachsinnig, sondern auf ihre Weise vernünftig. Sie neigen zu sexuellen Verirrungen, aber Christen tun das auch. Gemeinwesen von Heiden sind rechtlich nicht anders zu stellen als Gemeinwesen von Christen. Denn weder Unglaube noch Sittenlosigkeit oder kultureller Rückstand berechtigen andere Nationen zum Zugriff auf fremde Territorien und fremdes Gut. Weder Papst noch Kaiser können Ländereien und Besitztümer von Indios verschenken, denn sie gehören ihnen nicht; bei den Argumenten spielt die Bestreitung der Konstantinischen Schenkung eine wichtige Rolle. Betreten dürfen Spanier indianische Territorien in der Tat, weil alle Menschen ein natürliches Recht auf freien Verkehr, freien Handel und freien Gedankenaustausch haben. Auch dürfen ihre Schiffe vor indianischen Küsten ankern und indianische Ströme befahren, denn offene Gewässer sind Gemeingut aller Menschen. Aus dem Naturrecht auf freien Gedankenaustausch ergibt sich das Recht der Spanier, den Heiden das Evangelium zu verkünden. Aber diese sind keineswegs dazu verpflichtet, sich bekehren zu lassen, und dürfen weder durch List noch Gewalt zur Taufe gezwungen werden. Nur dann, wenn die friedliche Predigt verhindert wird, erlaubt das Naturrecht den Einsatz von Waffen, der allerdings mehr Schaden als Nutzen stiftet. Denn niemand kann die Wahrheit des Christentums mit Waffen beweisen, und erzwungenes Scheinchristentum, Massaker und Plünderungen sind schlimme Übel. Nur gegen Ritualmorde und Kannibalismus soll man bewaffnet vorgehen, aber nicht, um Indianern ihr Land fortzunehmen, sondern um den Opfern beizustehen. Die Ansicht, daß Spanier Indios unterwerfen dürfen, um ihnen die Zivilisation zu bringen, ist völkerrechtlich nicht gesichert. Die Errichtung von Protektoraten wäre eine bessere Lösung, sie ist aber nur zulässig, wenn die Barbaren sie formell und nicht wie in den bisherigen Fällen aus Furcht oder aus Unkenntnis erbitten. Vitorias eigentümliche Lei-

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rurri), Rom 1888-1906. Die erwähnte Äußerung findet sich im Kommentar zu 2a 2ae, q 66, a.8. Das zeigt bereits der Aufbau der Relektion: Teil I. Rechtlicher Status der Barbaren vor der Entdeckung (§4) — Teil II: Vermeintliche Rechtsgründe für die Eroberung Amerikas. Die Weltherrschaft des Kaisers (§§1-2) oder des Papstes (§§3-7), das Recht des Entdekkers (§7), das Recht, Ungläubige zum Glauben zu zwingen (§§7-15), das Recht, widernatürliche Unzucht bei Heiden zu bestrafen (§§15-16), angebliche freiwillige Unterwerfung der Eingeborenen (§16), angebliche göttliche Schenkung (§16). Teil III: Wirkliche Rechtsgründe. Das Recht auf freien Verkehr (§§1-8), das Recht auf Predigt (§§9-12), das Recht auf Intervention zum Schutz von Bekehrten (§13), das Recht des Papstes, für bekehrte Völker christliche Regierungen einzusetzen (§14), das Recht auf humanitäre Intervention (§15), das Recht auf freie Entscheidung für spanische Oberhoheit (§16), das Recht auf Intervention im Interesse von Verbündeten, (§17), vielleicht das Recht auf Schutzherrschaft über unterentwickelte Völker (§18).

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stung besteht darin, daß er alle bisherigen Versuche, die überseeische Landnahme zu rechtfertigen, systematisch widerlegt und daraus Konsequenzen zieht. Seine Feststellungen beeindrucken noch heutige Leser. Deren Erfahrung mit hohen Intentionen sagt ihnen allerdings auch, wie wehrlos solche Äußerungen politischem Mißbrauch ausgeliefert sind. Doch ist zu berücksichtigen, daß Vitoria nicht Jurist, sondern Moraltheologe ist. Sein wirkliches Interesse betrifft nicht die Verantwortung des Menschen vor weltlichen Gerichten, sondern seine Verantwortung vor Gott, der alle Vorwände aufdeckt und jeden Mißbrauch durchschaut.34 Der Kaiser, der gelegentlich Vitorias Kolleg besucht hat, kennt seine und Las Casas' Meinungen. Die Kolonialgesetze von 1541 schränken Arbeitspflicht und Arbeitszeit der Indios rigoros ein und verbieten die Sklaverei. Man erkennt die Handschrift von Las Casas, aber auch Ideen Vitorias sind präsent. Diese Gesetze erweisen sich schon bald als undurchsetzbar und werden 1545 zum Teil wieder aufgehoben. Die überseeischen Verwaltungen sind weder stark noch sauber genug, um ihre Befolgung zu erzwingen, und die Verhältnisse im Hinterland sind völlig undurchsichtig. Trotzdem setzen Vitorias Kriterien ethische Maßstäbe für die Kolonialisierung der nächsten Jahrhunderte. Seine Ansätze finden internationale Beachtung und werden von fuhrenden Autoren des Natur- und Völkerrechts aufgenommen. In Europas kultureller Erinnerung haben vor allem diejenigen Leistungen von Vitorias Schule überlebt, die das Naturrecht betreffen und für uns noch fast unmittelbar verständlich sind. An die theologischen Arbeiten erinnert man sich eher schemenhaft; zu ihren Vermittlern an uns gehört Pascals vernichtende Auseinandersetzung mit Spätphänomenen in den Lettres provinciates. Darüber darf man nicht vergessen, daß die spanische Theologie die späteren Präzisierungen der Lehre von den möglichen Welten, der Freiheit des Willens und der Würde des einzelnen geprägt hat - den Leibniz, den wir kennen, gäbe es nicht ohne sie. An den Metaphysiken der Schule orientieren sich Gelehrte aus allen Teilen und Konfessionen Europas, nicht zuletzt im Reich, in Frankreich und in England. Descartes' philosophisches Vokabular ist das der Spanier; sein reformierter Anhänger Adrian Heereboord empfiehlt die Lektüre von Suärez als dem »Fürsten und Papst aller Metaphysiker«.35 Die Physiken der Schule sind nicht unbedeutend, aber vorcartesisch; sie teilen das Schicksal aller Renaissancephysiken vor der Entdeckung des Trägheitsprinzips, das den Abschied von den substantiellen Formen und aktiven Qualitäten und damit den Übergang zu neuzeitlichen Physiken erst rational vertretbar machte. Immerhin ist Suärez Korpuskularist,36 und Vito34

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Dazu Carl Schmitt im Rahmen seines Vitoria-Kapitels in ders.: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 79-80. Ratio studendi philosophiae (Studienordnung des Faches Philosophie), u.a. abgedruckt in Adrian Heereboords Philosophia naturalis, Leiden 21663 (nach S. 256). Dort R 2ro.: »omnium Metaphysicorum Principis ac Papae, Suaresii, Jesuitae«. Siehe Vf.: Aspects cartdsiens de la thiorie suardzienne de la mattere, in: Lire Descartes aujourd'hui, hrg. v. Olivier Depr6 und Danielle Lories (Bibliotheque philosophique de Louvain. 47), Louvain-La-Neuve 1997, S. 28-45.

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rias Freund Domingo de Soto gibt lange vor Galilei und Beeckman in seinem Physikkommentar Vi bt2 als Wegformel für den freien Fall an, er sagt nur leider nicht, weshalb.37 Die praktische Philosophie der Schule, unter die auch ihre Naturrechtsarbeiten fallen, ist vielseitig. Ihre politischen und juridischen Theorien sind wegweisend. 38 Die ökonomischen Krisen ermuntern zum Ausbau einer an aktuellen Problemen orientierten Fiskal- und Wirtschaftsethik, die unter anderem Münzwertfragen und Kriterien der Steuergerechtigkeit bei Steuereinnehmern und Steuerzahlern behandelt. In einer Situation der Massenarmut diskutiert man über kaufmännische Moral und über Rechte und Möglichkeiten der Bedürftigen. Das kirchliche Verbot verzinslicher Darlehen, dessen Auswirkungen auf die Liquidität kleiner Gewerbe die franziskanisch inspirierten Spar- und Darlehenskassen zu begegnen suchen, ermuntert zur Beschäftigung mit alternativen Verfahren des Geldverkehrs, die ähnliche Vorteile bieten wie verzinsliche Darlehen, ohne unter das kirchliche Zinsverbot zu fallen.39 Außer den großen Kanonisten Covarrubias und Väsquez40 wirken vor allem die Jesuiten aus Vitorias Umkreis weit über Spanien hinaus.41 Pedro de Fonseca organisiert in Coimbra den großen Aristoteleskommentar der

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Siehe Marshall Clagett: The Science of Mechanics in the Middle Ages, Madison 1961, S. 255, Anm. 2, und S. 555-556. Bernice Hamilton: Political Thought in Sixteenth-Century Spain. A Study of the political ideas of Vitoria, Soto, Suärez and Molina, Oxford 1963; Kurt Seelmann: Theologie und Jurisprudenz an der Schwelle zur Moderne. Die Geburt des neuzeitlichen Naturrechts in der iberischen Spätscholastik (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie. 20), Baden-Baden 1997. - Mit der Wirkung der >Magni Hispani< speziell auf Hugo Grotius beschäftigt sich der Beitrag von Alfred Dufour. Joseph Höffher: Wirtschaftsethik und Monopole im 15. und 16. Jahrhundert (Freiburger staatswissenschaftliche Schriften, Heft 2), Jena 1941 (ND Darmstadt 1969); Wilhelm Weber: Wirtschaftsethik am Vorabend des Liberalismus Abschluß und Höhepunkt der scholastischen Wirtschaftsbetrachtung durch Ludwig Molina, 1535-1600 (Schriften des Instituts fllr christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 7), Münster 1959; ders.: Geld und Zins in der spanischen Spätscholastik (Schriften des Instituts ftlr christliche Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 13), MUnster 1962. Ernst Reibstein: Die Anfänge des neueren Natur- und Völkerrechts. Studien zu den >Controversiae Illustres< des Femandus Vasquius (1559), Bern 1949; ders.: Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtsstaates und zur altprotestantischen Naturrechtslehre (Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen. 5), Karlsruhe 1955; Kurt Seelmann: Die Lehre des Fernando Vazquez de Menchaca vom Dominium (Annales Universitatis Saraviensis. Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Abteilung. 89), Köln 1979. Siehe die Kurzangaben in Ueberweg: Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 2: Frankreich und Niederlande, hrg. v. Jean-Pierre Schobinger, S. 3 - 8 6 , und Bd. 3: England, hrg. v. Jean-Pierre Schobinger, S. 3 - 3 4 ; zur Rolle von Robert Sanderson siehe den Beitrag von Gerald Härtung. - Speziell zur Wirkungsgeschichte von Suärez siehe Carl Werner: Franz Suarez und die Scholastik der letzten Jahrhunderte, Regensburg 1861. Ein Nachdruck der Ausgabe Regensburg 1889 erschien 1962 in New York (Burt Franklin Research and Source Works Series. 30).

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Conimbricenses,42 eins der erfolgreichsten europäischen Handbücher, das auch Descartes zu konsultieren pflegt. Francisco Suärez publiziert 1597 die Disputationes Metapyhsicae, eins der ersten systematischen Lehrbücher der Metaphysik, das voll von Anregungen und Informationen ist, sich schnell in Europa und Südamerika durchsetzt und noch zur Zeit des jungen Locke in Oxford zu den Standard-Handbüchern gehört; Arthur Schopenhauer zitiert es gern und kenntnisreich.43 Dieses Werk ersetzt die traditionelle Einteilung nach Aristoteleskapiteln durch eine systematische Gliederung, die noch bei Christian WolfF erkennbar bleibt. Die Wirkung der spanischen Autoren auch auf Gelehrte reformierter und lutherischer Nationen44 beruht unter anderem darauf, daß sie sich stärker an Scotus und Ockham als an Thomas von Aquino orientieren und so den philosophischen Quellen nahestehen, aus denen man in den neuen Bekenntnissen zu schöpfen pflegt. Suärez' auf Veranlassung Roms gegen Jakob I. von England verfaßte Defensio fidei von 1613 formuliert die bei Vitoria vorgezeichnete und im Rückblick eher zweischneidige Doktrin von der indirekten Gewalt des Papstes, die freilich zunächst ein Befreiungsschlag ist, denn zur Alternative steht die absolute Gewalt des Papstes >in temporalibusbellum justumgiusnaturalismo tomista< des Domingo de Soto. Vgl. Franco Todescan: >Lex, natura, beatitudo.< II problema della legge nella scolastica spagnola del sec. XVI, Padova 1973, S. 164-173. Zum Kommentar und seinen Varianten in der spätscholastischen Literatur des XVI. Jahrhunderts vgl. Christoph Bergfeld: Katholische Moraltheologie und Naturrechtslehre, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hrg. v. Helmut Coing. Zweiter Band: Neuere Zeit (1500-1800). Das Zeitalter des gemeinen Rechts. Erster Teilband: Wissenschaft, München 1977, S. 999-1033, besonders S. 1024f.

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Leonardus Lessius weiterentwickelt wurde und ihre Krönung im Werk De legibus des Francisco Suärez fand.6 Von seinem Vorhaben wurde Soto aber gezwungen, die Meinungen des Thomas von Aquin teilweise auch gegen die Absicht ihres Verfassers neu auszulegen. Der Kommentar wurde somit zu einer Neuschöpfung, die in bestimmten Fällen ihren Quellen widersprach, wie es schon in der grundlegenden Frage nach dem Prinzip des Naturrechts zu entnehmen ist. In der Summa theologiae fragte sich Thomas von Aquin, ob das natürliche Gesetz ein einziges oder mehrere Gebote enthalte.7 In seiner Antwort räumte er das Vorhandensein von Grundsätzen ein, die allen Menschen unmittelbar bekannt sind.8 Wie jeder Satz der theoretischen Philosophie durch die Existenz des Identitätsprinzips bedingt wird, so muß auch in der praktischen Philosophie ein ähnlich allgemeiner Grundsatz vorausgesetzt werden. Dieser lautet: >Jedes Wesen muß das Gute verfolgen< und ist das wahre Prinzip, worauf sich alle Gebote des natürlichen Gesetzes gründen. Das Gute jeden Wesens wird aber durch seinen Zweck bestimmt. In bezug auf den Menschen wird daher all das gut sein, was die menschlichen Bestimmungen erfordern. Unter letzteren muß ferner dieselbe Ordnung walten, die über die Gegenstände der theoretischen Philosophie herrscht: Wie es mit den Begriffen geschieht, so ist auch eine praktische Vorschrift desto allgemeiner, je unmittelbarer und einfacher ihr Inhalt ist. Die Rangordnung der natürlichen Normen reicht von jenen Bestimmungen, die allen Seienden gemeinsam sind, bis zu denen, die nur zum Menschen gehören. Mit allen übrigen Wesen teilt der Mensch das Gebot der Selbsterhaltung; mit den Lebendigen hat er das Prinzip der Fortpflanzung gemeinsam. Ihm ist dagegen eigentümlich, daß er vernünftig ist und Gott Luis de Leon: De legibus ό tratado de las leyes (1571), hrg. v. Luciano Perefla, Madrid 1963; Luis de Molina: De iustitia et iure tomi duo [...], Moguntiae: Arnoldus Mylius, 1602; Leonardus Lessius: De iustitia et iure ceterisque virtutibus cardinalibus libri IV., Lovanii 1605; Francisco Suärez: De legibus (1612), hrg. v. Luciano Perefla, Madrid Consejo Superior de Investigationes Cientificas Bd. l(-8), 1971(—1981). Vgl. Luciano Perefla: Estudio preliminar, in: Suärez: De legibus, Bd. 1, 1971, S. XV-LIX, besonders S. XLVIILVI; Luciano Perefla: Introducciön, in: Luis de Leon: De legibus, S. XI-LXXXVIII, besonders S. LXIX-LXXXVIII. Thomas de Aquino: Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. edita. Tomus septimus. Prima secundae Summae theologiae a quaestione LXXI ad quaestionem CXIV [. . .], hrg. v. den Fratres ordinis praedicatorum, Romae 1892, q. 94, a. 2, S. 169-170. Ebd., q. 91, a. 3, S. 155a; ebd., q. 94, a. 2, S. 169a: »Respondeo dicendum q u o d [ . . . ] praecepta legis naturae hoc modo se habent ad rationem practicam, sicut principia prima demonstrationum se habent ad rationem speculativam: utraque enim sunt quaedam principia per se nota.« Vgl. auch Thomas de Aquino: Opera omnia iussu Leonis XIII P. M. edita. Tomus XLVII. Sententia libri ethicorum, hrg. v. den Fratres praedicatores, Romae 1969, V, 12, ad 1134 b 19, t. 1, S. 304 b -305". In dieser Lehre von den praktischen Prinzipien sieht Martin Rhonheimer eine entscheidende Ergänzung der aristotelischen Ethik durch Thomas von Aquin. Vgl. Martin Rhonheimer: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994, S. 501-507.

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Merio Scattola

erkennt, woraus sich die Notwendigkeit des gesellschaftlichen und tugendhaften Lebens ergibt. Thomas von Aquin stellte die Reihe dieser Prinzipien derart dar, daß keines von ihnen von den anderen gewonnen werden kann, denn die Bestimmung eines Höheren kann keinesfalls von der Bestimmung eines Unteren hergeleitet werden. In dieser Hinsicht müssen also die Prinzipien des natürlichen Gesetzes als unabhängige Gebote verstanden werden, obwohl sie alle den Grundsatz >Jedes Wesen trachtet nach dem Gutem als eine Bedingung ihrer Existenz voraussetzen. Soto folgt allen Schritten dieser Argumentation und räumt ausdrücklich ein, daß die Gebote des natürlichen Gesetzes angeborene Ideen sind, die Gott in die Herzen der Menschen eingeprägt hat: »Prima per se nota principia, sunt ilia quae natura nobis impressit.«9 Das natürliche Gesetz muß also einheitlich sein, weil alle seine Gebote aus einem einzigen Prinzip, d.h. aus der Vernunft, herkommen und einen einzigen Zweck, das Gute im allgemeinen, verfolgen.10 Andererseits umschließt das natürliche Gesetz eine Vielzahl von Normen, die als untergeordnete Prinzipien gelten. Der Mensch besteht in der Tat aus mehreren Teilen: Er ist jeweils >ensvivensanimal< und >homoens< gewonnen. Natura autem hominis ex pluribus partialibus constat. Est enim ens, quae utique natura communis illi est cum universis rebus. Mox est cum viventibus vivens, deinde inter animalia animal, ac demum homo, ergo secundum omnes hos naturae gradus peculiaria habet prima praecepta. Exempli gratia, quatenus est ens, hoc est generalissimum ei omnium praeceptorum: Bonum est expetendum et prosequendum, malum autem respuendum ac fugiendum [...]. Deinde descendendo derivatur aliud principium legis naturae ac praeceptum hominis in quantum est animal, quod ad commixtionem masculi ac foeminae attinet [...]. Ex his demum trahitur aliud principium hominis in quantum est rationalis, qua utique ratione inclinationem habet ad cognitionem Dei ac virtutis bonum. 1 1

»Descendendo derivatur [...] trahitur«: Die Vielfalt der Prinzipien scheint durch diese Worte eher als eine deduktive Kette, in der die obere Stufe von der unteren abhängt, obwohl diese Darstellung eine Frage unbeantwortet läßt, nämlich: Wie kann der höhere Begriff von dem unteren hergeleitet werden?

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Domingo de Soto: De iustitiaet iure libri decern (wie Anm. 1), 1,4, 2, S. 31". Ebd. 1 , 4 , 2 , S. 3 l b . Ebd., 1 , 4 , 2 , S. 31"-"0

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II. Das topologische Verfahren Die angestrebte Systematisierung des juristischen Wissens kann - wie Soto ausdrücklich im Vorwort zu seinem Kommentar erklärt - nur auf einer philosophischen Grundlage erfolgen, weil die Jurisprudenz die eigenen Prinzipien nicht darstellen kann und diese nur aus der Philosophie zu schöpfen sind.12 An derselben Stelle unterscheidet er das Verfahren der Theologen von der Auslegung der Philosophen und deutet damit auf eine scharfe Trennung zwischen beiden Disziplinen hin. Tatsächlich wurde die Gesamtheit des Wissens im sechzehnten Jahrhundert nach einer strengen topologischen Ordnung verteilt, der zufolge die juristischen einerseits und die philosophischen oder theologischen Kenntnisse andererseits zwei getrennte und unabhängige Systeme bildeten. Diese waren durch eine Reihe eigener Fragestellungen, die Behandlung eigentümlicher Themen und die Anwendung von eigenen Methoden gekennzeichnet. Das Wissen wurde im allgemeinen als eine geschlossene Summe von Fragen verstanden, denen schon alle möglichen Antworten gegeben worden waren, während die Aufgabe der Gelehrten hauptsächlich in der Auslegung, Übertragung und Zusammenlegung älterer Argumente bestand.13 Beispiele dieses Verfahrens sind sowohl in der katholischen als auch in der protestantischen Literatur zu finden. Balthasar Meisner, der 1616 mit seiner Dissertatio de legibus gegen die spanische Scholastik des Soto und Suärez reagierte, verzeichnete fünf verschiedene Schulen in der Naturrechtslehre: >definitiones philosophorum< (Piaton, Aristoteles und Cicero), >deflnitiones patrum< (Augustin, Johannes Chrysostomus, Hilarius von Poitiers und Isidor von Sevilla), >definitiones scholasticorum< (Thomas von Aquin, Domingo de Soto und Gregorius de Valentia), >definitiones jurisconsultorum< (Iustinian und Kanonisten) und >definitiones recentiorum< (Melanchthon, Andreas Musculus, Daniel Tilenus, Lambert Daneau, Girolamo Zanchi, Francesco Piccolomini).14 Meisner 12

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Ebd., I, prooemium, S. 5 b : »Neque vero est quod theologis vitio detur, hanc sibi assumere provinciam quae iurisperitis accommodatior videri potest, quandoquidem canonica iura ex visceribus theologiae prodiere, civilia vero ex media morum Philosophia. Theologi est iuris canonici decreta ad normam evangelicam exigere, philosophique civilia ex principiis philosophiae examinare. Unde Cicero, De legibus lib. 1. [I, 5] Non a praetoris edicto, neque a 12. tabulis, sed penitus ex intima philosophia hauriendam censet iuris disciplinam. Imo vero litigiosa, inquit, legum ratio, ignoratio iuris potius est quam scientia. Et iurisconsultus IT. de iust. et iure. I. 1. [Digestum, I, 1, 1] Veram inquit philosophiam, non simulatam affectamus.« Helmut Zedelmaier: >Bibliotheca universalis< und >bibliotheca selectaJus naturale est, quod natura omnia animalia docuit.< Atque hinc volunt esse maris et foeminae coniunctionem, itemque liberorum procreationem et educationem, eo quod videamus omnia animalia legem hanc servare, ut non sibi tantum prospiciant, sed simile etiam generent, suosque foetus nutriant, de quo vide Ciceronem L. 1. Officiorum [I, 4, 11 ] >Principio< inquit »generi animantium omni a natura tributum, ut se, vitam ipsam, corpusque tueatur, declinetque ea, quae nocitura videntur, omniaque quae sunt ad vitam necessariam, inquirat.< Item: »Communis omnium animantium est coniunctionis appetitus procreandi causa, et cura quaedam eorum, quae procreata sunt.< Philosophi autem cum theologis et canonistis restringunt ad naturam humanam, unde dist. 1. c. 7. [Decretum, dist. 1. c. 7] talis legitur descriptio: >Ius naturale, est ius commune omnium nationum, eo quod ubique instinctu naturae, non constitutione aliqua habetur.« Hoc iurisconsulti appellant ius gentium, quoniam eo iure omnes gentes utuntur; Cuius exempla sunt, >Deus est colendus; maioribus obtemperandum; vim vi repellere licet« [Digestum, I, 1, 2-3], Quod igitur iurisperitus esse ait de lege gentium, hoc theologus legi naturae, videlicet humanae adscribit. Nos autem ius vel legem naturae hic accipimus sensu non iuridico, sed theologico, intelligentes naturam homini propriam, non omnibus animalibus communem.«

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Vgl. Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht. Zur Geschichte des >ius naturae< im sechzehnten Jahrhundert, Tübingen 1999, S. 51-56. Zur juristischen Disputation als literarischer Gattung im allgemeinen vgl. Margreet J. A. M. Ahsmann: Teaching in Collegia: the Organization of Disputationes at Universities in the Netherlands and in Germany during the 16th and 17th Centuries, in: University in Europa. Atti del Convegno intemazionale di studi Milazzo 28 settembre - 2 ottobre 1993, hrg. v. Andrea Romano, Messina 1995, S. 156-161.

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Das Bedürfnis nach Systematisierung und adäquater Darstellung des juristischen Wissens gab ab der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts auch AnlaO zu mehreren Bemühungen um

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Dieser Erneuerungsprozeß gab einerseits Anlaß zu einer Rationalisierung des römischen Rechts, die sich in vielen Paratitla, Brocardica, Oikonomiai iuris und Regulae iuris ausdrückte18 und bis ins siebzehnte Jahrhundert durch Werke wie die Dicaeologica von Johannes Althusius fortwirkte. Andererseits mehrten sich die Versuche, der Jurisprudenz eine philosophische Begründung zu verleihen. Man benutzte einfach die aristotelische Ethik als Einführung in das juristische Studium oder verglich den Dekalog mit dem römischen Recht.19 Während diese Werke die angestrebte Begründung der Jurisprudenz nur zum Teil erreichten, erzielten einige Schriften De arte iuris einen höheren Grad an Kohärenz und Wirksamkeit und konnten eine systematische Erörterung von den allgemeinen Prinzipien der Disziplin anbieten.20

III. Die juristischen Grundbegriffe Obwohl ihr Titel auf eine juristische Gattung hindeutet, bleiben die De iustitia et iure libri decern des Domingo de Soto ein echtes Erzeugnis der philosophisch-theologischen Tradition. Nicht nur stilistische und formale Merkmale, sondern auch ein besonderes Verständnis von Recht und Gesetz,

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die richtige Methode. Dazu vgl. Vincenzo Piano Mortari: Considerazioni sugli scritti programmatici dei giuristi del secolo XVI, in: Studia et documenta historiae et iuris 21 (1955), S. 276-302, ND in: Piano Mortari: Diritto, logica, metodo nel secolo XVI, Napoli 1978, S. 265-317; Aldo Mazzacane: Umanesimo e sistematiche giuridiche in Germania alia fine del Cinquecento: >equitä< e >giurisprudenza< nelle opere di Hermann Vultejus, in: Annali di storia del diritto 12-13 (1968-1969), S. 257-319, besonders S. 257-275 und 301-319; Hans Erich Troje: Wissenschaftlichkeit und System in der Jurisprudenz des 16. Jahrhunderts, in: Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehungen im 19. Jahrhundert, hrg. v. Jürgen Blühdorn und Joachim Ritter, Frankfurt am Main 1969, S. 63-97; Aldo Mazzacane: Scienza, logica e ideologia nella giurisprudenza tedesca del sec. XVI, Milano 1971, besonders S. 63-124; Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht (wie Anm. 16), S. 107-110 und 130-149. Hans Erich Troje: Die Literatur des gemeinen Rechts unter dem Einfluß des Humanismus, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europaischen Privatrechtsgeschichte (wie Anm. 5). Zweiter Band. Erster Teilband, S. 615-795, besonders S. 741-754. Johannes Althusius: Iurisprudentiae Romanae methodice digestae libri duo [...], Herbornae: Ex officina Christophori Corvini 1592 (1. Aufl. Basileae 1586); Johannes Althusius: Epitome et brevis ά ν α κ ε φ α λ α ί ω σ ι ς dicaeologicae Romanae (1592), in: Althusius: Iurisprudentiae Romanae libri duo (wie Anm. 19), S. 1-47; Johannes Althusius: Dicaeologicae libri tres [...], Herbornae Nassoviorum: Apud Christophorum Corvinum 1617. Vorbildlich sind in dieser Hinsicht Joachim Hopper: De iuris arte libri tres (1553), in: Jean de Coras und Joachim Hopper: Tractatus de iuris arte duorum clarissimorum iurisconsultorum, Ioannis Corasii, et Ioachimi Hopperi [...], Coloniae Agrippinae. Ioannes Gymnicus 1582, S. 293-608 und Jean de Coras: De iuris arte liber quatuor partibus conclusus (1560) in: Coras und Hopper: Tractatus de iuris arte (wie Anm. 20), S. 1-292.

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das das eigentliche Kennzeichen der philosophischen Lehre ist, unterscheiden diesen Kommentar von den juristischen Werken.21 In der juristischen Tradition ist Recht die allgemeine Ordnung, die das Handeln der Menschen miteinander regelt.22 Recht und Gerechtes sind synonym,23 und die >iurisprudentia< gilt in der Systematisierung der klassischen Rechtsgelehrten24 als die Wissenschaft des Gerechten und des Ungerechten. Die Gerechtigkeit (iustitia) ist sowohl Ausübung des Gerechten als auch Tugend des Rechts, indem sie jedem sein Recht widerfahren läßt.25 Diese Ordnung, die einfach mit der Ordnung des Guten zusammenfällt, wird von Ulpian durch drei Gebote zusammengefaßt: »Honeste vivere, alteram non laedere und suum cuique tribuere«. Auch in der Erklärung von seiner historischen Genese zeigt das >ius< dieselbe Übereinstimmung von Gerechtigkeit und Rechtmäßigkeit. Das >ius< entsteht nämlich aus den >moresmores< verbindlich ist, das ist Recht

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Zum Unterschied »Gesetz vs. Recht« und seiner Bedeutung für die Entstehung der >modernen politischen Wissenschaft« vgl. Leo Strauss: Hobbes' politische Wissenschaft (1936), Neuwied am Rhein 1965, S. 149-154. Vgl. Max Käser: Das römische Privatrecht. Erster Abschnitt: Das altrömische, das vorklassische und klassische Recht, München 2 1971, §5, S. 29-31; §48, I—III. S. 194197; 66, I—II, S. 279-282; Max Käser: Das römische Privatrecht. Zweiter Abschnitt: Die nachklassischen Entwicklungen, München 2 1975, §196,1, S. 52-53; Max Käser: Römisches Privatrecht. Ein Studienbuch, München l 2 1999, §3,1, S. 25-27: »Wie unser Wort >Recht< bezeichnet auch >ius< die Ordnung, die die Beziehungen der Menschen zueinander in der Gemeinschaft regelt«; Heinrich Honseil, Theo Mayer-Maly und Walter Selb: Römisches Recht, Berlin 4 1987, §25, S. 49-51; Heinrich Honsell: Römisches Recht, Berlin 2 1992, §4,1, S. 17. Zur Geschichte des Verhältnisses >lex-ius< vgl. Leopold Wenger: Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1953, §65, S. 327-331 und §77,1, S. 530-531; Biondo Biondi: >Iuslex aeterna, naturalis, humana et divinac Neben dieser ersten Bedeutung kann das Wort >Recht< auch den Gegenstand der Gerechtigkeit bezeichnen, die sich durch zwei Merkmale von den übrigen Kardinaltugenden unterscheidet.46 ( l . ) D i e Gerechtigkeit ist unabhängig von der Intention des Handelnden, denn eine Tat bleibt immer an sich gerecht, auch wenn sie aus boshafter Absicht getan wird.47 (2.) Die Gerechtigkeit allein kann ausschließlich auf Grund ihres Gegenstands definiert werden: Will man wissen, was die Gerechtigkeit ist, muß man davor das Recht bestimmen. Nachdem Soto die drei Grundbegriffe >GesetzGerechtigkeit< und >Recht< als Teile des Oberbegriffs >Recht< erklärt hat, kann er deren gegenseitige Verhältnisse erleuchten und dieselbe Gliederung sowohl auf das Gesetz als auch auf das Recht anwenden. Wie die >lex< nach dem Gesetzgeber unterschieden wird, so muß das Recht nach seiner Geltungsgrundlage ein46

D o m i n g o de Soto: De iustitia et iure libri decern (wie A n m . 1), III, 1, 1, S. 192 a _ b : » P r i m a : quod c u m p r o p r i u m sit o m n i u m virtutum rectum perficere opus, rectitudo tarnen reliq u a r u m v i r t u t u m existimatur in ordine ad ipsum agentem: iustitia vero in o r d i n e ad alteru m [...]. S e c u n d a ex h a c nascitur differentia, q u o d in materia r e l i q u a r u m v i r t u t u m nihil vere ac legitime censetur rectum, nisi respectu agentis [...]. Atque ex h a c rursus exoritur tertia differentia: n e m p e quod merito doctores virtutis iustitiae per se o b i e c t u m ascribunt, quod ius appellant et iustum: n o n autem reliquarum ulli: eo videlicet q u o d in virtute iustitiae i u s t u m i p s u m ex natura rei constituitur; in reliquis vero non nisi ex recta intentione agentis.«

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Soto zieht die Schlußfolgerung, d a ß ein M e n s c h ein >opus iustum< vollziehen k a n n , o h n e dabei >iustus< zu sein, w i e w e n n eine v e r p f ä n d e t e W a f f e d e m r e c h t m ä ß i g e n , aber übel gesinnten Besitzer z u r ü c k g e g e b e n wird. Diese B e o b a c h t u n g ist eine A n t w o r t a u f die G e g e n argumente des Ioannis B u r i d a n u s : Quaestiones super decern libros e t h i c o r u m Aristotelis (wie A n m . 40), in I. 5, q. 1, B1 8 9 r b - 9 1 r a . Soto k o n n t e sich unmittelbar auf T h o m a s v o n Aquin berufen. Vgl. T h o m a s de A q u i n o : O p e r a o m n i a iussu Leonis XIII. P. M . edita. T o m u s XLVII. Sententia libri ethicorum. V o l u m e n II. Libri I V - X , (wie A n m . 8), in l . V , 1, 1129* 3, S. 264'~ b : »Virtutes e n i m et vitia de q u i b u s s u p r a dictum est sunt circa p a s s i o n e s , q u i a scilicet in eis principaliter consideratur qualiter h o m o interius a f f i c i a t u r s e c u n d u m passiones, sed quid exterius operetur non consideratur nisi e x c o n s e q u e n t , in q u a n t u m scilicet operationes exteriores ex interioribus p a s s i o n i b u s proveniunt. C i r c a iustitiam et iniustiam p r a e c i p u e attenditur quid h o m o exterius operatur, qualiter a u t e m a f f i c i a t u r interius non consideratur nisi ex consequenti, prout scilicet aliquis iuvatur vel i m p e d i a t u r circa o p e r a t i o n e m « u n d T h o m a s de Aquino: S e c u n d a s e c u n d a e S u m m a e theologiae (wie A n m . 33), q. 57, a. 1, S. 4". N a c h der A u s l e g u n g des Vitoria ist die Gerechtigkeit u n a b hängig von den Absichten des H a n d e l n d e n , weil das Gerechte eine objektiv b e s t i m m t e O r d n u n g bildet, einen Z u s a m m e n h a n g der Dinge, der an sich gut ist u n d s u b j e k t i v n i c h t beeinflußt w e r d e n kann. Vgl. Francisco de Vitoria: D e iustitia. T o m o primero (wie A n m . 41), in IIa Ilae, q. 57, a. 1, 10, S. 6: »Ad iustitiam n o n oportet considerare a n ego s i m dives vel pauper, s a n u s vel infirmus, sed solum q u o d alteri d e b e a m vel n o n ; ad t e m p e r a n tiam a u t e m facit m u l t u m an ego sim s a n u s vel infirmus.« Dazu vgl. Daniel Deckers: G e rechtigkeit u n d R e c h t (wie A n m . 35), S. 1 2 5 - 1 4 7 . Soto treibt dagegen diesen U n t e r s c h i e d so weit, d a ß >ius< u n d >iustum< mit der objektiven u n d der subjektiven Seite des g e r e c h t e n H a n d e l n s identifiziert werden.

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geteilt werden. Das Recht kann aber - wie Soto behauptet - nur aus der Natur der Dinge oder aus einer menschlichen Entscheidung entstehen,48 und so teilt es sich in natürliches und positives Recht.49 Nach seinem Inhalt kann aber das Recht die menschliche Welt oder das ewige Leben betreffen und ist daher menschlich oder göttlich. Beide Bereiche können wiederum natürlich oder positiv sein, so daß am Ende eine Vierteilung entsteht: >ius divinum naturale< und >positivumius humanuni naturale< und >positivumius gentium< und >ius civilelex naturalis< oder >humana< immer als solche anerkannt wird, kann man kein Gebot des ewigen Gesetzes zeigen, das nicht zugleich eine Norm des natürlichen, menschlichen oder göttlichen Gesetzes ist. Der wahre Gegenstand des ewigen Gesetzes ist also die Harmonie zwischen den übrigen drei Bereichen: es drückt einfach den Umstand aus, daß alle gerechten Vorschriften Teil einer allgemeinen, göttlichen Ordnung sind.56 Diese Erklärung hat Folgen auch hinsichtlich der Einteilung des Rechts. Da das ewige Gesetz kein >ewiges Recht< als eigenen Gegenstand haben kann, bleiben nur die Inhalte des natürlichen, menschlichen und göttlichen Gesetzes, also das natürliche, positive und göttliche Recht. Aber das Naturrecht, das auch im Dekalog geschildert wird, umfaßt in der ersten Tafel göttliche und in der zweiten menschliche Gebote. Insgesamt hat man also vier Arten des Rechts. Auch auf diesem Weg, indem man den Inhalt der verschiedenen Gesetze betrachtet, erhält man dieselbe Vierteilung, die schon auf der Basis der Geltungsgrundlage eingeführt wurde: das >ius< teilt sich in >naturale< und >positivum< und beides in >humanum< und >divinumLex, natura, beatitudo< (wie Anm. 4), S. 228-234.

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gentium et civile«. 57 Diese Gliederung wurde von der juristischen Literatur bis zum sechzehnten Jahrhundert als eine Lehre der Geltungsbereiche erläutert: das Naturrecht gelte sowohl für Tiere und Menschen, das Völkerrecht gelte für alle Menschen, aber nicht für die Tiere, und das Zivilrecht sei jedem besonderen Gemeinwesen eigen. Man könnte sich drei konzentrische Kreise vorstellen.58 Thomas von Aquin äußert sich über diese Frage nicht eindeutig. In Ia Ilae, quaestio 95: De lege humana, articulus 4: Utrum Isidorus convenienter ponat divisionem humanarum legum schreibt er das >ius gentium< dem >ius positivum< zu. Er behauptet, daß alle juristischen Normen aus dem natürlichen Gesetz hergeleitet werden. Einige würden aber durch eine unmittelbare Schlußfolgerung »sicut conclusiones ex principiis« gewonnen und bildeten das Völkerrecht, während andere durch eine menschliche Vermittlung »per modum particularis determinationis« entstünden und dem Zivilrecht angehörten.59 Thomas von Aquin hegt aber auch eine andere Meinung über diese Frage und behauptet, das Völkerrecht sei eine Art des Naturrechts. Dieses könne nämlich absolut oder in bezug auf gewisse Folgen bestimmt werden. In ersterem Fall bilde es das Naturrecht im engeren Sinn, in letzterem das Völkerrecht. Das >ius gentium< müsse daher vom Zivilrecht getrennt werden, sei aber auch vom Naturrecht zu unterscheiden, weil es nur von den Menschen anerkannt wird.60

57

Digestum, I, 1, 1, 2 - 4 (Ulpianus: Libro primo institutionum): »Privatum ius tripertitum est: collectum etenim est ex naturalibus praeceptis aut gentium aut civilibus. Ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit: nam ius istud non humani generis proprium, sed omnium animalium, quae in terra, quae in mari nascuntur, avium quoque commune est. hinc descendit maris atque feminae coniunctio, quam nos matrimonium appellamus, hinc liberorum procreatio, hinc educatio: videmus etenim cetera quoque animalia, feras etiam istius iuris peritia censeri. Ius gentium est, quo gentes humanae utuntur. quod a naturali recedere facile intellegere licet, quia illud omnibus animalibus, hoc solis hominibus inter se commune sit.« Zur Debatte Uber diese Definition im sechzehnten Jahrhundert vgl. Merio Scattola: Das Naturrecht vor dem Naturrecht (wie Anm. 16), S. 121-129 und 161-168.

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Vgl. Ennio Cortese: La norma giuridica. Spunti teorici nel diritto comune classico, Milano 1962, Bd. 1, S. 38-96. Thomas de Aquino: Prima secundae Summae theologiae (wie Anm. 7), q. 95, a. 4, S. 178": »Est enim primo de ratione legis humanae quod sit derivata a lege naturae, ut ex dictis patet [a. 2], Et secundum hoc dividitur ius positivum in ius gentium et ius civile, secundum duos modos quibus aliquid derivatur a lege naturae, ut supra [a. 2] dictum est. Nam ad ius gentium pertinent ea quae derivantur ex lege naturae sicut conclusiones ex principiis: ut iustae emptiones, venditiones, et alia huiusmodi, sine quibus homines ad invicem convivere non possent; quod est de lege naturae, quia homo est naturaliter animal sociale, ut probatur in I Polit. [I, 1, 1253® 2-3], Quae vero derivantur a lege naturae per modum particularis determinationis, pertinent ad ius civile, secundum quod quaelibet civitas aliquid sibi accommodum determinat.« Thomas de Aquino: Secunda secundae Summae theologiae (wie Anm. 33), q. 57, a. 3, S. 6 a _ b .

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In der Entscheidung dieser Frage benutzt Thomas von Aquin offensichtlich zwei Muster: zuerst untersucht er die Art, wie eine Norm hergeleitet wird und entwickelt eine Rangordnung nach der logischen Beschaffenheit der Gesetze. Seine Frage ist in diesem Fall: >Ist eine Norm ein Prinzip, ein unmittelbarer Schluß oder eine vermittelte Bestimmung? < Gleichzeitig benutzt er aber auch das Geltungsprinzip der juristischen Tradition und fragt sich, wie breit der Bereich einer Norm ist.61 Er kommt daher zum Schluß, daß man neben dem Natur- und dem Zivilrecht auch die Existenz des Völkerrechts annehmen muß: »Sed contra est quod Isidorus dicit, quod >ius aut naturale est, aut civile, aut gentiumPrivatrechtsviolentiapraecepta< in >principia< und >conclusiones< unterscheidet. Dadurch kann er erklären, warum auch die Gebote des Naturrechts unter bestimmten Umständen geändert oder sogar aufgehoben werden können. Die >praecepta< sind nämlich in einer Rangordnung gegliedert und werden desto undeutlicher und schwächer, je tiefer man von den ersten Prinzipien heruntersteigt.80 (2.) Aus der Lehre von >principia et conclusiones< ergibt sich auch die Antwort zur zweiten Frage: Wie werden naturrechtliche Normen gewonnen? Soto erklärt sie eindeutig für unmittelbare oder quasi-unmittelbare Vorstellungen, für Regeln, die in unserer Seele >eingeschrieben< oder >eingeprägt< sind, und unterscheidet sich dadurch vom modernen Naturrecht, das alle Nonnen durch eine Deduktion gewinnt. Lex naturalis in mentibus nostris insculpta est et impressa. Probatur: Lex quae [...] regula existit et norma actionum nostrarum, duplex [...] habet subiectum. Inest enim et in regulante et in regulato: in altero tanquam movente et in altera tanquam moto. Actiones autem humanae [...] subduuntur legi aeternae. Ergo Deus, qui cuncta suaviter disponit, veluti naturae autor impressit mentibus nostris lumen, per quod legem eius aeternam participantes, actiones nostras ad debitum finem, quo suapte natura feruntur, dirigeremus [...]. Haec autem impressio appellatur lex naturalis. 8 '

Da Soto hier das Wort >lumen< benutzt, könnte man denken, daß das natürliche Gesetz eine Fähigkeit, eine >Erhellung< ist, die die Entscheidung ermöglicht. Soto erklärt aber sofort, daß das natürliche Gesetz nicht als >habituscollectio principiorum agendarum rerum< zu verstehen ist.82 Das natürliche Gesetz muß deswegen von der >synderesishabitus< oder Vermögen ist.83 Das Wort >habitus< kann aber auch im weiten Sinn verstanden werden, so daß es nicht nur eine sittliche Fähigkeit, sondern auch ihren Inhalt be-

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81 82 83

sempiternam expectamus, amemus neque eum iurandi abusu contemnamus, sed feriatis diebus colamus et veneremur. Ex alio autem, Id facias aliis quod tibi fieri vis, idque ne facias, quod tibi non cupis, deducuntur mandata cuncta secundae tabulae, quae omnia in officiis iustitiae posita sunt.« Vgl. auch 1,4,4, S. 35a~b; I, 5 , 4 , S. 45". Thomas de Aquino: Prima secundae Summae theologiae (wie Anm. 7), q. 100, a. 1, S. 206"- b . Domingo de Soto: De iustitia et iure libri decern (wie Anm. 1), I, 4, 4, S. 35 , _ b und I, 4, 5, S. 36 b Vgl. II, 3, 1, S. 102 b -103 b . Ebd., 1,4, 1, S. 29 a . Ebd., 1,4, 1,S. 29*. Ebd., I, 4, 1, S. 29 , _ b . Vgl. Thomas de Aquino: Prima secundae Summae theologiae (wie Anm. 7), q. 94, a. 1, S. Ιόβ'- 0 .

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deutet. In diesem Sinn darf man sagen, daß das natürliche Gesetz ein >habitus< ist, der auch dann besteht, wenn das Gewissen nicht tätig ist. »Quod si quaeras quidnam est hoc quod per modum habitus permanet praeter synderesis? Respondetur, esse species in memoria derelictas.«84 Soto muß aber genau bestimmen, in welchem Sinn das natürliche Gesetz angeboren (inditum) ist. Man könnte nämlich einwenden, daß alle Ideen oder >species rerum< aus Sinneswahrnehmungen durch Abstraktion gewonnen werden und daß es also keine wirklich angeborenen Ideen geben kann.85 Beide Annahmen - daß das Naturgesetz seit der Schöpfung im menschlichen Herzen wirkt und daß seine Regeln erst durch den Verstand gewonnen werden - können von Soto vereinigt werden, weil er das Naturgesetz als Produkt der >synderesisDas Ganze ist größer als ein Teil< sei keine angeborene Idee; wenn man aber die Begriffe >Ganzes< und >Teil< verstanden habe, leuchte er sofort ein. Dasselbe gelte auch für die praktischen Grundsätze wie >Jedes Wesen trachtet nach dem Gutem. Das Naturgesetz ist also der menschlichen Seele >inditumsynderesis< kann ihm Inhalt verschaffen. Dies kann aber nicht durch eine Deduktion geschehen, denn in diesem Fall wäre das natürliche Gesetz etwas Hergeleitetes und ein Erzeugnis der Vernunft, und als solches wäre es kein Naturrecht mehr und müßte als Völkerrecht betrachtet werden. Man muß also schließen, daß das Naturrecht ohne Vermittlung, ohne Arbeit der Vernunft, >nullo negotio< gewonnen wird. So hängt es nicht von der Vernunft ab und wird von dieser nicht gesetzt, sondern gibt sich unmittelbar und an sich zu erkennen.87 84 85

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Domingo de Soto: De iustitia et iure libri decern (wie Anm. 1), I, 4, S. 29 b . Zur Diskussion Uber das Wesen der >lex naturalis< (>habitusconscientiasynderesisactusnotioimpressiosynderesis< vgl. Odon Lottin: Synd6r6se et conscience aux XII e et XIII e siicles, in: ders.: Psychologie et morale aux XII e et XIII e sifecles (wie Anm. 45). Tome II, par. 2, S. 101-349. Die Lehre vom natürlichen Gesetz als Produkt der >synderesis< ist der eigentliche Unterschied zwischen katholischem und protestantischem Naturrecht. Melanchthon und seine Schüler hielten an der Idee der >notitiae inditae< fest, obwohl sie dadurch Aristoteles widersprechen mußten. Vgl. Melanchthon: Loci communes rerum theologicarum 1521 (wie Anm. 76), Sp. 117. Damit vertraten sie eine Lehre, die den lutherischen Stellungnahmen in den Fragen der Willensfreiheit und der guten Werke entsprach und auf den scholastischen Voluntarismus zurückging. Das Naturrecht wird in der protestantischen Lehre als angeborene Idee verstanden, weil man davon ausgeht, daß die menschliche Vernunft allein

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Contra hoc tarnen philosophiae studiosus insurget. Lex naturalis indita est naturae nostrae in ipsa eius conceptione: tunc autem nullae ingenerantur species rerum, sed illas postmodum sensuum adminiculo acquirimus. Respondetur, propterea legem naturae dici nobis a natura inditam et impressam, quod apprehensis terminis boni et mali illico virtute synderesis intellectus efformat iudicia haec et dictamina: Bonum est amplectendum, et malum repudiandum ac similia, quae scilicet eiusdem intellectus lumine innotescunt. Quare nulla opus fuit specierum infusione: sed illae postea nullo negotio acquiruntur 8 8

Was Soto hier als Naturrecht versteht, kann mit dem Naturrecht der frühneuzeitlichen Disziplin nicht verglichen werden. Dem modernen >ius naturae< entspricht eher sein Völkerrecht, das wie jenes nur insofern gilt, als es von der Vernunft anerkannt wird. Ius enim naturale est simpliciter necessarium, id est quod non dependet ex humano consensu: ius autem gentium obligat, quia videtur, id est, quia ab hominibus sie iudicatur: nunquam autem rerum possessiones dividerentur, nisi homines consentirent ut isti illas, alii vero alias possiderent: ergo ius gentium non est simpliciter naturale, sed positivum. Quod si conclusionem nostram hoc argumento concutias, quod inde fieret consequens, ius gentium idem esse quod civile, ut luculentior tibi fiat responsio, differentiam aeeipito inter has iuris species. Primum omnium ius gentium et civile a naturale difTerunt, eo quod naturale simpliciter est necessarium secundum absolutam rerum considerationem, ut dictum est, et ideo cunctis animalibus commune; ius vero tam gentium quam civile humana ratio 89 est positum.

Das mittelalterliche Naturrecht benötigt nicht, von den Menschen anerkannt zu werden, sondern gilt von selbst (absoluta rerum consideratione), unmittelbar und unabhängig von der Vernunft. Es kann also auch den Tieren zugeschrieben werden und fällt letzten Endes mit den natürlichen Neigungen zusammen.90

keineswegs imstande ist, das göttliche Gesetz wahrzunehmen. Wenn dies der Fall wäre, wie es bei Thomas von Aquin durch die Lehre der >synderesis< geschieht, könnte der Mensch den Willen Gottes durch eigene Kräfte erkennen und am eigenen Heil mitwirken. Seine Kenntnisse und seine Taten, die ebensoviele Verdienste um das ewige Leben wären, würden aber die Allmacht Gottes einschränken. Um den Gnadengedanken im vollen Umfang gelten zu lassen, muß man also das Naturrecht voluntaristisch darstellen. Der Gesetzgeber ist also frei, den Inhalt des Gesetzes zu bestimmen, das nur insofern gilt, als es verkündet wird. Ein Gesetz kann daher nur durch Bekanntmachung zur Geltung kommen. Andere Möglichkeiten sind nicht denkbar. Auch das Naturrecht wird dem Menschen durch eine unmittelbare Offenbarung, also durch einen Gnadenakt und nicht durch ein Verdienst der eigenen Vernunft, zugänglich. Dekalog und göttliches Gesetz sind Wiederholung derselben in sich einheitlichen >lex Deinotitiae inditae< geht damit konsequent mit der Idee des >servus arbitrius< zusammen. Wer die menschliche Beteiligung am Erlösungsplan aufrechterhalten will, der besteht dagegen auf der Lehre der >synderesis< und auf der Anerkennung naturrechtlicher Gebote durch die menschliche Vernunft. Vgl. Martin Rhonheimer: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit der Praxis (wie Anm. 8), S. 555-558. 88 89 90

Domingo de Soto: De iustitia et iure libri decern (wie Anm. 1), 1,4, 1, S. 29 b . Ebd., III, 1,3, S. 197". Ebd., III, 1, 3, S. 197"; Thomas de Aquino: Prima secundae Summae theologiae (wie Anm. 7), q. 94, a. 2, S. 170a"b.

Naturrecht als Rechtstheorie

47

(3.) Naturrecht und Völkerrecht sind bei Soto und in seinen mittelalterlichen Quellen nicht nur in der Art ihrer Entstehung unterschiedlich, sondern bilden auch zwei inhaltlich getrennte Bereiche. Ersteres umfaßt alles, was die Selbsterhaltung und Fortpflanzung der Gattung betrifft, während letzteres hauptsächlich die Fragen nach Besitz und Herrschaft (dominium) regelt.91 Natur- und Völkerrecht sind auch hinsichtlich der Zeit ihrer Entstehung unterschiedlich, denn das eine galt schon unter den unschuldigen Menschen, während das andere erst nach dem Sündenfall eingeführt wurde.92 Naturrecht, Völkerrecht und Zivilrecht bestehen nebeneinander und bestimmen die menschlichen Verhältnisse in drei inhaltlich getrennten Bereichen. Daraus ergibt sich, daß das Naturrecht nicht nur im Naturzustand wirkt, sondern auch weiter im Zivilzustand besteht, in dem alle drei Arten des Rechts gleichzeitig verwendet werden, wie es eine Rechtsfrage erfordert. (4.) Jeder der eben erwähnten Bereiche hat eine eigene und exklusive Geltungsgrundlage und geht auf unterschiedliche Gesetzgeber zurück: Gott, die Natur, die menschliche Vernunft und den politischen Herrscher. Nur ein Teil der Gesetze, die in jedem Gemeinwesen gelten, hängt also vom Herrscher ab. Die Mehrzahl von ihnen kommt von anderen, äußeren und unabhängigen Instanzen her. Während das neuzeitliche Naturrecht einen nach oben geschlossenen Staat anstrebt, mündet die Naturrechtslehre des Soto wie die des Thomas von Aquin und das ganze Naturrecht des Mittelalters in ein nach allen Seiten offenes Gemeinwesen, eine Gemeinde, in der sich die Stimme Gottes neben den Befehlen des Herrschers hören läßt, eine Gemeinde, in der Religion, Natur und Ethik von der Politik nicht getrennt, sondern mit dieser und miteinander vollkommen vermischt sind.

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Jaime Brufau Prats: Concepci6n filosöfico-juridica del Poder en Domingo de Soto (wie Anm. 2), S. 30-33; ders.: El pensamiento politico de Domingo de Soto y su concepciön del poder, Salamanca 1960, S. 23-37 und 54-71. Domingo de Soto: De iustitia et iure libri decern (wie Anm. 1), 1,4, 3, S. 33 b .

Norbert Brieskorn S.J. (München)

Lex Aeterna. Zu Francisco Suärez' Tractatus de legibus ac Deo Legislatore

A. Einwirkungen auf das Gesetzesdenken des 16. Jahrhunderts Das Hochmittelalter hatte sorgfältig ein Schema der verschiedenen Leges zusammengestellt und vernetzt. Zu >Lex aeternaLex naturalise und >Lex humanaEwigen Gesetze, dem >Naturgesetz< und >dem von Menschen angefertigten und erlassenen Gesetze hatte die Tradition seit dem Hochmittelalter die >Lex divina positivae, das Gesetz des Alten Testamentes, wie es die Christen zu benennen pflegten, und das des Neuen Testamentes als Rechtsquelle gestellt und schließlich auch der >Lex humana civilise die >Lex canonicae, das kanonische Recht, zur Seite gegeben. Dieses Schema erfuhr Vertiefung und Bestätigung, blieb aber auch nicht unbehelligt in diesem europäischen 16. Jahrhundert. Wir wollen von den allgemeinen Einwirkungen auf das Gesetzesverständnis ausgehen (A. 1.-4.) und sodann auf jene Anfragen zu sprechen kommen, welche das Verständnis der einzelnen Lex veränderten (A. 5.-9.).

1. >Ein Glaube, ein Reich, ein Könige Während 1492 die >katholischen Königee auf der Iberischen Halbinsel die Mitbewohner muslimischen Glaubens und die Juden vertrieben, um einen rein katholischen Staat aufzubauen, breiteten sich im Osten Europas das Osmanische Reich und die Geltung des Korans aus. Ab 1520 zerbrach dann mit zunehmender Geschwindigkeit im Deutschen Reich die konfessionelle Einheit und Konfessionskriege bestimmten in ihm und etwa ab 1562 auch im Königreich Frankreich das 16. Jahrhundert. Portugal, Spanien, England, den skandinavischen Staaten und auch dem Herzogtum Bayern gelang es, sich zu konfessionell geschlossenen Staaten zu entwickeln, Frankreich und das Deutsche Reich hingegen hatten einen Modus vivendi mit den Konfessionen zu suchen. Er stellte sich mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 und mit dem Edikt von Nantes 1598 ein. Fazit: Es blieb im 16. Jahrhundert genügend Raum für das religiöse und christlich konfessionell geprägte Gesetz.

Norbert Brieskorn

50 2. Die innere und äußere Souveränität

Der inneren Souveränität kamen die Staaten in dem Maße näher, je nachhaltiger sich in ihnen das Gewalt- und Friedensmonopol durchsetzte. Die Vielfalt der Gewaltzentren hatte der einen Zentralgewalt zu weichen; dem Adel und den Städten verdorrten Eigenrecht und Selbstverwaltung. Es versiegte die Quelle des Gewohnheitsrechts; ein Instrumentarium wie das Gesetz wurde immer stärker als Instrument der Zentralgewalt und immer seltener als Gemeinschaftsregel angesehen. Damit verlangte aber auch die sehr selbständig gewordene kirchliche Gewalt nach einer Neubestimmung ihres Verhältnisses zum Staat, der sich weniger als Rivale denn als alleiniger Platzhalter verstand. Im außenpolitischen Bereich entwand sich der künftige Nationalstaat erst einmal jeglichem Gesetz. Die äußere Souveränität erforderte es, alle Staaten als gleichberechtigt anzuerkennen und die politische Gleichheit aller Staaten anzustreben. Abgrenzung und völlige Gleichstellung ließen Unterordnung nur noch durch Selbstverpflichtung zu und vertrauten die politische Idee einer hierarchisch gegliederten Christianitas der Erinnerung an. Ein Kriegsund Friedensrecht war zwischen Gleichen zu entwickeln, ohne Eindämmungsmöglichkeiten von Seiten des Kaisers und des Papstes und eingebettet in das sich immer reicher ausbildende Völkergemeinschaftsrecht. Fazit: Hierarchisches Denken bestimmte nicht mehr die Staatengemeinschaft, wohl aber die innerstaatliche Struktur, welcher die Legeshierarchie entgegenkam. Doch stand ein jedes internationale Problem mit Religionsfragen in engster Beziehung.1

3. Enttheologisierung und Entmoralisierung Hoch- und Spätmittelalter hatten menschliches Tun und Unterlassen vorrangig und mehrheitlich unter religiösen Vorzeichen gesehen und gewertet. Ob die Handlung zum Heile diene oder zum Unheile, den Himmel öffne oder zur Hölle führe, beunruhigte den Menschen. Nun aber waren die konfessionellen Gewichtungen in Widerstreit geraten und entzogen dem Staat die ehedem gemeinsame, von allen Glaubensangehörigen bejahte Grundlage, ohne ihm als Konfessionen eine neue, tragfUhige anbieten zu können oder zu wollen. Das weggebrochene Fundament verlangte Ersatz. Der Neostoizismus sprang ein und half, die Ausklammerung religiöser Kriterien durch moralische zu ersetzen; und so richtete sich das Handeln an den Werten wie >clementia< und >justitia< aus. Doch endete der Prozeß nicht hier. Kraß griff 1523 Machiavellis Der Fürst voraus, wenn er Richtigkeit oder Falschheit des Handelns danach maß, ob es zur politischen Stärkung Italiens und ganz Katherine Leach: Sixteenth-Century Europe (Documents and Debates), Houndmills and London 1991 ('1980), S. 3.

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allgemein zum Erringen und Behalten von Macht taugte. Wer überleben wollte, mußte mit der ständig aktivierbaren und deshalb drohenden Schlechtigkeit der Menschen rechnen. Er hatte sie weder zu belehren noch zu verbessern, sondern vor allem zu erkennen, daß er selbst zutiefst bedroht war und demnach zu reagieren hatte. Der Enttheologisierung folgte also die Entmoralisierung auf dem Fuße. Zum einen ernüchterte sich der Blick auf Natur, Mensch und Welt. Man wollte sehen und lernen und >entdeckte< so die Triebe, physischen Kräfte und psychischen Möglichkeiten. Zum anderen verdüsterte sich der Blick. Zwar bezweckte Entmoralisierung keineswegs die völlige Befreiung zu unsittlichem Handeln, doch ordnete sie das sittliche Handeln dem Überlebenswillen unter. Um ein Beispiel zu geben: Als >Feindhostis< galt nun nicht mehr der >GlaubensgegnerHäretiker< und der >NichtchristFeind< wurde vorrangig ein nüchterner Rechtsbegriff und >Feindschaft< eine politische Tatsache. Weder der Fluch noch die sittliche Brandmarkung boten sich damit aber weiterhin als geeignete Verteidigungsmittel an, sondern die physische Gewalt, das sie kanalisierende Gesetz und die staatliche Sanktion. Die Suche nach Rechtsbegründung und Gesetzeskraft entwand sich folgerichtig der Hand des Theologen und vertraute dem Philosophen und dem Juristen beim Ausbau des Rechtssystems und dessen Grundlagenbestimmung.2 Fazit: Gesetze stehen für die Menschen nicht mehr ausschließlich im Dienste einer Mission oder des Heils. Die Frage ist nicht mehr vorrangig, ob sie mit höheren Normen übereinstimmen und ob sie diese wirksam umsetzen, sondern ob sie den Trieben genügend stark gebaute Dämme3 entgegensetzen. Nüchtern erwartet man von ihnen, Instrumente des Überlebenswillens zu sein.

Karl-Heinz Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit. Begriffsgeschichtliche Studien (Sprache und Geschichte. 7), Stuttgart 1983, S. 73. Wortwörtlich so bei Thomas Hobbes im Leviathan von 1651, im 21. Kapitel: »Aber wie die Menschen zur Erlangung von Frieden und Selbsterhaltung einen künstlichen Menschen geschaffen haben, genannt Staat, so haben sie auch künstliche Ketten geschaffen, die man bürgerliche Gesetze nennt. Das eine Ende haben sie selbst durch gegenseitige Vertrage an die Lippen des Menschen und der Versammlung, denen sie die souveräne Gewalt übertrugen, geheftet, und das andere an ihre eigenen Ohren. Diese ihrer eigenen Natur nach nur schwachen Bande können dennoch gefestigt werden - nicht etwa deshalb, weil es schwer wäre, sie zu zerreißen, sondern weil dies gefährlich ist« (Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hrg. v. I. Fetscher, übers, v. W. Euchner, Frankfurt am Main 1976, S. 165).

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4. Remoralisierungsvorgänge4 Sie fanden in den konfessionell geschlossenen Staaten stärker als in den konfessionell gespaltenen statt, und innerhalb der Glaubensgemeinschaften, den alten wie den sich neu bildenden, auch bewußter als außerhalb von ihnen, wobei dieses >Außerhalb< erst eine schmale Zone bildete. Zwar waren nostalgische, moralisierende Gegenströmungen zu erwarten,5 und doch meldeten sich auch neue, zukunftsweisende Ansätze. Unter ihnen zeichneten sich als treibende Kräfte das Reformpapsttum, die Beschlüsse des Tridentinischen Konzils und die neuen Orden wie die Theatiner und Jesuiten aus. Sie alle versuchten dabei nicht krampfhaft, im Feld der Gesellschaft - oder sollten wir sagen: der Gesellschaften? - erst einmal die Ausdifferenzierungen wieder rückgängig zu machen und neue Hierarchien von außen überzustülpen. Sie gingen vielmehr bewußt und die neue Zeit bejahend vom einzelnen Menschen und nicht mehr von einem geschlossenen Ordo aus, wenn man überhaupt je einen solchen vorausgesetzt hatte. Das Individuum selbst wurde also als Ausgangspunkt und Träger gesellschaftlicher Reform ernstgenommen. Im Innern des Menschen selbst versuchte die Kirche eine Wertehierarchie und eine Einheit von Denken, Sprechen und Handeln, von Gefühlen und Erziehung der Affekte aufzubauen. Die zahlreichen Andachtsbücher und -Übungen des 16. Jahrhunderts zeugen ebenso wie die Geistlichen Exerzitien des Ignatius von Loyola für die Nachfrage nach solcher inneren Einheit. Weiterhin drängte die Kirche unerbittlich auf die Verbindung von Menschsein und gesellschaftlich-politischer Rolle: Der Mensch, der Christ und der Priester sollten sich nicht in drei Rollen getrennt aufführen, sondern sich in einer einzigen bündeln.6 Der Bischof sollte fortan nicht mehr die Rechte aus seinem Amt genießen, die Pflichten des Amtes jedoch einem Weihbischof aufbürden dürfen. Auch sollte am Ursprung der Institution der lebendig weiterzuentwickelnde Auftrag Maß nehmen. Der Christ sollte also arm leben und menschliche Qualitäten sich entwickeln lassen, der Mensch wiederum sich an Christsein und Kirche erfreuen dürfen. So wurde versucht, getrennt erlebte Sphären und auseinanderliegende Zeitmomente zum Einklang zu bringen. Ein starkes Berufsethos, Spiritualisierung der ins Weltliche ragenden Befugnisse und Entfeudalisierung: sie alle Robert Spaemann spricht in seinem Artikel über den >Haß< (NZZ v. Samstag, den 6. März 1999) von der Entmoralisierung des 16. und 17. Jahrhunderts. Zu Recht, und doch eben einseitig! Es darf jene Gegenbewegung nicht unterschlagen werden. Siehe etwa Quentin Massys' Gemälde >Der Geldwechsler und seine Frau< von 1514. Das Bild wolle, so Hans Beltings Deutung (siehe W. Wiegands Bericht >Versteckter Modernismus< in: FAZ v. 15.11.1995) nicht den Geiz und die Langeweile zeigen und dadurch abschrecken, sondern bewußt den Betrachter und die Betrachterin an vergangene Zeiten erinnern, in welchen man sogar bei einem so profanen Geschäft wie dem Geldzahlen und Geldwechseln in der Heiligen Schrift las. Trotzdem zweifle ich, ob dies die rechte Auslegung ist, allzu beiläufig und uninteressiert blättert die Frau in der Bibel; außerdem scheint der Mann das Bibellesen der Frau Uberlassen zu haben. Das Weltkonzil von Trient. Sein Werden und Wirken. Band 1, hrg. v. Georg Schreiber, Freiburg 1951, S. XLVIII-LIII.

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sind Zeugen einer Vereinheitlichung, welche Heil und Gott miteinbezog. Selbst das Drängen auf einen stabilen, zu seiner Verteidigung fähigen Staat verdankte sich dabei nie einem bloß weltlichen Beweggrund. Denn nur der Staat garantierte ja das Überleben der zahlreichen kirchlichen Stiftungen. Diese wären ebenso durch Änderungen der Rechtsordnung wie durch mangelnde, lückenhafte Durchsetzung der Gesetze gefährdet gewesen. Auch der Protestantismus entwickelte eine >Spielart< solcher Einheitssuche. Denn da ja menschliches Heilwerden und endgültiges Heil ganz von Gott abhingen, stand dem Menschen gar kein anderer Weg offen, als sich Gottes Barmherzigkeit, von der die Heilige Schrift sprach, anzuvertrauen. Die Furcht davor, sich zu wenig angestrengt zu haben, schwand in dem Maße, als der Mensch sich klar machte, daß keine irgendwie geartete Werkgerechtigkeit darauf Einfluß zu nehmen vermochte, ob Rettung geschenkt wurde. Dadurch wurde es dem Menschen möglich, sich gerade von der ängstlichen Beschäftigung mit seinem Heil ab- und dem Beruf und der Welt der Menschen zuzuwenden. Hier lag der Ausgangspunkt für jene neue >Weltfrömmigkeit< bzw. für das Engagement gegen soziale und individuelle Not und im Einsatz für gerechte Strukturen.7 Fazit: Vereinheitlichung der Lebensvollzüge und Weltfrömmigkeit schärften den Blick für die Verantwortung des Gesetzgebers und der Adressaten, sie lenken ihn auf die >Natur der SacheLutherDie Werke aber sind todte Dinge, können Gott nicht ehren noch lobenLex aeterna< gegen >justice divine< auswechselte,10 so betonte er wohl das Endgericht, aber nicht mehr so sehr die von der Lex aeterna dargestellte umfassende Ordnung. Leben stand unter dem Gericht, und jede Tat wie jedes Unterlassen unter der Erwartung vergeltender Gerechtigkeit oder gerechter Vergeltung. Auch hier richtete sich der Blick auf das Handelnkönnen in Freiheit und ließ den Schöpfungsgedanken verblassen.

6. Die Lex naturalis Bezüglich der Lex naturalis verließ sich das römisch-päpstliche >Lager< weiter darauf, sie erkennen und befolgen zu können. Luther hingegen verbaute sich den Zugang zu dieser Lex, der ja durch die Vernunft erfolgte, dadurch, daß er eben diese Vernunft nicht mehr für eine vertrauenswürdige Auskunftsquelle und Regelangabe hielt. Die Ver8

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Falk Wagner: Naturrecht II, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. XXIV, Berlin, New York 1994, S. 155f. So im 20. Kapitel der Institution de la Religion chrestienne: »ceux qui n'ont resgard en leur domination qu'au bien public sont vrais miroirs et comme exemplaires de sa bonti« (Jean Calvin: Institution de la Religion chrestienne. Livre Quatri6me, publide par JeanDaniel Benoit, Paris 1961, S. 530).; Philippe du Plessis-Mornay: Brutus: Vindiciae contra tyrannos [...], 3. Untersuchung (1580), in: Fritz Dickmann: Renaissance, Glaubenskampf, Absolutismus, in: Geschichte in Quellen, hrg. v. W. Lautemann und M. Schlenke. Bd. 3, München 3 1982, S. 263; auch in: Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen (Klassiker der Politik. 8), hrg. v. Jürgen Dennert, übers, v. H. Klingelhöfer, Köln u. Opladen 1968, S. 110; Lit. in: Udo Bermbach: Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat: Frankreich und Spanien im 16. Jahrhundert, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrg. v. Iring Fetscher u. Herfried Münkler. Bd. 3: Neuzeit. Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, München und Zürich 1985, S. 108. Udo Bermbach: Widerstandsrecht, Souveränität (wie Anm. 9), S. 105.

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nunft schätzte er als durch den Sündenfall kontaminiert und kompromittiert ein. Sein Wort von der >Hure Vernunft 11 machte die Runde. Wie legte er Röm 2, 1512 aus? Melanchthon sah sich hingegen gerade wegen Röm 2, 15 als berechtigt an, noch positiv von Lex naturalis zu sprechen. Auch Bodin hielt an der Gültigkeit eines >Naturgesetzes< fest; so heißt es in dem achten Kapitel des ersten Buches seiner Les six livres de la Ripublique 1576 bzw. 1583: Was allerdings die Gesetze Gottes und der Natur betrifft, so sind alle Fürsten auf dieser Erde an sie gebunden. Es liegt nicht in ihrer Macht, gegen sie zu verstoßen, wenn sie nicht des beleidigenden Aufbegehrens gegen Gott schuldig werden wollen, unter dessen Größe sich alle Monarchen der Welt beugen und vor dem sie ihr Haupt in Furcht und Ehrerbietung neigen müssen. 13

Bodin setzte sich mit der Zeichnung dieses den Menschen stützenden, auch orientierenden und warnenden Rahmens und der weder zu diskutierenden noch abstreifbaren Verpflichtungen von Machiavelli ab. Indem Bodin aber den Fürsten direkt Gott unterstellt sah, entzog er den König zugleich der Aufsicht der Kirche. Im 1. Buch, 10. Kapitel heißt es: Da es auf Erden nach Gott nichts Größeres gibt als die souveränen Fürsten, die Gott als seine Statthalter eingesetzt hat, damit sie der übrigen Menschheit befehlen, [...] versündigt sich an Gott, wer sich gegen den König wendet. 14

Guillaume Postel (15KM580) 1 5 seinerseits schlug vor, sämtliche Wahrheiten und >Rechte< aus der einen Vernunft her zu begründen, die zwar die

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So in der Predigt über das Erste Buch Mose am 3. August 1523 [WA 14, S. 232], in seiner Vorlesung über das Fünfte Buch Mose 1525 [WA 14, S. 593], u.a.: »Ratio meretrix caeca«, »stulta meretrix ratio« etc. Röm 2, 15: »Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. (16) Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist: ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab.« Jean Bodin: Über den Staat. Übers, v. G. Niedhart, Stuttgart 1976, S. 26. So fehlt aber bei Bodin bereits die Erwähnung, geschweige denn der Umgang mit der Lex divina positiva, also vor allem mit dem Recht der Kirche. Die Wertschätzung jüdischen Rechts drückt Bodin in seiner Spätschrift aus, dem Colloquium Heptaplomeres. Ebd., S. 39 (mit leichter Satzumstellung). G. E. S.: Artikel: >Postel, GuillaumeIlluminismus< entlassen. Von 1554 bis 1555 lehrte Postel in Wien. Eine andere, aber durchaus auch wohlwollende Beurteilung findet sich in E. Amann: Artikel: >Postel, GuillaumeAlle Gewalt geht von Gott ausratio< und >revelatio< gefordert und weder ein Auseinander noch ein Gegeneinander angestrebt wurde, bezog man doch klaren Abstand gegenüber den jüdisch-christlichen Rechtsquellen. Diese Zurückhaltung vollzog sich etwa in der legistischen, am Römischen Recht orientierten Literatur. Eine weitere Strömung erkannte lediglich jene Normen der Heiligen Schrift an, deren Quelle die Natur und Erkenntnismittel die Vernunft waren. So galt Bodin der Dekalog als ein naturrechtlich bestimmter Text: Deshalb dürfe diesem Teil des Alten Testamentes gehorcht werden. Melanchthon trat in De legum fontibus et causis von 1550 für Distanz zu dem mosaischen Gesetz wegen und mit Blick auf Apg 15, 19 und 28 ein.17 Gegenströmungen fanden während des Bauernaufstandes Eingang in die 12 Artikel der Bauern 18 und in die Programme der Wiedertäufer und Puritaner. Sie entnahmen der Lex divina positiva, so wie sie in den beiden Testamenten vorlag, explosives Material wie den Gedanken von der Gleichheit aller Menschen und den Auftrag, sie unter den Menschen auch herzustellen. Die durch die Machthaber installierte Ungleichheit wurde demaskiert als im

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Monarchie mit dem Papst und dem König von Frankreich an ihrer Spitze hält jedoch auch Amann fllr eine große politico-religiöse Träumerei. So beispielsweise in Von -weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei von 1523 (Text in: Fritz Dickmann: Renaissance, Glaubenskampf, Absolutismus (wie Anm. 9), S. 130-136). Guido Kisch: Melanchthons Rechts- und Soziallehre, Berlin 1967, S. 68, Anmerkung zu Apg 15, 19: »Darum halte ich es für richtig, den Heiden, die sich zu Gott bekehren, keine Lasten aufzubürden« und Vers 28: »Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge: (29) Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes und Unzucht zu vermeiden. Wenn ihr euch davor hütet, handelt ihr richtig.« Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit, hrg. v. Günther Franz, Darmstadt 1963, Nr. 5.

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Widerspruch zum höchsten überhaupt heranziehbaren Kriterium, nämlich zu dem des Wortes Gottes selbst stehend.19 Auch Huldrych Zwingli 20 wie auch Martin Bucer bekannten sich zu einer alttestamentlichen theokratischen Theorie von der Einheit geistlicher und weltlicher Lebensordnung und verwarfen diesbezüglich Luthers Sichtweise, welche Augustinus folgend Reich Gottes und Reich der Welt in einen Dualismus auseinanderklaffen ließ.21

8. Die Lex canonica Das kanonische Recht galt den Protestanten als Inbegriff päpstlicher Macht. Der Liber Extra und der Uber Sextus wanderten auf den Scheiterhaufen in Wittenberg. Andererseits benötigten die neu entstehenden Gemeinden ein Recht.22

9. Die Lex humana Die Lex humana mußte sich eine Reihe von Anfragen gefallen lassen: War das Gesetz gut, weil es der guten Ordnung entsprach, oder gut, weil es der Gesetzgeber so gewollt hatte? Was sollte sein Inhalt sein? Über die Aufrechterhaltung der Sicherheit hinaus auch noch die Reglementierung des Lebens der einzelnen bis in die Details hinein? Oder sollte es sich aufs Notwendige beschränken und damit den Staatshaushalt entlasten, dem Fürsten Verantwortung abnehmen und der Freiheit den Lauf lassen? Standen die Gerechten unter dem menschlichen Gesetz?

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Jacques Leßvre d'Etaples: Commentarii initiatorii in IV evangeliis praefatio [1522], in: The Portable Renaissance Reader, Ed. J. B. Ross and Μ. M. McLaughlin, London 1977, S. 85 f. Huldriych Zwingli: Auswahl seiner Schriften, hrg. v. E. Künzli, Zürich, Stuttgart 1962, S. 73. Es handelt es sich um die Thesen 34 bis 43; Heinrich Lutz: Der politische und religiöse Aufbruch Europas im 16. Jahrhundert, in: Propyläen Weltgeschichte. Eine Universalgeschichte, Bd. VII: Von der Reformation zur Revolution, hrg. v. Golo Mann und August Nitschke, Berlin und Frankfurt am Main 1986, S. 55. Zu M. Bucer: Martin Greschat: Martin Bucer, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hrg. v. Martin Greschat. Bd. 6: Reformationszeit II, Stuttgart 1981, S. 7-14. Anneliese Sprengler-Ruppenthal: Zur reformatorischen Kirchenrechtsbildung. In: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abt. 66 (1980), S. 391-420.

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Β.

Suärez und die Lex aeterna

1.

Der Begriff der Lex aeterna23

1.1 Lex aeterna als >Gesetz< Ich unterstelle, daß das Gesetz im eigentlichen Sinne aus der Sicht des Gesetzgebers in einem konkreten Akt und nicht in einer bloßen Anlage zum Handeln oder in bloßer Möglichkeit besteht. Dies ist wohl unbestreitbar, weil Gesetz nur dann Gesetz ist, wenn es die unmittelbare Kraft hat, auf die Adressaten einzuwirken und sie zu verpflichten. Eine solche Kraft geht aber nicht von der bloßen Möglichkeit oder Anlage [...] aus, findet sich aber in einem Akt tatsächlichen Tuns. Befehlen, Ordnen und Ähnliches heißen solche Akte. Jene aber geschehen durch Gesetz. 24 [...] Um aber zu erklaren, welches genau dieser Akt sei, ist es unumgänglich, zuvor sämtliche Akte aufzuzählen, welche bei der Anfertigung eines Gesetzes auftreten können, und deren Reihenfolge und Ordnung zu beschreiben. Es können nämlich diese Akte völlig innere und von der Einsicht oder dem Willen hervorgebrachte oder nach außen gehende und mit einem Ausfilhrungsbefehl ausgerüstete sein: und alle sind nötig, damit das Gesetz schließlich seine Wirkung erreicht. 25 [...] Um dies aber zu erklären, weise ich drittens daraufhin, daß vom Gesetz in einer dreifachen Zuordnung zu dem oder den Menschen die Rede sein kann. Erstens in der Ordnung auf den Gesetzgeber selbst; so wie wir oben gesagt haben, daß das Gesetz im Geiste Gottes von Ewigkeit her geformt gewesen sei. Zweitens in den Untertanen, welchen das Gesetz auferlegt wird, so wie man zu sagen pflegt, daß das Gesetz der Natur in das Herz (mens) der Menschen eingegraben sei; drittens in irgendeinem anderen Zeichen, beziehungsweise einem anderen äußeren Material, z.B. schriftlich oder auch in einer Stimme, welche den Willen des Gesetzgebers kundtut. 26

1.2. Lex aeterna als >ewiges< Gesetz Jenes [Gesetz] ist [...] Gott selbst und deshalb so unwandelbar und ewig wie er selbst, und folglich auch ebenso notwendig [...] jenes ewige Gesetz [ist] ein absolut notwendiges [...] Dennoch hat es unter der Rucksicht des Gesetzes und seiner Befolgung keine absolute Notwendigkeit, weil es eine Beziehung zur Freiheit einschließt. 27

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24

25 26 27

Die folgenden Texte von mir übersetzten Texte sind, wenn nichts anderes vermerkt ist, entnommen aus: Francisco Suärez: De legibus ac Deo legislatore. Lib. I. Cap. 4. Nr. 3 (CPH XI, S. 66). Zum Vergleich mit der differenzierenden Art des Suärez siehe Melanchthon: »Es ist aber das Gesetz eine Art Urteilsspruch, durch den das Gute vorgeschrieben und das Böse untersagt wird. Recht ist - vielfältig - zwingende Gewalt, die gemäß dem Gesetz zu handeln fordert und es durchsetzt« (Philipp Melanchthon: Oratio de legibus [1524], in: Melanchthons Werke in Auswahl, hrg. v. R. Stupperich, II. Band, 1. Teil, Gütersloh 1952, S. 41) und Bodin: »Es besteht ein Unterschied zwischen Recht und Gesetz. Das eine bezieht sich auf Gerechtigkeit, das andere auf Befehl. Denn ein Gesetz ist nichts anderes als eine Anordnung des Souveräns, der seine souveräne Macht gebraucht« (Jean Bodin: Über den Staat. Übers, v. G. Niedhart. Stuttgart 1976, S. 36). Ebd. Ebd. Lib. I. Cap. 3. Nr. 2 (CPH XI, S. 37f.).

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Suärez will sagen, daß die Lex aeterna als Gesetz notwendig ist, bedürfen doch sämtliche anderen Gesetze dieses Gesetzes. Indem ich die Schöpfung vernünftiger Lebewesen voraussetze, ist das Gesetz durch die Notwendigkeit des Zieles notwendig gewesen, ebenso in der einfachen Weise als auch um des Zieles der Vervollkommnung willen. 28

Sie ist jedoch nicht Ausdruck notwendiger Befolgung, vielmehr ist der Verstoß gegen diese Lex dem vernünftigen Lebewesen Mensch möglich. Also kann das Gesetz nicht nötiger sein als die vernünftige und einsichtige Schöpfung nötig ist. Aber der vernünftigen Schöpfung kommt keine absolute Notwendigkeit zu zu sein, also auch nicht dem Gesetz. 1.3. Lex aeterna und Vorsehung Zuerst die Unterschiede zwischen beiden: Die Lex aeterna ist der Grund der Vorsehung, der >providentiaProductiones naturalesRaumWenn Lex, so Promulgation«, dann muß, um ein echtes Gesetz zu sein, die Lex aeterna promulgiert sein; nun ist sie aber nicht oder jedenfalls auf keine gewöhnliche Weise promulgiert worden, somit scheint es auch keine Lex zu sein. Es läge ein >Etikettenschwindel< vor. Nun scheidet die Möglichkeit zwar aus, daß der Inhalt der Lex den Geschöpfen mitgeteilt wurde, sobald Gott um sie wußte, sie aber noch nicht erließ. Denn eine solche Teilhabe am - bloßen - Wissen Gottes würde ja für alles Wissen Gottes gelten. Dann wüßten die Menschen immer schon um das Gesetz des Moses und das der Gnade, was aber nicht der Fall ist und die Offenbarung überflüssig machte.33 Es ist also anzunehmen, daß Gott jedem Menschen ein Wissen über die Lex eröffnet hat und dieses Wissen zugleich ein öffentliches Wissen ist. Denn was ich über Gesetzesveröffentlichungen privat erfahre, verpflichtet mich nicht. Aus der Sicht der Adressaten ist damit eine solche >interna revelatioInstitut< des Versprechens selbst, das Versprechen enthält in sich die >rectitudo naturalise Würde Gott es nicht einhalten, würde er zwar nicht des Bruches des Versprechens schuldig sein können, doch wäre er, wie Suärez sagt, >inefficax< und >inconstanskontraproduktivnatura rei< verstoßen. 37 Nach einem von Menschen entworfenen Modell, das Gottes Allmacht betont, ihn aber in der Zeit denkt, könnte unterstellt werden, daß Gott heute Α und morgen zum selben Regelungsgegenstand B, oder gar heute Α und morgen Nicht-A sagen könne. So daß, was heute Recht, morgen Unrecht wäre. Nur, dieses Modell ist deswegen falsch, weil Gott sich überhaupt nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit >bewegtDer Herr ist nämlich unser Richter, unser Gesetzgeber und unser KönigEiner ist der Gesetzgeber und Richter, nämlich der, der verderben und befreien kann.< 46 Die göttlichen Gesetze beinhalten also notwendigerweise eine Beziehung auf die öffentliche und höchste Gewalt. 47

Damit ist jegliches Gesetz und auch der Gesetzesgehorsam des Menschen auf Gott hin durchlässig: Gott ist in allen Gesetzen anwesend und jede Gesetzeserfullung kommt nur dadurch zustande, daß er dem Adressaten zum Gehorsam verhilft.

3.

Die Adressaten

3.1. Wer? Alle Geschöpfe? Augustinus hat »gesagt, daß es nichts im Universum gebe, was von den Gesetzen der göttlichen Vorsehung ausgenommen sei; auch hat er behauptet: >Nichts ist den Gesetzen des Höchsten Schöpfers und Weltordners entzogen; von ihm wird der Friede des gesamten Alls errichtet.Gesetz< das nennt, womit Gott die natürlichen bzw. der Vernunft entbehrenden Geschöpfe lenkt, der gebraucht >Gesetz< im metaphorischen Sinne, wenn ansonsten unter >Gesetz< eine >Vorschrift< verstanden wird, die sich an freie Wesen richtet. Die zweite Analogie betrifft die Geschöpfe und steht in enger Beziehung zur ersten Analogie. Denn die Unterordnung und Unterwerfung der Geschöpfe, 44 45 46 47 48

Lib. II. Cap. 4. Nr. 2 (CPH XIII, S. 48). Is 33, 22. Jak 4, 12. Lib. I. Cap. 8. Nr. 2 (CPH XI, S. 148). Lib. II. Cap. 2. Nr. 12 (CPH XIII, S. 27); Augustinus: De libera arbitrio Lib. I. Cap. 6; De civitate Dei. Lib. V. Cap. 11 und De civitate Dei. Lib. XIX. Cap. 12. Nr. 3.

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die des Verstandes entbehren, unter Gott kann nur in einem sehr weiten und metaphorischen Sinne >Gehorsam< genannt werden; denn im eigentlichen Sinne geschieht diese >Unterwerfung< doch aus einer natürlichen Notwendigkeit. Insoweit aber das ewige Gesetz auf sittliche und politische Weise die des Verstandes fähigen Geschöpfe lenkt, kommt ihm das eigentliche Wesen des Gesetzes zu; und ihm antwortet auch der Gehorsam im eigentlichen Sinne. 49

Suärez bleibt dabei, ein Gesetz und damit auch das ewige Gesetz bezieht sich nicht auf die Geschöpfe, die des Verstandes entbehren.50 Ich füge aber außerdem hinzu, indem ich von dem Gesetz im eigentlichen Sinne hier jetzt spreche, daß es nur um der vernünftigen Kreatur willen bestehen könne; denn das Gesetz wird nur einem Lebewesen auferlegt, das frei handeln kann, und hat zum Gegenstand nur frei gesetzte Handlungen. 51

Seine Natur läßt sich von zwei Seiten betrachten: Es ist notwendig, um allen anderen Gesetzen seine Verpflichtungskraft zu >leihenGesetzSelbst-Nutz< und >Fremd-Nutzreligio< Isidor fordert von dem Gesetz, daß es mit der >re!igio< übereinstimme, 56 was der hl. Thomas, wenn er das menschliche Gesetz behandelt, gleichfalls sagt, daß nämlich das Gesetz mit der Religio übereinstimmen müsse, insoweit diese dem göttlichen Gesetz angemessen sei. 57 Dieses Verhältnis besteht nur darin, daß das Gesetz nichts befiehlt, was das göttliche Gesetz verbietet, und nichts verbietet, was das göttliche Gesetz gebietet. So bedeutet es auch dasselbe: >mit der religio übereinstimmend sein< und >ein sittlich Handelnder seinreligio< mehr als jedes andere Verhalten die echte Verehrungsweise des wahren Gottes zu verstehen sei. So steht nun fest, daß das ewige Gesetz, insofern es nach außen fllr die zeitliche Dimension Vorschriften erteilt, in höchster Weise mit der göttlichen Verehrung Ubereinstimmt, weil Gott alles auf seine Ehre und seinen Ruhm hinordnet. Daher verbietet er völlig entschieden jede Sünde, weil sie seinem Gesetz und seiner Gutheit entgegengesetzt ist. Ebenso befiehlt das Naturgesetz, welches die erste und nächste Teilhabe an dem ewigen Gesetz ist, die Verehrung Gottes. Und daher hat ja Paulus gesagt: >Diejenigen Völker sind unentschuldbar, welche, obwohl sie Gott gekannt hatten, ihn doch nicht in gebührender Weise verehrtem. 58

Und erläuternd fügt Suärez hinzu: Deshalb schreibt das Naturgesetz nichts vor und erlaubt auch nie irgend etwas, was nicht mit der wahren Verehrung Gottes Ubereinstimmt. Obwohl einzelne Vorschriften dieses Gesetzes nicht immer die Verehrung Gottes unmittelbar anordnen, bestimmt es doch nicht 55 56 57 58

Lib. I. Cap. 7. Nr. 3 (CPH XI, S. 130f). Isidorus. Etymologiarum. Lib. V. Cap. 3. §4. Thomas von Aquin. Summa Theologiae I—II. Quaest. 95. Art. 2 corpus. Röm 1, 20f.

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irgend etwas, was nicht zur Ehre Gottes geschehen könnte. Dies genau bedeutet >mit der Verehrung Gottes übereinstimmem. 59

4.3. Auf welche Handlungen bezieht es sich? (Nr. 14) Darüber hinaus kann aber untersucht werden, ob sämtliche sittlichen bzw. menschlichen Handlungen Gegenstand dieses ewigen Gesetzes seien. Was die schlechten Handlungen betrifft, so besteht nicht der geringste Anlaß zum Zweifel, daß alle jene Handlungen durch jenes Gesetz verboten sind [...] Was die indifferenten, also weder schlechten noch guten Handlungen betrifft, so gibt es doch gewisse Zweifel, denn da jene weder verboten noch erlaubt sind, scheinen sie doch überhaupt nicht Gegenstand irgendeines Gesetzes in der Vorstellung Gottes zu sein. Derselbe oder ein größerer Zweifel betrifft jedoch die guten Handlungen, welche vom Lebensziel des Menschen her besehen nicht notwendig, sondern Werke sind, die mehr als das Gebotene leisten. Ihretwegen sagen ja auch einige, daß jenes Gesetz, wenn es im eigentlichen Sinne verstanden wird und sich somit als Befehl darstellt, sich dann gar nicht auf jene Handlungen erstrecke; daß es aber, allgemeiner aufgefaßt, jene Handlungen betreffe, die und insoweit sie irgendeine Ausrichtung auf Lenkung der Menschen mit beinhalten, unter welcher j a auch die Erlaubnis und der Rat verstanden werden; denn die Erlaubnis ist unter den indifferenten Handlungen mit Inbegriffen, die Befolgung der Räte aber gehört zu den das Gebot Uberschreitenden Handlungen. (Nr. 15) Abgesehen von allem kann ganz ohne Einschränkung bestätigt werden, daß alle moralischen Handlungen unter einer gewissen Rücksicht unter das Gesetz fallen, auch wenn es im eigentlichen Sinne ein vorschreibendes ist. Dies ist einsichtig, wenn wir eine Unterscheidung anwenden, welche wir im obigen Teil über das Gesetz gegeben haben, das entweder die Ausübung einer Handlung vorschreibt oder bloß dessen besondere Form und Art der Verwirklichung. Wir sagen also, daß die genannten Handlungen der Inhalt des ewigen Gesetzes seien, das entweder die Ausführung anordnet oder eine bestimmte Art des Handelns vorschreibt oder eine andere verbietet. Dies ist zu erklären. Denn hinsichtlich der guten bzw. sittlich hervorragenden Handlungen gibt es laut der Lehre des Augustinus fast kein Tun und Gegenstand im Bereich der Räte, das nicht zumindest in der Vorbereitung und Einstellung des Geistes auf es unter ein Gebot fiele, immer unterstellt, daß zur göttlichen Herrlichkeit ein solches Werk zu verrichten nötig wäre. Dies ist im höchsten Sinne wahr. In der Ausrichtung auf das ewige Gesetz erfährt der Mensch, daß Gott den Menschen verpflichtet, bereit zu sein, alle diejenigen Werke zu verrichten, die er, Gott selbst, verrichtet haben will oder wenn jene aus einem anderen Anlaß notwendig zu tun wären. So z.B. die Ehe: Obwohl sie kein Gegenstand für die Räte ist, sondern mit im Vergleich zu ihnen untergeordneten Gütern zu tun hat, fällt auch sie nicht einmal regelmäßig unter das Gebot; sie fällt erst dann unter die Verpflichtung, die das Naturgesetz ausspricht, wenn die Ehe zur Arterhaltung notwendig ist; damit aber fällt sie auch unter das ewige Gesetz. So gibt es also kein einziges gutes Werk, das nicht unter jenes Gesetz, und zwar auch als befehlendes fallen würde. Wenn schließlich die Ausübung solcher Handlungen nicht notwendig ist - mögen sie nur angeraten oder zu irgendeinem Beweis zu dienen scheinen - so wird nichtsdestotrotz auch durch das ewige Gesetz die Art und Weise vorgeschrieben, in welcher jene zu vollziehen 59

Lib. I. Cap. 9. Nr. 8 (CPH XII, S. lOf).

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Norbert Brieskorn sind, damit sie zu Recht geschehen; und so sagen wir, daß unter das vorschreibende Gesetz die Art ihres Vollzuges und die Eigenart ihres Wirkens falle. Dasselbe ist auch bei den Handlungen deutlich, die wir als indifferente bezeichnen. Denn wenn sie erfolgen, so ist geboten, daß sie wegen eines ehrenhaften Zwecks geschehen und untersagt, daß sie nur um ihrer selbst willen getan werden. Stuft man sie als solche Akte ein, so können wir behaupten, daß sie unter die Verbote jenes Gesetzes fallen, jedenfalls laut der wahrscheinliche Richtigkeit beanspruchenden Ansicht des hl. Thomas. Seiner Ansicht nach kann es gar kein menschliches indifferentes Tun des einzelnen Menschen geben. 60

Und somit lassen sich zwei Vorschriften im ewigen Gesetz hinsichtlich dieses Tuns ausmachen: Die eine lautet, jene Handlung ist wegen eines guten und ehrenhaften Zweckes zu tun; die andere verbietet, jene Handlung um ihrer selbst willen zu tun, d.h. ohne ein rechtfertigendes Motiv, so wie das müßige Wort untersagt ist. (Nr. 16) Jetzt läßt sich nun einsehen, in welchem Sinne der Ausspruch des Augustinus wahr ist, der oben zitiert worden ist und öfter wiederholt wurde, daß es nichts gebe, was sich Uberhaupt der Herrschaft des ewigen Gesetzes entziehen könnte, nichts im Himmel und nichts auf der Erde, nichts in der Tiefe der Erden, noch jemand, der sündigt, und auch niemand, der richtig handelt. Denn wenn auch der Sünder gegen das eine ewige Gesetz Gottes verstößt, so fällt er doch zusätzlich noch unter jenes Gebot, welches vorschreibt, daß der Mensch, was er im Handeln fehlt, im Leiden zu ersetzen hat. So hat es der hl. Thomas 61 unter Berufung auf Augustinus gesagt, der ausführt: >Gott weiß nämlich die Seelen, die sich von ihm trennen, in Ordnung zu bringen, und ausgehend von ihrem Elend, das sie zu Recht traf, sogar die unteren Antriebe seines Geschöpfes mittels höchst passender und stimmiger Gesetze auf eine bewunderungswürdige Anordnung zu lenkenDu hast es so befohlen, Herr, und so ist es, daß ein jeder ungeordnete Geist sich selbst zur Strafe wird< 63 Wenn das nun aber einer richtig überlegt, so ist jenes Gesetz, das vorschreibt, was nach schlechtem Tun durch Strafe und nach gerechtem Tun durch Belohnung beantwortet wird, nicht eigentlich ein Gesetz, welches sittliche Handlungen hinsichtlich der geistbegabten Schöpfung anbefiehlt, sondern ist ein Gesetz, welches eine solche Strafe oder eine solche Belohnung abschätzt, ein Gesetz also, dem durch die Wirkkraft göttlicher Vorsehung zur Wirkung verholfen wird. 64

Nicht bloße Vorschrift, sondern auf Wirkung bedacht! Wer gegen ein Gesetz verstößt, begibt sich unter die Androhung eines anderen, der Mensch wird sozusagen nie aus dem Gesetzesschutz und der -Verpflichtung entlassen. Auch schreiben Gesetze nie bloß vor, sondern geben auch die Kraft zum Gesetzesgehorsam und der Erfüllung des Gebotenen und der Enthaltung vom Verbotenen. Die Gesetze fiihren den Menschen heim zu Gott, wie es der Prolog ausdrückte.

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Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Quaest. 18. Art. 9. Thomas von Aquin: Summa Theologiae. Quaest. 93. Art. 6. Augustinus: De catechizandis rudibus liber unus. Cap. 18. (PL 40, 333). Augustinus: Confessionum libri tredecim. Liber I. Cap. 12. Lib. II. Cap. 2. Nr. 14-16 (CPH XIII, S. 28-31).

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5. Der Zweck und die Zwecklosigkeit der Lex aeterna Es ist nun unschwer einzusehen, welches die Notwendigkeit und die Nützlichkeit dieses Gesetzes sind: beide entsprechen genau denen der göttlichen Vorsehung. Denn wie ohne göttliche Vorsehung die Welt nicht bestehen könnte, so eben auch nicht ohne göttliches und ewiges Gesetz. Und eine jede Nützlichkeit und Wohltat, welche dieser Welt aus der göttlichen Vorhersehung zuteil werden, entstammen eben auch dem göttlichen Gesetz. Es weist aber der hl. Thomas darauf hin, 65 daß die Nützlichkeit dieses Gesetzes nicht darin bestehe, daß es auf ein Ziel hingeordnet ist, sondern daß es selbst alles andere auf die ihnen vorgegebenen Ziele durch geeignete Mittel hin ordnet. Das ewige Gesetz selbst kann nämlich nicht noch einmal auf ein Ziel ausgerichtet sein, weil es ja nichts anderes als Gott selbst ist, welcher das letzte Ziel von allem ist. Schließlich können wir diesem ersten Gesetz, das wir göttliches, beziehungsweise ewiges nannten, die erste Unterteilung entnehmen, die nämlich in ewiges und zeitliches Gesetz. Wir nehmen ja an, daß nichts außer Gott ewig sei. Es steht aber fest, daß es mehrere Gesetze gibt, die außerhalb Gottes sind; folglich ist es nötig, abgesehen vom göttlichen Gesetz die Existenz anderer Gesetze anzunehmen, die zeitlich sein müssen, welche sich also wie das Geschaffene vom Ungeschaffenen unterscheiden, denn was ewig ist, ist ungeschaffen, und was zeitlich ist, ist geschaffen. So steht nun fest, daß es ein göttliches Gesetz gibt, d.h. ein in Gott selbst existierendes.66

Es ist Gott selbst, sein Wille und sein Intellekt sind immerfort an und mit diesem Gesetz beschäftigt. Nichts ist abtrennbar.

6. Die Erkennbarkeit der Lex aeterna Sie ist als Ursprung alles anderen - ebenso wie Gott - in allem zu finden. Wobei das ewige Gesetz sich nicht von sich aus zu erkennen gibt, sondern durch die anderen Gesetze hindurch sich bemerkbar macht. Es ist so eine indirekte Gegenwärtigkeit. Wie spielen die Erkenntnis der >Natur der Sache< und des Gesetzeswortes zusammen? Mir scheint, die Bezeichnung wechselseitiger Erhellung hierfür nicht unpassend.67

7. Verortungsversuche Das eingangs aufgefächerte Leges-Schema hat am Ende des 16. Jahrhunderts noch einmal in aller Klarheit Francisco Suärez durchdacht und zu Beginn des 17. Jahrhunderts in De legibus ac Deo legislatore dargestellt. Die lex aeterna ist eine Außenwirkung Gottes mit Verpflichtungscharakter.

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Thomas von Aquin: Summa Theologiae I-II. Quaest. 91. Art. 1 ad tertium. Lib. I. Cap. 3. Nr. 6 (CPH XI, S. 41). Doch bedarf dieses >Spiel< noch genauerer Erhellung, z.B. durch den Vergleich mit der Sicht Luis de Molinas.

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Alle übrigen Gesetze haben sie zu berücksichtigen, bzw. dürfen ihr nicht widersprechen. Es findet sich in ihm jener Ansatz wieder, welcher die >De-AmoreBetrachtung< der Geistlichen Exerzitien des Ignatius prägt.68 Scharf und eindeutig setzt sich die Nachzeichnung des Suärez einerseits von einer deistischen Weltsicht ab, welche im Anschluß an die Schöpfung Gott von der Verantwortung für die Welt freisetzt, andererseits von Bildern eines Willkürgottes. Die lex-aeterna-Lehre bedeutet darüber hinaus eine Antwort auf die von Hume formulierte Unterscheidung von Sein und Sollen; das Sein ist von einem Sollen durchwirkt; auch geschieht durch die lex aeterna der notwendige Einbruch der Ewigkeit in die Zeitlichkeit. Gott und Mensch treten bei Suärez nicht gegeneinander als Konkurrenten an, sondern wachsen gleichsam synergetisch69 aneinander, jedenfalls der Mensch mit seiner Freiheit an Gott. Sie behindern sich nicht, sondern wirken zu beidseitigem Vorteil zusammen. Die lex aeterna ist Forderung und gewährt Hilfe zu ihrer Erfüllung: Dieser Zusammenhang ging mit der Aufgliederung in Abwehr- und Leistungsrechte verloren. Um aber den Gebots- und Verbotsgesetzen gerecht werden zu können, steht für Suärez den Adressaten jeweils die entsprechende Hilfe zur Verfügung. Auch Menschen haben sie zu gewähren. Nur Gott aber steht es zu, die Menschen zu sich >heimzuholenDe legibus ac Deo legislatore< (1612). Zwar gesteht er, in implizitem Gegensatz gegen Ockham, seinen Vorgangem, insbesondere G. Vasquez zu, Gut- bzw. Schlechtsein sei eine innere Eigenschaft von Handlungen (II.5.5), zugleich aber stellt er der objektivistischen Naturrechtslehre, in stillschweigender Übereinstimmung mit Ockham, die These entgegen, ein Gesetz im eigentlichen Verstände werde zur gebietenden Norm erst durch den Willen eines Gesetzgebers (II.6.1); die Vernunftnatur könne nur im übertragenen Sinne als Gesetz bezeichnet werden (II.5. 5). Damit ist klar, daß Suärez, bei aller programmatischen Parteinahme im Titel seiner Schrift, eine Kompromißformel zwischen der voluntaristischen und der objektivistischen Sicht im nachscotistischen Naturrecht der Spätscholastik sucht. 7 0

In der Anmerkung 154 schreibt Ilting sodann: Wie weit Suärez im Grunde bereits von der thomistischen Ausgangsposition entfernt ist, zeigt sich gleich am Anfang seiner Schrift, wo er als erstes die Definition des Gesetzes in der >Summa theologiae< zurückweist: >Quae descriptio nimis lata et generalis videtur. Sic enim lex non solum in hominibus seu rationalibus creaturis sed etiam in reliquis locum

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Ignatius von Loyola: Gründungstexte der Gesellschaft Jesu (Ignatius v. Loyola: Deutsche Werkausgabe, Band II), hrg. u. übers, v. Peter Knauer, Würzburg 1998, S. 2 0 4 - 2 0 6 (Exerzitienbuch Rdnr. 230-237). Selbstverständlich wächst nicht Gott, sondern nur der Mensch; wohl erfüllt sich Gottes Absicht mit der Schöpfung, wenn der Mensch es an sich geschehen läßt und mitarbeitet, in seinem Leben zur Vollform heranzureifen. Karl-Heinz Ilting: Naturrecht und Sittlichkeit (wie Anm. 2), S. 67.

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habebitSache selbst< schlecht ist, und daß es nicht umgekehrt sei: Daß das Verbot erst die Sache schlecht mache.72 Ilting setzt Suärez in Gegensatz zu Luis de Molina, der, so Ilting, >exzessiv< mit der >Natur der Sache< arbeite, das Naturrecht - sprachlich gesehen - in analytisch praktischen Sätzen aufgehoben sehen wolle und kein Bedürfnis mehr anmelde, das Naturrecht theologisch, naturteleologisch oder auch in Gottes Vernunft zu verankern. Molina, so Ilting, gründe das Naturrecht in der Widerspruchsfreiheit.73 Wer beispielsweise die >Gesetze< und ihre Einordnung besieht, welche der Soziologe Montesquieu 1748 in seinem Werk Vom Geist der Gesetze aufsucht und erörtert,74 wird das Anliegen des Theologen und Ethikers Suärez besser einordnen können. Induktives Vorgehen bei Montesquieu, apriorisch-deduktives bei Suärez. Er wirft vom Gottesstandpunkt einen Blick auf die durchlichtete Welt, Montesquieu wird aus irdischer Perspektive Schritt für Schritt in das Dunkel hinein Aufklärung suchen. Ist für Suärez die Hauptarbeit, die jede mögliche Gesetzgebung in dieser Welt zu leisten hat, im Grund bereits - durch Gott - geschehen, so steht sie für Rousseau noch aus. Der menschliche Gesetzgeber findet bei Suärez ein Modell an Vorgaben, welche letztlich auf Gott zurückgehen. Anders bei 71 72 73

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Ebd., S. 68 (unter Bezug auf De legibus. II. 6. 17). Nur ein einziger Beleg sei geliefert: Lib. II. Cap. 5. Nr. 2 (CPH XIII, S. 60). Ob diese Auslegung Molina gerecht wird, ist zu bezweifeln, doch kann diesem Streitpunkt hier nicht näher nachgegangen werden. In De justitia et jure hält Molina jedenfalls zum einen die Anbindung der >lex naturalis< an die >lex aeterna< fest: T. 5. D. 46. Nr. 14; in D. 47. Nr. 2 führt er dann zweitens aus, daß das Naturgesetz uns von Natur her eingegeben sei, weil wir Ebenbild Gottes seien, was sich im Daß und Wie des Gewissens [synderesis vel conscientia] zeige. Montesquieu: Vom Geist der Gesetze. Eingeleitet, ausgewählt u. übersetzt v. K. Weigand, Stuttgart 1967, S. 95-100 (1. Buch, 1. und 2. Kapitel).

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Rousseau! Der Gesetzgeber schafft ins Ungestaltete. >Gott< wird im siebten Kapitel des zweiten Buches des Gesellschaftsvertrags Rousseaus gegen den göttlich-menschlichen Gesetzgeber ausgetauscht, genauer: Gegen einen gar nicht auffindbaren, ja gar nicht möglichen Gesetzgeber.73 Genährt wurde auch in der Zeit nach Suärez die Abneigung gegen ein Gehorsam beanspruchendes Gesetz, welches nicht die Zustimmung der Adressaten erhielt. Dieses Selbstbewußtsein und dieser Autonomiegedanke muß sich auch gegen den Diskurs über eine Lex aetema wehren. Rousseau stellte sich hinter den Aufruf der Decemvirn, welche den Römern zurufen: »Keiner unserer Vorschläge kann ohne eure Genehmigung Gesetzeskraft erhalten. Römer, seid selbst die Urheber der Gesetze, die zu eurem Glück fuhren sollen!«76 Mit der Rückbildung oder gar dem Verschwinden der Legeslehre und ihrem normativen Anspruch stellte sich die Frage nach letzter Begründung und letztem Kriterium neu. Rousseau beteiligt sich an dieser Suche. Zwar spricht er weniger von letztem Kriterium und Letztbegründung, doch weist er in seiner Gesetzeslehre auf eine vierte Art von Gesetzen hin, welche die Verfassung, die Zivil- und Strafgesetze stützen, zu ihrer Einhaltung mahnen und wohl auch, denn Rousseau erwähnt diese Funktion nicht, kritisieren und verwerfen dürfen. Diese vierte Art sind die Gesetze des Herzens. Er griff dazu auf die Nomoi Piatons77 zurück.

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Jean-Jacques Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag. In der verbesserten Übers. V. H. Denhardt. Mit einem Nachwort hrg. v. Heinrich Weinstock, Stuttgart 1971, S. 45^49. Ebd., S. 47 (II. 7. §6). Nomoi. VII. 1 (788 ac); VII. 4 (793 ad).

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Literaturverzeichnis Quellen Suärez, Francisco: De legibus, in: L. Perefia (edit ). F. Suärez. De legibus. Ediciön bilingüe. (Corpus Hispanorum de Pace [Abgekürzt CPH], Volumina XI ff.). Madrid: Consejo superior de Investigaciones cientificas, 197 Iff.. CPH XI (1971): De legibus Prologo. Lib. I. Cap. 1-8. C P H XII (1972): De legibus. Lib. I. Cap. 9 - 2 0 . CPH XIII (1974): De legibus. Lib. II. Cap. 1-12.

Weitere Literatur Bermbach, Udo: Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat: Frankreich und Spanien im 16. Jahrhundert, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrg. v. Iring Fetscher und Herfried MUnkler. 3. Bd.: Neuzeit: Von den Konfessionskriegen bis zur Aufklärung, München und Zürich: Piper 1985, S. 101-162. Bodin, Jean: Über den Staat. Übers, v. G. Niedhart. Stuttgart: Ph. Reclam Jun. 1976. Brieskorn, Norbert: Francisco Suärez und die Lehre vom Tyrannenmord, in: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, hrg. v. M. Sievernich u. G. Switek, Freiburg: Herder 1990, S. 323-339. Las Casas und das Römische Recht, in: Bartolom6 de las Casas. Werkauswahl 3/1, hrg. v. M. Delgado, Paderborn: Schöningh 1996, S. 13-22. Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung (Kontexte. 3), Stuttgart: Kohlhammer 1997. Buckley, J. C.: Art. >Lipsius, JustusJ6suitesLes Politiques< de Juste Lipse (1589), in: Le Stoicisme aux XVI et XVII sidcles (Cahiers de philosophie politique et juridique. 25), Caen: Presses Universitaires de Caen 1994. Sprengler-Ruppenthal, Anneliese: Zur reformatorischen Kirchenrechtsbildung, in: ZRG KA 66, 1980, S. 391-420. Zur Verwendung von Bibelstellen in Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, in: ZRG KA 67(1981), S. 310-338.

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Zur Rezeption des Römischen Rechts im Eherecht der Reformatoren. In: ZRG KA 68 (1982), S. 363-418. Villey, Michel: Philosophie du droit. 2 Bde, Paris: Dalloz (1. Bd.: Μ 978; 2. Bd.: 1979). Questions de saint Thomas sur le droit et la politique ou le bon usage des dialogues, Paris: Presses Universitaires de France 1987. Vogler, Günter (Hrg.): Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar: Böhlau Nachf. 1994. Wagner, Falk: Naturrecht II, in: TRE XXIV, Berlin, New York: Walter de Gruyter 1994, S. 153-185. Weill, G.: Les Thdories sur le pouvoir royal en France pendant les guerres de religion. Paris 1892. Zwingli, Huldriych: Auswahl seiner Schriften, hrg. v. E. Künzli, Zürich, Stuttgart: Zwingli Verlag 1962.

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Francisco Suärez über die Veränderbarkeit von Gesetzen durch Interpretation

I. Einleitung: Das Problem der Interpretation im Naturrechtsdenken Die Frage nach der Legitimität, den Grenzen, den Möglichkeiten und den Methoden der Rechtsinterpretation stellt sich fast selbstverständlich überall dort, wo von Recht und Gesetz die Rede ist, also auch in der Rechtsphilosophie.1 Denn jederlei Recht ist bereits gemäß tradierten Definitionsversuchen ein Versuch, Handlungen durch allgemeine Normen - Gesetze - zu beurteilen und zu regulieren. Von diesem Gesetzesbegriff geht auch Suärez in De legibus aus, wobei er nicht nur Thomas von Aquin zitiert, sondern weiter noch auf Piaton zurückgreift.2 Daß etwas, was in der einen Situation rechtens war, in einer gleichen oder hinreichend gleichartigen Situation ebenfalls rechtens sein muß, gehört zu den wesentlichen Zügen dieses Rechtsbegriffs. Aus diesem, fur Recht konstitutiven Zug, ergeben sich aber mindestens zwei ineinander verschränkte Probleme, angesichts derer das Problem der Rechtsinterpretation zwangsläufig ins Spiel kommt: Der Gesetzesbegriff wirft zum einen die Frage auf, wie allgemeine Sätze oder Prinzipien derart auf eine einzelne Handlung angewendet werden können, daß diese als ein Fall der Regel subsumiert und damit rechtlich bewertet werden kann. Diese Schwierigkeit ergibt sich daraus, daß zwei Situationen einander niemals völlig gleich sind und Handlungen desselben Typs in Vgl. beispielsweise K. Engisch, der das Problem der Interpretation, Auslegung und Anwendung von Gesetzen in das Zentrum seiner Einführung in das juristische Denken stellt (K. Engisch: Einführung in das juristische Denken, Stuttgart, Berlin, Köln 9 1997), aber auch P. Koller: Theorie des Rechts. Eine Einführung, Wien, Köln, Weimar 2 1997. Wie sehr das Interpretationsproblem auch außerhalb der Rechtswissenschaften gleichsam eine Renaissance erlebt, würde ein Blick auf R. Dworkins Theorie leicht belegen. Vgl. das Thomaszitat zur Eröffnung in Francisco Suärez: De legibus I, c. I, nr. 1: »Divus Thomas (I. II , quaest. 90. art. 1) ita describit quid nominis legis: Lex est quaedam regula et mensura secundum quam inducitur aliquis ad agendum vel ab agendo retrahitur.« Alle weiteren Erläuterungen dieses Gesetzesbegriffs, etwa die Unterscheidung zwischen Sitten und Rechtskunst, motiviert Suärez im Rückgriff auf den (pseudo-)platonischen Minos, wie er von Ficino im Blick auf den Timaios kommentiert wurde, und auf Piatons Timaios und Gorgias selbst. Vgl. dazu die hilfreiche Anmerkung der kritischen Ausgabe Francisco Suärez: De legibus, editio critica bilingue, hrg. v. L. Perefla, Madrid 1971ff., Bd. I, S. 11, Anm. 24. Wie weit die unmittelbaren Platon-Kenntnisse von Suärez reichen, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Bereits das Eingangszitat zeigt, wie sehr Suärez nicht nur die scholastischen Autoritäten berücksichtigen, sondern Uber humanistische Autoren weitere Traditionsstränge in seine Konzeption integrieren will.

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hinreichend verschiedenen Situationen durchaus unterschiedlich zu beurteilen sind. Sie kann unter Umständen regelrecht als eine Aporie erscheinen. Denn die kategoriale Kluft zwischen der einzelnen Handlung, die in ihrer Besonderheit durch potentiell unendlich viele Merkmale charakterisiert ist einerseits und der allgemeinen Norm, deren Allgemeinheit gerade nur eine begrenzte Zahl relevanter Merkmale von Handlungen erfassen kann andererseits scheint sich prinzipiell nicht schließen zu lassen. Entsprechend beschäftigte sich die praktische Philosophie, insbesondere die Rechtsphilosophie, von Anfang an mit Applikationsproblemen. 3 Wenn beispielsweise der alte Kephalos zu Beginn der Politeia Piatons bemerkt 4 - und Sokrates dies als einen ersten Definitionsvorschlag der Gerechtigkeit aufgreift - Gerechtigkeit »sei Wahrhaftigkeit und Wiedergeben, was man empfangen hat«, dann spielt der kategoriale Unterschied zwischen allgemeiner Norm und konkretem Fall unmittelbar hinein. Sokrates fragt nämlich sofort, ob man ein Depositum, beispielsweise eine gefährliche Waffe, in allen Umständen auch einem Wahnsinnigen zurückgeben muß. Je allgemeiner die Norm, desto deutlicher lassen sich diese Probleme aufreißen. Vor diesem Hintergrund gesehen ist es kein Zufall, wenn Aristoteles im 5. Buch der Nikomachischen Ethik, Kap. 10, unmittelbar nachdem er Naturrecht und positives Recht begrifflich unterscheidet, sofort auf das Verhältnis zwischen allgemeiner Norm und einzelner Handlung zu sprechen kommt. 5 Die Probleme der Applikation stellen sich im Fall so abstrakter Normen, wie sie das Naturrecht ausmachen, verstärkt. Das zweite Problem ergibt sich daraus, daß diese Allgemeinheit des Rechts nicht nur hinreichend gleichartige Situationen umfaßt, die zur selben Zeit stattfinden, sondern auch solche, die zu verschiedenen Zeiten statthaben. Aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz ergibt sich, daß das Recht von sich aus zunächst ahistorisch ist. Das wirft nicht nur die Frage auf, ob es angesichts der historischen Erfahrung des Rechtsrelativismus überhaupt

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Vgl. zum Problemhintergrund W. Wieland: Aporien der praktischen Vernunft, Frankfurt am Main 1989, S. 11 ff. Wieland selbst scheint an einer entscheidenden Stelle seiner Abhandlung der Exposition dieses Problems durch C. Schmitt (C. Schmitt: Gesetz und Urteil, 1921, ND München 1969) verpflichtet zu sein, nämlich genau dann, wenn er die grundsätzliche Frage am Problem der Ausnahme diskutiert (S. 20f.). Wie alt und altbekannt das Methodenproblem als spezifisch juristisches ist, bezeugt schon die Glosse ius est ars zu D I, 1,1,1, »Ars est de infinitis finita doctrina«. Vgl. zum historischen Hintergrund V. Piano Mortari: II problema dell' interpretatio iuris nei commentatori, in: Annali di storia del diritto 2 (1958), S. 29-109, dem auch dieses Zitat entnommen ist (S. 32ff.). Piaton, Rep. I, 33 lc-d. - vgl. auch Polit. 294a6-dl. Vgl. Aristoteles: NE V, 10, 1135a 5ff.: »Jede Rechts- und Gesetzesbestimmung steht zum Einzelfall im selben Verhältnis wie das Allgemeine zum Einzelnen: die Formen des Handelns sind mannigfach, die Bestimmung aber ist jeweils nur eine, da sie (die Einzelfälle) als Allgemeines umfaßt« (Übers. Dirlmeier). Aristoteles motiviert damit an dieser Stelle zugleich den Übergang zu einer - nach NE III, 1-4 - erneuten Untersuchung der Freiwilligkeit. Freiwilligkeit bzw. Grade der Unfreiwilligkeit gehören notorisch zu den vielgestaltigen Merkmalen von einzelnen Handlungen, die eine angemessene Anwendung erschweren können.

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möglich ist, eine Norm ausfindig zu machen, die ihrem geforderten Allgemeinheitsgrad entsprechend auch allgemein anerkannt wäre.6 Fraglich ist auch, ob nicht gerade die Geschichte als eine Abfolge unterschiedener Epochen zeigt, daß es eben keine hinreichend gleichartigen Handlungssituationen über Epochengrenzen oder Phasen tiefgreifenden historischen Wandels hinweg gibt. Auch diese Schwierigkeiten werden bereits seit Herodot und der Sophistik erörtert. Sie werden entsprechend nicht nur bei Piaton,7 sondern traditionsbildend auch bei Aristoteles ausfuhrlich analysiert: Unmittelbar im Zusammenhang mit der Erörterung des Applikationsproblems im V. Buch der Nikomachischen Ethik, Kap. 10, wird auch das Problem des historischen Wandels des Naturrechts angesprochen. Dabei setzt Aristoteles freilich den Begriff einer in gewisser Weise wandelbaren Natur an, so daß sich ihm dieses Problem nicht in voller Schärfe stellt.8 Auch diese Schwierigkeit des historischen Wandels kann man, wenn man den aristotelischen Naturbegriff aufgibt, leicht zu einer Aporie zuspitzen, etwa wenn die Natur, und mit ihr das Naturrecht, als ewige Schöpfung Gottes aufgefaßt werden. Denn einerseits erscheint der göttliche Wille oder die vernunftgemäße Natur als unwandelbar, andererseits gibt es Beispiele göttlichen Handelns in der Welt, die sich, wie etwa der Befehl an Abraham, Isaak zu töten, wie ein kurzzeitiges Aufheben des Naturrechts ausnehmen. Entsprechend begleitet das Problem des Wandels das Naturrechtsdenken von seinen Anfängen an. Angesichts dieser Probleme gewinnt die Theorie der Rechtsinterpretation als Vermittlung zwischen Norm und Situation an Bedeutung. Die Lehre Vgl. beispielsweise den pseudo-platonischen Minos, SISbff., auf den sich Suärez häufiger beruft; oder aber die ausführlichen Rechtsvergleiche bei Herodot. Doch nicht nur der Vergleich zwischen verschiedenen »zivilisierten« Gesellschaften war geläufig: vgl. z.B. den Hinweis auf die (verlorene) Komödie Die Wilden von Pherekrates in Piatons Prot. 327d, in der es um Menschen in der Vorzeit gegangen sein muß, die keine Gesetze und Gerichtshofe kannten - also eine Art Verspottung eines Mythos vom »edlen Wilden«. Vgl. z.B. die Position des Sophisten Thrasymachos in Rep. I. Wenn Recht das Recht des Starkeren ist, dann wandelt sich das Recht mit den Machtverhältnissen. Vgl. auch die Position des Kallikles und dessen Gegenüberstellung von Gesetz und Natur und die problematische Begriffsbildung des Gesetzes von Natur in Gorg. 482e ff. - zum grundlegenden Problem von Natur und Gesetz vor Piaton immer noch die Studie von F. Heinimann: Nomos und Physis. Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Jahrhunderts, Basel 1945 (ND Darmstadt 1987). Vgl. Aristoteles: NE V, 10, 1134b 24ff: »Nun meinen manche, alles Recht sei von dieser Art, weil Naturdinge unveränderlich seien und Uberall dieselbe Kraft hätten - z.B. brennt das Feuer bei uns genau so wie bei den Persern - während sich die Anschauungen Uber das Recht vor ihren Augen ändern. Indes so ohne weiteres ist das nicht richtig, sondern nur mit Einschränkung. Bei den Göttern allerdings mag das (die Veränderlichkeit) wohl ausgeschlossen sein; bei uns aber gibt es wohl auch manches, was von Natur gilt, aber alles ist der Veränderlichkeit unterworfen - und dennoch besteht die Scheidung >von Natur< - »nicht von NaturNeuen Welt< und der dort verübten Verbrechen, der Reformation und konfessioneller Streitigkeiten, des Humanismus, der sich entwickelnden Wissenschaften und vielem mehr - in einer Situation regen historischen Wandels und stand vor Herausforderungen, die man in ihrem Ausmaß kaum überschätzen kann.9 Zugleich versuchte es, diese neuen Herausforderungen mit vergleichsweise alten Mitteln, nämlich einer modifizierenden Aneignung der Tradition, insbesondere eben des Naturrechtsdenkens, zu bewältigen. Es ist also kein Wunder, daß die ersten großen Systematisierungen der Theorien juristischen Interpretierens in dieser Situation entwickelt wurden.10 Die Interpretationstheorie, die sich in Francisco Suärez' De legibus findet,"

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Vgl. zu den mit der Entdeckung und grausamen Eroberung Amerikas verbundenen Rechtsproblemen exemplarisch die Arbeiten von M. Delgado oder F. Mires: Im Namen des Kreuzes. Der Genozid an den Indianern wahrend der spanischen Eroberungen: theologische und politische Dimensionen, Fribourg/Brig 1989, aber auch N. Brieskom: Las Casas und das römische Recht, in: Bartolom6 de Las Casas: Werkauswahl. Bd. 3,1, hrg. v. M. Delgado, Paderborn u.a. 1996, S. 13-32; zum Einfluß des humanistischen Denkens C. G. Norefla: Studies in the Spanish Renaissance Thought, Den Haag 1975, sowie B. Hamilton: Political Thought in Sixteenth-Century Spain, Oxford 1963. In R. Schnepf: Derecho internacional y soberania en Francisco de Vitoria (Sobre la forma de la argumentaciön en las Relectiones Theologicae), in: Patristica et Mediaevalia XIII (1992), S. 85-106, habe ich am Beispiel Francisco Vitorias zu skizzieren versucht, wie mit Hilfe einer durch Interpretation modifizierenden Aneignung tradierter Autoritäten versucht wurde, methodisch kontrolliert auf die neuen Herausforderungen angemessene Antworten zu formulieren. Vgl. zum Aufkommen juristischer Interpretationstheorien im 15. Jahrhundert unten, Abschnitt II C. Wenn ich eben das gefährliche Wort >ersten< verwendet habe, so deshalb, weil erst in der spanischen Scholastik das Problem nicht nur von Juristen und nur im fachjuristischen Kontext, sondern ausführlich in einem systematischen Ganzen aus Theologie, Metaphysik und Rechtsphilosophie bzw. -theologie bearbeitet wurde. Wie weit ins Detail diese Zusammenhange bei Suärez gehen, machen schon die zahlreichen gemeinsamen Züge deutlich, die De legibus und die Disputationes metaphysicae von Suärez teilen. Das betrifft nicht nur das methodische Vorgehen, sondern vor allem die für die Interpretationslehre natürlich entscheidenden Überlegungen zur Sprachtheorie - vgl. dazu unten Anm. 70 und Anm. 85. Es ist verwunderlich, welche Scheu bei den Historikern der Hermeneutik besteht, diese Theorien in den Blick zu nehmen (vgl. etwa R. Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit, Würzburg 1997; Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung, hrg. v. A. Buhler, Frankfurt am Main 1994; O. Scholz: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 1999). Vielleicht liegt das daran, daß nach wie vor das Bild einer Genese der Hermeneutik aus dem Geist protestantischer Bibelkritik dominant ist. Allerdings versuche auch ich im folgenden nicht, die Lehre von der Rechtsinterpretation mit der Bibelhermeneutik von Suärez zu vergleichen. Das 6. Buch von De legibus, das die Lehre von der Interpretation menschlicher Gesetze entwickelt, ist leider noch nicht im Rahmen der kritischen Ausgabe erschienen. Über weite Strecken wird sich die nachfolgende Untersuchung deshalb auf die älteren Editionen stützen müssen. Ein Vergleich der neuedierten Texte mit älteren Ausgaben scheint mir je-

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lotet exemplarisch die Möglichkeiten und Voraussetzungen dafür aus, die skizzierten Schwierigkeiten durch Interpretation - wo nicht aufzulösen, so doch - zu mindern. Methodisch läßt sich diese Problematik auf die Frage zuspitzen, ob und in welchem Sinn selbst das Naturrecht einem legitimen Wandel durch Interpretation unterliegen kann. Die Vorüberlegungen zur Eigenart der Naturrechtslehre der spanischen Scholastik lassen vermuten, daß auch die Interpretationslehre von Suärez aus einer modifizierenden Aneignung überlieferter Theorien entwickelt und begründet wurde. Bevor seine Überlegungen zum Wandel des Rechts durch Interpretation analysiert werden (III), ist es deshalb notwendig, einigen Quellen seines Ansatzes nachzugehen (II). Dabei werden die beiden tradierten Beispiele - das der Pflicht, >deposita< zurückzugeben, und das des durch den Befehl Gottes an Abraham suspendierten Tötungsverbots - immer wieder zur Sprache kommen. Erst dann wird die modifizierende Methode von Suärez durchsichtig, die selbst eine Praxis des Interpretierens dokumentiert. Modifizierende Interpretation der Autoritäten ermöglicht es Suärez nämlich, seine im Vergleich zu den Autoritäten neuartige Theorie der Interpretation einzuführen und zu legitimieren. Im Kontrast mit seinen Quellen werden auch die Voraussetzungen seines Lösungsvorschlags deutlicher, so daß sich die eingangs angedeuteten systematischen Fragen abschließend im Umriß beantworten lassen (IV).

II. Vorgaben der Tradition: Die Wandelbarkeit des Rechts und die Rolle der Interpretation bei Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und in den Rechtswissenschaften Ein Blick in die Tradition, auf die sich Suärez als vorgegebene bezieht, vor allem auf Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und die Rechtswissenschaften - ergibt auf den ersten, flüchtigen Blick zweierlei: Erstens gilt entgegen der aristotelischen Auffassung - das Naturrecht bzw. das natürliche Gesetz als unwandelbar. Wandel findet sich zunächst nur im menschlichen positiven Recht.12 Zweitens hat die Interpretation des Rechts, wo sie überhaupt statthaft ist, keine Veränderung des Interpretierten zur Folge,

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doch zu zeigen, daß bei allen Modifikationen im Detail eine grundlegend andere Theorie von einer kritischen Edition nicht erwartet werden darf. Vgl. Decretum Gratiani p. 1, d. 5: »Naturale ius ab exordio rationalis creaturae. Nec variatur tempore, sed immutabile permanet«; Thomas zitiert diese Wendung in der Summa theologica I—II (quaestio 94, a. 5, contra). Vgl. dazu als Vorlage Inst. I, 2, 11: »Sed naturalia quidem iura, quae apud omnes gentes peraeque servantur, divina quadam Providentia constitute semper firma atque immutabilia permanent: ea vero, quae ipsa sibi quaeque civitas constituit, saepe mutari solent vel tacito consensu populi vet alia postea lege lata.« Die Lehre von der Unwandelbarkeit des Naturrechts bzw. Naturgesetzes wurde auch auf Aristoteles zurückprojiziert - vgl. dazu etwa den Kommentar des Thomas von Aquin zu Aristoteles: NE V, 10 - dazu auch unten, Anm. 21. Weiteres Material findet sich bei S. Gagndr: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960, S. 181ff.

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sondern läßt es als solches stehen. Beispiele für Veränderungen von Gesetzen wären hingegen ihre Abschaffung, Einschränkung, Ausweitung, Ergänzung oder die explizite Zulassung von Ausnahmen. Eine Theorie des Rechtswandels durch Interpretation findet sich vorderhand nicht. Doch lohnt es sich, die verschiedenen Aussagen über die Wandelbarkeit des Rechts und die Funktion der Interpretation in den genannten Traditionssträngen etwas genauer anzusehen. Ein verfeinertes Bild läßt nämlich die systematischen Ansatzpunkte genauer erkennen, an die Suärez anknüpfen konnte.

A. Thomas von Aquin über die Wandelbarkeit von Recht und über die Interpretation von Gesetzen In der Summa theologica widmet Thomas der Frage nach der Veränderbarkeit im Rahmen seiner Quaestio De lege naturali einen eigenen Artikel.13 Nach ersten Bestimmungen der >lex naturalis< wendet er sich den problematischen Fragen zu, ob das natürliche Gesetz bei allen dasselbe sei (a. 4), ob es sich ändern (a. 5) und schließlich, ob es abgeschafft werden könne (a. 6). 14 Die Argumentation in der besonderen Frage nach der Veränderbarkeit des natürlichen Gesetzes ist von den Argumentationen in den anderen Artikeln abhängig. Thomas diskutiert dabei die Frage nach der Veränderbarkeit des Naturrechts unter anderem am Beispiel des Befehls Gottes an Abraham, Isaak zu töten.15 Gott scheint in diesem Fall eine Ausnahme vom Tötungsverbot zu machen und so das natürliche Gesetz zu ändern.16 In seiner Antwort skizziert Thomas knapp, inwiefern das natürliche Gesetz unver-

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Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 94 Vor allem die Argumentation der Artikel 4 und 5 ist ineinander gearbeitet, so daß der eingangs exponierte Zusammenhang zwischen der Frage nach der universellen Gültigkeit und der Wandelbarkeit des Naturrechts auch bei Thomas zugrundeliegt. Ich beziehe mich im folgenden auf beide Artikel. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 94, a. 5 - Thomas führt noch weitere Argumente fllr die Behauptung an, daß das natürliche Gesetz sich ändern könne, nämlich in der Bibel dokumentierte Ergänzungen des Gesetzes (etwa Ec. 17, 11), von Gott angeordnete Verstöße gegen das natürliche Gesetz (etwa Ex. 12, 35 oder Hos. 1, 2), aber auch den Übergang vom ursprünglichen Gemeinbesitz zum Eigentumsrecht nach Isidor von Sevilla. - Ich konzentriere mich auf das Argument des Opfers Isaaks, weil es in der Folge noch häufiger aufgegriffen und verschieden aufgelöst wurde - vgl. dazu K. Hedwig: Das Isaak-Opfer. Über den Status des Naturgesetzes bei Thomas von Aquin, Duns Scotus und Ockham, in: Mensch und Natur im Mittelalter (Miscellanea Mediaevalis. 21,2), hrg. v. A. Zimmermann, Berlin 1992, S. 645-661, S. 747ff. Eine Ausnahme zuzulassen bedeutet entweder, das Gesetz für diesen Fall aufzuheben oder aber es an eine Bedingung zu knüpfen, die seinen vorherigen Applikationsbereich einschränkt. Eine Ausnahme vom Tötungsverbot wäre also eine Änderung des natürlichen Gesetzes. Laut Dist. 1, CiC 1, des Decretum Gratiani umfaßt das Naturrecht auch den gesamten Dekalog - vgl. L. Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus, in: Sozialer Wandel im Mittelalter, hrg. v. J. Miethke u. K. Schreiner, Sigmaringen 1994, S. 197-213, S. 200.

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änderlich ist und inwiefern nicht:17 Das natürliche Gesetz insgesamt ist die Art und Weise, in der die menschliche Vernunft am ewigen und unwandelbaren Gesetz Gottes teilhat (der >lex aeternadeposita< zurückzugeben: Die allgemeine Vorschrift sei eine unmittelbare Schlußfolgerung aus den ersten Vernunftprinzipien. Ein hinterlegtes Schwert jemandem zurückzugeben, der das Vaterland bekämpfen will, ist Unrecht.20 Weil in besonderen Umständen die Rückgabe zu verwerflichen Folgen führen kann, sei es manchmal falsch, das >depositum< auszuhändigen. Je mehr besondere Umstände und Bedingungen man bedenke, auf desto mannigfaltigere Weise kann die allgemeine Vorschrift unzulänglich sein.21 Deshalb sei dieses natürliche Gesetz in Einzelfällen wandelbar.22 Grund für die regionale Vielfalt oder den historischen 17

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Vgl. auch Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 94, a. 4: »Utrum lex naturae sit una apud omnes«. Vgl. hierzu ebd., q. 91, a. 2: »Unde et in ipsa participator ratio aeterna, per quam habet naturalem inclinationem ad debitum actum et finem. Et talis participatio legis aetemae in rationali creatura lex naturalis dicitur.«; vgl. zur Auslegung M. Rhonheimer: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994, S. 530ff.; zur grundlegenden Struktur auch R. Specht: Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehren, in: Naturrecht in der Kritik, hrg. v. F. Böckle u. E. W. Böckenförde, Mainz 1973, S. 36-65. Ebd., q. 94, a. 5.: »Potest tarnen immutari in aliquo particular!, et in paucioribus, propter aliquas speciales causas impedientes observantiam talium praeceptorum.« Vgl. L. Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus (wie Anm. 16), S. 206; F. Cuevas-Cacino: La doctrina de Suärez sobre el derecho natural, Madrid 1952, S. 22ff., sowie S. Gagn6r: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (wie Anm. 12), S. 187ff. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 94, a. 4., sowie Cicero: De officiis, III, 95: »Si gladium quis apud te sana mente deposuerit, repetat insaniens, reddere peccatum sit, officium non reddere. Quid? si is, qui apud te pecuniam deposuerit, bellum inferat patriae, reddasne depositum?« In der ersten Frage klingt Piaton: Rep. I, 331 c - d an; Thomas greift aber auf den zweiten Satz bei Cicero zurück - daß der Cicero-Bezug bei Thomas alles andere als nebensächlich ist, zeigt auch Anm. 22 (anders K. Hedwig: Das IsaakOpfer (wie Anm. 15), S. 649). Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 94, art. 4: »quanto enim plures conditiones particulares apponuntur, tanto pluribus modis poterit deficere, ut non sit rectum vel in reddendo vel in non reddendo«. Ebd.: »Sic igitur patet quod, quantum ad communia principia rationis sive speculativae sive practicae, est eadem veritas seu rectitudo apud omnes, et aequaliter nota. Quantum vero ad proprias conclusiones rationis speculativae, est eadem veritas apud omnes, non

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Wandel des natürlichen Gesetzes zweiter Ebene ist bei Thomas jedoch allemal ein heilsgeschichtlich zu interpretierendes menschliches Defizit. 23 Das Ausgangsbeispiel, Gottes Befehl, Isaak zu töten, ist allerdings kein Fall einer solchen Ausnahme: Gott komme grundsätzlich aufgrund der Erbsünde der Menschen das Recht zu, jeden - ob schuldig oder nicht - zu töten, und entsprechend könne er den Tod verhängen, ohne das Tötungsverbot selbst aufzuheben.24 Abraham verstoße dabei - gleichsam als von Gott Beauftrag-

tamen aequaliter omnibus nota: [...] Sed quantum ad proprias conclusiones ration is practicae, nec est eadem Veritas seu rectitudo apud omnes; nec etiam apud quos est eadem, est aequaliter nota.« Daraus folgert Thomas in q. 94, a. 5: »Quantum autem ad secunda praecepta, quae diximus (a. 4) esse quasi quasdam proprias conclusiones propinquas primis principiis, sie lex naturalis non immutatur quin ut in pluribus rectum sit semper quod lex naturalis habet. Potest tarnen immutari in aliquo particulari, et in paucioribus, propter aliquas speciales causas impedientes observantiam talium praeeeptorum (a. 4), ut supra dictum est.« (Hervorh. R S.) Diese Position bestimmt auch die eigentümliche Art und Weise, in der Thomas die spärlichen Passagen von Aristoteles: NE V, 10, Uber das Naturrecht, insbesondere seine Wandelbarkeit, interpretiert - vgl. In Ethicorum 1. V, L. XII, Nr. 1028f. Hier finden sich sowohl die beiden Ebenen der >lex naturalis< unterschieden als auch auf das Problem der Wandelbarkeit angewendet, so daß der Kommentar fast als Vorlage der Argumentation der Summa theologica dienen könnte. »Ea enim quae sunt naturalia apud nos sunt quidem eodem modo ut in pluribus, sed ut in paucioribus deficiunt; sicut naturale est quod pars dextra sit vigorosior quam sinistra, et hoc in pluribus habet veritatem; et tarnen contingit ut in paucioribus aliquos fieri ambidextros, quia sinistram manum habent ita valentem ut dextram: ita etiam ea quae sunt naturaliter iusta, ut puta depositum esse reddendum, ut in pluribus est observandum, sed ut in paucioribus mutatur.« Thomas interpretiert also das Problem der Wandelbarkeit lediglich als Problem der Ausnahme. Der bei Aristoteles mit demselben Beispiel exponierte Gedanke, daß die Natur sich durch Übung verwandeln könnte, wird bei Thomas verdeckt. Bei Aristoteles kann jeder dazu gelangen, zwei gleichstarke Hände zu haben, so daß die Ausnahme zur Regel wird. Bereits die Übersetzung W. v. Moerbeckes läßt das hierbei entscheidende >πάντας< des griechischen Textes unübersetzt.

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Die Unterscheidung im Naturrechtsbegriff zwischen Prinzipien und Schlüssen wird übrigens im Kommentar zur NE, Nr. 1023, explizit auf Ciceros Rhetorik zurückgeführt. Der in Thomas' Aristotelesinterpretation zugrundeliegende Naturbegriff ist entsprechend nicht der Aristotelische, der sich aus dem Kontrast zum Künstlichen bestimmt, sondern eher der stoischen Tradition entnommen. So in Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 94, a. 4: »et hoc propter hoc quod aliqui habent depravatam rationem ex passione, seu ex mala consuetudine, seu ex mala habitudine naturae; sicut apud Germanos olim latrocinium non reputabatur iniquum, cum tarnen sit expresse contra legem naturae, ut refert Iulius Caesar, in libro De hello Gallico« (L. 6, c. 23). Vgl. zur heilsgeschichtlichen Konzeption des Wandels bei Thomas L. Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus (wie Anm. 16), S. 201f. Wenn Honnefelder, S. 207, jedoch meint, Thomas akzeptiere im Naturrecht selbst den Wandel durch determinierende Ergänzungen, dann überträgt er ein Modell, das für Thomas lediglich das Verhältnis zwischen >lex naturalis< und >lex humana< beschreiben sollte, auf das Verhältnis der beiden Ebenen des Naturrechts. Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 94, a. 5, ad 2.

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ter - nicht gegen das natürliche Gesetz, denn das Tötungsverbot untersage nicht das Töten aufgrund eines legitimierten Befehls.25 Wenn man nur solche Gesetze interpretieren darf und muß, die Dunkelheiten enthalten,26 dann kann Interpretation für das Naturrecht, das aus Prinzipien (die >per se nota< sein sollen) und unmittelbaren Schlußfolgerungen besteht, keine Rolle spielen. Thomas spricht konsequenter Weise nur hinsichtlich des menschlichen positiven Gesetzes davon, daß Gesetze interpretiert werden müssen. Rechtsinterpretation wird dabei vor allem angesichts unterschiedlicher Rechtsauffassungen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher oder politischer Konflikte relevant. Staatliche Gesetze verfolgten einen Zweck, nämlich das allgemeine Wohl der Bürger, und Gesetze, die diesen Zweck verfehlten, hätten keine verpflichtende Kraft. In besonderen Einzelfällen, etwa Notlagen, könne daher ein Gesetz, das diesen Zweck verfehlt, nicht verpflichten, auch wenn es im allgemeinen gilt.27 Die Kompetenz, diese Ausnahme durch Interpretation festzustellen, komme dabei in aller Regel nicht jedem Bürger zu, sondern ausschließlich dem Herrscher als Gesetzgeber. 8 Die Interpretation habe dabei nicht eine bloße Auslegung des Wortlautes oder des vermeintlichen oder tatsächlichen Willens des Gesetzgebers zum Ziel, sondern die objektive Funktion des Gesetzes für die Gemeinschaft. Insofern Rechtsinterpretation immer der Frage nach der Angemessenheit eines Gesetzes in einem Spezialfall gelte, diene sie Billigkeitserwägungen, der >aequitasAequitas< ist so dem Gesetzesrecht als eine allgemeine Regel vorgeordnet.31 Billigkeitserwägungen haben bei

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Ebd., q. 100, a. 8, ad 3, wo diese Frage nochmals ausfuhrlich erörtert wird. Unklar scheint mir die Deutung H. Möhles (H. Möhle: Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus. Eine philosophische Grundlegung (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. N F 48), Münster 1995, S. 419), der davon redet, Thomas nehme eine »Wandlung in der Natur der Sache selbst« an. Vgl. zum Problem auch K. Hedwig: Das Isaak-Opfer (wie Anm. 15), 648fif. und L. Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus (wie Anm. 16), S. 205ff. Vgl. zu diesem Rechtsprinzip und seiner langsamen Aushöhlung unten, Abschnitt II, C. Thomas von Aquin: Summa theologica I-II, q. 96, a. 6: »Contingit autem multoties quod aliquid observari communi saluti est utile ut in pluribus, quod tarnen in aliquibus casibus est maxime nocivum.« Ebd.: »non pertinet ad quemlibet ut interpretetur quid sit utile civitati et quid inutile: sed hoc solum pertinet ad principes, qui propter huiusmodi casus habent auctoritatem in legibus dispensandi«. Für Notlagen ist diese Kompentenz freilich nicht so exklusiv zugesprochen. Man kann diese Restriktion der Interpretationskompetenz bei gesellschaftlichen Konflikten durchaus vor dem Hintergrund seiner restriktiven Lehre vom Widerstand lesen. Vgl. dazu Μ Bastit: Naissance de la loi moderne. La pensie de la loi de saint Thomas & Suarez, Paris 1990, S. 13Iff. Vgl. zu den beiden Tendenzen in der Antike und im römischen Recht O. Robleda: La >Aequitas< en Aristoteles, Cicerön, Santo Tomäs y Suarez. - Estudio comparativo, in: Miscelänea Comillas 15 (1951), S. 2 3 7 - 279, S. 242ff. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theologica II-II, q. 120, a. 2: »Unde patet quod epikeia est pars subiectiva iustitiae. Et de ea iustitia per prius dicitur quam de legali: nam legalis

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Thomas genauer die Funktion, das natürliche Recht in der Anwendung positiven Rechts zur Geltung zu bringen.32 Seine Überlegungen zur Interpretation von Gesetzen und zur Funktion von Billigkeitserwägungen beziehen sich daher nicht auf die Frage der Anwendung der >lex naturae< selbst. Das natürliche Gesetz bedarf für Thomas keiner Interpretation, sondern bestimmt vielmehr die Hinsicht bei der Auslegung speziellerer, menschlicher Gesetze. Natürliche Gesetze haben in diesem Sinn Prinzipiencharakter. Auch wenn Thomas das Problem des Wandels der natürlichen Gesetze und das Interpretationsproblem getrennt hält, ist damit eine systematische Verknüpfung beider Problemkreise angelegt. Es ist demgegenüber Cajetan, der in seinem Thomas-Kommentar Billigkeitserwägungen auf die Probleme der >lex naturalis< überträgt: Das Beispiel von der problematischen Rückgabe eines >depositum< dient ihm dazu, die Überlegungen, die dazu führen, einem Wahnsinnigen keine Waffe auszuhändigen, als Wirkung der >aequitas< zu interpretieren." Mit Cajetan ist die Frage nach der Rolle von Interpretation und Billigkeitserwägungen im Bereich der natürlichen Gesetze der zweiten Ebene explizit gestellt. Ein Blick auf die ausgefeilte Position von Johannes Duns Scotus macht deutlich, daß er damit als Thomist bereits auf konkurrierende Ansätze reagiert.

B. Johannes Duns Scotus und die Interpretation des Naturgesetzes im Naturgesetz Johannes Duns Scotus nimmt das von Thomas aufgeworfene Problem, ob der Befehl an Abraham, Isaak zu töten, nicht ein rechtsverändernder Dispens von einem natürlichen Gesetz sei, zum Anlaß, eine abweichende Konzeption der >lex naturalis< in nicht mehr zwei, sondern in drei Ebenen zu begründen.34 Daß ein natürliches Gesetz der ersten beiden Ebenen, also der

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iustitia dirigitur secundum epikeiam. Unde epikeia est quasi superior regula humanorum actuum.« Vgl. ebd., q. 60, a. 5, ad 2: »ita etiam leges quae sunt recte positae in aliquibus casibus deficunt, in quibus si servarentur, esset contra ius naturale. Et ideo in talibus non est secundum litteram legis iudicandum, sed recurrendum ad aequitatem, quam intendit legislator.« Vgl. O. Robleda: La >Aequitas< en Aristoteles, Cicerön, Santo Tomas y Suarez (wie Anm. 30), S. 267ff, der meint, Thomas würde hier im Einklang mit Aristoteles stehen. Vgl. den Kommentar von Cajetan zu Thomas von Aquin: Summa theologica II-II, q. 120, a 1, Nr. II: »Quaedam vero sunt quae ut in pluribus rectitudinem continent, in aliquo tarnen casu a rectitudine declinarent si servarentur. Ut, deposita reddenda esse rectum est ut in pluribus: quia tarnen quandoque, si redderetur depositum, esset iniquum, opportuit aliquod aliud directivum inveniri horum operum in quibus lex naturalis depositorum deficit. Et hoc directivum vocatur virtus aequitatis.« Cajetan muß also die >aequitas< als eine der >lex natural is < zuweilen Ubergeordnete Tugend bzw. Norm ansetzen. Das ist insofern mit Thomas verträglich, als auch bei Cajetan regelungsbedürftig zunächst nur die Anwendung der zweiten Ebene der >lex naturalis< ist. Vgl. zum folgenden Duns Scotus, Ord. III, q. 37. Der Text wurde von Α. B. Wolter übersetzt und knapp kommentiert (ich zitiere nach dieser Ausgabe). Eine ausführlichere Inter-

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ersten Prinzipien und der unmittelbaren Schlußfolgerungen, keinen Dispens zulasse, begründet Duns Scotus damit, daß die ersten Prinzipien >per se nota< seien und sich die unmittelbaren Schlußfolgerungen logisch zwingend ergäben. Sie seien mit logischer Notwendigkeit wahr, weil ihre Negation einen Selbstwiderspruch Gottes impliziere. Gott könne sie auch >potentia absoluta< nicht falsch machen. Die zweite Ebene des Naturrechts bei Thomas, die der nahen Schlußfolgerungen, tritt also bei Scotus verwandelt auf. Für Thomas ist die Gewinnung der zweiten Ebene ein Akt originär praktischen Reflektierens, für Scotus ein Akt logischen (theoretischen) Schließens. Das ermöglicht eine Zuspitzung der Dispensproblematik im Beispiel: Ein Dispens muß entweder das Gesetz fur alle ähnlichen Fälle aufheben oder aber die Ausnahme erklären, indem in ihm implizit gedachte spezifische Bedingungen expliziert werden. Wenn das natürliche Gesetz, in seiner maximalen Konkretion gedacht, aus ersten Prinzipien logisch zwingend folgt, dann ist willkürlicher Dispens von Fall zu Fall durch Gott nicht möglich, würde er sich doch dadurch selbst widersprechen. Weil für Scotus im Fall des Isaak-Opfers tatsächlich ein solcher Dispens - und damit ein Wandel!35 - vorliegt und weil der gesamte Dekalog als natürliches Gesetz gilt, nimmt er eine (neben den Prinzipien und den Schlußfolgerungen) dritte Ebene des natürlichen Gesetzes an. Natürliche Gesetze in diesem erweiterten, weniger strengen Sinn sind solche Sätze, die mit den Prinzipien und den notwendigen Folgesätzen zusammenstimmen (consonare), ohne logisch zu folgen.36 Das Tötungsverbot - und damit die ganze zweite Tafel des Dekalogs - gelten lediglich als >leges naturales< in diesem schwächeren Sinn. Es ist nun diese dritte Ebene, für die das Verhältais zwischen natürlichem Gesetz und Interpretation neu bestimmt wird. Das Zusammenstimmen oder die Konsonanz der Naturgesetze dritter Ebene kommt nur unter Berücksichtigung der besonderen Umstände zustande, unter denen diese Gesetze gelten sollen.37 Sie wird entsprechend als eine Erklärung und Ausle-

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pretation findet sich bei H. Möhle: Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus (wie Anm. 25), S. 348ff., in Zuspitzung auf das Isaak-Opfer S. 418ff. Vgl. zum folgenden auch L. Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus (wie Anm. 16) und K. Hedwig: Das Isaak-Opfer (wie Anm. 15), S. 65Iff. Scotus geht dabei davon aus, daß der Begriff des Dispenses letztlich wie folgt analysierbar ist: »Est enim duplex dispensatio, scilicet iuris revocatio et iuris declaratio« (Ord. III, d. 37, qu. unica, Wolter, S. 272; vgl. K. Hedwig: Das Isaak-Opfer (wie Anm. 15), S. 651). Vgl. K. Hedwig: Das Isaak-Opfer (wie Anm. 15), S. 651ff. Duns Scotus, Ord. III, q. 37, nr. 8 (Wolter, S. 278): »Alio modo dicuntur aliqua esse de lege naturae, quia multum consona ίIii legi, licet non necessario consequantur ex primis principiis practicis quae nota sunt ex terminis et omni intellectu necessario nota. Et hoc modo certum est omnia praecepta etiam secundae tabulae esse de lege naturae, quia eorum rectitudo valde consonat primis principiis practicis necessario notis.« Das macht das Beispiel deutlich, mit dem Scotus seine Unterscheidung illustriert. Gesetzt den Fall, es sei ein positives Gesetz in einer Gemeinschaft, friedlich zu leben, dann folgt daraus nicht logisch, daß jeder seinen eigenen Besitz haben muß. Gesetzt den Fall, daß jeder sich mehr um sein persönliches Wohlergehen kümmert und weniger um das Gemeinwohl, dann ist die Vorschrift, daß jeder Privateigentum haben (können) soll, konsonant

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gung der natürlichen Gesetze erster und zweiter Stufe im Blick auf diese Umstände verstanden.38 Die natürlichen Gesetze dritter Stufe stimmen nämlich nicht nur mit den höheren Regeln, sondern auch untereinander zusammen.39 Diese Ordnung von Regeln ist nicht in dem Sinn notwendig, daß Gott nicht auch ohne Selbstwiderspruch eine andere hätte einsetzen können.40 Weil sie nicht logisch aus dem natürlichen Gesetz der ersten und zweiten Ebene folgt, ist hier ein Raum von Möglichkeiten gegeben. Die Ordnung natürlicher Gesetze ist deswegen nur zu erkennen und zu verstehen, wenn der Wille Gottes offenbar ist. Weil ihre einzelnen Regeln nicht logisch notwendig sind, ist auch ein Dispens auf dieser Ebene in Einzelfällen und im Blick auf bestimmte Ziele oder Absichten des Gesetzgebers möglich. Die natürlichen Gesetze der dritten Ebene haben also nicht die Funktion, die Interpretation anderer speziellerer Gesetze als Prinzipien anzuleiten, ohne selbst der Interpretation zu bedürfen oder unterworfen werden zu müssen. Die dritte Ebene des natürlichen Gesetzes wird vielmehr wesentlich durch die Interpretation (declaratio, explicatio) der Prinzipien und anderer Regelungen im Blick auf besondere Umstände konstituiert. Insofern diese Umstände wandelbar sind, sind auch die durch Interpretation gewonnenen natürlichen Gesetze dritter Ebene veränderlich, ohne daß der Wandel allemal heilsgeschichtlich zu interpretieren wäre. Duns Scotus hat das nicht weiter ausgeführt. Sein Theorieansatz bietet an dieser Stelle jedoch weitere Entwicklungsmöglichkeiten. Deutlich ist nun aber, daß bereits Cajetan ansatzweise Überlegungen von Duns Scotus, die die dritte Ebene seines natürlichen Gesetzes betreffen, auf die natürlichen Gesetze zweiter Ebene bei Thomas zu übertragen versucht.

zum positiven Gesetz (vgl. Ord. III, q. 37, nr. 8). Für die Formulierung konsonanter Sätze ist also die Berücksichtigung faktischer U m s t ä n d e ausschlaggebend. 38

Vgl. D u n s Scotus erläutert auch das u.a. am Beispiel des positiven Rechts - Ord. III, q. 37, nr. 8 (Wolter, S. 280): »Et ita est forte in omnibus iuribus positivis, quod licet aliquod sit u n u m principium quod est f u n d a m e n t u m in condendo omnes illas leges sive iura, tarnen ex illo principio non simpliciter necessario sequuntur leges positivas, sed declarant illud principium sive explicant quantum ad particulas, quae explicationes valde consonant primo principio universali.« Die Interpretation von H. Möhle: Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus (wie Anm. 25), S. 357, verfehlt m.E. eine Pointe, wenn sie die fundamentale Rolle des Blicks auf gegebene Umstände bei dieser Konsonanz vernachläs-

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Sigt

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'

Vgl. H. Möhle: Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus (wie Anm. 25), S. 358: »Wie auch bereits das von Scotus gewählte Beispiel des Eigentumsrechts deutlich macht, ist Konsonanz nicht ausschließlich als eine Relation gegenüber einer höchsten und evidenten Regel zu verstehen, also in bezug auf ein gleichsam vertikal konstruiertes Verhältnis auszulegen, sondern betrifft auch die sinnhafte Übereinstimmung und spezifizierende Interpretation mehrerer nicht letztbegründeter Normen, wie z.B. das Friedensgebot und das Eigentumsrecht.« Vgl. dazu L. Honnefelder: Naturrecht und Normwandel bei T h o m a s von Aquin und Johannes Duns Scotus (wie Anm. 16), S. 210f.; H. Möhle: Ethik als scientia practica nach Johannes Duns Scotus (wie Anm. 25), S. 358ff.

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Die Veränderbarkeit von Gesetzen

C. Die wachsende Bedeutung der Interpretation und der theorie bei der Rezeption des römischen Rechts

Interpretations-

Derartige Verschiebungen des Verhältnisses zwischen natürlichem Gesetz bzw. Naturrecht und der Interpretationsproblematik finden parallel zu und in Wechselwirkung mit ähnlichen Entwicklungen im Bereich des römischen und des kanonischen Rechts statt: Bereits das klassische römische Recht kennt einerseits ein Interpretationsverbot,41 andererseits aber die Notwendigkeit zu interpretieren. Das Recht soll zunächst vor der Verkehrung durch Interpretationen geschützt werden, Rechtssetzung und -bildung kommen einzig dem Gesetzgeber zu. Bereits im Corpus iuris selbst werden aber im Zusammenhang mit der Auslegung von Verträgen oder bzgl. der Anwendung von Gesetzen einzelne Interpretationsregeln vorgegeben. 42 Mit der Wiederentdeckung des Corpus iuris im 11. Jahrhundert und der Entstehung des kanonischen Rechts stellte sich zudem das Problem, ein zu anderer Zeit auf andere Verhältnisse zugeschnittenes Recht für die eigene Gegenwart durch Glossierung, d.h. Interpretation, tauglich zu machen. Die Geschichte der Wiederbelebung des römischen Rechts bietet ein vorzügliches Beispiel für die eingangs aufgeworfene Frage, wie sich Veränderbarkeit und Unwandelbarkeit von Recht angesichts tiefer Epochenschnitte zueinander verhalten können. Spätestens seit der Glossierung, sicher aber seit den Kommentatoren des 15. und 16. Jahrhunderts werden die Methode und die Legitimität der Rechtsinterpretation selbst zum Gegenstand ausgedehnter Erörterungen. Ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist eine Fülle von Abhandlungen De interpretatione legis nachzuweisen.43 Als Grund für die Interpretationstätigkeit trotz des Interpretationsverbots werden einerseits der oft dunkle 41

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Vgl. zum folgenden V. Piano Mortari, V.: II problema dell'interpretatio iuris nei commentator! (wie Anm. 3); I. Mac Lean: Interpretation and Meaning in the Renaissance. The Case of Law, Cambridge 1992, S. 50, und R.T. Simonds: Rational Individualism. The Perennial Philosophy of Legal Interpretation, Amsterdam, Atlanta 1995; zum Interpretationsverbot vgl. De conceptione Digestorum, §12, wo eine Begründung geliefert wird: »cum per contrarias interpretantium sententias totum ius paene conturbatum est«. Vgl. De confirmatione Digestorum §21, sowie D 1, 3, 13: »Nam, ut ait Paulus, quotiens lege aliquid unum vel alterum introductum est, bona occasio est caetera, quae tendunt ea eandem utilitatem, vel interpretatione vel certa iurisdictione suppleri.«; sowie D 1, 3, 12: »Non possunt omnes articuli singillatim aut legibus aut senatus consultis comprehendi: sed cum in aliqua causa sententia eorum manifesta est, is qui iuridictione praeest ad similia procedere atque ita ius dicere debet.« Vgl. C 1. 17. 2. 18 als ein Beispiel für die Inkorporation von Interpretation in das geschriebene Recht selbst. Vgl. auch D 1, 3, 29: »Contra legem facit, qui id facit quod lex prohibet, in fraudem vero, qui salvis verbis legis sententiam eius circumvenit.« - vgl. Η. Honsell: Römisches Recht, 2. erg. u. Uberarb. Auflage, Berlin u.a. 1992, S. 1 Off., sowie zum Problem der Auslegung bei Rechtsgeschäften, S. 23ff. I. MacLean: Interpretation and Meaning in the Renaissance (wie Anm. 41), S. 84f., nennt u.a. die folgenden: Bartolomeus Caepolla: De interpretatione legis, ca. 1460; Constantinus Rogerius: Tractatus de iuris interpretatione, 1463; Stephanus de Frederici: De interpretatione legum, ca. 1495; Alciatus: De significatione verborum, 1530.

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Schriftsinn angegeben, andererseits die Allgemeinheit der Bestimmungen und die Besonderheit der Umstände einzelner Handlungen, aber auch die Veränderung der Umstände - oft im Rückgriff auf die Nikomachische Ethik von Aristoteles, Buch V, Kap. 10.44 Die eher zurückhaltende Gesetzgebungspraxis vergrößerte die Interpretationsaufgabe. Neuen Situationen wurde weniger durch eine Veränderung der Gesetze als durch Anfügung besonderer Bestimmungen oder durch Interpretationen des Tradierten begegnet.45 Die Glossatoren faßten die Aufgabe der Interpretation deshalb nicht mehr lediglich als Aufklärung dunkler Stellen, sondern als Korrektur, Ausweitung und Übertragung auf.46 Die klassischen Typen der Rechtsinterpretation, die >interpretatio declarativarestrictiva< und >extensivanotwendige< (im Sinn von >verbindlichewahrscheinliche< sei.48 Stärker als in den angeführten Texten von Thomas von Aquin und Johannes Duns Scotus wird bei den Juristen des 14. und 16. Jahrhunderts auch noch auf Voraussetzungen ganz anderer Art für Theorien der Rechtsinterpretation reflektiert, nämlich auf Fragen der Bedeutungstheorie. Daß sich das Gesetz selbst durch den Wandel der Interpretationen nicht verändere, läßt sich nur behaupten, wenn die Begriffe, in denen das Gesetz zu formulieren ist, eine klare Bedeutung vor jeder Interpretation haben. Die Interpretation formuliert dann lediglich Anwendungsbedingungen und Anwendungsregeln oder macht das >eigentlich< immer schon Gemeinte ausdrücklich. Diese These setzt eine Sprachtheorie voraus, die den mentalen Begriff der Sache und den zu interpretierenden Ausdruck trennt, also eine >eigentliche< Bedeutung des Begriffs vor jeder Interpretation von der Bedeutung der Ausdrücke unterscheidet, die nur unklar und allgemein die eigentlichen Begriffe bezeichnen. Wo in der Kommentierungsliteratur zum römischen 44

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Vgl. I. MacLean: Interpretation and Meaning in the Renaissance (wie Anm. 41), S. 57 und S. 93, vgl. zum Problem auch V. Piano Mortari: II problema dell'interpretatio iuris nei commentatori (wie Anm. 3), S. 69ff. Vgl. H. Krause: Cessante causa cessat lex, in: Zeitschrift fllr Rechtsgeschichte, Kan. Abt. LXXVII, 1960, S. 81-111, S. 91; V. Piano Mortari: II problema dell'interpretatio iuris nei commentatori (wie Anm. 3), S. 49ff., S. Gagnir: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (wie Anm. 12), S. 109. Gagn6r meint sogar: »Der Weg zur Gesetzgebung ging über einen Zusammenbruch des Naturrechts.« Vgl. Glo. Interpretationem, de ori. iuris f f , D. 1,2, 1: »Verbum interpretationis in proprio sensu denotat vocabuli appertam significationem hic tarnen largius ponitur pro correctione, arctatione et prorogatione.«, zit. nach V. Piano Mortari: II problema dell'interpretatio iuris nei commentatori (wie Anm. 3), S. 67. Vgl. V. Piano Mortari: II problema dell'interpretatio iuris nei commentatori (wie Anm. 3), S. 43, sowie I. MacLean: Interpretation and Meaning in the Renaissance (wie Anm. 41), S. 114ff. Vgl. I. MacLean: Interpretation and Meaning in the Renaissance (wie Anm. 41), S. 74f.

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Recht die Methode der Interpretation selbst zum Gegenstand wurde, hat man entsprechend zwischen der Bedeutung eines Begriffs als seiner Referenz, seinem objektiven Inhalt oder dem subjektiv mit ihm Gemeinten einerseits und der Interpretation des ihn benennenden Ausdrucks andererseits unterschieden.49 So konnte den Digesten eine rudimentäre Sprachtheorie entnommen werden, die eine ewige Bedeutung der Dinge von der wandelbaren, konventionellen Bedeutung der Ausdrücke unterschied.50 Ab dem 15. Jahrhundert wurde jedoch die Frage diskutiert, ob es nicht eine Fiktion sei, von der reinen und eigentlichen Bedeutung eines Begriffs vor jeder Interpretation zu sprechen. Entsprechend wurde die Bedeutung eines Ausdrucks von einigen Autoren, etwa Goddaeus, mit dem Interpretationsresultat schlicht identifiziert." Solche Versuche konnten sich auf eine veränderte sprachphilosophische Grundlage stützen. Die nominalistischen Sprachtheorien seit Wilhelm von Ockham und Marsilius von Inghen ließen nämlich die Trennung zwischen begriffener Sache, mentalem Begriff und sprachlichem Ausdruck zunehmend problematisch erscheinen.52 Wenn aber die Unterscheidung zwischen Begriff und Ausdruck aufgehoben wird, bedeutet eine Veränderung im Verständnis des Ausdrucks zugleich eine Veränderung der Bedeutung des Gesetzes, mithin seinen Wandel. Die Reflexion auf die Interpretation bei den Juristen des 16. Jahrhunderts - unter dem Einfluß des Nominalismus und Humanismus - steht damit an der Schwelle zu einer Theorie der Wandlung von Gesetzen durch Interpretation. Auf die Dauer fuhrt Rechtsanpassung durch Interpretation zur offensichtlichen Rechtsveränderung und damit letztlich zur methodischen Reflexion auf diesen Wandlungsprozeß selbst.

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Vgl. I. MacLean: Interpretation and Meaning in the Renaissance (wie Anm. 41), der Caepolla zitiert: »Significatio est, quando non reeeditur a vero et proprio intellectu vocabuli, sed quando dilatur, seu extenditur, vel coarctatur seu restringitur intellectus vocabuli, tunc ist non dicitur significatio, sed interpretatio« (In titulum de verborum et rerum significatione doctissima commentaria, S. 25, nach I. MacLean, S. 96). vgl. auch D 1, 3, 30: »Fraus enim legi fit, ubi quod fieri noluit, fieri autem non vetuit, id fit: et quod ρ η τ ό ν α π ό δ ι α ν ο ί α ς hoc distat fraus ab eo, quod contra legem fit.« Vgl. D 30. 4: »rerum enim vocabula immutabilia sunt, hominum mutabilia.«, vgl. D 50, 16: »>nominis< appelatione rem significari Proclus ait.« Accursius kommentiert: »Et est significare, demonstrare rem de qua queritur, proprio nomine ei attributo« (zit. nach I. MacLean: Interpretation and Meaning in the Renaissance (wie Anm. 41), S. 95). Vgl. I. MacLean: Interpretation and Meaning in the Renaissance (wie Anm. 41), S. 98: »Signification is identified explicitely by him with the practice of interpretation

(expositio).« 52

Vgl. Ε. Keßler: Die verborgene Gegenwart Ockhams in der Sprachphilosophie der Renaissance, in: Die Gegenwart Ockhams, hrg. v. W. Vossenkuhl u. R. Schönberger, Weinheim 1990, S. 147-164.

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III. Francisco Suärez über den Wandel des Rechts durch Interpretation Suärez hat im Ausgang von Thomas und Duns Scotus auf den Nominalismus und Humanismus, 3 aber auch auf die Situation der Rechtswissenschaften seiner Zeit reagiert. Das zeigt sich schon daran, welches Gewicht die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Wandelbarkeit und der Interpretation von Gesetzen im Vergleich zu seiner unmittelbaren Vorlage gewinnt: De legibus ist wohl in mehreren Etappen aus kommentierenden Vorlesungen zur Summa theologica entstanden. 4 Bildet man seine Gliederung auf den Aufbau des Gesetzestraktats der Prima Secundae ab, werden die Neugewichtungen deutlich.55 Fragen des Gesetzeswandels und der Rechtsinterpretation nehmen nicht nur einen gegenüber der kommentierten Vorlage deutlich größeren Raum ein bzw. werden an einigen Stellen ohne Vorlage aufgegriffen, beide Fragen werden vielmehr auch in bestimmten Zusammenhängen ineinander verschränkt. Diese Genese des systematischen Werks aus kommentierenden Vorlagen macht darüber hinaus deutlich, daß Suärez seine Position in interpretierender Aneignung der Tradition exponiert und

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Offensichtlich hat Suärez - um nur ein Beispiel zu nennen - den Piatonkommentar von Ficino benutzt. Zum Verhältnis von Humanismus und Nominalismus vgl. E. Keßler: Die verborgene Gegenwart Ockhams in der Sprachphilosophie der Renaissance (wie Anm. 52) Keßler bezieht sich unter anderem auf Lorenzo Valla, den Suärez in De legibus gelegentlich zitiert (z.B. in De legibus II, 17, 5). Vgl. zu dieser Annahme V. Perefla-Abril: Genise du raisonnement juridique chez Francisco Suärez, in: Logique et Analyse 14 (1971), S. 203-208, S. 203ff, sowie seine Einleitungen zu den entsprechenden Bänden der kritischen Ausgabe, insbes. zu Vol. I, aber auch Vol. II, S. XLIIff. Perefla-Abril unterscheidet in seinem Aufsatz von 1971 drei Etappen der Ausarbeitung von De legibus: Als erste gelten die römischen Vorlesungen ab 1583 über Thomas von Aquins Summa theologica I-II, die zweite Phase wird auf 1601/1602 datiert, in der Suärez unter Berücksichtigung der jüngeren juristischen Literatur das gesamte Thema emeut durchgearbeitet hat. 1607-1610 scheint die definitive Fassung entstanden zu sein, in der das juristische Denken und das positive Recht weiteren Raum einnehmen interessant jedoch, daß der Name Johannes Duns Scotus auch bei Perefia-Abril nicht fällt: »Le rationalisme thomiste de Salamanca, le nominalisme de Juan de Medina et le >jusnaturalisme< de Gabriel Vasquez, ainsi que le voluntarisme de Medina et le >judicalisme< de Francisco Dias trouvent leur synthase dialectique dans le concept du droit que Suärez a incorpori dans son traitd difinitif de 1612.« Schon F. Cuevas-Cancino stellt zwar ausführlich die Abhängigkeit von Thomas und den vielfältigen Positionen der spanischen Schule dar, erwähnt aber Johannes Duns Scotus nicht. Wahrend der Bezug auf Duns Scotus im Fall der Disputationes Metaphysicae mittlerweile deutlich gesehen wird, scheint er für die Rechtsphilosophie eher unterschätzt zu werden. Bereits im ersten Buch, De legibus in communis, das Themen der quaestio 90, De essentia legis, aber auch der quaestio 91 aufgreift, findet sich ohne Vorlage ein Kapitel über die Wandelbarkeit des Rechts. Im zweiten Buch, das wie die quaestio 93 und 94 von der >lex aeterna< und »lex naturalis< (sowie neu von der >lex gentium«) handelt, sind statt des einen Artikels zur Frage der Wandelbarkeit des Naturrechts bei Thomas gleich vier Kapitel dieser Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln gewidmet. Nach den Büchern über das menschliche Gesetz entsprechen der quaestio 97, De mutatione legum, gleich zwei komplette Bücher, nämlich Buch 6 und Buch 7, De interpretatione, cessatione & mutatione legis humanae und De lege non scripta, quae consuetude apellatur.

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begründet. Ich skizziere zunächst die Überlegungen im ersten Buch über den Gesetzesbegriff im allgemeinen, dann die Theorie des Wandels menschlicher Gesetze durch Interpretation im sechsten Buch, das ganz diesem Thema gewidmet ist, und komme abschließend auf das Problem des Wandels des natürlichen Gesetzes und seiner Interpretation zu sprechen.

A. Die Möglichkeiten des Gesetzeswandels überhaupt (Lib. 1, cap. 20) Bereits im ersten Buch, also im Rahmen der vorgängigen, allgemeinen Exposition der Begriffe von Recht und Gerechtigkeit, wird das Problem der Wandelbarkeit der Gesetze erörtert. Von sich aus, also in einer bestimmten Hinsicht, ist einem Gesetz keine zeitlich begrenzte Gültigkeit eingeschrieben:56 Der vernünftige Grund, den der Gesetzgeber hatte und dem sich ein Gesetz verdankt, fixiert von sich aus keine zeitliche Grenze seiner Geltung. Suärez betrachtet Gesetze jedoch unter mehreren Hinsichten, so daß sich Arten möglicher Veränderungen von Gesetzen unterscheiden lassen. Dazu wendet Suärez das der aristotelischen Physik entnommene, aber in seinem Applikationsbereich fast beliebig ausdehnbare Vier-Ursachen-Schema auf Gesetze selbst an. 57 Identifiziert man das Gesetz selbst - sei es der Text, der Grund oder der zugrundeliegende Wille - mit seiner >causa formalism58 die selbst keine Veränderung induziert, dann verbleiben drei Ursachen: Unter der Materie eines Gesetzes lassen sich die Betroffenen, die Umstände, der Geltungsbereich und andere dem Gesetzgebungsakt vorgängige Gegebenheiten und Bedingungen verstehen.59 Eine Veränderung dieser >causa mate-

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Francisco Suärez: De legibus I, 20, nr. 1: »Primo igitur supponimus ex dictis, legem indefinite latam de se non mutari neque eius obligationem cessare propter solam temporis diutumitatem si alia causa mutationis non interveniat.« Vgl. zum Gebrauch »naturwissenschaftlichem Vokabulars in der politischen Theorie des Mittelalters W. Sttlmer: Natur und Gesellschaft im Denken des Hoch- und Spätmittelalters. Naturwissenschaftliche Kraftvorstellung und die Motivierung politischen Handelns in Texten vom 12. bis 14. Jahrhundert, Stuttgart 1975; für die möglichen Wurzeln dieser Ausdehnung des Applikationsbereichs der Vier-Ursachen-Lehre M. Riedel: Metaphysik und Metapolitik. Studien zu Aristoteles und zur politischen Sprache der neuzeitlichen Philosophie, Frankfurt am Main 1975 - kritisch dazu E. Schutrumpf: Kritische Überlegungen zur Ontologie und Terminologie der aristotelischen Politik, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 6 (1981), S. 26-47. In der Schule von Salamanca war die extensive Anwendung des Vier-Ursachen-Schemas als methodisches Instrument zur Erschließung der verschiedensten Gegenstandsbereiche durchaus üblich - vgl. R. Schnepf: Derecho international y soberania en Francisco de Vitoria (wie Anm. 9), S. 98ff. Vgl. zum Ausdruck >forma legis< Francisco Suärez: De legibus III, 20. Vgl. Francisco Suärez: De legibus I, 20, 2. Ich interpretiere den Ausdruck »materia legis< analog zum Ausdruck >ΰλη< in der Politik, VII 4, 1326a 1 des Aristoteles und im Anschluß an die Kommentiemngstradition. >ϋλη< scheint dort als ein Begriff für »sämtliche Faktoren, mit denen sie [die Gesetzgeber, R.S.] zu tun haben, sowohl Bedingungen innerhalb der Bürgerschaft als auch materielle äußere Gegebenheiten, wie die Gestalt des Territoriums« verwendet zu werden (E. Schütrumpf: Kritische Überlegungen (wie Anm. 57), S. 31). Zwar wird diese Redeweise weder bei Aristoteles noch etwa im Thomaskommentar

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rialis< eines Gesetzes kann zum Wegfall seiner Verpflichtung führen. Als >causa efFiciens< läßt sich nicht nur der Gesetzgeber verstehen, sondern genauer sein Wille oder Geist, sofern er von den dem Gesetz Unterworfenen zu bewahren ist - wozu sie ihn allerdings auch erschließen können müssen.60 Die >causa efficiens< des Gesetzes kann aufgrund der Gesetzgebungskompetenz eine extrinsische Veränderung des Gesetzes bewirken, etwa durch seine Aufhebung. Was die >causa finalis< betrifft, so gilt ein Wegfall des Zieles oder Zweckes eines Gesetzes als reiner Fall einer intrinsischen Veränderung. Suärez zitiert hierbei die Rechtsregel >cessante causa cesset effectus< und integriert damit einen Rechtssatz aus der Tradition der Dekrete Gratians in seine Systematik.61 Suärez versucht methodisch, juristisches Vokabular zur Erfassung des Rechtswandels dadurch zu klären, daß er es in dieses formale Schema der Veränderbarkeit von Recht überhaupt - ergänzt durch weitere formale Bestimmungen - einfügt.62 Eine solche begriffsschärfende Analyse durch die Übertragung des Vier-Ursachen-Schemas auf diesen entlegenen Anwendungsfall findet sich weder bei Thomas noch bei Duns Scotus, in gewissem Umfang jedoch in der juristischen Spezialliteratur der Zeit.63 Die neuen Differenzierungsmöglichkeiten durch die Anwendung des zur bloßen Hinsichtenunterscheidung entstellten, aber tradierten VierUrsachen-Schemas auf den völlig unphysikalischen Gegenstand >Gesetz< gibt Suärez Spielraum bei der Interpretation und Integration der ihm vorgegebenen, einander konkurrierenden Autoritäten. Im Verlauf dieser formalen Analyse möglicher Weisen der Rechtsveränderung kommt Suärez anläßlich des Dispens-Begriffs auf das Problem der

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strikt im Sinn einer >causa materia!is< interpretiert, doch läßt sich diese Stelle als ein Ausgangspunkt der analogen Begriffsbildung ansehen. Francisco Suärez: De legibus I, 20, nr. 2: »Habet etiam lex causam efficientem et ex hac parte solet effectus definere seu mutari per suspensionem influxus, seu non conservationem causae efficientis; quia vero efficiens causa legis, prout est in subditis seu extra legislatorem, non est nisi voluntas legislatoris, quae eadem perserverare censetur, quamdiu contraria non intervenit, ideo mutationem legis ex parte causae efficientis comprehendimus sub ilia, quae fit per actionem contrariam.« Vgl. Η. Krause: Cessante causa cessat lex (wie Anm. 45), S. 83ff, verweist auf Can. 41, C 1 q. 1: »Quae pro necessitate conceduntur, eadem cessante cessant«, und Canon 7, C 1, q. 7: »Cessante necesitate debet cessare, quod urgebat«. Beide Stellen entstammen einem Schreiben von Papst Innozenz von 414. Krause beschreibt die sukzessive Ausweitung dieses Prinzips bis hin zu der Allgemeinheit, wie sie sich auch bei Suärez findet - Suärez widmet diesem Prinzip weiten Raum in De legibus VI, 9; dazu H. Krause: Cessante causa cessat lex (wie Anm. 45), S. lOOff. Dieses Schema wird natürlich nicht nur durch die Vier-Ursachen-Lehre gebildet, sondern durch weitere dichotomische Einteilungen: Ein Wandel ist entweder absolut oder relativ, d.h. er geschieht durch das Gesetz selbst oder durch ein anderes Gesetz; er ist weiterhin bloß partikular oder allgemein, d.h. die Änderung betrifft nur die Anwendung des Gesetzes auf einzelne Fälle oder aber die Gültigkeit des gesamten Gesetzes. So wurde der Begriff der >causa< in dem Lehrsatz >cessante causa cessat lex< durchweg auf den Sinn einer >causa finalis< eingeschränkt, also auf den Sinn und Zwecks des Gesetzes, im Unterschied zu seinem Anlaß, der >causa impulsiva< - vgl. H. Krause: Cessante causa cessat lex (wie Anm. 45), S. 92ff., der dabei Gl. >causa< zu D. 3, 1, 1 §5 zitiert.

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Rechtsinterpretation zu sprechen. Dabei werden Gesetzeswandel und die Interpretationsproblematik zunächst wie bei der Vorlage, Thomas von Aquin, als getrennte Problembereiche behandelt. Dispens bezeichnet eine bloß partikulare Veränderung des Gesetzes (mutatio particularis), insofern seine verpflichtende Kraft für eine oder einige bestimmte Personen aufgehoben wird.64 Falsch sei es, wenn einige Autoren Dispens und Interpretation identifizierten. Die entscheidende Differenz bestehe darin, daß durch den Dispens ein allgemeines Gesetz für den Einzelfall aufgehoben werde, während die Interpretation deutlich mache, daß es für diesen speziellen Fall gar nicht gelte.65 Eine Interpretation hat also lediglich die Funktion eines Erkenntnisgrundes. Sie bewirkt keine allgemeine oder partikuläre Rechtsänderung, sondern konstatiert nur, daß die Rechtslage eigentlich immer schon so war. Rechtswandel und Interpretation sind scheinbar, wie bei Thomas, getrennt.66 Vor dem Hintergrund vor allem der juristischen Diskussion ist Suärez damit auf eine bestimmte Bedeutungstheorie festgelegt. Seine Position erfordert eine Bedeutungstheorie, die besagt, daß die Ausdrücke des Gesetzestextes Begriffe bezeichnen, die vor aller Interpretation etwas bedeuten, und deren Bedeutung durch die Interpretation der Ausdrücke aufgehellt werde. Insofern Gesetze für Suärez gänzlich auf den Geist zu beziehen sind, und zwar einerseits auf den des Gesetzgebers, andererseits auf den der Bürger,67 sind diese vorgängigen Begriffe jedoch nicht als geistunabhängige Begriffe einer Natur der Sache zu verstehen (verba rerum). Das Gesetz wird konstituiert durch die Intention des Gesetzgebers, soweit sie sich im Gesetzestext manifestiert und sofern sie durch die Ausdrücke, in denen das Gesetz formuliert ist, verständlich ist.68 Die Vielfalt der Situationen wird damit als 64

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Francisco Suärez: De legibus I, 20, 8: »Ita ergo in praesenti accomodata est vox dispensat i o n s ad significandam particularem mutationem legis per relaxationem obligationis eius circa unam vel aliam personam.« Suärez argumentiert in diesem Abschnitt von der Wortgeschichte her; Dispens bedeute ursprünglich den Erlaß von etwas, das zugeteilt werden könnte; die spezifisch juristische Bedeutung wird dann durch eine weitere Überlegung angeschlossen: »est enim obligatio legis quasi onus quoddam distribuendum inter multos, & ideo liberatio unius ab illa obligatione, & non aliorum, quaedam dispensationem illius vocatur.« Ebd., nr. 10: »Differt ergo interpretatio a dispensatione quod non tollit obligationem legis, sed declarat legem interdum non obligare.« Diese thomasnahe Interpretation von De legibus I, 20 vertritt etwa F. Cuevas-Cancino: La doctrina de Suärez sobre el derecho natural (wie Anm. 19), S. 159ff. Vgl. Francisco Suärez: De legibus I, 4, 2: »omnibus ergo modis lex ad mentem referenda est. Et hic firit conceptus legis in omnibus sapientibus, etiam philosophis, ut ex Piatone, Artist., & Cicer. in locis allegatis constat.« Daraus ergibt sich für Suärez ein dreifacher Status des Gesetzes (ibid., 4): »Primo in ipso legislatore, quomodo supra dicebamus, legem esse conceptam in mente Dei ex aeternitate. Secundo in subditis quibus lex imponitur, quomodo dici solet lex naturae esse indita in mentibus hominum. Tertio in aliquo alio signo, seu alia materia exteriori, ut in scripto vel etiam in voce manifestante voluntatem superioris.« In dieser Trias ist das ontologische Fundament der Rede vom Gesetz gegeben. Alles, was über das Gesetz zu sagen ist, muß in Aussagen Uber diese drei Ebenen und ihr Verhältnis untereinander übersetzt werden können.

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Vielfalt von Bedeutungsaspekten in den Begriff der Norm als Ausdeutung des gesetzgebenden Willens selbst integriert. Bereits damit verändern sich wie sich noch zeigen wird - gegenüber Thomas die Grundlagen.69 Allerdings darf man diesen Passagen von De legibus nicht die ganze Position des Suärez entnehmen wollen. Man würde so den systematischen Aufbau des Werks verkennen. Die Ausführungen von Suärez im ersten Buch, über den Gesetzesbegriff im allgemeinen, sind - wie er mehrmals betont - nur abstrakt, sie beziehen sich zum Teil nur auf bestimmte Arten von Gesetzen.70 Das erste Buch behandelt den allgemeinsten, univoken Gesetzesbegriff nur im Umriß. Dieser Begriff muß so umfassend sein, daß er Gesetze extrem unterschiedlichen Typs umfaßt, nämlich sowohl göttliches wie menschliches Recht. Es ist deshalb gar nicht ohne weiteres ausgemacht, ob die im ersten Buche exponierten Begriffsbestimmungen ohne weiteres auf Gesetze jederlei Typs zutreffen. Denn insofern der zuerst exponierte Gesetzesbegriff univok ist, muß man damit rechnen, daß er in bestimmter Weise defizitär ist, weil er die Art und Weise, in der er in den unterschiedlichen Typen von Gesetzen realisiert ist, nicht zu erkennen gibt. Es wird sich zeigen, daß einzelne Bestimmungen und besondere Gesetzestypen dem allgemeinen Begriff in gewisser Weise widersprechen können. Die methodische Funktion des im ersten Buch exponierten Begriffs von Recht überhaupt ist also eher eine Art Systematisierungs- und Orientierungsfunktion, nicht aber eine präzise Ausarbeitung von Bestimmungen, die jedem Recht zukommen.71

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Vgl. z.B. für das positive menschliche Gesetz De legibus III, 20, 8: »Nam sicut lex constituitur in ratione legis humanae quatenus est signum voluntatis praeceptivae, seu obligantis, ita constituitur in ratione talis legis quatenus est signum talis voluntatis legislatoris de tali actu a subdito exhibendo, & ita haec dicitur proprie mens legislatoris, quia ilia est quae immediate insinuatur et notificatur per talia verba.« Natürlich bezeichnen auch fllr Thomas Ausdrücke Begriffe, die ursprüngliche >passiones animae< sind. Der allgemeine, durch Aristoteles' De Interpretatione vorgegebene Rahmen der Bedeutungstheorie bleibt konstant, wird aber variiert - vgl. dazu O. Scholz: Verstehen und Rationalität (wie Anm. 10), S. 23ff. Vgl. Francisco Suärez: De legibus I, 4, 1; das geht so weit, daß Suärez für I, 5 ankündigt, die Lösung sei nur für menschliche Gesetze anwendbar und müsse für das ewige und natürliche Gesetz an seinem Ort erneut bearbeitet werden - vgl. De legibus I, 5, 22. Auch in diesem Punkt besteht eine methodische und systematische Verwandtschaft zwischen De legibus und den Disputationes metaphysicae, die zwar einen univoken Begriff des Seienden Uberhaupt ansetzen, zugleich aber die Defizienz dieses Begriffs zum methodischen Ausgangspunkt einer differenzierenden Begriffsbildung werden lassen - vgl. DM I und II, dazu z.B. das entsprechende Kapitel bei L. Honnefelder: Scientia transcens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und der Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit, Hamburg 1990, S. 200ff. Dieser systematische Aufbau ist von Honnefelder als Erbe des Scotismus identifiziert worden. Auch dieser Zug des Aufbaus von De legibus läßt also erschließen, daß das Projekt eines Thomaskommentares bereits sehr früh unter von Duns Scotus herstammenden Formen der Systematisierung stattfand und eine eigenartige Überlagerung beider Traditionsstränge konstitutiv für diese Theorie ist. Vgl. dazu auch die Arbeiten von R. Specht: Zur Kontroverse zwischen Suärez und Vasquez über den Grund der Verbindlichkeit von Gesetzen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilo-

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Β. Die Wandelbarkeit des positiven menschlichen Rechts durch Interpretation nach Suärez (Lib. VI) Im 6. Buch von De legibus spricht Suärez explizit - und in scheinbarem, im folgenden aufzulösendem Widerspruch zum ersten Buch - davon, daß sich menschliche Gesetze durch Interpretation wandeln können.72 Nicht nur die Titel einzelner Kapitel bezeugen diese Redeweise,73 sondern bereits das Vorwort nennt Interpretation als eine Art des Gesetzeswandels. Vor dem Hintergrund des besonderen methodischen Status des ersten Buchs verwundert das nicht. Suärez greift hier im 6. Buch auf das formale Raster aus dem ersten Buch zurück. Abweichend behauptet er aber, wenn intrinsischer Rechtswandel nur teilweise oder in bestimmten Situationen statthabe, dann werde dies Rechtsinterpretation oder >aequitas< genannt.74 Diese Differenz zum ersten Buch läßt sich aus zwei Besonderheiten des Gegenstandes des sechsten Buchs erklären: Zum einen verwendet Suärez hier gegenüber dem ersten Buch einen viel reichhaltigeren Begriff der Interpretation, der vieles der juristischen Interpretationslehren aufnimmt; zum anderen rücken im Bereich des menschlichen Gesetzes der Wille des Gesetzgebers und dessen Spielraum stärker in den Mittelpunkt. Beides, die Ausweitung der Funktionen von Interpretation und die zentrale Rolle des Willensbegriffs müssen sich aus besonderen Eigentümlichkeiten des positiven, menschlichen Rechts erklären lassen, soll der Widerspruch zum ersten Buch aufgelöst werden. Suärez versteht unter > Interpretation nicht mehr wie im ersten Buch nur eine Erläuterung des Textes, sondern er betont im Anschluß an die juristische Praxis, daß Interpretation oftmals eine anwendungserweiternde oder

sophie XLV (1959), S. 235-255; ders.: Über den Sinn des sogenannten Voluntarismus in der Gesetzestheorie des Suärez, in: FS Joseph Höffner (Jahrbuch des Instituts fllr Christliche Sozialwissenschaften. 7/8.), Münster 1967, S. 247-256; ders.: Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehren, in: Naturrecht in der Kritik, hrg. v. F. Böckle u. E. W. BöckenfÖrde, Mainz 1973, S. 36-65; ders.: Naturgesetz und Bindung Gottes, in: Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, hrg. v. J. P. Beckmann, L. Honnefelder, G. Schrimpf u. G. Wieland, Hamburg 1996, S. 409-423. 72

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Der Titel des sechsten Buchs, De interpretatione, cessatione et mutatione humanarum legem scheint zunächst darauf hinzudeuten, daß Interpretation und Wandel zwei verschiedene Dinge seien, die nacheinander abgehandelt würden. Tatsächlich verhält es sich so, daß die Interpretation in diesem Buch selbst eine Form des Rechtswandels ist. Das macht gerade die systematische Einheit dieses Buchs aus. Schon mit dieser Zusammenstellung der Themen setzt Suärez gegenüber seinen Vorlagen einen neuen Akzent. Das wird durch die Überschriften von De legibus VI, 2: »Quando, & quomodo habeat locum extensio in legibus humanis per earum interpretationem«, und VI, 5: »Quando, & quomodo poßit lex per interpretationem restringi« deutlich, insofern Restriktion und Extension Beispiele für Rechtswandel sind. De legibus VI, praef.: »Dico autem legem mutari ex se, & ab intrinseco, quando ex defectu materiae, vel finis, aut rationis eius obligatio cessat. Et quando hoc contingit tantum in parte, seu in particular! occasione, dicitur legis interpretatio, seu aequitas, aut epijkia.«

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-begrenzende Auslegung und eben damit eine Veränderung sei.75 Er bezieht sich dabei auf die >interpretatio extensiva< und >restrictiva< der Rechtswissenschaft.76 Damit stellt sich auch ihm das in der juristischen Literatur diskutierte Problem, daß rechtsverändernde Interpretation besonderer Legitimation bedarf. Ebenfalls aus der juristischen Literatur entnimmt Suärez dazu die Unterscheidung zwischen authentischer, gewohnheitsmäßiger und doktrinaler Interpretation, also der Rechtsauslegung durch den Gesetzgeber, durch das Herkommen und durch die juristische Lehre.77 Seine Überlegungen gehen von der authentischen Interpretation aus, die nicht an die Person des Gesetzgebers, sondern an die Gesetzgebungskompetenz, d.h. das Amt, gebunden ist.78 Der Rechtswandel durch authentische Interpretation ist entsprechend durch die Kompetenz des Amtes gedeckt. Suärez folgt damit zunächst dem Motiv der Interpretationsrestriktion im klassischen römischen Recht.79 Doch auch die doktrinale Interpretation durch die Juristen kann unter Umständen dieselbe Autorität wie die authentische beanspruchen. Weil wegen der prinzipiellen Allgemeinheit der Gesetze Urteilsfähigkeit (iudicium prudentium) notwendig sei, urteilsfähig aber nur die Rechtsgelehrten seien, hätten diese eine unersetzbare Funktion. Zwar sei das Urteil eines einzelnen Rechtsgelehrten nur wahrscheinlich, doch gebe es unterschiedliche Grade der Gewißheit. Wenn alle Rechtsgelehrten übereinstimmten, dann hätte das Urteil höchste Gewißheit und könne verpflichtende Kraft haben.80 Ohne es ausdrücklich zu sagen, kommt die Kompetenz zur

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Vgl. Francisco Suärez: De legibus VI, 1,3: »Unde etiam intelligitur, frequenter contingere, ut haec interpretatio non sit nuda declaratio senus prioris legis, sed mutatio etiam aliqua, vel addendo, vel minuendo, quia totum hoc cadit sub potestatem eius, cuius authoritate sit talis interpretatio, & potest esse ad communem bonum necessarium.« Vgl. ebd., VI, 2, 1. Suärez unterscheidet hier mehrere Bedeutungen von >interpretatioforma< der Geist des Gesetzgebers. Das Vier-Ursachen-Schema kann gleichsam iteriert angewendet werden. Hier wird das, was oben als >forma legis< galt, seinerseits auf seine Materie und Form hin differenziert. Ebd., VI, 1, 17. Vgl. ebd., VI, 1, 19: »Quamvis enim lex semper sit rationi consentanea, nihilominus electio inter ea, quae rationabilia sunt, saepe non habet rationem, & ideo non semper est investiganda, ut dicitur in I. Et ideo ff. eodem: ergo sola ratio legis non continet legislatorem voluntatem, quia pro suo arbitrio potuit non in omnibus illί conformari, sed solum quatenus voluit, & suis verbis explicavit.« Vgl. ebd., 1,3, 18.

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Wille des Gesetzgebers alleine erschließen läßt. Diese Position wird durch die Aufgabe einer bestimmten Bedeutungstheorie möglich, nach der Begriffe immer eine Art Natur der Sache bezeichnen. Suärez verbindet in dieser Position scotistische Motive mit Überlegungen der humanistisch-nominalistisch beeinflußten Jurisprudenz seiner Zeit. Er entwickelt somit für den Bereich des menschlichen Gesetzes eine Theorie, in der Interpretation nicht nur die Funktion hat, die Kluft zwischen Norm und Situation zu überbrükken, sondern - auch in ihrer Wandelbarkeit - zurückwirkt auf die Konstitution der Norm.

C. Francisco Suärez über die Wandelbarkeit des natürlichen Gesetzes durch Interpretation Das natürliche Gesetz unterscheidet sich nach Suärez vom menschlichen dadurch, daß es - wie bei Thomas - als die Weise bestimmt ist, in welcher der Mensch am ewigen Gesetz Gottes partizipiert. Das bedeutet unter anderem, daß die Bedeutung von Begriffen nicht mehr im Rückgriff auf einen endlichen Geist, sondern im Rückgriff auf den göttlichen Gesetzgeber zu verstehen ist. Dabei ist das Verhältnis zwischen Willen und Verstand beim göttlichen Gesetzgeber ein grundsätzlich anderes als beim menschlichen Gesetzgeber. Verstand und Wille fallen weitgehend zusammen, dem Willen kommt keine auswählende Funktion, sondern nur die vorschreibende, befehlende zu. Damit ist gegenüber den menschlichen Gesetzen der Rahmen grundsätzlich verändert, innerhalb dessen die Funktion von Interpretation bestimmt sowie die Frage der Wandelbarkeit des Gesetzes aufgelöst werden können. Wieder spielt dabei die auf den Begriff des natürlichen Gesetzes applizierte Vier-Ursachen-Unterscheidung methodisch eine entscheidende Rolle. Das natürliche Gesetz kann - strikt gesprochen - nicht verändert werden oder sich wandeln, es kann also nicht aufgehoben werden.91 Dabei kennt auch Suärez, wie Duns Scotus, drei Ebenen des natürlichen Gesetzes - die Ebene der Prinzipien, die der logisch unmittelbaren Schlußfolgerungen und die der vermitteiteren Schlußfolgerungen. Allerdings wandelt er dieses Schema charakteristisch ab. Alle drei Ebenen von natürlichen Gesetzen haben ihren Grund im ewigen Gesetz Gottes, also in seinem Geist. Alle Ebenen des natürlichen Gesetzes fließen aus der Vernunft. Im Unterschied zu Thomas, aber in Übereinstimmung mit Duns Scotus, ergibt sich die zweite Ebene des natürlichen Gesetzes nicht durch ein originär praktisches Reflektieren sondern durch logisches Schließen. Im Unterschied zu Duns 91

Vgl. ebd., II, 13, 2: »Dico igitur proprie loquendo legem naturalem per seipsam desinere non posse vel mutari, neque in universal· neque in particular!, manente natura rationali cum usu rationis et libertatis.« - vgl. zum folgenden vor allem auch F. Ricken: Unveränderlichkeit und Wandelbarkeit des natürlichen Sittengesetzes nach Francisco Suärez, in: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, hrg. v. M. Sievernich S.J. u. G. Switek S.J., Freiburg, Basel, Wien 2 1991, S. 340-353.

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Scotus ergibt sich auch die dritte Ebene nicht durch ein Zusammenstimmen mit den beiden anderen, sondern folgt ebenso logisch notwendig aus den ersten Prinzipien, wenn auch über mehrere Schritte.92 Suärez erläutert seine Position am Beispiel des >depositumdeposita< zurückzugeben,93 doch habe er sich dabei nicht exakt ausgedrückt. Es sei nämlich zwischen intrinsischer und extrinsischer Veränderung zu unterscheiden, und bei natürlichen Gesetzen könne nur die letztere statthaben.94 Doch selbst dann sei die Veränderung nur eine scheinbare im Blick auf die Materie des Gesetzes (mutatio apparens). Die Begriffe, in denen das natürliche Gesetz geschrieben und im menschlichen Geist sei, seien nämlich immer Allgemeinbegriffe, in denen nicht sämtliche Bedingungen expliziert seien. Von dieser menschlichen Auffassung des natürlichen Gesetzes sei aber ihre ursprüngliche Fassung in Gottes Geist zu unterscheiden. Wenn es also aus menschlicher Perspektive so scheint, als verändere sich das natürliche Gesetz, wenn ein >depositum< einem Wahnsinnigen oder einem Staatsfeind nicht zurückgegeben werden müsse, so verändert es sich an und fur sich, also wie es in Gottes Geist sei, nicht. Denn im Gesetz, >deposita< zurückzugeben, sei letztlich gedacht, es nur unter vernünftigen Umständen zurückzugeben.95 Auch wenn die Materie eines Gesetzes wandelbar und vielfältig ist, so nimmt der eigentliche Begriff diese Vielfalt vorweg.96 Entsprechend löst Suärez auch das Problem des 92

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Vgl. ebd., 13, 3: »Complecitur enim hoc ius (ut supra dixi) principia morum per se nota et omnes ac solas conclusiones quae ex illis necessaria illatione inferuntur sive proxime sive per plures illationes. Omnia autem haec perpetuae veritatis sunt, quae Veritas principiorum non subsistit sine veritate talium conclusionum et principia ipsa ex terminis necessaria sunt. Ergo in omnibus his praeceptis est perpetuitas; non ergo possunt desinere per solum lapsum temporis. Altera vero pars ex eodem principio facile ostenditur, quia iudicium quod necessario colligitur ex principiis per se notis, nunquam potest esse falsum. Ergo nec potest esse irrationabile vel imprudens. Sed omne iudicium legis naturalis tale est, ut vel sit de principiis per se notis vel ex illis necessario inferatur. Ergo quantumvis res varientur, iudicium legis variari non poterit.« Vgl. ebd., II, 13, 5. Vgl. ebd., II, 13, 7: »Quando ergo divus Thomas cum Aristotele ait aliqua praecepta legis naturalis mutari vel deficere aut exeptionem pati in paucioribus seu in casu, loquitur de mutatione impropria per solam denominationem extrinsecam ratione mutationis quae in materia fit.« - Ebd., II, 13, 8: »Et ita facile declaratur exemplum de deposito. Nam licet in hoc casu reddendum non sit, non propterea naturale praeceptum mutatur, nam a principio non fuit positum pro illo casu, sed pro aliis quos recta ratio dictat.« Ebd.: »Nam licet in hoc casu reddendum non sit, non propterea naturale praeceptum mutatur, nam a principio non fuit positum pro illo casu, sed pro aliis quos recta ratio dictat. [...] et ita non est vera vel intrinseca mutatio, sed apparens et per extrinsecam denominationem.« Vgl. ebd., II, 13, 9: »Solum enim hoc modo inferuntur tales conclusiones neccessario ex principiis naturalibus, et non aliter sunt naturalia praecepta nisi ut ex illis principiis necessario colliguntur. Et ideo etiam non obstat quod materia sit mutabilis, nam lex naturalis discemit mutabilitatem in ipsa materia et iuxta illam accomodat praecepta; nam aliquid praecipit in ilia materia pro uno statu et aliud pro alio; et ita ipsa in se manet semper im-

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Tötungsbefehls an Abraham. Selbst Gott kann grundsätzlich nicht von einem natürlichen Gesetz dispensieren.97 Suärez nimmt an, Gott habe verschiedene Rollen: die des Gesetzgebers, die des Herrschers und die des Richters. Der Tötungsbefehl sei nicht als Dispens durch den Richter zu verstehen, sondern als Befehl des Herrschers, der sich Abrahams als Werkzeug bediene. Der Befehl an Abraham ist also kein Dispens, sondern ein legitimer Befehl des Herrschers über das Gesetz hinaus, das Gesetz selbst bleibt aber unverändert.98 Allerdings kann Gott natürlich die Materie eines Gesetzes so verändern, daß es den Anschein hat, als habe es sich verändert und verpflichte nicht mehr - das kann etwa den (historischen) Übergang von Gemeinbesitz zu Privateigentum nach dem Sündenfall betreffen. 99 Dennoch kommt der Interpretation für bestimmte Bereiche des natürlichen Gesetzes eine konstitutive Funktion zu. Sie hat die Differenz zu überbrücken, die zwischen dem natürlichen Gesetz, wie es an sich ist, und wie es durch bestimmte Gesetze oder Ausdrücke gefaßt ist, besteht.100 Gerade bei den Gesetzen, die sich weitläufigeren Schlußfolgerungen verdanken, ist der wahre Sinn nicht ohne weiteres offenkundig. Je weitläufigeren Schlußfolgerungen sich eine Norm verdankt, desto mehr ist sie auf Umstände bezogen, die von Situation zu Situation variieren können. Um den wahren Sinn einer Vorschrift zu erfassen, ist es also nötig, sie auf die Vielzahl von Umständen zu beziehen und von ihnen her zu erläutern. Suärez beruft sich dabei auf Cajetan, der die Rolle von Billigkeitserwägungen für die Anwendung natürlicher Gesetze bei Thomas gleichsam nachgetragen hat. Doch handelt es sich dabei für Suärez nicht um korrigierende Billigkeitserwägungen, sondern um eine >interpretatio declarative«, die das Gesetz nicht verändert.101 Das Tötungsverbot - das im Beispiel von Abraham und Isaak scheinbar gebrochen werden soll - ist so zwar allgemein formuliert, bedeutet aber

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mutata, licet quoad nostrum modum loquendi et per denominationem extrinsecam quasi mutari videtur.« Mit dieser Frage eröffnet Suärez De legibus II, 15: »Utrum Deus dispensare possit in lege naturali etiam de absolute potestate?« Vgl. ebd., II, 15, 19, insbesondere 20: »Si enim Deus ipse per se ipsum voluisset interficere Isaac, non indiguisset dispensione, sed ex suo dominio id facere posset. Eodem modo potuit uti Abrahamo ut instrumentum; et quintum praeceptum non prohibet esse instrumentum Dei in occisione, si ipse praeceperit.« Vgl. ebd., II, 15,26. Suärez kommt hier wieder auf das >depositumdepositumunklaren< Fällen, bzw. wo die Begriffe >dunkel< sind. Jede Ausdehnung des Bereichs möglicher Interpretation droht die Kompetenz des Gesetzgebers weiter zugunsten der Komptenz des Interpreten einzuschränken und damit letztlich die Rechtssicherheit und den Gleichheitsgrundsatz auszuhöhlen. Beide Gefahren sind bereits seit den Anfängen der juristischen Reflexion auf das Problem der Gesetzesauslegung erkannt und werden auch in der Theorie von Suärez vorausgesetzt.106 Die Restriktion von Auslegungsbedürftigkeit und Auslephischer Begründung, in: Zeitschrift fllr neuere Rechtsgeschichte 20 (1998), S. 1 - 1 4 , zu zeigen versucht habe. Die andere Möglichkeit besteht beispielsweise darin, im Rahmen rationalistischer Erkenntnistheorien eine Art vernunftrechtlicher Begündung des Naturrechts zu versuchen - ein Weg, den etwa T. Hobbes eingeschlagen hat. Welche Rolle und Funktion der Geschichte und ihrer Interpretation dabei zukommen, und welche Veränderung die Lehre von der Rechtsinterpretation dort erfährt, sei hier nicht weiter verfolgt. Inwieweit diese Interpretationstheorie als eine originär juristische von den vergleichsweise restriktiven gegenreformatorischen Hermeneutiken nach dem Tridentinum beeinflußt wurde oder umgekehrt diese beeinflußt hat, sei hier nicht untersucht. Natürlich gibt es auch juristische Auslegungslehren, die der Laienkompetenz eine größere Rolle zusprechen. Gleichwohl findet man Spuren der hier betonten Tradition beispielsweise noch im 18. Jahrhundert, nicht nur in der speziellen, sondern auch in der allgemeinen Hermeneutik (vgl. das Beispiel bei R. Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit (wie Anm. 10), S. 19). Es erscheint mir problematisch, die juristischen Interpretationstheorien bzw. die Theorien juristischen Interpretierens auch in jüngeren Versuchen einer Geschichte der Hermeneutik weitgehend zu vernachlässigen - vgl. Unzeitgemäße Hermeneutik, hrg. v. A. Bühler (wie Anm. 10); R. Sdzuj: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit (wie Anm. 10); O. Scholz: Verstehen und Rationalität (wie Anm. 10). So findet sich die Theorie von den Grenzen der juristischen Interpretation selbstverständlich noch im 20. Jahrhundert, etwa bei K. Engisch: Einführung in das juristische Denken (wie Anm. 1), der unbestimmte Rechtsbegriffe, normative Begriffe, Ermessensklauseln und Generalklauseln als Ansatzpunkte der auslegenden Rechtsfortentwicklung durch die

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gungskompetenz besteht jedoch - wie bereits bei Suärez explizit wird unter erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen Prämissen, nämlich daß die Prinzipien des Naturrechts erkennbar und die Bedeutung von Begriffen nicht nur durch Intention des Gesetzgebers bestimmt wird, sondern zum guten Teil durch die Gemeinschaft, in der das Gesetz gilt, als ganzer. Auf die Frage, ob sich ein Gesetz durch wechselnde Interpretationen verändere, finden sich bei Suärez zwei Antworten, je nachdem, um Gesetze welcher Art es sich handelt. Dem entsprechen zwei durch ihre Prämissen unterschiedene Theorien der Interpretation. Im Fall von natürlichen Gesetzen handelt es sich um eine Art Konkretionsmodell der Interpretation. Hier kann im Rückgriff auf den göttlichen Gesetzgeber davon ausgegangen werden, daß Begriffe bereits eine vollbestimmte Bedeutung haben; die Ausdrücke, derer wir uns bedienen, um an diesem Recht teilzuhaben, jedoch nicht. Weiterhin kann davon ausgegangen werden, daß natürliche Gesetze, insofern sie in optimaler Weise erkannt sind, so zusammenhängen, daß sie entweder einfachste, unmittelbar erkennbare Prinzipien oder logisch zwingend daraus ableitbare Folgesätze sind. Für ein hinreichend befähigtes Subjekt bedarf es der Interpretation zur Erkenntnis des natürlichen Gesetzes nicht. Interpretation ist höchstens dann ein notwendiges Mittel, wenn endliche Geister wie wir angesichts von konkreten Einzelfällen gewissenhafte Anwendungen vornehmen und von ihnen her darauf rückschließen, wie die Ausdrücke, in denen wir das natürliche Gesetz fassen, eigentlich zu verstehen sind. Weil die endliche Erkenntniskraft nicht hinreicht, bedarf es hier der Interpretation. Interpretieren heißt also, die Bedeutung eines Begriffs herauszufinden, dem im Geist des göttlichen Gesetzgebers bereits eine bestimmte Bedeutung zukommt. Da Vernunft und Wille beim göttlichen Gesetzgeber nicht auseinanderfallen und die Gesetze logisch notwendig sind, besteht hier kein Spielraum zur Rechtsänderung. Dem Interpreten kommt in diesem Fall keine eigene Kompetenz zu, vermeintliche Lücken zu füllen. Was im Verlauf der Geschichte als ein Wandel des Naturrechts erscheinen mag, betrifft nur die Art und Weise, dieses Recht zu erfassen, nicht aber das Recht für sich genommen. Für die Interpretation bedeutet das, daß dort, wo Rechtsprechung analysiert. Vgl. auch P. Koller: Theorie des Rechts (wie Anm. 1), S. 297ff., der ebenfalls recht genau die Grenzen juristischer Interpretation nach den Ursachen von Mehrdeutigkeiten untersucht. Es scheint mir jedoch keine bloß terminologische Fraget zu sein, ob man behauptet, alles bedürfe der Interpretation, oder nicht. Zwar gibt es einen Sinn von >Interpretierenverstanden< werden kann. Tatsächlich geht der Konflikt aber um das Verhältnis verschiedener Typen des Erkennens und um die Rolle, welche die Urteilskraft dabei spielt. Es scheint mir plausibel, auch beim Recht Formen des Erkennens, die kein Interpretieren sind, anzunehmen, etwa wenn Begriffe analysiert oder aus allgemeineren Rechtssätzen andere abgeleitet werden sollen oder überhaupt das logische Verhältnis verschiedener Rechtsvorschriften bestimmt werden soll - um nur einige Beispiele zu nennen. Daß bei der Beurteilung eines Einzelfalls die Urteilskraft und damit die Interpretation der Norm und der Situation immer ins Spiel kommt, ist - abgesehen von den »leichten FällenAequitas< en Aristoteles, Cicerön, Santo Tomäs y Suarez. - Estudio comparativo, in: Miscelänea Comillas 15 (1951), S. 2 3 7 - 2 7 9 . Rhonheimer, M.: Praktische Vernunft und Vernünftigkeit. Handlungstheorie bei Thomas von Aquin in ihrer Entstehung aus dem Problemkontext der aristotelischen Ethik, Berlin 1994. Schmitt, C.: Gesetz und Urteil, 1921, N D München 1969. Schnepf, R.: Derecho intemacional y soberanla en Francisco de Vitoria (Sobre la forma de la argumentaciön en las Relectiones Theologicae), in: Patristica et Mediaevalia XIII (1992), S. 85-106. Naturrecht und Geschichte bei Hugo Grotius. Ein methodologisches Problem rechtsphilosophischer Begründung, in: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 20 (1998), S. 1-14. Scholz, O.: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 1999. Schütrumpf, E.: Kritische Überlegungen zur Ontologie und Terminologie der aristotelischen Politik, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 6 (1981), S. 26-47. Sdzuj, R.: Historische Studien zur Interpretationsmethodologie der frühen Neuzeit, Würzburg 1997. Simonds, R.T.: Rational Individualism. The Perennial Philosophy of Legal Interpretation, Amsterdam (Atlanta) 1995. Specht, R.: Zur Kontroverse zwischen Suärez und Vasquez über den Grund der Verbindlichkeit von Gesetzen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie XLV (1959), S. 235-255. Über den Sinn des sogenannten Voluntarismus in der Gesetzestheorie des Suärez, in: FS Joseph Höffner (Jahrbuch des Instituts ftlr Christliche Sozialwissenschaften. 7/8.), Münster 1967, S. 247-256. Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehren, in: Naturrecht in der Kritik, hrg. v. F. Böckle u. E. W. Böckenförde, Mainz 1973, S. 3 6 - 6 5 . Naturgesetz und Bindung Gottes, in: Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, hrg. v. J. P. Beckmann, L. Honnefelder, G. Schrimpf u. G. Wieland, Hamburg 1996, S. 409-423. Stümer, W.: Natur und Gesellschaft im Denken des Hoch- und Spätmittelalters. Naturwissenschaftliche Kraftvorstellung und die Motivierung politischen Handelns in Texten vom 12. bis 14. Jahrhundert, Stuttgart 1975. Wieland, W.: Aporien der praktischen Vernunft, Frankfurt am Main 1989.

Ernesto Garzon Valdes (Mainz)

Die Wörter des Gesetzes und ihre Auslegung. Einige Thesen von Francisco Suärez

I. Wie schon H. L. A. Hart richtig festgestellt hat, geht es in der Rechtswissenschaft um Fragen, die sich ständig und immer wieder neu stellen.1 Meist hat das zur Folge, daß es für ein und dasselbe Problem im Laufe der Zeit ganz unterschiedliche Lösungvorschläge gibt. Weniger häufig ist der Fall, daß auch die Lösungen sich wiederholen. Und ganz besonders selten kommt es vor, daß sogar Autoren, die von unterschiedlichen philosophischen Positionen ausgehen, zu ein und derselben Lösung gelangen. Wenn eine solche Übereinstimmung zwischen Juristen vergangener Zeiten und heutigen Rechtstheoretikern auftritt, dann scheint dies zumindest auf den ersten Blick für die Aktualität der betreffenden Vordenker und für die Plausibilität der von ihnen vorgeschlagenen Lösung zu sprechen. Ein gutes Beispiel für diesen letzten Typ von Übereinstimmung bietet das Werk des spanischen Theologen und Juristen Francisco Suärez (15481617), mit dem ich mich im folgenden befassen will. Dabei werde ich mich allerdings ausschließlich auf das Problem der Auslegung des Gesetzes und ganz besonders auf die Rolle der Rechtsdoktrin bzw. -dogmatik konzentrieren. Mit der Darstellung der Suärezschen Thesen hoffe ich zeigen zu können, wie ähnlich seine Lösungsvorschläge denjenigen sind, die manche aktuellen Strömungen der Rechtstheorie vertreten.

II. Grundlage für Suärez' Theorie der Interpretation ist seine Auffassung von den Eigenschaften der Wörter des Gesetzes. Die Sprache, die der Gesetzgeber verwendet, ist demnach zunächst einmal die alltägliche oder natürliche Sprache. >Natürlich< soll hier allerdings nicht heißen, daß die Bedeutung der Wörter irgendwie mit der sogenannten >Natur der Sache< oder dem >Wesen der Dinge< in Beziehung stünde, so daß die Dinge selbst schon als Richtschnur oder Kriterium für die Bedeutung der Wörter dienen könnten. Diese ist nach Suärez vielmehr ganz willkürlich und ergibt sich durch die Etablierung von Konventionen:

Vgl. H. L. A. Hart: The Concept of Law, Oxford 1961, S. Iff.

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Ernesto Garzon Valdes

Erstere [die naturliche Bedeutung] wird nicht deshalb so genannt, weil die Bedeutung der Wörter der Natur entspränge - tatsächlich haben ja alle Wörter, die in menschlichen Gesetzen vorkommen, ihre Bedeutung durch freie Festsetzung erlangt - , sondern weil sie [...] von der einfachen ursprünglichen Festsetzung der Wörter herrührt.2

Ich will diese These von Suärez die >These der Entmythologisierung der Sprache< nennen. Er vermeidet damit von vornherein die großen begrifflichen Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn man davon ausgeht, daß Wörter jenseits der bloßen Konvention eine >wesentliche< Bedeutung haben - ein Irrtum, der gewöhnlich zur fruchtlosen Suche nach >WesenheitenNaturensachlogischen Strukturem und ähnlichem führt, für die es eine Fülle von Beispielen in der juristischen und philosophischen Literatur gibt.3 Die große Ähnlichkeit zwischen der These von Suärez und der von Rudolf Carnap über die »magische Auffassung der Sprache«4 liegt auf der Hand. Bei Carnap heißt es dazu: Many people hold a magical view of language, the view that there is a mysterious natural connection of some sort between certain words [...] and their meaning. The truth is, that it is only by historical accident, in the evolution of our culture, that the word >blue< has come to mean a certain color.5

Es gibt unter den >Wörtern des Gesetzes< jedoch auch technische oder, wie Suärez sie nennt, >zivile< Ausdrücke. Deren >natürliche< oder ursprüngliche Bedeutung ist dann eben diejenige, die das Recht festgelegt hat. Das ist z.B. der Fall bei rein juristischen Fachausdrücken wie >Verjährung< oder >usucapio< oder auch bei Wörtern der Alltagssprache, die im Recht eine technische Bedeutung erhalten, wie etwa im Falle des Wortes >Tod< im Sinne von >mors civilisNatur der Sache< vgl. E. Garzön Valdis: Derecho y Naturaleza de las Cosas. 2 Bde., Cördoba (Arg.) 1970. R. Carnap: The magic view of language, in: Philosophical Foundations of Physics, New York, London 1966, S. liSff. Ebd., S. 115. De legibus, Buch VI, Kap. I, 10.

Die Wörter des Gesetzes und ihre Auslegung

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dem, was Menschen vorher eingeführt hatten. Wenn es aber um einen Sprachgebrauch geht, der nur im Recht vorkommt, dann geht so eine Bedeutung in den zivilen [d.h.: rechtstechnischen, EGV] Gebrauch ein. 7

Worauf es also letztlich ankommt, ist diese gebräuchliche Bedeutungwahre< Bedeutung der Wörter des Gesetzes angeben zu wollen. (b) Wenn die Bedeutung der Wörter des Gesetzes - der gewöhnlichen wie der technischen - der Änderung durch den Sprachgebrauch unterliegt, dann ist sie also nicht statisch, sondern dynamisch. (c) Wenn die Bedeutung eines Wortes von seinem Gebrauch abhängt, dann genügt es nicht, das Wort allein zu betrachten, um sie zu erfassen. (d) Wenn das Gesetz größtenteils aus Wörtern der Alltagssprache besteht, dann ist es wichtig, die Eigenschaften dieser Sprache näher zu betrachten. Ich will zunächst die letzte dieser Schlußfolgerungen analysieren, werde weiter unten aber noch auf einige der anderen eingehen.

III. Wie die Wörter der normalen Sprache sind auch die der Sprache des Rechts mehrdeutig, d.h. sie können je nach Kontext verschiedene Bedeutungen oder Bedeutungsnuancen annehmen: Der Mensch ist so beschaffen, daß er das, was er denkt, fast nie so klar ausdrücken kann, daß nicht Mehrdeutigkeiten und Zweifel auftreten; und zudem sind menschliche Gesetze knapp und allgemein gehalten, und so treten besonders in ihrer Anwendung auf die verschiedenen Einzelfälle fortwährend Zweifel auf.9

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Ebd., Buch VI, Kap. I, 9. A. Ross: On Law und Justice, London 1958, S. 113. De legibus, Buch VI, Kap. I, 5.

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Ernesto Garzon Valdes

Im letzten Teil dieses Zitats spricht Suärez neben der Mehrdeutigkeit auch noch ein anderes Merkmal der Wörter des Gesetzes an: ihre Vagheit. In konkreten Fällen kann Unsicherheit darüber bestehen, ob ein bestimmtes Gesetz anwendbar ist oder nicht, da man wegen der unklaren Grenzen der Bedeutung nicht sicher sein kann, ob der Wortlaut des Gesetzes den fraglichen Fall umfaßt. Für Hart liegen solche Fälle in einer >Grauzone< (penumbra), Suärez nennt sie >zweifelhaftThese vom gerechten und vernünftigen Gesetzgeben genannt habe: die Wörter des Gesetzes müssen so aufgefaßt werden, daß der Wille des Gesetzgebers unangetastet bleibt, und dieser erläßt ja als solcher nur gerechte und vernünftige Gesetze. Suärez sagt dazu: Wenn eine Auslegung der Wörter in ihrer ursprünglichen Bedeutung der Absicht des Gesetzgebers Ungerechtigkeit oder etwas ahnlich absurdes unterstellen wUrde, dann muß man die Wörter in einer Bedeutung - auch wenn es nicht die eigentliche ist - auslegen, mit der das Gesetz vernünftig und gerecht wird, da j a vorausgesetzt wird, daß die Absicht des Gesetzgebers solcherart ist. 36

Suärez' Position bezüglich der Aufgabe des Interpreten läßt sich damit folgendermaßen zusammenfassen: (1) Der Gesetzgeber ist vernünftig und gerecht. Folglich ist auch das Gesetz als Ausdruck seines Willens gerecht und vernünftig. (2) Der Interpret muß dafür sorgen, daß sich diese These im Einzelfall bewahrheitet. Gelingt dies ohne größere Veränderung der eigentlichen, alltäglichen oder technischen Bedeutung der Wörter des Gesetzes, so hat die Auslegung deklarativen Charakter. (3) Erweist sich dagegen im Einzelfall die These als falsch, ist also das Gesetz in seiner buchstabengetreuen Anwendung auf einen Einzelfall ungerecht, absurd oder unnütz, dann muß man es korrigieren, indem man die Wörter (durch Erweiterung oder Einschränkung ihrer alltäglichen oder technischen Bedeutung) in einem uneigentlichen Sinne interpretiert, um die Gültigkeit des Gesetzes zu erhalten. Dies geschieht gerade, um sich nicht vom Geist des Gesetzgebers zu entfernen, »denn in diesem Fall drücken sie [die Wörter des Gesetzes] den Willen des Gesetzgebers nicht aus, wenn man sie in ihrem eigentlichen Sinn nimmt, sondern nur, wenn man ihren Sinn in einer gewissen Weise ändert«.37 (4) In der Formulierung neuer Versionen des Gesetzes zeigt sich die Klugheit und Fairness des Interpreten, d.h. die >epikeiaepikeia< benutzt hier Argumente, die an eine konsequentialistische Ethik erinnern.

VI. Der Gesetzgeber ist für Suärez offenbar nicht unbedingt ein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern ex definitione ein Wesen, dessen Willen oder Absicht notwendigerweise durch solche Merkmale wie Gerechtigkeit, Vernünftigkeit und Zweckmäßigkeit bestimmt sind. Trotzdem kann es, wie wir unter Punkt (3) des letzten Abschnitts gesehen haben, natürlich geschehen, daß in realen, konkreten Fällen diese Merkmale nicht vorliegen, sondern daß sich ein Gesetz als ungerecht, illusorisch oder absurd erweist. Faßt man die allgemeine These, die behauptet, daß das Gesetz immer vernünftig, gerecht und nützlich ist, als empirische These auf, so können konkrete Einzelfälle sie also durchaus - in moderner, Popperscher Terminologie gesagt - falsifizieren.40 Auf jeden Fall läßt sich die Gerechtigkeit, Vernünftigkeit und Nützlichkeit von Gesetzen41 nicht für alle möglichen Fälle im voraus verifizieren, denn das Gesetz ist allgemein, und es ist unmöglich, daß die allgemeine Bestimmung eines menschlichen Gesetzes in jedem Einzelfall so treffend ist, daß sie niemals versagt [...] folglich ist es unumgänglich, daß das menschliche Gesetz, das als allgemeines erlassen wird, in manchen Einzelfällen aufgrund der Änderung der Dinge, die sich in ihnen ergibt, nicht verbindlich ist.42

Gesetze werden nicht als Ergebnis induktiver Prozesse formuliert, bei denen alle möglichen Fälle bedacht werden, denn das wäre nach Suärez unmöglich, weil die Dinge, von denen die Gesetze handeln, unendlich vielen Änderungen und Zufällen unterworfen sind, die der menschliche Gesetzgeber nicht voraussehen kann; und selbst wenn er es konnte, könnte er nicht alle Eventualitäten angemessen formulieren; das würde

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41 42

Ebd., Buch VI, Kap. VII, 13. Für Suärez ist jedoch, wie schon gesagt, diese These im Grunde keine empirische, sondern eine begriffliche: Vorschriften, die ungerecht, unvernünftig oder absurd sind, sind für ihn keine >Gesetzeepikeia< ein Beispiel avant la lettre für die von Hare vorgeschlagene Anwendung der Popperschen Methode auf die normativen Wissenschaften zu sein.46

VII. Zieht man die zuletzt behandelten Thesen von Suärez in Betracht, also die These vom gerechten und vernünftigen Gesetzgeber und die These, daß es sich nicht vermeiden läßt, daß ein Gesetz im Einzelfall versagen (d.h. ungerecht, absurd oder trügerisch sein) kann, dann wird auch eine Behauptung von Suärez verständlich, die auf den ersten Blick seltsam, wenn nicht gar widersprüchlich zu Schlußfolgerung (a) aus Abschnitt II scheinen mag. Suärez behauptet nämlich, Hauptzweck der Rechtswissenschaft (verstanden als dogmatische Auslegung) sei es, den »wahren Sinn und die wahre Auslegung der menschlichen Gesetze darzulegen«.47 Wenn aber die Bedeutung der Wörter des Gesetzes willkürlich ist, da sie ja durch bloße Konvention bzw. durch den Sprachgebrauch festgelegt wird, dann kann man von einem >wahren< Sinn der Wörter des Gesetzes eigentlich nicht sprechen. Geht man jedoch davon aus, daß der Gesetzgeber aus logischen Gründen (nämlich aufgrund der Definition, die Suärez vorschlägt) ein Wesen ist, das 43 44 45 46

47

Ebd. Ebd. Vgl. R. M. Hare: Freedom und Reason, Oxford 1963. Dieses Thema ist in der hervorragenden weiter oben schon genannten Arbeit von C. Nino behandelt (Anm. 28), so daß ich hier nicht mehr dazu sagen will. De legibus, Buch VI, Kap. I, 5.

Die Wörter des Gesetzes und ihre

Auslegung

121

sich hinsichtlich der Gerechtigkeit, Nützlichkeit und Vernünftigkeit der Gesetze gar nicht irren kann, dann geht es, wenn im konkreten Einzelfall die Folgen ungerecht oder absurd sind, darum, die Gerechtigkeit wiederherzustellen, indem man dem Gesetz seinen wahren Sinn< gibt. Die >epikeia< korrigiert die Auslegung und gibt damit dem gefährdeten, >falsifizierten< oder >gescheiterten< Gesetz seine Geltung wieder. Und damit wird nun auch einsichtig, warum Suärez zu Beginn von Buch VI seiner Abhandlung De legibus kategorisch behaupten kann: »Jede Auslegung bedeutet Änderung.«48

VIII. Eingangs habe ich gesagt, daß man bei Francisco Suärez nicht nur eine Reihe immer wiederkehrender juristischer Fragen findet, sondern daß auch seine Art, diese Fragen zu beantworten, Ähnlichkeiten mit einigen zeitgenössischen Autoren aufweist. Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, diese Behauptung zu belegen. Allerdings muß man sich natürlich, wenn man ähnliche Lösungen vorlegt, auch mit ähnlichen Schwierigkeiten auseinandersetzen. Das gilt z.B. für die These, daß Geltung und Existenz eines Gesetzes analytisch äquivalente Begriffe sind (Suärez - Kelsen).49 Offenkundig ist auch, daß die Voraussetzung eines göttlichen Gesetzes als absolutes Kriterium der Gerechtigkeit jedem befremdlich erscheinen muß, der keine naturrechtliche Auffassung theologischer Art vertritt. Es mag jedoch weniger seltsam erscheinen, wenn man bedenkt, daß auch die moralischen Prinzipien dogmatisch als Verhaltenshypothesen anerkannt werden, und wenn man >göttliches Gesetz« oder >Naturgesetz< durch den Ausdruck >moralisches Prinzip< ersetzt. Darüber hinaus ist es ja keineswegs falsch zu behaupten, daß die normative Grundlage der Geltung eines Systems von Verhaltensregeln, seien diese moralischer oder rechtlicher Art, immer dogmatisch postuliert wird. Die Behauptung vom Vorschriftscharakter und die Korrekturfunktion, die Suärez der Auslegung beimißt, scheinen im übrigen eine gute Beschreibung der Aufgabe zu sein, die die Rechtsdogmatik tatsächlich erfüllt. Der Interpret >optimiert< das Gesetz, indem er es nicht nur im zeitlichen, sondern im aristotelischen Sinne des Wortes >aktualisiertGrundrechte< verwendet, weil sie verfassungsmäßig verankert und gerichtlich durchsetzbar sind. Es handelt sich bei ihnen um diejenigen Rechte, die seit der Zeit der Englischen Revolution im 17. Jahrhundert, den Amerikanischen Bills of rights und der Französischen Revolution als Elemente der jeweiligen staatlichen Verfassungsordnungen erscheinen. Als Grundrechte

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werden also jene grundlegenden Bestimmungen über die Rechtsstellung der Einzelpersonen bezeichnet, die basierend auf der jeweiligen Verfassungsordnung mit unmittelbarer Verpflichtungskraft für das staatliche Handeln versehen und vor einem unabhängigen Gericht angerufen werden können. Grundrechte sind somit im staatlichen Recht positivierte Menschenrechte. Im folgenden soll anhand von zwei Beispielen aufgezeigt werden, inwiefern die Ideen der Spanischen Spätscholastiker auch heute weiterhin nachwirken können. Die beiden Beispiele mögen deutlich machen, daß die Vorstellungen der Spanischen Spätscholastiker keine erratischen Blöcke einer die Gegenwart nicht mehr berührenden, vergangenen Epoche darstellen, sondern durchaus noch immer als Ideenreservoir zur Lösung aktueller Problemstellungen zu dienen vermögen. Wer heute den Satz bei Vitoria liest »totus Orbis, qui aliquo modo est una respublica« (Die Erde ist gewissermaßen ein einziges politisches Gemeinwesen),1 wird sich wohl durchaus zu Recht an die aktuelle Diskussion um Stichwörter wie Völkergemeinschaft, Weltethos, Universalität der Menschenrechte und Völkerrecht erinnern; um so mehr, als heute im Zusammenhang mit der Globalisierung - so etwa vom Soziologen Ulrich Beck - von einer sich immer enger zusammenschließenden Weltgesellschaft gesprochen wird.2 Namentlich die Globalisierung der Ökonomie führt ein neues, utilitaristisch ausgerichtetes und weltumspannend geltendes finales Ethos ein, dem ein universell geltendes Gerechtigkeitsethos, wie es die Spanischen Spätscholastiker vertreten haben, gegenübergestellt werden könnte, ja sogar gegenübergestellt werden muß. Zwar begründet etwa Vitoria seine Wirtschaftsethik durchaus auch zweckrational und tendenziell handelsfreundlich. Wie Daniel Deckers in seiner historisch-kritischen Untersuchung über Vitorias Gerechtigkeitslehre3 nachweist, bleibt Vitoria aber dabei seiner universellen Gerechtigkeitsidee treu. Gemäß den wirtschaftsethischen Vorstellungen von Vitoria darf denn auch universelle Ökonomie nicht Selbstzweck sein; die Weltwirtschaft muß vielmehr stets auf das Wohl der gesamten durch Kommunikation verbundenen Weltgemeinschaft hin orientiert bleiben.4 Auch die kritische Funktion der an der Ratio orientierten Ethik gegenüber dem positiven Recht in Staat und Kirche, wie sie von den Spanischen Spätscholastikern vertreten wurde, ist immer wieder neu zu thematisieren

2 3

4

Francisco de Vitoria: Über die staatliche Gewalt. De Potestate Civili. Eingeleitet und Ubersetzt von Robert Schnepf, Berlin 1992, S. 124. Ulrich Beck: Was ist Globalisierung?, Frankfurt am Main 1997. Daniel Deckers: Gerechtigkeit und Recht. Eine historisch-kritische Untersuchung der Gerechtigkeitsehre des Francisco de Vitoria (1483-1546), Freiburg/Schweiz 1991, S. 254ff. So bildet etwa ftlr Vitoria die utilitas reipublicae das entscheidende Kriterium für das Zinsnehmen bzw. das Zinsverbot (D. Deckers: Gerechtigkeit und Recht (wie Anm. 3), S. 254ff.).

Naturrecht und Menschenrecht

125

und zu reflektieren: So gilt die Idee der Gerechtigkeit - anders und modern ausgedrückt der Menschenrechte - universell, auch wenn sie auf die unterschiedlichsten kulturellen Kontexte trifft. Menschenrechte wirken universell; durch ihre Kontextualisierung in unterschiedliche Kulturen werden sie nicht etwa aufgehoben. Es geht vielmehr - wie Mariano Delgado im Zusammenhang mit der lascasianischen Missionstheologie feststellt - um eine »behutsame Universalisierung«5 des Menschenrechtsethos, um dessen umsichtige Inkulturierung in den jeweiligen gesellschaftlichen und rechtlichen Kontext. Dies gilt nicht nur für den staatlichen, sondern namentlich auch für den kirchlichen Bereich und damit auch für das kanonische Recht. Dieses kann zumal angesichts der auch von der Spanischen Spätscholastik aufgegriffenen Maxime >gratia supponit naturam, non tollit< - nicht vom universell geltenden Gerechtigkeitsethos bzw. von den Menschenrechten abgeschottet werden, auch wenn sich die Menschenrechte in der Kirche und ihrem Recht auf ihre eigene Art kontextualisieren. Vielleicht liegt gerade in diesem scholastischen Ansatz der Schlüssel zur Lösung dringender Gegenwartsprobleme im Recht der römisch-katholischen Kirche.

1.

Aspekte der Wirkungsgeschichte der spanischen Spätscholastik bei der Entwicklung der Menschenrechte

1.1. Der Stand der Menschenrechtsentwicklung im ausgehenden Mittelalter Zu Beginn wurde auf die Gefahr des Fehlschlusses hingewiesen, wonach sich kein nennenswerter Beitrag der Spätscholastiker zu den Grund- und Menschenrechten wahrnehmen ließe. Dies deshalb, weil bei diesen Rechten seit der Neuzeit, namentlich der Amerikanischen und Französischen Revolution, von einem Verständnis ausgegangen wird, welches die individuelle Autonomie des Einzelnen betont und deren eigentlicher Adressat der Staat im modernen Sinne ist. So ist zwar die Menschenrechtsidee bereits vorher in Ansätzen geboren, sie hat aber nirgends konzeptionell oder praktischpolitisch in einer Weise Gestalt angenommen, die den Grundrechten des modernen freiheitlichen Staatswesens vergleichbar wäre, zumal der Adressat der Menschenrechte - der moderne, neuzeitliche Staat mit seinem auf dem Grundsatz der Souveränität beruhenden Gewaltmonopol - erst im Entstehen begriffen war. Demgegenüber lieferte die mittelalterliche scholastische Einordnung des Menschen in ein Ordnungsverständnis, in dem Mensch und Staat, Individualität und Sozialität zu einer abgewogenen Ganzheit vereinigt sind, kein weltanschauliches Konzept, das den Einzelnen gegen Staat und Gesellschaft Mariano Delgado, in: Bartolomi de Las Casas: Werkauswahl, hrg. v. Mariano Delgado. Band 1, Paderborn 1994, S. 51.

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abschirmte: Das hohe Mittelalter hat noch keineswegs eine klare Abgrenzung jener beiden Wirklichkeitsebenen Natur und Gnade, Welt und Geist, Staat und Kirche vollzogen. Erst im Verlaufe des ausgehenden Mittelalters erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und sämtlicher Dinge dieser Welt überhaupt. Daneben erhob sich mit aller Macht das Subjektive. Der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches, wie Jakob Burckhardt diese geistige Wendung zum Individualismus der Renaissance beschreibt.6 Es setzte sich ein Menschenbild durch, für das nicht mehr der Glaube, sondern vielmehr die vernünftige, ethische Natur des Menschen konstitutiv ist.7 Den entscheidenden Wendepunkt in der Bewertung der natürlichen Wirklichkeit stellte dabei der aristotelische Thomismus dar: Unter aristotelischem Einfluß setzte sich zum ersten Mal die Anerkennung der (relativen) Selbständigkeit des Staates als einer positiv zu beurteilenden, vollkommen natürlichen Gesellschaftsform durch. Für Thomas von Aquin sind Staat und Kirche eigenständige Gebilde, welche jeweils einen eigenen Ursprung, eigene Gewalten und eigene Pflichten haben. Herrschaft und Staat gründen ontologisch in der rationalen und sozialen Natur des Menschen.9 Die Trennung der Bereiche von Kirche und Staat, Papst und Kaiser, die sich mit dem Thomismus anbahnte, stand also in einem festen Zusammenhang mit der Emanzipation des weltlichen, natürlichen Elements überhaupt, oder, anthropologisch verstanden, mit einer Neubewertung des natürlichen Seins des Menschen, getrennt von seiner >Fidelitasgottgewollte< Ordnung. Jakob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien (1860), Bern 1943, S. 145. Parallel dazu begannen sich gegen Ende des 15. Jahrhunderts die ersten Nationalstaaten herauszubilden. Es entwickelte sich ein neues politisches Verständnis, das die verschiedenen Nationalitäten hinter ihren herrschenden Dynastien verschmolz: den Tudors in England, den Valois in Frankreich, den Trastämares in Spanien. Gefördert wurde diese Entwicklung später durch Jean Bodins Souveränitätslehre, wonach der Monarch unabhängig von äußeren und inneren Mächten herrscht und die Friedensordnung garantiert. Im Verlauf der Anfechtung der feudalen Gewalten und der allmählichen Nivellierung der vielfach abgestuften ständischen Gesellschaft in eine staatsbürgerliche wurde in Spanien ebenso wie in Frankreich oder in der habsburgischen Monarchie der Gedanke des einheitlichen, keine inneren Spaltungen aufweisenden, unteilbaren Staates unter einem absoluten Herrscher realisiert. F. Bleienstein: Johannes Quidort von Paris. Über königliche und päpstliche Gewalt, Stuttgart 1969, S. 16; Jozef Punt: Die Idee der Menschenrechte, Paderborn 1987, S. 41. Thomas von Aquin: Summa Theologica II 2, q. 72 art. 4; De reg. princ. I, 1.

Naturrecht und Menschenrecht

1.2.

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Die Ausgangslage der Spätscholastiker bei Thomas von Aquin

1.2.1. Zur Geschlossenheit des mittelalterlichen Orbis christianus Zu Beginn wurde bereits die Geschlossenheit des Orbis christianus beschrieben: Nichts lag dem Mittelalter ferner als ein liberaler Freiheitsbegriff etwa nach den Ideen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Jedem war auf der Pyramide der mittelalterlichen Herrschaftsstände ein fester Platz und eine besondere Aufgabe zugewiesen. Von einer allgemeinen Gleichheit konnte keine Rede sein: Von der Spitze der Herrschaftspyramide, die »an den Himmel selber« reichte,10 führten in wohlgegliederter Über- und Unterordnung zahlreiche Stufen hinab. Das christlich-kirchliche Denken schrieb aber den abhängigen Ständen nicht einfach eine sklavisch blinde Unterwerfung vor, sondern wies vielmehr darauf hin, warum die Struktur der Gesellschaft einer Pyramide gleichen müsse. Es zeigte den einzelnen Ständen, daß sie nicht einfach untergeordnet, sondern in den Gesellschaftsbau organisch eingegliedert und zu einer großen Leistungsgemeinschaft zusammengeschlossen seien. Wesentlich anders stand es allerdings um die Freiheit und Bindung all jener, die außerhalb der Gemeinschaft des Orbis christianus lebten. Dem Christentum des Mittelalters wohnte eine ungeheure gemeinschaftsbildende Kraft inne. Somit konnte es nicht ausbleiben, daß alle, die außerhalb dieser Glaubensgemeinschaft standen oder sich wieder von ihr trennten, als >Fremdkörper< empfunden und auch so behandelt wurden. Dabei kam man jedoch nicht umhin, gewisse Gruppen Außenstehender resp. Ungläubiger zu unterscheiden. Die Umschreibung des Ungläubigen-Begriffes erfolgte zunächst mit einer geradezu bestechenden Klarheit: »Jeder, der nicht den rechten Glauben hat, ist ein Ungläubiger.« So die unmißverständliche Definition Thomas von Aquins in der Summa Theological Und dennoch befriedigte dieses pauschale Urteil nicht, konnte man doch nicht einfach von verschiedenen Sekten und Religionen ausgehen, zumal - wie Thomas schreibt - der einen Wahrheit unbegrenzt viele Irrtümer entgegentreten. Thomas wählte deshalb die Art des Gegensatzes zum Glauben als Einteilungsgrund: Man kann ungläubig sein, weil man nie etwas von der christlichen Wahrheit gehört hat, wie die Heiden; man kann aber auch den empfangenen Glauben wieder verwerfen, wie die Ketzer, die der Verheißung untreu geworden sind. Die thomistische Einteilung von Heiden, Juden und Ketzern hat sich praktisch bei allen auf Thomas folgenden Scholastikern erhalten. Daher muß zunächst kurz auf die Haltung der rechtgläubigem christlichen Glaubensgemeinschaft zur Gruppe der Ketzer eingegangen werden, denn diese Frage

10 11

Otto von Gierke: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft, Berlin 1868, S. 9. Thomas von Aquin: Summa Theologica II 2, q. 10 art. 1 .c.

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steht in einem engen inneren Zusammenhang mit dem Heidenproblem und der Kolonialethik, die uns nachfolgend noch beschäftigen wird. Zu Beginn der Kirchengeschichte wurde die Häresie noch nicht mit der Verbissenheit, dem Eifer und der Härte nachfolgender Vertreter der kirchlichen Orthodoxie bekämpft. Erst Augustin hat den physischen Zwang zur Annahme des wahren Glaubens gegenüber Häretikern befürwortet. Diese Haltung Augustins ist von Thomas übernommen und in sein theologisches System eingefügt worden. Zwar lehnte Thomas den Zwang zur Annahme des christlichen Glaubens gegenüber Heiden und Juden ab, befürwortete hingegen die Anwendung von Zwang zur Erfüllung dessen, was Häretiker einst bei der Übernahme des Glaubens versprochen hatten.12 Thomas ging sogar soweit, daß er zum Schutz der Rechtgläubigen die Überführung der Häretiker in die Hände des weltlichen Richters zwecks Vollzugs der Todesstrafe zuließ.13 Thomas greift hier also auf die staatliche Autorität zurück. Nach ihm verdrängt die im Evangelium geoffenbarte christliche Botschaft die vorgegebene natürliche Ordnung nicht. Die Gnade Gottes setzt vielmehr die natürliche Ordnung voraus und ist auf deren Überhöhung und Vollendung gerichtet. Für Thomas sind zwar insofern - wie bereits eingangs erwähnt Staat und Kirche zwei eigenständige Gebilde, wobei der Staat für die diesseitige Glückseligkeit zu sorgen hat und die Kirche für die jenseitige zuständig ist;14 deren Eigenständigkeit bleibt aber dennoch unverletzt, auch wenn die Staatsordnung den Menschen zur Gerechtigkeit hinführen soll und letztlich im Dienst des geistigen Wohls des Menschen steht.15 Herrschaft und Staat gründen ontologisch in der rationalen und sozialen Natur des Menschen und sind nicht etwa eine Folge des Sündenfalls. Denn selbst ohne Erbschuld - »im Urzustand« - habe es, so Thomas, entsprechend der gesell12

Ebd., q. 10, 8c.

13

14

15

Ebd., q. 11,3; vgl. dazu auch 2. Petr. 2, 21-22. Die thomistische Haltung gegenüber den Häretikern ist nicht Theorie geblieben. Seit dem 11. Jahrhundert wurden regelmäßig Ketzer hingerichtet, und die Ausbildung des Inquisitionsverfahrens im kirchlichen Prozeßrecht durch Papst Innozenz III. zeigt, daß die Kirche bei der Verfolgung von Häretikern bereit war, auch brutale Foltermethoden anzuwenden. Dies fand seine kirchenrechtliche Grundlage im Decretum Gratiani und in den übrigen Büchern des Corpus Iuris Canonici, wo ausdrücklich festgehalten wurde, daß Häretiker auch gegen ihren Willen zu ihrem eigenen Heil zu zwingen sind. Als Eingriffe in die körperliche Integrität sah das kanonische Recht jedoch >nur< die Kerkerstrafe vor. Nach dem Grundsatz >EccIesia non sitit sanguinem< durfte die Kirche die Todesstrafe nicht direkt anwenden, sondern Uberantwortete die hartnäckigen Häretiker dem Staat, der diese als Hochverräter zum Tode verurteilte, um nicht selber kirchliche Strafmaßnahmen auf sich zu ziehen. Thomas von Aquin: De reg. princ. I, 14; zum aristotelisch-thomistischen Staatsbegriff siehe auch G. Manser: Angewandtes Naturrecht, Freiburg 1947, S. 142ff. J. Punt: Idee der Menschenrechte (wie Anm. 8), S. 41. Denn nach Thomas ist »die Herrschaft eingeführt nach dem Recht der Volker, welches menschliches Recht ist; die Unterscheidung der Gläubigen und Ungläubigen aber nach göttlichem Recht, durch welches das menschliche Recht nicht aufgehoben wird«. (Thomas von Aquin: Summa Theologica II 2, q. 12,2).

Naturrecht und Menschenrecht

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schaftlichen Natur des Menschen familiäre und staatliche Unterordnung gegeben. 16 Für die Entwicklung der Menschenrechte leistete Thomas hiermit zwar eine wesentliche gedankliche Vorarbeit, indem er die Natur des Menschen nicht allein von der Gnade Gottes her - also theonom - bestimmt, sondern ihr eine Eigenständigkeit zuspricht und ihre Autonomie grundsätzlich anerkennt, ohne zugleich das christliche Element zu verdrängen. Dennoch ist die thomistische Konzeption noch immer tief eingebettet in der mittelalterlichen Ordo-Idee, und so geht Thomas nur von einer bedingten Autonomie des Menschen aus, die ihre letzte Sinnbestimmung in der christlichen Theonomie findet.

1.2.2. Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Sklaverei Den neuzeitlichen Gedanken der Befreiung des Menschen aus menschenunwürdigen Abhängigkeitsverhältnissen kennt Thomas demzufolge kaum, seine Stellungnahme zur Sklaverei macht dies deutlich: Wie Aristoteles betrachtet auch Thomas den Menschen als politisches Lebewesen, das seiner Natur nach auf die Geselligkeit in Familie, Gemeinde und Staat bezogen ist. Nach Thomas verwirklicht sich somit der Mensch nicht für sich allein, sondern im staatlich-gesellschaftlichen Kollektiv. Menschliche Freiheit ist bei Thomas im Lichte dieses Eingebundenseins des Menschen in Staat und Gesellschaft zu interpretieren.17 Deren Gesetze (leges humanes vel positivae) gelten nach Thomas als geschichtliches und infolgedessen vergängliches Recht, das grundsätzlich abänderlich ist, selbst wenn es mit dem höheren, ewig und überall geltenden Naturgesetz (lex naturalis) im Einklang steht. Diesen wandelbaren, menschlichen Gesetzen, die von der staatlichen Autorität festgesetzt werden, ordnet Thomas auch die Sklaverei zu, die er nicht grundsätzlich verwirft. Zur Begründung verweist er im wesentlichen auf die aristotelische Rechtfertigung der Sklaverei, wonach es Menschen gäbe, die aufgrund ihrer verstandesmäßigen Schwäche von Natur aus zum Sklavenstand bestimmt seien. Diese Anschauung des Thomas hat zusammen mit seiner Lehre, »daß Kriege gegen Ungläubige zulässig seien, um sie an Gotteslästerung, schlechter Beeinflussung oder Verfolgung der Rechtgläubigen zu hindern, [...] später gewichtige Argumente für die Rechtfertigung der Kolonialkriege geliefert«. 18

16 17

18

Thomas von Aquin: Summa Theologica I, q. 96, 4. Es erscheint aber ftlr die mittelalterliche Gesellschaft, in der Thomas lebte, bemerkenswert, daß er dem Gewissen des einzelnen Menschen großes Gewicht beimißt. Thomas geht sogar so weit, daß er dem schuldlos irrenden Gewissen verpflichtende Kraft zuspricht und es als Sünde bezeichnet, wenn jemand das Böse, das er in seinem Gewissen ohne Schuld für gut befindet, nicht tut. Freilich konnte sich bezüglich des wahren christlichen Glaubens nur der Nichtchrist schuldlos irren. Hans Welzel: Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, Göttingen 4 1962, S. 66.

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1.2.3. Die allgemeine Beurteilung der Heidenstaaten im Mittelalter Von den außerhalb der Gemeinschaft des Orbis christianus lebenden Häretikern war bereits die Rede, wie aber sollten nun - angesichts der Intoleranz der mittelalterlichen Christenheit gegen ihre eigenen, abtrünnigen Glieder die Heiden behandelt werden? Wurde der Krieg innerhalb des Orbis christianus grundsätzlich noch als Brudermord verabscheut, so wurde der Kampf gegen die feindselig gesinnten Heidenvölker im allgemeinen als etwas durchaus Normales angesehen. Damit gelangen wir zwangsläufig zur Frage, wie der Orbis christianus mit den unterworfenen Ungläubigen verfuhr. Was sollte etwa mit den Angehörigen der unabhängigen Heidenvölker geschehen, die im Kriegsfall in die Gewalt der Christen gelangten? Für die Christen jener Tage war Heidentum und Barbarentum ein und dasselbe. Dennoch bemühte man sich, auch in den Heidenbegriff eine gewisse Gliederung zu bringen. Augustinus Triumphus, Schüler von Thomas, meinte beispielsweise um das Jahr 1320, es sei doch ein Unterschied, ob die Heiden Untertanen christlicher Fürsten seien - gemeint waren die Mauren in Kastilien und Aragonien - oder ob sie von ihren eigenen Königen oder Sultanen regiert würden. In diesem Fall seien sie unabhängig, da alle Gewalt von Gott stamme. Eine für die spanische Kolonialethik entscheidende Einteilung findet sich beim großen Thomas-Interpreten Cajetanus,19 der die damalige Lehrentwicklung abschließend zusammenfaßte und dessen Dreiteilung wegen ihrer zeitnahen Formulierung im 16. Jahrhundert häufig wiederholt worden ist. Cajetanus faßt Juden, Häretiker und Mauren zusammen. Diese erste Gruppe von Ungläubigen, so führt er aus, sei tatsächlich und rechtlich den christlichen Fürsten unterworfen, soweit sie in deren Territorien lebten. Gegen sie dürften zugunsten des rechten Glaubens Gesetze erlassen werden. Die zweite Gruppe der Ungläubigen sei jene, die in ehemals christlichen, nunmehr aber verlorenen Gebieten lebte. Diese müßte eigentlich ebenfalls unter christlicher Herrschaft stehen, sei aber faktisch unabhängig, ja sogar Feind der Christenheit. Die dritte Gruppe Ungläubiger sei der Christenheit weder faktisch noch rechtlich Untertan: Cajetanus meint damit die Eingeborenen jener Länder, die niemals ein Teil des Römischen Imperiums gewesen sind. Auch Vitoria und nach ihm Soto benutzten in der Folge die Dreiteilung Cajetans, und später Schloß sich auch Las Casas dieser Einteilung an. Es wurden im Anschluß an jene Dreiteilung diverse Theorien entwickelt, wie die Haltung zu den Heidenvölkern, namentlich zu den friedfertigen, eigenständigen heidnischen Staaten zu kennzeichnen sei. Dabei reichten die Auffassungen von einem Ende des Spektrums zum anderen: Während einige Autoren namentlich die freundlich gesinnten heidnischen Staaten als eigen19

Thomas de Vio (1469-1534), genannt Cajetanus, leitete mit seinem Hauptwerk, dem Kommentar zur Summa Theologica des Thomas, weitreichende Reformen im Dominikanerorden ein.

Naturrecht und Menschenrecht

131

ständige und gleichberechtigte Gebilde anerkannten, vertraten manche päpstliche und kaiserliche Schriftsteller die Auffassung, daß jedem heidnischen Staat die Daseinsberechtigung abzusprechen sei. Eine Ansicht, die sich in der kolonialethischen Diskussion des 16. Jahrhunderts verhängnisvoll auswirken sollte, denn hier konnten, wie nachfolgend noch auszuführen sein wird, die Theorien über die Stellung der Heidenvölker nicht unbeachtet bleiben. Zunächst kamen aber - trotz der andauernden Kriege - nur wenige Angehörige unabhängiger Heidenvölker in die Gewalt der Christen. Noch bestand höchstens ein spekulatives, rein theoretisch begründetes ethisches Interesse an den menschlichen, kulturellen und rechtlichen Problemen jener >FremdkörperStand< der abhängigen Bauern: Der hörige oder leibeigene >gemeine Mann< wurde als Träger lebenswichtiger Aufgaben in den Orbis christianus, wenn auch an unterster Stelle, eingegliedert. Es gab zwar stets christliche und heidnische Sklaven, aber wirtschaftlich waren sie fast bedeutungslos und standen, wie erwähnt, außerhalb der Sozialordnung.

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Amerika bestehenden Reiche der Azteken, der Mayas, Chibchas und Inkas zu unterwerfen. Waren die spanischen Eroberer überhaupt berechtigt, diese Völker zu überfallen? Durften sie die indianische Bevölkerung zu Sklaven machen? Durften sie wenigstens die Kriegsgefangenen versklaven? Oder waren diese Kriegszüge nichts anderes als Ausdruck der höheren Mission, der Verpflichtung der Heilsbringung und der Pflicht, die Eingeborenen zu höherer Kultur zu erziehen? Der Anstoß zur ethischen Auseinandersetzung mit den menschlichen, kulturellen und rechtlichen Problemen, die sich aus der Kolonisation >Westindiens< ergaben, entsprang also nicht theoretischem Interesse, sondern war Folge praktischer pastoraler Probleme der Missionare, die seit 1502 in >Westindien< die Aufgaben der Betreuung der Spanier und der Missionierung der Indios übernommen hatten. Die Missionare äußerten große Bedenken gegenüber dem Vorgehen der Konquistadoren und Siedler. Ihr Protest gegen die menschenunwürdige Behandlung der indianischen Urbevölkerung führte zwar bereits 1512 zur ersten gesetzlichen Verankerung einzelner wesentlicher Rechtsnormen zum Schutz der Arbeits- und Lebensverhältnisse der Indios.21 Es zeigte sich aber immer stärker die Notwendigkeit, die neu erworbenen Kolonialvölker in ein einheitliches Recht - in ein Völkerrecht im eigentlichen Sinne - einzubeziehen.

1.3.2. Die naturrechtliche und moralphilosophische Diskussion an der Schule von Salamanca Vor dem Hintergrund dieser kolonialethischen Probleme eröffnete sich an der theologischen Schule von Salamanca eine bedeutende Diskussion über naturrechtliche und ethische Fragestellungen. Dabei erfolgte eine Aufnahme und Weiterentwicklung der thomistischen Naturrechtslehre durch die spanische Spätscholastik, insbesondere durch Francisco de Vitoria, Gabriel Vasquez und Francisco Suärez, die wesentlich zur Entwicklung einer deduktiven Moralwissenschaft beigetragen haben.22 Theologiegeschichtlich ausschlaggebend waren zunächst die Ansätze von Suärez, der sich nicht gleich entschieden wie Vitoria und Vasquez vom Voluntarismus abgewandt hatte, sondern zunächst einen Kompromiß vorschlug, indem er den »Verstandesakt, der im Bereich des Sittlichen über Gutheit oder Schlechtigkeit einer Handlung urteilt«, als »Signifikation des Willens Gottes und darum bindend«23 interpretiert. Trotz dieser - etwa im 21

22

Joseph Höflher: Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im goldenen Zeitalter, Trier 2 1969, S. 194. Franz Furger u. Cornelia Strobel-Nepple: Menschenrechte und katholische Soziallehre, Freiburg/Schweiz 1985, S. 105. J. M. Galparsoro Zurutuza: Die vernunftbegabte Natur, Norm des Sittlichen und Grund der Sollensforderung. Systematische Untersuchung der Naturrechtsethik Gabriel Vasquez', Bonn 1972, S. 189.

Naturrecht und Menschenrecht

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Vergleich zu Vasquez - spürbaren »behutsamen Retheologisierung der profanen Naturrechtslehre« 24 vertrat dann auch Suärez, wenn auch zurückhaltend, die Auffassung, daß das Naturrecht aus sich selbst heraus erkennbar sei, und faßte diese (bereits früher bei Hugo von St. Viktor formulierte) Lehrtradition in seiner Schrift De legibus et legislatore deo von 1619 folgendermaßen zusammen: Das Gebot der Vernunft besäße selbst dann Gültigkeit, »wenn es Gott nicht gäbe, oder wenn er die Vernunft nicht gebrauchte, oder wenn er nicht richtig über die Dinge urteilte, denn die Qualität von Handlungen als gut oder böse existiere in den Dingen selbst«.25 Noch deutlicher ist demgegenüber Vitoria: Das Naturrecht sei »das Recht, das notwendig gilt, d.h. unabhängig von irgendeinem Willen«. 26 Gabriel Vasquez führt diesen Ansatz - die Tendenz, das Naturgesetz so weit als möglich auszudehnen - weiter und interpretiert »die vernunftbegabte Natur des Menschen an sich« als das Naturgesetz. Vasquez beurteilt die menschlichen Akte in der Folge danach, ob diese Akte ihrem Wesen nach mit dieser (metaphysischen) Natur des Menschen übereinstimmen oder nicht. »Die menschliche Natur in ihrem objektiven An-sich-Sein ist nun oberste Norm alles Sittlichen und letzter Verpflichtungsgrund für das menschliche Handeln.« 27 Zwar wurde bei Vasquez die menschliche Vernunftnatur nur in ihrer theonomen Verankerung als sinnvoll angesehen, man kann aber wohl zu Recht mit Welzel sagen, Vasquez habe »das Naturrecht von seiner theonomen Basis so weit gelöst, daß es zu seiner völligen Säkularisierung im Grunde keines weiteren Schrittes mehr bedurfte«. 28 Die rationalistische Struktur des Naturrechts wurde also durch die Spätscholastiker erheblich verstärkt: Das Naturrecht ist nicht mehr bloß die von der menschlichen Vernunft erkannte und auf ihre sittliche Relevanz hin beurteilte Wirklichkeit, das dann aus seiner schöpfungstheologisch begründeten Bindung auch ethische Geltung beanspruchen kann, sondern die aus direkter Einsicht gewonnene Erkenntnis der vorgegebenen Natur des Menschen an sich.29 Hatte die Naturrechtslehre schon bei den spanischen Or24 25

26

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28 29

Ernst Reibstein: Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, Karlsruhe 1955, S. 57. F. Suärez: De legibus et legislatore deo, in: ders.: Opera omnia. Bd. 5, Paris 1956, II, c. 6, n. 3; zit. nach Wolfgang Huber: Gerechtigkeit und Recht: Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, S. 31. F. Furger u. C. Strobel-Nepple: Menschenrechte und katholische Soziallehre (wie Anm. 22), S. 105. J. Th. C. Arntz: Die Entwicklung des naturrechtlichen Denkens innerhalb des Thomismus, in: Das Naturrecht im Disput, hrg. v. F. Böckle, Düsseldorf 1966, S. 87-120, S. 104; siehe dazu auch H. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 18), S. 96: »Weder Gottes Wille, noch Gottes Vernunft ist der erste Maßstab für Gut und Böse, sondern etwas, was beiden - Wille und Vernunft - vorgelagert ist (quid prius), nämlich die Natur der Dinge selbst.« H. Welzel: Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (wie Anm. 18), S. 97. F. Furger u. C. Strobel-Nepple: Menschenrechte und katholische Soziallehre (wie Anm. 22), S. 106.

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densleuten, die als Theologen die Zeitgenossen der protestantischen Reformatoren waren, ein überkonfessionelles, menschliches Anliegen, so hat der Jurist Vasquez dieses Anliegen noch eindeutiger von der Theologie unterschieden, so daß seine eigenständige juristische Moralphilosophie eine rein weltliche Systematisierung erhielt. Und obwohl die kirchliche Moraltheologie aufgrund der spätscholastischen Verständnisverschiebung hin zu einer Objektivierung des Naturgesetzes einen gewissen ethischen Immobilismus bewirkte (sobald das Naturgesetz als im metaphysischen Wesen des Menschen gründend betrachtet wird, setzt dies erst einmal eine metaphysische Erkenntnis des Wesens des Menschen voraus), schlang der Naturrechtsgedanke ein so enges Band um Theologen und Juristen, daß beide als Vertreter völlig identischer Interessen betrachtet worden sind, nämlich der neuzeitlichen Völkerrechtslehre.

1.3.3. Die völkerrechtliche Dimension der Menschenrechte Für die Entwicklung der Menschenrechte von positiver praktischer Bedeutung waren im Rahmen des Einbezugs der spätscholastischen Naturrechtslehre insbesondere die völkerrechtlichen Ansätze, die Vitoria aus dem >ius gentium< entwickelte und in die ethische Diskussion über das Problem der Legitimierung der Eroberung der Neuen Welt einbrachte.30 Vitoria vertrat das Prinzip der Gleichheit von Spaniern und Eingeborenen, welches er mit der allgemeinen wesenhaften Gleichheit und Gleichberechtigung der Menschen begründete. Er bestand in seinen Relectiones auf der Universalität des Naturrechts31 und führte dazu aus: »Der Unglaube hebt weder das Naturrecht noch das menschliche Recht auf; das Eigentum aber gehört zum Naturrecht oder zum menschlichen Recht. Also kann durch Unglauben nichts verloren gehen.«32 Damit nahm Vitoria auch die Überzeugung des Thomas von Aquin wieder auf, wonach »nichts, was nach dem natürlichen Gesetz erlaubt ist, vom Evangelium verboten wird« (Fides naturam non tollit, sed perficit).33

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Vgl. dazu D. Deckers: Gerechtigkeit und Recht (wie Anm. 3), S. 342ff. Der alte hellenische Gedanke einer politischen Menschheitseinheit in demokratischer Form, den die Stoiker in der Idee des Weltbürgertums aufgenommen haben, fand in dieser Zeit des aufsteigenden territorialstaatlichen Absolutismus erneute Beachtung. Das weitergreifende naturrechtliche Postulat der demokratischen Gleichheit aller Menschen findet seine ersten Ansätze bei Vitoria, wenn er schreibt: »totus orbis [...] aliquo modo una respublica«, oder Suärez: »quia humanuni genus, quantumvis in varios populos et regna divisum, semper habet aliquam unitatem non solum specificam sed etiam quasi politicam et moralem« (zit. nach Alexander Rtlstow: Weg der Freiheit - Ortsbestimmung der Gegenwart. Bd. 2, Erlenbach-Zürich 21963, S. 118). Zit. nach Gerhard Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 21977, S. 34. Vgl. Thomas von Aquin: Summa, 2,2 qu. 10 art. 10.

Naturrecht und Menschenrecht

135

Die Menschheit ist nach Vitoria eine natürliche Rechts- und Lebensgemeinschaft, ja sogar mehr als das: Die bewohnte Erde ist in gewisser Weise ein einziges politisches Gemeinwesen. Da zwischen den Menschen eben »nicht nur eine gewisse natürliche Verwandtschaft«34 besteht, »sondern sie in ihrer Verteilung über den Erdkreis auch die größte denkbare Gemeinschaft bilden« (»sie ist zwar kein Staat, aber eine Art politisches Gemeinwesen«), hat die Menschheit als solche nach Vitoria politische Rechte. »Kraft des natürlichen Rechtes wäre es der Menschheit jederzeit möglich, einen Weltherrscher (Monarcha) zu wählen; sie hatte diese Befugnis schon im Anfang [...] und hat sie nicht verlieren können.«35 Das >ius gentium< umfaßt für Vitoria mit dem Völkerrecht damit implizit auch das Verfassungsrecht; d.h. auch die Beziehungen zwischen der Volksgesamtheit und der Staatsgewalt regeln sich nach dem >ius gentiumc 36 Die Trennung des religiös-christlichen vom staatlich-politischen Bereich, die Anerkennung einer internationalen Gemeinschaft von auf natürlichem Recht begründeten Staaten an Stelle des Orbis christianus, steht im Zeichen des humanistischen Weltbildes, dem sich die ganze Spanische Spätscholastik in Loslösung von einem voluntaristisch-theokratischen Verständnis verpflichtet fühlt.37 In den Konsequenzen, die Vitoria aus seinem noch thomistischen Verständnis des >ius gentium< als »völkergemeinsamem Kulturrecht«38 zog, liegen Elemente eines neuen, humanistisch bedeutsamen Weltbildes: Staat und Herrschaft sind nicht aus dem geoffenbarten Willen Gottes abzuleiten, sondern gründen im Naturrecht, so lautet das Kernstück seiner Argumentation. Auch der heidnische Staat ist naturrechtlich begründet und daher in letzter Konsequenz sogar gottgewollt. Die dem spanischen Imperialismus ebenfalls zugrundeliegenden theokratischen Legitimationen werden von Vitoria konsequent als »unbegründete Titel für die Unterwerfung der Eingeborenen« zurückgewiesen. »Der Kaiser ist nicht der Herr der Welt«, betont er in seiner berühmten Relectio De Iridis39 und der Kaiser hat daher weder nach göttlichem, noch nach natürlichem oder menschlichem Recht einen Anspruch auf die Weltherrschaft. Auch der Papst ist »nicht weltlicher und zeitlicher Herr des Erdkreises, wenn man von Herrschaft und staatlicher

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F. de Vitoria: De Ind. tit. non leg. 3, zit. nach Ernst Reibstein: Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis. Bd. I, Freiburg 1957, S. 280. F. de Vitoria: De potestate civili, S. 13, zit. nach E. Reibstein: Völkerrecht (wie Anm. 34), S. 285. E. Reibstein: Völkerrecht (wie Anm. 34), S. 280; ders.: Althusius (wie Anm. 24), S. 111. F. Furger u. C. Strobel-Nepple: Menschenrechte und katholische Soziallehre (wie Anm. 22), S. 107. A. Mitterer: Naturwissenschaft und Naturrecht. Zusammenhänge bei Thomas von Aquin, in: Die soziale Frage und der Katholizismus. Festschrift zum 40jährigen Jubiläum der Enzyklika >Rerum Novarumcommunitas fideliumnach Entdeckerrecht< seinem Reich eingliedern zu dürfen.49

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der hier gelegentlich scheinbar widersprüchlichen Argumentation Vitorias vgl. D. Dekkers: Gerechtigkeit und Recht (wie Anm. 3), S. 273ff„ 276ff., 286ff. J. Höffner: Kolonialismus und Evangelium (wie Anm. 21), S. 270; E. Reibstein: Althusius (wie Anm. 24), S. 119. E. Reibstein: Althusius (wie Anm. 24), S. 119. G. Vasquez: Contr. id. II, Praefatio 104, zit. nach E. Reibstein: Völkerrecht (wie Anm. 34), S. 306. G. Vasquez: Contr. I, 46, §12, zit. nach E. Reibstein: Völkerrecht (wie Anm. 34), S. 307. J. Höffner: Kolonialismus und Evangelium (wie Anm. 21), S. 299. Aus analogen Überlegungen wurden auch imperialistische Eroberungskriege abgelehnt, ohne damit einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen Krieg und Christentum zu konstruieren. Denn zugefügtes Unrecht wie die Verweigerung der Herausgabe entwendeten Gutes, die Beset-

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1.3.5. Die Heidenmission: Erzwingbares Recht zur Glaubensverkündigung? Damit setzten sich die Spätscholastiker wie Vitoria, Suärez oder Soto von den spanischen Hofjuristen ab, die in einer theokratischen, supernaturalistischen Denktradition standen. Einer der bedeutendsten Vertreter dieser >KonquistadorenideologieCompelle intrare!Augustinist< des Orbis christianus, wie ihn Joseph Höffner bezeichnet, alle Heidenstaaten der Kirche unterstellt. Gewisse Formulierungen Augustins mögen ihn dazu verleitet haben. So behauptete er, daß es bei den Ungläubigen im eigentlichen Sinne weder ein Reich noch ein Königtum gäbe. Jeder Ungläubige lebe nämlich in Feindschaft mit Gott und besitze folglich alles, was ihm Gott gegeben hat, zu Unrecht! Mit anderen Worten kann es, so Aegidius Romanus in seinem Werk De ecclesiastica potestate, »nach dem Leiden Christi Uberhaupt keinen wahren Staat geben, in dem nicht die heilige Mutter, die Kirche, verehrt wird«, j a nicht einmal ein privates Eigentum hätten die Heiden. Kein Heide ist gerechterweise Eigentümer »seines Hauses, seines Feldes oder seines Weinberges oder irgendeiner anderen Sache«. Wer nämlich Gott nicht Untertan sein will, dem gebührt es, daß auch ihm nichts Untertan sei. J. Höffner: Kolonialismus und Evangelium (wie Anm. 21), S. 350.

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Diese Haltung, die in Richtung der Anerkennung eines Rechts auf Gewissens* und Religionsfreiheit geht, wurde allerdings dadurch relativiert, daß einige Vertreter der Spätscholastik - unter anderem auch Vitoria - unter Berufung auf das Gesandtenrecht der Kirche das erzwingbare Recht der Glaubensverkündigung und damit auch das Recht auf militärischen Schutz der Glaubensboten zugestanden haben.53 In ähnlicher Weise erfuhr auch das Eintreten für die persönliche Freiheit der Ureinwohner der entdeckten Gebiete eine gewisse Einschränkung. So wurde zwar die Versklavung der Ureinwohner der neuentdeckten Gebiete nach dem »Gesetz der natürlichen Sklaverei«54 ausdrücklich abgelehnt, dennoch anerkannten einzelne Autoren eine gewisse koloniale Schutzherrschaft der Kirche über die Eingeborenen im Sinne einer selbstlosen zivilisatorischen Aufgabe. Diese Schutzherrschaft dürfe allerdings nur gegenüber jenen Barbaren, »die ohne jedes menschliche Gemeinwesen leben, völlig nackt umhergehen, Menschenfleisch essen und dergleichen«, angewendet werden, um sie »menschenwürdig zu erziehen und gerecht zu regieren«, wozu Suärez noch die Einschränkung hinzufügt, daß dieser Fall wohl höchst selten oder überhaupt »niemals« vorliegen werde.55 In diesem Zusammenhang sind dann auch die Äußerungen Vitorias zum sog. >Fremdenrechtius gentium< eingeführte Gastrecht und verweist im gleichen Zusammenhang auf die allgemeine Freizügigkeit, die Internationalität der Meere und die Handelsfreiheit als weitere Rechtssätze des >ius gentiumDe CharitateIndien< war eine wertvolle Einnahmequelle, mit der Karl seine finanziellen Krisen lösen oder sie doch weniger drückend machen konnte.58 Europa und namentlich Spanien brauchten die Edelmetalle Amerikas zur Ausweitung des Asienhandels, für den Ausbau seiner Volkswirtschaften und nicht zuletzt zur Finanzierung seiner Kriege, mit denen die definitive Auflösung der mittelalterlichen politischen und religiösen Ordnung Europas einherging. Zumindest vorübergehend konnte das habsburgische Spanien seinen staatlichen, insbesondere den militärischen Apparat mit Leichtigkeit durch das Ausplündern der amerikanischen >Goldländer< finanzieren.59 Das nach Spanien gelangende Edelmetall - oft geriet es in die Hände vor allem französischer Korsaren - hat sich in der Menge bis zum Ende seiner Regierung von einem jährlichen Durchschnitt von 200.000 Pesos zwischen 1516 und 1520 auf 1.975.000 Pesos zwischen 1551 und 1555 verzehnfacht. Karl erblickte in Amerika ein Geschenk der Vorsehung, das auf das Schicksal Europas einwirkte. Die amerikanischen Besitzungen waren für den Herrscher allerdings auch mit enorm schwierigen Verwaltungsproblemen verbunden. Auch wenn er den Conquistadores zu Dank verpflichtet war, sah er sich doch auch der Notwendigkeit gegenüber, ihre Gewalttätigkeit und Raffgier in Schranken zu weisen. Der Stolz auf ihre Leistung ließ ihn aber zunächst nur widerwillig eingreifen, und die Gefühle eines Löpez de Gomara, der ihm schrieb, die Entdeckung Spanisch-Indiens sei das wichtigste Ereignis seit der Erschaffung der Welt, lagen ihm zunächst näher als kritische Stellungnahmen der Theologen, die sich darüber entsetzten, auf welche Weise die Conquistadores die eroberten Gebiete verwalteten. Beim Anblick des Todes von Millionen Indios in den Gruben und auf den Äckern der spanischen Herren waren die kritischen Stimmen wie diejenige des in Übersee lebenden Dominikaners Bartolom6 de las Casas immer lauter geworden, welche die Versklavung der Indios zu verhindern suchten.60 Las Casas trat mit missionarischem Eifer und gestützt auf die Grund-

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Der letzte Satz in einem Brief an seine Gemahlin ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert; er ist 1536 geschrieben, einer Zeit als Karl in bitterer Geldnot war, weil die Eroberung des vormals französischen Tunis im Jahr zuvor viel Geld gekostet hatte und erneut ein Krieg mit Frankreich zu erwarten war: »Bringt die Leute zusammen, sucht das Geld Uberall, und sollte Gott Geld von Peru schicken, so legt Hand darauf, auch wenn es für Einzelpersonen bestimmt ist.« England und Frankreich waren dagegen in einer weit weniger privilegierten Lage: Sie mußten ihre eigenen Untertanen besteuern, um den staatlichen Apparat zu erhalten. Dies machte es im Gegenzug nötig, daß der Souverän gewisse Rechte einräumen mußte, wie das Beispiel der englischen Magna Charta von 1215 oder der Petition of Rights von 1628 verdeutlicht. Demgegenüber schien es zunächst für spanische Untertanen, zumindest im Mutterland, gar nicht nötig, Grundrechtspositionen gegenüber einem drängenden Staat zu erringen. Als Sohn eines adligen Abenteurers aus Sevilla hatte er als 28jähriger im Jahre 1502 den Ozean überquert und geriet rasch in scharfen Gegensatz mit den ansässigen Kolonisten. Er wollte in christlicher Liebe und Güte die Indios gewinnen, die Siedler aber pochten darauf,

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sätze des Evangeliums für die Rechte der Ureinwohner und gegen das dem göttlichen Recht und der natürlichen Vernunft widersprechende Commendensystem ein.61 Dabei stieß er jedoch nur auf wenig Verständnis. So war etwa auch der Kampf von Vitoria, der so weit gegangen war, die Legalität der spanischen Eroberungen überhaupt in Frage zu stellen, in erster Linie gegen die alte Rechtfertigung der Sklaverei gerichtet, wie sie noch durch Thomas von Aquin vertreten worden war. Die Auseinandersetzungen Vitorias mit seinen Gegnern kreisten hauptsächlich um die völkerrechtliche Frage der Rechtmäßigkeit und Souveränität eines heidnischen Staates. Es ging ihm also vor allem darum, die Oberhoheitsansprüche des Papstes und des Kaisers auf die Neue Welt zu entkräften und damit die Indianer gegen Angriffe auf ihre Freiheit und ihr Recht auf Selbstbestimmung zu schützen. Grundsätzlich hielt aber auch Vitoria die Sklaverei für eine gerechtfertigte Einrichtung, wenn er schreibt, daß zwar »diese Barbaren nicht ganz und gar unmündig« sind, daß aber die Stellung der Indios jener der geistig Minderbemittelten jedoch so ähnlich sei, daß sie allem Anschein nach nicht dazu taugen, eine rechtmäßige Republik nach den Regeln der Menschlichkeit und Politik zu errichten. Aus dieser Unmündigkeit folge die Zuträglichkeit der europäischen Herrschaft über diese Völker, die unfähig sind, sich selber zu regieren. Damit wurde ganz offen die Meinung vertreten, die Indios seien eigentlich Menschen zweiter Klasse.62 Eine konsequente Gleichstellung forderte demgegenüber Las Casas: In seinen Augen war der Mord in den Kriegen und die Ausbeutung als Mittel zur Verkündigung des Evangeliums ein Skandal und ein Sakrileg. Für ihn war die Erlösung eng verbunden mit der Errichtung sozialer Gerechtigkeit. Diese Verbindung war in seinen Augen außerordentlich bedeutsam: Zum einen stand für ihn die Erlösung der Spanier selbst auf dem Spiel, und nicht nur der ungläubigen Indios. Mit anderen Worten: Das Seelenheil der >Gläubigen< war mehr in Gefahr als das der >UngläubigenNeuen Gesetzen Sie sollten den Schutz der Indios sicherstellen, die durch das >encomiendaNeuen Gesetzen« praktisch wirkliche Beachtung zu verschaffen, ja eine Reihe von Gutachten - teilweise sogar von Missionaren verfaßt - lehnte die Durchführung der Gesetze aus wirtschaftlichen Gründen ab und befürchtete negative Folgen für die Bekehrung der Indianer. Der Kaiser wurde damit bereits im Juni 1543, ein knappes halbes Jahr nach deren Unterzeichnung, zur Milderung diverser Bestimmungen veranlaßt. So durften jetzt beispielsweise die Konquistadoren ihre Commenden an ihre Kinder vererben. Schon zwei Jahre später, im Jahre 1545 - also drei Jahre nach ihrem Erlaß - , wurden die Leyes Nuevas gar förmlich widerrufen. 67

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Zitiert nach F. Furger u. C. Strobel-Nepple: Menschenrechte und katholische Soziallehre (wie Anm. 22), S. 110 (unter Bezugnahme auf J. Höffner: Kolonialismus und Evangelium (wie Anm. 21), S. 203f.). Entdeckungsfahrten durften zukünftig nur noch mit behördlicher Erlaubnis unternommen werden. Wer dabei Menschen raubt, sollte mit dem Tode bestraft werden. J. Höffner: Kolonialismus und Evangelium (wie Anm. 21), S. 204. Vgl. dazu Horst Pietschmann: Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980, S. 71.

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Zwar finden sich bereits früh im 16. Jahrhundert auch päpstliche Äußerungen, welche die Sklaverei grundsätzlich kritisch bewerten; Papst Paul III. (1534-1549) wandte sich, noch bevor Vitoria mit seiner Lehre an die Öffentlichkeit getreten war, gegen die Versklavung von Indianern und belegte die Unterjochung und Beraubung der Eingeborenen mit dem Kirchenbann. Wie erwähnt wuchs aber erst in der Auseinandersetzung zwischen Las Casas und Sepülveda die erste europäische Kolonialethik heran. Der Westen hatte dem bis ins 19. Jahrhundert nichts Gleichwertiges entgegenzustellen. Selbst John Locke, der Lehrer der neueren Toleranz, konzipierte diese scheinbar nur für eine vornehme Schicht grundbesitzender englischer Herren und war selbst unbekümmert Aktionär einer sklavenhandeltreibenden Gesellschaft!71 Es waren schließlich zwei Päpste des 19. Jahrhunderts, nämlich Gregor XVI. und Leo XIII., die als Reaktion auf die Einfuhr von Negersklaven in Nord- und Südamerika die Ächtung und totale Abschaffung der Sklaverei forderten.72 Für Jahrhunderte blieb die spanische Kolonialethik damit ein erratischer Block mit seinem unbedingten Ernst in der Anerkennung des gottgewollten Eigenrechtes der >HeidenPerson< im neuzeitlichen Sinn gesprochen werden kann. Wolfgang Huber: Gerechtigkeit und Recht (wie Anm. 25), S. 228.

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selbst zu stellen. Er erklärte sich gegenüber der religiösen Wahrheit als neutral.81 Der evangelische Theologe Wolfhart Pannenberg weist zu Recht darauf hin, daß den Menschen in konfessionell gemischten Territorien (wie z.B. in der Schweiz) keine andere Wahl blieb, »als ihr Zusammenleben auf einer von den konfessionellen Gegensätzen unberührten gemeinsamen Grundlage neu aufzubauen«.82 Der Glaubensstreit um die Wahrheit hatte dazu geführt, daß die Rechtsordnung des Staates auf anderen Fundamenten aufgebaut werden mußte als - wie bisher - auf denjenigen der Religion. Aus Impulsen der naturrechtlichen Spätscholastik (Vitoria, Las Casas), des Humanismus, der Reformation und der Aufklärung entstand so eine Wende im Menschenbild. Nun trat der Gedanke in den Vordergrund, daß alle Menschen, nicht nur die Christen, über gleiche Würde und Personenrechte verfügen. Jeder Mensch erhielt damit das Recht, seine Religion selbst wählen zu können. Insofern stand die Religionsfreiheit von Anfang an im Zentrum des neuzeitlichen Menschenrechtsdenkens.83 »Zu Beginn der Neuzeit [wurden dann] bei Suärez und Vitoria dem Menschen als Menschen eigene Personenrechte abgeleitet und kritisch gegen [...] die Kolonialpolitik Spaniens geltend gemacht.«84 Der Dominikaner Bartolomi de Las Casas vertrat die Rechtsauffassung, daß den Indianerinnen und Indianern, obwohl nicht getauft, dieselben Personenrechte zukommen wie den Christen.85 Mit dieser Konzeption wurden die spanischen Spätscholastiker zu den Wegbereitern des neuzeitlichen Völkerrechts und zu Anwälten eines Menschenbildes, das sich zwei Jahrhunderte später in der Formulierung von Menschenrechten in der angloamerikanischen Rechtstradition Ausdruck verschaffte.86 81

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Das Reichskammergericht des Deutschen Reiches stellte z.B. fest: Der Religionsfrieden ist nicht eine spirituelle Angelegenheit, sondern eine politische und säkulare Errungenschaft (vgl. Peter Karlen: Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Schweiz. Zürcher Studien zum öffentlichen Recht, Zürich 1988, S. 89). Auch in den Worten des französischen Kanzlers Michel de L'Hopital kommt zum Ausdruck, daß die Gewährung religiöser Toleranz auf politische und praktische Gründe zurückzuführen ist, wenn er am Vorabend der Hugenottenkriege 1562 aussprach: »Nicht d a r a u f k o m m e es an, welches die wahre Religion sei, sondern wie man beisammen leben könne.« (vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation und Utopie. FS Emst Forsthoff, Stuttgart 1967, S. 75-94, hier S. 77). Wolfhart Pannenberg: Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit und als ökumenisches Ziel, in: ders.: Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, S. 2 0 0 210, hierS. 201. Es setzte sich die Einsicht durch, daß die Rechtsstellung der menschlichen Person nur geachtet wird, wo ihre Gewissensfreiheit Anerkennung findet. Walter Kasper: Wahrheit und Freiheit. Die Erklärung über die Religionsfreiheit des II. Vatikanischen Konzils (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. 4), Heidelberg 1988, S. 14. Für die spanischen Conquistadoren ergab sich daraus nicht nur ein Verbot, die elementaren Rechte der indianischen Menschen zu verletzen, sondern darüber hinaus die Pflicht, sich für die Förderung dieser Rechte aktiv einzusetzen. Der säkulare Personenbegriff hat aber auch eine eigene theologische Tradition, die leider Uber Jahrhunderte von der Kirche übersehen wurde. Das Wissen um die Würde jedes einzelnen Menschen unabhängig von Volkszugehörigkeit, sozialer Stellung oder Geschlecht

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Hinzuweisen ist noch auf einen Vertreter der neuscholastischen Naturrechtstradition: Jacques Maritain.87 Er hat einen entscheidenden Beitrag zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 geleistet: 22 der von ihm vorgeschlagenen Artikel wurden in der 30 Artikel umfassenden Erklärung aufgenommen.88 Ein gesuchter Gesprächspartner der französischen Delegation, zu der auch Maritain gehörte, war der Apostolische Nuntius in Paris, der spätere Papst Johannes XXIII.89 Es war deshalb kein Zufall, daß diesem Papst der Durchbruch in Richtung Religionsfreiheit gelang, wie seine Konzilseröffnungsrede und die Friedensenzyklika Pacem in terris zeigen. 90 So hat das neuzeitliche Stichwort Religionsfreiheit über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von Paris im Zweiten Vatikanischen Konzil Einzug gehalten. Bis anhin ließ sich die Kirche vom Gedanken leiten, daß dem Menschen, der im Irrtum ist, kein Recht zukommt. Nur um des Friedens willen kann der Irrtum toleriert werden. Das Fribourger Dokument (I960) 91 aus der Vorbereitungsphase des Konzils nimmt erstmals den Ausgang beim Menschen und ist in der Bibel verankert, wie die alte Taufformel belegt, die Paulus schon vorfand: »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus« (Gal 3, 28; vgl. LG 32, can. 208). Die Würde jedes einzelnen Menschen ist in der Gottebenbildlichkeit begründet: »Als Abbild Gottes schuf er ihn [den Menschen], Als Mann und Frau schuf er sie.« (Gen 1, 27). Die Gleichheitsforderung dieser biblischen Texte ist aber vom Rechtsinstitut der Menschenrechte noch weit entfernt, wie Otfried Höffe anmerkt (Otfried Höffe: Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs, Frankfurt am Main 1996, S. 101). Denn die allen Menschen gemeinsame Würde wurde weder in der Spätantike noch im Mittelalter zum bestimmenden Orientierungpunkt für die kirchliche oder die politische Ordnung. Ob es derartige Gleichheitsrechte in der Neuzeit gibt, entscheidet sich erst, wenn beim Eintritt in die Rechtssphäre der Gleichheitsgedanke nicht wie ein Meteor verglüht. Die Gleichheitsforderung tritt uns auch in der Philosophie entgegen. Der philosophische Gedanke des Naturrechts verband sich bei den Kirchenvätern und in der Scholastik mit dem biblischen Denken. 87

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Philosophiegeschichtlich kritisch betrachtet wird Maritain von Heinrich Schmidinger (Heinrich Schmidinger. Der Mensch ist Person. Ein christliches Prinzip in theologischer und philosophischer Sicht, Innsbruck, Wien 1994, S. 120-124). Ludger Kühnhardt Die Universalität der Menschenrechte (Studien zur Geschichte und Politik. 256), Bonn 1987, S. 91-92. Ph. de la Chapelle: La Diclaration Universelle des Droits de l'Homme et le Catholicisme, Paris 1967. Die Bedeutung der Begegnungen zwischen diesem französischen Naturrechtsphilosophen und dem Pariser Nuntius Msgr. Roncalli für die ausdrückliche Einführung der Menschenrechte im letzten Lehrschreiben Johannes XXIII. Pacem in terris wird die Forschung aufzeigen müssen. Der Begriff fand Eingang in der von ihm geschriebenen italienischen Fassung. In der lateinischen Übersetzung (Ecclesiae libertatem) findet sich der Begriff Religionsfreiheit nicht mehr. Eine Synopse der lateinischen, italienischen und deutschen Fassung findet sich in: Ludwig Kaufmann u. Nikolaus Klein: Johannes XXIII. Prophetie im Vermächtnis, Freiburg/Schweiz, Brig 1990, S. 116-150. In der entsprechenden Unterkommission hatte der Schweizer Bischof Francois de Charri£re den Vorsitz (vgl. Walter Kasper: Wahrheit und Freiheit (wie Anm. 84), S. 19).

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bestimmt die unverletzliche Würde seiner Person als den positiven Inhalt der Toleranz. Nicht mehr die Toleranz des Irrtums, sondern die Religionsfreiheit jeder Person steht fortan im Zentrum. Von dieser Würde der menschlichen Person ging auch die Konzilserklärung92 über die Religionsfreiheit aus. Sie ließ sich »prinzipiell auf die anthropologische Wende der Neuzeit ein«. 93 Diese Wende im Menschenbild hat Papst Johannes XXIII. geprägt, wenn er vor seinen engsten Mitarbeitern (Kardinal Cicognani, Msgr. Dell'Acqua und Msgr. Loris Capovilla) in seinen letzten Lebenswochen bekennt: Mehr denn je, bestimmt mehr als in den letzten Jahrhunderten, sind wir heute darauf ausgerichtet, dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf, in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen. Die heutige Situation, die Herausforderungen der letzten SO Jahre und ein tieferes Glaubenverständnis haben uns mit neuen Realitäten konfrontiert [...] Nicht das Evangelium ist es, das sich verändert; nein, wir sind es, die gerade anfangen, es besser zu verstehen.

2.2. Die staatskirchenrechtliche Bedeutung der Konzilserklärung Dignitatis humanae Mit der Bejahung der Religionsfreiheit als einem individuellen Schutz- und Abwehrrecht, das »für alle Menschen und Gemeinschaften als ein Recht anzuerkennen und in der juristischen Ordnimg zu verankern ist«,95 ist die römisch-katholische Kirche »grundsätzlich zu einer sozial verträglichen 92

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Konzilserklärungen sind autoritative Stellungnahmen zu weltlichen Sachverhalten unter dem Aspekt ihrer sittlichen und religiösen Dimension. Sie beinhalten weder kirchliche Glaubenslehre im engeren Sinn noch kirchliches Recht. Das literarische Genus einer Konzilserklärung unterscheidet sich von den Konzils-Konstitutionen, welche die Glaubenslehre selbst zum Inhalt haben, und es unterscheidet sich von den Konzils-Dekreten, in denen es um die pastorale Erneuerung (früher hätte man von Kirchendisziplin gesprochen) geht. Walter Kasper: Wahrheit und Freiheit (wie Anm. 84), S. 36. Die gegenteilige Meinung vertritt Böckenförde (Ernst-Wolfgang Böckenförde: Religionsfreiheit. Die Kirche in der modernen Welt (Schriften zu Staat - Gesellschaft - Kirche. 3), Freiburg im Breisgau 1990, S. 10-12). Die Kontinuität der Tradition erkennt freilich nur, wer kein starres objektivistisches Traditions- und Kontinuitätsverständnis voraussetzt, sondern ein hermeneutisch reflektiertes Traditionsverständnis vertritt (vgl. auch Walter Kasper: Tradition als theologisches Erkenntnisprinzip, in: Theologie und Kirche, Mainz 1987, S. 72-100). Zur theologischen Tradition von der Würde und den Rechten der Person vgl. Walter Kasper: Wahrheit und Freiheit (wie Anm. 84), S. 14-17. Deutsch zitiert nach Ludwig Kaufmann und Nikolaus Klein: Johannes XXIII. (wie Anm. 90), S. 94. Sie kommentieren: »Es handelt sich [...] nicht um einen vom Papst unterschriebenen Text und auch nicht um eine >BandaufnahmeSelbstprüfung< der Kirche nach innen zur Folge haben muß. »Aus ihrer eigenen Erfahrung weiß die Kirche, daß ihr Einsatz für die Förderung der Menschenrechte eine ständige Selbstüberprüfung und Reinigung ihres eigenen Lebens, ihrer Gesetze, Institutionen und Planungen verlangt.« 1 ^ Als Beispiele dieser Personenrechte nach innen seien erwähnt: -

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Die Bischofssynode von 1967 verlangte z.B. die Umschreibung der Rechte der Person. Dies bringt mit sich, »daß die Ausübung der [hierarchischen] Gewalt deutlicher als Dienst erscheint, ihre Anwendung besser gesichert und ihr Mißbrauch ausgeschlossen wird«.109 Papst Johannes Paul II. anerkennt die Personenwürde der Getauften anderer Konfessionen, die nicht in voller Gemeinschaft mit der römischkatholischen Kirche stehen. Früher sprach man hier von Häretikern, die keine Personenrechte beanspruchen konnten. In der Enzyklika Ut unum sint von 1995 spricht Johannes Paul II. von personalistischem Denken, Dialoghaltung und von der Würde der Person der Andersgläubigen.110 Dieser personale Ansatz ist im Ökumenerecht zu entfalten.

Pastoralkonstitution Gaudium et spes, 17. Zur Einordnung in die Geschichte des modernen christlichen Personalismus vgl. Heinrich Schmidinger: Der Mensch ist Person (wie Anm. 87), S. 32. Heinrich Schmidinger: Von der Substanz zur Person, in: Theologisch-Praktische Quartal-

I Λβ schrift 142 (1994), \ S. 383-394.

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Paul VI.: Wort und Weisung im Jahr 1974, Cittä del Vaticano o.J., S. 357. Können die Kirchen, die Religionsgemeinschaften, sich von den universell geltenden Menschenrechten abschotten? Oder sind auch die Kirchen herausgefordert, Menschenrechte auch nach innen soweit wie möglich umzusetzen? Vgl. Felix Haiher: Kirchen im Kontext der Grundund Menschenrechte, Freiburg/Schweiz 1992. Johannes Paul II: Vorrede zum Codex Iuris Canonici 1983, S. XLI-XLV, S. XLIII. Die 10 approbierten Leitsätze der Bischofssynode von 1967 zur Kodexreform werden hier wieder aufgenommen. Johannes Paul II. sieht den ökumenischen Dialog »nicht ohne Zusammenhang mit dem heutigen personalistischen Denken. Die >DialogFranziskussen< zu vergleichen: da er mit seiner politischen Theorie eher die Rechte der Opfer der spanischen Expansion verteidigen möchte, macht er nämlich, was die spanische Naturrechtslehre betrifft, sozusagen die Probe aufs Exempel. Doch bevor die Zustimmung des Volkes in der politischen Theorie von Vitoria, Las Casas und Suärez näher erörtert wird, möchte ich, gewissermaßen zum Vorverständnis, die gemeinsamen Voraussetzungen derselben vorausschicken.

So Wolfgang von Griesstetter im Titelblatt des von ihm herausgegebenen lascasianischen Traktats De regia potestate: D. Bartholomaei de las Casas, episcopi Chiapensis, viri in omni doctrinarum genere exercitatissimi, erudita & elegans explicatio quaestionis: Vtrum Reges vel Principes iure aliquo vel titulo, & salua conscientia, Cives ac Subditos a Regia Corona alienare, & alterius Domini particularis ditionis subijcere possint? Antehac nunquam ab vllo Doctorum ita luculenter tractata. Edita cura & studio Vuolffangi Griesstetteri. Cum gratia & priuilegio Caesareae Maiestatis. Francofvrti ad Moenum, M.D.LXXI. Ernesto Garzön Valdis: Einführung, in: Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie, hrg. v. Ernesto Garzön Valdds (Schriften zur Rechtstheorie. 141), Berlin 1990, S. 7 ^ 6 , hierS. 8.

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1. Gemeinsame Voraussetzungen Ohne Beachtung der Voraussetzungen laufen wir Gefahr, die besagte politische Theorie in ihrem zeitlichen Kontext nicht angemessen zu würdigen. Diese Voraussetzungen können in drei lateinischen Axiomen ausgedrückt werden, die auch für alle anderen spanischen Naturrechtler des 16. und 17. Jahrhunderts gelten und in ihrer Wechselwirkung den >katholischen Weg< zur Lehre von der Volkssouveränität geebnet haben. (1) »Jus autem divinum, quod est ex gratia, non tollit jus humanum, quod est ex naturali ratione«. Dieses Axiom, auf das sich Thomas von Aquin in seiner Summa theologica (II-II q. 10, a. 10) beruft, um die vor dem Kontakt mit dem Christentum bereits bestehenden politischen Systeme der Ungläubigen als im menschlichen Recht begründet prinzipiell zu legitimieren,3 stellt für die spanischen Naturrechtler so etwas wie eine universale Diskurskategorie dar: Was kraft menschlichen Rechts (d.h. auch kraft Völkerrechts) erlaubt ist, wird vom göttlichen Recht nicht aufgehoben. Diese Argumentation begegnet uns bei Vitoria, Las Casas und Suärez immer wieder, so daß es nicht nötig sein dürfte, ad-hoc-Texte dazu zu zitieren. (2) »Potestas ecclesiae indirecta in temporalibus«. Mit der Lehre von indirekter Gewalt der Kirche im Zeitlichen erarbeiten die spanischen Naturrechtler ein - uns heute anachronistisch anmutendes, damals aber durchaus praktikables - Modell »für die Konkurrenz von kirchlicher Obrigkeit und weltlicher Gewalt«.4 Aus heutiger Sicht ist diese Lehre ein historischer Übergang zwischen der päpstlichen Hierokratie des Mittelalters einerseits und der vom II. Vaticanum verkündeten Autonomie des Weltlichen andererseits. Ihr Sitz im Leben ist die Infragestellung päpstlich-hierokratischer Ansprüche durch die kaiserlichen oder königlichen (Frankreich!) Legisten und Hoftheologen, später aber auch durch die Reformatoren. Einen Mittelweg suchend, sagen die scholastischen Theologen, daß Kirche und Papst lediglich eine indirekte Gewalt im Zeitlichen zukommt, wenn das Wohl des Geistlichen in Gefahr ist. Ihre klassische Formulierung wird diese Lehre um 1600 bei Robert Bellarmin finden,5 dem Suärez in seiner Terminologie sehr stark folgt; in wechselnden Formeln, aber klaren Konturen ist sie aber spätestens seit Juan de Torquemada bei allen großen spanischen Naturrechtlern anzutreffen - so auch bei Vitoria und Las Casas. Diese Lehre im 16. Jahr-

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»Sodann kann man es zu tun haben mit einer Herrschaftsstellung und Überordnung, die bereits besteht. Dabei ist zu beachten, daß Herrschaftsgewalt und Überordnung nach menschlichem Rechte zustandegekommen sind. Die Unterscheidung aber von Gläubigen und Ungläubigen beruht auf göttlichem Recht. Das göttliche Recht aber, das auf der Gnade beruht, hebt das menschliche Recht, das aus der menschlichen Vernunft stammt, nicht auf.« Thomas von Aquin: Summa theologica. Deutsch-lateinische Ausgabe, hrg. v. d. Albertus-Magnus-Akademie. Bd. 15, Heidelberg u.a. 1950, S. 221. Rainer Specht: Spanisches Naturrecht - Klassik und Gegenwart. In: Zeitschrift ftlr philosophische Forschung 41 (1987), S. 170-182, hier S. 171. Vgl. z.B. Robert Bellarmin: De Summo Pontifice, lib. V, cap. 6, in: ders.: Opera omnia, ed. Justinus F£vre. Vol. 2, Paris 1870, S. 155f.

Die Zustimmung des Volkes

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hundert - also inmitten der protestantischen Angriffe auf jede zeitliche Gewalt des Papstes - zu vertreten, war damals noch ein kühnes Unterfangen, da man Gefahr lief, zwischen allen Stühlen zu sitzen. Papst Sixtus V. (15851590) hat die Relectiones Vitorias und die Controversiae Bellarmins gerade wegen dieser Lehre auf den Index der verbotenen Bücher setzen lassen;6 diese Maßnahme wurde jedoch nach seinem Tode aufgehoben. Im Schatten des Absolutismus Jakobs I. von England war man letztlich doch froh, daß mit dieser Lehre der Kirche zumindest eine indirekte Gewalt im Zeitlichen in Hinblick auf die geistlichen Dinge und somit auch ein >Einmischungsrecht< zugestanden wurde. Die hier erwähnten Denker wollen in der Tat nicht die päpstliche Hierokratie als solche verteidigen (auch Las Casas, der in vielem mittelalterlich anmutet, war letztlich kein Hierokrat), sondern eher ein Einmischungsrecht der Kirche begründen, das der absolutistischen Machtwillkür Grenzen setzen soll. Besonders bei Las Casas wie auch bei Suärez ist diese Intention deutlich spürbar. (3) »Translatio imperii a populo in principem«. »Die Idee der Volkssouveränität gehört zu den Faktoren, die dazu beigetragen haben, beziehungsweise in denen zum Ausdruck kommt, daß die europäische Geschichte trotz ihrer außerordentlichen Mannigfaltigkeit ein starkes Moment der Kontinuität aufweist und daß sich, um mit Arnold Toynbee zu reden, die abendländische als eine Filiationskultur der antiken darstellt.«7 Wer diese Idee aber, wie der zitierte Autor, auf die Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum und Papsttum einseitig zurückführt, wird der europäischen Geschichte nicht gerecht - wenngleich das erwähnte Axiom seinen Sitz im Leben primär in solchen Auseinandersetzungen hat. Die Einsetzung des westlichen Kaisertums im Jahre 800, die als eine >translatio imperii< von den Griechen auf die Franken verstanden wurde, weckte später im Schatten des Investiturstreits die Frage nach dem irdischen Subjekt der >translatioTranslationslehre< - wonach nicht Karls eigene Tüchtigkeit oder etwa die Wahl durch die Römer den Franken zum Kaiser machen, »sondern der Wille des Nachfolgers Petri« 8 - stellt zwar einen kurialen Punktesieg in diesem langatmigsten Streit der abendländischen Geschichte dar, aber am Ende - etwa um 1500 - verliert das Papsttum den Kampf um das Kaisertum genauso wie das römische Volk: »Wer ord6

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Vgl. F. H. Reusch: Der Index der verbotenen Bücher. Ein Beitrag zur Kirchen- und Literaturgeschichte. Bd. 1, Bonn 1883, S. 505. Friedrich Hermann Schubert: Volkssouveränität und Heiliges Reich, in: Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten. Bd. 2: Reichsstände und Landstände, hrg. von Heinz Rausch. (Wege der Forschung. 469), Darmstadt 1974, S. 279-314, hier S. 281. Werner Goez: Translatio imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tubingen 1958, S. 138.

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nungsgemäß von den Kurfürsten gewählt wird, besitzt durch diese Wahl bereits alle Regierungsrechte und bedarf keiner päpstlichen Approbation.«9 Dies war schon der Sieg einer aristokratisch-demokratischen Sicht der Volkssouveränität, nämlich der Mehrheitsentscheidung unter qualifizierten Wahlberechtigten, aber nicht die Sanktionierung jener korporativen Volkssouveränität, die in der Akklamation durch das römische Volk zum Ausdruck kam. Eine solche Art der Volkssouveränität begegnet uns weniger in den Traditionen des >Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation< als vielmehr in jenen sich außerhalb des Reichs befindenden mittelalterlichen Monarchien (wie Frankreich, Polen, Ungarn, England, Spanien, Portugal), die unter Berufung auf die Rechtsregel >Quod omnes tangitencomiendacantus firmus< dieses Traktats, den Las Casas bis zur Sattheit singt und der ihn in gewissem Sinne als den letzten >comunero< erscheinen läßt. 6 Wie Vitoria lehnt er die umstürzlerischen Züge der Revolte ab;37 anders als Vitoria rettet er aber das grundlegende Idearium der korporativen, ständischen Konsensmonarchien. Die Menschen und Völker sind für Las Casas ursprünglich frei,38 die Freiheit »ist kostbarer und unschätzbarer als alle anderen Güter, die ein freies Volk haben mag«,39 sie kann »zu keiner Zeit verjähren«,40 ist immer zu vermuten, so daß im Zweifelsfalle zugunsten der Freiheit zu entscheiden sei, und gestandene Männer geben sie nur mit dem letzten Atemzuge auf 4 1

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Comentarios (wie Anm. 11), vol. 3, S. 79. Zur politischen Theorie Las Casas' vgl. Mariano Delgado: Universalmonarchie, translatio imperii und Volkssouveränität bei Las Casas oder das prozeßhafte Entstehen einer politischen Theorie zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: Bartolomö de Las Casas: Werkauswahl 3/1: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrg. v. Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1996, S. 161-179, vgl. dort 161f. ausführliche Literatur. Vgl. den lateinischen Text mit spanischer Übersetzung in: Bartolon^ de Las Casas: De regia potestate, Ed. Luciano Perefia u.a. (Corpus Hispanorum de Pace. 8), Madrid 1969; deutsche Übersetzung in: ders., Werkauswahl 3/2: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrg. v. Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1997, S. 187-248. Vgl. Vidal Abril Castello: Los derechos de las naciones segün Bartolomd de Las Casas y la Escuela de Salamanca, in: Bartolom6 de Las Casas: Obras completas: Apologdtica historia sumaria, Ed. Vidal Abril Castellö. Vol. 6, Madrid 1992, S. 15-181, hier S. 59-95. Vgl. Bartolon^ de Las Casas: Werkauswahl 2. Historische und ethnographische Schriften, hrg. v. Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1995, S. 510; hier äußert er sich sehr kritisch Uber den Auftstand der comuneros. Ders.: De regia potestate, in: ders.: Werkauswahl 3/2 (wie Anm. 36), S. 197. Ebd., S. 213. Ebd., S. 200. Ebd., S. 198.

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Für die Freiheit kann man und soll man also das Leben geben, wird - eine Generation nach Las Casas' Tod - Don Quijote zu Sancho sagen.42 Das Volk ist »erste Quelle und Ursprung aller Gewalten und Jurisdiktionen«,43 daher auch »Wirkursache der Könige«, denn die Rechtsgewalt ist »unmittelbar aus dem Volke hervorgegangen«. Ausdrücklich bezieht sich Las Casas in diesem Zusammenhang auf die antike demokratische Tradition der >translatio imperii a populo in principemBlanditus< aus dem Codex - »was implizit dazu gehört, obgleich es nicht ausdrücklich und deutlich gesagt wurde, ändert nichts und fügt nichts hinzu«.46 Und mit dem Gesetz >Quicumque< aus dem Codex, das er eigenmächtig interpretiert, untermauert Las Casas die Notwendigkeit der Zustimmung aller, wenn der Herrscher die Freiheit des Volkes beeinträchtigen möchte: »Was allen nutzen soll, ist mit der Zustimmung aller zu tun«, heißt es im Gesetz. Las Casas formuliert es nun so: »Was allen nutzen soll,

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Vgl. Miguel de Cervantes Saavedra: Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha. Mit einem Essay von Iwan Turgenjew und einem Nachwort von Andri Jolles. Mit Illustrationen von Gustave Dor6. 3 Bde, Frankfurt am Main 1979, Teil 2, Kap. 58. Bartolomi de Las Casas: De regia potestate, in: ders.: Werkauswahl 3/2 (wie Anm. 35), S. 218. Ebd., S. 205, lateinischer Text: »Et populus romanus omnem potestatem in principem transtulit.« Ebd., S. 213. Ebd. S. 206; vgl. Codex 8, 30 (31), 12, in: Corpus Iuris Civilis. Volumen secundum: Codex Justinianus, Ed. Paul Krueger, Dublin-Zürich 14 1967, S. 352.

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aber auch schaden kann, ist mit der Zustimmung aller zu tun«.47 Wenn der König in Angelegenheiten, die allen nutzen oder schaden können, gegen die Zustimmung und den freien Willen bzw. mit erzwungener Zustimmung< seiner Untertanen handelt, verstößt er also gegen das Naturrecht und gegen das göttliche Recht.48 So ist das Einholen der Zustimmung aller Betroffenen für Las Casas eine permanente Bedingung für eine gute Regierung. Um dies zu begründen, akkumuliert Las Casas vor allem Belege aus beiden Rechten und den einschlägigen Kommentaren der Legisten und Kanonisten. Er muß sie aber oft gegen den Strich bürsten, um sie in seinem Sinne interpretieren zu können. Können wir ihm ein solches Verfahren als >eklektisch< vorwerfen, wenn sich selbst die renommiertesten spanischen Naturrechtler - jedenfalls vor Ende des Konzils von Trient und der methodischen Erneuerung der Theologie durch Melchor Canos De loci theologici (1563) - durch einen >Quellensynkretismus< auszeichnen? Das Ziel seines Kampfes ist klar: Er will verhindern, daß die unveräußerlichen Rechte der Völker (Freiheit, Zustimmung, Souveränität - so auch das Idearium der >comunerosPopulus in principem transtulit potestatemWirkursache< der Könige, wird von Suärez in den genannten zwei Schriften bis zur Sattheit wiederholt, und zwar u.a. auch in Auseinandersetzung mit Vitoria, dessen begriffliche Ungenauigkeiten erst hier die nötige Präzisierung erfahren.55 Welche Art von Zustimmung des Volkes allerdings für eine legitime Herrschaftsübertragung nötig sei, sagt uns Suärez dabei nicht. Wir können annehmen, daß er eine qualifizierte Mehrheit für ausreichend hält, denn so versteht er die allgemeine Zustimmung im Falle der kollegial-parlamentarischen, nicht monarchischen Regierungsform, wenn er von der Rechtmäßigkeit von Gesetzen spricht. Mit Codex und Digestum sagt er, allgemeine Zustimmung (unus consensus) sei schon gegeben, wenn zumindest zwei Drittel der Stimmberechtigten anwesend seien und die Mehrheit für ein bestimmtes Gesetz stimme.56 Im Falle einer Monarchie genüge aber der Wille des Herrschers für die Rechtmäßigkeit von Gesetzen.57 Dies hängt

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Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.13 (S. 27): »Mediate autem dicitur Deus dare hanc potestatem regibus, tum quia immediate dedit illam populo, qui in regem illam transtulit; tum quia Deus huic etiam translation!, proxime a populo factae, consentit et cooperatur, tanquam prima et universalis causa; tum denique quia illam approbat et servari vult.« Vgl. auch u.a. Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.14 (S. 28): »Deus est qui distribuit regna et principatus politicos, sed per homines seu consensus populorum, vel aliam similem institutionem humanam.« De legibus III (wie Anm. 49), 4.2 (S. 39): »sequitur ex dictis potestatem civilem, quoties in uno homine vel principe reperitur, legitimo ac ordinario iure a populo et communitate manasse vel proxime vel remote, nec posse aliter haberi, ut iusta sit«. In Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.10 (S. 22) wird diese Denkform im Zusammenhang mit den absolutistischen Ansprüchen Jakobs I. wiederholt: »Nullum regem vel monarcham habere vel habuisse (secundum ordinariam legem) immediate a Deo vel ex divina institutione, politicum principatum, sed mediante humana voluntate et institutione.« Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.13 (S. 26). Suärez setzt sich mehrfach mit Vitorias De potestate civili auseinander. Las Casas wird freilich kein einziges Mal erwähnt - sei es aus Unkenntnis oder aus akademischer Geringschätzung, obwohl andere zeitgenössische spanische Gelehrte, besonders aus dem Dominikanerorden, sich nicht scheuen, den Bischof von Chiapa als Auctoritas zu zitieren. De legibus III (wie Anm. 49), 15.4 (S. 219): »Non vero oportet ut omnes consentiant, sed quod maior pars curiae fecerit, perinde habetur ac si ab omnibus factum fuisset (iuxta legem Quod maior, ff. Ad municipalem).« Ebd.: »voluntas principis sufficit«.

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damit zusammen, daß für Suärez die Herrschaftsübertragung an einen König im Prinzip eine absolute ist. Suärez verweist auf Augustins Rede von einem allgemeinen Vertrag (pactum) am Ursprung der Monarchie;58 auch interpretiert er Ulpianus' Sicht der >lex regiaaller Betroffenem beim Zustandekommen des Herrschaftsvertrags, sondern nur von einer nicht näher definierten allgemeinen Zustimmung des Gemeinwesens, die der - leicht instrumentalisierbaren - >vox populi< gleichkommt. Und zweitens interpretiert Suärez den Herrschaftsvertrag im Zweifelsfalle als eine absolute Abdankung der Freiheit oder als quasi absolute Jurisdiktionsveräußerung des Volkes zugunsten des Königs: »Daher ist die Übertragung dieser Gewalt durch das Volk an den Fürsten keine Delegation, sondern quasi eine Veräußerung oder vollkommene Übertragung der ganzen Gewalt, die die Gemeinschaft be-

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Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.11 (S. 26). Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.12 (S. 26): »Ergo intelligi debet constitua per modu pacti, quo populus in principem transtulit potestatem sub onere et obligatione gerendi curam reipublicae et iustitiam administrandi, et princeps tarn potestatem quam conditionem acceptavit«. De legibus III (wie Anm. 49), 4.5 (S. 43): »Cuius etiam signum est quia iuxta pactum vel conventionem factam inter regnum et regem, eius potestas maior vel minor existit. Ergo est ab hominibus, simpliciter locuendo.« Vgl. auch Defensio fidei III (wie Anm. 49), 3.13 (S. 43). De legibus III (wie Anm. 49), 19.6 (S. 43): »Nam in illum transtulit populus suam potestatem absolute et simpliciter, ut ex ordinario modo regiminis constat, nec aliud verisimiliter affirmari potest nisi ubi ex consuetudine constiterit.«

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saß.«62 Dies erklärt, daß für Suärez die Veräußerung der Jurisdiktion durch den König (der Kern des >encomiendaAbsolutismus von des Volkes Gnaden< Tür und Tor - freilich eingeschränkt durch die oben genannte implizite Pflicht zur guten Regierung, zur Gerechtigkeit und zur Förderung des allgemeinen Wohls,65 durch die päpstliche, indirekte Gewalt im Zeitlichen und schließlich durch ein Widerstandsrecht, das zwar spekulativ bejaht wird, aber kaum jemals in Wirklichkeit eintreten dürfte, da es - wohl vor dem Hintergrund der heiklen Lage der Katholiken in England unter Jakob I. - von vielerlei Umständen und einer so gut wie nie endenden Unterscheidung der Geister abhängig ist - und bei den Katholiken zudem vom Willen des Papstes.66 62

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De legibus III (wie Anm. 49), 4,11 (S. 49): »Quocirca translatio huius potestatis a republica in principem non est delegatio, sed quasi alienatio seu perfecta largitio totius potestatis quae erat in communitate.« Vgl. De legibus III (wie Anm. 49), 19.7 (S. 44). Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.10 (S. 22f): »nullum regem vel monarcham habere vel habuisse (secundum ordinariam legem) immediate a Deo vel ex divina institutione, politicum principatum, sed mediante humana voluntate et institutione.« Vgl. Defensio fidei III (wie Anm. 49), 3.1-4 (S. 34ff.), wo Suärez Bellarmins Lehre, wonach das Volk nach der Herrschaftsübertragung die Gewalt >in habitu< behalte, in diesem Sinne einschränkt. Defensio fidei VI (wie Anm. 49), 4.17 (S. 88): »Immo addendum ulterius, licet respublica seu regnum hominum, ex sola rei natura spectatum, prout fiiit inter gentiles et nunc est inter ethnicos, habeat potestatem, quam disimus, se defendendi a tyranno rege et illum deponendi in eum finem, si necessarium füerit, nihilominus regna Christiana quo ad hoc habere aliquam dependentiam et subordinationem ad Pontificem Summum.« Zum Widerstandsrecht und Tyrannenmord bei Suärez vgl. den gut dokumentierten Beitrag von Norbert Brieskorn: Francisco Suärez und die Lehre vom Tyrannenmord. In: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, hrg. v. Michael Sievernich und Günter Switek, Freiburg 1990, S. 323-339. Brieskorn (S. 339) kommt zum folgenden freundlichen Urteil: »Wahrend Thomas von Aquin im 6. Kapitel des 1. Buches von De Regimine principum nach einer Reihe von Differenzierungen bald auf die sittliche Pflicht zu sprechen kommt, die Tyrannei zu ertragen, fällt dieses Wort nicht bei Suärez, noch behandelt er so sein Thema. Er erlegt sich und anderen die schwierige Aufgabe der Unterscheidung und des Abwägens auf. Nicht das Annehmen von Zuständen, sondern die »Unterscheidung der Geisten, also eine Methode, ist beherrschend geworden. Ohne ihr zu folgen und nach ihr die Handlungsschritte zu bestimmen, ist mündiges, reifes, menschliches Leben nicht möglich. Das Zitat aus dem Buch der Sprichwörter »durch mich regieren die Tyrannen« (Spr 8, 1S) benutzte Suärez nicht zur Begründung der Passivität und auch nicht, um darauf hinzuweisen, daß Gott wie in allen Dingen, eben auch in der Tyrannei gefunden werden könne und dürfe. Alle Betonung ist auf die Pflicht des Menschen gelegt, sein Gewissen zu informieren, sich an den Maßstäben des »bonum universaliusUnio< und der »Veritas« auszurichten und diese Werte mit denen der »Securitas« und der Vermeidung von

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3. Die Probe aufs Exempel Der gewonnene Eindruck, daß Las Casas von allen drei Autoren mit dem Absolutismus am wenigsten und mit der Selbstbestimmung der Völker am meisten anfangen kann, bestätigt sich, wenn wir die Probe aufs Exempel betrachten, nämlich die Anwendung der jeweiligen politischen Theorie auf die Probleme im Schatten der spanischen Expansion. (1) Vitoria wird immer wieder bescheinigt, er habe 1538-1539 mit seiner Relectio de Indis das irreversible Faktum der spanischen Eroberung einigermaßen zu ordnen versucht. Daß er die Praxis ordnen wollte und alles in allem einen humanisierenden Einfluß gehabt hat, ist unbestritten. Aber wir machen uns etwas vor, wenn wir zu Vitorias Zeit allgemein von einem irreversiblen Faktum der Eroberung sprechen. Zumindest filr das Inkareich galt das nicht. Dort war die >translatio imperiiusurpatio imperii< eigenmächtig vorgenommen hatte, noch frisch; und legitime Nachfahren Atahualpas leisteten Widerstand in den Bergen, wie es einst die Spanier selbst gegenüber den maurischen Invasoren getan hatten. Erst nach der erbarmungslosen Enthauptung des letzten Inkaherrschers 1572, sechs Jahre nach Las Casas' Tod, können wir auch für das Inkareich von der Irreversibilität der spanischen Eroberung sprechen. Dies ist wichtig, um die Positionen von Vitoria und Las Casas richtig einzuordnen. Nun, Vitoria ist auch im Zusammenhang mit der spanischen Expansion ein ängstlicher Zauderer, der das Kolonialsystem zugleich kritisiert und stützt. So etwa, wenn er von der Möglichkeit einer Legitimation der spanischen Herrschaft durch die freie Wahl der indianischen Völker spricht. Im ersten Teil seiner Vorlesung ist dies für ihn ein illegitimer Rechtstitel. Denn es sei klar, daß unter den gegebenen Herrschaftsverhältnissen - Vitoria denkt an die spanischen Eroberer, die vor der Gewaltanwendung das sogenannte Requerimiento oder die Konquistadorenproklamation verlasen und die Indios darin baten, sich dem spanischen König und dem römischen Papst zu unterwerfen, wenn sie nicht mit Feuer und Schwert bekriegt werden wollten - die Wahl nicht ganz frei erfolgen könne, sondern nur unter den Vorzeichen von Furcht und Unwissenheit. Außerdem hätten die Indios ihre eigenen Herren und das Volk könne ohne ausreichenden Grund nicht neue Herren zu Lasten der alten annehmen; auch könnten ihre Herren allein einen neuen Fürsten nicht einsetzen ohne die Zustimmung des Volkes (»Item nec [...] ipsi principes possunt novum principem creare sine assensu populi«).

>Perturbatio< zu vermitteln. Bereits in der Entscheidungsfindung selbst, nicht erst im Annehmen oder Ablehnen eines Zustandes wird Gott gefunden.« Wie schwierig es letztlich ist, nach Suärez' Unterscheidung der Geister wirklich zum Widerstand gegen die Tyrannei zu gelangen, belegt m.E. die Haltung der deutschen Katholiken (nicht zuletzt der zum Widerstand neigenden Jesuiten) in Hitlers Drittem Reich. Vgl. dazu E. Elorduy: Soberania popular (wie Anm. 49), S. XVI.

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Aus all diesen Gründen könne also mit dieser Wahl kein legitimer Rechtstitel erworben werden.67 Im zweiten Teil der Vorlesung wird aber der durch die freie Wahl erworbene Rechtstitel als ein kraft natürlichen Rechtes legitimer Rechtstitel betrachtet, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt werden: daß die Wahl wirklich frei sei, die spanische Herrschaft für die indianischen Völker wirklich eine bessere sei und sowohl die Herren wie die Untertanen den König von Spanien als souveränen Fürsten haben möchten. Hierbei sei nicht die Zustimmung aller nötig, sondern nur die der Mehrheit, auch wenn die anderen widersprechen sollten (»etiam aliis contradicentibus«), Vitoria denkt konkret an die Möglichkeit, daß eines Tages die Mehrheit der Bürger in einigen Städten und Territorien Amerikas Christen sein und nach einem christlichen Herrscher verlangen könnten, wie einst die Franken zum Wohle ihres Gemeinwesens Childerich das Königtum nahmen, »um es Pippin, dem Vater Karls des Großen, zu übertragen«.68 Aber wie könnte diese christliche Mehrheit für Vitoria entstehen? Durch Wahrnehmung des Migrations- und Missionsrechts, zu deren Durchsetzung - als ultima ratio - auch die Gewaltanwendung erlaubt sei, wenn die Indios uns an der Wahrnehmung dieser Rechte hindern sollten. Durch das Migrationsrecht, weil damit viele Christen dorthin gelangen könnten, die in der zweiten Generation kraft Geburt im Einwanderungsland Bürger jener Länder wären; durch das Missionsrecht, weil damit auch viele Indianer für die Herrschaftsübertragung zugunsten des allerkatholischsten spanischen Königs gewonnen werden könnten. So also wollte Vitoria die Praxis ordnen. Eine Universalisierung dieses Prinzips bedeutete wohl, daß jedes politische Gemeinwesen durch Einwanderung und Missionierung destabilisiert werden kann. Selbst akademische Schüler von Vitoria - so etwa Melchor Cano - mußten anmerken, der Magister habe wohl nicht bedacht, daß die Spanier nicht als >peregriniinvasores< kamen. »Kämen die Franzosen so nach Spanien, würden die Spanier das nicht dulden.«69 Vitorias Vorlesung über die Rechtstitelfrage in Zusammenhang mit der spanischen Expansion verdient bis heute das von Las Casas damals gesprochene Urteil, wonach der überaus gelehrte Vitoria bei der Demontage der von den Spaniern ins Spiel gebrachten Rechtstitel scharfsinnig argumentiert hätte, aber bei der Begründung legitimer Titel von falschen Tatsachen ausgegangen sei, die ihm von den Tätern erzählt wurden. Um die kaiserliche Partei zu besänftigen, habe er im zweiten Teil einige Thesen entschärft, die zu hart klangen. Für die Wahrheitsliebenden gebe es darin allerdings keine Härte, denn das sei damals wie heute sehr katholisch und wahr. Vitoria

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Francisco de Vitoria: De indis - Über die Indianer, in: ders.: Vorlesungen (wie Anm. 11), Bd. 2, S. 370-541, hier S. 4 5 2 - 4 5 3 : 1 2 . 2 3 (S. 452-455). Ebd., S . 4 8 2 f : 13.15. Melchor Cano: De dominio indorum (Corpus Hispanorum de Pace. 9, S. 579); hier zitiert nach Ulrich Horst: Leben und Werke (wie Anm. 11), S. 94, Anm. 230.

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selbst gebe uns dies zu verstehen, da er sich im zweiten Teil nur im Konjunktiv äußere.70 (2) Las Casas konnte eine geradezu profunde Kenntnis der kolonialen Praxis für sich reklamieren.71 Seine politische Theorie läßt im Zusammenhang mit der spanischen Expansion vor und nach der Taufe der Indios auch nur diese zwei Grundprinzipien gelten, wenn die Herrschaftsübertragung nach dem göttlichen Recht und dem Naturrecht geschehen soll: die freiwillige Zustimmung aller Betroffenen und den von beiden Teilen beeideten Herrschaftsvertrag.72 In den Traktaten Über die Schätze Perus und Über die zwölf Zweifelsfälle, die 1561-1563 entstanden sind und den letzten Stand seiner politischen Theorie darstellen, werden diese Prinzipien eindrucksvoll begründet. Die freiwillige Zustimmung ist für Las Casas die wichtigste Wirkursache und der hauptsächliche Rechtstitel für die spanische Herrschaft (»consensus illorum est jus et causa efficiens, principatus Regum nostrorum principalius seu principalior«). Ohne diese Zustimmung kann auch die päpstliche Einsetzung aus der Konzessionsbulle des Jahres 149373 rechtlich nicht greifen.74 Die Begründung ist aus De regia potestate bereits bekannt: daß jede Für-

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Bartolome de Las Casas: Apologia, in: ders.: Obras completas. Vol. 9, Ed. A. Losada, Madrid 1988, Kap. 56, S. 626-629. Im Brief des Jahres 1564 an die Ordensmitbrüder in seinem alten Bistum Chiapa und Guatemala, die seine Sicht des encomienda-Problems nicht teilten, schreibt der alte Las Casas: »Es sind [...], meine Patres, einundsechzig Jahre vergangen, seit ich diese Tyranneien beginnen und wachsen sah, und sie haben zugenommen bis auf den Tag. Und ich weiß, daß sie heute noch in ganz Westindien begangen werden, es steht mir hier aufgrund der zahlreichen standigen Briefe, Berichte und Klagen, die ich hier von vielen Tag für Tag aus diesen Gegenden erhalte (wenn auch nicht aus dieser Provinz, in der sich die encomenderos offenbar wie Heilige benehmen müssen), gegenwärtig vor Augen. So verfüge ich mehr als irgendwer sonst Uber Kenntnis und Wissen bezüglich der Praxis, und es sind achtundvierzig Jahre, in denen ich schon untersuche und erforsche, um das Recht klar zu beweisen. Wenn ich mich nicht täusche, so halte ich dafür, diese Materie vertieft zu haben und an ihren Grund vorgedrungen zu sein.« Bartolome de Las Casas: Werkauswahl 3/1. Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrg. v. Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1996, S. 500. Ders.: Traktat über die Schatze Perus, in: ders., Werkauswahl 3/1 (wie Anm. 71), Kap. 11, S. 279. Auf den 4. Mai 1493 datierte bekanntlich Papst Alexander VI. seine Bulle Inter cetera, mit der er den Katholischen Königen und seinen Nachfolgern »aus der Fülle Unserer apostolischen Machtbefugnis [...] für alle Zeiten [...] alle aufgefundenen oder aufzufindenden, alle entdeckten oder zu entdeckenden Inseln und Festlander mitsamt allen Herrschaften, Städten, Lagern, Platzen und Dörfern und allen Rechten, Gerechtsamen und zugehörigen Berechtigungen« schenkt, gewährt und überträgt. Vgl. deutsche Übersetzung der Bulle in: Mariano Delgado: Abschied vom erobernden Gott. Studien zur Geschichte und Gegenwart des Christentums in Lateinamerika. (Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, Supplemente. 43), Immensee 1996, S. 73. Zu Las Casas' Interpretation dieser Bulle im Kontext seiner politischen Theorie vgl. ders.: Universalmonarchie (wie Anm. 34), S. 161-179. Bartolome de Las Casas: Traktat Uber die Schatze Perus (wie Anm. 72), Kap. 29: S. 322f„ auch S. 320f. und S. 316f.

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stenschaft oder Regentschaft über das Volk von Anfang an, d.i. noch bevor das Reich oder das Fürstentum durch Sukzession übertragen wird, ihren Ursprung in Zustimmung und Wahl des Volkes hat;75 daß die Freiheit ein unschätzbares Gut ist und man sie nur mit dem letzten Atemzug aufgibt; daß jede Herrschaft auch mit Lasten (Tributen usw.) verbunden ist, die die Freiheit beeinträchtigen, weshalb die Zustimmung des Volkes nötig ist usw. Gegenüber von De regia potestate wird das Prinzip der Zustimmung aller Betroffenen in diesen Traktaten näher begründet. Die Rechtsregel aus dem sechsten Buch der Dekretalen >Quod omnis tangit, debet ab omnibus approbarn wird mehrmals angeführt,76 eine Regel, die wir vergeblich bei Vitoria und Suärez suchen werden; aber auch Gesetze von beiden Rechten aus dem Adoptionsrecht, dem Wahlrecht der korporativen Kollegien, dem Vertragsrecht, dem Sklavenrecht, dem Brunnen- und Pachtrecht und gar aus dem Wahlrecht der Bischöfe, deren Einsetzung einst auch der faktischen - nicht bloß rituellen - Zustimmung des Volkes bedurfte, um rechtswirksam zu sein, führt Las Casas an,77 genauso wie eine Interpretation des Königtums von Saul und David als ein wesentlich von der Zustimmung des Volkes abhängiges, da Gott selbst das Naturrecht nicht aufheben möchte, das er von Anfang an so geordnet und unwandelbar eingerichtet hat.78 Kurz und gut: kein Beleg aus der abendländischen Rechtstradition ist ihm zu schade, wenn er damit sein korporatives Prinzip der Zustimmung aller Betroffenen begründen kann. Mit der Zustimmung aller Betroffenen meint er »alle, deren Recht man beschneidet oder denen man einen Schaden zufügt, alle, die aufgrund des Naturrechts, des göttlichen und menschlichen Rechtes die Macht haben, zuzustimmen oder abzulehnen«.79 Und unter Bezug auf das Gesetz >Si unus< aus dem Sklavenrecht im Digestum gibt er zu verstehen, daß die Zustimmung nicht gegeben sein kann, solange sich ein einziger in seinem Recht verletzt fühlt: »Wenn mehrere etwa gemeinsam ein Landgut besitzen und alle außer einem darin Knechte halten wollen, so ist die Zustimmung aller herbeizuführen; ansonsten macht das Fehlen des einen die Einrichtung ungültig.«80

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Ebd., Kap. 17, S. 287; Kap. 27, S. 294. Ebd., Kap. 17, S. 283; Kap. 20, S. 288; ders.: Traktat über die zwölf Zweifelsfälle, in: ders.: Werkauswahl 3/2: Sozialethische und staatsrechtliche Schriften, hrg. v. Mariano Delgado, Paderborn u.a. 1997, Kap. 11, S. 301f. Vgl. Decretalium collectiones: Liber Sextus: 5, 13, 29: Corpus Iuris Canonici, Ed. Emil Friedberg. Vol. 2, Graz 1959, S. 1122. Vgl. ders.: Traktat Uber die Schatze Perus (wie Anm. 72), Kap. 17 und Kap. 20, S. 283290. In Kap. 20 (S. 288) zitiert Las Casas den Kanon >NuIla ratio< aus dem Decretum: »Keine Begründung erlaubt es, unter den Bischöfen welche zu haben, die weder von den Klerikern gewählt noch vom Volk gewünscht sind.« Decretum Gratiani: D. 62, c. 1: Corpus Iuris Canonici, Ed. Emil Friedberg. Vol. 1, Graz 1959, S. 234. Vgl. ebd., Kap. 40, S. 303f. Ders.: Traktat über die zwölf Zweifelsfälle (wie Anm. 76), Kap. 11, S. 302. Ders.: Traktat über die Schätze Perus (wie Anm. 72), Kap. 17, S. 284f. Digestum: 8, 3, 19: Corpus Iuris Civilis, Ed. Theodor Mommsen und Paul Krueger, Dublin-Zürich l4 1967, S. 148.

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Mariano Delgado

Nun, mit der Übertragung solcher Texte auf die Ebene der politischen Zustimmung legt Las Casas bewußt die Latte sehr hoch, denn auch die antike und mittelalterliche Konsenstradition lief letztlich auf eine Mehrheitsentscheidung hinaus. Aber Las Casas würde wohl auch heute eine Mehrheit, die rücksichtslos >obsiegt< und sich über die berechtigten Einsprüche der Minderheit hinwegsetzt, ablehnen und für eine konsensuale Mehrheit plädieren, die >überzeugtrecognitio< des Apostolischen Stuhls selbst nach einer Zweidrittelmehrheit in der Vollversammlung. Auch im Rahmen der Europäischen Union und der NATO werden die Entscheidungen nach einem solchen Prinzip getroffen, wenn man sich für die Überzeugungsarbeit oder den Ausgleich der verschiedenen Interessen Zeit nehmen muß. Andererseits leiden unsere parlamentarischen Demokratien daran, daß immer mehr Entscheidungen über Dinge von allgemeinem Interesse einer kleinen Gruppe von Spezialisten überlassen werden und das Prinzip der Zustimmung aller Betroffenen das Volk nicht direkt einbezieht, sondern höchstens noch die parlamentarischen Volksvertreter, so als ob - frei nach Suärez - mit der Parlamentswahl eine quasi >absolute< Herrschaftsübertragung an Parlament und Regierung vorgenommen worden wäre. Vielfach wächst deshalb die Sehnsucht nach Formen direkter Demokratie, 81 die dann freilich nicht auf die Zustimmung aller Bürger und Bürgerinnen hinauslaufen kann, denn das würde zur Entscheidungsunfähigkeit führen, sondern nur auf die Zustimmung der Mehrheit unter freier Beteiligung aller stimmwilligen Wahlberechtigten und unter gebührender Berücksichtigung der berechtigten Einsprüche der unterlegenen Minderheit. Auch Las Casas' Ausführungen über den Herrschaftsvertrag im kolonialen Kontext bewegen sich im Rahmen des schon in De regia potestate im universalen Kontext Gesagten. Ein solcher Vertrag, sagt Las Casas, ist nötig, entspricht dem universalen Gewohnheitsrecht der Völker (apud omnes populos et gentes) und darf nicht so verstanden werden, als hätte der König freie Hand, über das darin Vereinbarte hinaus die Freiheit des Volkes mit weiteren Lasten zu beeinträchtigen. Für jede neue Maßnahme dieser Art ist die Zustimmung des Volkes einzuholen, auch wenn dies im Herrschaftsvertrag nicht ausdrücklich festgehalten wurde.82 Ein solcher Vertrag ist ein " 12

Vgl. Bruno Kaufmann: Die Welt der direkten Demokratie. Ein Überblick, in: Die Zeit 51/1999. Bartolomi de Las Casas: Traktat über die Schatze Perus (wie Anm. 72), Kap. 28, S. 306f.

Die Zustimmung des Volkes

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gegenseitiger Vertrag, der dem Willen beider Teile entspringt und beide Teile verpflichtet (»Ecce contratus ultro citroque aut ex utraque parte obligatio, ex uoluntate partium consurgens. Ideo dicimus quod pasciscendo diuersas in unum trahimus uoluntates.«)83 Die Beweiskette über die Zustimmung aller Betroffenen und den Herrschaftsvertrag endet mit den bitteren Worten, daß die spanischen Könige allen Grund haben, »jede Hoffnung fahrenzulassen, sie möchten jemals das (höchste) Fürstenamt über jene Gebiete in Ruhe und ohne Gewissensbisse innehaben, selbst wenn jene Völker ihre Zustimmung bekunden; denn es kann ja immer die Rechtsvermutung bestehen, sie täten das unter dem Zwang einer überaus berechtigten Furcht«.84 Daher spricht er den indianischen Völkern ein reales und nicht bloß spekulatives Widerstandsrecht gegen die als Tyrannen ohne rechten Herrschaftstitel auftretenden Spanier zu,85 das nur die zwei klassischen Einschränkungen kennt: »es sei denn, daß die unterworfene Menge größeren Schaden aus der folgenden Erschütterung erfährt als aus der Tyrannei«, und »es sei denn, daß ein Treuversprechen gebrochen würde, das auch Feinden gegenüber eingehalten werden muß«.86 (3) Wie steht es nun mit Suärez? Die zwei gängigsten Argumente zur Legitimation der spanischen Expansion waren um 1600 folgende: erstens die Berufung auf die päpstliche >translatio imperii< oder Konzessionsbulle von 1493 als eine Ermahnung zur Wahrnehmung des Missionsrechtes, im äußersten Fall auch mit kriegerischen Mitteln, falls dies zum Schutz des Lebens der Glaubensapostel nötig wäre; und zweitens sagte man - Las Casas' politischer Theorie zum Trotz, wonach der Anspruch auf politische Freiheit nie verjähren könne wenn im Zuge der Wahrnehmung des Missionsrechtes fremde Reiche erobert und dabei auch Ungerechtigkeiten begangen wurden, so seien sie bestimmt schon verjährt, so daß die spanische Herrschaft durch die stillschweigende Zustimmung jener Völker völlig legitim geworden sei. Es ist klar, daß ein kluger Kopf wie Suärez das erste Argument sehr besonnen darlegt und sich von den rücksichtslosen Hardlinern mit der Bemerkung absetzt, man dürfe durch ein allzu kriegerisches Auftreten nicht den Eindruck erwecken, man wolle fremde Länder besetzen, so als ob unser Glaube uns die Verletzung des Völkerrechts und sogar des Naturrechts gestattete.87 Suärez plädiert vielmehr dafür, man solle die heidnischen Fürsten wiederholt und in vornehmer Weise bitten, die Glaubensboten zuzulassen: »Erst wenn alles nichts nütze, dürfe man Gewalt anwenden.«88 Der offensichtliche Widerspruch zur apostolischen Kirche wird nun im Geiste 83 84 85 86 87

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Ebd., Kap. 28, S. 308f. Ebd., Kap. 27, S. 295. Ders.: Traktat über die zwölf Zweifelsfillle (wie Anm. 75), Kap. 27-29, S. 351-363. Ebd., Kap. 27, S. 354. Francisco Suärez: De fide, Tr. 1, disp. 18, sect. 1, η. 8, in: ders.: Opera omnia, Ed. C. Berton, Paris 1858, vol. 12, S. 440. Joseph Höffner: Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 3 1972, S. 336.

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des politischen Augustinismus begründet, der uns auch bei Juan Gin£s de Sepülveda und allen Gegnern des Las Casas begegnet: »Wenn in den Anfängen der Kirche auch diese Art des Zwanges nicht üblich war, so geschah das nicht deshalb, weil es nicht erlaubt gewesen wäre, sondern weil die Kirche damals noch keine weltliche Macht zum Widerstand gegen die Feinde des Glaubens besaß. Christus der Herr wollte im Anfang die Welt mit der Kraft des Wortes und der Wunder besiegen, um seine Macht und die Wahrheit seiner Lehre augenfälliger offenkundig zu machen.«89 Über das zweite Argument erfahren wir bei Suärez leider nichts, obwohl es die Probe aufs Exempel seiner politischen Theorie gewesen wäre, wenn er nicht nur dem Absolutismus Jakobs I., sondern auch der spanischen Expansion Grenzen gesetzt hätte. Hat er vielleicht an die koloniale Rechtstiteldiskussion gedacht, als er in Defensio fidei kryptisch sagt, es sei jetzt nicht die Zeit, der Frage nachzugehen, ob die Juden von den Römern gerechterund legitimerweise oder ungerechter- und tyrannischerweise unterworfen und zur Entrichtung von Tributen an den Kaiser gezwungen wurden, denn eine solche Frage sei nicht mehr aktuell?90 Hat er auch an den kolonialen Kontext gedacht, als er vermerkt, der ungerechte Krieg sei zwar der häufigste Weg, auf dem Großreiche entstünden, aber im Verlauf der Zeit treffe ein, daß das Volk seine freie Zustimmung dazu gebe oder die Nachfolger in der Herrschaft guten Glaubens regieren; dann höre die Tyrannei auf und beginne die gute Regierung und königliche Gewalt? Suärez läßt sich anschließend gar zur Schlußfolgerung verleiten, daß die königliche Gewalt so oder so durch freie >translatio< oder Verjährung der gewaltsamen >usurpatio< - immer kraft eines menschlichen Titels oder kraft des menschlichen Willens unmittelbar erlangt werde (»Atque ita semper potestas haec aliquo humano titulo seu per voluntatem humanam immediate obtinetur.«)91 89

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Francisco Suärez: De fide, Tr. I, disp. 18, sect. 1, η. 10, in: ders.: Opera omnia (wie Anm. 87), S. 440f.; vgl. Joseph Höffner: Kolonialismus (wie Anm. 88), S. 336. Dies war schließlich auch die Sicht, die Gregor XIV. im Breve Eximiam potestalem auf Bitten des Jesuiten Alonso Sanchez und vor dem Hintergrund der philippinischen Kontroverse (ein Bruder Suärez' gehörte zu der von Sänchez angeführten ersten Jesuitengruppe auf den Philippinen) 1591 bestätigte. Darin hieß es, zwar sei das Evangelium in den Anfängen, als die Kirche noch in Windeln lag, ganz nach apostolischer Ait ohne den Schutz christlicher Waffen verkündet worden, doch spater wurde die Kirche machtig und militant, so daß ihre erlauchten Söhne, Kaiser, Könige, Fürsten und Herren das Schwert ziehen konnten, um sie zu beschützen und sie schützend unter die Barbaren zu verbreiten. Vgl. Mariano Delgado: Las Casas' posthumer Sieg. Zur Kontroverse Uber die Missionsart und die Tributfrage im Zusammenhang mit Conquista und Evangelisation der Philippinen, in: Annuarium historiae conciliorum 27/28 (1995/1996), S. 737-768, hier S. 760. Was Suärez im Zusammenhang mit dem kolonialen Kontext zu verstehen gibt, steht auch ganz in Einklang mit der »Realpolitik^ die der Jesuit Jos6 de Acosta in seinem missionstheologischen Traktat De procuranda indorum salute (Corpus Hispanorum de Pace. 23/24), Madrid 1984-1987, vertritt. Las Casas' politische Theorie, die bis zur Hinrichtung Tupac Amarus 1572 zumindest in Peru eine reale Alternative gewesen war, wird nunmehr von vielen realpolitisch denkenden Autoren als utopisch und wirklichkeitsfremd diskreditiert. Francisco Suärez: Defensio fidei III (wie Anm. 49), 1.8 (S. 13). Ebd., III 2.20 (S. 32).

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Ausblick Vitoria, Las Casas und Suärez lebten in einer Übergangszeit, die nicht mehr Mittelalter und noch nicht Neuzeit war, und sind uns daher durchaus fremd.92 Ihre politische Theorie trägt die Signatur einer Epoche >zwischen den Zeiten< und ist in der modernen, komplexen Welt von parlamentarischen Demokratien und Globalisierungsprozessen nur von >analogem< Wert. Sie lebten auch in einer Zeit, in der, wie Vitoria am Anfang seiner Vorlesung über die weltliche Gewalt sagte, Aufgabe und Amt des Theologen so weit reichten, »daß offenbar kein Gegenstand, keine Untersuchung, kein Gebiet dem Fach und Vorhaben der Theologie fremd ist«.93 Alle drei haben sich als Theologen und Juristen in die Kämpfe ihrer Zeit eingemischt und mit ihrer je verschieden akzentuierten politischen Theorie einen katholischen Beitrag zur Begründung der Lehre von der >Volkssouveränität< geleistet, die der absolutistische Jakob I. von England ironisch »egregium theologiae axioma«94 nannte. Heute, wo die Theologie an den Universitäten zunehmend unter Legitimationsdruck gerät, wäre es vielfach angebracht, öfter daran zu erinnern, wieviel die verschiedenen Wissenschaften der Theologie eigentlich verdanken. Nach diesem kleinen Vergleich scheint mir aber, daß die Worte, die ein Autor Suärez widmete, als er ihn den »ersten modernen Demokraten« nannte,95 eher zum Bischof von Chiapa passen. Denn nur seine politische Theorie bestand die Probe aufs Exempel und verteidigt konsequent die Rechte der anderen, wenn sie von uns mit Füßen getreten werden. Gerade dies ist ein sehr >moderner< Zug in einer politischen Theorie aus dem fernen 16. Jahrhundert. Der Philosoph Vittorio Hösle hat daher jüngst zu Recht hervorgehoben: »Die Assyrer haben ihre Opfer nicht bedauert; Spanien hat, mehr als zwei Jahrtausende später, immerhin einen Las Casas hervorgebracht, und auf den einen Las Casas kann es unendlich stolzer sein als auf alle seine Eroberer.«96

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Rainer Specht: Spanisches Naturrecht (wie Anm. 4), S. 173. Francisco de Vitoria: De potestate civili 1: Vorlesungen (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 117, lateinischer Text: S. 116. Vgl. Francisco Suärez: Defensio fidei III (wie Anm. 49), 2.10 (S. 23). So J. H. Fichter: Man of Spain, Francis Suärez, New York 1940; hier zitiert nach Elorduy, Soberania popular (wie Anm. 49), S. CXCIX. Vittorio Hösle: Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik ftlr das 21. Jahrhundert, München 1997, S. 1042.

Michael Sievernich S.J. (Frankfurt am Main)

Toleranz und Kommunikation. Das Recht auf Mission bei Francisco de Vitoria Ν on enim homini homo lupus, ut ait comicus, sed homo. Vitoria, De lndis III, 2

Francisco de Vitoria, »der führende Kopf der aufblühenden spanischen Spätscholastik«,1 reflektierte in der frühen Neuzeit die rechtlichen, ethischen und theologischen Probleme der europäischen Expansion und entwickelte mit der Idee einer naturrechtlich begründeten und völkerrechtlich geordneten Staatengemeinschaft regulative Prinzipien, nach denen kulturelle und religiöse Andersheit rechtsförmig anzuerkennen, Kriege durch Reduktion der gerechten Gründe< (iustae causae) einzudämmen und symmetrische Beziehungen zwischen den Völkern durch Kommunikation (Freizügigkeit, Handel, Mission) zu fördern sind. Die Leistung Vitorias liegt darin, daß »die zentralen universalistischen Ideen des christlichen Naturrechts auf internationale und interkulturelle Beziehungen angewandt«2 und schulbildend wurden und so eine breite Wirkungsgeschichte entfalten konnten. In der frühen Neuzeit, als die iberischen Mächte sich anschickten, entdeckend und erobernd nach Süden, Osten und Westen vorzustoßen, stand das Recht auf Mission außer Frage. Es verband sich freilich auf ambivalente Weise mit einer imperialen Politik der Eroberung und Kolonisierung, wie schon der königliche Schutzbrief vom 17. April 1492 zeigt, den die katholischen Könige< Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragön dem Kolumbus für das Unternehmen einer westlichen Indienfahrt mitgaben. Kolumbus solle, so der Schutzbrief, nach Indien aufbrechen, »um des Dienstes an Gott und der Verbreitung des rechten Glaubens willen sowie auch zu unserem Nutzen und Vorteil«.3 Auch die Gesetze über die Behandlung der Indianer (Leyes de Burgos), die 1512 aufgrund der Proteste der Missionare erlassen worden waren, leiten die gesetzgeberische Tätigkeit von der Missionspflicht ab, welche die spanische Krone durch das Patronat übernommen hatte. So selbstverständlich das Recht und die Pflicht zur Bekehrung der >Heiden< im Rahmen des mittelalterlichen >orbis christianus< schien, so problematisch wurden sie angesichts der Verbindung von Missionierung und Modernisierung4 im Rahmen einer Eroberungs- und Besiedlungspolitik.

W. Reinhard: Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 2: Die Neue Welt, Stuttgart 1985, S. 65. V. Hösle: Die Dritte Welt als ein philosophisches Problem, in: ders.: Praktische Philosophie in der modernen Welt, München 1992, S. 131-165, hier S. 141. Der Text des Schutzbriefs in: Dokumente zur Geschichte der europäischen Expansion. Bd. 2: Die großen Entdeckungen, hrg. v. Eberhard Schmitt, München 1984, S. 108f. P. Borges Morän: Misiön y civilizaciön en Amörica, Madrid 1987.

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Denn mit der Frage nach der Legitimität der spanischen Landnahme stand auch die christliche Mission und ihre Methode zur Debatte. Auf diesem Hintergrund haben im 16. Jahrhundert die Missionstheorien des Dominikaners Bartolomö de Las Casas und des Jesuiten Jos6 de Acosta exemplarische Bedeutung erlangt. Las Casas (1484-1566) verfaßte auf dem Erfahrungshintergrund der karibischen und mesoamerikanischen Kulturen seine Missionstheorie De unico modo vocationis omnium gentium ad veram religionem, ein um 1534 verfaßtes und später überarbeitetes Werk, das zwar lange verschollen war und als Fragment erst 1942 veröffentlicht wurde, doch schon zu seinen Lebzeiten insofern Wirkung zeigen konnte, als die grundlegenden Ideen auch seine anderen Werke, vor allem seine Traktate, Gutachten und Eingaben prägten. Die mit Vernunft- und Autoritätsgründen untermauerte Kernthese lautet dahingehend, daß es prinzipiell nur eine »einzige« Weise gebe, die Menschen die wahre Religion zu lehren, »nämlich die Überzeugung der Vernunft durch Gründe und die sanfte Anlockung und Ermunterung des Willens« (intellectus rationibus persuasivus et voluntatis suaviter allectivus vel exhortativus). Diese These reflektiert die thomanische Anthropologie, derzufolge die Vernunft- und Freiheitsnatur des Menschen keinerlei moralischen oder gar martialischen Zwang erlaubt, erst recht nicht bei der an biblischen Maßstäben orientierten Mission.5 Die lascasianische These prägt auch die 1537 auf Betreiben der Dominikaner von Paul III. veröffentlichte Bulle Sublimis Deus, die Freiheit und Besitz der Indianer verteidigte, ihre Versklavung verbot, ihre Fähigkeit zum christlichen Glauben bestätigte und als Missionsmethode empfiehlt, die Indianer durch Verkündigung des Wortes Gottes und das Beispiel eines guten Lebens zum Glauben an Christus einzuladen (invitandos).6 Mehr auf dem Horizont der andinen Kulturen entwickelte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der Jesuit Jos£ de Acosta (1540—1600) die Standardtheorie. Sein umfangreiches Werk De procuranda Indorum salute7 wurde erstmals 1588 veröffentlicht und geht von der Grundthese aus, daß es kein Volk gebe, das »von der Mitteilung des Evangeliums und des Glaubens ausgeschlossen sei« (Neque enim genus aliquod hominum exclusum est in Evangelii fideique communicatione). Angesichts der Tatsache, daß die ideale Missionsmethode >more apostolico< in der Neuen Welt nur bedingt anwendbar, die oft angewandte >perverse< Methode von Zwang und Gewalt dagegen völlig abzulehnen sei, plädiert er für eine >neue Methode der EvanBartolomi de Las Casas: Die einzige Art der Berufung aller Völker zur wahren Religion, in: ders.: Werkauswahl Bd. 1: Missionstheologische Schriften, hrg. v. M. Delgado, Paderborn 1994, S. 97-335. Lat.-span. Ausgabe: De unico vocationis modo, in: ders., Obras completes. Bd. 2, Ed. P. Castafleda Delgado y A. Garcia del Moral, Madrid 1990. Text in Las Casas' Missionstheorie (Anm. 5), S. 246f. Vgl. Μ. M. Martinez: Las Casas, Vitoria y la >Bula Sublimis Deuskolonialethischen< Debatte um die Rechtstitel der spanischen Conquista der Neuen Welt" die Auffassung, die Missionsaufgabe erfordere wegen der Immoralität und Inferiorität der Indianer zunächst deren militärische Unterwerfung und Zivilisierung. Da diese These bei Eroberern, Encomenderos und auch bei Missionaren breite Zustimmung fand, sei sie in Grundzügen vorgestellt,12 zumal man nur auf diesem Hintergrund die unerhörte Neuheit der Ideen eines Las Casas, Vitoria oder Acosta ermessen kann.

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M. Sievernich: Vision und Mission der Neuen Welt Amerika bei Josd de Acosta, in: Ignatianisch. Eigenart und Methode der Gesellschaft Jesu, hrg. ν. Μ Sievernich und G. Switek, Freiburg, Basel, Wien 1990, S. 293-313. R. Marcus: Las Casas admirateur critique de Vitoria. In: Le Suppliment. Revue d'6thique et de thiologie morale 160 (1987), S. 67-72. Vgl. Bartolomd de Las Casas: Apologia (Obras completas. 9), Ed. A. Losada, Madrid 1988, S. 626ff. Hierau noch immer lesenswert: J. Höffner: Christentum und Menschenwürde. Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 1947. Zum Vergleich der drei Positionen mit Sepülveda vgl. die Studie von A. Pagden: The fall of natural man. The American Indian and the origins of comparative ethnology, Cambridge 1982.

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1. Martialische Vorbereitung der Mission Der Humanist und kaiserliche Hofchronist Juan Ginös de Sepülveda (14901573) absolvierte seine philosophischen und theologischen Studien in Alcalä de Henares und Sigüenza und lernte am spanischen Kolleg in Bologna den italienischen Humanismus kennen. Zunächst stand er durch Vermittlung seines Gönners Giulio de Medici, des späteren Papstes Klemens VII., in Diensten der römischen Kurie, wechselte aber nach dessen Tod 1536 als Chronist an den Hof Kaiser Karls V. Neben seiner historiographischen Tätigkeit befaßte sich der Gelehrte auch mit politischen, staatsphilosophischen und rechtlichen Fragen seiner Zeit. Wie viele seiner gebildeten Zeitgenossen bewegte auch ihn die Frage nach der Legitimität der spanischen Eroberung, die seit der prophetischen Predigt Antonio de Montesinos von 1511 in Santo Domingo zum politischen Richtungsstreit geworden war, zu gelehrten Kontroversen Anlaß gab und zur allmählichen Ausbildung eines amerikanischen Rechts (derecho indiano) führte. Die Fragen um Krieg und Frieden behandelte Sepülveda im Stil der Zeit in zwei humanistischen Dialogen: Grundsätzlich im Dialog Democrates primus (1535) und, auf die Neue Welt bezogen, im Dialog Democrates secundus de iustis belli causis (1541), auch Democrates alter genannt. Letztere Schrift durfte allerdings nicht veröffentlicht werden, weil die Zensoren Melchor Cano und Bartolomö Miranda de Carranza, beide Schüler Vitorias, keine Druckempfehlung aussprachen. Im Dialog Democrates secundus13 sind die beiden Gesprächspartner der lutherisch orientierte Leopoldo, der mit biblischer Begründung den Krieg ablehnt und nur in Ausnahmefällen rechtfertigende Gründe (causae iustae) anerkennt, und Democrates, Sepulvedas Sprachrohr, der über die üblichen Gründe (Verteidigung, Rückgewinnung der Kriegsbeute und Bestrafung der Schuldigen; vgl. DS 16f.) hinaus mit Blick auf die Neue Welt vier weitere anfuhrt. Diese vier Argumente zur Rechtfertigung des spanischen Vorgehens in der Neuen Welt (aliae iusti belli causae, DS 19) lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Das erste Argument bezieht sich auf die aristotelische Lehre von den Herren und Sklaven »von Natur aus« (Politik 1254b) und wendet diese auf die als »homunculi« (DS 35) bezeichneten Indianer an, deren Inferiorität das Recht der kulturell überlegenen Spanier begründe, Krieg gegen sie zu führen. Das zweite Argument besteht in dem vorgeblichen Recht, die spezifischen Sünden der »Barbaren« wider die Natur, d.h. Kannibalismus, Idolatrie und Menschenopfer, zu bestrafen und einzudämmen. Diese Sünden, von denen jede einzelne schon einen hinreichenden Grund für einen »höchst gerechten Krieg« (iustissimi belli, DS 39) abgebe, seien gegen das Naturrecht und die Vernunft gerichtet und deshalb zu bestrafen; christliche Fürsten dürften die Völker, die das Naturrecht verletzen, unterwerfen und sie dazu zwingen, die natürliche Ordnung der Dinge einzu13

Juan Gin6s de Sepülveda: Democrates segundo ο de las justas causas de la guerra contra los indios, Ed. A. Losada, Madrid 1951 (Sigel DS und Seitenangabe).

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halten (DS 46f.). Das dritte Argument lautet auf die naturrechtlich begründete, unbedingte Pflicht, Unschuldige zu schützen, falls sie durch die Praxis von Kannibalismus und Menschenopfern bedroht sind. Das vierte, uns hier besonders interessierende Argument fuhrt die Verbreitung der christlichen Religion als gerechten Kriegsgrund an sowie die, nötigenfalls gewaltsame, Beseitigung der Hindernisse, die der Christianisierung der Heiden im Wege stehen. Inferiorität, Immoralität, humanitäre Hilfeleistung und Glaubensverbreitung sind demnach die >iustae causae< für einen Krieg gegen die Indianer. Die beiden ersten Argumente beinhalten eine kulturelle und moralischreligiöse Diskriminierung, während die beiden letzteren Argumente als Intervention aus humanitären (Verteidigung Unschuldiger) und religiösen Gründen (Rettung vor Verdammnis) zu beschreiben sind. Zwar kennt Democrates alias Sepülveda die Tradition und weiß, daß Ungläubigkeit an sich (infidelitas) keinen Kriegsgrund abgibt, weil ein Volk dafür ebensowenig bestraft werden kann, wie es zum Glauben gezwungen werden darf (DS 59). Doch folgt seine Argumentation einer Logik, die auf der einen Seite die Freiheit zu glauben und sich taufen zu lassen bewahren will, auf der anderen Seite aber für Zwangs- und Gewaltmaßnahmen plädiert, um die Bekehrung möglichst schnell zu bewerkstelligen. Die einzelnen Gründe des vierten Arguments entfaltet Sepülveda, indem er Democrates auf die jeweiligen Einwände Leopoldos antworten läßt. Pflichten gegenüber Irrenden. Ein Krieg gegen die Barbaren befolge ein evangelisches Gebot Christi (praeceptum evangelicum) und diene dazu, eine große, im Irrtum befangene Menge von Menschen auf dem schnellsten Weg aus der verderblichen Dunkelheit zum Licht der Wahrheit zu führen. Denn wenn Gott schon befehle, dem Feind das verirrte Rind oder seinen Esel zurückzubringen (Ex 23, 4), in welch höherem Maß gelte dann für die Menschen, ihre Gefährten und Nächsten (socios ac proximos) aus dem gefährlichen Irrtum zu befreien und mit der Wahrheit bekanntzumachen. Und wenn dies aufgrund des Naturgesetzes und der christlichen Liebe schon für irrende Menschen gelte, um wieviel mehr dann im Fall der Heiden, die zur wahren Religion (veram religionem) zu führen und vor dem Untergang zu retten seien, selbst gegen ihren Willen. Notwendigkeit präventiver Unterwerfung. Leopoldos These, daß niemand zum Glauben gezwungen werden dürfe, stimmt auch Democrates zu; auch solle man den Irrenden den Weg zur Wahrheit durch fromme Ermahnungen und Predigt des Evangeliums (per pia monita et euangelicam predicationem, DS 65) eröffnen. Dieses Ziel der Verbreitung des christlichen Glaubens (Christianae pietatis propagatio) könne aber zweckmäßigerweise (commode) nicht ohne die Unterwerfung der Barbaren (subiectione barbarorum) erreicht werden. Die kriegerische Unterwerfung erleichtere also die folgende Missionierung, und mit demselben Recht könne man unterwerfen und dazu nötigen, das Evangelium zu hören (ad euangelium audiendum compelli), wie auch das dritte Buch des thomanischen Fürstenspiegels De

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regimine principum lehre.14 Den Klerikern obliege es, andere zu gerechten Kriegen anzufeuern (inducere alios ad bellandum bella iusta, DS 66), wie dies in der Geschichte öfter der Fall gewesen sei. Amt der Geistlichen sei zwar zu predigen, doch wie könnten sie dazu gesandt sein, wenn die Barbaren nicht vorher unterworfen worden wären (nisi prius fueri barbari in ditionem redacti). Mangel an Wundern. Dem Einwand, daß die Apostel ohne Anwendung von Waffen gepredigt hätten, stimmt Democrates zu; auch beklagt er mehrfach den Mangel an Wundern (rarissima miracula, DS 67). Wenn die heutigen Apostel den vollkommenen Glauben, die Kraft Wunder zu wirken und die Sprachengabe der apostolischen Zeiten hätten, wäre es ihnen ein leichtes, die ungläubigen Feinde (impios hostes) dem Joch des Glaubens (fidei iugo) zu unterwerfen (DS 67); da diese Voraussetzungen jedoch nicht gegeben seien, müsse man heute mit Klugheit vorangehen, und dazu gehöre, sich in gefährlichen Situationen vorsichtig zu verhalten. Nötigung zum Glauben. Dem Einwand, daß man zum Glauben nur eingeladen, aber nicht genötigt werden könne, begegnet Democrates mit Verweis auf Paulus, der bei seiner Bekehrung von Christus zum Glauben genötigt worden sei (ad fidem coegit; vgl. Apg 9, 3-8), und auf das lukanische Gleichnis vom Festmahl (Lk 14, 23), in dem zum Eintreten genötigt werde (compelle intrare). Als weitere Autoritäten führt er Ambrosius und Gregor den Großen an, aber auch die deuteronomische Gesetzessammlung, die den Krieg gegen Städte unter bestimmten Bedingungen erlaubt (Dt 20, 10-12). Aus all diesen Belegen folgert er, daß die Barbaren nicht nur einzuladen (non solum invitandos), sondern auch zum Guten, d.h. zu Gerechtigkeit und Religion, genötigt werden dürfen (compellendos ad bonum, DS 71), vor allem, wenn dies mit relativ geringem Aufwand (parvo negotio) zu bewerkstelligen sei. Da jede andere Methode die Missionare der Lebensgefahr aussetze, sei mit Furcht und Schrecken voranzugehen. Krieg als geringeres Übel. Schließlich gibt Democrates auf Leopoldos Einwand, hier werde versucht, Gutes durch Böses zu erreichen, zwar zu, daß jeder Krieg Schaden und Unrecht verursache, doch gehe es hier darum, das geringere Übel dem größeren vorzuziehen (levius malum praefertur graviori, DS 77), zumal wenn es um ein doppeltes Gemeinwohl (bonum publicum), nämlich das der Spanier und der Barbaren, gehe. In diesem Sinn vergleicht Sepülveda Güter und Übel (bona et mala). Erzwungener Herrschaftswechsel und Beraubung seien gewiß Übel; doch stünden dem die Güter gegenüber, die die Barbaren von den Spaniern empfangen hätten: Das überaus nützliche Eisen, das allein schon alles entwendete Gold kompensiere; aber auch das Getreide, die neuen Tierarten (Pferd, Ochse, Esel, Schaf, Ziege) und Baumsorten; all das übertreffe an Wert weit alles Gold und Silber, das die Spanier 14

Nach heutigem Stand der Forschung stammen nur die beiden ersten Bücher dieses Fürstenspiegels von Thomas selbst, wahrend die beiden folgenden von einem seiner Schüler, Tholomeus de Lucca, verfaßt wurden. So U. Matz in: Thomas von Aquin: Über die Herrschaft der Fürsten, Stuttgart 1994, S. 80.

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sich angeeignet hätten. Wenn man überdies die Schriftkultur und die christliche Religion hinzurechne, könnten die Barbaren all diese empfangenen Wohltaten kaum je ausgleichen (DS 79). Mit dieser Argumentationsfolge, die Las Casas in seinem Streit mit Sepulveda als >Gift< bezeichnen und ausführlich widerlegen wird,15 soll das Recht der Spanier begründet werden, die Barbaren mit Waffengewalt unterwerfen zu können, falls diese sich widersetzen (DS 83). Die Mission wird also als Moment des Kriegsrechts abgehandelt und dort als >iusta causa< instrumentalisiert. Zur Vorbereitung der Evangelisierung ist der Krieg gegen die Barbaren nicht nur rechtlich erlaubt, sondern auch sittlich geboten, ja sogar religiös erfordert. Demgegenüber wird Vitoria nur bei manifestem Unrecht, das Unschuldigen geschieht, Interventionen zulassen, niemals aber aus Gründen der kulturellen oder religiösen Alterität.

2. Ethische und rechtliche Bedenken Als Francisco de Vitoria in Paris Philosophie studierte, veröffentlichte der an der dortigen Universität lehrende, schottische Ockhamist John Mair (Maior) die wohl erste Stellungnahme zum moralisch-juridischen Problem der spanischen Conquista der Neuen Welt. In seinem 1510 erschienenen Sentenzenkommentar16 erörterte er die Frage, ob sich die spanischen Könige die neuentdeckten Gebiete zu Recht angeeignet haben. Dabei lehnte er bestimmte Rechtstitel, wie das angebliche Recht von Papst und Kaiser auf Weltherrschaft, ab. Auch weist er die Behauptung zurück, daß es sich in der Neuen Welt um herrenlose Gebiete, eine >res nullius< handle, die der erstbeste Entdecker in Besitz nehmen könne. Demgegenüber spricht er vom legitimen Herrschafts- und Eigentumsrecht der Indianer. Allerdings verteidigt er auch ein missionarisch und zivilisatorisch begründetes Interventionsrecht: Da diese Heiden die spanische Sprache nicht verstünden und ohne militärischen Zwang keine Prediger des christlichen Glaubens zuließen, könne und müsse man befestigte Plätze (arces munitas) einrichten, damit sich dieses ungezähmte Volk (effrenis populus) den christlichen Sitten anpassen könne. Und für die großen Unkosten, die dabei entstünden, könnten sich die Europäer erlaubterweise schadlos halten. Dies gelte auch für die Errichtung einer umfassenden spanischen Herrschaft. Überdies bestätige die Erfahrung, so Maior, daß dieses Volk der Neuen Welt »tierisch lebe« (bestialiter vivit). Da es sich mithin - nach der aristotelischen Lehre von Herren und Sklaven um »Sklaven von Natur aus« (natura servi) handle, könne man diese Länder zu Recht (iuste) besetzen und beherrschen.

15 16

Bartolomd de Las Casas: Apologia (wie Anm. 10), S. 500-561. Vgl. P. Leturia: Relaciones entre la Santa Sede e Hispanoamirica. Bd. 1: Epoca del real Patronato 1493-1800, Caracas 1963, S. 259-298; der Text Maiors (Com. in II Sent. d. 44 q. 3) wird hier dokumentiert.

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Diese Argumentation dürfte Vitoria geläufig gewesen sein, da Maior zu seinen Lehrern zählte und der Sentenzenkommentar 1519 in Paris neu aufgelegt wurde. Die beiden ersten Argumentationen, d.h. die Zurückweisung der Weltherrschaft des Papstes und des Kaisers und die Bestätigung der Herrschafts- und Eigentumsrechte der Indianer, wird Vitoria Ubernehmen. Dagegen wird er das Recht auf Okkupation und die militärische Vorbereitung und Durchsetzung der Mission sowie die Behauptung einer die Sklaverei begründenden Inferiorität scharf zurückweisen. Doch sollte geraume Zeit vergehen, bis er seine eigene Position, bewegt von den Vorkommnissen in Amerika, öffentlich vortragen sollte. Nachdem der wohl 1483 in Burgos geborene Francisco de Vitoria17 1505 in den Dominikanerorden eingetreten war und in Paris Philosophie und Theologie studiert und doziert hatte, kehrte er als Doktor der Theologie 1523 nach Spanien zurück. Dort lehrte er zunächst am Kolleg San Gregorio in Valladolid und ab 1526 bis zu seinem Tod 1546 an der Universität von Salamanca. In diesen zwei Jahrzehnten orientierte er die theologischen Studien am thomanischen Denken und prägte als Lehrer viele begabte Schüler, mit denen zusammen er jene berühmte >Schule von Salamanca< begründete, deren Thesen sich an den Universitäten Spaniens und Amerikas verbreiteten und zur Standardtheorie wurden.18 Neben seinen Kommentaren zur Secunda Secundae der Summe des Aquinaten19 gelten seine Relectiones als diejenigen Hauptwerke, die ihn berühmt gemacht haben. Die nur in Mitschriften erhaltenen Relectiones waren jährliche Sondervorlesungen, die in der Regel aktuelle Themen aufgriffen. Die 13 erhaltenen Vorlesungen, die Vitoria im Laufe seiner Lehrtätigkeit hielt, die aber erst postum publiziert wurden (Lyon 1557), handeln im einzelnen De potestate civili (1528), De homicidio (1530), De matrimonii) (1531), De potestate Ecclesiae prior (1532), De potestate Ecclesiae posterior (1533), De potestate papae et concilii (1534), De augmento charitatis (1535), De eo ad quod tenetur veniens ad usum rationis (1535), De simonia (1537), De temperantia (1537), De indis (1539), De iure belli (1539) und De magia (1540). Einige dieser Vorlesungen griffen die theologischen, ethischen und juridischen Fragen auf, die sich durch die Eroberung und Landnahme Amerikas gestellt hatten. Dies gilt vor allem für die beiden Vorlesungen De indis recenter inventis und De iure belli hispanorum in barbaros, »meisterhaft geschriebene Dokumente höchster abendländischer Kultur«.20 Sie beinhalten eine restriktive Interpretation der überkommenen 17

18

19

20

Einen neueren Überblick bietet U. Horst: Leben und Werke Francisco de Vitorias, in: Francisco de Vitoria: Vorlesungen I (Relectiones), hrg. v. U. Horst, H.-G. Justenhoven und J. Stüben, Stuttgart, Berlin, Köln 1995, S. 13-99. D. Ramos u.a.: Francisco de Vitoria y la escuela de Salamanca. La dtica en la conquista de Amirica (Corpus Hispanorum de Pace. 25), Madrid 1984. Francisco de Vitoria: Comentarios a la Secunda secundae de Santo Tomas. 6 Bde, Ed. V. Beiträn de Heredia, Salamanca 1932-1952. U. Matz: Vitoria, in: Klassiker des politischen Denkens. Bd. 1, hrg. v. H. Maier u.a., München 1968, S. 274-292, hier S. 285.

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>Bellum-iustumius inter gentes< entfaltetes >ius gentium< mit Gesetzeskraft, das in der Völkergemeinschaft aufgrund von Naturrecht und Mehrheitsentscheidungen gilt. Dem Titel der Vorlesung De temperantia (Über das Maßhalten) ist dagegen nicht zu entnehmen, daß sie jene heiß diskutierten Fragen von Anthropophagie und Menschenopfern aufgreift, die in den zeitgenössischen Chroniken und Berichten, aber auch in den bildlichen Darstellungen der >Barbaren< eine zentrale Rolle spielten.21 Wenn Vitoria in seiner Vorlesung fragt, ob es sittlich erlaubt sei, Menschenfleisch zu essen und Menschen als Opfer darzubringen, so geht es ihm im Kern weniger um den leicht zu erbringenden Beweis der sittlichen Unerlaubtheit als vielmehr um die politisch brisante Frage, ob diese inkriminierten Verhaltensweisen einen legitimen Grund abgeben, >Barbaren< zu bekriegen und ihrer Herrschaft sowie ihres Eigentums zu berauben. Unmittelbare Anstöße, sich mit den theologischen, ethischen und rechtlichen Fragen der spanischen Eroberung zu befassen, waren für Vitoria jene Briefe und Berichte aus der Neuen Welt, die die Europäer nicht nur mit den altamerikanischen Kulturen, insbesondere den Großreichen der Mexika und der Inka bekanntmachten, sondern auch die oft gewaltsamen Ereignisse der Conquista beschrieben. Wie bei der Eroberung des mesoamerikanischen Aztekenreiches durch Hemän Cortis der legitime Herrscher Moteuczoma II. (|1520) getötet und die Hauptstadt Tenochtitlän in Schutt und Asche gelegt wurde, so kam es im Zuge der Eroberung des andinen Inkareiches zu einem Massaker, als sich Francisco Pizarro und der Inkafürst Atahualpa in Cajamarca erstmals begegneten; diese Ereignisse sowie die widerrechtliche Exekution Atahualpas im Juli 1533 erregten Vitoria nicht nur emotional, sondern forderten auch seinen Gerechtigkeitssinn heraus. In einem Brief an Miguel de Arcos vom 8. November 1534 bemerkte er, die Dinge, die er aus Peru höre, ließen ihm »das Blut in den Adern erstarren«. Gerechtigkeit könne er beim Krieg in Peru nicht entdecken: »Atahualpa und die Seinen haben die Christen niemals beleidigt oder Anlaß dazu gegeben, sie mit Krieg zu überziehen« (nunca Tabalipa ni los suyos habian hecho ningun agravio a los christianos ni cosa por donde los debiesen hacer la guerra). Da dieser höchst ungerechte Krieg also gegen unschuldige Menschen, Nächste und Vasallen des Königs geführt werde, sehe er nicht, wie diese »Ruchlosigkeit und Tyrannei der Konquistadoren« entschuldigt werden könne. 22 Diesen, durch die Conquista der Neuen Welt aufgeworfenen Fragen 23 ging Vitoria nicht nur in seinen einschlägigen >relectiones< nach, sondern 21

22

23

Beispiele hierzu in: H. Frübis: Die Wirklichkeit des Fremden. Die Darstellung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert, Berlin 1995. Der Text des Briefes ist dokumentiert in: V. Beiträn de Heredia: Ideas del Maestro Francisco de Vitoria anteriores a las relecciones >De Indis< acerca de la colonizaciön de Amdrica segün documentos iniditos In: Ciencia Tomista 57 (1930), S. 145-165, hier S. 151153. Zur Antwort der religiösen Orden auf Entdeckung und Eroberung vgl.: Conquista und Evangelisation. 500 Jahre Orden in Lateinamerika, hrg. v. M. Sievernich, A. Camps, A. Müller und W. Senner, Mainz 1992.

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auch schon früher in seinen >lecturaelectura< (Kommentar zur Summa theologica II-II q. 10 a. 8) fragt Vitoria mit Thomas, ob bei der Bekehrung Zwang ausgeübt werden dürfe (an infideles sint compellendi ad fidem) und gibt darauf eine Reihe von Antworten, die er später systematisieren wird und die fur die Frage der Mission von großer Bedeutung sind. Im Hintergrund stehen dabei sowohl die Frage der (zwangs)konvertierten Juden (conversos) und Muslime (moriscos), die auf der iberischen Halbinsel Untertanen christlicher Fürsten waren, als auch die Frage der zu bekehrenden Indianer, die keine Untertanen der spanischen Krone gewesen waren. Was die letzteren angeht, so erörtert er eine Reihe von wichtigen Fragestellungen, die sich aus der faktischen Missionspraxis ergaben: Auf die Frage etwa, ob Götterbilder zerstört werden dürfen, antwortet Vitoria, dies solle nicht geschehen, weil es einen Skandal auslösen würde und jegliche freundliche Einstellung (piam affectionem) zerstören würde. Auch sollten die Tempel nicht zerstört werden, weil dies ein Unrecht (iniuria) sei und die Tempel überdies wieder errichtet werden würden. Auch dürften aufgrund des Unglaubens (ratione infidelitatis) keine besonderen Tribute auferlegt werden, weil dies in legitime Rechte eingreife. Blasphemie dürfe nur geahndet werden, wenn damit ein Unrecht (iniuria) gegenüber den Christen verbunden sei, sonst aber nicht. Auch dürfe nicht mit Einschüchterung und Schrecken vorangegangen werden; die Bekehrung Pauli könne nicht als Beispiel von »Zwang« herangezogen werden, da Christus und »nicht wir Herren der Menschen sind« (non sumus nos domini hominum). Auch dürfe es keine Zwangstaufe geben.24

3. Recht auf Andersheit Äußerer Anlaß für Vitorias 1539 gehaltene Sondervorlesung De indis recenter inventis sind die ausdrücklich erwähnten Nachrichten. Denn man höre, »daß so viele Menschen getötet, so viele an sich unschuldige Menschen ausgeraubt, so viele Herren von ihren Besitzungen vertrieben und ihres Machtbereichs beraubt wurden, kann man zu Recht fragen, ob diese Vorgänge rechtmäßiger- oder unrechtmäßigerweise geschehen sind«. (De indis, Einleitung, Nr. 7; S. 381).25 Diese Frage nach der Rechtmäßigkeit der spani24

25

Text der >lectura< in: V. Beiträn de Heredia: Los manuscritos del Maestro Fray Francisco de Vitoria O.P. Estudio critico de introducciön a sus Lecturas y Relecciones (Biblioteca de Tomistas Espafloles. 4), Madrid, Valencia 1928, S. 196-202. Wir zitieren nach der neuen lateinisch-deutschen Ausgabe: Francisco de Vitoria: Vorlesungen II (Relectiones). Völkerrecht, Politik, Kirche, hrg. v. U. Horst, H.-G. Justenhoven und J. Stüben (Theologie und Frieden. 8), Stuttgart, Berlin, Köln 1997 (De indis S. 370541). Zitiert mit Titel, interner Nummernzählung und Seitenangabe. Vgl. auch die latspan. Ausgabe: Francisco de Vitoria: Obras. Relecciones teolögicas, Ed. Teöfilo Urdüfloz, Madrid 1960, sowie die englische Ausgabe: Francisco de Vitoria: Political writings, Ed. A. Pagden and J. Lawrence, Cambridge 1991.

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sehen Landnahme ist aber Teil einer umfassenderen missionstheoretischen Fragestellung nach dem, was die Missionsaufgabe fördert oder hindert. Der missionstheologische Zusammenhang erhellt schon aus der Tatsache, daß Vitoria seine Relectio als Kommentar zum sogenannten Missionsbefehl »Lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« (Mt 28, 19, Vulgata) versteht und von diesem Ausgangspunkt her (relegendus locus) die alte Frage neu aufwirft, ob es erlaubt sei, die Kinder Ungläubiger gegen den Willen ihrer Eltern (invitis parentibus) zu taufen. Die Frage sei zwar schon früher beantwortet worden, etwa von Thomas von Aquin (Summa theologica II-II q. 10 a. 12 und III q. 68 a. 10), doch wegen der »Indios« genannten Barbaren der Neuen Welt, die »unserer Welt« (nostro orbi) früher unbekannt gewesen sind, sei die Frage neu aufzugreifen. Der missionstheoretische Zusammenhang ergibt sich auch aus dem ursprünglich dreiteiligen Plan der Vorlesung, demzufolge die Frage beantwortet werden sollte, wie die Spanier sich zu verhalten hätten, damit auch die Indianer das allen Menschen zugedachte Heil erlangen könnten. Mit seiner Vorlesung wollte Vitoria daher folgende Punkte klären: (1) aufgrund welchen Rechts (quo iure) die Barbaren unter die Herrschaft der Spanier gekommen sind; (2) welche Befugnisse in zeitlichen und zivilen Angelegenheiten (in temporalibus et civilibus) die spanischen Fürsten den Indianern gegenüber haben; (3) welche Befugnisse die Bischöfe oder die Kirche haben, was die geistlichen und die Religion betreffenden Dingen angeht (in spiritualibus et in spectantibus ad religionem) (De indis [Einleitung]; S. 371). Die Vorlesung sollte also Klarheit darüber schaffen, wie das Ziel der Mission zu erreichen ist, wie das übernatürliche Ziel die natürliche Ordnung bestimmt und ob im Interesse der Glaubensverkündigung Eingriffe in die politische Ordnung der Indianer möglich, erlaubt oder vonnöten sind. Wenn Vitoria bei der alt- wie neuweltlich problematischen Taufpraxis 26 anknüpft, dann geht es ihm präzis um die Verhältnisbestimmung und Wechselwirkung von zeitlicher und geistlicher Ordnung. Von den drei Fragekomplexen seines Vorlesungsplans hat Vitoria allerdings nur den ersten ausgeführt; die Durchführung der beiden folgenden, von denen insbesondere der dritte von Bedeutung gewesen wäre, hat wohl eine königliche Intervention verhindert, denn im November 1539 wurde Vitoria über den Prior seines Klosters San Esteban aufgefordert, jegliche Äußerungen zur königlichen Herrschaft über die Indianer künftig zu unterlassen.

26

Das altweltliche Problem bezieht sich auf die Zwangstaufe von Juden und Muslimen; die neuweltliche Problematik bezieht sich zum einen auf die Frage der Taufe indianischer Kinder gegen den Willen ihrer heidnischen Eltern und zum anderen auf den >Taufstreit< der missionierenden Orden, bei dem es um die Anforderungen fllr die Taufe ging; die in diesem Punkt strengeren Dominikaner stellten die Praxis der Franziskaner in Frage. Vgl. J. Specker: Die Missionsmethode in Spanisch-Amerika im 16. Jahrhundert. Mit besonderer Berücksichtigung der Konzilien und Synoden (NZM Suppl. 4), Schöneck-Beckenried 1953, S. 139-146.

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Der veröffentlichte erste Teil der Vorlesung ist wiederum in drei Teile aufgeteilt, deren erster nach dem Recht der Herrschaft Spaniens in der Neuen Welt fragt. Der zweite Teil erörtert die sieben Rechtstitel, die nach Auffassung Vitorias nicht in Anspruch genommen werden können, während der dritte Teil die sieben nach seiner Auffassung legitimen Titel aufführt und begründet. Die Missionsfrage ist bei allen Erörterungen explizit oder implizit mit im Spiel. Zunächst erörtert Vitoria unter anderen drei grundlegende Fragen, deren Beantwortung auf ein Diskriminierungsverbot hinausläuft oder, positiv formuliert, auf das Gebot der Anerkennung der Andersheit. Erstens weist Vitoria, mit Berufung auf das Konzil von Konstanz (DS 1165), die These zurück, die Bewohner Amerikas würden ihre Herrschaftsund Eigentumsrechte nicht legitim ausüben, weil sie diese durch ihre Verfehlungen gegen das Naturrecht verwirkt hätten, so daß ein christlicher Fürst sie dafür bestrafen könne. Für Vitoria dagegen gilt, daß moralische Verfehlungen oder Sünden es keineswegs verhindern, Herrschaft auszuüben und Eigentum zu haben (non impedit civile dominium et verum dominium, De indis I, 3; S. 388). Zweitens weist er die These zurück, daß aufgrund des Unglaubens (ratione infidelitatis) Herrschafts- oder Eigentumsrechte verlorengingen (De indis I, 3; S. 391). Ob >Sünder< oder >Heideinfidelitas< der Freiheit und ihres Besitzes beraubt werden dürfen. Doch wird gleich hinzugefügt, daß der Papst, dem als >Vicarius Christi< Gewalt über Gläubige und Ungläubige zukomme, die Idolatrie (si colant idola) bestrafen dürfe, da es >natürlich< sei, nur einen einzigen Gott als Schöpfer zu verehren. Zwar dürften die Ungläubigen nicht zum Glauben gezwungen werden (non debeant infideles cogi ad fidem), doch könne der Papst den Ungläubigen befehlen, Prediger des Evangeliums in ihrem Territorium zuzulassen; wenn die Heiden aber die Predigt verhinderten, seien sie dafür zu bestrafen. Falls sie den Gehorsam verweigerten, könne der weltliche Arm sie zwingen und der Papst ihnen den Krieg erklären.29 Nach diesem hierokratischen Konzept kann also die Idolatrie, weil gegen die Natur gerichtet, ebenso als Kriegsgrund dienen wie der Ungehorsam gegenüber dem Papst. Dieser mittelalterlichen Tradition zufolge galt also religiöse Andersheit als solche schon als Grund zur Diskriminierung und zur kriegerischen Intervention. Damit wird der Bruch deutlich, den 28

29

Vitoria hat hier das >requerimiento< vor Augen, jenes mit Kriegsandrohung verbundene Ultimatum, das der Kronjurist Juan Löpez Palacios Rubios verfaßt hatte und das ab dem Jahr 1514 den Indianern vor kriegerischen Handlungen vorzulesen war. Vgl. H. Pietschmann: Staat und staatliche Entwicklung am Beginn der spanischen Kolonisation Amerikas, Münster 1980, S. 65-68. Commentaria Innocentii Quarti Pont. Maximi super libros quinque decretalium, Francofurti ad Moenum 1570, f. 4 3 0 , 4 3 0 v (In III Decret., tit. 34 de voto, Quod super).

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Vitoria mit dieser Tradition vollzieht: Denn er verwirft eine moralische und religiöse Diskriminierung der fremden Anderen als >Sünder< und >Ungläubigepotestas indirecta< des Papstes, der für die Verbreitung des Evangeliums in der ganzen Welt Sorge zu tragen habe (curare promotionem Evangelii) und daher einen Fürsten mit dieser Aufgabe betrauen könne. Damit rechtfertigt Vitoria die päpstliche Aufteilung der Interessensphären der iberischen Mächte und das den spanischen Königen übertragene Patronat, ohne indes ausdrücklich auf die einschlägigen päpstlichen Bullen Inter cetera (1493) und Universalis ecclesiae (1508) zu verweisen.33 Als Kriterien solcher päpstlicher Akte haben die Förderung des Missionswerks und die Verhinderung von Spaltungen zu gelten, kurz, der Vorteil für die Religion (pro commodo religionis). Damit behauptet Vitoria die Priorität der religiösen Aufgabenstellung vor allen politischen Rücksichten, sowie die Hinordnung der zeitlichen Dinge 31

32

33

Vgl. hierzu Α. E. De Maflaricua: El estado misional y el derecho misional en Francisco de Vitoria, in: Missionalia Hispanica 6 (1949), S. 417-454. Vgl. R. Hernändez: Francisco de Vitoria. Vid y pensamiento internacionalista, Madrid 1995, S. 327ff. Vgl. hierzu M. Batllori: The papal division of the world and its consequences, in: First images of America. The impact of the New World on the Old, Ed. F. Chiapelli. Bd. 1, Berkeley 1976, S. 211-220.

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auf die spirituellen. Auf keinen Fall darf »das Geschäft des Glaubens und der Konversion der Barbaren« (negotium fidei et conversio barbarorum) gestört werden (De indis III, 9; S. 475). (3) Wenn die Indianer den Spaniern gestatten, das Evangelium frei und ungehindert (libere et sine impedimento) zu predigen, dann dürfen weder Krieg noch Okkupation stattfinden (De indis III, 11; S. 716). (4) Wenn aber die freie Verkündigung des Evangeliums behindert wird oder zwar zugelassen, die Bekehrten aber getötet, bestraft oder bedroht werden, dann gestattet Vitoria eine Intervention. Der entscheidende Rechtsgrund für diese Intervention ist jedoch nicht die Andersheit, sondern ein Unrecht (iniuria), das entweder den Spaniern durch Beschneidung ihrer Rechte zugefügt wird oder das Unschuldige durch Einschränkung ihrer religiösen Freiheit erleiden. Bei allen Interventionsmaßnahmen gelten einschränkende Prinzipien: Krieg ist die >ultima ratioBarbaren< (barbari), bisweilen auch als >Heiden< (pagani). Doch begründen diese Alteritätsmuster34 aus naturrechtlichen und theologischen Gründen keine Diskriminierung der fremden Anderen; denn diese werden weder im abschreckenden (Barbar) noch im vorbildhaften Sinn (edle Wilde) für europäische Zwecke instrumentalisiert, sondern in ihrer Andersheit als Gleiche anerkannt: anthropologisch als Menschen (homo homini homo; De indis III, 2; S. 465), theologisch als Nächste (omnem hominem proximum; De indis III, 1; S. 465). Die Anerkennung des anderen läuft damit über eine doppelte Similarität, die das Fundament dafür bildet, Alterität ohne eigenen Identitätsverlust respektieren zu können. Die Toleranz der Andersheit hat für Vitoria nur eine Grenze: Sobald bestimmte religiöse oder kulturelle Verhaltensweisen zu Unrecht führen, das anderen Personen, dem Gemeinwesen oder der Weltgemeinschaft der Völker bedrohlich schadet, sind Interventionen aus humanitären Gründen erlaubt. Der einzige Grund (unica et sola causa) für eine solche Intervention ist mithin erlittenes Unrecht< (iniuria accepta), das eine Hilfeleistung zugunsten derjenigen erfordert, die unschuldig Unrecht erleiden (De iure belli III, 4; S. 551). In diesem Sinn anerkennt Vitoria Tyrannei, Unterdrückung und Unrecht gegen Unschuldige als legitime Interventionsgründe. So können Menschenopfer und Anthropophagie Gründe für eine kriegerische Intervention sein, jedoch nicht aufgrund kultureller Andersheit oder wegen moralischer Verfehlungen, sondern weil Menschen Unrecht (iniuria) zugefugt wird. Die Toleranz der Alterität auf der Grundlage der doppelten Similarität bestimmt auch Vitorias Vorstellung des missionarischen Vorgehens. Da der Glaube den freien Willen und eine freie Entscheidung voraussetzt, kann er niemals erzwungen werden. Drohung oder die Verbreitung von Furcht und Schrecken sind prinzipiell auszuschließen. Jede Gewalt oder Nötigung würde nur zur Vortäuschung des Glaubens führen. Die einzig erlaubte Hinführung zum christlichen Glauben kann nur auf anlockend-gewinnende Weise geschehen (De indis II, 20; S. 447). Auch sollten im Hinblick auf die kontraproduktiven Folgen Götterbilder und Tempel anderer Religionen nicht zerstört werden, wie dies während der Conquista der altamerikanischen 34

Vgl. W. Reinhard: Der >Andere< als Teil der europäischen Identität. Vom >Barbaren< zum >edlen Wildem, in: Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, hrg. v. M. Delgado und M. Lutz-Bachmann, München 1995, S. 132-152.

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Großreiche faktisch der Fall war.35 Was die Methode der Missionierung angeht, so legt Vitoria großen Wert darauf, daß es nicht bei der einfachen Verkündigung der christlichen Glaubenslehre bleibt, sondern daß diese wesentlich mit einer glaubwürdigen Lebensform der Missionare verbunden und auf sinnenfällige Zeichen und überzeugende Gründe angewiesen ist. Die Evangelisierung muß in der Praxis des Lebens all jene Motive entfalten, die dafür sprechen, daß das Christentum die »wahrere Religion« (verior religio) (De Indis II, 15; S. 443) ist. Auch das Recht der Christen, den Glauben zu verbreiten (ius praedicandi), begründet Vitoria natur- und völkerrechtlich, wie die anderen Rechte auf Kommunikation (Reisen, Handel, Freiheit der Meere). Bei diesem Recht auf Mission wendet Vitoria den schon im römischen Recht ausgeprägten Grundsatz der Unverletzlichkeit völkerrechtlicher Gesandter, der als Rechtsnorm in die mittelalterlichen Sammlungen des zivilen und kanonischen Rechts einging, auf die Glaubensverbreitung an. Die Spanier sind in diesem Sinn unverletzliche »Gesandte (legati) der Christen« (De indis III, 7; S. 473). Daher gibt es für Vitoria die Pflicht, denen friedlich (pacifice) Gehör zu schenken, die über Religion sprechen (De indis II, 17; S. 443). In diesem Sinn gilt: »Das Missionsrecht der Christen hat den Status eines Völkerrechtssatzes.«36 Vitorias interkulturelle Anwendung des universalistischen Naturrechts auf die Missionssituation erlaubt ihm auch, die religiöse Qualität sittlichen Verhaltens neu einzuschätzen. In diesem Sinn kann er sagen, »daß der Herr für die Ungläubigen sorge (provideret) und, was den Namen Christi betrifft, erleuchte (illuminaret), falls diese täten, was in ihnen liegt, nämlich ein gutes Leben nach dem Naturgesetz zu führen« (bene vivendo secundum legem naturae) (De indis II, 14; S. 441). Auch wenn Vitoria dies nicht so verstanden wissen wollte, daß jemand ohne Taufe und Glaube an Christus das Heil erlangen könne (salvari sine baptismo aut fide Christi), und auch wenn er nicht mehr entfaltet hat, wie die Sorge Gottes und die Erleuchtung der Nichtchristen näherhin zu bestimmen sind,37 kann kein Zweifel bestehen, daß sie im Missionskonzept Vitorias eine ebenso wichtige Rolle spielen wie das Gewissen als innerer Lehrmeister (doctor intrinsecus): »Wenn einer tut, was in ihm ist, wird der Herr ihn erleuchten« (quia si faciat, quod in se est, Dominus illuminabit) (De indis II, 12; S. 437).

35

36

37

Vgl. exemplarisch zur Bedeutung des Tempels in der aztekischen Hauptstadt und zu seiner Zerstörung durch die Spanier: M. Leön-Portilla: Mixico-Tenochtitlän. Su espacio y tiempo sagrados, Mixico 3 1992. H.-G. Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden, Köln 1991, S. 104. Daß Vitoria hierbei nur »an die Freiheit der Spanier [denkt], den Indianern das Evangelium zu predigen, und nie an die der Indianer das Popol Vuh in Spanien zu verbreiten«, wie der Moralist T. Todorov (Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt am Main 1985, S. 181) unterstellt, ist der Argumentation Vitorias nicht zu entnehmen. Vgl. Th. F. O'Meara: The school of Thomism at Salamanca and the presence of grace in the Americas, in: Angelicum 71 (1994), S. 319-370, hier S. 336-344.

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Im Rahmen eines universalen Völkerrechts, das auf dem Naturrecht und einem mehrheitlichen Konsens beruht (De indis III, 3; S. 467), und aufgrund der anthropologisch-theologischen Annahme einer doppelten Similarität des anderen als >Mensch< und als >Nächster< delegitimiert Vitoria gewaltsame Interventionen zur Durchsetzung missionarischer Ziele und plädiert für Toleranz gegenüber kultureller und religöser Alterität, die er freilich zugleich mit der Pflicht zur interkulturellen Kommunikation, auch in Fragen der Religion, verbindet.

Dieter Janssen (Saarbrücken)

Die Theorie des gerechten Krieges im Denken des Francisco de Vitoria

1.

Das 16. Jahrhundert war für Spanien,1 das sich im Umbruch zwischen Feudalgesellschaft und Staat moderner Prägung befand,2 eine besondere Zeit der Formation und Wandlung. Die Einbettung in den Machtbereich der habsburgischen Dynastie, die sich durch die Vereinigung des gesamten habsburgischen Erbes in den Händen Karls V. ergab, und die Entdeckung Amerikas durch den Genuesen Christoph Kolumbus versetzten die gerade erst eine Generation zuvor vereinigten Königreiche von Kastilien/Leon und Aragon zusehends in den Vordergrund der abendländischen Machtpolitik. Schien Spanien nach dem Abschluß der Reconquista durch die Eroberung Granadas im Jahr 1492 zunächst friedlicheren Zeiten entgegenzugehen, wurde es statt dessen in der Folgezeit in eine Fülle europäischer und überseeischer Konflikte verwickelt. Die dynastischen Interessen in Italien mußten bis zum Frieden von Cateau-Cambrösis (1559) gegen die französischen Valois und verschiedenste Bündniskonstellationen italienischer Stadtstaaten verteidigt werden. Das Vordringen sarazenischer Piraten im Mittelmeer, der Vormarsch der Türken gegen die österreichischen Erblanden der Habsburger sowie die eigenen Bestrebungen, den Islam in Nordafrika zurückzudrängen, erforderten weitere aufzehrende Kraftanstrengungen. Eine besondere Form des Konfliktes sollte jedoch erst aus der Entdeckung Amerikas resultieren: der gewaltsame Zusammenstoß zwischen Spaniern und Eingeborenen in Form der Conquista.

Zum zeitlichen Hintergrund siehe: Antonio Domfnguez Ortiz: The Golden Age of Spain 1516-1659, London 1971; John Lynch: Spain under the Habsburgs I. Empire and Absolutism 1516-1598, Oxford 1981; John H. Elliott: Imperial Spain 1469-1716, Chatham 1963. Dieser Prozeß blieb nicht ohne innere Spannungen, wie die zahlreichen Aufstande in jener Zeit belegen. Neben dem bekannten Aufstand der >ComunerosGermania< von Valencia. Stephen Haliczer: The Comuneros of Castile. The Forging of a Revolution, 1475-1521, Madison 1981; J. Pirez: La R6volution des Comunidades de Castille, Paris 1970; F. Quintilla: El episodo de las Comunidades, in: Estudios Segovianos 6 (1954), S. 23-45. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund siehe Jos6 Antonio Fern ändez-San tarn aria: The State, War and Peace. Spanish Political Thought in the Renaissance 1516-1559, Cambridge 1977, S. 11-34.

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Dieter Janssen

Als Grundlage des spanischen Anspruchs auf Herrschaft in Amerika wurde die päpstliche Bulle Inter Caetera vom 4. Mai 1493 angesehen, in der Papst Alexander VI. die Hoheitsrechte in der Neuen Welt übertrug. Dort heißt es: Damit Ihr ein so großes Unternehmen [die Evangelisierung der Neuen Welt, D. J.] mit größerer Bereitschaft und Kühnheit [...] anzugreifen vermöget, schenken, gewähren und übertragen wir hiermit [...] an Euch und Eure Erben und Nachfolger, die Könige von Kastilien und Leon, für alle Zeiten [...] alle aufgefundenen und aufzufindenden, alle entdeckten und zu entdeckenden Inseln und Festländer mitsamt allen Herrschaften, Städten, Lägem, Plätzen und Dörfern und allen Rechten, Gerechtsamen und zugehörigen Berechtigungen [...]. Wir bestellen und beauftragen Euch und Eure besagten Erben und Nachfolger als Herren Uber sie mit voller und unumschränkter Gewalt, Autorität und Oberhoheit jeglicher Art.3

Durch diese päpstliche Gnade sah sich die spanische Krone als rechtmäßige Herrscherin über die gesamte Neue Welt an; alle indigenen heidnischen Herrschaften hatten mit einem Mal ihre Berechtigung verloren. Der spanische Staat war jedoch durch seine Verwicklung in die verschiedenen europäischen Kriege und Krisen nicht in der Lage, die Erforschung und Inbesitznahme der amerikanischen Territorien selbst zu finanzieren und voranzutreiben. Statt dessen wurde der Vorstoß in die Neue Welt weitgehend der Initiative privater Abenteurer überlassen, die im Auftrag der Krone handeln sollten. Der Wagemut und die Investitionen dieser Konquistadoren wurden mit einem Anteil der gefundenen Reichtümer und nicht selten mit der stellvertretenden Herrschaft über die erschlossenen Gebiete belohnt.4 Anstatt jedoch, wie von der Krone erhofft und verlangt, den Aufbau und die Erhaltung indianisch-spanischer Gemeinwesen voranzutreiben, strebten die Konquistadoren oftmals lediglich die Ausplünderung und Ausbeutung der Indios an. Gier und Missionseifer vermischten sich in der Motivation der spani-

Fontes Historiae Iuris Gentium. Bd. 2 (1493-1815), hrg. v. Wilhelm G. Grewe, Berlin, New York 1988, S. 106-107. Bis heute wird darüber gestritten, ob diese Bulle eine Schenkung oder lediglich einen Missionsauftrag beinhaltet. L. Weckmann: Las bulas alejandrinas de 1493 y la teoria politica del pasado medieval, 1091-1493, Mexiko 1949; M. Jiminez Fernändez: Las bulas alejandrinas de 1493 referentes a las Indias, in: EEHA (1944); ders.: Nuevas consideraciones sobre las bulas alejandrinas de 1493 referentes a las Indias, Sevilla 1944; ders.: Algo müs sobre las bulas alejandrinas, in: Anales de la Universidad Hispalense 8 (1945), S. 37-86; A. Garciä Gallo: Las bulas de Alejandro VI y el ordenamiento juridico de la expansiön portuguesa y castellana en Africa e Indias, in: Anuario de Historia del Derecho Espafiol 27/28 (1957/58), S. 461ff.; Joseph Höffher: Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 21969, S. 214ff; William Henry Scott: Demythologizing the Papal Bull >Inter CaeteraInitialzündung< gilt heute die Adventspredigt des Fray Antonio de Montesinos, in der er den spanischen Eroberern und Kolonisten vorwarf, von Gier und Grausamkeit motiviert zu sein und in nichts den verhaßten Türken nachzustehen. Bartolomö de Las Casas hat die wichtigsten Passagen dieser Predigt überliefert. In deutscher Übersetzung in: Gott in Lateinamerika, hrg. v. Mariano Delgado, Düsseldorf 1991, S. 146-150. Siehe auch Michael Sievernich: Anfänge prophetischer Theologie. Antonio de Montesinos Predigt (1511) und die Folgen, in: Conquista und Evangelisation. Fünfhundert Jahre Orden in Lateinamerika, hrg. v. M. Sievernich, A. Camps, A. Müller und W. Senner, Mainz 1992, S. 77-98. Juan Lopez de Palacios Rubios und Matias de Paz: De las Isias del mar Oc6ano. Del dominio de los Reyes de Espafia sobre los indios (Fondo Cultura Econömica), Mexico City, Buenos Aires 1954. Manuel Lucena: Crisis de la Conciencia nacional: Las Dudas de Carlos V, in: La Etica en la Conquista de Am6rica (Corpus Hispanorum de Pace. 25), hrg. v. Manuel Lucena, Madrid 1984, S. 163-198. Siehe Hemän Cort6s: Letters from Mexico, hrg. v. Anthony Pagden, New Haven, London 1986. Hernein Cortis, der Eroberer des Aztekenreiches, erklärt selbst, daß Tenochtitlan an

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man die Herrscher dieser Völker gewaltsam absetzen, den Indios eine neue Regierung geben und ihren Besitz unter Spaniern verteilen? Die Erörterung dieser Fragen blieb nicht auf politische Kreise beschränkt; auch an den spanischen Universitäten begann eine eifrige Diskussion über die Gerechtigkeit der Conquista. Die eigenmächtigen Stellungnahmen der Gelehrten irritierten jedoch die Krone und so ließ Karl V. 1539 in einem Brief an den Oberen des Kollegs von San Esteban, dem die Professoren der führenden Universität Spaniens in Salamanca angehörten, mitteilen, daß eine weitere Behandlung dieses Themas durch die Scholaren nicht erwünscht sei und alle bisher verfaßten Manuskripte der Krone auszuhändigen seien.10 Um so höher ist es daher zu bewerten, daß Francisco de Vitoria, der wohl führende Kopf der spanischen Spätscholastik des 16. Jahrhunderts, dennoch Stellung zu der Frage der Gerechtigkeit der Eroberung Amerikas bezog. Vitoria, der den Zeugnissen gemäß, die von ihm erhalten blieben, durchaus kein Revolutionär oder Querulant war, hatte sich zur Behandlung dieser Problematik genötigt gesehen, nachdem ihm durch Berichte seiner dominikanischen Mitbrüder in der Neuen Welt das Ausmaß der dort verübten Schrecken bewußt geworden war. Er selbst schrieb in einem Brief vom 8. November 1534 an Miguel de Arcos, daß ihm bei den Schilderungen der Grausamkeiten der Conquista das Blut in den Adern gefriere." Eine erste Auseinandersetzung Vitorias mit der Conquista findet sich in der Relektion12 De Temperantia, die wahrscheinlich um 1537 gehalten wurde. Die Frage nach der christlichen Maßhaltung und den für Christen verbotenen Speisen bringt ihn zum Problem des Kannibalismus und der Men-

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Schönheit und Größe mit Venedig zu vergleichen sei (S. 82f.), daß die Städte der Provinz Tlaxcala weder mit Pisa, noch mit Genua oder Granada einen Vergleich scheuen müßten (S. 67f.) und daß die indianischen Gemeinwesen vorbildlich geordnet und geleitet seien (S. 68). Carta al Prior de San Esteban de Salamanca, in: Relectio de Indis (Corpus Hispanorum de Pace. 5), hrg. v. Luciano Perefla und J. M. Perez Prendes, Madrid 1967, S. 152-153. Vicente Beiträn de Heredia: Ideas del Maestro Francisco de Vitoria anteriores a las relecciones >De Indis< acerca de la colonizaciön de Am6rica segün documentos iniditos, in: Ciencia Tomista 57 (1930), S. 145-165. (Text des Briefes S. 151 ff.). Siehe auch L. G. A. Getino: El Maestro Fray Francisco de Vitoria y el renacimiento filosofico teologico del siglo XVI, Madrid 1914, S. 101-102. Eine deutsche Übersetzung gibt Joseph Höffher: Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, Trier 2 1969, S. 300-301. Luciano Perefla bezeichnet Vitorias Kritik der Conquista als »erste Krise des spanischen Nationalbewußtseins« (Die spanische Eroberung Amerikas und das europäische Denken. Die Schule von Salamanca, in: Spaniens Beitrag zum politischen Denken in Europa um 1600, hrg. v. R. Mate und F. Niewöhner (Wolfenbüttler Forschungen. 57), Wiesbaden 1994, S. 69). Relektionen waren ein besonderer Typ der Vorlesung, die zumeist an Festtagen und vor besonderem Publikum gehalten wurden. Obwohl in den Statuten der Universität Salamanca vorgesehen, brachte erst Francisco de Vitoria dieser Form der Lehrveranstaltung Ansehen ein. Schon im Winter 1527 hielt er zum Thema De Potestate Civili seine erste Relektion. Allerdings folgten nur wenige seiner Kollegen seinem Vorbild (z.B. Domingo de Soto: De Dominio; Melchor Cano: De Dominio Indiorum).

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schenopfer. Vitoria macht deutlich, daß er beide Praktiken für verabscheuenswiirdig und nach dem Naturrecht verboten hält. Trotzdem dürfe man nicht Krieg zur Bestrafung der sündhaften Indios führen, da diese nicht aus Boshaftigkeit sondern aus Unwissenheit handelten.13 In den Relektionen der beiden nächsten Jahre griff Vitoria die Thematik der gerechten und ungerechten Kriegsgründe wieder auf. Die Relektionen De Indis recenter inventis relectio prior und De Indis, sive de Iure Belli hispanorum in Barbaros, relectio posterior knüpfen einerseits an die mittelalterliche Tradition der Lehre des gerechten Krieges14 an, enthalten andererseits jedoch wichtige, die Theorie fortbildende Ideen und Konzepte, die einen maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung der Völkerrechtslehre im Abendland ausüben sollten. Vitorias Relektionen, die lediglich durch die Mitschriften der Studenten erhalten geblieben sind, sollten so zum Ausgangspunkt des Denkens der spanischen Spätscholastik über die Theorie des gerechten Krieges werden. Melchor Cano, Domingo de Soto, Bartolome de Carranza, Juan de la Pefia, Diego de Covarrubias und viele weitere bedeutende Denker der spanischen Spätscholastik griffen die Ideen ihres Lehrmeisters auf und trugen zu ihrer Verbreitung bei.15 Erst der Jesuit Francisco de Suärez ging maßgeblich über die grundsätzlichen Positionen Vitorias hinaus, indem er eine neue Ordnung der Rechtsbereiche sowie klärende Definitionen des Natur- und Völkerrechts anstrebte. Auf den folgenden Seiten soll der Versuch unternommen werden, die Lehre vom gerechten Krieg im Denken des Francisco de Vitoria vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Erfahrung der Conquista und der europäischen Konflikte nachzuzeichnen. In einem ersten Schritt wird kurz die Rechtstheorie des Dominikaners zu erläutern sein (Abschnitt 2), um dann die Definition sowie die Kriterien für einen gerechten Krieg zu untersuchen (>ius ad bellum< - Abschnitt 3.1). Da die ungerechten und gerechten Rechtstitel für die Eroberung Amerikas durch die Spanier in Francisco de Vitorias Erörterungen im Mittelpunkt stehen, soll ihnen jeweils ein Abschnitt gewidmet werden (Abschnitt 3.2 u. 3.3). Schließlich wird auf die Frage, was in einem gerechten Krieg erlaubt ist (>ius in beIloultima ratio< zur Wahrung der Rechts darstellt, daß die Strafe des Krieges im Verhältnis zur Schwere des Verbre-

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räumt, zeigen die späteren Schriften Vom Krieg wider die Türken (1528) und Heerpredigt wider die Türken (1529), in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 30,2, Weimar 1909, S. 107-148; 623-662. Vgl. auch Juan Gin6s de Sepülveda: De convenientia militaris disciplinae cum Christiana religione dialogus qui inscribitur Democrates, hrg. v. Angel Losada, Madrid 1963. In diesem als Dialog konzipierten Traktat wird der Befürworter des Pazifismus, Leopold, als junger Deutscher, der von der Häresie des Luthertums angesteckt ist, bezeichnet. Francisco de Vitoria: De Iure Belli, S. 547 (Zitat aus Augustinus: Quaestiones in heptateuchum VI, 4, 10): »Als gerecht pflegt man solche Kriege zu bezeichnen, die Unrecht ahnden, wenn ein Volk oder eine Bürgergemeinde büßen muß, die es verabsäumte, das von den eigenen Leuten begangene Unrecht zu ahnden, oder zurückzugeben, was zu Unrecht weggeschafft wurde.« Ebd., S. 549. Vgl. auch Bernice Hamilton: Political Thought in Sixteenth Century Spain. Α study in the political ideas of Vitoria, De Soto, Suärez and Molina, Oxford 1963, S. 136. In Paris fand während Vitorias Aufenthalt eine eifrige Debatte Uber die pazifistischen Schriften des Erasmus von Rotterdam statt, die auch der junge Spanier verfolgt haben durfte. Vgl. Walter F. Bense: Paris Theologians on War and Peace, 1521-1529, in: Church History 41 (1972), S. 168-185; Ricardo Garciä Villoslada: La universidad de Paris durante los estudios de Francisco de Vitoria Ο. P. (1507-1522), Rom 1938. Thomas von Aquin: Summa Theologica, II-II, qu. 40. Zu den verschiedenen Varianten, die Kriterien des gerechten Krieges im Mittelalter einzuteilen, siehe Jonathan Barnes: The Just War, in: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. From the Rediscovery of Aristotle to the Disintegration of Scholasticism 1100-1600, hrg. v. Norman Kretzmann, Anthony Kenny u. Jan Pinborg, Cambridge 1982, S. 771-784.

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chens steht und daß eine vernünftige Aussicht auf Erfolg des Krieges besteht. Vitoria wendet sich zunächst der Frage nach der legitimen Autorität zur Kriegführung zu. Diese Frage hatte im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit eine besondere Bedeutung, da in der Entwicklung vom Feudalwesen zur Staatenwelt das Recht, Kriege zu erklären und zu führen, zum wichtigsten Kennzeichen der Souveränität wurde.37 Die Ausbildung von Staaten ging einher mit der Entmachtung der Adeligen, der Städte und der Korporationen, die zuvor das Recht, Krieg zu führen, für sich beansprucht hatten. Nach dem germanischen Recht, das im frühen Mittelalter Geltung besessen hatte, hatte jeder freie Mann die Befugnis, sein Recht auf eigene Faust und mit Waffengewalt durchzusetzen. Mit der Renaissance des römischen Rechts jedoch zeichnete sich eine zunehmende Zentralisierung des Rechts zur Kriegführung ab. Lediglich der höchste Vertreter eines Gemeinwesens erhielt das Recht zugesprochen, Kriege zu erklären und zu führen. Alle Untertanen wurden verpflichtet, ihre Streitfälle dem Souverän oder seinen Vertretern zur Entscheidung und Rechtsdurchsetzung vorzulegen. Auf der anderen Seite erkannten die souveränen Fürsten nicht länger die Vorrangstellung des Kaisers an. Vitorias Überlegungen sind somit vor dem Hintergrund der Entwicklung der >res publica christianaius publicum EuropaeumBellumCartas de Relaci0n< des Hernän Cortds, in: Saeculum 13,1 (1962), S. 3ff. Vgl. John H. Elliott: The Mental World of Hernän Cortis, in: ders.: Spain and its World 1500-1700. Selected Essays, New Haven, London 1989, S. 51-53. Robert S. Chamberlain: The concept of the >sefior natural« as revealed by Castilian Law and administrative documents, in: Hispanic American Historical Review 19 (1939), S. 130-137. Vgl. auch die Darstellung bei Diaz del Castillo: Eroberung von Mexiko, S. 245-246; Moctezuma sagte, laut Diaz, zu seinen Untertanen: »Er habe die Götter befragt. Sie hatten ihm sagen lassen, daß die Spanier die angekündigten neuen Herrscher seien. Er habe sich diese Aussage noch einmal vom Kriegsgott ausdrücklich bestätigen lassen wollen, wider die Gewohnheit des Gottes aber keine Antwort erhalten. Aus diesem Grund seien an die Götter auch keine weiteren Fragen gestellt worden [...] Aus diesem Grund befehle er ihnen, die Oberhoheit des spanischen Herrschers feierlich anzuerkennen.^..] Mit Tränen in den Augen erklärten sich die Anwesenden bereit, die Befehle Moctezumas auszuführen.« Hernän Cortis: Letters from Mexico (wie Anm. 9), S. 85 - Cortis berichtet von der Legende des Quetzalcoatl, die ihm Moctezuma mitteilt, S. 96 - Moctezuma erzählt die Legende seinen Gefolgsleuten und ermahnt sie zum Gehorsam gegenüber den Spaniern. Nun ist auch ein spanischer Notar anwesend, der aus der Erzählung einen formalen Rechtsakt werden läßt. Diese Ereignisse sind in Cort6s Darstellung in Hinblick auf die >Noche triste«, den Aufstand der Azteken gegen die Spanier in Tenochtitlan, von erheblicher Bedeutung. Cort6s kann die kämpfenden Indios als Rebellen hinstellen und dementsprechend

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Diesen Ideen stellt Vitoria die entschiedene These »Imperator non est dominus totius orbis«60 entgegen. Jede Herrschaft, so führt er aus, muß zumindest in einem der oben genannten Rechtsbereiche verankert sein. Im Naturrecht ist jedoch keine Weltherrschaft vorgesehen, denn jeder Mensch ist zunächst frei, da das Naturrecht nur die Herrschaft der Eltern über die unmündigen Kinder und die des Mannes über seine Gattin kennt. Auch im göttlichen Recht sei die Universalmonarchie nicht verankert. Vitoria rekuriert an dieser Stelle auf seine in der Relektion De Potestate Civili erläuterte Theorie der Souveränität. Da der Zusammenschluß der Menschen in Gemeinschaften ihrer Natur entspringt und die Natur letztlich auf dem Willen Gottes beruht, ist die staatliche Gewalt als Mittel zur Erhaltung des Gemeinwesens göttlich sanktioniert. Aber, so wirft Vitoria ein, es ist nicht einzusehen, daß Gott die staatliche wie auch eine übergeordnete Macht an jemanden Bestimmten verliehen hätte.61 Vielmehr fällen die Menschen, die sich in einer Gemeinschaft verbinden, die Entscheidung, wer sie regieren soll. Woraus zu folgern ist, daß jegliche staatliche Herrschaft sich aus dem menschlichen Recht ableitet. Die Indios, die noch niemals zuvor vom Kaiser gehört hatten und ihn auch nicht zu ihrem Herrscher bestimmten, können also nicht dem Kaiser unterstehen, sondern haben rechtmäßige eigene Könige und Häuptlinge. Aber selbst wenn der Kaiser tatsächlich der Herr der ganzen Welt wäre, so überlegt Vitoria, könne er nicht die Länder der Eingeborenen in seinen Besitz nehmen und unter den Spaniern verteilen, denn die kaiserliche Herrschaft umfasse nur die Befugnis, Recht zu sprechen, nicht jedoch das Eigentumsrecht an den besagten Ländereien.62 Wichtiger noch als die Berufung auf kaiserliche Vollmachten war für die Konquistadoren der Hinweis auf die päpstliche Schenkung der Neuen Welt durch Alexander VI. in der bereits erwähnten Bulle Inter Caetera. Der aus der päpstlichen Macht abgeleitete Anspruch der spanischen Krone auf Herrschaft in der Neuen Welt wird besonders deutlich in dem um 1513 von dem Juristen Juan Löpez de Palacios Rubios verfaßten Requerimiento. Das Requerimiento sollte dazu beitragen, dem Ablauf der Conquista die Gestalt eines Rechtsaktes zu geben und das Gewissen der Konquistadoren sowie der Krone zu entlasten. In ihm wird nach einer kurzen Darstellung der christli-

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behandeln. Siehe auch Hans-Jürgen Prien: Hernän Cortds Rechtfertigung seiner Eroberung Mexikos und der spanischen Conquista Amerikas, in: Zeitschrift für historische Forschung 22 (1995), S. 71-93; Eberhard Straub: Das Bellum lustum des Hernän Cortis in Mexiko, Köln, Wien 1976; Silvio Zavala: Hernän Cort6s y la teoria escolästica de la justa guerra, in: ders.: La Utopia de Tomiis Moro en la Nueva Espafla y otros Estudios, Mexico 1937; Silvio Zavala: Hemän Cort6s ante la justificatiön de su conquista, in: Revista de Historia de America 92 (1981), S. 49-69; Jos6 Valero Silva: El Legalismo de Hernän Cort6s como Instrumenta de su Conquista, Mexico 1965. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 412. Vitoria stand mit dieser Position unter den spanischen Denkern nicht allein; vgl. Josέ A. Maravall: Carlos V y el pensamiento politico del renacimiento, Madrid 1960, S. 246ff. Francisco de Vitoria: De Potestate civili, S. 129. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 421.

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chen Heilslehre der spanische Rechtsanspruch auf Herrschaft in Amerika gemäß der päpstlichen Bulle aufgezeigt: Einer dieser besagten Päpste nun schenkte als Herr der Welt diese Inseln und Festländer des Oceans an die katholischen Könige von Castilien [...] und an ihre Nachfolger mit Allem und Jeglichem, was darin enthalten ist. 63

Es folgt eine Aufforderung an die Eingeborenen, das Gehörte zu überdenken und sich nach einer gewissen Frist der spanischen Oberhoheit zu unterwerfen. Zu welchen seltsamen praktischen Konsequenzen diese Form des Rechtsanspruchs führte, zeigt John Parry auf: As late as 1542 the Viceroy, Antonio de Mendoza, ordered the Requerimiento to be read to the rebellious Caxcanes, encamped in the pefloles of Mixton and Nochistlän. The reading was made in the Spanish language and was entrusted to a friar who, according to the chronicler Tello, was compelled to stand out of range of arrows and slingshots, and presumably, therefore, out of earshot; but the requirements of law and justice were held to have been fulfilled. The seventh clause of the Requerimiento recommended the Indians to devote time and thought to the theological views propounded, before making their reply. Oviedo, referring to a similar but earlier occasion, commented ironically upon this requirement: >1 would have preferred to make sure that they understood what was being said; but for one reason or another, that was impossible [...] I afterwards asked Doctor Palacios Rubios, the author of the Requerimiento, whether the reading sufficed to clear the consciences of the Spaniards; he replied that it did, if carried out in the correct form.ius gentium« gelte nicht im Fall der Neuen Welt, da diese schon rechtmäßige Besitzer hatte.72 In der Frage des Eigentums könnten die Indios mit dem selben Recht Ansprüche auf Besitzungen in Europa erheben, die sie aus ihrer Sicht nun entdeckt haben. In der Behandlung des vierten ungerechten Rechtsgrundes wendet sich Vitoria der heftig umstrittenen Frage zu, ob Heiden und Ungläubige mit Waffengewalt zum christlichen Glauben gezwungen werden dürfen. 73 Seit dem Aufkommen der Kreuzzugsideologie im 11. Jahrhundert war in der christlichen Kirche wiederholt zur Schwertmission aufgerufen worden. Waren die spanische Reconquista und die Eroberung des Heiligen Landes in den Augen der Christen legitime Unternehmungen, um einstmals christliche Gebiete von ihren ungläubigen Besatzern zu befreien, so wurden die Slawenkreuzzüge lediglich mit der gewaltsamen Bekehrung der Heiden gerechtfertigt. 74 Kiemenz VII. forderte in der Bulle Intra Arcana vom 8. Mai 1529 dementsprechend Karl V. auf, wenn nötig auch mit Waffengewalt für eine Bekehrung der Indios zu sorgen.75

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Juan de la Pefla schließt sich dieser Argumentation an und untersucht die Bulle Inter Caetera. Er kommt zu dem Schluß, daß die Bulle einen Missionsauftrag an die spanische Krone gibt, ihr jedoch nicht per se die Macht in der Neuen Welt überträgt. Juan de la Pefia: De Bello Contra Insulanos (wie Anm. 54), S. 196. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 433. Die klassische Bibelstelle zu dieser Frage ist Lukas 14, 23, in der das Gleichnis eines Festmahls erzahlt wird. Nachdem die geladenen Gäste abgesagt haben, fordert der Gastgeber seine Knechte auf, Menschen von den Straßen zu holen und sie zum Eintreten zu nötigen. Dieses »compelle intrare< wurde von den Befürwortern der Schwertmission als Auftrag zur gewaltsamen Bekehrung der Heiden verstanden. Vgl. z.B. Juan Ginds de Sepülveda: Democrates Segundo ο de las Justas Causas de la Guerra contra los Indios, hrg. v. Angel Losada, Madrid 2 1984, S. 70. Siehe Stanislaus F. Belch: Paulus Vladimiri and His Doctrine Concerning International Law and Politics, London, Den Haag, Paris 1965; Eric Christiansen: The Northern Crusades. The Baltic and the Catholic Frontier 1100-1525, ο. Ο. 1980. Intra Arcana, zitiert nach Hanke: Pope Paul III. and the American Indian (wie Anm. 26), S. 77: »Confidimus te, quoad in humanis degeris barbaras nationes ad rerum omnium opificem et conditorem deum cognoscendum non solum edictis admonitionibusque, sed etiam armis et viribus si opus fuerit ut earum animae caelestis regni fiant participes compulsurum.«

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Vitoria lehnt jedoch die Schwertmission mit der Begründung ab, daß eine unüberwindliche Unwissenheit den Menschen vor Strafe schütze. Die Menschen der Neuen Welt haben noch nicht die Heilslehre erhalten; dieser Umstand sei, so Vitoria, eher als göttliche Strafe für die Schuld der Vorfahren denn als Sünde der jetzt lebenden Menschen zu verstehen, da diese Menschen nicht in den Genuß des ewigen Lebens gelangen könnten.76 Darüber hinaus dürfe von den Eingeborenen nicht erwartet werden, daß diese sich sofort zum christlichen Glauben bekehren. Erst müsse sich durch Zeichen und vorbildliches Leben der Missionare die Wahrheit des christlichen Glaubens filr die Indios erweisen: Denn wenn die Sarazenen in gleicher Weise den Barbaren ihre Lehre darlegten wie die Christen, wären die Barbaren entsprechend auch nicht verpflichtet, den Sarazenen zu glauben; dies ist gewiB. Also müssen sie ohne Beweggrund und ohne Zureden auch nicht den Christen glauben, wenn diese ihre Religion darlegen; denn sie können und müssen nicht erraten, welche der beiden Religionen die wahrere sei, wenn keine glaubwürdigeren Beweggründe erkennbar sind, die ftlr eine der beiden Parteien sprechen. 77

Erst wenn deutliche Zeichen und Beweise für die Richtigkeit der christlichen Lehre vorliegen, kann eine Bekehrung der Indios erwartet werden. Aber selbst dann kann niemand zum Glauben gezwungen werden, da die Übernahme des einen oder anderen Glaubens eine Entscheidung des freien Gewissens bleibt.78 Zwar stellt die Ablehnung des christlichen Glaubens, nachdem sich seine Wahrheit erwiesen hat, eine Todsünde in den Augen Vitorias dar, dennoch hat kein Außenstehender die Befugnis, aus diesem Grund einen Krieg anzufangen. Die Todsünde der Indios sei nämlich weder ein Vergehen gegen die Spanier, das diese gerechtfertigt bestrafen dürften, noch hätten die Europäer einen göttlichen Auftrag, den Unglauben der Indios mit Waffengewalt auszurotten. Schließlich bezweifelt Vitoria, ob den Barbaren der Neuen Welt der Glaube tatsächlich in angemessener Form verkündigt und nahegebracht worden ist. An dieser Stelle setzten die Projekte des Bartolom6 de Las Casas an. Las Casas versuchte an der Küste Venezuelas (1520)79 und später in Guatemala (1537)80 zu beweisen, daß eine friedliche Missionierung der Indios möglich sei, wenn den Einheimischen statt mit Waffengewalt und Drohgebärden mit Freundlichkeit und geduldiger Beharrlichkeit begegnet würde. Die Beteuerungen der Konquistadoren, daß ohne ihren bewaffneten Schutz die Missionare von den Indios erschlagen würden, wollte Las Casas auf diese Weise 76 77 78

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Francisco de Vitoria: De Indis, S. 435. Ebd., S. 443. Vitoria beruft sich auf Thomas von Aquin: Summa Theologica II-II, q. 10, a. 8. Der aus Angst vor Repressalien angenommene Glaube ist für ihn ein Frevel. Bartolomi de Las Casas: Historia de las Indias III, hrg. v. Agustin Miliares Carlo, Mexiko 2 1965, cap. 130, S. 278ff. Vgl. A. Saint-Lu: Vera Paz. Esprit evangdlique et colonisation, Paris 1968; Benno M. Biermann: Bartolomd de Las Casas and Verapaz, in: Bartolomd de Las Casas in History. Toward an Understanding of the Man and his Work, hrg. v. J. Friede u. B. Keen, DeKalb (Illinois) 1971, S. 443-486.

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als gegenstandslos entlarven. Es verwundert daher nicht, daß Las Casas' Projekte auf lange Sicht an dem Widerstand der Kolonisten scheiterten. Doch nicht allein der Unglaube wurde den Indios von den Konquistadoren zum Vorwurf gemacht, auch erschienen sie in den Darstellungen der Eroberer als generell lasterhaft und unanständig. Im Mittelalter hatte insbesondere Augustinus von Ancona die Bestrafung der Sünder als gerechten Kriegsgrund propagiert.81 Sich dieser Sicht anschließend hatte bereits kurze Zeit nach der Entdeckung der Neuen Welt John Maior die Sündhaftigkeit der Indios als ausreichenden Grund für ihre Unterwerfung angesehen.82 Hernän Cortös schreibt am Ende seines ersten Berichts an Karl V., daß die Indios, die er kennengelernt hat, Menschen opfern, Götzen verehren und die schreckliche Sünde der Sodomie praktizieren, wofür er entsprechende Bestrafungen fordert.83 Noch vernichtender äußerte sich Fray Tomäs Ortis im Jahr 1524 über die Indios: Die Menschen auf dem Festland Amerikas essen Menschenfleisch und geben sich stärker der Sodomie hin als irgendwelche anderen Menschen. Unter ihnen herrscht keinerlei Gerechtigkeit. Sie gehen nackt umher, kennen weder Liebe noch Schamgefühl. Sie sind dumm, einfältig und töricht. Es macht ihnen gar nichts aus, sich gegenseitig umzubringen und zu töten. Sie halten sich nur an die Wahrheit, wenn sie sich Vorteile davon versprechen. Sie sind unbeständig, wissen nicht, was Besonnenheit ist, sind undankbar und lieben alles Neue. Sie sind stolz auf ihre Sauferei und wissen sich aus allerlei Kräutern, Früchten, Wurzeln und Getreidesorten alkoholische Getränke zu bereiten. Sie betören sich auch mit Rauch und verschiedenen Kräutern, die ihnen den Verstand nehmen. Sie sind lasterhaft wie die Tiere. Die jungen Leute zeigen den Alten und die Kinder den Eltern gegenüber keinerlei Gehorsam und keinen Anstand. Sie lassen sich nicht belehren, auch durch Strafen nicht. Sie sind verräterisch und grausam, sie sind rachsüchtig und vergeben nie. Sie sind Erzfeinde der Religion, Faulenzer, Diebe, Lügner, und sie vermögen nur Niedriges und Gemeines zu denken. Sie sind nicht treu, und sie haben keine Ordnung. Die Männer betrügen ihre Frauen und die Frauen ihre Männer. Sie geben sich der Zauberei und Wahrsagerei hin. Sie sind feige wie die Hasen, schmutzig wie die Schweine. Sie essen Läuse, Spinnen und rohe Maden, wo immer sie diese finden. [...] Was wir hier erwähnt haben, geht auf tatsächliche Beobachtungen zurück, vor allem auf Pater Fray Pedro de Cördoba, dessen Beschreibung all dieser Dinge ich habe, und wir haben oft hierüber und über andere Dinge, die ich lieber verschweige, geredet.

Juan de Quevedo zieht schließlich aus der Verderbtheit der Indios den Schluß: Ich bin der Meinung, daß sie für die Sklaverei geboren sind und wir sie nur als Sklaven gut machen können. Machen wir uns selbst nichts vor: Wir würden unwiderruflich auf die Konquista Amerikas und die Vorteile der Neuen Welt verzichten, wenn wir den barbarischen Indios die Freiheit ließen, die uns zum Verhängnis würde [...] Wenn je irgendwel-

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Mit den Argumenten des Augustin von Ancona setzt sich auch Las Casas kritisch in der Apologia gegen Sepulveda auseinander. Vgl. Juan Ginös de Sepulveda u. Bartolomö de Las Casas: Apologia, hrg. v. Angel Losada, Madrid 1975, S. 224. Michael Sievernich: Sünde als Kriegsgrund in der frühen Neuzeit. Francisco de Vitoria ( f l 5 4 6 ) zum 450. Todestag, in: Theologie und Philosophie 71 (1996), S. 547-566. Hernän Cortds: Letters from Mexico (wie Anm. 9), S. 35-37.

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che Volker es verdient haben, hart behandelt zu werden, dann gerade diese, denn die Indios sind eher wilde Bestien als vernünftige Wesen.84

Diesem Argument stellt Vitoria ein sehr geschicktes >tu quoque< entgegen, indem er auf die Gefahr einer solchen Begründung des Krieges für die christlichen Herrscher hinweist. Er erklärt: Ferner ist es dem Papst nicht erlaubt, Christen deswegen mit Krieg zu Uberziehen, weil diese Hurer oder Diebe sind, ja auch nicht, weil sie Lüstlinge sind. Und der Papst kann die Gebiete jener Leute deswegen nicht annektieren und sie anderen Herrschern geben. Auf diesem Wege könnte der Papst nämlich tagtäglich Reiche vertauschen, da in jeder Provinz viele Sünder leben. 85

Verstöße gegen das Naturrecht zu ahnden ist somit nicht die Angelegenheit eines fremden Herrschers, auch dann nicht, wenn eine päpstliche Sanktion vorliegt. Wäre sie es, käme es zum beständigen Krieg in Europa, da jeder Herrscher das Recht besäße, die Laster fremder Untertanen zu bestrafen. Auf dieses Argument reagierte Juan Gin6s de Sepülveda, der Gegenspieler des Bartolomö de Las Casas, in der berühmten Debatte von Valladolid aus dem Jahr 1550, in der über die Gerechtigkeit der Conquista beraten wurde. Sepülveda behauptete, daß nicht die weitverbreitete Lasterhaftigkeit der individuellen Indios das Problem sei, sondern die schon auf die Sündhaftigkeit hin orientierte Anlage der indianischen Gemeinwesen. Innerhalb ihrer eigenen Gemeinwesen könnten die Indios daher nicht zu tugendhaften Menschen werden und lediglich die Herrschaftsübernahme durch die zivilisierten Spanier könne sie aus dieser Situation befreien. 86 So konnte Sepülveda denn auch eingestehen, daß es in der Tat unmoralische Spanier, Franzosen oder Deutsche gebe; der Unterschied sei jedoch, daß in ihren Staaten gerechte Gesetze und eine vernünftige Ordnung dafür sorgen, daß die Lasterhaften bestraft und die Tugendhaften belohnt werden. Las Casas versuchte diese Beweisführung durch die umfangreiche Apologetica historia, ein Werk, in dem er die guten Sitten und die vorbildliche Ordnung der indianischen Gemeinwesen vor der Ankunft der Spanier beschreibt, zu widerlegen. Vitoria läßt sich hingegen nicht auf die Frage ein, ob die Indios sündhaft und verkommen sind oder nicht. Er bekräftigt nochmals die traditionelle Definition des gerechten Krieges, derzufolge nur die Kriege gerecht sind, die ein erlittenes Unrecht beheben. Die Liederlichkeit der Indios ist aber kein Unrecht, das die Spanier erleiden, sondern etwas, das sich die Indios selbst zufügen.

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Zitiert nach Fernando Mires: Im Namen des Kreuzes, Fribourg, Brig 1989, S. 51-52. Die Vorurteile über die Einwohner der Neuen Welt haben sich noch lange gehalten. David Hume, Voltaire und der preußische Gelehrte DePauw sahen in den Indios von Natur aus minderbegabte Wesen. Wie unterschiedlich und schlecht informiert die Ansichten Uber die Indianer bis 1538 waren, hat Francisco Castilla Urbano: El pensamiento de Francisco de Vitoria: Filosofia politica e indio americano, Barcelona 1992, S. 208-243, aufgezeigt. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 451. Juan Gin£s de Sepülveda: Democrates Segundo (wie Anm. 73), S. 22.

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Konnten die Indios aber durch freie Wahl unter die Herrschaft der Spanier geraten?87 Diese Frage behandelt Vitoria sowohl unter den ungerechten als auch den gerechten Rechtstiteln der Conquista. Ungerecht sei die freie Wahl eines neuen Herrschers dann, wenn die Rechte des alten Herrschers beeinträchtigt würden. In Vitorias Souveränitätslehre kann weder das Volk aus Gutdünken einen neuen Herrscher wählen, noch darf der legitime Herrscher sein Volk einem anderen unterstellen, denn dafür reicht seine Macht nicht aus.88 Im Fall der Indios bezweifelt Vitoria zudem, daß es sich überhaupt um eine freie Wahl im eigentlichen Sinne gehandelt habe. Die Eingeborenen, so vermutet er, haben sich aus Furcht oder Unwissenheit den Spaniern unterworfen. Der Zwang, den die Konquistadoren ausübten, lasse es als unwahrscheinlich erscheinen, daß die Indios aus freien Stücken die spanische Herrschaft der ihrer eigenen Häuptlinge und Anführer vorgezogen hätten. Vitoria räumt jedoch ein, daß theoretisch die freie Wahl neuer Herrscher möglich ist. Wenn die Mehrheit der Indios in einem Gemeinwesen christlich würde und beschlösse, sich einem christlichen Herrscher zu unterstellen, so sieht Vitoria diese Entscheidung als verbindlich für alle Bürger des Gemeinwesens an. Er beruft sich hierbei auf den mittelalterlichen Präzedenzfall der Absetzung Childerichs durch Pippin im Frankenreich.89 Ein siebter Rechtstitel, der von den Konquistadoren geltend gemacht wurde, war die Berufung auf eine besondere Gnade Gottes. Wie einst das gelobte Land von Gott den Israeliten verheißen wurde und sie den Auftrag erhielten, die ursprünglichen Bewohner zu vertreiben oder auszurotten, so sei die Neue Welt den Spaniern als Belohnung für die Anstrengungen der Reconquista von Gott geschenkt worden. Vitoria erwidert nüchtern auf diesen Anspruch: Darüber will ich mich nicht lange auslassen, weil es gefährlich ware, jemandem zu glauben, der eine Weissagung behauptet, die dem gemeinsamen Gesetz und den Regeln der Schrift widerspricht, es sei denn, der Betreffende würde seine Aussagen mit Wundern bestätigen. Wunder werden von solchen Propheten indessen keine vollbracht. 90

Zwar hatte Cort6s seine Siege gegen eine große Übermacht an Feinden immer wieder auf göttliche Gnade zurückgeführt91 und es hatte Berichte von Erscheinungen der Mutter Gottes oder des Heiligen Jakobs auf dem

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Francisco de Vitoria: De Indis, S. 453-455, 483. Vitoria bezieht sich in diesem Punkt wieder auf die Cartas de Relaciön des Hernän Cortds. Cortis hatte in seinem Bericht der Unterwerfung Mexikos wiederholt betont, daß die Indios sich der spanischen Krone unterworfen und zu getreuen Vasallen erklärt hätten. Wann immer die Eingeborenen sich dann gegen die Herrschaft der Spanier wandten, hielt Cortds dies für Hochverrat und betrachtete sein entsprechend grausames Vorgehen als legitimiert. Herniin Cortös: Letters from Mexico (wie Anm. 9), S. 154. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 455. Ebd., S. 483; siehe auch ders.: De Potestate civili, S. 140-143. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 455. Hernän Cort6s: Letters from Mexico (wie Anm. 9), S. 17,20, 59.

Theorie des gerechten Krieges

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Schlachtfeld gegeben,92 doch sieht Vitoria in diesen vorgeblichen Zeichen keinen schlüssigen Beweis eines göttlichen Aufrufs zum Heiligen Krieg gegen die Indios. Vielmehr wird deutlich, daß Vitoria die göttliche Verheißung des gelobten Landes an die Israeliten und die daraus folgende Vertreibung der angestammten Einwohner als eine Besonderheit ansieht, die sich nicht wiederholen wird.

3.3

Allerdings gab es aus der Sicht des Francisco de Vitoria mögliche gerechte Gründe für ein bewaffnetes Vorgehen der Spanier in der Neuen Welt. Gemäß der Definition des >bellum iustum< ist für Vitoria ein gerechter Krieg gegen die Indios dann möglich, wenn diese ein schwerwiegendes Vergehen gegen die Spanier verschuldet haben. Diese potentiellen Vergehen, die Vitoria als Rechtstitel für die spanische Conquista anführt, sind oftmals mißverstanden und fehlgedeutet worden. Es wurde nicht selten vorschnell gefolgert, daß Vitoria mit der Auflistung möglicher Rechtstitel auch das tatsächliche Vorhandensein dieser Ansprüche zum Ausdruck bringen wollte. Ein genauerer Blick in die Argumentation des dominikanischen Theologen zeigt jedoch, daß dem nicht so ist. Bereits der erste gerechte Rechtstitel für einen Krieg, den Vitoria anbringt, hat zu vielfachen Mißverständnissen geführt. Es handelt sich hierbei um Vitorias Konzeption einer Gemeinschaft aller Menschen und den daraus resultierenden Rechten zur Kontaktaufnahme und zur Reise- und Handelsfreiheit (ius peregrinandi).93 Vitoria argumentiert, daß die Welt so beschaffen sei, daß an keinem Ort alle Güter in ausreichendem Maße vorhanden sind. Auch lehre die Vernunft den Menschen, daß der Austausch von Fertigkeiten und Waren für alle Menschen von großem Nutzen sei. Die Menschen seien daher angehalten, in fremde Gebiete zu reisen, miteinander Handel zu treiben und freundschaftliche Kontakte zu unterhalten. Schließlich gelte: Die Natur schuf eine gewisse Verwandtschaft unter den Menschen. Daher ist es naturrechtswidrig, daß der Mensch einem anderen Menschen ohne irgendeinen Grund in feindlicher Absicht entgegentritt. Es ist nämlich nicht so, daß der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, wie der Komödiendichter sagt, sondern ein Mensch. 94

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Bemal Diaz del Castillo: Die Eroberung von Mexiko, hrg. v. Georg A. Narciß, Frankfurt am Main 1988, S. 77. Bernal Diaz del Castillo, der als Soldat im Heer des Cortis diente, bestreitet, daß auch nur irgend jemand bei einer Schlacht den Heiligen Jakob sah, so wie es spater der Chronist Francisco Lopdz de Gomara behauptete. Heinz-Gerhard Justenhoven weist zu Recht darauf hin, daß Vitoria die Rechtstitel zur Wahrung des Friedens in der Völkergemeinschaft nirgends »umfassend und grundsätzlich* behandelt, sondern lediglich auf den Aspekt der Conquista angewandt. Siehe HeinzGerhard Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden (wie Anm. 22), S. 95. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 465.

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Die natürliche Gemeinschaft der Menschen spiegle sich insbesondere im Völkerrecht (ius gentium) wider, so sei z.B. bei allen Völkern das Gastrecht bekannt und die Ausweisung eine schwere Strafe. Vitoria zählt einige Rechte auf, die sich aus der natürlichen Gemeinschaft der Menschen ableiten lassen: Da ist zunächst das Recht auf Zugang in ein fremdes Land, insofern dieser nicht mit einem Schaden für die Einheimischen verbunden ist. Natürliche Häfen, Flußmündungen und offene Handelsplätze sollen allen Menschen zugänglich sein und auch in der Frage der Freiheit der Meere spricht Vitoria sich für eine freie Nutzung aus. Neben dem Zugang zu fremden Ländern soll auch der Handel mit den Einwohnern fremder Länder frei sein, wiederum insofern die Einheimischen nicht geschädigt werden. Ein weiteres Recht sieht der spanische Theologe in der Partizipation der Spanier an allen Ressourcen, die anderen Fremden zugänglich gemacht werden. Generell gilt für ihn, daß die Spanier nicht schlechter gestellt werden dürfen als andere Fremde. Dies gilt auch für Fragen des Bürgerrechts. Vitoria vertritt ein striktes >ius solis< in bezug auf die Gewährung des Bürgerrechts. Kinder spanischer Eltern, die in indianischen Gemeinwesen geboren wurden, haben in seinen Augen Anspruch auf das Bürgerrecht in der indianischen Gemeinschaft. Ein weiteres wichtiges Recht, daß aus der Gemeinschaft der Menschen folgt, ist das Gesandtschaftsrecht, ohne das keine Kontakte zwischen den Völkern möglich wären. Das Recht, Gesandte unbehelligt in fremde Territorien zu schicken, steht fllr Vitoria im engen Zusammenhang mit dem Recht zur Mission. Die Nächstenliebe gebiete, die Wahrheit des Evangeliums zu den Indios zu bringen. Es sei unvernünftig, wenn diese in der so wichtigen Frage ihres Seelenheils nicht bereit wären, das, was die Christen zu sagen haben, anzuhören.95 Aus diesen Rechten folgert Vitoria, daß die Indianer verpflichtet seien, die friedliche Kontaktaufnahme der Spanier zuzulassen. Cortes - und die Vermutung liegt nahe, daß Vitoria bei der Diskussion dieses Rechtstitels die Briefe des Konquistadors an die spanische Krone vor Augen hatte - berichtet, daß er bei verschiedenen Versuchen, an den Küsten Mexikos zu landen, von wilden Eingeborenen mit Speeren und Wurfgeschossen angegriffen worden sei.96 Selbst die wiederholte Betonung friedlicher Absichten habe die Indios nicht beruhigen können. Notgedrungen habe Cortös daher den Angriff befohlen, um Wasser und Nahrungsmittel aufnehmen zu können. Gemäß Vitorias Ausführungen wäre Cort6s' bewaffnetes Vorgehen in diesem Fall gerechtfertigt, da die Indios ihm nur dann die Landung hätten verweigern dürfen, wenn die Spanier schon früher durch Fehlverhalten die 95

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Bernard von Clairvaux hatte ebenfalls zur Rechtfertigung der Kreuzzüge die Verweigerung des friedlichen Durchzugs geltend gemacht und daraus die Forderung nach einer bewaffneten Missionierung abgeleitet. Vgl. Ernst-Dieter Hehl: Kirche und Krieg im 12. Jahrhundert. Studien zu kanonischem Recht und politischer Wirklichkeit, Stuttgart 1980, S. 134. Herniin Cortis: Letters from Mexico (wie Anm. 9), S. 8 (Indios hindern Grijalva an der Landung in Yucatan), S. 20 (die Einwohner der Stadt Potochan verweigern den friedlichen Einzug der Spanier).

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Ordnung der indianischen Gemeinwesen gestört hätten. Allerdings räumt Vitoria entschuldigend für die Indianer ein, daß sie aus einer verständlichen Angst und nicht in böser Absicht gehandelt hätten. Die volle Härte des Kriegsrechts, das die Versklavung Kriegsgefangener und ihre völlige Enteignung vorsieht, dürfe somit nicht angewendet werden. Vitoria gesteht den Spaniern die Abwehr der angreifenden Indios zu, empfiehlt dann aber eine milde Politik der Aussöhnung. Hier wird die Rolle des Kriteriums der >intentio recta< im Denken Vitorias deutlich. Die Indios, die aufgrund einer verständlichen Angst nur das Ziel haben, die bedrohlich wirkenden Fremden abzuwehren, vergehen sich zwar objektiv gegen das Naturrecht, sind aber durch ihre aufrechte Gesinnung und in diesem Moment unüberwindbaren Mangel an Einsicht entschuldigt und dürfen daher nicht wie Übeltäter bestraft werden. Verweigern sie sich aber grundlos oder in böser Ansicht dem Kontakt mit den Europäern, so fügen sie diesen ein Unrecht zu, das mit Krieg geahndet werden darf.97 Des weiteren betont Vitoria wiederholt, daß das Recht auf freien Zugang und Handel dann eingeschränkt werden darf, wenn das eigene Gemeinwesen Schaden zu nehmen droht. Bartolom^ de Las Casas hat dieses Konzept der Kommunikationsfreiheit kritisiert und darauf hingewiesen, daß auch zwischen den europäischen Staaten die Reisefreiheit und die Möglichkeit zum Handeln beschränkt werden. Keine Nation, so Las Casas, akzeptiere es, daß eine beliebige Menge Fremder - noch dazu bewaffnet - in ihr Hoheitsgebiet eindringe, dort Städte und Festungen anlege und unkontrolliert Handel zu treiben beginne. 98 Luis Molina formulierte in seiner Kommentierung der Summa Theologica des Thomas von Aquin noch schärfer, daß es das Recht eines jeden Volkes sei, den Kontakt mit Fremden zu verweigern und diese mit Waffengewalt aus der eigenen Herrschaft fern zu halten.99 Ebenso urteilte Diego de Covarrubias, der sich für das Recht souveräner Gemeinwesen aussprach, die aus der internationalen Gemeinschaft abgeleiteten Rechte jederzeit einschränken zu können, wenn sie der Meinung sind, daß sie Schaden erleiden könnten. 100 Las Casas, Molina und Covarrubias scheinen die Wirklichkeit der frühen Neuzeit in diesem Punkt besser zu erfassen als Vitorias idealistischer Anspruch auf generelle Freiheit der Zuwanderung und des Handels. Gerade im Hinblick auf die Ausweisung der Juden und Moriskos aus Spanien in den Jahren 1492 und 1502 mutet dieser Rechtstitel für die Conquista konstruiert 97

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Vgl. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 465: »daß Fremde Geschäfte machen dürfen, wenn diese mit keinem Schaden ftlr die Bürger verbunden sind. [...] Also wäre ein Gesetz, das ohne Begründung ein Verbot ausspräche, nicht vernünftig. [...] Also ist es ihnen nicht gestattet, die Spanier grundlos an der Wahrnehmung ihrer Vorteile zu hindern.« Bartolomi de Las Casas: Apologia (wie Anm. 81), S. 365. Luis de Molina: De hello commentario a la II-II, q. 40, hrg. v. R. S. Lamadrid, in: Archivo teolögico granadino 2 (1939), S. 184. Diego de Covarrubias: De iustitia belli adversos indos, in: Corpus Hispanorum de Pace. 6, S. 343-363. Zwar hatte auch Vitoria darauf verwiesen, daß mit den Rechten, die aus dem >ius gentium« erwachsen, kein Schaden einhergehen darf, hatte aber eine prophylaktische Abweisung der Spanier durch die Indios als Unrecht angesehen.

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an. Es sei jedoch nochmals daran erinnert, daß Vitoria den Indios eine Ablehnung des Kontakts mit den Spaniern zubilligt, sobald dieser den Indios zum Nachteil wird oder sie große Angst vor den Unbekannten empfinden. Sollte es dennoch zum Kampf kommen, so entsteht in einem solchen Fall kein Rechtstitel auf die Inbesitznahme der eroberten Gebiete, da die Indios als schuldfrei zu betrachten sind.101 Da der Zugang zu einem fremden Land frei ist, muß dort auch die Missionierung erlaubt sein, wenn sie nicht zu schweren Unruhen führt. Die Spanier haben, so Vitoria, kein Recht, die Indios mit Gewalt zu bekehren oder sie wegen der Weigerung, Christen zu werden, zu bestrafen. Sie dürfen aber auch gegen den Willen der Einheimischen die Missionierung beginnen und, wenn nötig, deswegen einen Krieg gegen diejenigen führen, die sie hindern wollen.102 Dieses Recht wird von Vitoria damit begründet, daß die Missionierung zum Vorteil und Heil der Indianer erfolgt; die brüderliche Zurechtweisung und die in christlicher Nächstenliebe vorgenommene Aufklärung über den Zustand der Sünde, in dem die Eingeborenen leben, entspringen aus dem Naturrecht,103 denn jeder Mensch ist verpflichtet, seinen Nächsten vor großem Unheil zu warnen, und es ist vernünftig, solche Warnungen nicht generell abzulehnen.104 Doch sei zu beachten, betont Vitoria, daß erst dann ein bewaffnetes Vorgehen legitim ist, wenn die Möglichkeiten friedlicher Überzeugung völlig ausgeschöpft wurden. Generell gelte in allen Kriegen, die zur Unterstützung der Missionierung geführt werden, daß sich »dabei immer alles eher nach dem Wohl der Barbaren als nach dem eigenen Gewinn ausrichtet«.105 In den folgenden dritten bis fünften Rechtstiteln geht Vitoria auf das Recht der Spanier zur Intervention in die indianischen Angelegenheiten ein. Die Spanier haben ein Recht und sogar eine Pflicht einzugreifen, wenn die 101

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Es sei denn, der Friede kann nur durch eine Besetzung der indianischen Länder gesichert werden. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 471. Ebd., S. 477. Ebd., S. 473: »Weil die brüderliche Zurechtweisung, wie auch die Liebe, auf dem natürlichen Recht gründet. Da also jene Leute sämtlich nicht nur in Sünden leben, sondern auch außerhalb des Heilsstandes sind, ist es folglich Aufgabe der Christen, sie zurechtzuweisen und anzuleiten: Es hat sogar den Anschein, als wären sie dazu verpflichtet.« In diesem Zusammenhang weist Vitoria darauf hin, daß der Papst, um eine effektive Mission zu gewährleisten, einer Nation allein den Missionierungsauftrag erteilen kann, was im Fall der Spanier geschehen sei. Daß die Spanier diesen Auftrag erhielten, ist ftlr den Dominikaner schon deshalb gerecht, da diese das Wagnis der Entdeckungsexpedition auf sich genommen hatten. Heinz-Gerhard Justenhoven sieht im Missionsrecht eine Ausdehnung des Gesandtenrechts. Botschafter werden entsandt, um wichtige zwischenstaatliche Fragen zu klären und können dadurch oftmals Kriege verhindern. Die Missionare werden ebenfalls entsandt, um den Barbaren eine wichtige Mitteilung zu machen und ihre Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten. Es wäre daher unvernünftig - und somit gegen das Naturrecht - sie von vornherein abzuweisen. Vgl. H.-G. Justenhoven: Francisco de Vitoria zu Krieg und Frieden (wie Anm. 22), S. 105-108. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 476.

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Herrscher der Indios die bereits zum Christentum bekehrten Untertanen wieder zum Götzendienst zwingen wollen. Der Papst, so Vitoria, hat das Recht, einen ungläubigen indianischen Herrscher abzusetzen, wenn er eine Gefahr für den Glauben seiner christlichen Untertanen gegeben sieht.106 Schließlich dürfen die Spanier intervenieren, wenn die Herrscher der Indios sich tyrannisch verhalten oder aber Unschuldige durch Kannibalismus und Menschenopfer zugrunde gerichtet werden.107 Kannibalismus und Menschenopfer waren weit verbreitete Vorwürfe gegen die Indianer. Hernän Cortös wie auch Bernal Diaz del Castillo berichten von wahren Leichenbergen bei Opferungen und argwöhnen wiederholt Anthropophagie bei den weniger fortgeschrittenen Völkern der Neuen Welt. 108 Francisco de Toledo wiederum ließ in den sogenannten Informaciones Zeugnisse für die Tyrannei der Inkaherrschaft sammeln und beauftragte Pedro Sarmiento de Gamboa, eine Geschichte Perus zu schreiben, in der die Vorzüge der spanischen Regierung der Willkürherrschaft der Inkas gegenübergestellt werden.109 Vitoria sieht in der Rettung Unschuldiger vor Unheil einen Rechtstitel, der tatsächlich geeignet erscheint, daß Vorgehen der Spanier in der Neuen Welt zu rechtfertigen: Auch ohne Ermächtigung des Oberpriesters können die Spanier die Barbaren an der Ausübung jedes frevelhaften Brauchs und Ritus' hindern, weil sie Unschuldige vor einem ungerechten Tod schützen können. Dies wird bewiesen, weil Gott einem jeden einen Auftrag gab, was den eigenen Nächsten betrifft und jene Leute sämtlich Nächste sind. Also kann sie jeder aus einer solchen Gewaltherrschaft und Unterdrückung befreien, und diese Aufgabe kommt in besonderer Weise den Herrschern zu. Die Behauptung wird ferner mit Prov 24, 11 bewiesen: Rette die, die man zum Tode führt, und höre nicht auf, die zu befreien, die in den Untergang gezogen werden! Und dies ist nicht nur für den Fall gemeint, wenn die Betroffenen tatsächlich in den Tod geführt werden, vielmehr können die Spanier die Barbaren auch zwingen, von einem solchen Ritus abzulassen. 110

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Das Recht des Papstes, in die Staaten Ungläubiger einzugreifen, wenn die Christen gefährdet sind, ist der einzige Rechtstitel, den Melchor Cano nicht von seinem Lehrmeister übernimmt. In der Schrift De Dominio Indiorum, in der Cano die Gerechtigkeit der Conquista diskutiert, hält er sich ansonsten strikt an die von Vitoria erarbeiteten gerechten Titel. Vgl. Luciano Perefla Vicente: Mision de Espafla en America 1540-1560. (CS1C) Madrid 1956, S. 87. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 479-481. Hernän Cortds: Letters from Mexico (wie Anm 9), S. 35, 107, 146, 184, 223 (Taskalteken essen aus Rache das Fleisch aztekischer Krieger); Bernal Diaz del Castillo: Geschichte der Eroberung von Mexiko, S. 45, 130 (ein Tempel mit 100.000 ausgestellten Schädeln wird gefunden!). Diverse Reisebeschreibungen taten ein weiteres, um die Indianer als Menschenfresser hinzustellen. Vgl. Georg Bremer: Unter Kannibalen. Die unerhörten Abenteuer der deutschen Konquistadoren Hans Staden und Ulrich Schmidel, Zurich 1996. Dagegen siehe Peter Hassler: Menschenopfer bei den Azteken? Eine quellen- und ideologiekritische Studie, Bern u.a. 1992. Hassler versucht nachzuweisen, daß die Azteken keine Menschenopfer kannten. Vgl. Lewis Hanke: The Spanish Struggle for Justice in the Conquest of America, Philadelphia 1949, S. 162ff. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 481.

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In seiner Erklärung dieses Rechtstitels weicht Vitoria erstmals von der Definition der >causa iusta< ab, denn die Spanier erleiden kein Unrecht und erhalten dennoch das Recht zur Kriegführung. Weder die Tyrannei indianischer Herrscher noch die Tötung Unschuldiger innerhalb des indianischen Gemeinwesens können als direktes Vergehen gegen die Spanier konstruiert werden; daher führt Vitoria eine neue Überlegung ein. Der Schutz Unschuldiger auch außerhalb der Grenzen des eigenen Gemeinwesens wird zur Verpflichtung eines jeden Gemeinwesens.111 Diese Verpflichtung bezieht Vitoria aus dem göttlichen Gesetz, das jeden Menschen anweist, den Nächsten zu lieben.112 Wirklich problematisch wird das Recht der Intervention im Fall des Schutzes einer christlichen Bevölkerung vor heidnischen Herrschern. Vitoria ist der Meinung, daß gute heidnische Herrscher nicht entmachtet werden sollten, wenn sie den christlichen Glauben ihrer Untertanen nicht gefährden. Sieht der Papst jedoch eine Gefahr für den christlichen Glauben der Indios, so sei er befiigt, die Absetzung der heidnischen Herren anzuordnen. In diesem Punkt, wie auch in der Freiheit der Mission, läßt Vitoria keine Gegenseitigkeit gelten. Die Christen sind nämlich nach Vitorias Ansicht keineswegs dazu gehalten, die Missionare fremder Religionen zuzulassen. Es wird deutlich, daß der spanische Dominikaner davon ausgeht, daß der christliche Glaube erwiesenermaßen die Wahrheit darstellt, während alle anderen Religionen nichts weiter als Verirrungen sind. Folglich könnten diesen Religionen nicht dieselben Rechte zugestanden werden. Diese Ansicht hatte schon Papst Innozenz IV. dazu bewogen, den Christen im Umgang mit den Heiden Sonderrechte einzuräumen.113 Um möglichst viele Seelen vor der ewigen Verdammnis zu retten, müsse eine Intervention zugunsten bedrängter Glaubensbrüder erlaubt sein.114 Dieses Argument wird im Gefolge der Religionskriege erneut aufgegriffen. Alberico Gentiii stellt in seinem Traktat De Iure Belli die Frage, ob ein Souverän den wegen ihres Glaubens unterdrückten Untertanen eines fremden Herrschers zur Hilfe eilen darf. Er hat bei der Behandlung dieses Problems die englische Intervention im Kampf zwischen den protestantischen Niederländern und den katholischen Spaniern vor Augen. Gentiii kommt zu dem Schluß, daß die Gemeinschaft der Menschen die Fürsorge auch für

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Vgl. Alberico Gentiii: De Iure Belli Libri Tres, hrg. v. James B. Scott (The Classics of International Law. 16). Bd. 1, Oxford 1933, S. 198: »Et itaque iHorum sententiam probo magis, qui iustam dicunt causam Hispanorum: dum faciunt Indis bellum, qui concubitus nefandos, et cum bestiis exercebant: et qui carnes humanas, hominibus in id mactatis, comedebant.« Vgl. Francisco de Vitoria: De Homicido, S. 488. Robert A. Williams: The American Indian in Western Legal Thought (wie Anm. 15), S. 47. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 479. Erasmus hat die Einbeziehung der Intervention unter die gerechten KriegsgrUnde mit dem Argument kritisiert, daß das Eingreifen zugunsten der Unterdrückten diesen meist den größten Schaden zufüge. Vgl. Josi A. Fernändez: Erasmus on the Just War, in: Journal of the History of Ideas 34,2 (1973), S. 217.

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fremde unterdrückte Untertanen rechtfertige. Hier finden sich deutliche Anklänge an Vitorias Argumentation, auch wenn sie nun ironischerweise gegen die Spanier selbst gerichtet wird.115 Vitorias Schüler Juan de la Pefla erläutert in seiner Schrift De Bello contra Insulanos ebenfalls das Interventionsrecht. Bedrängten Glaubensbrüdern dürfe in jedem Fall auch mit kriegerischen Mitteln zur Hilfe geeilt werden. Bei de la Pefla findet sich jedoch in bezug auf das generelle Interventionsrecht eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Völkern der Neuen Welt. Die aggressiven und menschenfressenden Kariben, so de la Pefla, dürfen zu ihrem eigenen Schutz und zum Wohl ihrer Nachbarn unterdrückt und mit Gewalt zur Aufgabe ihres bisherigen kriegerischen Gebarens gezwungen werden.116 Die Azteken jedoch opferten nur verurteilte Übeltäter, was de la Pefla nicht als Unrecht ansieht, da die Opferung somit lediglich eine besondere Form der Hinrichtung sei.117 Auch seien sie nicht aufgefordert worden, von einer ungerechten Praxis abzulassen, sondern seien direkt von den Spaniern überfallen worden. Selbst Las Casas, der Apostel der Indios, machte das Eingeständnis, daß unter gewissen Umständen eine Intervention erlaubt sei. Auch in seinen Augen ist das Eingreifen zugunsten zu Unrecht unterdrückter und verfolgter Menschen in einem fremden Staat gerechtfertigt. Allerdings, so schränkt Las Casas mit Hinblick auf die Argumentation des Cort6s ein, müsse die Proportion gewahrt bleiben. Um einige wenige Opfer vor rituellen Handlungen zu retten, dürfe nicht die ganze aztekische Zivilisation vernichtet werden. Darüber hinaus versteht Las Casas Vitorias Überlegungen nicht als Rechtfertigung des spanischen Vorgehens in Amerika. Vielmehr weist er in seiner Apologia darauf hin, daß Vitoria lediglich im Konjunktiv formuliert habe. Vitoria zufolge dürfe allein dann interveniert werden, wenn die geforderten Umstände tatsächlich vorhanden seien. Las Casas betont jedoch, daß Vitoria an keiner Stelle ein tatsächliches Vorhandensein der entsprechenden Voraussetzungen einer Intervention als gegeben ansieht.118 Ein weiterer Grund für eine Einmischung liegt, so Vitoria, in der Verpflichtung, den Freunden und Bundesgenossen im Fall eines ungerechten Angriffs Hilfe zu bringen. An dieser Stelle geht der spanische Gelehrte direkt auf die Berichte des Hernän Cort6s ein. Cortis schildert, wie er die Freundschaft der Tlaxkalteken, den erbitterten Feinden der Azteken, gewinnt. Vitoria erklärt, daß, wenn die Tlaxkalteken tatsächlich einen gerechten Krieg gegen die Azteken führten, es von den Spanier gerecht war, 115 116 117 118

Alberico Gentiii: De Iure Belli Libri Tres (wie Anm. 111), S. 75ff. Juan de la Pefla: De bello contra insulanos (wie Anm. 54), S. 218. Ebd., S. 224. Bartolomd de Las Casas: Apologia (wie Anm. 81), S. 376: »Y el proprio Vitoria nos da a entender esto (en la segunda parte) al hablar en condicional por temor de suponer ο decir falsedades por verdades. Ahora bien, como las circunstancias que aquel doctlsimo padre presupone son falsas, y puesto que afirma ciertas cosas con timidez, ciertamente Sepülveda no debio oponer contra mi la autoridad de la doctrina de Francisco de Vitoria que se apoya en falsas informaciones.«

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ihren Freunden und Bundesgenossen zur Hilfe zu eilen, und daß sie gemäß dem Kriegsrecht die eroberten Gebiete rechtmäßig in ihren Besitz nehmen durften. Vitoria konnte sich bei dieser Aussage auf die Entstehung des römischen Reiches berufen: Das wird bekräftigt, weil die Römer in der Tat vor allem aus diesem Grunde ihren Herrschaftsbereich erweiterten, nämlich indem sie Genossen und Freunden Hilfe gewährten, bei diesen Anlässen gerechte Kriege unternahmen und so in Übereinstimmung mit dem Kriegsrecht in den Besitz neuer Provinzen gelangten. 119

Ein letzter Grund für die Herrschaft der Spanier über die Indios, der von den Konquistadoren vorgebracht wurde, ist die angebliche Unfähigkeit der Indios, sich selbst zu regieren. Die Barbaren, so wurde argumentiert, seien Sklaven von Natur im aristotelischen Sinne120 und müßten daher unter die Obhut der Spanier gestellt werden. Ihre unzivilisierte Lebensweise wurde als Beweis dieses Rechtstitels herangezogen.121 Wenn die Völker der Neuen Welt wirklich unfähig sind, sich selbst zu regieren, so Vitoria, dann ist die Herrschaft der Spanier über sie gerecht. Er verdeutlicht diese These anhand eines Beispiels: Wenn die Erwachsenen eines Volkes sterben würden, so wären die Nachbarn verpflichtet, sich um die Kinder zu kümmern.122 Sie dürften diesen aber nicht den Besitz der Eltern nehmen, sondern lediglich treuhänderisch verwalten.123 Die Spanier wären dementsprechend zwar verpflichtet, die Kontrolle über die Indios zu übernehmen, müßten diese aber zum Wohl der Eingeborenen verwenden und diese in die Eigenständigkeit entlassen, sobald sie die Fähigkeit, sich selbst zu regieren, erlangt haben. Vitoria macht jedoch deutlich, daß er an eine generelle Unfähigkeit zur Selbstregierung nicht glaubt:124 Ferner lassen es Gott und die Natur nicht an dem mangeln, was für einen großen Teil der Art notwendig ist. Das Besondere im Menschen ist aber die Vernunft [...] Daß sie so verrückt und betört sind, kommt deswegen nach meiner Ansicht zum größten Teil von der 119

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Francisco de Vitoria: De Indis, S. 485. Siehe auch Balthazar Ayala: De Jure et Officiis Bellicis et Disciplina Militari Libri III, S. 10; Hugo Grotius: De Jure Belli ac Pacis. Libri Tres - Drei Bücher vom Recht des Krieges und Friedens, Paris 1625, nebst einer Vorrede von Christian Thomasius zur ersten deutschen Ausgabe des Grotius vom Jahre 1707, hrg. v. Walter Schätzel (Klassiker des Völkerrechts. 1), Tübingen 1950, S. 404; Francisco Suärez: Ausgewählte Texte zum Völkerrecht, hrg. v. Walter Schätzel (Klassiker des Völkerrechts. 4), Tübingen 1965, S. 142. Aristoteles: Politik 1, 4 (1254a); vgl. Lewis Hanke: Aristotle and the American Indians. A Study in Race Prejudice in the Modem World, London 1959, S. 12ff. 1515 wurde eine Delegation von Hieronymiten-Mönchen in die Neue Welt geschickt, um die Befähigung der Indios zur Verwaltung ihrer eigenen Angelegenheiten zu überprüfen. Las Casas zweifelte ihre Ergebnisse mit der Begründung an, die Mönche hätten nicht die Indios selbst untersucht, sondern die Siedler, die ein Eigeninteresse an der Knechtschaft der Indios hatten, befragt, ob diese den Eingeborenen eine eigenständige Verwaltung zutrauten. Vgl. Urs Bitterli: Alte Welt - Neue Welt. Formen des europäisch-Uberseeischen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, München 1986, S. 91. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 487. Ebd., S. 405. Vgl. Hugo Grotius: De Jure Belli ac Pacis (wie Anm. 119), S. 385.

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Krieges

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schlechten und rohen Erziehung, zumal wir auch bei uns viele Landleute sehen, die sich kaum von den vernunftlosen Tieren unterscheiden. 125

Die Indios sind folglich nicht wirklich unfähig, sondern lediglich ungebildet; ein Umstand, der allein durch friedliche Missionierung und Kulturkontakt abgeschafft werden könnte.126 Vitoria läßt die Frage, ob die Conquista insgesamt oder zumindest einzelne Eroberungen gerecht waren, offen. Im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen besaß er die Aufrichtigkeit, sich einzugestehen, daß er mit den Verhältnissen in der Neuen Welt nicht vertraut war, und daher ist es sein Anliegen, vielmehr aufzuzeigen, welche Kriegsgründe per se als ungerecht angesehen werden müssen. Welcher Sachverhalt in der Neuen Welt konkret vorlag, mußte durch die Krone und ihre Berater geklärt werden. In der Relektion De Iure Belli erläutert Vitoria, daß neben dem Herrscher alle Untertanen, die Einblicke in die Staatsgeschäfte haben, verpflichtet sind, unaufgefordert die Gerechtigkeit der Gründe für einen Krieg zu prüfen.127 Es reiche nämlich nicht aus, daß der Herrscher überzeugt sei, einen gerechten Krieg zu fuhren, sondern erst nach der Befragung tüchtiger und weiser Männer, die sich ohne Zorn und Haß äußern können, sei eine Entscheidung über Krieg und Frieden möglich. Besteht aber Zweifel an der Gerechtigkeit der eigenen Sache, dürfe kein Krieg geführt werden.128 Darüber hinaus erläutert Vitoria, daß die Untertanen das Recht haben, ihren Gehorsam zu verweigern, wenn sie fest von der Ungerechtigkeit eines Krieges ihres Herrschers überzeugt sind. Die Problematik des Gewissens führt ihn zu der Frage, ob es möglich ist, daß zwei streitende Parteien zugleich einen gerechten Krieg gegeneinander fuhren können. In der mittelalterlichen Tradition wurde die Möglichkeit eines beiderseitig gerechten Krieges bestritten und auch Vitoria erklärt, daß von der objektiven Begründung her nur eine Seite über eine wirkliche >causa iusta< verfügen könne. Hinter dieser These steht die Vorstellung, daß jeder Krieg über einen eindeutig bestimmbaren Sachverhalt geführt wird und nur eine Seite den gerechten Anspruch verfechten kann. Allerdings, so räumt 125 126

127 128

Francisco de Vitoria: De Indis, S. 403. Alonso de Zorita fragte in seiner Breve y sumaria Relaciön sehr pointiert, warum die Indianer als >incapaces< gelten, seien die Spanier doch in vielerlei Hinsicht genauso irrational wie sie. Mache man sich lächerlich darüber, daß Indios Gold gegen Glasperlen tauschen, so müsse man ebenso Uber jene lachen, die Gold für die aus Asien importierten Luxusgüter bezahlten. Letztlich, stellt Zorita fest, beruhe die Fehleinschätzung der indianischen Kultur darauf, daß viele weise Männer, die nie selbst Indianer gesehen hatten, in ihrem Urteil auf die Nachrichten von Männern vertrauten, die ebenfalls nie Indianer gesehen hatten. Alonso de Zorita: Breve y sumaria relaciön de los sefiores y maneras y diferencias que habfa de ellos en la Nueva Espafla, in: Documentos iniditos de Amdrica, hrg. v. Joaquin Ramirez Cabaflas. Bd. 2, Mexiko 1942, S. 78. Francisco de Vitoria: De Iure Belli, S. 569. Vitoria behandelt in diesem Zusammenhang Besitzstandsfragen, wie sie in Italien zwischen den Habsburgern und den Valois permanent aufkamen. Er empfiehlt, im Zweifelsfall den derzeitigen Besitzer in seinem Besitzstand zu belassen und auf Krieg zu verzichten (Francisco de Vitoria: De Iure Belli, S. 571-575).

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Vitoria ein, könne eine Seite durch einen unüberwindbaren Irrtum der festen und aufrichtigen Überzeugung sein, daß die eigene Sache gerecht sei. Dieser Fall ist uns schon bei jenen Indios begegnet, die den Spaniern aufgrund ihrer panischen Angst vor den Unbekannten die Landung verweigerten. Beide Seiten kämpften in einem solchen Fall mit gutem Gewissen und gegen die Besiegten dürfe aus diesem Grund nicht die volle Härte des Kriegsrechts geltend gemacht werden.129 Was konkret in einem gerechten Krieg erlaubt ist und was nicht, behandelt Vitoria im letzten Teil der Relektion De Iure Belli, in dem er sich mit dem >ius in bello< auseinandersetzt.

4.

Wie bei der Definition des gerechten Kriegsgrundes beginnt Vitoria seine Ausführungen mit einem Grundsatz, an dem die einzelnen Bestimmungen des Kriegsrechts zu messen sind: »In einem gerechten Krieg ist es erlaubt, alles zu tun, was für das öffentliche Wohl und dessen Verteidigung notwendig ist.«130 Dieser Grundsatz scheint eine recht weitgefaßte Lizenz für die Kriegführenden darzustellen und so sieht Vitoria sich veranlaßt, eine Reihe von Zweifeln (dubia) zu erörtern. Ein vorrangiger Zweifel ist die Frage, ob auch die Tötung Unschuldiger erlaubt sei. Vitoria macht hierbei eine Unterscheidung zwischen >nocens< und >innocensLeben aus dem Land< waren die Söldnerscharen oft nicht zu ernähren und zu unterhalten. Neben ihrer Güter dürfen Unschuldige auch ihrer Freiheit beraubt werden, falls dies für den Erfolg des Feldzugs unbedingt erforderlich ist. Insbesondere die Muslime, die beständig die Christenheit bedrängen und niemals Wiedergutmachung für ihre Angriffe leisten, können auf diese Weise zum Einlenken gezwungen werden. Ihre an sich unschuldigen Frauen und Kinder dürfen 132 133

134 135

Francisco de Vitoria: De Iure Belli, S. 583. Zum ethischen Problem des Prinzips des Doppeleffekts siehe J. Mangan: An Historical Analysis of the Principle of Double Effect, in: Theological Studies 10,1 (1949), S. 41-61; Timothy M. Renick: Charity Lost. The Secularization of the Principle of Double Effect in the Just-War Tradition, in: Thomist 58,3 (1994), S. 441—462; Thomas A. Cavanaugh: Aquinas's Account of Double Effect, in: Thomist 61,1 (1997), S. 107-121; Daniel F. Montaldi: A Defense of St. Thomas and the Principle of Double Effect, in: Journal of Religious Ethics 14 (1986), S. 296-332. Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica II—II q. 64, a. 7, n. 2. Francisco de Vitoria: De lure Belli, S. 584: »quod nullo modo licet, quia non sunt facienda mala, ut vitentur etiam alia mala maiora.«

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daher zu Recht versklavt werden.136 Vitoria weist darauf hin, daß unter christlichen Nationen die Versklavung der Kriegsgefangenen jedoch nach den Kriegsbräuchen nicht mehr erlaubt ist.137 Er sieht ebenso die zeitgenössische Praxis der Repressalie als gerechtfertigt an.138 Wenn geraubte Güter nicht wiedererlangt werden können, darf der zu Unrecht Geschädigte sich an den Gütern der Schuldigen, aber auch der unschuldigen Landsleute, schadlos halten, wenn ihm seitens des Herrschers der Schuldigen kein Recht verschafft wurde. Allerdings warnt Vitoria die Herrschenden davor, die Repressalie in eine unkontrollierte Plünderung von Fremden ausarten zu lassen.139 Ähnlich bewertet Vitoria das Recht zum Beutemachen. Wiederum gilt: Wenn der Erwerb von Beute für die Kriegführung notwendig ist, ist er auch gestattet. Er räumt jedoch ein, daß, sobald eine Wiedergutmachung erfolgte, jede weitere Aneignung von Beute nichts weiter als Diebstahl ist und daß der Wert der erbeuteten Güter nicht unverhältnismäßig zum selbst erlittenen Schaden sein darf. Die zeitgenössische Kriegspraxis, eine Stadt den Söldnern zur Plünderung zu versprechen, sieht Vitoria als gerecht an, wenn sie für die Kriegführung, zur Abschreckung der Feinde oder zur Anfeuerung der eigenen Soldaten dienlich ist. Allerdings müsse eine zwingende Notwendigkeit bestehen, da die Plünderung einer Stadt bekanntlich mit unvorstellbaren Grausamkeiten verbunden sei.140 Neben diesen rudimentären Regeln zum Verhalten im Krieg gibt der Dominikaner einige Hinweise zu den Regelungen, die nach Abschluß eines Krieges vorgenommen werden sollen. Da der Zweck des Krieges die Wiedergutmachung eines erfahrenen Unrechts sei, ist für Vitoria alles legitim, was der gerechten Bestrafung des Übeltäters und der Wiedergutmachung des Verbrechens dient. Verlorene Güter oder der entsprechende Gegenwert dürfen folglich vom Feind konfisziert werden. Das beinhaltet auch die Zahlung von Reparationen für die entstandenen Schäden bzw. Aufwendungen und die Einforderung eines Tributs zur Bestrafung des Feindes. Die Absetzung des fremden Fürsten hält Vitoria lediglich dann für gerecht, falls seine Vergehen entsprechend schwer waren oder aber eine dauernde Kriegsgefahr von ihm ausgeht.

136 137

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139 140

Francisco de Vitoria: De Iure Belli, S. 589. Schon im Mittelalter hatte sich die Auslösung Kriegsgefangener durch Lösegeld unter Christen durchgesetzt. Aber auch diese Praxis entbehrte nicht der Grausamkeit, so ließ ein Ritter seinem Gefangenen die Zähne ausreißen, um die Angehörigen zur Zahlung des Lösegelds zu zwingen. Vgl. Μ. H. Keen: The Laws of War in the Middle Ages, London 1965, S. 180. Zur Theorie und Praxis der Repressalie siehe Bartolus a Saxoferrato: Tractatus repressalium (1354); Giovanni da Legnano: De Bello, De Represaliis et De Duello, hrg. v. Thomas Erskine Holland (The Classics of International Law), New York, London 1964; R. v. Foerster. Schiedssprechung und Repressalie, Würzburg 1936. Francisco de Vitoria: De Iure Belli, S. 589. Ebd., S. 597.

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Insgesamt rät der spanische Gelehrte jedoch immer wieder zur Milde und Vergebung: »Denn die Strafe darf das Maß des Unrechts nicht überschreiten, ja Strafen sind einzuschränken und Gnadenerweise auszudehnen.«141 Die abschließenden Forderungen der Relektion De Iure Belli sind daher: a) Der Fürst soll nicht nach Möglichkeiten und Gründen für einen Krieg suchen, sondern aufrichtig nach Frieden streben, b) Das Ziel des gerechten Krieges muß die Wiederherstellung des Rechts und darf nicht die Vernichtung des Gegners sein, c) Nach der Beendigung des Krieges ist der Sieg mit Mäßigung und christlicher Bescheidenheit zu nutzen.142 Daß diese Grundsätze bei der Eroberung Amerikas offensichtlich mißachtet wurden, liegt für Vitoria auf der Hand. Er schlägt deswegen vor, daß die bereits eroberten und bekehrten Völkerschaften weiter dem spanischen König Untertan sein sollten, da es dem König nicht erlaubt sei, die einmal bekehrten Indios ihrem Schicksal zu überlassen. Des weiteren solle jedoch nur noch friedlicher Handel und gewaltlose Evangelisation erlaubt sein. Der Krone erwachse dadurch kein Nachteil, da die Portugiesen in Afrika und Asien bewiesen haben, daß man die neuentdeckten Länder nicht zu erobern brauche, um Vorteile aus einem regen Handel zu ziehen.143

5. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Vitoria mit seiner Theorie das mittelalterliche Verständnis der einheitlichen >respublica christiana< aufgibt. Angepaßt an die neue Wirklichkeit der staatlichen Souveränität wird der Autorität des Papstes nur noch die zur Erhaltung des christlichen Glaubens nötige Macht zuerkannt. Der Kaiser ist lediglich noch als Souverän des Reiches von Bedeutung; er ist aber keinesfalls mehr als ein >primus inter paresmoderne Völkerrecht^ das ein neues und objektives Kriterium zur Schlichtung internationaler Konflikte bieten soll. Dabei werden unter dem Völkerrecht jene Grundsätze des Zusammenlebens verstanden, die allen vernünftigen und wohlwollenden Menschen gemein sind. Allerdings ist der Begriff des >ius gentium< bei Vitoria sehr stark am Naturrecht angelehnt, außerdem ein undurchsichtiges Gemisch aus zwischenstaatlichen und privatrechtlichen Regelungen, womit Vitoria deutlich der Tradition des Mittelalters verhaftet bleibt. Moderner hingegen ist seine Auffassung des Völkerrechts als ein Recht für eine gleichberechtigte Völkergemeinschaft, die ein Interesse an gegen-

141 142 143

Ebd., S. 601. Ebd., S. 603. Francisco de Vitoria: De Indis, S. 4 8 7 ^ 8 9 .

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seitigem Respekt und eine Verpflichtung zur Friedenswahrung hat.144 Da jeder Staat zum Wohle seiner Bevölkerung gegründet wird, folgert Vitoria, besteht ein Interesse, den friedlichen Handel und Verkehr zu wahren und die Zerstörungen und Verluste eines Krieges zu vermeiden. Der Anlaß für einen gerechten Krieg entsteht nur dann, wenn ein Staat gegen den Konsens des Völkerrechts verstößt und die allgemeine Friedensordnung verletzt. Am Beispiel der Einschränkung des friedlichen Handels hat Vitoria diese Ansicht zu illustrieren versucht. Verbietet ein Staat den Handel aus keinem anderen Grund, als dem Nachbarn zu schaden, so widerspricht dies der anerkannten Moral und schlichtweg der Vernunft selbst, da der beschränkende Staat seine eigenen Bürger ebenso schädigt wie die Fremden. Ein bewaffnetes Eingreifen muß nach Vitoria in solchen Fällen zur Wiederherstellung der vernünftigen naturrechtlichen Ordnung erlaubt sein. Die Problematik dieser Auffassung zeigt sich anhand der Frage, was als vernünftig und allgemein anerkannt gelten kann. Vitoria muß die These vertreten, daß alle Menschen unabhängig von ihrer Kultur gewisse Grundsätze in gleicher Weise anerkennen. Die Möglichkeit, daß die völkerrechtlichen Grundsätze auf einer europäisch-christlichen Denktradition beruhen, die nicht in jedem Fall allgemeiner Konsens ist, wird von Vitoria nicht in Betracht gezogen.145 Gerade in bezug auf die christliche Mission gesteht Vitoria den Christen eine einseitige Berechtigung zur Verbreitung ihres Glaubens zu, da er die christliche Religion für erwiesen richtig hält. Vitoria ist fest davon überzeugt, daß sich die Wahrheit des christlichen Glaubens einem jeden unvoreingenommenen, vernünftig denkenden Menschen über kurz oder lang erschließt.146 Da von Taufe und Glauben das Seelenheil der Menschen abhängt, sieht Vitoria in der christlichen Mission eine dringende Notwendigkeit und ein Gebot brüderlicher Nächstenliebe. Auf die Mission zu verzichten hieße, die vielen Ungläubigen der ewigen Verdammnis zu überlassen. Daß die friedliche Mission jedoch in der abendländischen Geschichte oftmals in blutige Kreuzzüge umschlug, hat auch Vitoria erkannt, was ihn dazu veranlaßte, eine erzwungene Bekehrung abzulehnen. Wiederholt ermahnt er, die Indios durch freundliche Beharrlichkeit und vorbildhaftes Leben von der Richtigkeit der christlichen Lehre zu überzeugen. Ein weiteres Problem, das sich aus Vitorias Denken über den gerechten Krieg ergibt, ist die Frage, was geschieht, wenn die ungerechte Seite den 144

145

146

M. de la Muela: El Derecho >Totius Orbis< en el Pensamiento de Francisco de Vitoria, in: Revista espaflola de Derecho Internacional 18 (1965), S. 341-364. Vgl. J. A. Fern ändez-San tarn aria: The State, War and Peace. Spanish Political Thought in the Renaissance 1516-1559, Cambridge 1977, S. 111. Fernändez-Santamaria kritisiert zudem, daß Vitoria sich keine Gedanken zu den Institutionen, die das Völkerrecht durchsetzen sollen, gemacht habe. Für Vitoria sind jedoch die Staaten selbst mit der Einhaltung und Durchsetzung des Völkerrechts betraut. Ein Völkerbund schien in der frühen Neuzeit noch nicht praktikabel. Schon Innozenz IV. urteilte so (3.34.8, fol. 177r, zitiert nach Muldoon: Popes, Lawyers, and Infidels (wie Anm. 17), S. 166): »non enim ad paria debemus eos nobiscum iudicare, cum ipsi sint in errore, et nos in via veritatis, et hac pro constant! tenemus.«

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Krieg gewinnt. Im Mittelalter herrschte der Glaube vor, daß die gerechte Seite im Wissen um ihre Gerechtigkeit einen moralischen Vorteil habe und letztlich sogar auf göttliche Unterstützung vertrauen dürfe. Auch bei Vitoria scheint unterschwellig der Optimismus vorzuherrschen, daß die gerechte Seite schließlich doch siegen werde. Daß aber in der praktischen Erfahrung jede der beiden Parteien sich als gerechtfertigt ansieht und eine Niederlage meist schon den Keim des nächsten Konflikts in sich trägt, wird in den Überlegungen des spanischen Dominikaners nicht thematisiert. In der Frage der Conquista wehrt Vitoria das Argument der Unzivilisiertheit und damit der Unfähigkeit zur Herrschaft, die den Indios vorgeworfen wird, ab. Die Indianervölker sind wie die europäischen Souveräne zu behandeln und genießen dieselben Rechte. Für Vitoria gibt es nur einen >totus orbiscity< to translate Latin >civitaspoliscivitas< is in most contexts interchangeable with >respublica< or >commonwealthcommon good< or »common advantage« is used to designate the good of this public, i.e. common, >thingres publicaideology for a systemexception< to the scholastic tradition, and a figure whose political conclusions deserve more attention than they have so far received. More than that, however, I want to use an expose of Palacios' thought to explore the relations between constitutional questions of the relation between prince and people and less constitutional questions of the government of the state and 9 10

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Ibid., p. 105. See, for example, J. P. Sommerville: From Suärez to Filmer. A reappraisal, in: Historical Journal 25 (1982), p. 525-540; J. Η. M. Salmon: Catholic resistance theory, in: Cambridge History of Political Thought 1450-1700, ed. J. H. Burns with the assistance of M. Goldie, Cambridge 1991, p. 219-253. For a representative of this view see H. A. Lloyd: Constitutionalism, in: Cambridge History of Political Thought 1450-1700, p. 254-297. See also J.-P. Rubiis: La idea del gobiemo mixto y su significado en la crisis de la Monarquia Hispänica, in: Historia Social 24 (1996), p. 57-81, for a ftirther development of this line of interpretation in the context of distinguishing Castilian »constitutionalism« from the contractual ist arguments we find in Aragonese and Catalan authors. Already in 1958, however, Sänchez Agesta had pointed out that the thesis of the origin of power in the people does not function to limit but to exalt the office of the prince: L. Sänchez Agesta: Los origenes de la teoria del estado en el pensamiento espaflol del siglo XVI, in: Revista de Estudios Politicos 98 (1958), p. 8 5 109. J. Lalinde Abadia: Una ideologia para una sistema, in: Quademi Fiorentini 8 (1979), p. 61-150. Just how absolutist that monarchy really was has, of course, been questioned: see C. Jago: Philip II and the Cortes of Castile. The case of the Cortes of 1576, in: Past and Present 109 (1985), p. 24-43, for just one example relative to the period in which Palacios presented his political conclusions. Ibid. p. 93, 103, 107-8. For a similar distinction between the political thought of Las Casas and that of the School of Salamanca, see J. A. Maravall: Utopia en el pensamiento de Las Casas, in: Maravall: Utopia y reformismo en la Espafla de los Austrias, Madrid 1982.

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of the subject. When we think about the series of works De legibus or De iustitia et iure in the near-century from Vitoria to Suärez, two major areas of problematic present themselves. One is the question of how to characterise and to explain the shift (if indeed there is any such single shift at all) from the earlier rationalism of the Dominicans Vitoria and Soto to the later voluntarism of, for example, the Augustinian Luis de Leön and the Jesuit Suärez.14 Secondly, but, I want to suggest, relatedly, there is the question of the relation between the Spanish scholastics and Spanish reason of state theorists. The former are characterised by Vidal Abril, in his introduction to the Politico ο razön de estado of Diego P6rez de Mesa, as writing in an >ideal ought to be< mode of theorising, propounding a politics of right in >another galaxy< from the pragmatic considerations of the reason of state literature.15 While the former concentrates on the juridical structure of the city or >respublicaestadoconservaciön< - in the Spanish reason of state literature must make the student of the scholastic, juridical mode prick up her ears. For since the work of Almain at the beginning of the sixteenth century, scholastic politics had been bound up with the Thomist language of self-conservation: the law of nature provides that an individual has the right to conserve itself in being, and analogously so does the city. Francisco de Vitoria, in his Relectio De potestate civili, had taken up Almain's analogy. But it had been developed by Domingo de Soto 14

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For the latest treatment of this theme, see D. Ferraro: Itinerari del volontarismo. Teologia e politica al tempo di Luis de Leön, Milan 1995. V. Abril: Diego Pirez de Mesa, adelantado de las clases medias, in: Diego P6rez de Mesa: Politica ο Razön de Estado, ed. L. Perefia and C. Baciero, Madrid 1980, p. cii-cxii, at cii— civ. Abril makes a distinction between the Spanish reason of state literature (which he also denominates »Spanish baroque Tacitismethicists< (proponents of an overtly antiMachiavellian »verdadera razön de estadoestado< as a term with the implication of »situation« with regard to other powers, J. Lalinde Abadia: Espafla y la monarquia universal, in: Quaderni fiorentini 15 (1986), p. 109-166, pp. 123-127; M. Foucault: Omnes et singulatim: Towards a criticism of »political reason«, in: The Tanner lectures on human values II, ed. S. M. McMurrin, Salt Lake City, Cambridge 1981, p. 223-254, p. 245.

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into a dynamic account of the origins of the city: it is because each individual has the natural right of self-conservation, which is however ineffective in isolation, that the city is formed - a city which then itself has the right of self-conservation, explicitly said to exist with regard both to internal and to external malefactors.17 In all these theorists, the right of the city to conserve itself in its own proper being grounds the legislative right of the prince or king. The community's right of self-conservation, ultimately invested in the community itself, is in the last resort the justification for tyrannicide. That is the constitutional story about the School of Salamanca. But it is also the licence for the prince to act without the consent of his subjects, and to enact legislation, across a huge range of actions on the broad qualification that this is for the conservation of the city. As Abril recognised, both the juridical mode of political theory, and the reason of state mode, demand prudence as the prime virtue of the political ruler or governor. The concept of governing prudence, with the end of conservation, can thus be seen to mediate between the two discourses and to blur the demarcation between them.18 However, it seems to me that not only the figure of the governor or prince, but that of the governed subject, might be profitably investigated for continuities between the two genres. Recent scholarship on European reason of state literature has studied it not only from the angle of the power and technique of the prince, but also for the corresponding effect on the conception of the subject as the site of government or discipline. States have subjects, not citizens, and subjects of a certain nature. To what extent was the subject of reason of state discourse already anticipated in that of scholastic political theory? *

With these themes in mind, let me turn now to a detailed analysis of the political pronouncements of Miguel de Palacios, and first to Palacios' disagreement with Cardinal Cajetan on the question whether the laws of the city make men good. His consideration of this issue is set within a discussion of the question whether a divine positive law is necessary for man in addition to natural law and human positive law, which involves him in a consideration of the effects of these two laws. Like Aquinas, Palacios connects the question of the effect of human law on men with the question of Politics III, whether the good citizen is the same as the good man. Palacios' answer is that the law does indeed make men good, but good in the sense of good citizens rather than good men. This is because »the laws of the city cannot change the soul of man, because it is in the power of God alone to change our will«, because, »the heart of the king is in the hand of God [...] and the

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I expand on the details of this argument in my Liberty, right and nature. Individual rights in later scholastic thought, Cambridge 1997, Ch. 4. Abril, as cit. above, n. 14.

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same goes for the hearts of others«.19 The law can however alter behaviour: »and whatever the spirit in which such acts come about, whether through vainglory or personal utility, as long as they are done, the person who does them is reputed a good citizen.«20 »For«, Palacios goes on, »human laws are like art, which operates only on the surface of the material.«21 As far as the city is concerned, then, individual human beings are material which is externally shaped but whose nature remains unaltered. The city does not involve the nature of the man, but merely imposes on him a form or conformity, the form of citizen which is not the same as the form of man, human form. This unequivocal response sets him at some distance both from Aquinas, and from Aquinas' commentator Cajetan. Palacios first notes Aquinas' own ambivalence on the issue. »For firstly he seems to teach, that the good man and the good citizen must necessarily be the same. Because Augustine [...] says, it is a shameful part, which is not in harmony with its whole. Since therefore man is a part of a city, he must necessarily be in proportion to his whole, if he is not to be a shameful part [...] And therefore if a man is good, he will be a good citizen, because he will be in proportion to his city.«22 Palacios brings in Cajetan's development of the point: »And Cajetan amplifying the topic says that the hermit, who lives far from the tumults of the city, is a good citizen. Because the good hermit has his soul prepared to give his city good counsel.«23 »But then«, Palacios goes on, »Thomas seems to disagree with himself, saying that it is one thing to be a good man, and another to be a good citizen: and another to be a good man, and a good prince.«24 In the body of the article in question, Aquinas had specified that if the law is made to the true good, which is the common good »regulated according to divine justice«, then the law will make men good in an absolute sense.25 Such a law is indeed a maker, like an artist, but it transforms the whole man, not just the surface form. Aquinas' conclusion depends on an appropriation of Aristotle's ethic of habituation: if, at the law's command, we do good things often enough, we shall become doers of good things, i.e. virtuous in ourselves.26 However, it is important that this is only true for legislation directed at the common good as specified above. If the law is

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Miguel de Palacios: In quattuor libros Magistri Sententiarum disputationes theologicae gravissimae, Salamanca 1574-1577; In tertium librum Sententiarum, Salamanca 1577, fol.421. Ibid. Ibid. Ibid. fol. 422. Ibid. Ibid. Thomas Aquinas: Summa theologiae, la2ae, q. 92, a. 1 in corp. art. : »If the intention of the legislator is towards the one good, which is the common good regulated according to divine justice, then it follows that through the law, men become good in an absolute sense

(simpliciter).« 26

Ibid, ad 1.

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directed at something which is only a relative good, for example something which is useful or pleasurable to the legislator himself, or something which is contrary to divine justice, then the law makes men good only secundum quid, i.e. in relation to a particular city. Thus, although Aquinas lays it down as part of the definition of human law, that it be aimed at the common good, it appears that a good human law simultaneously aims at or directs toward the good of the individual.27 It is this which allows Aquinas to integrate the human city with its human laws essentially into the return to God which the Summa depicts. As he says in the De regno, it is through the virtuous life which the human city and its laws enable that we come to our final end of supernatural felicity.28 The human city is not just an environment, a location, but a moral community, membership of which is a vital part of our journey to ultimate beatitude. This is the real reason why man is by nature a political animal. By refusing the idea that surface form eventually affects the nature of the matter, Palacios differs from Aquinas on a very deep level. However, his overt arguments are principally directed at Aquinas' response to the third objection, which is to the effect that some men can conduct themselves well with regard to the common good while misbehaving in private. Aquinas replies that it is impossible for anyone truly to be >proportioned to the common good< unless he be virtuous, i.e. a good man. Nor, conversely, can the common good survive unless the citizens are virtuous, that is, good men.29 However, Aquinas then backtracks, as Palacios rightly I think points out, and specifies that this primarily goes for the prince. Other citizens just have to have sufficient virtue to obey the prince. But this virtue of obeying the prince is not the same as the virtue of the good man. So that while the good man and the good prince are the same, the good man and the good citizen are not: as indeed Aristotle says in Politics III.30

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This removes the otherwise anomalous character of human law within the hierarchy of the four laws. The eternal law directs all things to their appointed end; natural law directs each individual to his natural end; the divine law directs the individual to his supernatural end in God. Only human law does not direct the individual to his own good, but to the common good. In the good city, however, there will be no conflict between direction to the individual's good and direction to the good of the community. Thomas Aquinas: De regno, ad regem Cypri, ed. as De regimine principum by A. P. d'Entrives, in: Aquinas: Selected political writings, Oxford 1948, Ch. 14, p. 74: »Non est ergo ultimus finis multitudinis congregatae vivere secundum virtutem, sed per virtuosam vitam pervenire ad fruitionem divinam.« Ibid, ad 3.: »the goodness of any part is considered in proportion to the whole of which it is a part; and hence it is that Augustine says in his Confessions, Book 3, that it is a shameful part, which does not conform to its whole. Therefore since every man is a part of a city, it is impossible, that any man should be good, unless he is in good proportion to the common good. Conversely, the whole cannot exist well, unless it is made up of parts that are proportioned to it. And therefore it is impossible that the common good of the city should be in a good condition, unless the citizens are virtuous.« Ibid.: »or at least those to whom it belongs to rule. It is enough for the good of the community, that the others should be only virtuous enough to obey the commands of the rul-

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If we have a look at what Cajetan has to say on the locus specified, we find him as worried as Palacios that Aquinas has confused the issue.31 But we also find that to answer it, he has left far behind the confines of the Aristotelian question. Instead of trying to resolve the problematic whether the good man and the good citizen are the same in its own terms, he starts not with the idea that man is by nature a citizen, but with the idea that man is by nature a subject. Aquinas himself had opened his response with the pronouncement that »law is nothing other than the dictate of reason in a ruler, by which the subjects are governed«. Developing this theme, Cajetan takes civil law in its Thomist position as one of a hierarchy of laws which together direct man to his ultimate end. Man is necessarily subject, in order to be a man at all, to all the four laws which form the Thomist hierarchy of laws. And from this »it follows, that the good of man, insofar as he is man, and the good of the man, insofar as he is a subject [...] coincide in the case of the law which ordains man to his true felicity, be it natural or supernatural: and therefore, the law which makes for goodness in the subject with respect to felicity also makes for the proper goodness of man«.32 Within this perspective, Cajetan is able to say that »it is impossible that a man be good [...] and not a good citizen with that kind of civility which is ordained to true felicity; because man insofar as he is a man, is a part of a city, because he is a political animal: just as man insofar as he is a man, is capable of discipline (disciplinabilis), and through this and in having the goodness of man, he must be in proportion to the common good of the city, at least in the preparedness of his soul«.33 It is from this that Cajetan gets his conclusion that the hermit is a good citizen - a conclusion which he must have, since he has argued that man is necessarily a citizen or a part of the city in the sense of the true citizen, the citizen of the good or true city, the moral community. A hermit has to be a citizen in at least this sense, otherwise he would not be a man. Palacios' response, as indicated above, is to argue against Aquinas and Cajetan that the city and the common good do not need people to be good men, but just good citizens. A good city can exist as long as the citizens are good citizens; it does not require them to be good men. If a public scribe is a good scribe, it does not matter to the city that he goes home and fornicates (Palacios' example). It is the citizen, not the man, who is the part of the city:

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ers: and so the Philosopher says in Politics III, that the virtue of the ruler, and of the good man, are the same; but the virtue of a citizen, and of a good man, are not the same.« Thomas de Vio, Cardinal Cajetan: Summa totius theologiae Divi Thomae de Aquinate cum commentariis Thomae de Vio Caietani, Rome 1571, Comm. in la2ae q. 92 a. 1, ad 3, fol. 200v: »In the reply to the third objection of the first article, a doubt arises because the author appears to contradict himself [...] because in the beginning of that reply he says that it is impossible for a man to be good, unless he is in good proportion to the common good; but at the end he says that the virtue of the good man is different from that of the good citizen.« Ibid., in q. 92 a. 1 in corp. art. Ibid, ad 3.

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»whoever is a citizen, is a part« (my emphasis). As for Cajetan's hermit, we cannot say that he is either a good or a bad citizen: »Because he is not a citizen, but a hermit: and the preparedness of the soul does not of itself make a citizen, because human laws do not require a soul, but an action.«34 The city is about doing, not about being; and thus while Palacios, Cajetan and Aquinas all agree that an individual can be a good citizen without being a good man, Palacios differs from the other two in holding that even in the good city, the civil law does not function to direct the individual man to his felicity. Palacios takes the externality of the city one step further, and in contrast to all commentators I have found on this locus of Aristotle,35 holds that »the good prince is not necessarily the morally good man. For the virtue of being a prince, is to command rightly on the basis of the law: but it can happen, that someone can command rightly, although he has none of the moral virtues. And it is enough for him to be a good prince that he have civic prudence, even if he is deficient in personal prudence. And therefore the good citizen and the good prince are said with reference to the common good: for he is a good citizen, who obeys the civil laws, and he is a good prince, who governs rightly from them.«36 So for Palacios, principate and citizenship are equally offices or public roles that do not involve the inner man, nor does the former require any more virtue than the latter. For, he goes on, »these can be present without perfect private virtue, which concerns the private good, and so according to Aristotle these two are not connected; and however anxious Cajetan may be, to overturn this tenet, the anxiety is vain: and from his distorted interpretation of Aristotle he does not philosophise correctly on this topic.«37 What had Cajetan said to deserve such stricture? On this question of the prince and his virtue, Cajetan had argued that »the virtue of a good man is closer to the virtue of a prince than to that of the citizen, because the virtue of a good man includes both being able to command well, and to obey well«.38 The prince is necessarily both a good man and a good prince: and both these virtues, Cajetan adds, are personal. For more detailed arguments to this effect, Cajetan refers the reader to his discussion of personal and po-

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Palacios: In tertium Sent., fol. 423. As far as I can see, all commentators on this locus of Politics III, whether indirectly through Aquinas or directly on Aristotle himself, understand Aristotle to be saying that the virtue of the man and that of the ruler are always the same (not just in an ideal city). The comment offered with the Castilian translation of the Politics by Pedro Simön Abril is typical in its assertion that »porque ninguno puede govemar bien a otros, no govemandose as se mismo bien i como deve, por esto dize Aristoteles, que la virtud del buen governador i hombre virtuoso toda es una«: P. Simön Abril: Los ocho libros de republica (Zaragoza 1584), 70r. Palacios: In tertium Sent, fol. 423. Ibid. Cajetan, Comm. in la2ae q. 92 a. 1, ad 3, fol. 201r.

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litical prudence in the Secunda Secundae.39 Here Cajetan isolates four kinds of virtue. There is the virtue of the prince, the virtue of the subject, the virtue of the good man, and the virtue of the citizen. Cajetan argues, perhaps surprisingly, that the virtue of the prince is close to that of the good man because the prince cannot command well without also knowing how to be subject. This of course is the personal virtue of the good man. But he now has to respond to the objection that surely, the good citizen also knows how to command and be subject: so why is the good citizen different from the good man, and therefore the citizen different from the man? The response is to distinguish, on the authority of Aquinas, between two types of political prudence: >architectonic< and >manualmanual< political prudence, which is just the prudence required in carrying out orders; for the common citizen »has the place of one who shares in a piece of reasoning [i.e. is not responsible for it], like a sailor in a ship, who does not need to conduct himself well except in his particular office«.40 To be a citizen, therefore, and to exercise manual political prudence, is of itself morally neutral: it is nothing to do with being a good man. But this is not the case with being a subject·. for even those who will always be subject can have the virtue of the man: »the subject or servant is not like a mobile but irrational tool, but a rational one: and therefore he ought to obey and serve according to the rationale of political prudence [...] lest he obey commands like a dumb animal. And similarly he must command, lest as a result of anger, drunkenness or cowardice he fails to serve, to be subject, etc.«41 The subject or servant therefore both commands and obeys, just as does the good man, but the command in question is command of himself: on pain of slipping out of humanity and into brutishness. So Cajetan is vulnerable to Palacios' charge that he makes political virtue personal virtue, for the prince if not for the citizen. What is important in Cajetan's treatment is that the category of citizen is morally insignificant. It is the categories of ruler and subject which bear a moral charge. These are not political categories, involving a reference to the common good. They are at the basis of the Thomist conception of morality understood as founded upon the man's ability to direct himself, by reason, towards an end; in contrast to animals which are merely driven by their urges. The human need to live a life in political society entails that he must be directed by the reason of another. In this situation, the subject's virtue is to internalise the command 39

40 41

Tommaso de Vio, Cardinal Cajetan: Summa theologiae cum commentariis Thomae de Vio Caietani, Antwerp 1576, Tom. Ill, Comm. in 2a2ae, q. 47 a. 1. Ibid. Ibid.

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of the commanding reason, to command it over himself. If he does not do this he is like an animal. So for Cajetan, the common citizen, the subject, can save his human virtue and humanity itself only by internalising the empire of his political masters, by forming his whole nature to the form of the prince's law. And this is Cajetan's response to what is really an old Aristotelian problem, of how can the ruled ever be a man? The answer is, that he rules himself - but according to the rules of another. This is his solution to the problem of how to make a subject a man when the prince is being so manly, so virile. Cajetan's adoption of Aquinas' equation between slave and subject, and assimilation of questions of master-slave rule to questions of citizenship, presupposes an understanding of submission as personal submission, submission of one person to another. The subject is subject to the prince and therefore ruled by his law. Although Cajetan, like all the Thomist Aristotelians, insists on the necessity of rule by law, the law is so intimately connected with the prince that to some extent the distinction between rule by law, and rule by prince, is effaced. Hence the insistence on the personal natural moral virtue of the ruler. It is this combination of features to which Palacios takes such exception. Such rule is not political rule. With Palacios it is very much the laws which must be obeyed, not the prince: this is why principate is a role or an office just as is citizenship. The prince must rule from the laws, and the laws are the real ruler: »human laws aim to make good citizens, that is, obedient to and reverent of the civil laws.« The laws, rather than the prince, are the man: »For the laws are as the man, and the citizens as the woman«.42 Whereas Cajetan was concerned with the distinction between man and animal, Palacios operates with the distinction between man and woman. Palacios does not even try to save for the citizens the virtue of the man, the vir. citizenship, as pure obedience, is not manly.43 But then Palacios does not try to make citizenship into a moral virtue. We recall what he had said earlier: »the civil law is like an art, which operates only on the surface of the material«. The civil law fashions the citizen, which is like a surface figuration, a dress for the man: in the dress of the citizen, the man is as a woman. Underneath the dress, however, the citizen may be either a vicious man, a man slipping into brutishness, or a virtuous man, the figure of the truly human. How does this position of Palacios' relate to others of the School of Salamanca? On the question of whether the city is a moral community, demanding the internal virtue of men, or simply a community designed to provide certain human needs, for which external conformity is all that is required, the Dominicans Vitoria and Soto expressly rejected the latter con-

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Palacios: In tertium Sent., fol. 423: »Sunt enim leges tanquam vir, et cives tanquam foemina«. The possible conflict between virility and citizenship was discussed in other sixteenthcentury commentaries on Aristotle: see I. Maclean: The renaissance notion of women, Cambridge 1980, p. 50.

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ception. »There are some«, said Vitoria, »who think that [the laws do not make men good] but that they are like artificers who do not intend the moral but an artificial good [...] the city is not formed for the sake of the moral good, but because of human need. Now, city and legislator have the same end. Therefore the aim of the legislator is not to induce men to the moral good, but to the natural good, and to escaping that need.«44 Vitoria's reply was to argue that there can be no city unless all the citizens are virtuous, because the common good at which the city aims is nothing other than the life of virtue: »the intention of the king is without doubt to make men good absolutely speaking and to direct them to virtue [...] princes have enacted laws concerning moral goodness, such as prohibiting blasphemy, sodomy etc.; laws must concern moral actions, or these would be invalid«.45 So, against even Aquinas, not merely the prince must be a good man; all the citizens must be so. This perspective was taken up largely unaltered by Soto: the laws are there to make men good. »The effect of the law to which the legislator must especially look is to make his subjects into good men [...] moral virtue alone perfects the good man. On account of which all civil laws [...] are to be instituted for the good of the soul, in which our felicity is in question [...] For man is a civil animal for the very same reason that he is born to felicity.«46 Although both of them admit that citizen virtue is not the whole of moral virtue, nevertheless it is a part of the moral virtue of the man. Being a citizen, being in the city, does something for man morally speaking. The Augustinian Luis de Leön, by contrast, rejected the idea that the citizens must necessarily be good men. In De los Nombres de Cristo he drew the Augustinian contrast between the living law of Christ which enters into the soul and the laws of men which are written externally. The government of man, by human laws, is necessarily imperfect and cannot reach the human individual, in his particularity as such, to guide him to his good: only Christ, the good shepherd, is capable of that.47 Again in his 1571 commentary on Aquinas on the laws, he argued that »[T]he human good consists in the achievement of man's ultimate end, viz. the end of felicity, which is threefold: supernatural, natural and political. Of which the political is ordered towards the natural, and both, the natural as much as the political, are ordered towards the supernatural.«48 The city is there for achieving peace and tranquillity, which does not require the citizens to be good men. One might assimilate the Jesuit Francisco Suärez to this perspective. He too emphasised that the city is there for natural ends alone, and although he argued that the citizens must have some moral virtue, and that the law must make 44

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Francisco de Vitoria: Comentario al tratado de la ley, ed. V. Beiträn de Heredia, Madrid 1952, q. 92 a. 1. Ibid. Domingo de Soto: De iustitia et iure, ed. facs. Madrid 1967, Lib. I, q. 2, a. 1. Luis de Leön: De los Nombres de Cristo, ed. C. Cuevas, Madrid 3 1982; >Pastorwomen< are more free, more politically governed, than the men of the generality of the Salamanca tradition whose human nature binds them into a structure of subjection.

*

This freedom is manifest in the liberty which Palacios allows citizens in the question of custom. These are the passages which Luciano Perefla most relies on for his >democratic< Palacios, and they occur in a discussion of whether the citizens are bound in conscience to obey the laws of the prince. One of the accusations brought against those who wish to understand the 49

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Francisco Suärez: De legibus ac De legislatore, ed. Ε. Elorduy and L. Perefla, Madrid 1965, Lib. III, Ch. 11 n. 7: »The civil legislative power [...] does not have for its intrinsic and per se intended end the natural felicity of the future life, and not even the proper felicity of the present life insofar as it pertains to individual men in their aspects as particular persons. Its end is rather the natural felicity of the perfect human community of which it is charged with the care, and of individual men in their aspect as members of such a city [...] with that probity of habits which is necessary to the external peace and felicity of the commonwealth and the appropriate conservation of human nature«. See also ibid., Lib. I, Ch. 3, »whether the effect intended by the law is to make the subjects good«. Cf. Johannes Driedo: De libertate Christiana, Louvain 1548, Ch. 7, fol. 20r: »The end of the law or the precepts of the law, which the legislator intends, is that those upon whom the law is imposed should become good, should live justly and rightly. However, goodness [...] is twofold. One, the goodness of natural being, which is the utility of our neighbours, or again the peace and tranquillity of citizens living among each other in this life, according to a civil justice which is not contrary to divine justice, but rather capable of being ordered towards it. The other, the goodness of supernatural being, that is, of supernatural beatitude in the kingdom of God.«

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School of Salamanca as theorists of popular sovereignty is the diminished role the Salamancans accorded custom or popular acceptation in the legislative process.51 Palacios certainly stands out from his contemporaries on this account. Palacios argues that »so powerful is this unwritten right [viz. custom] that written right has no strength, unless it is supported by use, and custom, shoring up the law [...] just as custom abrogates law, when it is contrary to law, so also it is custom which approves the law, when it is consonant with it. And therefore the law's power to oblige is suspended unless it is actually exercised, and accepted. Because in order for it to exert its force, it requires the assent at least of the majority of the people.« 52 A free commonwealth, he goes on, »can bring in a custom, against the law«. The reason for this power of custom in a free commonwealth - of which for Palacios France or Spain are examples, unlike Greece under Turkish rule is that such a commonwealth »has the power of creating a king, or prince, and of changing the government from monarchical to aristocratic [for example] and so the power of a prince flows from the free commonwealth, by the consent of which the prince has the power of governing. And so they can without the prince's assent bring in a custom against the prince's law.«53 51 52 53

Lalinde Abadia: >Una ideologia*, p. 86. Palacios: In tertium Sent., fol. 435 col. 2. Ibid., fol. 435 col. 2 - 436 col. 1. Palacios' assertion that France and Spain are free commonwealths is controversial. The issue goes back to the 1511-12 debate between Almain and Cajetan over the structure of the church, in which the analogy (or lack of it) with the structure of political societies was a crucial point. On Almain's understanding, every perfect, i.e. political community (including a fortiori the ecclesiastical community) is a >free< community in the sense that it can change its form of government if necessary: for the power to act for its conservation remains always >in holding« in the body of the commonwealth even if ceded to a ruler to exercise. Royal government, at least in temporal commonwealths, does not imply that one person is superior to the entire community and not subject to it in any way; only in Christ do we find a monarchy which is perfectly monarchical in this sense. Cajetan argued that this understanding, applied to the church, turns the church into an aristocratic or democratic regime (i.e. a regime where power resides with the people), whereas the church is a true monarchy in which the people is not the repository of power; he allowed, however, that in all secular commonwealths power is from the people in the manner detailed by Almain, and therefore there is no true secular monarchy. All three texts of this dispute can now be read in English translation: see Conciliarism and papalism, ed. J. H. Burns and Τ. M. Izbicki, Cambridge 1997, pp. 137-138, 193-194 for Almain; pp. 4,25-26,202-203 for Cajetan. In Spain, the canonist Martin de Azpilcueta preserved the Almainian understanding of the political community, which implies that all temporal commonwealths ultimately have a popular regime, but nevertheless contrasted a >free cityfreedemocracyphusikon dikaion< from Nicomachean Ethics Book V allows him to marginalise the prince and allow power to the community itself, which is already broadly held together by the natural law of civility. Thus although Palacios, like Alfonso de Castro, has a voluntarist conception of civil law, this is in no way an indicator of absolutism. The civil law is >what pleases the prince< precisely because the prince may not act entirely at his own pleasure. With regard to the broader history of the School of Salamanca from Vitoria to Suärez, Palacios is in one sense unexceptional. Domenico Ferraro has studied the gradual detachment of the natural from the supernatural, during the course of the second scholastic, in the context of a study of the Augustinian Luis de Leön.70 Palacios' Augustinian allegiances place him 70

Op. cit. above, n. 13. The general point is made more briefly in the remarks which conclude his article L 'uso delle auctoritates nella seconda scolastica, in: L 'interpretazione

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firmly within this trend. And yet Palacios could not be further from Luis' conclusions as to the role of the people in the legislative process; for Luis retains from the Thomist tradition the conception of the necessary integration of man into a political community and his necessary subjection to the ruler of that community; equally with them he insists that the ruler must be a good man. The same sort of process is at work in Suärez. It serves to give the ruler the same moral authority and the same power over the community as the Dominican tradition through Aquinas, Cajetan, Vitoria and Soto had guaranteed, but towards a political commonwealth firmly situated in the natural realm. Both of these two strands coincide in seeing the end of princely rule as the conservation of the city and in arguing, effectively, for the absorption in the prince of the legislative capacity of the community. In the former, the city has a moral end which demands the integration of the man into this structure of subjection if he is to live a moral, i.e. a properly human, life at all. In the latter, the city does not have a moral but a natural end, over which the supernatural end takes precedence. But since this natural end is nevertheless necessary and willed by God, subjection to the city's ruler, who ensures the conservation of the city, is a direct moral necessity just as for the Dominicans. The citizen of the city as understood by the School of Salamanca is therefore man in his capacity as capable of subjection.71 These considerations throw an unexpected highlight on the citizen as understood by the School of Salamanca being man in his capacity as capable of subjection. Hence, as we saw above, Cajetan implies that man is a citizen through his nature as >disciplinablesubjectibleVolkes< an der Herrschaft und den Widerstand gegen einen eventuell ungerechten Herrscher, die in der Lehre vom Tyrannenmord kulminiert? Hierüber scheint in der Literatur trotz mancher Einzelstudien noch keine Einmütigkeit zu bestehen, vor allem wohl deshalb, weil die Aussagen der spanischen Denker dazu nicht wenig mit späteren Entwicklungen, z.B. der Lehre von der Volkssouveränität, verknüpft und an diesen gemessen werden. Demgegenüber soll hier die Ableitung des Widerstandsrechts so weit wie möglich in den historischen Zusammenhang gestellt und aus diesem heraus verstanden werden. Der prominenteste Vertreter dieser Theorie, Juan de Mariana, der hier zum Ausgangspunkt gewählt wird, ist zwar schon oft behandelt worden,1 die Urteile über ihn schwanken aber zu stark, als daß seine Lehre nicht erneut geprüft und abgewogen werden müßte. Von frühen Anfeindungen abgesehen, ist er auch später häufig verdammt, weniger häufig in Schutz genommen worden. P. Bayle z.B. urteilt, daß es wohl kein wirksameres Mittel gebe, um »das Leben der Prinzen dem Mordmesser bloß zu stellen, als dieses Buch des Johann Mariana«. Jeder Monarch könnte nun der Tyrannei beschuldigt werden und müsse »befürchten [...] ermordet, oder abgesetzet zu werden«.2 Und das Etikett eines Jesuiten, der den Königsmördern Argumente in die Hand gegeben hatte, wird Mariana nun häufig angeklebt, bei J. H. Zedier,3 A. L. Schlözer4 und, in nachrevolutionärer Zeit, bei

Insbesondere bei Guenter Levvy: Constitutionalism and Statecraft during the Golden Age of Spain. A Study of the Political Philosophy of Juan de Mariana S. J., Geneve 1960, und die dort in der ausführlichen Bibliographie angegebene Literatur. Die ältere Literatur auch in: Jos6 Simon Diaz: Bibliografia de la Literatura hispanica. Bd. 14, Madrid 1984, S. 180-203. Die neueren Werke von Alan Soons: Juan de Mariana, Boston 1982, und Domenico Ferraro: Tradizione e ragione in Juan de Mariana, Milano 1989, tragen für die hier behandelte Thematik wenig bei. Pierre Bayle: Historisches und Critisches Wörterbuch, Ubers, von J. Ch. Gottsched, Leipzig 1743. Bd. 3, S. 331-338: Art. >Mariana, Johannbellum omnium contra omnes< fällt jedoch, obwohl sie ihm von Görres (s.o.) und anderen (Gottfried Koehler: Juan de Mariana als politischer Denker, Diss. Leipzig 1938, S. 34f.) zugeschrieben wurde, nicht. Allerdings deutet der Satz: »Ubique latrocinia, direptiones, caedesque impune exercebantur« (S. 20) darauf voraus. Vgl. G. Lewy: Constitutionalism and Statecraft (wie Anm. 1), S. 46f.

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mus, der seit dem Hochmittelalter allenfalls einen Herrschaftsvertrag kannte, und der etwas später voll ausgebildeten Theorie des Gesellschaftsvertrags bei Hobbes. Einerseits geht er noch von einer natürlichen Soziabilität der Menschen aus, andererseits gründet er die »civilis societas« (S. 21) ausdrücklich auf einen Vertrag (foedus) und läßt die Gewalt auf einen einzelnen (ad unum aliquem) übergehen. Deshalb kann er, nach M. Salamonius {De principatu libri Septem, 1544), mit Recht zu den frühesten Theoretikern des neuzeitlichen Gesellschaftsvertrags gezählt werden. 9 Was ist der Sinn der Annahme eines solchen Gesellschaftsvertrags? Mit ihr soll offensichtlich jede politische Gewalt, vor allem die herausgehobene eines Königs (und Mariana optiert im folgenden klar für die Monarchie), 10 an den ursprünglichen Zweck der Gesellschaftsbildung zurückgebunden werden, an die wiederhergestellte »iustitia fidesque« (S. 20), deren Ausdruck die Gesetzmäßigkeit und das Recht sind, und zwar als »divinum bonum«: »humanitas legesque sanctissimae natae sunt« (S. 22). »Est enim lex ratio omni perturbatione vacua, a mente divina hausta, honesta & salutaria praescribens, prohibensque contraria« (S. 23). Eine anfängliche Einsetzung der Herrschaft durch Gott, wie sie etwa in Kompensation der Folgen des Sündenfalls gedacht werden könnte," gibt es also für Mariana nicht; die Gemeinschaftsbildung ist säkularer Art, wenn in ihr auch eine »divinitas mirabilis« aufscheint, so daß man sich nicht über die göttliche Vorsehung angesichts der deplorablen Entwicklung des vorstaatlichen Zustands beschweren darf (S. 21 f.). Um so nötiger und für Mariana unfraglich ist es aber, daß jede civilis societas, um legitim zu sein, auf dem sittlichen Gesetz gründen muß. Sie ist aber ferner nur dann rechtmäßig, wenn die königliche Gewalt sich in ihrer Ausübung immer bewußt bleibt, daß »maiorem reipublicae quam Regum auctoritatem esse« (S. 88f.). Mariana trennt also den Staat (respublica) von der Gewalt des jeweiligen Amtsinhabers (regis auctoritas): »Me tarnen auctore, quando Regia potestas, si legitima est, a civibus ortum habet, iis concedentibus primi Reges in quaque republica in rerum fastigio collocati sunt« (S. 88). Welche Konsequenzen dies im einzelnen, z.B. für die Mitwirkung der Stände, hat und welche Opposition gegen den beginnenden Absolutismus sich dahinter verbirgt, kann hier nicht ausgeführt werden.12 Allgemein gilt für Mariana, daß die politische Herrschaft eine über freie Bürger ist und damit eine andere ist als die (mit Aristoteles und der 9

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Vgl. J. W. Gough: The Social Contract, Oxford 21957, S. 61f.; zu Salamonius ebd. S. 47f. und Mario d'Addio: L'Idea del contratto sociale dai Sofisti alla Riforma, Milano 1954. Juan de Mariana: De rege et regis institutione libri III (wie Anm. 6), 1,3 u. 4. So erfolgt z.B. die Staatsgründung bei Luis Molina auch, aber nicht ausschließlich, als Antwort auf die Verderbnis der Menschennatur durch den Sündenfall: L. Molina: De iustitia et iure, tract. II, disp. 22 (Mainz 1602). Bd. 1, Sp. 114; vgl. Wolfgang Stürner: Peccatum und Potestas. Der Sündenfall und die Entstehung der herrscherlichen Gewalt im mittelalterlichen Staatsdenken, Sigmaringen 1987. Vgl. G. Lewy: Constitutionalism and Statecraft (wie Anm. 1), S. 56f.; G. Koehler: Juan de Mariana als politischer Denker (wie Anm. 7), S. 43ff.

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Ulrich Dierse

Tradition >despotisch< genannte) über Diener/Sklaven und daß deshalb dann, wenn die Untertanen aus Freien zu Sklaven (servi) werden, die Herrschaft sich in eine Tyrannei verwandelt (»degeneret in tyrannidem«, S. 94). Die Monarchie ist demnach nicht eine absolute Herrschaft, sondern erst wirklich königlich (regius), »si intra modestiae & mediocritatis fines se contineat« (S. 95). Schon die klugen Vorfahren entschieden deshalb nichts von großer Bedeutung ohne Mitwirkung der Adligen und des Volks (»sine voluntate procerum & populi«, S. 95f.).13 Und ebenso verläßt ein König den Weg der Ehre und wird zum Tyrannen, wenn er von den Bürgern lieber gefürchtet als geliebt werden will (»metui a civibus quam amari malit«, S. 93), eine unübersehbare Spitze gegen Machiavelli, der zwar nicht genannt wird, aber eben diese Frage ausführlich diskutiert und geschlußfolgert hatte, daß es für den Fürsten am besten wäre, zugleich geliebt und gefürchtet zu werden; für den Bestand seiner Herrschaft aber die Furcht der Untertanen auch ausreiche.14 Die Monarchie ist aber deshalb nicht absolut, weil, so der Titel des Kapitels 1,9, der Fürst »non est solutus legibus« (S. 99). Diese alte, von Juristen und Politikern immer wieder diskutierte Frage15 wird von Mariana in mehreren Argumentationsschritten behandelt. Oberster Grundsatz ist auch hier die »modestia«, die die königliche Herrschaft befestigt (S. 100). Zwar ist es dem Fürsten erlaubt, neue Gesetze zu geben, die alten zu interpretieren oder abzumildern, aber er darf dabei nicht gegen das göttliche Gesetz, das Sittengesetz, verstoßen oder nach seinem Gutdünken die hergebrachten Gesetze umstoßen. Dies würde einen legitimen Herrscher zum Tyrannen machen (S. lOOf.), denn er hat keine größere Gewalt: »quam universus populus, si princ i p a l s popularis esset«. Vor allem kann er die Grundgesetze seines Volkes wie die »leges de successione inter Principes, de vectigalibus, de religionis forma«, nicht ohne »universitatis consensu certaque sententia« verändern (S. 102). Diese von Mariana wie immer mit Beispielen aus der Geschichte belegten Grundsätze sind zwar nicht im ganzen neu, in der Zeit des sich ausbildenden absoluten Staates aber gerade umstritten. Im Spanien des späten 16. Jahrhunderts, als bereits eine Reihe von alten Rechten und Freiheiten der mitbestimmenden Körperschaften beschnitten, aber noch in Erinnerung waren, konnten Marianas Mahnungen wohl noch mit Verständnis rechnen. Mariana appelliert deshalb auch an Philipp III., die alten Vorrechte zu achten (S. 96). In anderen Staaten, etwa im England James' I. oder in Frankreich bei J. Bodin, wären sie wohl nur mit großen Einschränkungen gebilligt worden. Nach Mariana ist es aber nicht zuletzt ein Gebot der Klugheit, daß der Fürst, wenn er auch nicht allen Gesetzen unterworfen ist, doch in seiner 13

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>Volk< heißt hier wie in der gesamten damaligen Zeit das in Ständen verfaßte und in ihnen repräsentierte Volk, nicht die Summe der einzelnen Individuen. N. Machiavelli: II principe, Kap. 17. Vgl. Dieter Wyduckel: Princeps legibus solutus, Berlin 1979; für Mariana: Pierre Mesnard: L'Essor de la philosophie politique au XVIe siicle, Paris 1936, S. 557f.

Widerstand gegen den ungerechten Herrscher

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Lebensführung und seinen Ausgaben den Bürgern ein gutes Beispiel gibt. Denn er ragt zwar über die anderen Menschen hervor, ist aber zugleich Teil des Gemeinwesens (»debet nihilominus se hominem aut reipublicae partem arbitrari«, S. 106). Und unter bestimmten Umständen darf er, wenn er den Gesetzen, »quas respublica sanxit«, nicht gehorcht, dazu gezwungen oder auch aus seinem Amt entfernt werden (S. 106f.). Es ist ferner nur konsequent, daß dem Fürsten in kirchlich-theologischen Angelegenheiten keine Kompetenz zukommt (Kap. I, 10: »De religione nihil Princeps statuat«, S. 108). Dies berührt natürlich nicht die Pflicht des Königs, die hergebrachte Religion in seinem Land zu erhalten, in ihren Rechten zu schützen und als einzige in seinem Herrschaftsgebiet durchzusetzen. Vergleicht man Marianas Ausführungen kurz mit denen seiner spanischen Zeitgenossen, so ergibt sich ein differenziertes Bild: Francisco de Vitoria sieht den Ursprung der >potestas civilis< einmal in der Einsetzung durch die Menschen, die dem vorherigen herrschaftsfreien Zustand ein Ende setzen wollten, ein andermal eher (damit mehr die Geltung der bürgerlichen Gewalt betonend) im natürlich-göttlichen Recht. 16 In seiner Relectio De potestae civili (1528) unterscheidet er, wie es in der spanischen Spätscholastik die Regel ist, deutlich zwischen geistlicher und weltlich-politischer Gewalt, er bezeichnet die Monarchie als beste (die gemischte aber als sicherste) Regierungsform, stellt den König aber unter die von ihm gegebenen Gesetze, weil der Herrscher dem, was er als gut ansieht und befiehlt, auch selbst nachkommen muß. 17 »Hinc ergo provenit quod faciat contra ius naturale, si non subjiciatur suis legibus in his quae spectant ad omnem rempublicam.«18 Natürlich sind nur diejenigen Gesetze gerecht, die dem bonum commune dienen, wie auch jeder König nur dann König ist, wenn er sich auf dieses Ziel hin verpflichtet weiß. 19 Diesem naturrechtlichen Denken entspricht es, daß auch die von einem Tyrannen gegebenen Gesetze befolgt werden müssen, sofern sie nur gerecht sind. Andernfalls würde der Staat offensichtlich ins Verderben (in apertam perniciem) stürzen.20 - Bei Domingo de Soto, dem ersten Schüler Vitorias, steht die Legitimation der staatlichen Gewalt durch die göttliche Einsetzung im Vordergrund. Mehrmals beruft er sich deshalb auf das >Per me reges regnant< (Prov. 8, 15) und ähnliche Dikta der Hl. Schrift. Alle >publica civilis potestas< beruht auf einer >ordinatio deireipublicae vicariuscausa effectiva< der Könige und Fürsten, und das Volk verliert seine Freiheit nicht, wenn es einen Herrscher wählt und ihm die >potestas< Uberträgt; denn es war von Natur aus und zeitlich früher als er, der die Untertanen nicht ohne ihre Zustimmung, sondern nach den Gesetzen, als >minister legisdominium politicum et liberum< auf der Übereinstimmung (consensio) des Volkes beruht und nach dessen >conditiones< auf die Inhaber der Herrschergewalt übertragen ist; Gott bleibt allerdings ihre oberste Wurzel und letztes Fundament (radix et fiindamentum).26 - Abwägend äußert sich Luis de Molina: Der König steht zwar an der Spitze der >respublica< und kann sich des Gemeinwesens kraft seiner >potestas< bedienen; in den Dingen aber, die die Einrichtung der Herrschaft überhaupt betreffen, ist er nicht >reipublicae superior^ kann also bei Verletzung seiner Pflichten, etwa wenn der König zum Tyrann wird, auch abgesetzt werden: 21

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Domingo de Soto: De iustitia et iure [Salamanca 1556] IV, 4, 2; lat.-span. hrg. v. Venancio Diego Cairo y Marcelino Gonzalez Ordöflez, Madrid 1967-68, hier Bd. 2, S. 302. Ebd. III, 6 , 4 = Bd. 2, S. 269. Ebd. I, 6, 7 = Bd. 1, S. 69f.; vgl. R. W. und A. J. Carlyle: A History of Medieval Political Theory in the West. Vol. 6, Edinburgh, London "1970, S. 254ff.; Bemice Hamilton: Political Thought in Sixteenth-Century Spain, Oxford 1963, S. 64ff. Luis de Leon: De Legibus 6 tratado de las leyes [1571] I, 22, 24, 31, lat.-span. hrg. v. Luciano Perefla (Corpus Hispanorum de Pace. 1), Madrid 1963, S. 29, 31, 35. Bartolom6 de Las Casas: De regia potestate ό derecho de autodeterminaciön, lat.-span. hrg. v. Luciano Perefla u.a. (Corpus Hispanorum de Pace. 8), Madrid 1969,1, IV, 3; II, IX, 2-3, S. 34, 50. Juan Roa Davila: De regnorum iustitia ό el control democrätico [Apologia de iuribus principalibus, q. VII], [1591] I, I, 1-2, lat.-span. hrg. v. Luciano Perefla, Madrid 1970, S. 3, 8. Das Werk wurde 1592 von der Inquisition verurteilt!

Widerstand gegen den ungerechten Herrscher

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»Etenim quantum respublica concedit regi potestatis independentis in futurum a se ipsa, tantum sibi adimit potestatem, quoad immediatum illius usum nihilominus negandum est, manere duas potestates, unam in rege, alteram vero quasi habitualem in respublica, impeditam ab actu interim dum illa potestas perdurat, et tantum praecise impeditam, quantum respublica inpendenter in posterum a se regi illi earn concessit.«27 Das Volk behält sich demnach vor, die dem König übertragene Gewalt wieder für sich zu reklamieren und ihn daran zu messen und danach zu beurteilen, ob er sie rechtmäßig ausübt. Denn die >respublica< ist und bleibt als Ganze »der erste und ursprüngliche Träger der Staatsgewalt«.28 Die hier ausschnitthaft angeführten Textzeugnisse sollen nicht auf tiefgreifende Differenzen in der politischen Philosophie des späten 16. Jahrhunderts schließen lassen. Sie stehen alle noch auf demselben Boden der aristotelisch-scholastisch geprägten Politiktheorie; und deshalb können diejenigen, die den Herrscher an den Volkswillen binden und die Freiheit der Untertanen hervorheben, auch nicht kurzschlüssig als Vertreter des modernen demokratischen Verfassungsstaates interpretiert werden. Wenn z.B. Vitoria und später Francisco Suärez das Gemeinwesen als >corpus mysticum< begreifen,29 so hat das wenig zu tun mit dem heutigen Verständnis, das nicht mehr von der einheitlichen societas civilis oder civitas ausgehen kann, sondern vom Antagonismus von Staat und bürgerlicher (bourgeoiser) Gesellschaft. Wohl aber kann man bei beiden spanischen Autoren dieser Epoche beträchtliche Akzentunterschiede in der Bindung des Herrschers an Gesetz und Volkswillen bemerken; Unterschiede, wie sie im nachfolgenden, vom Absolutismus geprägten Jahrhundert nicht mehr auftreten dürften.

II. Vor diesem Hintergrund kann nun Marianas Lehre vom Widerstandsrecht verständlich werden. Sie hat zwar die aktuellen Ereignisse, d.h. die Ermordung Heinrichs III. von Frankreich durch Jacques Climent, vor Augen und scheut sich nicht, dies Faktum zu nennen, greift aber, wie es nicht anders

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Luis de Molina: De iustitia et iure [1593-1600], tract. II, disp. 26 (Mainz 1602). Bd. 1, Sp. 125. Johann Kleinhappl: Der Staat bei Ludwig Molina, Innsbruck 1935, S. 95; Frank Bartholomew Costello: The Political Philosophy of Luis de Molina, S. J. (1535-1600), Roma, Spokane 1974, S. 56f. Vgl. Francisco Castillo Urbano: Die Theorie vom Gemeinwesen als sozialem Organismus bei Francisco de Vitoria, in: Spaniens Beitrag zum politischen Denken in Europa um 1600, hrg. v. Reyes Mate und Friedrich Niewöhner (Wolfenbütteler Forschungen. 57), Wiesbaden 1994, S. 37-57; Romano Garcia: Staat und bürgerliche Gesellschaft in der spanischen Scholastik, in: ebd. S. 17-35; Heinrich Rommen: Die Staatslehre des Franz Suärez S. J., Mönchengladbach 1926, S. 175.

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sein kann, auf hergebrachte Theorien zurück.30 Hatte Mariana schon bisher immer Warnungen einfließen lassen, daß der Monarch zum Tyrannen degenerieren könne, so unternimmt er es in Kap. 1,5 zunächst, den König vom Tyrannen zu unterscheiden. Während der König alle Macht vom Volke erhält und deshalb den Untertanen seine »väterliche Liebe« (paterna Charitas) zuwendet, sie deshalb nicht wie Sklaven, sondern wie seine Kinder behandeln wird, also alle seine Macht für ihr Glück und Wohl einsetzt (S. 57), verwendet der Tyrann sie »non utilitate publica, sed suis commodis, voluptatibus, vitiorum licentia« (S. 61). Da er die Untertanen für die Vermehrung seiner Macht ausbeutet, das freie Reden unterdrückt, den Bürgern mißtraut, auch fremde Fürsten zu Hilfe ruft und die Gesetze, von denen er sich unabhängig glaubt, mißachtet, kehrt er die gesamte Ordnung des Gemeinwesens um (rempublicam omnem invertit) (S. 65). Ein solcher Tyrann ist aber für Mariana unzweifelhaft Heinrich III., weil er nicht resolut gegen die Protestanten vorging, sondern statt dessen 1588 das Haupt der katholischen Liga, den Herzog Heinrich von Guise und dessen Bruder, den Kardinal von Guise, ermorden ließ. Denn obwohl Mariana die Meinungen pro und contra den Königsmörder Jacques C16ment referiert, rechtfertigt er dessen Tat am Ende doch eindeutig als Errettung des Vaterlandes vor dem Tyrannen. »Addas licet tyrannum bestiae instar esse ferocis & immanis, qui quancumque in partem se dederit, omnia vastat, diripit, incendit, miserabiles strages edit unguibus, dentibus, cornu« (S. 74). (Es versteht sich, daß Mariana über die an den Protestanten verübten Greueltaten, etwa in der Bartholomäusnacht 1572, kein Wort verliert. Und die protestantischen Theoretiker, die Monarchomachen Beza, Brutus und Hotman etwa, hatten schon vorher mit denselben Argumenten gegen ihre Unterdrükkung durch Karl IX. geeifert.) Erst nachdem Mariana so Partei ergriffen hat, geht er das Problem des Widerstands gegen einen Tyrannen grundsätzlich an: Im Falle eines gewalttätigen Eroberers, der sich nicht auf das Recht oder »publico civium consensu« berufen kann, liegen die Dinge einfach; alle Philosophen und Theologen stimmen darin überein, daß ein solcher Usurpator, ein Tyrann absque titulo also, auf jede Weise beseitigt werden darf (S. 75).31 Schwieriger ist der Fall

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Vgl. Carl Heyland: Das Widerstandsrecht des Volkes gegen verfassungswidrige Ausübung der Staatsgewalt im neuen deutschen Verfassungsrecht, Tübingen 1950; Friedrich Schoenstedt: Der Tyrannenmord im Spatmittelalter. Studien zur Geschichte des Tyrannenbegriffs und der Tyrannenmordtheorie insbesondere in Frankreich, Berlin 1938; Joseph Schlosser: Die Lehre vom Widerstandsrecht der Untertanen gegen die legitime Fürstengewalt bei den Katholiken des 16. Jahrhunderts (Diss. Bonn 1914); Ludwig Cardauns: Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volks gegen die rechtmäßige Obrigkeit im Luthertum und im Calvinismus des 16. Jahrhunderts (Diss. Bonn 1903); Kurt Wolzendorff: Staatsrecht und NaturTecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916; Ernst Wolf: Art. >Widerstandsrechtrespublica< seine Machtmittel (imperium) einschränken, ihn zum Feind (publicum hostem) erklären und sich auf eine bewaffnete Auseinandersetzung vorbereiten, den Tyrann aber mit der Waffe beseitigen (ferro perimere). Gegenüber dem uneinsichtigen Herrscher gilt nicht mehr das Recht der Treue, sondern das der Notwehr (ius defensionis). Das Recht zur Feststellung, daß der legitime König zum Feind geworden ist, kommt aber auf dieser Stufe der Erwägungen zum Widerstand nur dem Gemeinwesen, konkret: der Ständeversammlung, zu (S. 76). Mariana geht aber auch die heikle Frage an, was geschehen soll, wenn eine öffentliche Versammlung (publicus conventus) nicht mehr zusammentreten, d.h. eben diese Feststellung nicht mehr treffen kann. Dann, und Mariana formuliert hier auffallend zurückhaltend, handelt auch derjenige nicht unbillig, der als »privatus«, aber mit »publicis votis« im Rücken, den Tyrannen beseitigt. Dies ist aber eine »quaestio in controversia«; Mariana weiß offensichtlich, daß die meisten Juristen und Theologen vor dieser Konsequenz zurückgeschreckt sind. Und deshalb versucht er auch, Befürchtungen zu zerstreuen, so könne sich jeder beliebige Privatmann berechtigt fühlen, einen vermeintlichen Tyrannen zu ermorden. Auch der privatus muß immer mit der »publica vox populi« im Einklang stehen oder wenigstens den Rat von »viri eruditi & graves« einholen (S. 77).32 Mariana will also nicht als leichtfertiger Aufrührer oder Anstifter zum Tyrannenmord erscheinen. Umwälzungen im Staat (motus reipublicae) sind generell zu vermeiden. Da aber das Wohl des Gemeinwesens und die »sanctitas religionis« unbedingten Vorrang hat, muß der Tyrann zuerst mit gesetzlichen Mitteln und danach notfalls auch mit Waffengewalt abgeschüttelt werden. Und ein König, der 32

Es muß offen bleiben, ob Mariana damit dem Klerus, insbesondere dem Jesuitenorden, die Vollmacht geben wollte, über die Tötung des Tyrannen zu entscheiden (so Richard Krebs: Die politische Publizistik der Jesuiten und ihrer Gegner in den letzten Jahren vor Ausbruch des dreißigjährigen Krieges, Halle 1890, ND Leipzig 1976, S. 116f.), oder ob er nur an »einen rechtlichen Notersatz fllr die Standeversammlung, eine Art Notparlament« dachte (so Carl Heyland: Das Widerstandsrecht (wie Anm. 30), Anm. 16, S. 37). Ausgesprochen ist nur letzteres; vgl. Guenter Lewy: Constitutionalism and Statecraft (wie Anm. 1), S. 73.

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weiß, daß dies als äußerstes Mittel erlaubt ist, wird sein Verhalten entsprechend einrichten: Die Lehre vom Tyrannenmord wird schon prospektiv heilsam wirken. Zwar hatte das Konzil von Konstanz 1415/16 entschieden, ein Tyrann dürfe nicht durch einen Einzelnen getötet werden, aber Mariana, der dies referiert, relativiert diese Lehrmeinung mit der Bemerkung, daß sie nicht (wie es nötig gewesen wäre) von den Päpsten bestätigt worden sei. Außerdem sei es dem Konzil um die Verurteilung der noch weitergehenden Meinung eines Pariser Theologen (gemeint ist Jean Petits Rechtfertigung der Ermordung Ludwigs von Orleans, 1407/08), ein Tyrann dürfe auch aus >privata auctoritas< beseitigt werden, gegangen (S. 79f.). Diese Konsequenz erscheint Mariana doch zu gefährlich. Der >privatustyrannus absque titulo< von jedermann, notfalls also auch aufgrund von privater Ermächtigung, getötet werden darf, weil er ein Eindringling in ein ihm nicht rechtmäßig zustehendes Land und damit dessen Feind ist. Der >tyrannus ex parte exercitii< darf dagegen nur vom Gemeinwesen als Ganzem oder den dazu berufenen Institutionen gerichtet und eventuell getötet werden. Sind diese dazu nicht in der Lage, so ist die Tyrannei zu erdulden. Der Einzelne ist nicht befugt, anstelle etwa der Gerichte den Tyrannen zu beseitigen.34 Die Autoren folgen hierin der Lehre des Thomas von Aquin und Coluccio Salutati.35 Mariana scheint selbst gemerkt zu haben, daß er damit kontroverse Fragen berührte, denn am Schluß des Kapitels fordert er dazu auf, ihn mit besseren Argumenten zu widerlegen (S. 80).36 Seine auch von den lehramtli-

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Vgl. J. N. Figgis: Political Thought from Gereon to Grotius 1414-1625, New York I960, S. 193; Gottfried Koehler: Juan de Mariana als politischer Denker (wie Anm. 7), S. 83f. Francisco de Vitoria: Comentarios a la Secunda secundae de Santo Tomäs, q. 64, a. 3, n. 5, hrg. v. V. Beiträn de Heredia, Salamanca 1932-52, Bd. 3, S. 287; vgl. Daniel Deckers: Gerechtigkeit und Recht (wie Anm. 16), S. 322; Luis Molina: De iustitia et iure, tract. III, disp. 6 (Mainz 1602), Bd. 1, Sp. 539; vgl. Johann Kleinhappl: Der Staat bei Ludwig Molina (wie Anm. 28), S. 108f.; Frank Bartholomew Costello: The Political Philosophy of Luis de Molina (wie Anm. 28), S. 66f.; Domingo de Soto: De iustitia et iure V, 1, 3 (wie Anm. 21), Bd. 3, S. 389f.; auf ihn beruft sich Francisco Suärez: Defensio fidei VI, 4, 18. Opera omnia, Paris 1856-78, Bd. 24, S. 681; De bello VIII, 2. Opera Bd. 12, S. 759; vgl. Heinrich Rommen: Die Staatslehre des Franz Suärez S.J. (wie Anm. 29), S. 226f. Josef Kohler: Die spanischen Naturrechtslehrer des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie Bd. 10 (1916/17), S. 235-263, hier: S. 253f. Daß Mariana den Giftmord ablehnt, hat, von heute aus gesehen, eher skurTile Gründe: Der Herrscher, der vergiftete Speisen oder Getränke zu sich nimmt, begeht damit streng genommen eine Selbsttötung, und dazu darf auch der Tyrann nicht verleitet werden (S. 85).

Widersland gegen den ungerechten Herrscher

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chen Äußerungen abweichende Meinung ist am ehesten aus der Situation der Religionskriege heraus zu verstehen, in der ein Herrscher eine Religion bestimmen, damit eine andere verbieten und die Gläubigen entweder zum ewigen Seelenheil leiten oder zum Martyrium verurteilen konnte. Deshalb steht er auch am ehesten im Einklang mit den Lehren vom Tyrannenmord bei den in seiner Zeit ebenfalls publizierenden Monarchomachen; und er ist zu Recht zu ihnen gezählt worden.37 Aber hierin zeigt sich (für den späteren Interpreten) zugleich Marianas Dilemma: Die katholischen Monarchomachen können nur die Argumente ihrer protestantischen Gegner übernehmen und im wesentlichen keine besseren anführen. Denn bei allem Scharfsinn umgeht Mariana doch eine Frage, die sich gerade in der damaligen Zeit aufdrängen mußte: Was soll geschehen, wenn die >publica vox populi< geteilt ist; wenn, wie im damaligen Frankreich, große Teile der Bevölkerung und des Adels sich der neuen Religion zuwenden, somit den Herrscher (den kommenden Heinrich IV.) nicht als Tyrannen, sondern als guten König ansehen? Mariana stellt die Frage nicht, da er sie, wie die meisten seiner Zeitgenossen, schon für erledigt hält: In einem Land können nicht mehrere untereinander verfeindete Religionen bestehen: »Pari autem nihil magis adversatur, quam si in eadem republica urbe aut provincia una plures religiones sint« (S. 421). Und Mariana kann eine Reihe von Beispielen aufzählen, von der Antike bis zu den Aufständen der Albigenser, Hussiten und der Anhänger Müntzers, die illustrieren sollen, daß religiöse Spaltungen zu Bürgerkriegen und sogar zu Einmischungen auswärtiger Mächte geführt haben. »Mutata enim religione pax publica constare non potest, uti saepe dictum est. In tumultu populari plebi bene esse qui potest?« (S. 437). Damit ist aber indirekt zugegeben, daß Einheit und Eintracht in einem Gemeinwesen den Vorrang haben vor der Durchsetzung religiöser Wahrheit. Zwar wendet Mariana einigen Argumentationsaufwand auf, um nachzuweisen, daß immer die »sectarum inventores« die Aufrührer waren (S. 444), aber die von ihm angeführten Gründe konnten ja ebenso für den protestantischen oder türkisch-islamischen Staat sprechen als für den katholischen. Marianas Werk war erfolgreich und zugleich nicht erfolgreich. Erfolgreich war es insofern, als es offensichtlich im In- und Ausland gelesen und beachtet wurde, auch von einem zweiten Tyrannenmörder, Francis Ravaillac,

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Vgl. ähnlich bereits Johannes von Salisbury: Policraticus VIII, 20, hrg. v. Clemens C. I. Webb, Oxford 1909, ND Frankfurt am Main 1965, Bd. 2, S. 378. Vgl. Arturo Pasa: Un grande teorica della Politica nella Spagna del Secolo XVI. II gesuita Giovanni Mariana, Napoli 1939, S. 142ff; E. L. Llorens: Über Juan de Marianas Staatsauffassung, in: Spanische Forschungen der Görresgesellschaft, 1. Reihe, Bd. 8 (1940), S. 381-412; Carlo Giacon: La seconda Scolastica Bd. 3, Milano 1950, S. 225-274; Bruno Fava: Le teorie dei monarcomachi e il pensiero politico di Juan de Mariana, Reggio Emilia 1953, S. 79-106; Carl Heyland: Das Widerstandsrecht des Volkes (wie Anm. 30), S. 32ff.; Kurt Wolzendorff: Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916, S. 117-122.

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der 1610 Heinrich IV. tötete; dieser soll gestanden haben, Mariana gelesen und von seinen Ausführungen bestimmt worden zu sein. Erschrocken über diese Auswirkungen, wird Marianas Buch nicht nur in Paris verboten und verbrannt, sondern auch in Rom indiziert. Der Jesuitenorden droht jedem Verteidiger des Tyrannenmordes Strafen an, und die Kirche untersagt jede weitere Diskussion.38 Mag man darin noch eher einen Erfolg als einen Mißerfolg von Marianas Buch sehen, so wurde das Widerstandsrecht doch durch die geschichtlichen Ereignisse überholt: Es in der von Mariana konzipierten Form auszuüben, hätte bedeutet, daß die religiösen Bürgerkriege verewigt worden wären. Der innerstaatliche Friede konnte auf Dauer nur durch den in Religions- und Weltanschauungsfragen neutralen Staat gewährleistet werden. Diesen Weg ebneten theoretisch die im damaligen Frankreich aktiven »Politiques«;39 praktisch wurde er mit dem Edikt von Nantes (1598) beschritten. Das bedeutet aber nicht, daß damit jede weitere Überlegung zum Widerstandsrecht als obsolet angesehen werden müßte (wie es nach Hobbes und Kant manchem erscheinen mag). Ist erst einmal der Grund zur Lösung der Frage, wer letztlich den Tyrannen als Tyrannen wirksam und für jedermann verbindlich bezeichnen könne, gelegt, so entfiele der sonst notwendig auftretende quis-judicabit-Einwand. Dann könnte in der Tat sich ein Gremium herausbilden, das die von Mariana für erforderlich gehaltene >publica vox populi< repräsentieren würde. Dazu bedürfte es allerdings einer Stärkung der internationalen Institutionen und ihrer Anerkennung. Sollte es aber der UNO und dem internationalen Gerichtshof zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, wie er in jüngster Zeit in Den Haag aktiv geworden ist, gelingen, sich zunehmend Respekt zu verschaffen, so wäre dann auch die >privata auctoritaspotentiajura communiasui jurisingeniumjura communia< haben, und wenn solche >jura communia< nur durch Kooperation der einzelnen entstehen, dann ist klar, daß das >jus civile< als Inbegriff der Regeln des Handelns »durch die Macht der Menge [potentia multitudinis] definiert wird«, und eben das ist das >imperiumpotentiae< der einzelnen gibt es nicht. Damit ist klar, daß das >imperium< nur ausgeübt werden kann als Verfügungsgewalt oder Dispositionsgewalt (potestas) über die >potentiae< der >multitudopotentiae< der vielen handelt, welche Art von Einheitsbildung ist das? Hier gibt Spinoza zwei verschiedene Antworten. Die eine erfolgt ganz im Sinne der Tradition des rationalen Naturrechts, nun aber ohne normative Konnotation: Je mehr die Menschen 46 47 48 49 50

Ebd., 2/9; Kursivierungen nicht im Original. Ebd., 2/1. Ebd., 2/10. Ebd., 2/19. Zur genauen Bestimmung der >potentia multitudinis« bei Spinoza vgl. Antonio Negri: Die wilde Anomalie: Baruch Spinozas Entwurf einer freien Gesellschaft, Berlin 1982; Etienne Balibar: Spinoza - l'Anti-Orwell: La crainte des masses, in: Les Temps Modernes 141 (1985), S. 353-398; Marin Terpstra: What does Spinoza mean by »potentia multitudinis«?, in: Freiheit und Notwendigkeit. Ethische und politische Aspekte bei Spinoza und in der Geschichte des (Anti-)Spinozismus (Schriften der Spinoza-Gesellschaft. 3), hrg. v. Etienne Balibar u.a., Würzburg 1996, S. 85-98.

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durch ihre Leidenschaften zum Handeln bestimmt werden, um so instabiler ist eine solche Einheit, weil die Leidenschaften die Menschen mindestens ebenso entzweien, wie sie sie vereinigen. Die Leidenschaften sind ja Ausdruck der Übermacht, die wechselnde Umwelteinwirkungen auf uns haben. Eine stabile Einheit läge somit nur vor, wenn die Menschen sich in ihrem Wollen von der Vernunft leiten ließen, denn in der Vernunft kommen alle Menschen überein. Nun ist aber, wie Spinoza immer wieder ausführt, die Vernunft als handlungsbestimmende Macht unter den Menschen selten, sie ist eine so knappe Ressource, daß darauf die politische Einheitsbildung nicht setzen kann - wenngleich damit zugleich ein funktionaler Bezugspunkt zur Beurteilung verschiedener Rechtsordnungen gegeben und die Perspektive einer zunehmenden Rationalisierung der Politik und Gesetzgebung zumindest eröffnet ist, denn je größer die Einheit ist, desto mehr Macht hat eine Gesellschaft, desto mehr für die Menschen Nützliches kann sie also hervorbringen. Die naturrechtliche Bestimmung der >unio< der vielen als einer vernunftbestimmten, wie sie in der Spätscholastik immer unterstellt ist und sich aus der >natürlichen Teleologie< des Menschen als eines >animal rationale et sociale< ergibt, kann also die Antwort nicht sein. Deshalb spricht Spinoza auch fast durchgehend davon, daß die Menschen handeln »als ob von einem Geist geleitet« (quasi uno mente ducuntur).51 Das ist eine Einheit, die dadurch entsteht, daß die je einzelnen sich deshalb der Direktionsgewalt anderer, deren >potestaspotentia leges condendi et jura tribuendisumma potestas