Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten: Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung des § 36a AufenthG [1 ed.] 9783428585397, 9783428185399

Im Jahr 2018 beschloss der Bundestag die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Dieser erhält

137 81 1MB

German Pages 274 Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten: Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung des § 36a AufenthG [1 ed.]
 9783428585397, 9783428185399

Citation preview

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1472

Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung des § 36a AufenthG

Von

Bernhard Gröhe

Duncker & Humblot · Berlin

BERNHARD GRÖHE

Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1472

Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten Eine verfassungs- und europarechtliche Untersuchung des § 36a AufenthG

Von

Bernhard Gröhe

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D6 Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Fotosatz Voigt, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18539-9 (Print) ISBN 978-3-428-58539-7 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Großeltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2021/2022 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Juni 2021 fertiggestellt. Das Kolloquium fand im Oktober 2021 statt. Rechtsprechung und Literatur sind bis Oktober 2021 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Fabian Wittreck, der mich in jeder Phase meiner Dissertation unterstützt hat. Er gab mir viel Freiheiten hinsichtlich der inhaltlichen wie auch zeitlichen Gestaltung, war aber zugleich zur Stelle, wenn ich Fragen hatte oder Hilfe benötigte. Herzlich bedanken möchte ich mich zudem bei Prof. Dr. Bettina Heiderhoff für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Darüber hinaus danke ich allen Freunden und Kollegen, die mich während meiner Dissertationszeit auf ganz unterschiedliche Art und Weise begleitet und unterstützt haben. Besonders bedanke ich mich zudem bei Anne Dewey, Dr. Marius Dicke, Dr. Marie Drießnack, Eva-Marie Fessmann und Paulina Gehrckens, die sich mit dem Korrekturlesen der Arbeit viel Mühe gemacht und wertvolle Hinweise gegeben haben. Schließlich möchte ich mich bei meinen Eltern Heidi Oldenkott-Gröhe und Hermann Gröhe sowie meinen Geschwistern Cornelius, Matthias und Johanna Gröhe von ganzem Herzen bedanken, die mich während meiner Dissertation und der gesamten juristischen Ausbildung in jeder Lebenslage liebevoll unterstützt und in jeder erdenklichen Hinsicht gefördert haben. Meinen Großeltern, die die Vollendung der Arbeit leider nicht mehr erleben können, ist diese Arbeit gewidmet. Düsseldorf, im Dezember 2021

Bernhard Gröhe

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

B. Der Familiennachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gesetzeshistorie und Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Voraussetzungen und Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Versagungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nichtzulassung des Familiennachzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neue Versagungsgründe des Familiennachzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Begünstigter Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ehegatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bestand einer wirksam geschlossenen Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mindestalter, § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Spracherfordernis, § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vor Vollendung des 16. Lebensjahres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nach Vollendung des 16. Lebensjahres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eltern minderjähriger Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Minderjährig bis zur Gewährung des Familiennachzugs . . . . . . . . . . . b) Minderjährig bis zur Asylantragsstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Keine Ungleichbehandlung zwischen Eltern- und Kindernachzug . . . 4. Sonstige Familienangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Geschwister als Problemkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23 24 26 26 28 29 30 30 31 31 33 35 36 37 39 40 41 43 45 46 46 47 50

C. Der Subsidiäre Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vom nationalen zum europäischen Begriff: Historie des subsidiären Schutzes 1. Auf dem Weg zu europäischen Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Qualifikationsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes . . . . . . . . . . . . 1. Todesstrafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung . . . . . . . . . . . a) Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung . . . . 3. Individuelle Bedrohung im Rahmen eines bewaffneten Konflikts . . . . . .

53 54 55 58 60 61 62 63 64 66

10

Inhaltsverzeichnis a) Individuelle Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Willkürliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewaffneter Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ausschlusstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Internationaler Schutz: Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Tatbestandsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Tatbestandsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausschlusstatbestände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gewährung des subsidiären Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Nach Europa geflohenen Syrern droht Verfolgung in Syrien . . . . . . . . . . .

D. Die Regelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten . . . . . . I. Regelungshistorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 1990–2013: Der „subsidiäre Schutz“ im Ausländer- und Zuwanderungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. 2013: Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. 2015: Gleichstellung beim Familiennachzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. 2016: Aussetzung des Familiennachzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. 2018: Begrenzung des Familiennachzugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der neue § 36a AufenthG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Personenkreis: Kernfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Obergrenze: 1.000 Visa pro Monat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der unbestimmte Begriff der „humanitären Gründe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lange Dauer der Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besonderer Schutz minderjähriger Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ernsthafte Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit . . . . . . . . . . . . . . d) Schwerwiegende Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . 4. Ausschlussgründe: „Soll-Nicht“-Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erst nach Flucht geschlossene Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Straftaten durch den subsidiär Schutzberechtigten . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Absehbares Aufenthaltsende des subsidiär Schutzberechtigten . . . . . . 5. Verhältnis zu anderen Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 68 69 70 73 74 74 77 78 80 83 84 91 95 102 103 104 105 106 107 109 110 112 114 116 118 119 120 121 122 123 125 127 129 131

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) . . . . 135 1. Inhalt und Ausgestaltung des besonderen Schutzes von Ehe und Familie 136

Inhaltsverzeichnis a) Eröffnung des abwehrrechtlichen Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuregelung des Familiennachzugs greift in Art. 6 Abs. 1 GG ein . . c) Institutsgarantie und wertentscheidende Grundsatznorm . . . . . . . . . . . 2. Abwägung zwischen den Interessen der betroffenen Familien und denen der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Widerstreitendes Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassungslegitime Zwecke für die Steuerung der Zuwanderung . . . c) Geeignetheit der Neuregelung des Familiennachzugs . . . . . . . . . . . . . . d) Erforderlichkeit der Neuregelung des Familiennachzugs . . . . . . . . . . . e) Angemessener Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen . aa) Die widerstreitenden Interessen der Familien und des Staates . . . bb) „Warteschlangenprinzip“ statt Einzelfallprüfung? . . . . . . . . . . . . . cc) Das Grundgesetz gebietet keine fixe Höchstgrenze der Trennungsdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Verletzung des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . 1. Der speziellere Gleichheitssatz des Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht anwendbar 2. Die Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sachlicher Grund und Grad der Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Keine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . IV. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist verfassungsgemäß . . . . . . . . . . . . F. Europarechtliche Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK . . . . . a) Bedeutung der Europäischen Konvention für Menschenrechte im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Allgemeine Schutzgewährleistung durch Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . c) Familiennachzugsneuregelungsgesetz mit Art. 8 EMRK vereinbar . . 2. Recht auf Achtung des Familienlebens, Art. 7 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europarechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Familienzusammenführungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Qualifikationsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Möglicher Anspruch auf Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aus der Familienzusammenführungsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subsidiärer Schutz als subsidiäre Schutzform? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Privilegierung von Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 138 141 152 153 154 158 159 163 165 166 172 175 178 180 182 183 184 186 194 196 202 205 206 207 207 209 212 214 215 216 218 218 220 222 223 232

12

Inhaltsverzeichnis c) Sonderfall: Ausschluss von nach der Flucht geschlossenen Ehen (§ 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) § 36a AufenthG ist teilweise europarechtswidrig . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Europarechtswidrig und nun? – Die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist teilweise europarechtswidrig . . .

240 243 245 248

G. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272

Abkürzungsverzeichnis a. A. A-Drucks. Abs. AEUV a. F. Alt. Amtl. Anm. Art. AsylbLG AsylG AufenthG AufenthV Aufl. AuslG Az. BAFöG BAMF BeckRS BEEG BGB BGBl. BGH BKGG BT-Drucks. BVerfG BVerfGE BVerfGK BVerwG BVerwGE BVFG CDU CSU

andere Ansicht Ausschussdrucksache Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Alternative Amtlicher Anmerkung Artikel Asylbewerberleistungsgesetz Asylgesetz Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz) Aufenthaltsverordnung Auflage Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz) Aktenzeichen Bundesgesetz über individuelle Förderung der Ausbildung (Bundesausbildungsförderungsgesetz) Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Beck-Rechtsprechung Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz) Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundeskindergeldgesetz Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundesvertriebenengesetz Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union in Bayern

14 DAV ders. dies. DÖV DStRE DVBl. EG EGBGB EGMR EGV Einl. EL EMRK EStG EU EuGH EuGRZ EuR EUV EuZW f. FamRZ ff. Fn. FS GFK GG GRCh Gz. HdbEuGR HdbVerfR

HessVGH HGR

Hrsg. Hs.

Abkürzungsverzeichnis Deutscher Anwaltsverein derselbe dieselben Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Steuerrecht – Entscheidungsdienst Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Gemeinschaften Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung Ergänzungslieferung Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) Einkommensteuergesetz Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht folgend Die Zeitschrift für das gesamte Familienrecht folgende Fußnote Festschrift Genfer Flüchtlingskonvention Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Charta der Grundrechte der Europäischen Union Geschäftszeichen Handbuch der Europäischen Grundrechte, herausgegeben von Sebastian Heselhaus und Carsten Nowak, 2. Aufl. 2020 Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von Ernst Benda, Werner Maihofer und Hans-Jochen Vogel unter Mitwirkung von Konrad Hesse und Wolfgang Heyde, 2. Aufl. 1994 Hessische Verwaltungsgerichtshof Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, herausgegeben von Detlef Merten und Hans-Jürgen Papier, Band III: 2009, Band IV: 2011 Herausgeber Halbsatz

Abkürzungsverzeichnis HStR3

InfAuslR IOM IStR i.V. m. jM Jura Kap. KRK lit. LMRR Ls. m.w. N. MdL RP NJW Nr. NVwZ NVwZ-RR NZA OVG REAG/GARP Rn. s. S. s. u. SGB SPD StGB u. a. UAbs. UNHCR Verf. VfGH VG Vgl. VVDStRL

15

Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VII: Freiheitsrechte, herausgegeben von Josef Isensee und Paul Kirchhof, 3. Aufl. 2009 Informationsbrief Ausländerrecht Internationale Organisation für Migration Internationales Steuerrecht (Zeitschrift) in Verbindung mit juris – Die Monatszeitschrift Juristische Ausbildung Kapitel Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) littera (Buchstabe) Lebensmittelrecht Rechtsprechung (Zeitschrift) Leitsatz mit weiteren Nachweisen Mitglied des Landtags von Rheinland-Pfalz Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungs-Report Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Oberverwaltungsgericht Reintegration and Emigration Programme for Asylum Seekers in Germany/Government Assisted Repatration Programme Randnummer siehe Seite/Satz (in einer Norm) siehe unten Sozialgesetzbuch Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch und andere Unterabsatz United Nations High Commissioner for Refugees (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) Verfasser Österreichischer Verfassungsgerichtshof Verwaltungsgericht Vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

16 VwGO VwVfG WRV ZAR

Abkürzungsverzeichnis Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung) Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik

A. Einleitung Am 15. Juni 2018 hat der Bundestag das „Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten“1 beschlossen. Mit diesem Gesetz will der Gesetzgeber den Familiennachzug und damit auch die Migration nach Deutschland steuern und entschleunigen, um so die Aufnahme- und Integrationskapazitäten der staatlichen Behörden und der Zivilgesellschaft vor einer Überforderung zu schützen. Im Mittelpunkt steht dabei § 36a AufenthG. Um die bezweckten Ziele zu erreichen, sind insbesondere zwei Aspekte dieser Norm entscheidend. Zum einen ist gemäß § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG ein Rechtsanspruch auf Familiennachzug, der für Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten seit August 2015 galt und im März 2016 wieder ausgesetzt wurde, ausgeschlossen. An seine Stelle rückt eine Ermessensscheidung, sodass beim Vorliegen von „humanitären Gründen“ der Nachzug gewährt werden kann. Zum anderen erfolgte eine Einschränkung, die in der Öffentlichkeit und auch in den Koalitionsgesprächen 2018 einen noch größeren Raum einnahm: Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten erhielt eine „Obergrenze“, sodass aus diesem Grund nur noch maximal 1.000 Visa monatlich erteilt werden. Das Familiennachzugsneuregelungsgesetz hat wie so viele andere Gesetze in den letzten Jahren im Bereich des Ausländer- und Asylrechts seinen Ursprung in der „Flüchtlingskrise“ 2015. In der zweiten Jahreshälfte 2015 kamen täglich tausende Einwanderer über Ungarn und die „Balkanroute“ nach Deutschland, um Schutz zu suchen. Dies führte einerseits zu einer unglaublichen Hilfsbereitschaft und Solidarität in Deutschland von Seiten der Zivilbevölkerung, andererseits aber auch alsbald zu vollen Flüchtlingsunterkünften und einen Ausbau an Notunterkünften, sei es in Turnhallen, in Hotels, in Zelten und in Containern. Der große Andrang an Zuwanderern brachte auch die zuständigen Behörden, sei es auf Bundes- und Landes- oder auf kommunaler Ebene, sowie die ehrenamtlichen Strukturen an ihre Belastungsgrenzen und teilweise darüber hinaus. Zugleich veränderte sich spätestens ab der „Kölner Silvesternacht“ teilweise die Stimmung in der Bevölkerung, und überall in Deutschland erfuhren Rechtspopulisten Auftrieb. Die Akzeptanz der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung nahm zusehends ab. Infolgedessen erließ die Bundesregierung viele Gesetze und Gesetzespakete, die zum einen die Integration und Aufnahmemöglichkeit von Zuwanderern in Deutschland erleichtern und verbessern, zum anderen aber auch die Migration 1 Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten vom 12.7.2018, BGBl. 2018 I 26, 17.7.2018, S. 1147 ff. (Familiennachzugsneuregelungsgesetz).

18

A. Einleitung

strenger kontrollieren und strikter regeln sollten. Um die Zuwanderung einzuschränken und zu bremsen, wurde im März 2016 der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten für zwei Jahre ausgesetzt. Im Anschluss an diese Aussetzung kam es dann zu der Neuregelung des Familiennachzugs und dem neuen § 36a AufenthG. Vor diesem Hintergrund hat sich ein teilweise sehr emotional geführter Diskurs um den Familiennachzug gebildet, der die Schwierigkeiten dieses Thema gut widerspiegelt. Denn einerseits möchte, sollte und muss man Kindern, die ohne ihre Eltern aufwachsen, helfen oder getrenntlebende Ehegatten unterstützen. Indes muss der Staat auch gewährleisten, dass die Menschen integriert werden können, dass die sozialen Sicherungssysteme nicht übermäßig belastet werden und dass auch die Zivilgesellschaft die Flüchtlingspolitik und Aufnahmebereitschaft mitträgt und mittragen will. Es handelt sich beim Familiennachzug also um ein schwieriges rechtliches und politisches (Minen-)Feld im Spannungsverhältnis von Humanität und Kontrolle2. Dabei kann beim Familiennachzug genauso wie allgemein im Asyl- und Aufenthaltsrecht, ein Leitsatz gelten, mit dem der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck am 3. Oktober 2015 die Schwierigkeiten in der Flüchtlingspolitik Deutschlands treffend beschrieb: „Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“3

Trotz dieses Dilemmas muss stets versucht werden, eine konstruktive und tragfähige Lösung zu finden, bei der beide Interessen bestmöglich gewahrt werden können. Dies kann nur gelingen, wenn die Debatte sachlich und rational geführt wird. Im öffentlichen Diskurs im Bereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts trüben aber leider oftmals sich aus Emotionen und Unwissenheit ergebene Behauptungen, Halbwahrheiten und Vorteile ein sachliches Bild. Diese so entstehende Entsachlichung und die emotionale Überspitzung in dieser in der Gesellschaft und Politik schon traditionell sehr umstrittenen Rechtsmaterie schaden der notwendigen Diskussion und sind weder zielführend noch hilfreich, was sich auch an der schier endlosen Debatte um die sogenannte Obergrenze gezeigt hat4. Solche emotional geführten Debatten führen selten zu vertretbaren und konstruktiven Lösungsansätzen5. Diese Arbeit soll der Versachlichung der Debatte um den 2 Ausführlich zu dem Spannungsfeld zwischen Menschenrechten und Migrationssteuerung und der Debatte in der Öffentlichkeit und der Politik hierzu: D. Thym, Migrationssteuerung im Einklang mit den Menschenrechten, ZAR 2018, 193 ff. 3 J. Gauck, Festakt „25 Jahre Deutsche Einheit“; 3.10.2015, Mitschrift S. 6, abrufbar unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2015/10/15 1003-Festakt-Deutsche-Einheit.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 7.7. 2020). 4 So zutreffend beschrieben von R. Goebel-Zimmermann/A. Eichhorn/S. Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 2017, Rn. 12. 5 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht (Fn. 4), Rn. 12.

A. Einleitung

19

Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten dienen und ihr ein rechtliches Fundament bieten. Gleichzeitig soll hiermit nicht die gesamte Flüchtlingspolitik Deutschlands der letzten Jahre bewertet werden. Es wird lediglich die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten als ein Teilaspekt der deutschen Asyl- und Ausländerpolitik rein rechtlich auf seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht untersucht. Auch leistet sich die nachfolgende Arbeit den Luxus, das Familiennachzugsneuregelungsgesetz zu überprüfen, ohne sich dabei zu fragen, welche Auswirkungen die möglichen Ergebnisse auf die Situation von subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familien oder auf die Aufnahme- und Integrationskapazitäten von Staat und Zivilgesellschaft haben könnten. Neben seiner politischen Brisanz ist der Familiennachzug auch rechtlich sehr speziell. Denn im Gegensatz zu anderen Gründen für die Zuwanderung nach Deutschland erhält das staatlich geschützte Recht der Steuerung des Zuzugs nach und des Aufenthalts in Deutschland durch grund- und menschenrechtlich (Art. 6 GG, Art. 7 GRCh, Art. 8 EMRK) geschützte Rechtspositionen ein Gegengewicht, das die staatliche Gestaltungsfreiheit einschränkt6. Daneben sind sowohl der Familiennachzug als auch der Aufenthalt aus humanitären Gründen, wozu auch der subsidiäre Schutz zählt, die beiden Gruppen, bei denen sich aus dem Anlass des Aufenthalts Schranken für das staatliche Handeln und menschenrechtliche Berücksichtigungspflichten des Staates ergeben7. Darüber hinaus sind sowohl der Familiennachzug als auch der subsidiäre Schutz in entscheidender Weise europarechtlich geprägt. Beide Rechtsinstitute entspringen Richtlinien der Europäischen Union: der Familiennachzug der Familienzusammenführungsrichtlinie8, der subsidiäre Schutz der Qualifikationsrichtlinie 9. Diese Prägung der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten durch Grund- und Menschenrechte sowie durch das Unionsrecht gebietet eine Überprüfung der neuen Regelung auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und dem Europarecht. Eine vollständige Untersuchung soll hierbei die verschiedenen verfassungs- und europarechtlichen Aspekte ausführlich und umfassend durchleuchten und sich mit der maßgeblichen Rechtsprechung hierzu

6 O. Maor, in: W. Kluth/U. Hornung/A. Koch (Hrsg.), Handbuch Zuwanderungsrecht, 3. Aufl. 2020, § 4 Rn. 1152. 7 Maor (Fn. 6), § 4 Rn. 1152. 8 Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22.9.2003, betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, Amtsblatt Nr. L 251 vom 3.10.2003, S. 12 ff. (Familienzusammenführungsrichtlinie). 9 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12. 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, Amtsblatt Nr. L 337 vom 20.12.2011, S. 9 ff. (Qualifikationsrichtlinie).

20

A. Einleitung

auseinandersetzen. Dies wird auch bereits von Stimmen in der Literatur gefordert: „Es böte sich [. . .] an, die Frage, ob § 36a AufenthG rechtmäßig ist, nicht nur in verfassungsrechtlicher Hinsicht im Lichte von [dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Familiennachzug vom 12. Mai 1987] zu betrachten und die Vereinbarkeit mit Art. 6 GG in den Blick zu nehmen, sondern auch europarechtlich zu hinterfragen.“10

Bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung ist insbesondere die Vereinbarkeit mit Art. 6 und Art. 3 GG sowie mit dem Bestimmtheitsgebot zu untersuchen, wobei freilich die entscheidende Norm Art. 6 Abs. 1 GG ist. Art. 6 Abs. 1 GG schützt die Ehe und Familie und gehört systematisch und methodisch zu den komplexesten und dogmatisch herausforderndsten Grundrechten der Verfassung11. Hieraus ergibt sich eine besondere Berücksichtigung des Staates für die Rechte und Interessen von Ehe und Familie. Bei der Überprüfung der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist auch die einzige Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, die es am 12. Mai 1987 zum Familiennachzug verkündete12. Ob sich aus der Entscheidung wirklich ableiten lässt, dass es keinen Anspruch auf Familiennachzug gibt und aus diesem Grund auch kein Eingriff vorliegen kann, ist dabei genauso zu untersuchen wie die Frage, ob die Kontingentierung verfassungsgemäß ist oder sich aus der zeitlichen Verzögerung der ohnehin schon langen Asyl- und Visaverfahren beim Familiennachzug eine Trennungsdauer ergibt, die nicht mehr verhältnismäßig und deshalb verfassungswidrig ist. Auch die Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG im Hinblick auf eine möglicherweise verfassungswidrige Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention13 beim Familiennachzug ist zu betrachten. Schließlich könnten der unbestimmte Rechtsbegriff der „humanitären Gründe“ aus § 36a Abs. 1 S. 1 AufenthG und die fehlenden gesetzlichen Auswahlkriterien bei der Kontingentierung gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen. Ferner ist eine Überprüfung der Vereinbarkeit mit dem europäischen Recht geboten. Neben einer grund- und menschenrechtlichen Untersuchung am Maßstab 10 C. Hruschka, Kein „aging out“ – Das Recht auf umgekehrten Familiennachzug nach der neuen Entscheidung des EuGH, NVwZ 2018, S. 1451 (1453); auch S. Krause hält eine wissenschaftliche Befassung für wüschenswert, s. S. Krause, Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, Asylmagazin 2020, S. 198 (199). 11 H.-J. Papier, Ehe und Familie in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, NJW 2002, S. 2129; U. Steiner, Schutz von Ehe und Familie, in: HGR, 2011, § 108 Rn. 1. 12 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 ff. 13 Genfer Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951, BGBl. 1953 II 19, 24.11.1953, S. 559 ff.; in der Fassung des New Yorker Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967, BGBl. 1969 II 46, S. 1293 ff. (Genfer Flüchtlingskonvention).

A. Einleitung

21

der Europäischen Grundrechtecharta und der Europäischen Konvention für Menschenrechte, bei der ähnliche Aspekte zu berücksichtigen sind wie bei der verfassungsrechtlichen Prüfung, steht insbesondere das europäische Sekundärrecht hierbei im Mittelpunkt. Da sowohl der Familiennachzug als auch der subsidiäre Schutz auf Richtlinien beruhen, ist die Vereinbarkeit der deutschen Regelung mit diesen beiden Richtlinien und insbesondere der Familienzusammenführungsrichtlinie zu überprüfen. Aus dieser könnte sich ein Anspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ergeben, sofern die Richtlinie auf den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten anwendbar ist. Dabei steht insbesondere die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie im Fokus, der den Nachzug zu Menschen, denen wegen subsidiärer Schutzformen Aufenthalt gewährt wird, ausschließt. Die entscheidende Frage ist, ob es sich bei dem subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie um eine solche subsidiäre Schutzform im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie handelt. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003, die Qualifikationsrichtlinie in ihrer heutigen Form indes erst 2011 in Kraft getreten ist. Sofern die Überprüfung zu dem Ergebnis kommt, dass der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht von der Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie ausgeschlossen ist, könnte dies zu einem Umsetzungsdefizit dieser Richtlinie führen, sodass ein direkter Anspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aus der Richtlinie selbst ergeben möglich wäre. Bevor sich diese Arbeit der verfassungs- und europarechtlichen Vereinbarkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten widmet, sollen diese beiden Rechtsinstitute im Allgemeinen vorgestellt werden. Dies dient einerseits zum besseren Verständnis und der besseren rechtlichen Einordnung der Änderungen, die durch die Neuregelung entstanden sind. Andererseits sollen hiermit auch manchen Behauptungen und Halbwahrheiten der Nährboden entzogen werden. Dies betrifft beispielsweise die Aussage, dass subsidiär Schutzberechtigte, sobald einmal in Deutschland angelangt, im Zuge des Familiennachzugs ihre ganze Großfamilie nachholen dürfen, oder dass es sich beim subsidiären Schutz um einen nur kurzfristigen und weniger schutzwürdigen Status handelt. Hierbei werden zunächst die rechtlichen Grundzüge des Familiennachzugs und seine verschiedenen Ausprägungen dargestellt, wobei der Familiennachzug zu Ausländern im Mittelpunkt steht. Dabei soll unter anderem erklärt werden, wer überhaupt im Rahmen des Familiennachzugs nachziehen darf und welche Voraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen. Hierauf aufbauend werden verschiedene rechtliche Probleme und Rechtsstreite dargestellt, wie die Fragen, wie der Nachzug von Geschwistern möglich ist und an welchen Zeitpunkt die Minderjährigkeit als Voraussetzung für den Elternnachzug nach § 32 AufenthG geknüpft werden muss. So vertreten bei letzterem das Bundesverwaltungsgericht und der Europäische Gerichtshof unterschiedliche Rechtsauffassungen. Dem fol-

22

A. Einleitung

gend wird in ähnlicher Weise der subsidiäre Schutz analysiert. Neben der Beschreibung des rechtlichen und historischen Hintergrunds dieses Schutzinstituts werden die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes behandelt. Hierbei soll auch der Frage auf den Grund gegangen werden, inwiefern es sich bei dem subsidiären Schutz um einen vorübergehenden oder vorläufigen Schutz handelt beziehungsweise inwiefern es sich um einen schwächeren Schutz als den Flüchtlingsschutz handelt. Im Zuge dessen sind auch ein Vergleich zwischen dem subsidiären Schutz und dem Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention und die Darstellung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten geboten. Im Anschluss erfolgt ein Exkurs zu der Frage, ob syrischen Staatsangehörigen regelmäßig eher der Flüchtlingsschutz oder der subsidiäre Schutz zu gewähren ist. Hierbei variieren die Auffassungen der deutschen Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat in den letzten Jahren seine Verwaltungspraxis hierzu geändert. Im Folgenden sollen nun diese verschiedenen Themen behandelt werden, sodass sich schließlich ein klares Bild über das Familiennachzugsneuregelungsgesetz und seine rechtlichen Grundlagen ergibt. Am Ende soll sich hierdurch die Frage beantworten lassen, ob § 36a AufenthG mit dem Grundgesetz und dem europäischen Recht vereinbar ist. Falls dies nicht der Fall ist, bedarf es einer weiteren Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten.

B. Der Familiennachzug Der Familiennachzug hat in den letzten Jahren zu kontroversen Debatten geführt. Führte das Thema im öffentlichen Diskurs jahrelang eher ein tristes Dasein als Nischenthema, so war es in den letzten Jahren und Monaten nicht mehr nur in Fachkreisen, sondern insbesondere in der breiten Öffentlichkeit Gegenstand vieler Diskussionen. Diese beeinflussten neben dem Familienleben von Ausländern darüber hinaus auch die Regierungsfähigkeit der gesamten Bundesrepublik Deutschland für Wochen beziehungsweise drohten beinahe schon, diese in Frage zu stellen. So gehörte die Frage des Familiennachzugs während des Wahlkampfs 2017 und insbesondere während der Sondierungs- und Koalitionsgespräche zwischen CDU, CSU und SPD Anfang 2018 zu den umstrittensten und heiß diskutiertesten Themen, aufgrund derer ein Abbruch der Gespräche und Neuwahlen nach nicht einmal einem halben Jahr ernsthaft drohten14. Es verwundert hierbei nicht, dass gleichsam mit dem außergewöhnlichen Migrationszuwachs im Jahr 2015, der „Flüchtlingskrise“, auch ein Bedeutungszuwachs des Familiennachzugs einherging. So ist dieser nämlich neben der Gewährung des Flüchtlingsstatus die Regelung, über die die meisten Einwanderer nach Deutschland gelangen15. Allein im Jahr 2017 kamen 21,1 % aller Drittstaatsangehörigen, die nach Deutschland gezogen sind, aufgrund von familiären Gründen nach Deutschland16. Für Westeuropa gilt ähnliches, hier betrug zwischendurch der Anteil der Einwanderer aufgrund von Familienzusammenführung fast 50 %17. Zudem ist der Familiennachzug einer der wenigen Anlässe zur Einwanderung, bei dem die Rechtsposition der Einwanderer grund- und menschenrechtlich (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK) geschützt ist und somit ein Gegengewicht zum grundsätzlich weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers und der zuständigen Behörden bei der Frage, wer in das Bundesgebiet einreisen darf, darstellt18. Aus eben diesen Gründen 14 Stellvertretend: ZEIT vom 29.1.2018, WELT vom 29.1.2018 sowie FAZ vom 31.1.2018: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-01/koalitionsverhandlungenmigration-familiennachzug (zuletzt abgerufen am 21.3.2019); https://www.welt.de/poli tik/deutschland/article172985618/Grosse-Koalition-Familiennachzug-stuerzt-Koalitions verhandlungen-in-die-Krise.html (zuletzt abgerufen am 21.3.2019); https://www.faz. net/aktuell/politik/inland/familiennachzug-kritik-unfassbar-schlecht-von-der-spd-verhan delt-15425387.html (zuletzt abgerufen am 21.3.2019). 15 A. Dietz, Ausländer- und Asylrecht, 4. Aufl. 2021, § 4 Rn. 91. 16 BAMF, Migrationsbericht der Bundesregierung 2016/2017, 23.1.2019, S. 66. 17 K. Groenendijk, Familienzusammenführung als Recht nach Gemeinschaftsrecht, ZAR 2006, S. 191. 18 Maor (Fn. 6), § 4 Rn. 1152.

24

B. Der Familiennachzug

sind die Fragen, was überhaupt den Familiennachzug ausmacht, was seine Anforderungen und Folgen sind, und fernerhin wer überhaupt der betroffene respektive der begünstigte Personenkreis ist, bedeutsam. Im Folgenden soll zunächst die Historie und Systematik dargestellt werden (I.). Daran folgend wird ein Überblick über die wesentlichen Regelungen des Familiennachzugs gegeben (II.), bei dem der Nachzug zu Ausländern, die ein Aufenthaltsrecht aus humanitären Gründen erhalten haben, also Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte, im Mittelpunkt stehen soll. Hierbei werden insbesondere die strittigen Rechtsfragen und die zum Teil ungeklärte Rechtslage genauer zu erörtern sein.

I. Gesetzeshistorie und Systematik Bei der Frage der Familienzusammenführung handelt es sich also um ein emotional sehr aufgeladenes und kontrovers umkämpftes Gebiet. Dies spiegelt sich auch in ihrer alles andere als gradlinig verlaufenden Regelungsgeschichte wider. Waren die Jahre nach dem Weltkrieg zunächst nur von den Flüchtlingsströmen von Deutschen nach Deutschland geprägt, so fing Deutschland nur kurz danach auch an, sich um den Zuzug von Ausländern zu bemühen. 1955 begann man mit der Anwerbung von „Gastarbeitern“, jedoch nur aus rein wirtschaftlichen Motiven und in der festen Überzeugung, dass die Beschäftigung von Ausländern nur von kurzer und vorübergehender Dauer sein würde19, auch wenn man damals schon vermutete, dass der Familiennachzug einmal relevant sein würde20. Bis 1965 gab es deshalb keine speziellen ausländerrechtlichen Regelungen, die erst durch das Ausländergesetz21 ins Visier genommen wurden, obgleich es auch in diesem Gesetz keine bundeseinheitlichen Regelungen für den Familiennachzug gab, da hierfür die Länder zuständig sein sollten22. Dies sollte noch viele Jahre so bleiben. Die Rechtslage blieb die nächsten 25 Jahre mehr oder weniger unverändert23. Erst 1990 erfolgten durch die Neufassung des Ausländergesetzes24 bundeseinheitliche Regelungen. Dieses Gesetz verstärkte die Rechtsstellung von ausländischen Familien, indem es zum Beispiel die Ermessensspielräume beim 19 K. Barwig, Ein halbes Jahrhundert Arbeitsmigration nach Deutschland – Ein halbes Jahrhundert Familiennachzug, ZAR 2014, S. 42 (43 m.w. N.). 20 W. Lingl, Der Familiennachzug in die Bundesrepublik Deutschland, 2017, S. 37. 21 Ausländergesetz vom 28.4.1965, BGBl. 1965 I 19, 8.5.1965, S. 353 ff. 22 H. Tewocht, in: A. Heusch/W. Kluth (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, § 27 AufenthG (2021), Rn. 2; dabei unterschieden sich die Regelungen in den einzelnen Ländern beispielsweise bei der Ehebestandszeit, s. R. Gutmann, Ausländerrechtliche Zerstörung der Familie?, NVwZ 2019, s. 277 (279). 23 M. Reinhardt/W. Kluth, in: ders./Hornung/Koch, Zuwanderungsrecht (Fn. 6), § 2 Rn. 17. 24 Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9.7.1990, BGBl. 1990 I 34, 14.7.1990, S. 1354 ff.

I. Gesetzeshistorie und Systematik

25

Familiennachzug durch einen Rechtsanspruch ersetzte und eigene Aufenthaltsrechte für Familienangehörige normierte25. Schon damals fand sich in diesem Gesetz die bis heute bekannte Differenzierung zwischen dem Nachzug zu Deutschen und zu Ausländern sowie zwischen Ehegatten, Kindern und sonstigen Familienangehörigen26. Das Ausländergesetz vereinfachte den Familiennachzug, indem es allgemeine Wartefristen und Ehebestandszeiten, die es teilweise vorher gab, abschaffte27. Der nächste große Schritt erfolgte 2004 durch das Zuwanderungsgesetz28, durch das unter anderem das Aufenthaltsgesetz neu in Kraft trat. Im Vergleich zum Ausländergesetz von 1990 erfolgten bis auf den Wegfall der Unterscheidung zwischen Ehepartnern der ersten und der zweiten Generation keine grundsätzlichen Änderungen beim Familiennachzug29. Die Normen im Aufenthaltsgesetz in ihrer jetzigen Form fußen in der Familienzusammenführungsrichtlinie und sind Ende August 2007 umgesetzt worden30. Die Richtlinie sollte die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen harmonisieren31. Aufgrund dieser Harmonisierung sind heute die wichtigsten Fragen des Familiennachzugs europarechtlich determiniert, sodass bei Streitfragen auch immer die Familienzusammenführungsrichtlinie herangezogen werden muss. Heutzutage ist der Familiennachzug beziehungsweise, wie es im Gesetz genannt wird, der Aufenthalt aus familiären Gründen, in Deutschland im Abschnitt 6 des zweiten Kapitels des Aufenthaltsgesetzes, in den §§ 27–36a AufenthG geregelt. Hier finden sich verschiedene Regelungen für den Familiennachzug zu Deutschen oder zu Ausländern, von Ehegatten, Kindern, Eltern und sonstigen Familienangehörigen, vergleichbar mit der Differenzierung im Ausländergesetz von 1990. In § 27 AufenthG wird zunächst beschrieben, was überhaupt unter Familiennachzug zu fassen ist. Nach der Legaldefinition des § 27 Abs. 1 AufenthG versteht man unter Familiennachzug die Aufenthaltserlaubnis zur Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet für ausländische Familienangehörige. § 27 AufenthG ist darüber hinaus als Grundtatbestand mit allgemeinen Voraussetzungen für alle Fälle des Familiennachzugs an den Anfang gestellt. Darauf folgen in den §§ 28 ff. AufenthG die besonderen Regelungen für die verschiedenen Fälle der Familienzusammenführung. In dem 25

Reinhardt/Kluth (Fn. 23), § 2 Rn. 22. Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 3 ff. 27 Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 3.1. 28 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 30.7.2004, BGBl. 2004 I 41, 5.8.2004, S. 1950 ff. 29 Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 4; A. Walter, Die ungeliebte Einwanderungsroute, ZAR 2014, S. 52 (53). 30 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23.4.2007, BGBl. 2007 I 42, 27.8.2007, S. 1970 ff. 31 Vgl. Familienzusammenführungsrichtlinie (Fn. 8), Erwägungsgrund 3, S. 12. 26

26

B. Der Familiennachzug

durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz neu eingeführten § 36a AufenthG erfolgen schließlich für diese verschiedenen Fälle weitere besondere Voraussetzungen für den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Daneben müssen bei der Erteilung der Erlaubnis zur Familienzusammenführung auch immer die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel nach § 5 AufenthG vorliegen. Grundsätzlich ist darüber hinaus noch zwischen dem Nachzug zu Deutschen (§ 28 AufenthG) und dem Nachzug zu Ausländern (§ 29 AufenthG) zu unterscheiden. Wie vom Gesetzgeber schon in § 27 Abs. 1 AufenthG beschrieben, dient der Familiennachzug hierbei dem Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG. Daneben sind aber bei der Anwendung und Auslegung der Normen zum Familiennachzug auch immer Art. 8 EMRK sowie die einschlägigen europäischen und völkerrechtlichen Normen und Verträge zu beachten, wie beispielsweise die UN-Kinderrechtskonvention (KRK)32. Mit den Normen zur Familienzusammenführung soll die familiäre und eheliche Lebensgemeinschaft (wieder)hergestellt und bewahrt werden33. Denn die Familie als umfassende Gemeinschaft von Eltern und ihren Kindern steht unter dem besonderen Schutz des Gesetzgebers, der durch diese Vorschriften auch diesen Schutz für die Familien von nach Deutschland Zugezogenen gewährleistet.

II. Allgemeine Voraussetzungen und Versagungsgründe Um die Möglichkeit der Familienzusammenführung zu nutzen, müssen zunächst die allgemeinen Voraussetzungen für den Aufenthalt aus familiären Gründen erfüllt sein. Diese ergeben sich aus den §§ 5, 27 und 29 AufenthG. Für den Familiennachzug zu Ausländern, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 AufenthG (Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge, subsidiär Schutzberechtigte) haben, gelten hierbei indes an einigen Stellen abweichende Bestimmungen. 1. Allgemeine Voraussetzungen Sinn und Zweck des Aufenthaltsrecht der §§ 27 ff. AufenthG ist die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft. Diese ausdrückliche Zweckbestimmung, die in § 27 Abs. 1 AufenthG normiert ist, ist eine zwingende Voraussetzung für den Familiennachzug. Nur die familiäre Lebensgemeinschaft wird vom Schutzbereich des Art. 6 GG und damit von den ausländerrechtlichen Vorschriften umfasst. Der Familiennachzug ist also nur zu gestatten, wenn der Wille des Nachziehenden und des Nachholenden, diese Lebensgemeinschaft her-

32 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, UN-Doc A/RES/44/25. 33 Tewocht (Fn. 22), § 30 AufenthG Rn. 7.

II. Allgemeine Voraussetzungen und Versagungsgründe

27

zustellen und zu wahren, besteht. Es braucht also den Nachweis nicht nur der Ehe oder der Elternschaft, sondern auch, dass sie in Zukunft eine Beistands- oder Betreuungsgemeinschaft bilden, also für einander da sein wollen34. Diese Zweckgebundenheit muss für die Familienzusammenführung vorliegen. Aus dieser Zweckgebundenheit ergibt sich auch, dass das Aufenthaltsrecht des Familiennachzugs streng akzessorisch ist35. Aufenthaltstitel und -dauer des Nachziehenden richten sich nach Aufenthaltstitel und -dauer des Nachholenden, bis zum Bestehen eines eigenen Aufenthaltstitels des Nachziehenden. Dies führt auch direkt zu dem Familiennachzug zu Ausländern gemäß § 29 AufenthG und zu den hier normierten Voraussetzungen für den Familiennachzug, die die speziellen Voraussetzungen der §§ 30, 32 und 36 AufenthG ergänzen36. Der Ausländer, zu dem nachgezogen werden soll, muss einen Aufenthaltstitel haben (sog. Stammberechtigung). § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG zählt die den Nachzug ermöglichenden Stammberechtigungen auf, unter anderem gehört hierzu eine Aufenthaltserlaubnis, die auch Asylberechtigten, Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzsuchenden erteilt wird. Aus dem Umkehrschluss der eindeutigen und abschließenden Aufzählung des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ergibt sich, dass der bloße Asylbewerberstatus nicht ausreicht37. Hinzukommt, dass die Erteilung des Familiennachzugs gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die Verfügbarkeit von ausreichend Wohnraum erfordert. Der Begriff des „ausreichenden Wohnraums“ ist in § 2 Abs. 4 S. 1 AufenthG legaldefiniert. Hiernach wird „als ausreichender Wohnraum [. . .] nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung genügt.“ Dies soll der erfolgreichen Integration der ausländischen Familie, aber auch dem Schutz vor Obdachlosigkeit dienen38. Von diesem Erfordernis kann im Rahmen einer Ermessensentscheidung beim Familiennachzug zu Asylbewerbern, Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzsuchenden gemäß § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG abgesehen werden, wobei Umstände wie die Zumutbarkeit der Familienzusammenführung im Verfolgerstaat sowie das ernsthafte Bemühen um Erwerbstätigkeit mit einbezogen werden sollen (in letzterem Fall sogar in Form intendierten Ermessens)39. Aus der richtlinienkonformen Um34 Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 34; B. Huber/R. Göbel-Zimmermann, in: dies. (Hrsg.), Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 684. 35 Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländerrecht (Fn. 34), Rn. 688; K. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, 5. Aufl. 2021, Rn. 592. 36 Tewocht (Fn. 22), § 29 AufenthG Rn. 2. 37 M. Fleuß, in: A. Heusch u. a. (Hrsg.), Asylrecht in der Praxis 2021, Rn. 721. 38 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 623; Tewocht (Fn. 22), § 29 Rn. 4. 39 Bundesministerium des Inneren, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AVV AufenthG) vom 26.10.2009, Nr. 29.2.1, 29.2.2.1; Tewocht (Fn. 22), § 29 Rn. 5b.

28

B. Der Familiennachzug

setzung des Art. 12 der Familienzusammenführungsrichtlinie folgt darüber hinaus, dass, sofern der Antrag auf Familiennachzug innerhalb von drei Monaten nach der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft gestellt wird und die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in einem Drittstaat, zu dem eine besondere Bindung der Familie besteht, nicht möglich ist, nach § 29 Abs. 2 S. 2 AufenthG zwingend von dem Wohnraumerfordernis abzusehen ist40. Daneben müssen auch beim Familiennachzug die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG, die für jeden Aufenthaltstitel erforderlich sind, eingehalten werden. Hierbei ist insbesondere die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 2 Abs. 3 AufenthG) von Bedeutung41. Hiermit will der Gesetzgeber verhindern, dass der Aufenthalt der nachziehenden Familienmitglieder von öffentlichen Mitteln getragen wird und die deutschen Sozialsysteme zu sehr beansprucht werden (oftmals auch unter der Phrase „Keine Zuwanderung in die Sozialsysteme“)42. Auch von diesem Erfordernis kann unter den gleichen Bedingungen wie beim Erfordernis des ausreichenden Wohnraums gem. § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG abgesehen werden beziehungsweise ist abzusehen, § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG. Daneben sind noch Anforderungen wie die Klärung der Identität und Staatsangehörigkeit, fehlendes Ausweisungsinteresse, keine Gefährdung der Interessen der Bundesrepublik sowie die Passpflicht nach § 5 Abs. 1 AufenthG zu erfüllen. Außerdem ergeben sich für die verschiedenen Adressatenkreise weitere, neben den allgemeinen Voraussetzungen der §§ 5, 27, 29 AufenthG geltende, besondere Voraussetzungen, die in den jeweils einschlägigen Paragraphen (§§ 30 ff. AufenthG) geregelt sind. 2. Versagungsgründe Das Recht auf Familienzusammenführung kann jedoch unter bestimmten Voraussetzungen auch entfallen. Die wichtigsten Tatbestände, in denen der Familiennachzug nicht zugelassen oder versagt wird, finden sich in § 27 AufenthG. Insbesondere durch das neue Familiennachzugsneuregelungsgesetz wurden die Ausschlusstatbestände um einige Versagungsgründe erweitert, die jetzt nicht mehr primär der Integration und dem Schutz von (minderjährigen) Ausländern vor Zwangslagen dienen, sondern dem Schutz und der Sicherheit Deutschlands und seiner Bürger.

40 Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländerrecht (Fn. 34), Rn. 744; Tewocht (Fn. 22), § 29 Rn. 6. 41 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 582. 42 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 582; vgl. BVerwG, Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 10/12, BVerwGE 146, 198 (211 f., Rn. 30).

II. Allgemeine Voraussetzungen und Versagungsgründe

29

a) Nichtzulassung des Familiennachzugs Der Familiennachzug ist aus bestimmten Gründen nicht zuzulassen, die in § 27 Abs. 1a AufenthG festgelegt werden und auf die Motivation der Eingehung einer familiären Bindung abzielen. Nach § 27 Abs. 1a Nr. 1 AufenthG sind Schein- beziehungsweise Zweckehen sowie Schein- beziehungsweise Zweckadoptionen nicht vom Familiennachzug erfasst. Bei Zweckehen ist die Motivation der Eheschließung nicht die familiäre Lebensgemeinschaft, sondern die Ermöglichung eines Aufenthaltstitels für den Ehegatten. Der Nachweis von Zweckehen ist in der Praxis allerdings oftmals schwierig43. Auch ein Familiennachzug aufgrund von Schein- beziehungsweise Zweckadoptionen ist zu untersagen. Man spricht von einer Zweckadoption, wenn das Verwandtschaftsverhältnis ausschließlich dem Zweck dient, dem Kind einen Aufenthaltstitel zu verschaffen44. Auch hier ergeben sich Schwierigkeiten bei der Abgrenzung. So soll eine Scheinadoption nach dem Willen des Gesetzgebers nicht schon dann vorliegen, wenn das Kind mit dem Gedanken adoptiert wird, hierdurch seine Lebensverhältnisse mithilfe eines Aufenthaltstitels zu verbessern45. Also ist es keine Scheinadoption, wenn nicht der Aufenthaltstitel selbst das Ziel, sondern das Mittel zum Erreichen des Ziels eines besseren Lebens für das Kind ist. Daneben verbietet § 27 Abs. 1a Nr. 2 AufenthG die Familienzusammenführung aufgrund von Ehen, die unter Zwang geschlossen wurden. Hierunter versteht man eine Ehe, bei der mindestens ein Ehepartner mit Gewalt oder durch Drohung zur Eingehung einer Ehe genötigt wird, vgl. § 237 StGB46. Hiervon zu unterscheiden sind sog. arrangierte Ehen, bei denen andere Personen als die Ehegatten selbst die Eingehung der Ehe geplant haben47. Der entsprechende Fall, dass Kinder genötigt werden, sich adoptieren zu lassen, oder Eltern, Kinder zu adoptieren, und die daraufhin eine Familienzusammenführung wünschen, ist nicht erfasst, erscheint aber auch eher abwegig. Im unwahrscheinlichsten Falle, dass es zu einer solchen Konstellation käme, wäre eine analoge Anwendung sicher denkbar. 43

Dietz, Ausländerrecht (Fn. 15), § 4 Rn. 92. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 606. 45 Bundesregierung, Gesetzesbegründung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23.4.2007, BT-Drucks. 16/5065, S. 170; A. Eichhorn, in: B. Huber/J. Mantel (Hrsg.), Aufenthaltsgesetz, 3. Aufl. 2021, § 27 AufenthG Rn. 42. 46 Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 51; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 599. 47 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 599; teilweise wird vertreten, dass es eigentlich keinen Unterschied mache, ob es sich um eine Zwangsehe oder eine arrangierte Ehe handele, so: N. Kelek, Heirat ist keine Frage oder Kann durch die Einführung eines Mindestalters für den Nachzug von Ehegatten auf 21 Jahre die „Zwangsehe“ verhindert werden?, ZAR 2006, S. 232 (234). 44

30

B. Der Familiennachzug

b) Neue Versagungsgründe des Familiennachzugs Durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz wurde nicht nur der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten eingeschränkt. Darüber hinaus sind in § 27 AufenthG durch den Absatz 3a auch neue Versagungsgründe eingeführt worden. Der Familiennachzug soll versagt werden, wenn dieser zu Personen erfolgen soll, die zu einer der in Abs. 3a Nr. 1–4 genannten Gruppen gehören. Der Nachzug ist also zu Personen zu untersagen, von denen eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht (Nr. 1), die Leiter eines unanfechtbar verbotenen Vereins sind (Nr. 2), die Beteiligte an Gewalttätigkeiten zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele sind (Nr. 3) oder die zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufrufen (Nr. 4). Dadurch soll der Nachzug zu terroristischen Gefährdern, Hasspredigern und Leitern von verbotenen Vereinen untersagt werden, um so besser vor terroristischen Gefahren, deren Eintrittswahrscheinlichkeit durch den Zuzug einer großen Anzahl an Menschen aus dem Nahen Osten und Nordafrika möglicherweise gestiegen sein könnte, zu schützen48. Durch den Familiennachzug zu zurückgekehrten terroristischen Gefährdern könnte sich nach Ansicht der Bundesregierung deren verfassungsfeindliche Ideologie im Familienverbund verfestigen und verbreiten, da gerade im familiären Umfeld die eigene ideologische Lebens- und Sichtweise besonders stark ausgelebt wird49.

III. Begünstigter Personenkreis Sofern die allgemeinen Voraussetzungen erfüllt sind und kein Versagungsgrund einschlägig ist, bestimmt die Zugehörigkeit zu einem bestimmten begünstigten Personenkreis die normative Grundlage des Familiennachzugs. Der Kreis der Personen, die durch die §§ 27 ff. AufenthG ein Recht auf Familienzusammenführung haben können, ist gesetzlich begrenzt. Der Personenkreis, der nachgeholt werden darf, umfasst die sogenannte Kernfamilie. Unter der Kernfamilie versteht man Ehegatten, minderjährige Kinder sowie ihre Eltern50. In den Regelungen zum Aufenthalt aus familiären Gründen kann zwischen vier Gruppen von nachziehenden Familienmitgliedern unterschieden werden: Ehegatten (§ 30 AufenthG), Kinder (§ 32 AufenthG), Eltern minderjähriger Kinder (§ 36 Abs. 1 AufenthG) und sonstigen Familienangehörigen (§ 36 Abs. 2 AufenthG). Für jede dieser Gruppe gelten neben den allgemeinen Voraussetzungen jeweils weitere be48 Bundesregierung, Gesetzesbegründung, Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (Familiennachzugneuregelungsgesetz) vom 4.6.2018, BT-Drucks. 19/2438, S. 20. 49 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 20. 50 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 720.

III. Begünstigter Personenkreis

31

sondere Voraussetzungen, die sich in den entsprechenden gesetzlichen Normen finden. Auch haben alle diese Gruppen ihre ganz eigenen rechtlichen Probleme und Fragestellungen. 1. Ehegatten Zunächst einmal dürfen laut § 30 AufenthG Ehegatten ihre jeweiligen Ehepartner im Rahmen der Familienzusammenführung nachholen. Sofern hierbei bestimmte Voraussetzungen vorliegen, haben die Ehepartner einen Rechtsanspruch auf den Familiennachzug51. In § 30 AufenthG werden die besonderen Voraussetzungen geregelt, deren Vorliegen für die Erteilung der Erlaubnis zur Familienzusammenführung nötig ist. a) Bestand einer wirksam geschlossenen Ehe Die Eheschließung der beiden Ehegatten muss selbstverständlich wirksam sein. Hierbei ist es ganz unerheblich, ob die Ehe in Deutschland oder im Ausland geschlossen wurde. Hinsichtlich der Rechtswirksamkeit und der Form des Eheschlusses sind hierbei die Vorschriften des internationalen Privatrechts und die sich hieraus ergebenen Vorschriften des jeweiligen nationalen Rechts zu beachten52. Die Beweislast, dass eine wirksame Ehe geschlossen wurde, liegt beim nachzugswilligen Ausländer53. Zum Nachweis der wirksam geschlossenen Ehe muss der Nachziehende eine dies bezeugende öffentliche Urkunden einreichen54. Als beweiskräftige Dokumente gelten hier beispielsweise Heiratsurkunden oder beglaubigte Abschriften der Eintragung ins Standesregister55. Das bloße Vorliegen einer formell ordnungsgemäß geschlossenen Ehe und das Hinweisen hierauf reichen indes nicht aus56. Vielmehr müssen eine eheliche Lebensgemeinschaft, also eine erkennbare persönliche Verbundenheit der Eheleute, und eine Beistandsgemeinschaft vorliegen, die sich in der Regel in der gemeinsamen Lebensführung und dem Willen, das Alltägliche gemeinsam anzugehen, ausdrücken57. Die Ehe muss bereits zum Zeitpunkt des Antrags auf Ehegattennachzug bestehen58. Die Einreise zum Zwecke der Eheschließung wird nicht über das Sys51

Tewocht (Fn. 22), § 30 Rn. 7. H.-P. Welte, Drittstaatsangehörige: Familiennachzug – Bleiberechte, 2. Aufl. 2017, S. 127; B. Huber/R. Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 688. 53 Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 39; ausführlicher zu der Frage, ob dass es durch die Einfügung des Absatzes 1a in § 27 AufenthG nicht zu einer Beweislastverschiebung gekommen ist: Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 49 f. 54 Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländerrecht (Fn. 34), Rn. 686. 55 Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländerrecht (Fn. 34), Rn. 689 f. 56 VGH Kassel, Beschluss vom 16.1.2007, Az. 7 TG 2879/06, NVwZ-RR 2007, 491. 57 VGH Kassel, Beschluss vom 16.1.2007, Az. 7 TG 2879/06, NVwZ-RR 2007, 491. 58 Tewocht (Fn. 22), § 30 Rn. 7; Eichhorn (Fn. 45), § 30 Rn. 2. 52

32

B. Der Familiennachzug

tem des Familiennachzugs, sondern durch ein Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte gewährt59. Trotz der formellen Bestandskraft einer Ehe und trotz des tatsächlichen Vorliegens einer ehelichen Lebensgemeinschaft kann eine Ehe dennoch nicht vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG und damit auch von den Regelungen der Familienzusammenführung erfasst sein. Eheliche Lebensgemeinschaften, die diametral zu den Wertungen des Grundgesetzes stehen, sind hiervon ausgenommen60. Bei der Frage der wirksamen Eheschließung und der hierzu nötigen Anwendung ausländischer Rechtsnormen darf es also zu keinem Verstoß gegen den ordre public oder kommen. Dieser liegt gemäß Art. 6 EGBGB vor, wenn die das Auslegungsergebnis einer Norm mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts und insbesondere mit den Grundrechten unvereinbar ist61. Hierbei ist der Ehebegriff von Art. 6 Abs. 1 GG anzuwenden. Also die Ehe als die auf freiem Willen beruhende, frei ausgestaltete, in der staatlich vorgesehenen Form geschlossene und grundsätzlich auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft62. Dem ordre public widersprechen insbesondere Mehrehen – zumeist geschlossen von einem Mann mit mehreren Frauen – die nicht in gleicher Weise den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG verdienen63. Bei Kinderehen stellt sich die Frage nach einem Verstoß gegen den ordre public inzwischen nicht mehr. Denn durch das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 201764 wurden durch eine Änderung des § 1303 BGB einerseits die Ausnahmen vom Ehemündigkeitsalter abgeschafft und Ehen mit Personen unter 16 Jahren pauschal für unwirksam erklärt. Andererseits sind aufgrund einer Änderung des Art. 13 Abs. 3 EGBGB nach ausländischem Recht geschlossene Ehen mit Personen unter 16 Jahren ebenfalls generell nichtig; Ehen mit Personen unter 18 Jahren sollen regelmäßig aufgehoben werden. Da aber § 30 AufenthG ein Mindestalter von 18 Jahren vorsieht, hat diese Frage für den Ehegattennachzug zu Ausländern ohnehin keine Bedeutung. 59

Eichhorn (Fn. 45), § 30 Rn. 6. Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 42. 61 Vgl. S. Lorenz, in: W. Hau/R. Poseck (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar BGB, Art. 6 EGBGB (2021), Rn. 1; J. Antomo, Kinderehen, ordre public und Gesetzesreform, NJW 2016, S. 3558 (3560). 62 A. Uhle, in: V. Epping/C. Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar Grundgesetz, Art. 6 GG (2021), Rn. 2a m.w. N.; ständige Rechtsprechung des BVerfG, Urteil vom 29.7.1969, Az. 1 BvR 205, 332, 333, 367/58, 1 BvL 27, 100/58, BVerfGE 10, 59 (66, Rn. 27); Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (51, Rn. 105). 63 Dietz, Ausländerrecht (Fn. 15), § 4 Rn. 92; BVerwG, Urteil vom 30.4.1985, Az. 1 C 33.81, BVerwGE 71, 228 (233). 64 BGBl. 2017 I 48, 21.7.2017, S. 2429 ff.; zurzeit erfolgt nach Zweifeln des BGH eine verfassungsrechtliche Bewertung dieses Gesetzes durch das BVerfG; kritisch hierzu: B. Gausing/C. Wittebol, Die Wirksamkeit von im Ausland geschlossenen Minderjährigenehen – Grundrechtsdogmatische Bewertung des neuen Art. 13 EGBGB, DÖV 2018, S. 41 ff. 60

III. Begünstigter Personenkreis

33

Zu denen sich aus dem Grundgesetz und dem ordre public ergebenden, den Familiennachzug ausschließenden Eheformen gesellen sich die bereits besprochenen explizit in § 27 Abs. 1a AufenthG genannten Eheformen, die den Anspruch auf Familienzusammenführung ausschließen, nämlich Scheinehen und Zwangsehen. Letztere Form ist dazu auch mit den Grundwerten des Grundgesetzes und damit dem ordre public nur schwierig in Einklang zu bringen ist. Denn die staatliche Anerkennung einer aufgrund von Zwang eingegangenen Ehe, greift doch stark in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie in die allgemeine Handlungsfreiheit des betroffenen Ehegattens ein65. b) Mindestalter, § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG Wie bereits erwähnt, müssen zunächst gem. § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG beide Ehepartner zum Zeitpunkt der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis das Mindestalter von 18 Jahren erreicht haben66. Also ist hierbei der entscheidungserhebliche Zeitpunkt nicht der des Antrags auf Aufenthaltserlaubnis, sondern die Gewährung, sodass auch vor dem 18. Lebensjahr ein Antrag gestellt werden kann67. Die Einführung eines Mindestalters erfolgte 2007 im Zuge der Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie. Hierbei blieb der Gesetzgeber mit dem festgelegten Mindestalter deutlich unter der in Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie festgesetzten Höchstgrenze für ein Mindestalter von 21 Jahren68. Durch diese Altersgrenze zielt der Gesetzgeber darauf ab, Anreizen zur Zwangsverheiratung entgegenzuwirken sowie die Integration der in Deutschland lebenden Ausländer zu verbessern. Diese Altersgrenze gilt gemäß § 30 Abs. 1 S. 2 AufenthG nicht für die in § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 lit. f AufenthG genannten Ausländer, also solche, die bereits in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union langfristig aufenthaltsberechtigt sind und denen infolgedessen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG gewährt wurde. Daneben kann von der Altersgrenze zur Vermeidung einer besonderen Härte abgesehen werden, § 30 Abs. 2 S. 1 AufenthG69. Ein Härtefall liegt vor, wenn die konkreten Umstände von den gesetzlichen „Regelfällen“ des Ehegattennachzugs so deutlich abweichen, dass besonders nachteilige Auswirkungen für den Ausländer drohen und das Beibehalten des Mindestalters unverhältnismäßig wäre70. Hierbei ist im Ermessenswege in jedem konkre-

65

Andere Ansicht: Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 599. Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 652. 67 K. Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 30 AufenthG (2021), Rn. 23. 68 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 652. 69 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 652. 70 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 30 Rn. 60; AVV AufenthG (Fn. 39), Nr. 30.2.1. 66

34

B. Der Familiennachzug

ten einzelnen Fall eine Abwägung vorzunehmen, in der neben den Grundsätzen der im deutschen Recht verkörperten Wertordnung unter anderem auch die Differenz zwischen dem Alter des Betroffenen und dem Mindestalter einbezogen werden muss71. Die eheliche Lebensgemeinschaft in Deutschland selbst muss hierbei das geeignete oder erforderliche Mittel sein, um die besondere Härte zu vermeiden72. An dem festen Erfordernis eines Mindestalters gibt es zum Teil verfassungsrechtliche, zum Teil rein praktische Bedenken73. So greifen das Mindestalter und die damit möglicherweise verbundene Verzögerung des Ehegattennachzugs auch in den Schutz der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG bei nicht durch Zwang gestifteten und somit legitimen Ehen ein, was gerade bei jungen Menschen in der entscheidenden Anfangszeit der Ehe besonders gravierend ist74. Außerdem verringert das Gesetz nicht die Gefahr von Zwangsehen bei volljährigen Ehepartnern oder zwischen solchen, die jeweils einen eigenen Aufenthaltstitel haben, sodass auch die Geeignetheit angezweifelt werden kann75. Daneben könnte die Erforderlichkeit angezweifelt werden, da statt pauschalen Verboten Informationen und Aufklärung oder strafrechtliche Sanktionen als mildere gezielt gegen Zwangsehen einzusetzende Mittel in Betracht kommen76. Jedoch ist dieses Mindestalter mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar77. Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber nicht, jede Entscheidung aller Ehegatten, die ihre Ehe in der Bundesrepublik ausleben möchten, durch die Erlaubnis des Familiennachzugs zu gewährleisten78. Denn neben der Entscheidung der Ehegatten sind in einer Interessenabwägung auch andere öffentliche Interessen wie die bestmögliche Integration, der Schutz vor Zwangsehen und der Schutz Minderjähriger einzubeziehen79. Die Beurteilung, ob eine Maßnahme geeignet und erforderlich ist, obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber und ist nur in geringem Maße überprüfbar80. Und nur weil

71

Welte, Drittstaatsangehörige (Fn. 52), S. 134; AVV AufenthG (Fn. 39), Nr. 30.2.1. AVV AufenthG (Fn. 39), Nr. 30.2.1. 73 Vgl. Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 30 Rn. 4. 74 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 30 Rn. 4. 75 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 30 Rn. 4; Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländerrecht (Fn. 34), Rn. 766; Tewocht (Fn. 22), § 30 Rn. 18.1. 76 Tewocht (Fn. 22), § 30 Rn. 18.1 m.w. N. 77 So: Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 30 Rn. 22; Tewocht (Fn. 22), § 30 Rn. 18.1; C. Hillgruber, Mindestalter und sprachliche Integrationsvorleistung – verfassungsgemäße Voraussetzungen des Ehegattennachzugs?, ZAR 2006, S. 304 ff.; H.-G. Maaßen, Zum Stand der Umsetzung von elf aufenthalts-und asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union, ZAR 2006, S. 161 (163). 78 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 30 Rn. 22. 79 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 30 Rn. 22. 80 Ständige Rechtsprechung: BVerfG, Urteil vom 28.3.2006, Az. 1 BvR 1054/01, BVerfGE 115, 276 (308, Rn. 112); Nichtannahmebeschluss vom 26.3.2007, Az. 1 BvR 2228/02, NVwZ-RR 2008, 1 (2, Rn. 39) jeweils m.w. N. 72

III. Begünstigter Personenkreis

35

Zwangsehen auch oberhalb der Altersgrenze geschlossen werden, bedeutet dies keinesfalls, dass die Altersgrenze ungeeignet ist, da bei Ehegatten unter 18 Jahren berechtigterweise von einer höheren familiären und sozialen Drucksituation ausgegangen werden kann81. Sowohl die verfassungsrechtlichen als auch die tatsächlichen Bedenken werden darüber hinaus auch durch die Ausnahme für Fälle besonderer Härte des § 30 Abs. 2 S. 1 AufenthG abgemildert, sodass die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt82. Ob die feste Altersgrenze von 18 Jahren des § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG verfassungsgemäß ist, wird sich wohl bald im Lichte der zu erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen besser beurteilen lassen. Denn aufgrund dieses Gesetzes sind im Ausland geschlossene Ehen mit Personen unter 16 Jahren in Deutschland generell unwirksam und unter 18 Jahren aufhebbar. Der Bundesgerichtshof hatte wegen einer fehlenden Einzelfallüberprüfung der Ehewirksamkeit erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes geäußert und das Bundesverfassungsgericht in einem Vorlagebeschluss um eine Entscheidung hierzu angerufen83. c) Spracherfordernis, § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG Daneben müssen sich Ehegatten, die im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland kommen, „mindestens auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können“, § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG. Gefordert ist zumindest ein Sprachniveau der Stufe „A 1“ des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens des Europarats (GER)84. Wie das Mindestalter dient dieses Spracherfordernis der Integration der nachziehenden Ehegatten sowie der präventiven Verhinderung von Zwangsehen85. Im Gegensatz zum Mindestalter gibt es beim Spracherfordernis jedoch keine Härtefallklausel, was gerade unter dem Gesichtspunkt, dass beide Erfordernisse demselben Schutzzweck dienen sollen und aus ähnlichen Gründen verfassungsrechtlich angezweifelt werden, doch nur schwierig nachzuvollziehen ist86. Denn auch gegen das Spracherfordernis des § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG gibt es bisweilen verfassungs-, europarechtliche sowie völkerrechtliche Bedenken, die sich auf Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK sowie die Art. 7, Abs. 2, Art. 5

81

Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 30 Rn. 22. Tewocht (Fn. 22), § 30 Rn. 18.1. 83 BGH, Beschluss vom 14.11.2018, Az. XII ZB 292/16, NZFam 2019, 65 (66, Rn. 20). 84 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 656; ausführlicher zu den tatsächlichen Erfordernissen und dem genauen Verfahren: Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 30 Rn. 6. 85 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 30 Rn. 45. 86 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 30 Rn. 5. 82

36

B. Der Familiennachzug

Abs. 5 und Art. 17 der Familienzusammenführungsrichtlinie stützen87. So wird teilweise der Regelung die Vereinbarkeit mit Art. 6 GG abgesprochen, denn der Nichtnachweis führe im Ergebnis zu einem im schlimmsten Fall andauernden Verbot des Familiennachzugs, was sowohl der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspreche als auch unverhältnismäßig sei, insbesondere vor dem Hintergrund der fehlenden Härtefallregelung88. Diese rechtlichen Bedenken sind aber an dieser Stelle nicht weiter auszuführen, da sie für den Ehegattennachzug zu Asylbewerbern, Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten ohne Bedeutung sind. Nach § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. 1 AufenthG findet das Spracherfordernis nämlich auf Ausländer, die unter anderem zu einer jener Gruppen gehören und deshalb eine Aufenthaltserlaubnis haben, keine Anwendung. Diese Ausnahmeregel fußt auf die Familienzusammenführungsrichtlinie, die die besondere Lage von Flüchtlingen und ihren Familienangehörigen als Begründung hierfür anführt89. 2. Kinder Zu dem begünstigten Personenkreis, der ebenfalls im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland nachziehen darf, gehören nach § 32 AufenthG auch minderjährige, ledige Kinder, die zu ihren Eltern nachziehen wollen. Sofern die Kinder unter 16 Jahre alt und ledig sind, besteht bei ihnen ein Rechtsanspruch auf den Zuzug zu ihren Eltern, wie sich aus § 32 Abs. 1 AufenthG ergibt. Sofern sie das 16. Lebensjahr überschritten haben, sind gemäß § 32 Abs. 2 S. 1 AufenthG zusätzliche Anforderungen zu erfüllen. Diese Differenzierung entspricht der Idee, die verschiedenen Interessen abzuwägen, also auf der einen Seite das grundrechtlich geschützte Interesse der Familien an ihrer Zusammenführung, auf der anderen Seite das Interesse des Gemeinwesens an einer gelungenen Integration. Jüngere Kinder, insbesondere solche, die noch im schulpflichtigen Alter sind, können sich leichter in ihr neues Umfeld einfinden und sind einfacher zu integrieren als ältere Kinder, die schon von ihrer Heimat und ihrem alten sozialen Umfeld viel stärker beeinflusst und vorgeprägt worden sind90. Auch sind jüngere Kinder deutlich stärker auf ihre Eltern angewiesen und benötigen mehr Betreuung im Familienverbund als ältere Kinder, die schon viel selbstständiger sind, sodass im letzteren Falle die integrationspolitischen Erwägungen gewichtiger sind91. 87 Ausführlicher zu diesen Bedenken und mit deutlichem Widerspruch dazu: Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 30 Rn. 43 ff. 88 Diese Auffassung ausführlicher bei Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 30 Rn. 9 m.w. N. 89 Erwägungsgrund 8, Art. 12 Abs. 1, Art. 7 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 9 Abs. 2 Familienzusammenführungsrichtlinie. 90 Dietz, Ausländerrecht (Fn. 15), § 4 Rn. 99; Tewocht (Fn. 22), § 32 AufenthG Rn. 12. 91 Dietz, Ausländerrecht (Fn. 15), § 4 Rn. 94.

III. Begünstigter Personenkreis

37

Neben Kindern sind auch Adoptivkinder und nichteheliche Kinder der Eltern nachzugsberechtigt92. Stiefkinder sind hingegen in der deutschen Regelung nicht vorgesehen93. Dies steht im Widerspruch zu Art. 4 Abs. 1 lit. b–d der Familienzusammenführungsrichtlinie, die sowohl den Kindern des Zusammenführenden als auch denen seines Ehegatten den Nachzug gestattet, also auch den Stiefkindern94. Dementsprechend ist aufgrund der fehlerhaften Umsetzung der Richtlinie diese in diesem Fall direkt anzuwenden, da sie hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt ist95. a) Vor Vollendung des 16. Lebensjahres Vor Vollendung des 16. Lebensjahres ergeben sich die Anforderungen für die Familienzusammenführung aus § 32 Abs. 1 AufenthG. Das Kind muss also minderjährig und ledig sein und die Eltern beziehungsweise der allein personensorgeberechtigte Elternteil einen der aufgezählten Aufenthaltstitel besitzen. Unter Minderjährigkeit versteht man die Minderjährigkeit nach deutschem Recht, die mit dem 18. Geburtstag endet. Hierbei ist nicht der Zeitpunkt der Gewährung des Antrags auf Familienzusammenführung oder gar die tatsächliche Zusammenkunft der Familie in Deutschland entscheidend. Der maßgebliche Zeitpunkt richtet sich vielmehr nach dem Zeitpunkt der Antragsstellung, sodass sich keine negativen Auswirkungen für die Familie ergeben, wenn das Kind im Laufe des Verfahrens volljährig wird96. Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Antragsstellung erfolgt hierbei, weil sonst der Zweck des effektiven Schutzes Minderjähriger entfiele, wenn aufgrund von Zeitablauf der Minderjährige volljährig würde97. Die Anforderung der Ledigkeit hingegen sorgte bislang für größere Schwierigkeiten. Insbesondere ist das Thema der Kinderehen hierbei zu beachten. Denn wenn man Kindern zu ihrem Schutz und ihrer Familie wegen den Nachzug nach Deutschland gestatten will, aber gleichzeitig den Kindern, die in jungem Alter 92

Welte, Drittstaatsangehörige (Fn. 52), S. 157. Ausführlich und kritisch zur Verweigerung des Familiennachzugs von Stiefkindern durch den deutschen Gesetzgeber: T. Oberhäuser, Die rechtswidrige Verweigerung des Nachzugs von Stiefkindern, in: S. Beichel-Benedetti/C. Janda (Hrsg.), Hohenheimer Horizonte. Festschrift für Klaus Barwig, 2018, S. 301 ff. 94 Oberhäuser, Stiefkinder (Fn. 93), S. 303; Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 28 f. 95 C. Vedder, in: ders./W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 288 AEUV Rn. 39. 96 Der maßgebliche Zeitpunkt ist hierbei – im Gegensatz zum umgekehrten Fall des Familiennachzugs von Eltern zu ihren Kinder (s. hierzu B. III. 3.) – unstreitig und ständige Rechtsprechung: BVerwG, Urteil vom 18.11.1997, Az. 1 C 22/96, NVwZ-RR 1998, 517 (518, Rn. 20); Urteil vom 7.4.2009, Az. 1 C 17/08, BVerwGE 133, 329 (332, Rn. 10), jeweils m.w. N. 97 So unter anderem: BVerwG, Urteil vom 18.11.1997, Az. 1 C 22/96, NVwZ-RR 1998, 517 (518, Rn. 20). 93

38

B. Der Familiennachzug

oftmals gegen ihren Willen zwangsverheiratet werden, aufgrund eben dieser Hochzeit den Nachzug verweigert, kommt man in ein moralisches Dilemma. Der Sinn hinter der Regelung ist es, Minderjährige, die an der Schwelle zum Erwachsensein sind und schon eine eigene Familie gegründet haben, und somit auf die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland nicht mehr zwingend angewiesen sind, vom Nachzug nach Deutschland auszuschließen. Es kann nicht das Ziel sein, Kinder, die gegen ihren Willen früh verheiratet worden sind, nicht mehr schützen zu wollen. Der deutsche Gesetzgeber hat sich dennoch mit dem Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen vom 17. Juli 2017 entschieden, das Thema von so frühen Ehen, die in unserem sozialen und kulturellen Umfeld als sittlich „falsch“ gelten, neu und restriktiver zu gestalten. Durch die Neuregelung sind im Ausland geschlossene Ehen gemäß Art. 13 Abs. 3 EGBG in Deutschland nichtig, wenn ein Verlobter zum Zeitpunkt der Eingehung der Ehe noch nicht 16 Jahre alt ist, sowie aufhebbar, wenn er noch nicht 18 Jahre alt ist. Dementsprechend ist die Voraussetzung der Ledigkeit des § 32 Abs. 1 S. 1 AufenthG eigentlich nicht mehr besonders zu beachten und vom Gesetzgeber zu streichen. Denn in den Augen der deutschen Rechtsordnung gibt es vor Vollendung des 16. Lebensjahres durch die pauschale Unwirksamkeitserklärung aller Ehen mit Personen, die noch nicht 16 Jahre alt sind, keine wirksam verheirateten Minderjährigen mehr. Jedoch hat der Bundesgerichtshof wegen einer fehlenden Einzelfallüberprüfung der Ehewirksamkeit erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses Gesetzes geäußert und das Bundesverfassungsgericht in einem Vorlagebeschluss um eine Entscheidung hierzu angerufen98. Eine solche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bleibt abzuwarten99. Neben den Anforderungen an das nachziehende Kind haben auch die nachholenden Eltern gewisse Anforderungen zu erfüllen. Nach § 32 Abs. 1 AufenthG findet der Nachzug zu beiden Eltern statt. Wenn nur ein Elternteil in Deutschland lebt, so muss dieser zusammenführende Elternteil das alleinige Sorgerecht besitzen100. Sofern der nachholende Elternteil die wichtigen Entscheidungen über Aufenthalt oder Schulausbildung allein treffen kann und dem anderen hierbei „keine substantiellen Mitentscheidungsrechte und -pflichten zustehen“101, liegt ein alleiniges Sorgerecht des nachholenden Elternteils vor102. Seit August 2013 wurde durch eine gesetzliche Neuregelung des Aufenthaltsrechts und die Einführung eines neuen § 32 Abs. 3 AufenthG darüber hinaus der Fall geregelt, in dem 98 BGH, Beschluss vom 14.11.2018, Az. XII ZB 292/16, NZFam 2019, 65 (66, Rn. 20). 99 Aus verfassungsrechtlicher Sicht kritisch hierzu: Gausing/Wittebol, Minderjährigenehen (Fn. 64), S. 41 ff. 100 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 32 Rn. 5; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 677. 101 BVerwG, Urteil vom 7.4.2009, Az. 1 C 17/08, BVerwGE 133, 329 (336, Rn. 16). 102 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 32 Rn. 27; Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 8.

III. Begünstigter Personenkreis

39

sich beide Eltern zwar das Sorgerecht teilen, aber nur einer in Deutschland ist103. In einem solchen Fall genügten statt des alleinigen Sorgerechts des nachholenden Elternteils auch das gemeinsame Sorgerecht und ein Einverständnis des im Ausland verbleibenden Elternteils oder die rechtsverbindliche Entscheidung der zuständigen Stelle, beispielsweise eines Gerichts104. Diese Neuregelung hilft insbesondere in den Fällen, in denen die Rechtsordnung eines ausländischen Staates die Übertragung des Sorgerechts auf eine einzige Person nicht vorsieht105. Beide Eltern beziehungsweise der allein personensorgeberechtigte Elternteil müssen daneben einen wirksamen Aufenthaltstitel haben, was sich jedoch auch schon aus den allgemeinen Voraussetzungen des Nachzugs zu Ausländern nach § 29 AufenthG ergibt. b) Nach Vollendung des 16. Lebensjahres Im Gegensatz zu dem Rechtsanspruch auf Nachzug zu ihren Eltern, den Kinder unter 16 Jahren haben, wird Kindern, die bereits 16 Jahre, aber noch nicht 18 Jahre alt sind, dieser Anspruch nur gewährt, sofern weitere Anforderungen erfüllt sind. Diese müssen jedoch auch dann nicht erfüllt werden, sofern die über 16 Jahre alten Kinder gemeinsam mit ihren Eltern den Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlegen. In diesem Fall gilt Abs. 1 direkt und ohne weitere Voraussetzungen, sodass ein Anspruch auf den Familiennachzug besteht106. Dies bedeutet nicht, dass sie gleichzeitig einreisen müssen, sondern dass ein zeitlicher Zusammenhang bestehen muss, der nach den Umständen des Einzelfalls zu bemessen ist, aber in der Regel einen Zeitraum von drei Monaten nicht übersteigen soll107. Sofern die Jugendlichen jedoch zeitlich oder räumlich getrennt von ihren Eltern einreisen, müssen sie entweder die deutsche Sprache bereits beherrschen oder aber es muss gewährleistet erscheinen, dass die Integration in die Lebensverhältnisse in Deutschland gelingen kann108. Ein Jugendlicher „beherrscht“ die deutsche Sprache, wenn die Sprachkenntnisse der Stufe „C1“ des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens des Europarats (GER) entsprechen109. Dies bedeutet an sich eine ziemlich hohe Hürde, die an die Sprachkenntnisse gestellt werden würde. Diese hohen Maßstäbe trotz 103

Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberechtigten und ausländischen Arbeitnehmern vom 29.8.2013 (BGBl. 2013 I 54, 5.9.2013, S. 3484 ff.) wurde diese Frage endlich geregelt, nachdem das Fehlen einer solchen Regelung in der Literatur heftig kritisiert wurde, hierzu ausführlicher: Tewocht, Ausländerrecht (Fn. 22), § 32 Rn. 33 m.w. N. 104 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 32 Rn. 12. 105 Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 33. 106 Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 11. 107 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 32 Rn. 7; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 681; Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 14. 108 Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 11. 109 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 32 Rn. 9; Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 15.

40

B. Der Familiennachzug

des Wortes „Beherrschen“ hier anzuwenden, wäre verfehlt. Vielmehr reichen die Sprachkenntnisse, die auch beim Einbürgerungsverfahren ausreichend sind, mithin Sprachkenntnisse der Stufe „B1“110. Alternativ zum Erfordernis der Sprachkenntnisse kann auch eine positive Integrationsprognose einen Anspruch auf Nachzug des Jugendlichen begründen. Diese liegt vor, wenn man davon ausgehen kann, dass sich der Jugendliche aufgrund seiner Lebensumstände und seiner bisherigen Ausbildung gut in die Lebensverhältnisse in Deutschland einfügen wird111. Hierbei ist insbesondere auf die Sprachkenntnisse abzustellen, wobei weitere positive Faktoren der Besuch einer deutschsprachigen Schule oder das Aufwachsen in einem deutschsprachigen Elternhaus sind, auch wenn dies mit den Sprachkenntnissen oft einhergeht112. Diese Differenzierung zwischen den verschiedenen Altersstufen gilt jedoch gemäß § 32 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AufenthG nicht für Kinder, die zu anerkannten Asylberechtigten, Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten nachziehen. Interessanterweise hat der Gesetzgeber hier die Regelung nicht im Zuge des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes geändert und subsidiär Schutzberechtigte aus dem privilegierten Personenkreis herausgestrichen, wie es sonst in den Normen zum Aufenthalt aus familiären Gründen geschehen ist. Eine Absicht hierhinter ist nicht zu erkennen, vielmehr erscheint es deutlich wahrscheinlicher, dass es sich um einen schlichten Redaktionsfehler des Gesetzgebers handelt, da der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten durch die Neuregelung zwar ausgenommen wurde, zugleich aber der Nachzug zu eben solchen die Differenzierung nach Altersstufen aufheben soll. Daneben kann auch in besonderen Härtefällen gemäß Absatz 4 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Hierbei ist eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, und es sind insbesondere das Kindeswohl sowie die familiäre Situation zu berücksichtigen113. Gemäß § 32 Abs. 4 S. 2 AufenthG gilt dies jedoch ausdrücklich nicht für den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, für die der durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz neu eingeführte § 36a AufenthG abschließende Regelungen trifft. 3. Eltern minderjähriger Kinder Neben dem Fall, dass minderjährige Kinder zu ihren Eltern nachziehen dürfen, gibt es auch den umgekehrten Fall: Eltern, die zu ihren minderjährigen Kindern nachziehen dürfen. Die gesetzliche Grundlage hierfür ist § 36 Abs. 1 AufenthG, 110 HessVGH, Urteil vom 2.12.2002; Az. 12 UE 1019/02, BeckRS 2005, 23281 (Rn. 28); Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 16. 111 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 32 Rn. 11; Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 15. 112 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 681; Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 15. 113 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 32 Rn. 13; Tewocht (Fn. 22), § 32 Rn. 41.

III. Begünstigter Personenkreis

41

wonach Eltern einen Rechtsanspruch auf den Nachzug zu ihren unbegleiteten minderjährigen Kindern haben. Im Gegensatz zu den anderen Arten der Familienzusammenführung ist beim Nachzug der Eltern zu ihren Kindern von allgemeinen Voraussetzungen wie der Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) sowie dem Wohnraumerfordernis (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) abzusehen114, wobei dies beim Nachzug zu Asylberechtigten, zu Konventionsflüchtlingen und – bis zur Verabschiedung des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes – zu subsidiär Schutzberechtigten in den meisten Fällen ohnehin nicht erforderlich ist115. Anders als beim Nachzug von Ehegatten oder Kindern zu ihren Eltern sind an den Nachzug von Eltern zu ihren Kindern vergleichsweise wenige Anforderungen zu stellen. Damit ein Elternteil einen Rechtsanspruch auf den Nachzug nach Deutschland hat, darf sich kein personensorgeberechtigtes Elternteil im Bundesgebiet aufhalten. Dafür reicht es auch, wenn beide Eltern gemeinsam oder in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach Deutschland ziehen116. Außerdem muss der Elternnachzug zu minderjährigen Ausländern erfolgen. Dem Grundgedanken nach scheint diese Fallgruppe der vorhergegangenen Fallgruppe zu gleichen. Nur Mitglieder der Kernfamilie können nachziehen, also Kinder zu ihren Eltern und auch Eltern zu ihren Kindern. Jedoch zeigt sich in der Praxis, dass zwischen Asylantrag des Nachholenden, Gewährung des Asylantrags, Antrag auf Familiennachzug und schließlich der Zusammenführung viele Monate, wenn nicht sogar Jahre vergehen. Komplizierter und umstrittener wird es folglich, wenn im Laufe dieses langen Zeitraums das minderjährige Kind volljährig wird. Es stellt sich also die Frage, auf welchen Zeitpunkt abgestellt werden muss. Wann muss also die Minderjährigkeit des Nachholenden bestanden haben, sodass dieser seine Eltern nachholen kann? Das Bundesverwaltungsgericht hat sich wiederholt auf den Standpunkt gestellt, dass die Minderjährigkeit noch zum Zeitpunkt der Gewährung des Familiennachzugs bestehen muss117. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs von April 2018 hingegen hat mit dieser Praxis gebrochen und verfolgt eine großzügigere Auslegung, die auf den Zeitpunkt des Asylantrags abstellt118. a) Minderjährig bis zur Gewährung des Familiennachzugs Das Bundesverwaltungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Anspruch der Minderjährigen auf den Nachzug ihrer Eltern dann er114 Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 36 Rn. 4; Tewocht (Fn. 22), § 36 AufenthG Rn. 14. 115 S. hierzu die Ausführungen zu den allgemeinen Voraussetzungen: B. II. 1. 116 Bundesregierung, Gesetzesbegründung, BT-Drucks. 16/5065 (Fn. 45), S. 176. 117 So unter anderen in zwei Urteilen im Jahr 2013: BVerwG, Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 9/12, BVerwGE 146, 189; Urteile vom 13.6.2013, Az. 10 C 24/12, 10 C 25/ 12, BeckRS 2013, 52988, 52989. 118 EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463.

42

B. Der Familiennachzug

lischt, wenn der Minderjährige volljährig wird, bevor den Eltern der Nachzug gewährt wurde und sie eingereist sind119. Bei Verpflichtungsklagen sei für die Prüfung des Vorliegens aller Tatbestandsvoraussetzungen grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der entscheidungserhebliche Zeitpunkt120. Dies sei auch beim Erwachsenennachzug nach § 36 Abs. 1 AufenthG nicht anders. Lediglich beim Kindernachzug gemäß § 32 AufenthG wird von diesen allgemeinen Grundsätzen abgewichen. Hier ist der Zeitpunkt der Antragstellung maßgeblich, damit durch eine Verzögerung der Minderjährige nicht seinen Rechtsanspruch verliert, was dem effektiven Schutz Minderjähriger zuwiderliefe121. Diese Ausnahme, so das Bundesverwaltungsgericht, sei jedoch nicht auf den Elternnachzug übertragbar, da Kinder- und Erwachsenennachzug unterschiedliche Zwecke verfolgten und nicht vergleichbar seien122. Diese Nichtvergleichbarkeit des Elternnachzugs mit dem Kindernachzug begründet das Bundesverwaltungsgericht mit § 34 AufenthG, indem es in seinem Urteil betont, dass „das Aufenthaltsgesetz dem nachgezogenen minderjährigen Kind in § 34 Abs. 2 und 3 AufenthG eine über die Minderjährigkeit hinausreichende, verfestigungsfähige aufenthaltsrechtliche Stellung zuweist. So wandelt sich die einem Minderjährigen nach § 32 AufenthG erteilte Aufenthaltserlaubnis mit Eintritt der Volljährigkeit gemäß § 34 Abs. 2 S. 1 AufenthG zu einem eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrecht.“123

Eine dem § 34 vergleichbare Regelung für den Nachzug der Eltern zu ihren minderjährigen Kindern nach § 36 Abs. 1 AufenthG, die eine andauernde oder zumindest längere Aufenthaltserlaubnis der Eltern vorsieht, kennt das deutsche Aufenthaltsrecht hingegen nicht124. Aus diesem Grund unterscheidet es zwischen dem Eltern- und dem Kindernachzug und gewährt nur dem zweiten die begünstigte Auslegung des entscheidungserheblichen Zeitpunkts. Diese Auslegung des Bundesverwaltungsgerichts birgt indes angesichts der hohen Anzahl an Antragstellern in den letzten Jahren ein durchaus praxisrelevantes Problem. So sind die Erfolgsaussichten des Antrags auf Familienzusammenführung hierdurch allein von der Bearbeitungsdauer der Behörden abhängig, und Behörden hätten die 119 BVerwG, Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 9/12, BVerwGE 146, 189 (194 f., Rn. 17 ff.); Urteile vom 13.6.2013, Az. 10 C 24/12, 10 C 25/12, BeckRS 2013, 52988, 52989 (Rn. 12). 120 Ständige Rechtsprechung: BVerwG, Urteil vom 7.4.2009, Az. 1 C 17/08, BVerwGE 133, 329 (332, Rn. 10); Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 9/12, BVerwGE 146, 189 (194, Rn. 17); Urteil vom 13.6.2013, Az. 10 C 24/12, 10 C 25/12, BeckRS 2013, 52988, 52989 (Rn. 12). 121 S. hierzu: B. III. 2. a). 122 BVerwG, Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 9/12, BVerwGE 146, 189 (195, Rn. 18). 123 BVerwG, Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 9/12, BVerwGE 146, 189 (195, Rn. 19). 124 BVerwG, Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 9/12, BVerwGE 146, 189 (196, Rn. 20).

III. Begünstigter Personenkreis

43

Möglichkeit, so den Familiennachzug zu vereiteln. Gleichwohl hält das Bundesverwaltungsgericht diese Gefahr für nicht gegeben, da Betroffene zur Not auch Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO erheben oder aber die Möglichkeit des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO in Betracht ziehen könnten125. b) Minderjährig bis zur Asylantragsstellung Der Europäische Gerichtshof kam in seiner Entscheidung vom 12. April 2018 zu einem vollkommen entgegengesetzten Ergebnis. Der relevante Zeitpunkt, an dem die Minderjährigkeit des Nachholenden vorgelegen haben muss, ist der Zeitpunkt des Asylantrags. So hält der Europäische Gerichtshof fest, „dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt war, aber während des Asylverfahrens volljährig wird und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, als ,Minderjähriger‘ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen ist.“126

Der Europäische Gerichtshof begründet dies zunächst allgemein mit dem Sinn und Zweck der Familienzusammenführungsrichtlinie und führt aus, dass diese einen besonderen Schutz für unbegleitete Minderjährige vorsieht und die Familienzusammenführung anerkannter Flüchtlinge zu erleichtern ist127. Diese Besonderheiten sind also bei der Entscheidung über Familienzusammenführung Minderjähriger entsprechend zu berücksichtigen. Sodann führt der Gerichtshof aus, dass die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft ein rein „deklaratorischer Akt“ sei. Der Minderjährige ist bei Vorliegen aller Voraussetzungen schon zum Zeitpunkt des Antrags ein Flüchtling und nicht erst, sobald dieser Antrag, durch den dies lediglich von staatlicher Seite aus bekräftigt wird, gewährt wird. Der Minderjährige hat also von Beginn an einen subjektiven Anspruch auf Gewährung der Flüchtlingseigenschaft128. Die Voraussetzungen für den Nachzug der Eltern zu ihrem minderjährigen Kind liegen somit schon von Anfang an vor. Sofern auf den Zeitpunkt der Gewährung abgestellt würde, verstieße dies außerdem gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und Rechtssicherheit. Es könne nicht sein, dass zwei in Alter, Fluchtursache und Zeitpunkt der Antragstellung sich gleichende Minderjährige unterschiedlich behandelt würden, je nachdem wie die Bearbeitungsdauer für ihren Fall ist, die von von dem Minderjährigen nicht zu beeinflussenden Faktoren wie Überarbeitung, Krankenstand,

125 BVerwG, Urteil vom 18.4.2013, Az. 10 C 9/12, BVerwGE 146, 189 (197, Rn. 22). 126 EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1466, Rn. 64). 127 EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1464, Rn. 32, 44). 128 EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 54).

44

B. Der Familiennachzug

personelle Besetzung und politisches Kalkül abhängig ist129. Im schlimmsten Fall dürfte der eine seiner Eltern nachholen, der andere jedoch nicht. Denn gerade in den letzten Jahren, in denen der Migrationsstrom nach Europa sehr groß war, käme es vermehrt zu außerordentlich langen Verfahrensdauern, die dazu führen könnten, dass Minderjährigen das Recht auf Familienzusammenführung abgesprochen würde130. In dieser Argumentation wird das Misstrauen des Europäischen Gerichtshofs gegenüber den Nationalstaaten und ihren Behörden deutlich, denen er zutraut, durch die gezielte Verzögerung des Asylantrags die Familienzusammenführung verhindern zu wollen131. Auch die Rechtssicherheit sieht der Europäische Gerichtshof bedroht, wenn nicht auf den Zeitpunkt des Asylantrags abgestellt würde, da der Minderjährige nicht ansatzweise vorhersehen könne, ob seine Eltern zu ihm nachziehen dürfen oder nicht132. Doch die Frage, wann genau der Zeitpunkt des Asylantrags eintritt, könne nicht den Mitgliedstaaten überlassen bleiben, da auch Art. 10 Abs. 3 lit. a der Familienzusammenführungsrichtlinie keinen Spielraum für Mitgliedstaaten kenne133. Der Zeitpunkt der Antragstellung ist demnach im Sinne des Europarechts und nicht nach nationalen Maßstäben zu ermitteln134. Nach europäischen Maßstäben versteht man unter „Asylantrag“ in diesem Fall dann nicht etwa die formelle Antragsstellung nach § 14 AsylG, sondern vielmehr bereits das erste Asylgesuch im Sinne von Art. 20 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung135 und die folgende behördlichen Erstellung der „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ gem. § 63a AsylG136. Damit dieses Recht auf Familienzusammenführung für den inzwischen volljährig gewordenen Flüchtling nicht unbegrenzt gilt und inzwischen Volljährige sozusagen einen Anspruch auf Reserve haben, sei dennoch eine „angemessene Frist“ zu wahren, die der Europäische Gerichtshof in Anlehnung an die Privilegierung anerkannter Flüchtlinge beim Familien129

EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 56). EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 58). 131 Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), NVwZ 2018, 1451 (1452); EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 58). 132 EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 59). 133 EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 45). 134 Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), S. 1452. 135 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen der Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, Amtsblatt Nr. L 180 vom 29.6.2013, S. 31 ff. (Dublin-III-Verordnung). 136 Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), S. 1452; H. Habbe, Familiennachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten Minderjährigen, Anmerkung zum EuGH-Urteil vom 12.4.2018 in der Rechtssache A. und S., Asylmagazin 2018, 149 (151), VG Stuttgart, Urteil vom 23.5.2018, Az. A 1 K 17/17, BeckRS 2018, 13324 (Rn. 31). Ausführlich zum Begriff des Aufnahmegesuchs nach Art. 21 der Dublin-III-Verordnung: EuGH, Urteil vom 26.7.2017, Az. C-670/16, NVwZ 2017, 1601 (1604, Rn. 76 ff.). 130

III. Begünstigter Personenkreis

45

nachzug aus Art. 12 Abs. 1 UAbs. 3 der Familienzusammenführungsrichtlinie auf drei Monate ab dem Zeitpunkt der Flüchtlingsanerkennung festlegt137. c) Keine Ungleichbehandlung zwischen Eltern- und Kindernachzug Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts führt zu einer Ungleichbehandlung zwischen den Fällen, in denen Kinder zu ihren Eltern ziehen und denen, in denen Eltern zu ihren Kindern ziehen. Diese Ungleichbehandlung wird vom Bundesverwaltungsgericht nicht nur toleriert, sondern vielmehr sogar bezweckt. Um einen effektiven Schutz unbegleiteter Minderjähriger zu gewährleisten, sei vom verwaltungsrechtlichen Grundsatz, dass bei Verpflichtungsklagen alle Tatsachenvoraussetzungen zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vorliegen sollen, beim Kindernachzug nach § 32 AufenthG eine Ausnahme zu machen, beim Nachzug der Eltern nach § 36 Abs. 1 AufenthG jedoch nicht. Diese Argumentation ist widersprüchlich und nicht überzeugend. Es ist richtig, dass man, um unbegleitete Minderjährige effektiv zu schützen, Ausnahmen machen muss, damit nicht aufgrund der Länge des Verfahrens und der dadurch während des Verfahrens eintretenden Volljährigkeit der Minderjährige seiner Rechte beraubt wird. Jedoch ist es nicht überzeugend, dies nur beim Nachzug der Kinder zu ihren Eltern anzuerkennen. In beiden Fällen geht es um Kinder, die ohne ihre Eltern aufwachsen müssten, sofern der Nachzug nicht gestattet würde. Sicherlich sind unbegleitete Minderjährige in Deutschland besser geschützt und müssen nicht unter dem Schrecken von Verfolgung, Bürgerkrieg und Folter leiden. Dennoch geht es um Minderjährige, die allein und ohne ihre Eltern in einem fremden Land, dessen Kultur sie nicht kennen und dessen Sprache sie nicht sprechen, leben. In diesem Fall sind die Eltern und das familiäre Umfeld von äußerster Wichtigkeit, sodass eine Ungleichbehandlung dieser beiden Gruppen verfehlt wäre. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Ungleichbehandlung außerdem mit § 34 Abs. 2 AufenthG begründet, für den es für den Elternnachzug keine entsprechende Norm gibt. Auch dieser doch recht formelle Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts kann nur schwer überzeugen. Zwar stimmt es, dass Kinder, nachdem sie volljährig geworden sind, ein eigenes, nicht abgeleitetes Aufenthaltsrecht erhalten, und dass Eltern von Kindern, die volljährig geworden sind, nicht automatisch ein eigenes Aufenthaltsrecht erhalten. Doch auch Eltern können einen eigenständigen Asylantrag stellen und so eine selbstständige Aufenthaltserlaubnis erlangen. Nur weil der Gesetzgeber eine solche Erlaubnis nur Kindern automatisch gewährt, bedeutet dies nicht, dass sie deshalb unweigerlich schützenswerter sind und in den anderen Fällen die Grundsätze des Schutzes Minderjähriger nicht so gewichtig sind. Insbesondere nach dem Urteil des Euro137 EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C-550/16, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 58); Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), S. 1452.

46

B. Der Familiennachzug

päischen Gerichtshofs ist dieser Hinweis auf § 34 Abs. 2 AufenthG generell zu überdenken. Würde wie bisher mit dem Beginn des 18. Lebensjahres nicht nur der Anspruch auf Nachzug, sondern auch das Aufenthaltsrecht der Eltern untergehen, würde dies nach dem Urteil des Gerichtshofs ja dazu führen, dass die Eltern direkt nach Einreise zu ihren inzwischen volljährig gewordenen Kind wieder umkehren müssten, was wohl eindeutig nicht der Sinn dieser Entscheidung war, die also auch dazu führt, dass den Eltern, die zu ihrem Kind nachziehen, ein eigenständiges, nicht an die Minderjährigkeit des Kindes gekoppeltes Aufenthaltsrecht zusteht138. Vor diesem Hintergrund ist § 34 Abs. 2 AufenthG als Grund für die Ungleichbehandlung nicht mehr haltbar. Das Misstrauen des Europäischen Gerichtshofs, das mit zu dieser Entscheidung geführt hat, hingegen ist durchaus nachvollziehbar. Nicht nur aufgrund des gewaltigen Anstiegs an Asylanträgen seit 2015, sondern auch durch Fehlplanung, Einsparungen und daraus folgenden Personalmangels waren zum Bespiel in Deutschland die zuständigen Behörden in den letzten Jahren überlastet, und Asylverfahren dauerten zum Teil über 18 Monate139. Auch hört man in den letzten Jahren vielfach Stimmen aus allen Ländern Europas, die Migration soweit wie möglich zu begrenzen. Durch die gezielte Verschleppung mancher Verfahren könnte man so den Familiennachzug geschickt verhindern. Auch wenn letzteres eher unwahrscheinlich ist, so reicht schon das fehlende Vertrauen in die Kapazitäten und Bearbeitungsdauer der staatlichen Stellen dafür aus, dass die Frage, ob ein Minderjähriger seine Eltern zu sich nachholen kann, nicht von der Schnelligkeit der Behörden abhängig gemacht werden soll. Es sprechen also nahezu alle Gründe dafür, dass man dem Europäischen Gerichtshof in dieser Frage folgt und lediglich für den Zeitpunkt der Antragstellung die Minderjährigkeit fordert. So wird nicht nur die Ungleichbehandlung von minderjährigen Flüchtlingen aufgrund der Bearbeitungsdauer der Behörden abgewendet, sondern auch die Ungleichbehandlung zwischen Eltern- und Kindernachzug beendet. 4. Sonstige Familienangehörige a) Allgemein Während andere Familienmitglieder bei Vorliegen aller Voraussetzungen grundsätzlich einen Rechtsanspruch auf den Familiennachzug haben, liegt der Nachzug sonstiger Familienangehöriger im Ermessen der Behörden und soll allein dem Zweck dienen, außergewöhnliche Härte zu vermeiden. Unter sonstigen Familiengehörigen versteht man alle Familienangehörigen, die weder Ehegatten 138

Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), S. 1452 f. Noch Ende 2016 warteten allein in Deutschland 58.848 Menschen mehr als 18 Monate auf ihren Asylbescheid, so nachzulesen in der Zeit vom 23.2.2017: https:// www.zeit.de/politik/deutschland/2017-02/bamf-asylbewerber-entscheide-lange-warten zeiten (zuletzt abgerufen am 28.3.2019). 139

III. Begünstigter Personenkreis

47

noch minderjährige Kinder sind, also deren Nachzug nicht durch die §§ 27–36 AufenthG erfasst wird140. Es geht also insbesondere um die Mitglieder der Großfamilie oder um den Nachzug von volljährigen Kindern zu ihren Eltern oder von minderjährigen Kindern zu ihren Großeltern141. Diesem erweiterten und nicht im Gesetz begünstigten Personenkreis soll der Familiennachzug zur Vermeidung von außergewöhnlichen Härten gewährt werden, was schon allein vom Wortlaut im Vergleich zu den Härtefallregelungen in den §§30, 32 AufenthG, die nur von „besonderer Härte“ sprechen, eine Steigerung beinhaltet, die sich auch in den höheren Anordnungen an das Vorliegen eines solchen Härtefalls widerspiegelt142. Im Vergleich zu den anderen Fällen wird hier ausnahmsweise eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, weil in dem konkreten Einzelfall die Umstände so ungewöhnlich und die Gründe so gewichtig sind, dass eine Nichterteilung mit der deutschen Rechtsordnung und dem Schutzzweck des Art. 6 Abs. 1 GG schlechthin nicht vereinbar wären143. Das ist der Fall, wenn entweder der Nachholende oder der Nachziehende nicht eigenständig leben kann, sondern auf den Familienverbund und seine Unterstützung angewiesen ist144. Hierbei ist insbesondere das Gewicht der familiären Bindung heranzuziehen, die regelmäßig bei volljährigen Kindern nicht mehr so stark ist, jedoch bei Minderjährigen, die zu entfernten Verwandten nachziehen wollen, in Ausnahmefällen gegeben und notwendig ist145. Ein weiterer typischer Fall des Familiennachzugs zu sonstigen Familienangehörigen aufgrund außergewöhnlicher Härte ist hierbei der Nachzug zu pflegeoder betreuungsbedürftigen sonstigen Familienangehörigen146, was verdeutlicht, dass es wirklich äußerst gewichtige Gründe geben muss, um diesen Nachzug zu gewähren. b) Die Geschwister als Problemkinder Während Ehegatten nach § 30 AufenthG, Eltern nach § 36 Abs. 1 AufenthG und minderjährige Kinder nach § 32 AufenthG nachgeholt werden können, gibt es für Geschwister keine diesen Normen entsprechende Vorschrift. Wenn also minderjährige Kinder zu ihren minderjährigen Geschwistern nachziehen möchten, so sind sie lediglich „sonstige Familienangehörige“ nach § 36 Abs. 2 AufenthG. Es erscheint unter dem besonderen Schutz, den Art. 6 Abs. 1 GG entfal140

Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 19. Welte, Drittstaatsangehörige (Fn. 52), S. 134. 142 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36 Rn. 12; Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 21. 143 K. Dienelt, in: J. Bergmann/K. Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 36 AufenthG Rn. 24 m.w. N.; Göbel-Zimmermann/Eichhorn (Fn. 58), § 36 Rn. 6; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 724. 144 Dietz, Ausländerrecht (Fn. 15), § 4 Rn. 101. 145 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36 Rn. 13; ders., Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 725 f. 146 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36 Rn. 22. 141

48

B. Der Familiennachzug

tet, problematisch, wenn minderjährige Kinder ihre Eltern, nicht aber ihre minderjährigen Geschwister nachholen dürfen. Um Kindern dennoch zu ermöglichen, zu ihren Geschwistern nachzuziehen, werden drei Varianten diskutiert, wie der Geschwisternachzug zu gestalten ist. Natürlich gibt es die Möglichkeit als „sonstige Familienangehörige“ nach § 36 Abs. 2 AufenthG nachzuziehen. Eine weitere Möglichkeit besteht im Nachzug über § 32 AufenthG i.V. m. § 36 Abs. 1 AufenthG, in dem Geschwister im Rahmen des Kindernachzugs zu den gleichzeitig oder früher selbst nachziehenden Eltern nachziehen. Als dritte Möglichkeit wird eine analoge Anwendung des § 36 Abs. 1 AufenthG in Betracht gezogen. Zunächst erscheint der Fall doch relativ eindeutig: In Ermangelung einer speziellen Norm sind Geschwister lediglich sonstige Familienangehörige und müssen deshalb die Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 erfüllen. Dies scheint auch der Wille des europäischen und des nationalen Gesetzgebers zu sein, da für Geschwister keine Regelung getroffen wurde. Allerdings ist die Gewährung des Familiennachzugs von sonstigen Familienangehörigen nur zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte gedacht. Diese außergewöhnliche Härte muss in der Trennung der Geschwister voneinander liegen, nicht in der Situation im Drittstaat147. Das Getrenntleben von minderjährigen Geschwistern in verschiedenen Ländern ist hierbei gerade im Hinblick auf den besonderen Schutzauftrag des Staates gegenüber Familien und insbesondere minderjährigen Kindern aus Art. 6 Abs. 1 GG, auf den § 27 AufenthG ja ausdrücklich verweist, als eine Situation von außergewöhnlicher Härte zu betrachten, sodass in diesem Fall das Ermessen der Behörden auf Null reduziert ist148. Jedoch müssen auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen der §§ 5, 29 AufenthG vorliegen, insbesondere muss der Lebensunterhalt gesichert sein (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) sowie ausreichend Wohnraum zur Verfügung stehen (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG). Für unbegleitete Minderjährige, zu denen die Geschwister nachziehen wollen, ist dies in der Praxis regelmäßig unmöglich zu erfüllen149. Hier bietet es sich dann an, das Vorliegen eines atypischen Falls zu prüfen, in dem diese Voraussetzungen entfallen können. Indes hat das Auswärtige Amt in einem Runderlass die Möglichkeit der Annahme einer solchen Atypik zumindest bezüglich des Wohnraumerfordernisses verneint150. Für das Erfordernis, seinen Lebensunterhalt abzusichern, kann ein atypischer Fall hingegen vorliegen, bei dem von dieser Voraussetzung abgesehen werden kann. Hierbei sind sowohl die verfassungs- oder völkerrechtlichen Wertungen als auch 147

Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 17. So: T. Oberhäuser, in: R. Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 36 Rn. 11; H. Cremer, Das Recht auf Familie für unbegleitete Minderjährige: Eltern dürfen nachziehen – Geschwister nicht?, ZAR 2017, 312 (317). 149 Cremer, Familie (Fn. 148), S. 312; Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 16 ff. 150 Auswärtiges Amt, Runderlass vom 20.03.2018, Gz. 508-3-543.53/2, S. 2, abrufbar unter: https://www.koelner-fluechtlingsrat.de/neu/userfiles/pdfs/2017-03-20-AA_Fami liennachzug.pdf (zuletzt abgerufen am 28.3.2019). 148

III. Begünstigter Personenkreis

49

die Aspekte des konkreten Einzelfalls wie die Lebenssituation der sich im Ausland befindenden minderjährigen Geschwister (zum Beispiel ob sie in einem Flüchtlingslager oder bei Verwandten leben) und ihre Betreuung zu berücksichtigen151. Des Weiteren ist beim Nachzug zu Asylberechtigten, Konventionsflüchtlingen oder subsidiär Schutzberechtigten oft von beiden Erfordernissen abzusehen beziehungsweise liegt die Entscheidung über das Absehen im Ermessen der Behörden152. Die Tatsachen, die eine außergewöhnliche Härte und eine Atypik begründen, sind in Verbindung mit den besonderen Schutz, den Minderjährige nach Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK sowie Art. 3 Abs. 1 KRK genießen, bei dieser Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, sodass spätestens auf dieser Ebene sowohl das Wohnraumerfordernis als auch das Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts nicht mehr notwendig sind. Daneben besteht zusätzlich die Möglichkeit, dass minderjährige Geschwister gemäß § 32 AufenthG i.V. m. § 36 Abs. 1 AufenthG nach Deutschland nachziehen. Die Geschwister reisen hierbei im Zuge des Kindernachzugs nach § 32 AufenthG zu ihren Eltern, die ihrerseits gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG zu ihren Kindern nachziehen, nach153. Nach § 32 AufenthG müssen die Eltern nicht bereits vor den Geschwisterkindern in Deutschland sein und können sogar gleichzeitig einreisen154. Zu den auch hierbei nötigen Voraussetzungen der Sicherung des Lebensunterhalts sowie der Zurverfügungstellung von ausreichendem Wohnraum gilt hier das Gleiche wie bei § 36 Abs. 2 AufenthG. Bei der gleichzeitigen Einreise mit ihren Eltern ist daneben auch für Geschwister, die bereits das 16. Lebensjahr vollendet haben, weder eine positive Integrationsprognose noch die Beherrschung der deutschen Sprache notwendig155. Eine weitere Art und Weise, den Geschwisternachzug zu ermöglichen, ist die analoge Anwendung des § 36 Abs. 1 AufenthG. Für eine Analogie müssen gemeinhin bekannt eine planwidrige Regelungslücke und eine vergleichbare Interessenlage vorliegen. Die planwidrige Regelungslücke könnte darin bestehen, dass für alle Mitglieder der Kernfamilie Rechtsnormen für den Familiennachzug existieren – mit Ausnahme für die Geschwister, die als einziges Mitglied des engeren Familienkreises nicht nachziehen können156. Die Frage nach der vergleichbaren Interessenlage ist insbesondere im Lichte des in § 27 AufenthG ausdrücklich genannten Art. 6 Abs. 1 GG zu beantworten. Für minderjährige Geschwister geht es wie für Ehegatten, Eltern und Kinder darum, in Deutschland in ihrer Familie 151

Auswärtiges Amt, Runderlass (Fn. 150), S. 2; Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 16 ff. S. hierzu die Ausführungen zu den allgemeinen Voraussetzungen: B. II. 1. 153 UNHCR Deutschland, Familienzusammenführung zu Personen mit internationalem Schutz, Asylmagazin 2017, 132 (135); Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 16 ff. 154 Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 16 ff.; dies ist in der Praxis der Fall: Vgl. S. Eckert, Der Geschwisternachzug, Asylmagazin 2020, S. 189 (190). 155 S. hierzu: B. III. 2. b). 156 Cremer, Familie (Fn. 148), S. 312. 152

50

B. Der Familiennachzug

zusammenzuleben157. Der Zweck des § 36 Abs. 1 AufenthG ist es, dass Eltern zu ihren unbegleiteten, in Deutschland auf sich allein gestellten Kindern nachziehen158. Ginge dies nur, indem man die anderen minderjährigen Kinder, die als Geschwister nicht nachziehen dürften, im Drittstaat unbegleitet und auf sich allein gestellt zurücklässt, so würde nicht nur der Zweck dieser Norm ad absurdum geführt, sondern dies stünde auch im erkennbaren Widerspruch zu Art. 6 Abs. 1 GG159. Trotz alledem muss nicht zwingend eine analoge Anwendung von § 36 Abs. 1 AufenthG der Weisheit letzter Schluss sein. Schließlich ist es auch möglich, dass Geschwister gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG oder aber gemäß § 32 AufenthG i.V. m. § 36 Abs. 1 AufenthG nachziehen, sodass doch keine Regelungslücke vorliegen könnte. Der wohl entscheidende Unterschied ist, dass § 36 Abs. 1 AufenthG analog vom Wohnraumerfordernis nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG und vom Erfordernis der Lebensunterhaltsicherung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG im Gegensatz zu § 32 AufenthG absieht. Jedoch werden die gleichen Wertungsgesichtspunkte, die für die Analogie sprechen, in der Ermessensentscheidung der Behörde zu berücksichtigen sein, insbesondere beim Nachzug zu Asylberechtigten, Konventionsflüchtlingen oder subsidiär Schutzberechtigten, sodass auch ohne die analoge Anwendung des § 36 Abs. 1 AufenthG diese Anforderungen nicht erfüllt werden müssen. Im Ergebnis erscheint der Geschwisternachzug gemäß § 32 AufenthG i.V. m. § 36 Abs. 1 AufenthG als die dogmatisch „sauberste“ Variante, die die Anforderungen und Wertungen der §§ 27 ff. AufenthG nicht untergräbt und trotzdem den Nachzug der Geschwister ermöglicht. Doch ist die dogmatische Begründung des Geschwisternachzugs nicht von entscheidender Bedeutung. Viel entscheidender ist, dass der Nachzug von minderjährigen Kindern zu ihren minderjährigen Geschwistern trotz fehlender ausdrücklicher Regelung in den §§ 27 ff. AufenthG ermöglicht werden sollte160. Dies gebietet nicht zuletzt die grundrechtliche Wertung des Art. 6 Abs. 1 GG. Geschwister gehören genauso zur engsten Familie wie Kinder, Eltern und Ehegatten. Minderjährigen Geschwistern sollten somit derselbe Schutz und dieselbe Möglichkeit der Familienzusammenführung zuteilwerden.

IV. Schlussfolgerungen Die Regelungen des Familiennachzugs sind nicht nur emotional, sondern auch verfassungs- und europarechtlich stark aufgeladen, sodass bei der Anwendung der §§ 27 ff. AufenthG der besondere Schutzzweck der Regelungen stets beachtet 157

Cremer, Familie (Fn. 148), S. 313. Cremer, Familie (Fn. 148), S. 313. 159 Ausführlich, auch unter Berücksichtigung von Art. 8 EMRK und Art. 3 Abs. 1 KRK: Cremer, Familie (Fn. 148), S. 313. 160 Vgl. hierzu auch: UNHCR, Familienzusammenführung, Asylmagazin 2017, 132 (134 ff.). 158

IV. Schlussfolgerungen

51

werden muss. Dies ergibt sich insbesondere für die Fälle, in denen die Regelungen nicht umfassend genug sind beziehungsweise Lücken lassen, die ausgelegt werden müssen. Der Gesetzgeber möchte grundsätzlich seinen sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Schutzauftrag erfüllen, doch gleichzeitig auch andere staatliche Ziele wie eine gelungene Integration und die Funktionsfähigkeit der Sozialsysteme verfolgen. In diesem Spannungsfeld zwischen einem weitest- und bestmöglichen Schutz der Familie einerseits und der Integration und Belastbarkeit der Kommunen andererseits befinden sich die Regelungen des Familiennachzugs und ihre Auslegung durch die Gerichte. Dies sieht man sowohl bei der Frage, welche Anforderungen an Ehegatten gestellt werden dürfen, um einerseits eine Integration zu gewährleisten, andererseits nicht das grundrechtlich geschützte Institut der Ehe zu sehr zu belasten. Auch das Thema rund um den „umgekehrten“ Familiennachzug und das Recht von Eltern, zu ihren inzwischen volljährig gewordenen Kindern nachzuziehen oder die Behandlung von minderjährigen Geschwistern ist immer im Lichte dieses Spannungsfelds zwischen Schutz der Familie und Integration zu sehen. Insbesondere beim Schutz von Minderjährigen ist hier eine eher großzügigere Auslegung anzuwenden und im Zweifel zugunsten des Schutzes der Familie und insbesondere der Minderjährigen zu entscheiden. Familienzusammenführung und gelungene Integration müssen jedoch keine Gegensätze sein. Natürlich kommen der Staat und insbesondere die Kommunen und Ausländerämtern ab einer gewissen Anzahl von Nachziehenden an ihre (Kapazitäts-)grenzen. Wie man in den letzten Jahren gesehen hat, ist darüber hinaus für einen großen Teil der deutschen Bevölkerung auch nur eine gewisse Anzahl von Migranten akzeptabel. Dennoch ist die Familienzusammenführung, auch wenn sie zunächst mit einem Zuwachs der Menschen, die nach Deutschland kommen, einhergeht, auch als Mittel zur Integration zu betrachten, da die Menschen, die sich nicht andauernd fragen müssen, ob und wann sie ihre Familie sehen, eher motiviert sind, Arbeit zu finden und sich auch sozial zu integrieren161. Kinder lernen Sprachen besser und können sie in der Familie weitergeben. Jungen Erwachsenen hilft der Familienverbund oftmals, um nicht auf „die schiefe Bahn“ zu geraten. Letzteres gilt natürlich nicht nur für Migranten, sondern genauso auch für deutsche Bürger. Dazu kommt, dass einem Großteil der Menschen, denen in den letzten Jahren einen Aufenthaltstitel in Deutschland gewährt wurde, diesen aus humanitären Gründen erhielten. Sie sind also Asylberechtigte, Konventionsflüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte. Für diese Gruppen gelten vielfach Ausnahmen, da ihnen eine Rückkehr oder eine Familienzusammenführung in Drittstaaten oftmals 161 So ähnlich auch: UNHCR Deutschland, Wer gehört zur Familie? Der Begriff der Familie bei Familienzusammenführungen zu Personen mit internationalem Schutz, Asylmagazin 2017, 138 (144).

52

B. Der Familiennachzug

nicht möglich ist. Auch ist ihre Einreise oftmals plötzlich und nicht planbar gewesen. Sie sind deshalb regelmäßig besonders schützenswert. Der Gesetzgeber hat dies durch eine Reihe von Ausnahmen auch umgesetzt, sodass vielfach für diese Gruppe zugunsten der Familienzusammenführung von bestimmten, für diese Gruppe besonders schwierig zu erfüllenden Integrationsvoraussetzungen abgesehen wird. Indes ist der Familiennachzug kein Freilos. Auch wenn dies manchmal in der öffentlichen Debatte und bei manchen Äußerungen aus einem bestimmten politischen Spektrum den Anschein hat, so kann nicht jeder, der nach Deutschland eingereist ist, direkt seine ganze Großfamilie nachholen. Die Voraussetzungen für den Familiennachzug sind teilweise sehr streng. Nicht nur, dass der Nachholende einen gültigen Aufenthaltstitel haben muss, also für ihn allein schon die Voraussetzungen gelten müssen, dass ihm Asyl gewährt wird. Auch die Nachziehenden müssen strikte Voraussetzungen erfüllen, wenn man beispielsweise an die Anforderungen an Ehegatten oder Kinder, die das 16. Lebensjahr abgeschlossen haben, denkt. Daneben sind für Geschwister überhaupt keine Regelungen getroffen. Somit zeigt sich, dass der Familiennachzug an enge Regelungen geknüpft ist, die teilweise sogar für zu streng befunden werden, und dass der begünstigte Personenkreis recht eng gefasst ist. Dennoch handelt es sich beim Familiennachzug um ein wichtiges Mittel, um der humanitären Verantwortung und dem Auftrag des Grundgesetzes gerecht zu werden.

C. Der subsidiäre Schutz Der subsidiäre Schutz ist, verglichen mit traditionsreicheren Instituten wie dem Asylrecht und dem Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention, noch ein sehr junges Schutzinstitut. Die Grundidee des subsidiären Schutzes ist, dass er als Ergänzung des Schutzes aus der Genfer Flüchtlingskonvention dienen soll und deshalb auch gegenüber dieser subsidiär zu prüfen ist162. Obwohl er einen wichtigen Teil des Asyl- und Aufenthaltsrechts in Deutschland darstellt, ist er in seiner jetzigen Form noch keine zehn Jahre alt. Auch die Idee, dass es neben der Genfer Flüchtlingskonvention und dem grundgesetzlichen Asylrecht aufgrund deren Regelungslücken noch eine weitere Kategorie geben muss, ist nicht wesentlich älter. Dies könnte als Entschuldigung für das große Unwissen der Allgemeinheit über diesen Schutzstatus dienen. Er wird vielfach auch als „vorübergehender“ oder „vorläufiger (eingeschränkter)“163 Schutz bezeichnet, auch wenn der Aufenthaltstitel für Asylberechtigte und Konventionsflüchtlinge genauso befristet ist. Insofern handelt es sich beim subsidiären Schutz nicht um einen vorübergehenden oder vorläufigen Schutz beziehungsweise ist der subsidiäre Schutz genauso vorläufig oder nicht vorläufig wie der Schutzstatus für Konventionsflüchtlinge164. Denn der Schutzstatus besteht so lange fort, wie die Menschenrechtsverletzung, die Verfolgung oder die Bedrohung fortbesteht, und ist insoweit vorübergehend, als dass der Schutzstatus wegfällt, sobald die Umstände, vor denen Schutz gesucht wird, wegfallen165. Dass wiederum auch Bundes- und Landespolitiker teilweise die genauen Voraussetzungen nicht kennen, ist indes schon besorgniserregender (beziehungsweise peinlicher) und steht stellvertretend für viele Fälle im Asyl- und Aufenthaltsrecht, in denen Fakten und Gefühle vermischt werden und Erstere hinter Letzteren zurückbleiben166. 162 P. Wittmann, in: A. Decker/J. Bader/P. Kothe (Hrsg.), Beck’scher Online Kommentar Migrations- und Integrationsrecht, § 4 AsylG (2021), Rn. 3. 163 Stellvertretend für viele, die die Begriffe synonym verwenden: Deutsche Welle, Artikel vom 1.8.2018, https://www.dw.com/de/familiennachzug-den-anspruch-auf-dieeltern-verloren/a-44891565 (zuletzt abgerufen am 15.8.2019); Berliner Morgenpost, Artikel vom 27.4.2019, https://www.morgenpost.de/politik/article217036795/Bamfstoppt-vorerst-Asylentscheide-fuer-einen-Teil-der-Syrer.html (zuletzt abgerufen am 15.8. 2019). 164 J. Bast, Vom subsidiären Schutz zum europäischen Flüchtlingsbegriff, in: Beichel-Benedetti/Janda: Festschrift Klaus Barwig (Fn. 93), S. 403 (412), R. Marx, Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 38 Rn. 5. 165 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 93), S. 412, Marx, Handbuch (Fn. 165), § 38 Rn. 5. 166 Stellvertretend: Matthias Joa MdL RP, „subsidiäres Bleiberecht heißt Asyl für kurze Zeit“, 17.7.2018, https://www.afd-rlp-fraktion.de/asyl/matthias-joa-afd-familien-

54

C. Der subsidiäre Schutz

Geboren in Art. 78 AEUV, ausformuliert in der Qualifikationsrichtlinie, umgesetzt in § 4 AsylG handelt es sich bei dem subsidiären Schutz um den zweiten Teil des unionsrechtlich ausgestalteten internationalen Schutzes167. „Subsidiär“ ist der Schutz, weil der Flüchtlingsschutz im Sinne der Konvention Vorrang vor ihm hat, vergleichbar mit dem Umstand, dass der nationale Schutz gegenüber dem gesamten internationalen Schutz Vorrang hat168. Die Subsidiarität bezieht sich also auf die Rechtsquelle und die Reihenfolge der Anwendung, aber eben nicht auf den Inhalt169. Der Inhalt des Schutzes ist in Deutschland in § 4 AsylG geregelt. Gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG hat ein Ausländer Anspruch auf subsidiären Schutz, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Neben Folter und Todesstrafe sind dies insbesondere Schäden durch internationale oder innerstaatliche bewaffnete Konflikte, weshalb man auch oft von „Bürgerkriegsflüchtlingen“ im Zusammenhang mit dem subsidiären Schutz spricht170. Insbesondere aufgrund der Folgen der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Syrien ist der subsidiäre Schutz auch in der migrationsrechtlichen und -politischen Debatte so präsent. Nachfolgend soll nun zunächst die historische Entwicklung des subsidiären Schutzes hin zu seiner heutigen Ausgestaltung dargestellt werden (I.). Anschließend daran werden die Voraussetzungen und der Umfang des subsidiären Schutzes behandelt (II.). Außerdem erfolgt ein Vergleich zwischen dem Flüchtlingsschutz im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und dem subsidiären Schutz (III.) sowie ein Exkurs über den Schutzstatus syrischer Flüchtlinge in Deutschland (IV.).

I. Vom nationalen zum europäischen Begriff: Historie des subsidiären Schutzes Der subsidiäre Schutz ist aus der Erkenntnis entstanden, dass die bisherigen Schutzinstitute nicht mehr ausreichen, um den Menschen, die sich auf der Flucht befinden, ausreichend Schutz zu gewähren. Insbesondere durch den Wandel der Konfliktherde und Krisen ist dies notwendig geworden. Entstanden das Asylrecht aus Art. 16a GG sowie die Genfer Flüchtlingskonvention vor dem Hintergrund und als Antwort auf die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, so ist doch heute nachzug-forciert-ungebremste-massenzuwanderung-in-unsere-sozialsysteme-die-einrei se-von-angehoerigen-subsidiaer-schutzberechtigter-muss-gestoppt-werden/ (zuletzt abgerufen am 15.8.2019). 167 W. Kluth, in: Heusch/Kluth, Ausländerrecht (Fn. 22), § 4 AsylG (2021), Rn. 2. 168 Marx, Handbuch (Fn. 165), § 38 Rn. 1; J. McAdam, Complementary Protection in International Refugee Law, 2007, S. 21. 169 McAdam, Complementary Protection (Fn. 168), S. 23. 170 So regt H. Habbe an, statt von subsidiär Schutzberechtigten von „Bürgerkriegsflüchtlingen mit subsidiärem Schutz“ zu sprechen, https://www.proasyl.de/hintergrund/ was-ist-eigentlich-subsidiaerer-schutz/ (zuletzt abgerufen am 15.5.2019).

I. Historie des subsidiären Schutzes

55

nicht mehr der „klassische“ kriegerische Konflikt zweier Staaten die Hauptursache für fluchtverursachende Krisen. Vielmehr sind es oftmals Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb eines Landes, wie Bürgerkriege oder die Gräueltaten terroristischer Organisationen, die Menschen zur Flucht bewegen. Auch Fluchtgründe, die nicht vom Begriff der Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention erfasst sind, können eine vergleichbare Schutzbedürftigkeit auslösen, sodass sich das nur aus Art. 16a GG sowie der Flüchtlingskonvention bestehende Schutzkonzept als zu eng erwies171. Vor diesen Hintergründen entstand das Institut des subsidiären Schutzes. Dieses bündelt eine Vielzahl von nationalen teils gesetzlich normiertem, teils durch internationale Verträge verpflichtenden, teils durch Richterrecht entwickelten Tatbeständen und Gründen, wann Schutzsuchende trotz fehlenden Asylrechts oder fehlender Flüchtlingseigenschaft im Land bleiben beziehungsweise nicht abgeschoben werden dürfen172. Der Antriebsmotor für diese Weiterentwicklung war zu aller erst die Europäische Union, die durch die Idee eines gemeinsamen europäischen Flüchtlingsrechtes den internationalen Schutz und seine beiden Bestandteile entwickelte173. 1. Auf dem Weg zu europäischen Standards Bevor durch die Qualifikationsrichtlinie der internationale Schutz eingeführt und der subsidiäre Schutz in seiner heutigen Form geregelt wurden, waren Menschen außerhalb des Schutzbereichs der Genfer Flüchtlingskonvention keineswegs auf sich allein und ohne Schutz europäischer Staaten gestellt174. Doch es bestand ein komplexer und teilweise undurchsichtiger „Wirrwarr“ verschiedener Arten und Formen des subsidiären oder komplementären Schutzes der einzelnen Mitgliedstaaten mit jeweils unterschiedlichen Standards, die sich am ehesten unter dem Begriff „de facto-Flüchtlinge“ zusammenfassen lassen175. Bis 1990 wurden beispielsweise von der deutschen Rechtsprechung bei Tatbeständen wie drohender Folter und Todesstrafe oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlungen mit Hilfe einer weiten Auslegung des „kleinen Asyls“ nach § 14 AuslG

171 P. Tiedemann, Die Geschichte des subsidiären Flüchtlingsschutzes, in: ders./ J. Gieseking (Hrsg.), Flüchtlingsrecht in Theorie und Praxis, 2014, S. 97. 172 Vgl. Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 408 f. 173 A. Heusch, in: ders. u. a., Asylrecht (Fn. 37), Rn. 1. 174 Beispielsweise durch die vom EGMR anerkannte „Non-Refoulement“-Wirkung des Art. 3 EMRK, vgl. hierzu C. Walter, Zwischen individuellen Menschenrechtsschutz und legitimer Migrationssteuerung, in: ders./M. Burgi (Hrsg.), Die Flüchtlingspolitik, der Staat und das Recht, 2017, S. 7 (27 ff.). 175 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 408 f.; Marx, Handbuch (Fn. 165), § 38 Rn. 2; McAdam, Complementary Protection (Fn. 168), S. 20 ff.; J. McAdam, The European Union Qualification Directive, in: International Journal of Refugee Law, 17 (2005), S. 461 (463 f.).

56

C. Der subsidiäre Schutz

1965176 oder durch einen Rückgriff auf das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1, 2, 102, 104 Abs. 1 S. 2 GG) und internationale Verträge Grenzen für aufenthaltsbeendende Maßnahmen entwickelt177. Hierauf folgten zwar mit der Einführung des Ausländergesetzes 1990 Abschiebeverbote gemäß § 53 AuslG, und die Feststellung des Vorliegens eines solchen Schutztatbestandes war auch einklagbar178. Jedoch wurde kein Aufenthaltstitel begründet. In manchen Ländern wie Frankreich, Belgien oder dem Vereinigten Königreich gab es überhaupt keine einklagbaren Ansprüche, sondern lediglich Ermessensentscheidungen der Behörden, die nicht oder kaum gerichtlich überprüfbar waren179. Wiederum in anderen europäischen Staaten wie Dänemark oder Österreich wurde in vergleichbaren Situationen ein Aufenthaltstitel gewährt180. Europaweit und einheitlich erfolgte eine erste Regelung mit dem Amsterdamer Vertrag vom 2. Oktober 1997181, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat. Hierdurch begann ein Prozess der ersten Angleichungen im Asylrecht und die Schaffung des gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS)182. Gleichzeitig wurde im europäischen Primärrecht ein Titel mit einer neuen Kompetenznorm in Art. 63 EGV geschaffen183. Zunächst wurden durch diesen Artikel sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention als auch ähnliche internationale Verträge (selbst)bindendes Recht184, denn gemäß Art. 63 S. 1 Nr. 1 EGV sollten die Asylmaßnahmen in Übereinstimmung mit eben diesen Verträgen getroffen werden. Dies löste einen möglichen Widerspruch, der entstehen konnte, falls die Europäische Union die Mitgliedstaaten, die im Gegensatz zu jener Vertragspartner der Genfer Flüchtlingskonvention sind, zu Maßnahmen verpflichten wollte, die ihren internationalen vertraglichen Verpflichtungen widersprächen185. Diese Selbstbindung an die internationalen Verträge traf aber nicht auf Art. 63 S. 2 Nr. 2 lit. a EGV zu, der

176 Das „kleine Asyl“ bedeutet die Flüchtlingsanerkennung nach der GFK, unter dem „großen Asyl“ versteht man das Asylrecht nach Grundgesetz. § 14 AuslG 1965 normierte die Einschränkung der Abschiebung bei Konventionsflüchtlingen. 177 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht (Fn. 4), Rn. 250 m.w. N. auf die entsprechende Rechtsprechung. 178 Tiedemann, Geschichte (Fn. 171), S. 111. 179 Tiedemann, Geschichte (Fn. 171), S. 111 f. 180 Tiedemann, Geschichte (Fn. 171), S. 112 f. 181 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 2.10.1997, BGBl. 1998 II 12, 16.4.1998, S. 387 ff. 182 C. Hruschka, Perspektiven der Europäischen Asylpolitik, in: Beichel-Benedetti/ Janda, Festschrift Klaus Barwig (Fn. 93), S. 382 (388); C. Langenfeld, Asyl und Migration unter dem Grundgesetz, NVwZ 2019, S. 677 (678). 183 S. Progin-Theuerkauf, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 78 AEUV Rn. 3. 184 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 405. 185 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 405 f.

I. Historie des subsidiären Schutzes

57

den europäischen Gesetzgeber zum Erlass von Mindestnormen für den vorübergehenden und anderweitig internationalen Schutz ermächtigt. Hier wird deutlich, dass zum damaligen Zeitpunkt die Europäische Union noch von einem internationalen Schutzbegriff ausging, der lediglich vorübergehend und abseits bindender Vorgaben des Völkerrechts war186. Dies sollte sich durch die erste Version der Qualifikationsrichtlinie im Jahr 2004187 ändern. Sie war die erste europäische Richtlinie, die den subsidiären Schutz als Bestandteil des Asylverfahrens regelte (Art. 2 lit. e, Art. 15 Qualifikationsrichtlinie 2004), und durch die dieser seinen Fachbegriff erhielt. Auch der Begriff des internationalen Schutzes und seine Zweiteilung in subsidiären Schutz sowie Flüchtlingsschutz findet hier seinen Ursprung. Ebenfalls wurden die tatbestandlichen Voraussetzungen bereits im 2. Kapitel dieser Richtlinie geregelt188. Der Inhalt dieser Richtlinie glich insofern schon in weiten Teilen den heutigen Regelungen. Jedoch übernahm der deutsche Gesetzgeber die Richtlinienvorschläge nicht vollständig und unterließ es im Zuge der Umsetzung, eine spezifische Regelung mit einem eigenen Aufenthaltstitel für subsidiär Schutzsuchende zu verabschieden189. Stattdessen erfüllte Deutschland die europäischen Vorgaben der Qualifikationsrichtlinie 2004 lediglich minimalinvasiv durch die in § 60 Abs. 2, 3, 7 und § 25 Abs. 3 AufenthG a. F. geregelten Abschiebeverbote als Auffangregelung, die mehr oder weniger „Rumpfvorschriften“190 darstellten191. Ein nächster Schritt hin zu einer europäischen Vereinheitlichung des Asylrechts und zu einem eigenständigen subsidiären Schutzstatus erfolgte durch den Vertrag von Lissabon192, der am 13. Dezember 2007 unterzeichnet wurde und am 1. Dezember 2009 in Kraft trat. Dieser Vertrag, der an die Stelle der gescheiterten Verfassung für Europa trat, veränderte die Europäische Union grundle186

Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 407. Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, Amtsblatt Nr. L 304 vom 30.9.2004, S. 12 ff.; im Folgenden, auch um Verwechslungen zu vermeiden: Qualifikationsrichtlinie 2004. 188 Marx, Handbuch (Fn. 165), § 2 Rn. 2. 189 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht (Fn. 4), Rn. 250; Heusch (Fn. 37), Rn. 126; Marx, Handbuch (Fn. 165), § 3 Rn. 5; Tiedemann, Geschichte (Fn. 171), S. 114 f. 190 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht (Fn. 4), Rn. 250. 191 Heusch (Fn. 37), Rn. 126; Marx, Handbuch (Fn. 165), § 3 Rn. 5; Tiedemann, Geschichte (Fn. 171), S. 114 f.; Wittmann (Fn. 162), § 4 Rn. 1.1; ausführlich zur Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie: K. Hailbronner, Die Qualifikationsrichtlinie und ihre Umsetzung im deutschen Ausländerrecht, ZAR 2008, S. 209. 192 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13.12.2007, BGBl. 2008 II 27, 14.10.2008, S. 1038 ff. 187

58

C. Der subsidiäre Schutz

gend. Unter anderem wurde der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)193 eingeführt. In ihm enthalten ist auch der neue Art. 78 AEUV, der Art. 63 Nr. 1 und 2 sowie Art. 64 Abs. 2 EGV ersetzte. Dieser Artikel normiert die gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik. Art. 78 Abs. 2 lit. b AEUV sieht die Einrichtung eines einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, die keinen europäischen Asylstatus erhalten, aber internationalen Schutz benötigen, vor. Diese Norm regelt nicht nur einzelne Maßnahmen, wie zuvor Art. 63 EGV, sondern legt vielmehr den Grundstein für eine umfassende und einheitliche Politik in allen Fragen des Asyl- und Flüchtlingsrechts194. Die wohl entscheidende Änderung liegt darin, dass die Union nicht mehr lediglich ermächtigt ist, Mindestnormen zu erlassen, sondern auch vereinheitlichende Regelungen treffen kann, womit eine Vollharmonisierung des Asylrechts möglich wird195. 2. Die Qualifikationsrichtlinie Im Zuge der neuen Kompetenzen im Bereich des Asylrechts durch den Vertrag von Lissabon wurde auch eine weitere neue Richtlinie erlassen. Die Qualifikationsrichtlinie wurde im Jahr 2011 vom europäischen Parlament und vom Rat beschlossen und im Anschluss im Jahr 2013 vom Bundesgesetzgeber in nationales Gesetz umgesetzt196. Das Ziel der Qualifikationsrichtlinie ist die „stärkere Angleichung der Vorschriften zur Zuerkennung und zum Inhalt des internationalen Schutzes auf der Grundlage höherer Standards“197. Bereits die Vorgängerrichtlinie führte den Begriff des internationalen Schutzes neu ein und regelte erstmalig den subsidiären Schutz als einen seiner beiden Ausprägungen europarechtlich. Des Weiteren beabsichtigte die Europäische Union Menschen auch unterhalb des Schutzniveaus der Genfer Flüchtlingskonvention, die an das Merkmal der „Verfolgung“ anknüpft, vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen198. Die Mindestharmonisierung rund um einen einheitlichen Schutzbegriff soll für das Einhalten gewisser Mindeststandards im Hinblick auf die Gewährung von Schutz in allen europäischen Staaten sorgen, wodurch Anreize zur Sekundärmigration199 unterbunden und gleichzeitig ein race-to-the-bottom verhindert wer-

193 Vertrag über die Arbeitsweisen der Europäischen Union, Amtsblatt Nr. C 326 vom 26.10.2012, S. 47 ff. (AEUV). 194 H. Rosenau/S. Petrus, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EU-Recht (Fn. 95), Art. 78 AEUV Rn. 1. 195 Progin-Theuerkauf (Fn. 183), Art. 78 AEUV Rn. 8. 196 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013, BGBl. 2013 I 54, 5.9.2013, S. 3474 ff. 197 Erwägungsgrund Nr. 10 der Qualifikationsrichtlinie. 198 Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 2. 199 Unter Sekundärmigration versteht man die Wanderung von Migranten von einem Mitgliedstaat der EU zu einem anderen.

I. Historie des subsidiären Schutzes

59

den sollen200. Im Vergleich zu ihrer Vorgängerrichtlinie befasst die Qualifikationsrichtlinie sich nun, wie auch der vollständige Titel der beiden Richtlinien im Vergleich zeigt, nicht mehr mit dem Erlass von Mindestnormen, sondern von Normen durch den europäischen Gesetzgeber. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben also weniger Spielraum als zuvor. Dies zeigt sich beispielsweise bei der Familienzusammenführung. Hieß es noch in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 der Qualifikationsrichtlinie 2004, dass Mitgliedstaaten Bedingungen festlegen können, nach denen Familienangehörige nachziehen dürfen, so ist dieser Unterabsatz in der Qualifikationsrichtlinie nun weggefallen. Auch wurden in dem veränderten Artikel 1 der Qualifikationsrichtlinie Flüchtlinge und Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, erstmals zusammengefasst als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz. In Deutschland machte sich die Neuregelung durch die Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie vor allem dadurch bemerkbar, dass mit der Einführung eines eigenständigen subsidiären Schutzstatus die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes genauer bestimmt wurden201. Die Qualifikationsrichtlinie ist das Ergebnis eines Kompromisses, wie dies so häufig in der Politik und bei Gesetzgebungsakten der Fall ist. Auf der einen Seite stand das Anliegen, die unterschiedlichen nationalen Schutzstatus zu vereinheitlichen und einen im Vergleich zur Genfer Flüchtlingskonvention schwächeren Schutz einzuführen, auf der anderen Seite der Wunsch, eine Harmonisierung der völkerrechtlichen Verpflichtungen auf supranationaler Ebene und somit einen gleichstarken Schutz zu erreichen202. Diese beiden Bestrebungen lassen sich nun auch in der Richtlinie wiederfinden. So ist einerseits eine gewisse Gleichheit der beiden Institute auf der Tatbestandsseite gegeben, wobei der „ernsthafte Schaden“ funktional an Stelle der „Verfolgung“ steht, andererseits unterscheiden sich die Rechtsfolgen der Anerkennung in vielen Punkten203. Bei der Qualifikationsrichtlinie handelt es sich jedoch trotz alledem auch in ihrer jüngsten Form nicht um eine Vollharmonisierung, die auch nicht erstrebt wurde, sondern um eine Mindestharmonisierung, sodass die nationalen Gesetzgeber hiervon abweichen können204. In Deutschland wurde erst in Folge der Qualifikationsrichtlinie der subsidiäre Schutz in § 4 AsylG implementiert, nachdem noch die Qualifikationsrichtlinie 2004 lediglich durch Abschiebeverbote gemäß § 60 AufenthG umgesetzt worden war. Doch obgleich es sich bei der Richtlinie 200 Erwägungsgrund Nr. 13 der Qualifikationsrichtlinie; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 2; Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 409; McAdam, Complementary Protection (Fn. 168), S. 51. 201 Reinhardt/Kluth (Fn. 23), § 2 Rn. 28. 202 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 410. 203 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 410; für einen ausführlichen Vergleich zwischen Subsidiären Schutz und Flüchtlingseigenschaft s. III. 204 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 411 f.

60

C. Der subsidiäre Schutz

um einen Kompromiss und bloß um eine Mindestharmonisierung handelt, wird ihr ein großer auch zukünftiger Einfluss, nicht nur für den europäischen, sondern auch für den internationalen Flüchtlingsschutz, zugesprochen205.

II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes Um als subsidiär Schutzberechtigter im Sinne der beschriebenen Qualifikationsrichtlinie und im Sinne von § 4 AsylG zu gelten, muss der Antragssteller stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Der Aufbau der den subsidiären Schutz gewährenden Vorschrift gleicht in vielen Punkten der Vorschrift zur Gewährung des Flüchtlingsstatus. Allerdings ersetzt das Merkmal des „ernsthaften Schadens“ das Tatbestandsmerkmal der „Verfolgung“, wie der Gesetzgeber in § 4 Abs. 3 S. 2 AsylG klarstellt. Es muss also ein ernsthafter Schaden drohen. Dieser unbestimmte Rechtsbegriff wird in den drei Fallgruppen des § 4 Abs. 1 S. 2 AsylG näher definiert. Alle drei Fallgruppen haben jedoch gemeinsam als erste Voraussetzung für die Berechtigung des subsidiären Schutzes, dass der ernsthafte Schaden in dem Herkunftsland des Antragsstellers droht. Gemäß Art. 2 lit. n der Qualifikationsrichtlinie versteht man unter Herkunftsland das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit des subsidiär Schutzsuchenden sowie im Falle von dessen Staatenlosigkeit das Land des früheren gewöhnlichen Aufenthaltes. Zum Nachweis eines ernsthaften Schadens in seinem Herkunftsland hat der Antragsteller sodann gewisse Darlegungsanforderungen zu erfüllen. Er muss stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringen, dass ihm im Falle der Rückkehr ein ernsthafter Schaden droht. Diese Darlegungsanforderung unterscheidet sich nicht von der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ für den Nachweis der Flüchtlingseigenschaft und geht zurück auf die Praxis des UN-Ausschusses gegen Folter zu Art. 3 der UN-Anti-Folterkonvention206 beziehungsweise des Europäischen Gerichtshofs für Menschenreche zu Art. 3 EMRK, um unterschiedliche Auslegungen in der internationalen Praxis zu vermeiden207. Hierbei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls, aber auch die generelle Menschenrechtslage in dem jeweiligen Herkunftsland zu beachten, obgleich sich eine generalisierende Sichtweise verbietet und stets eine individuelle Prüfung stattfinden muss208. Dem 205

Marx, Handbuch (Fn. 165), § 2 Rn. 9. VN-Übereinkommen vom 10. Dezember 1984 gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 6.4.1990, BGBl. 1990 II 12, 18.4.1990, S. 246 ff. 207 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 61; S. Keßler, in: Hofmann, Ausländerrecht (Fn. 148), AsylVfG, § 4 Rn. 4; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 32. 208 Keßler (Fn. 207), § 4 Rn. 4; T. Masuch/C. Hruschka, in: Huber, Aufenthaltsgesetz (Fn. 45), § 4 AsylG Rn. 40; C. Hruschka/T. Löhr, Der Prognosemaßstab für die 206

II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes

61

Antragsteller obliegt es hierbei, stichhaltig die konkreten und gewichtigen Gründe vorzutragen, die den Schluss auf das Vorliegen eines ernsthaften Schadens im Herkunftsland zulassen beziehungsweise nahelegen209. Allerdings muss diese Gefährdung nicht nur theoretisch möglich oder nicht auszuschließen sein, sondern darüber hinausgehen, wobei gerade im Hinblick auf die Schwere der Menschenrechtsverletzungen, die für die Gewährung des subsidiären Schutzes vorliegen müssen, hier kein allzu strenger Wahrscheinlichkeitsmaßstab angelegt werden darf 210. Die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes sind allerdings nicht vollumfänglich in § 4 AsylG geregelt. Zum Teil wird auf bestimmte Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes zurückgegriffen. So sind über § 4 Abs. 3 AsylG auch die §§ 3c–e AsylG anwendbar. Das bedeutet, dass als verfolgende Akteure gemäß § 3c AsylG der Staat und daneben auch Parteien oder Organisatoren in Betracht kommen, die den Staat oder wesentliche Teile hiervon beherrschen. Dieselben Akteure sind auch gemäß § 3d AsylG die einzigen, die Schutz bieten können. Sofern dies von ihnen nicht zu gewährleisten ist, kann auch ein ernsthafter Schaden von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, falls der Staat oder die Parteien beziehungsweise Organisationen keinen Schutz gewährleisten können (§ 3c Nr. 3 AsylG). Auch die sich aus § 3e AsylG ergebende Pflicht der Behörden, innerstaatliche Schutzalternativen zu überprüfen, ist anwendbar211. Dies gilt insbesondere für Bürgerkriege, die oft nicht im gesamten Land, sondern nur manchen Regionen stattfinden und deshalb auch nur dort zu einer Gefährdung führen212. Allerdings müssen die „sicheren“ Gebiete gefahrenfrei erreichbar sein213. 1. Todesstrafe Die erste Fallgruppe, die den unbestimmten Rechtsbegriff des „ernsthaften Schadens“ näher erläutert, findet sich in § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG. Unter „ernsthaften Schaden“ wird also zunächst die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gefasst. Dies ist mit Blick auf die verfassungs- und völkerrechtlichen Grundsätze des deutschen Rechtssystems nur folgerichtig. Denn die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe ist eine besonders schwere Menschenrechts-

Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nach der Qualifikationsrichtlinie, in: ZAR 2007, S. 180 (181). 209 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 62; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 33; EGMR, Urteil vom 15.11.1996, Az. 70/1995/576/662, NVwZ 1997, 1093 (1099, Rn. 148 ff.). 210 Keßler (Fn. 207), § 4 Rn. 4 m.w. N.; Heusch (Fn. 37), Rn. 137. 211 Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 31. 212 EuGH, Urteil vom 17.2.2009, Az. C-465/07, NVwZ 2009, 705 (707, Rn. 40). 213 Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 31.

62

C. Der subsidiäre Schutz

verletzung, deren ausdrückliches Verbot im Grundgesetz in Art. 102 GG, der eng mit dem Rechtsstaatsprinzip, der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG i.V. m. Art. 19 Abs. 2 GG) zusammenhängt, statuiert ist214. Überdies verbietet auch das sechste Zusatzprotokoll zur EMRK vom 28. April 1983 die Todesstrafe. Unter der Todesstrafe versteht man gezielte, von einem Staat oder aufgrund der ausgeübten Herrschaftsmacht einem Staat gleichenden Gebilde zu verantwortende, in einem gerichtlichen – nicht zwingend rechtsstaatlichen – Verfahren als Sanktion für eine Zuwiderhandlung angeordnete Tötung eines Menschen215. Hiervon sind nur die Tötungen auf Grund einer Strafrechtsordnung erfasst. Tötungen von nichtstaatlicher Seite sowie „extralegale“ Hinrichtungen sind hiervon ausgenommen216. Dabei muss laut eindeutigem Wortlaut nicht die Vollstreckung drohen. Schon die drohende Verhängung der Todesstrafe reicht bereits aus, auch wenn noch offen ist, ob nach der Verhängung die Vollstreckung wirklich droht217. Die Einordnung dieser Fälle, in denen bei Rückkehr ein solches Verfahren beziehungsweise eine solche Verhängung droht, gestaltet sich im Vergleich zu der drohenden Vollstreckung in der Praxis schwieriger218. Die drohende Verhängung der Todesstrafe ist erst dann von Seiten der entscheidenden Behörden zu berücksichtigen, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung konkrete und ernstzunehmende Anhaltspunkte dafür vorliegen219. 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung Die zweite Fallgruppe des „ernsthaften Schadens“ umfasst gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Es sind also hierbei diese beiden Varianten voneinander zu unterscheiden. Da diese Fallgruppe direkt an den Wortlaut von Art. 3 EMRK anknüpft, ist sie nicht nur im Lichte der Qualifikationsrichtlinie, sondern auch in dem der EMRK und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu interpretieren220.

214

Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 8; BGH, Urteil vom 16.11.1995, Az. 5 StR 747/94, BGHSt 41, 317 (324, Rn. 26). 215 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 9; Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 AsylG Rn. 9; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 9. 216 J. Bergmann, in: ders./Dienelt, Ausländerrecht (Fn. 143), § 4 AsylG Rn. 4; Heusch (Fn. 37), Rn. 130; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 9; Keßler (Fn. 207), § 4 Rn. 7. 217 Heusch (Fn. 37), Rn. 130; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 1292. 218 Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 10. 219 BVerwG, Urteil vom 1.12.21987, Az. 1 C 29/85, BVerwGE 78, 285 (295, Rn. 30). 220 Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 12.

II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes

63

a) Folter Zunächst ist als erste Variante der Nr. 2 die Folter genannt, deren Verbot sich neben Art. 3 EMRK auch aus Art. 1 Abs. 1 GG ergibt. Zur Auslegung des Begriffs der Folter kann auf Art. 1 Abs. 1 der UN-Anti-Folter-Konvention zurückgegriffen werden, die aufgrund ihrer Ratifizierung innerstaatlich bindend ist221. Hiernach ist unter Folter jede Handlung zu bezeichnen, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen zugefügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen auf Diskriminierung beruhenden Grund, wenn die Schmerzen von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder einem anderen Amtsträger verursacht oder veranlasst werden. Entscheidend ist also die vorsätzliche Schmerzzufügung zur Erreichung eines bestimmten weitergehenden Ziels222. Soweit sich jedoch aus Art. 3 EMRK oder Art. 1 Abs. 1 GG ein weitreichender Folterbegriff ableiten lässt, ist dieser zu berücksichtigen223. Folter ist nämlich stets als Verletzung der Menschenwürde anzusehen, durch nichts zu rechtfertigen und ihr Verbot inzwischen Teil des ius cogens 224. Doch nicht jede Beeinträchtigung der körperlichen Integrität ist sofort als Folter zu qualifizieren. Vielmehr ist hierfür ein gewisses Mindestmaß an Intensität zu erreichen, wobei jeweils auf den konkreten Einzelfall und Faktoren wie die Umstände der schmerzverursachenden Handlungen (Dauer, Schwere, Art der Schmerzzufügung) sowie der Person des Opfers (Alter, Geschlecht, körperliche Konstitution) abzustellen ist225. Allerdings bedarf es bei der Frage, ob eine Handlung schon als Folter zu qualifizieren ist oder noch „nur“ eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellt, keiner trennscharfen Abgrenzung, da auch diese einen ernsthaften Schaden darstellt.

221 Bergmann (Fn. 143), § 4 Rn. 10; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 18; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 13. 222 Heusch (Fn. 37), Rn. 134. 223 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 19; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 13; Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 11. 224 R. Bank, in: O. Dörr/R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2. Aufl. 2013, Kap. 11 Rn. 36; Keßler (Fn. 207), § 4 Rn. 9; Marx, Handbuch (Fn. 165), § 41 Rn. 6; zur Absolutheit der Menschenwürde und zum Dilemma der „Rettungsfolter“: H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, 3. Aufl. 2013 ff., Art. 1 Rn. 133 f.; kritisch zu der Absolutheit des Folterverbots aus Art. 1 Abs. 1 GG: F. Wittreck, Menschenwürde und Folterverbot, DÖV 2003, S. 873 ff. 225 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Az. 30210/96, NJW 2001, 2694 (2695, Rn. 91); Heusch (Fn. 37), Rn. 134; Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 12.

64

C. Der subsidiäre Schutz

b) Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung Denn gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Variante 2 AsylG stellt die unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung auch einen Fall des ernsthaften Schadens dar. Für den Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung existiert keine Legaldefinition in der EMRK oder in anderen Gesetzestexten, sodass auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurückgegriffen werden muss, wobei auch dieser keine allgemeingültigen Kriterien für alle Merkmale zu entnehmen sind226. Gemeinhin wird unter einer unmenschlichen Behandlung die vorsätzliche Zufügung intensiver physischer oder psychischer Leiden über mehrere Stunden am Stück verstanden227. Ein klassisches Beispiel hierfür stellt eine Misshandlung durch wiederholte Schläge dar, die jedoch nicht mit dem Ziel, eine Aussage zu erzwingen, ausgeführt wird und damit nicht als Folter zu qualifizieren ist228. Hiervon ist als schwächste Stufe eines Eingriffs im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG beziehungsweise Art. 3 EMRK die erniedrigende Behandlung zu unterscheiden229. Eine solche liegt bei jeder Demütigung und fehlenden Achtung der Menschenwürde einer anderen Person vor, indem bei dem Opfer Furcht, Todesangst und das Gefühl der Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand des Opfers zu brechen230. Ob diese Demütigung wirklich der Zweck der Handlung war, kann zwar berücksichtigt werden, ist gleichwohl aber keine notwendige Voraussetzung für die Einordnung als erniedrigende Behandlung231. Es reicht, dass das Opfer sich erniedrigt fühlt232. Eine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung hingegen liegt vor, wenn die mit ihr verbundenen Einschränkungen und Leiden über das in rechtmäßigen Bestrafungsmethoden notwendigerweise oder regelmäßig enthaltene Maß hinausgehen233. Für diese Einschätzung des richtigen Maßstabs geht man grundsätzlich von der jeweiligen eigenen Rechtsordnung aus. Härtere Strafen als in der deutschen Strafrechtsprechung üblich müssen hierbei zwar nicht zwangsläufig unmenschlich sein, jedoch gibt es auch in manchen Rechtsordnungen, beispielsweise im islamischen Strafrecht, Strafen, die trotz der Rechtmäßigkeit in ihrem 226

Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 15. EGMR, Urteil vom 15.7.2002, Az. 47095/99, NVwZ 2005, 303 (304, Rn. 95); Urteil vom 21.1.2011, Az. 30696/09, NVwZ 2011, 413 (414, Rn. 220) jeweils m.w. N.; Heusch (Fn. 37), Rn. 135; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 15. 228 Bank (Fn. 224), Kap. 11 Rn. 39 m.w. N. 229 Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 17. 230 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Az. 30210/96, NJW 2001, 2694 (2695, Rn. 92). 231 EGMR, Urteil vom 21.1.2011, Az. 30696/09, NVwZ 2011, 413 (414, Rn. 220); Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 16. 232 EGMR, Urteil vom 25.4.1987, Az. 5856/72, NJW 1978, 1089 (1090, Rn. 32); Bank (Fn. 224), Kap. 11 Rn. 40. 233 EGMR, Urteil vom 7.7.1989, Az. 14038/88, NJW 1990, 2183 (2188, Rn. 111); Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 18. 227

II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes

65

Land als unmenschlich und erniedrigend zu qualifizieren sind234. Nicht nur die Art der Strafe oder das Strafmaß können zu einer Einstufung als unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung führen, sondern auch die Haftbedingungen in dem jeweiligen Herkunftsland. Obgleich die regelmäßigen Standards des jeweiligen Herkunftslandes zu berücksichtigen sind, kann es sich im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände (Temperatur, Schlafmöglichkeit, Ernährung, sanitäre Verhältnisse) bei einer Unterschreitung gewisser Mindeststandards um eine unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung handeln235. Die Abgrenzung zwischen einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung stellt sich oftmals als schwierig dar236. In der Praxis ist dies jedoch weniger relevant, da es hier keine trennscharfe Unterscheidung gibt, wie sich zum Beispiel in Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zeigt, bei dem „unmenschliche Behandlung“ als auch „erniedrigende Behandlung“ ohne Differenzierung verwendet wurden237. Beide, sowohl die unmenschliche als auch die erniedrigende Behandlung, verlangen darüber hinaus ein gewisses Mindestmaß an Schwere und Intensität238. Dieses Kriterium ist naturgemäß relativ und hängt von einer wertenden Betrachtung des Einzelfalls ab, in die Faktoren wie die Art und Dauer der Behandlung sowie das Geschlecht und das Alter des Opfers einfließen239. So sind die Anforderungen für besonders schutzbedürftige Personen nicht zu hoch zu stellen240. Außerdem ist sowohl bei der unmenschlichen als auch bei der erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung eine Berufung auf eine allgemein gefährliche Situation im Herkunftsland nicht ausreichend; es muss eine individuelle, konkrete und ernsthafte Gefahr drohen241. Auch ein innerstaatlicher Konflikt, durch den sich allgemein die Lebenssituation verschlechtert und Gefahren erhöhen, ohne dass dies auf das vorsätzliche Handeln eines Akteurs im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1 i.V. m. § 3c AsylG gegen eine individuelle Gruppe zurückzuführen ist, genügt demnach nicht, um als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung qualifiziert zu werden242. Da bei 234 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 24; Heusch (Fn. 37), Rn. 135. 235 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 25 m.w. N.; Heusch (Fn. 37), Rn. 135. 236 Bank (Fn. 224), Kap. 11 Rn. 41. 237 EGMR, Urteil vom 2.5.1997, Az. 146/1996/767/964, NVwZ 1998, 161 (Rn. 38); Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 26. 238 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Az. 30210/96, NJW 2001, 2694 (2695, Rn. 91). 239 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 23 m.w. N. 240 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 27 m.w. N.; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 19. 241 Heusch (Fn. 37), Rn. 136; Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 19. 242 BVerwG, Urteil vom 31.1.2013, Az. 10 C 15/12, NVwZ 2013, 1167 (1168, Rn. 29); Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 40 f.; Heusch (Fn. 37), Rn. 136.

66

C. Der subsidiäre Schutz

beiden Arten der Behandlung und Bestrafung eine gewisse Intensität und Konkretisierung verlangt wird und auch beide sowohl von Art. 3 EMRK verboten sind sowie gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Variante 2 AsylG zu subsidiärem Schutz berechtigen, ist eine trennscharfe Abgrenzung hierzwischen auch folglich nicht notwendig. 3. Individuelle Bedrohung im Rahmen eines bewaffneten Konflikts Der dritte Fall des § 4 AsylG gewährt Zivilpersonen subsidiären Schutz, deren Rückkehr in ihr Herkunftsland eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zur Folge hätte (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG). Es geht also um den Schutz vor Gefahrenlagen, die sich im Rahmen bewaffneter Konflikte entwickeln, aber noch nicht als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu qualifizieren sind und deshalb nicht in ihren Anwendungsbereich fallen243. Diese Gruppe umfasst insbesondere die Situation vieler Bürgerkriegsflüchtlinge. Verglichen mit den anderen beiden Fallgruppen handelt es sich um ein recht komplexes Kriterium, das durch viele unbestimmte Rechtsbegriffe geprägt ist, die zunächst ausgelegt werden müssen244. Hierbei ist insbesondere auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, namentlich dessen beiden wegweisenden Entscheidungen, dem Elgafaji-Urteil245 sowie dem Diakité-Urteil246, zurückzugreifen. Die Komplexität dieser Fallgruppe ergibt sich aus dem Spannungsfeld der gegensätzlichen und sich scheinbar widersprechenden Tatbestandsmerkmale der Norm. Auf der einen Seite die individuelle Betroffenheit, auf der anderen Seite die allgemeine Lage eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts247. Einen solchen individuellen Bezug innerhalb eines bewaffneten Konflikts festzustellen, vermag oftmals Probleme zu bereiten. So sind gemäß Erwägungsgrund 35 der Qualifikationsrichtlinie Gefahren, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, normalerweise noch keine solche individuelle Bedrohung. Die individuelle Betroffenheit steht auch konträr zur Willkürlichkeit der Gewalt. Der Begriff der Willkür verdeutlicht ja an sich, dass es jederzeit jeden ohne jedwedes System dahinter treffen kann248.

243 244 245 246 247 248

Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 20. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 45. EuGH, Urteil vom 17.2.2009, Az. C-465/07, NVwZ 2009, 705 ff. EuGH, Urteil vom 30.1.2014, Az. C-285/12, NVwZ 2014, 573 ff. Heusch (Fn. 37), Rn. 138. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 45.

II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes

67

a) Individuelle Betroffenheit Das Spannungsverhältnis dieser Merkmale prägt die Auslegung des § 4 AsylG im Allgemeinen und insbesondere die Bestimmung der individuellen Betroffenheit. Wie auch bei den anderen Fallgruppen des subsidiären Schutzes ist die Individualität von entscheidender Bedeutung – auch in Abgrenzung zu der Genfer Flüchtlingskonvention, die auf Verfolgung als Teil einer Gruppe abstellt. Für die Bestimmungen der Individualität sowie für die Auflösung dieses Spannungsfelds ist auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverwaltungsgerichts zurückzugreifen. In seiner Elgafaji-Entscheidung bildet der Europäische Gerichtshof folgende Leitsätze hierzu: „Das Adjektiv ,individuell‘ [ist] dahin zu verstehen, dass es sich auf schädigende Eingriffe bezieht, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt [. . .] ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei einer Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung [. . .] ausgesetzt zu sein.“249

Das Bundesverwaltungsgericht unterstützt in ständiger Rechtsprechung diese Auslegung des Europäischen Gerichtshofs und sieht sich durch dieses Urteil in seinem Ansatz, die individuelle Bedrohung durch das Merkmal der Gefahrendichte zu bestimmen, bestätigt250. Hierauf aufbauend hat das Bundesverwaltungsgericht folgenden Leitsatz entwickelt, um die individuelle Bedrohung zu bestimmten: „Eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben [. . .] kann sich auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahme eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet.“251

Dies scheint zunächst im Widerspruch zum ausdrücklichen Willen des Unionsgesetzgebers in Erwägungsgrund 35 der Qualifikationsrichtlinie zu stehen, laut dem allgemeine Gefahren noch keine individuelle Bedrohung begründen. Doch durch den Gebrauch des Adverbs „normalerweise“ bleibt die Möglichkeit einer hiervon abweichenden außergewöhnlichen Lage bestehen, in der dennoch die Individualität bejaht werden kann252. Die Annahme der individuellen Bedrohung 249

EuGH, Urteil vom 17.2.2009, Az. C-465/07, NVwZ 2009, 705 (706 f., Rn. 35). BVerwG, Urteil vom 14.7.2009, Az. 10 C 9/08, NVwZ 2010, 196 (197, Rn. 15); zu den Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Gefahrendichte: B. Baade, Sehenden Auges dem Tode oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“?, DÖV 2018, S. 806 ff. 251 BVerwG, Urteil vom 14.7.2009, Az. 10 C 9/08, NVwZ 2010, 196; so auch ähnlich: Urteil vom 24.6.2008, Az. 10 C 43/07, NVwZ 2008, 1241 (1245, Rn. 34); Urteil vom 27.4.2010, Az. 10 C 4/09, NVwZ 2011, 56 (60, Rn. 33), Urteil vom 17.11.2011, Az. C 13/10, NVwZ 2012, 454 (455, Rn. 17). 252 EuGH, Urteil vom 17.2.2009, Az. C-465/07, NVwZ 2009, 705 (707, Rn. 39). 250

68

C. Der subsidiäre Schutz

aufgrund einer allgemeinen Gefahrensituation lässt sich auch mit dem Schlussantrag des Generalanwalts beim EuGH Maduro unterstützen, der auf die Bedeutung der Unterscheidung zwischen hoher individueller Gefahr und Gefahr aufgrund individueller Merkmale hinweist, da eine Person auch ohne Vorliegen individueller Merkmale nicht weniger individuell betroffen sei, wenn sich aufgrund willkürlicher Gewalt das Risiko ihres Todes erheblich vergrößert253. Zudem hätte eine Nichtberücksichtigung der willkürlichen Gewalt auch zur Folge, dass der Schutz des Einzelnen umso geringer wäre, je willkürlicher die Gewalt und infolgedessen je größer die Anzahl der Opfer durch diese Gewalt wäre254. Die notwendige Verdichtung beziehungsweise individuelle Gefährdung ergibt sich also entweder aufgrund der Höhe des allgemeinen Gefahrenniveaus oder des hohen Grades der Willkür oder aber, was dem Wortlaut des Merkmals der individuellen Bedrohung noch naheliegender ist, aufgrund in der Person liegender gefahrenerhöhender Umstände255. Solche persönlichen Umstände können sich aus der beruflichen Stellung des Betroffenen ergeben (zum Beispiel, wenn er Arzt oder Journalist ist) oder aus seiner religiösen und ethnischen Zugehörigkeit256. b) Willkürliche Gewalt Für die Gewährung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG muss die individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt entstanden sein. Willkürlich ist die Gewalt, wenn sie sich auf Personen unabhängig von ihrer persönlichen Lage erstrecken kann257. Ein gewisses hohes Niveau willkürlicher Gewalt muss auch bei vorliegenden gefahrenerhöhenden persönlichen Umständen gegeben sein258. Hierbei ergibt sich jedoch ein Wechselwirkungsverhältnis zwischen dem Grad der willkürlichen Gewalt und den in der Person des Ausländers liegenden persönlichen gefahrenerhöhenden Umständen: Die Anforderungen an den Grad der willkürlichen Gewalt sind umso geringer zu stellen, je höher der Ausländer spezifisch betroffen ist259. Um die Höhe der Gefahrendichte für Zivilpersonen und das Niveau willkürlicher Gewalt zu ermitteln, ist zunächst eine 253 Schlussanträge des Generalanwalts Maduro vom 9.9.2008, Az. C-465/07, BeckRS 2008, 70935 (Rn. 35). 254 Schlussanträge (Fn. 253), Az. C-465/07, BeckRS 2008, 70935 (Rn. 38). 255 BVerwG, Urteil vom 14.7.2009, Az. 10 C 9/08, NVwZ 2010, 196; C. Hruschka/ C. Lindner, Der internationale Schutz nach Art. 15b und c Qualifikationsrichtlinie im Lichte der Maßstäbe von Art. 3 EMRK und § 60 VII AufenthG, NVwZ 2007, S. 645 (648); Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 23. 256 BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, Az. 10 C 4/09, NVwZ 2011, 56 (60, Rn. 33); Urteil vom 17.11.2011, Az. C 13/10, NVwZ 2012, 454 (455, Rn. 18). 257 Heusch (Fn. 37), Rn. 139. 258 Bergmann (Fn. 143), § 4 Rn. 16. 259 Heusch (Fn. 37), Rn. 139; Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 36; EuGH, Urteil vom 17.2.2009, Az. C-465/07, NVwZ 2009, 705 (707, Rn. 39); Urteil vom 30.1.2014, Az. C-285/12, NVwZ 2014, 573 (574, Rn. 31).

II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes

69

quantitative Ermittlung vorzunehmen260. Es wird also versucht, annäherungsweise die Gesamtzahl der in dem Gebiet lebenden Personen und die Anzahl der Akte willkürlicher Gewalt, die gegen Zivilpersonen verübt worden sind, zu ermitteln261. Unter „Gefahrendichte“ ist also die Wahrscheinlichkeit, einem ernsthaften Schaden ausgesetzt zu sein, gemeint262. Daneben sind im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung auch qualitative Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie die Anzahl der Opfer und die Schwere der Schädigungen aber auch die Qualität und Erreichbarkeit der medizinischen Versorgungslage263. c) Bewaffneter Konflikt Die individuelle Bedrohung infolge von willkürlicher Gewalt muss auch im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts erfolgen. Ein internationaler bewaffneter Konflikt liegt gemäß Art. 2 des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 bei jedem förmlich erklärten Krieg oder jedem anderen bewaffneten Konflikt zwischen Staaten auch ohne die Erklärung des Kriegszustandes vor264. Für die genaue Einordnung eines Konflikts als innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne der Qualifikationsrichtlinie und damit im Sinne von § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG ist hingegen die Diakité-Entscheidung des Europäischen Gerichtshof maßgeblich. Demnach liegt ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor, „wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinandertreffen, ohne dass dieser Konflikt als bewaffneter Konflikt, der keinen internationalen Charakter aufweist, im Sinne des humanitären Völkerrechts eingestuft zu werden braucht und ohne dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen, der Organisationsgrad der vorhandenen bewaffneten Streitkräfte oder die Dauer des Konflikts Gegenstand einer anderen Beurteilung als der des im betreffenden Gebiet herrschenden Grads an Gewalt ist.“265

Somit genügen innere Unruhen und Spannungen sowie Tumulte und vereinzelte Gewalttaten den Anforderungen der Qualifizierung als bewaffneter Konflikt

260

Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 50. BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, Az. C 13/10, NVwZ 2012, 454 (456, Rn. 22); Heusch (Fn. 37), Rn. 140 m.w. N.; so betrug 2009 zum Beispiel in der Region Ninive und deren Hauptstadt Mossul im Irak das Risiko, verletzt oder getötet zu werden 1:800. Dieses Risiko reichte noch nicht, um subsidiären Schutz zu gewähren, BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, Az. C 13/10, NVwZ 2012, 454 (456, Rn. 22). 262 P. Tiedemann, Gefahrendichte und Judiz – Versuch einer Rationalisierung, ZAR 2016, S. 53. 263 BVerwG, Urteil vom 17.11.2011, Az. C 13/10, NVwZ 2012, 454 (456, Rn. 23); Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 50. 264 Keßler (Fn. 207), § 4 Rn. 13. 265 EuGH, Urteil vom 30.1.2014, Az. C-285/12, NVwZ 2014, 573 (575, Rn. 35). 261

70

C. Der subsidiäre Schutz

noch nicht266. Ein bewaffneter Konflikt muss aber andererseits der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs folgend auch nicht einen bestimmten Grad an Organisation der sich bekämpfenden Streitkräfte erreichen, um als ein solcher im Sinne der Vorschrift qualifiziert zu werden, sondern es ist entscheidender, ob hierdurch ein Gewaltniveau erreicht wird, durch das Zivilpersonen eine ernsthafte individuelle Gefährdung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit droht267. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich zumeist um Bürgerkriegsflüchtlinge handelt, muss weder ein Bürgerkrieg vorliegen noch die Schwelle zu einem solchen überschritten sein, um als bewaffneter Konflikt eingestuft zu werden268. Sofern der bewaffnete Konflikt nur regional besteht, muss der Bezugspunkt der Ermittlung der Gefährdungslage nicht zwangsläufig das gesamte Herkunftsland, sondern vielmehr die Herkunftsregion, in die der Antragsteller typischerweise zurückkehren würde, sein269. Dies kann dazu führen, dass manchen Ausländern der Schutzstatus zu versagen ist, wenn sie aus einer vergleichsweise sicheren oder verschonten Region eines Landes kommen, auch wenn dies insgesamt von Gewalt oder Bürgerkrieg beherrscht wird. 4. Ausschlusstatbestände § 4 AsylG regelt nicht nur die Voraussetzungen, die für die Gewährung des subsidiären Schutzes erfüllt sein müssen, sondern auch die Gründe, die die Gewährung des subsidiären Schutzes versagen. Gemäß § 4 Abs. 2 AsylG ist bei Vorliegen bestimmter Ausschlussgründe einem an sich subsidiär Schutzberechtigten der Schutzstatus zu versagen270. Die ersten drei Fallgruppen bezeichnen schwerwiegende Taten beziehungsweise Handlungen, die der Täter begangen oder an denen er gemäß § 4 Abs. 2 S. 2 AsylG beteiligt im Sinne der strafrechtlichen Regelungen der §§ 26, 27 StGB war271. Bis auf leichte Abweichungen gleichen sie vom Wortlaut her Ausschlussgründen nach § 3 Abs. 2 AsylG272. Zusätzlich ergibt sich aus der vierten Nummer ein weiterer Ausschlusstatbestand, dem keine für Flüchtlinge entsprechende Regelung zugrunde liegt. Die erste Fallgruppe verwehrt Ausländern, die Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, den Anspruch auf subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG). Für eine

266

BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, Az. 10 C 4/09, NVwZ 2011, 56 (58, Rn. 23). EuGH, Urteil vom 30.1.2014, Az. C-285/12, NVwZ 2014, 573 (574 f., Rn. 34). 268 Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 34. 269 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 51; Heusch (Fn. 37), Rn. 141. 270 Heusch (Fn. 37), Rn. 144. 271 Kluth (Fn. 22), § 3 AsylG Rn. 26. 272 Masuch/Hruschka (Fn. 45), § 4 Rn. 44. 267

II. Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes

71

konkrete Definition dieser Tatbestände ist hierbei auf die Art. 7 und 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 zurückzugreifen273. Eines Verbrechens gegen den Frieden ist derjenige schuldig, der entweder einen Angriffskrieg oder einen sonstigen Krieg, durch den internationale Verträge verletzt werden, plant, vorbereitet oder durchführt274. Hingegen fallen unter den Begriff „Kriegsverbrechen“ alle Maßnahmen gegen Personen oder Güter, die unter dem Schutz des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949 stehen275. Wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit macht sich schuldig, wer während eines Kriegs gravierende Akte der Unmenschlichkeit gegenüber der Zivilbevölkerung begeht, wie beispielsweise Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder Vergewaltigung276. Auch das Begehen einer schweren Straftat führt gemäß § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG zum Ausschluss der Zuerkennung des subsidiären Schutzes. Trotz des veränderten Wortlauts entspricht diese Fallgruppe § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG, sodass auch die Anforderungen dieselben sind und man den deutlich umfassenderen Wortlaut des § 3 AsylG für die Auslegung nutzen kann277. Als schwere Straftat ist zunächst ein Verbrechen nach den strafrechtlichen Wertungen der deutschen Rechtsordnung, also im Sinne des § 12 StGB zu verstehen, welches schwer sein muss, was insbesondere bei grausamen Handlungen und Kapitalverbrechen der Fall ist278. Daneben muss es sich um eine nichtpolitische Straftat handeln, also um ein Verbrechen, mit dem keinerlei politische Motive oder Ziele verfolgt werden, sondern eines, das lediglich aus persönlicher Motivation begangen wird279. Des Weiteren haben Handlungen gegen Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen den Ausschluss des subsidiären Schutzes zur Folge (§ 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AsylG). Dies zielt zuallererst auf das Verhalten von Personen ab, die das Handeln eines Staates an entscheidender Stelle beeinflussen können, da sich die Ziele der Vereinten Nationen grundsätzlich an die Staaten selbst richten280. Eine Ausnahme hiervon wird bei internationalem Terrorismus gemacht. Sowohl die europäische als auch die nationale Rechtsprechung haben mit Verweis auf die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats ausgeführt, dass terroristische Handlungen den Grundsätzen der Vereinten Nationen widersprechen, sodass der Ausschluss-

273

Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 22. Keßler (Fn. 207), § 3 Rn. 12; Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 22. 275 Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 22. 276 Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 22. 277 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 75; Keßler (Fn. 207), § 4 Rn. 23; Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 23. 278 Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 23. 279 UNHCR, Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, Neuaufl. 2011, Rn. 152. 280 UNHCR, Handbuch (Fn. 279), Rn. 163. 274

72

C. Der subsidiäre Schutz

tatbestand des § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AsylG dann auch auf Privatpersonen, die Mitglieder terroristischer Vereinigungen sind, anwendbar ist281. Sowohl für Handlungen gegen die Grundsätze der Vereinten Nationen als auch für die beiden hiervor stehenden Verwirklichungen von Straftaten gilt, dass keine wirksame strafrechtliche Verurteilung erforderlich ist282. Es ist ausreichend, wenn „hinreichende, auf Tatsachen gestützte Feststellungen“ von einigem Gewicht vorliegen283. § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG weicht von den anderen drei Fallgruppen deutlich ab. Subsidiärer Schutz ist Personen zu versagen, die eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Anknüpfungspunkt hierbei ist keine Handlung oder Straftat, die ein Ausländer bereits begangen hat. Es geht vielmehr um eine mögliche zukünftige Gefährdung. Unter einer solchen Gefahr für die Allgemeinheit versteht man eine Gefährdung, die nicht nur die Rechtsgüter des Einzelnen betrifft, sondern das sichere und freiheitliche Zusammenleben der gesamten Gesellschaft gefährdet, wenn staatliche Institutionen und Infrastrukturen in ihrem Bestand oder ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden284. Auch hierbei ist keine rechtskräftige Verurteilung oder eine sonstige Maßnahme von Seiten der Behörden erforderlich, sondern es wird direkt auf die Gefahrenlage abgestellt, die nachgewiesen werden muss285. Ist Hintergrund der Ausschluss des subsidiären Schutzes nach den ersten drei Gruppen, dass Straftäter besonders schwerer Taten keinen subsidiären Schutz verdient haben, so ist diese Gruppe vor allen Dingen präventiv und dient der Gefahrenabwehr286. Die Gefahr muss also zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Schutzstatus weiterhin fortbestehen287. Es müssen darüber hinaus schwerwiegende Gründe die Annahme einer dieser vier Fälle rechtfertigen. Dieses Merkmal, das den Ausnahmecharakter dieser Gruppen zeigen soll, bezieht sich auf die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines (weiteren) Schadenseintritts ist288. Für eine solche erforderliche Prognose

281 EuGH, Urteil vom 9.11.2010, Az. C-57 101/09, NVwZ 2011, 285 (286 f., Rn. 82 ff.); BVerwG, Urteil vom 19.11.2013, Az. 10 C 26/12, NVwZ-RR 2014, 283 (284, Rn. 12). 282 Bergmann (Fn. 143), § 4 Rn. 17; Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 20. 283 BVerfG, Beschluss vom 13.6.2005; Az. 2 BvR 485/05, NVwZ 2005, 1053 (1054 f., Rn. 22 f.). 284 Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 38. 285 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 76; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 37. 286 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 77; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 37. 287 Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 39. 288 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 78; Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 21, § 4 Rn. 40.

III. Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz im Vergleich

73

ist ein gewisser Grad an Gewissheit erforderlich289. Auch die Belange des Ausländers können bei der Frage der hinreichenden Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden290. Dies ist vor allem deshalb wichtig, da ansonsten keine Verhältnismäßigkeitsprüfung stattzufinden hat, da der Zweck dieser Ausschlussgründe die Feststellung der „Asylunwürdigkeit“ des Ausländers ist291. Auch wenn der Ausschluss des Schutzstatus und die damit drohende Abschiebung eines an sich ernsthaft Bedrohten nur ultima ratio sein kann292, so ist angesichts der Bedeutung der Schutzgüter dieser Ausschlusstatbestände bei einer abwägenden Entscheidung „keine Großzügigkeit zugunsten des Ausländers geboten“293.

III. Internationaler Schutz: Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz im Vergleich Durch die Qualifikationsrichtlinie wurde nicht nur der subsidiäre Schutz geregelt, sondern er wurde auch neben dem Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention ein Teil des unionsrechtlich neugeschaffenen internationalen Schutzes. Beide Schutzformen entstammen nicht dem nationalen Recht, wie das Asylrecht gemäß Art. 16a GG, sondern dem supranationalen beziehungsweise internationalen Recht. Sowohl die Flüchtlingseigenschaft als auch der subsidiäre Schutz sind in den europarechtlichen Regelungen der Qualifikationsrichtlinie normiert294. Der Flüchtlingsschutz ist allerdings deutlich älter und fußt in der Genfer Flüchtlingskonvention. Als Reaktion auf die Grausamkeiten und die Verfolgung von Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus sowie als Reaktion auf die Flüchtlingsströme in Europa nach dem zweiten Weltkrieg sollte ein verbindlicher völkerrechtlicher Vertrag geschaffen werden, um die Rechtsstellung von Flüchtlingen zu verbessern295. Am 28. Juli 1951 wurde deshalb die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet. Neben einem erstmalig geregelten individuellen Rechtsanspruch beinhaltet die Konvention grundlegende Regelungen zu einem einheitlichen Flüchtlingsbegriff, das Recht auf Nichtzurückweisung in das Land, in dem eine Verfolgung droht (Non-Refoulement, Grundsatz der Nichtzurückweisung) sowie bestimmte Rechte in dem Aufnahmestaat296. Das

289

Heusch (Fn. 37), Rn. 144. Heusch (Fn. 37), Rn. 144. 291 EuGH, Urteil vom 9.11.2010, Az. C-57 101/09, NVwZ 2011, 285 (288, Rn. 101 ff.); Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 80. 292 BVerwG, Urteil vom 7.10.1975, Az. I C 46/69, BVerwGE 49, 202 (209, Rn. 44). 293 Heusch (Fn. 37), Rn. 144. 294 Ausführlicher zur Qualifikationsrichtlinie s C. I. 2. 295 B. Huber/J. Eichenhofer/P. Endres de Oliveira, Aufenthaltsrecht, 2017, Rn. 1710; L. E. Tödter, Die Anerkennung als Flüchtling in Fällen von Bürgerkriegen, 2015, S. 11. 296 P. Haubner/M. Kalin, Einführung in das Asylrecht, 2017, Rn. 7. 290

74

C. Der subsidiäre Schutz

Abkommen wurde am 31. Januar 1967 durch ein Zusatzprotokoll297 modifiziert, durch das die zeitliche sowie geographische Beschränkung der Genfer Flüchtlingskonvention wegfiel. In ihrer ursprünglichen Fassung galten als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 A Nr. 2, B Nr. 1 GFK nur Personen, die infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 in Europa eingetreten sind, geflüchtet sind. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist für alle Vertragsstaaten in ihrer durch das Zusatzprotokoll nur minimal veränderten Form seit 1951 gültig, sodass wenn heute von der Genfer Flüchtlingskonvention gesprochen wird, immer das Abkommen von 1951 zusammen mit dem Zusatzprotokoll gemeint ist298. Wie bereits beschrieben, gleichen sich die beiden Institute in vielen Punkten respektive ist der subsidiäre Schutz an den Flüchtlingsschutz angelehnt. Dementsprechend ist die trennscharfe Abgrenzung beider Schutzformen oftmals schwierig. Aus diesem Grund werden nachfolgend die entscheidenden Unterschiede dieser beiden Institute sowohl auf der Tatbestands- als auch auf der Rechtsfolgenebene dargelegt. 1. Die Tatbestandsebene Die Tatbestandsvoraussetzungen beider Schutzinstitute sind in den §§ 3 ff. AsylG geregelt. Der Wortlaut beider Grundnormen, § 3 und § 4 AsylG, ist hierbei sehr ähnlich. Ein Ausländer ist demnach Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes befindet, wohingegen er subsidiär Schutzberechtigter ist, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass ihm ein ernsthafter Schaden in seinem Herkunftsland droht. Es lassen sich also drei Grundvoraussetzungen herauskristallisieren: Verfolgung beziehungsweise drohender ernsthafter Schaden, begründete Furcht beziehungsweise stichhaltig begründete Annahme, Herkunftsland. Außerdem sind in den §§ 3c–e AsylG noch weitere Voraussetzungen geregelt, die für beide Institute gelten. Dazu folgen in den jeweiligen zweiten Absätzen der Grundnormen mögliche Ausschlussgründe. a) Tatbestandsvoraussetzungen Zunächst setzt also der Flüchtlingsschutz eine Verfolgung voraus, während der subsidiäre Schutz einen drohenden ernsthaften Schaden verlangt. Der Ausländer muss hierbei wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Es handelt sich also um individuelle Merkmale, die sich aus der Person des Ausländers selbst ergeben beziehungsweise aus der Reaktion von Menschen auf indi-

297 Protokoll vom 31. Januar 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. 1969 II 46, 17.7.1969, S. 1293 ff. 298 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht (Fn. 4), Rn. 35.

III. Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz im Vergleich

75

viduelle Merkmale des Ausländers. Die als Verfolgung im Sinne dieser Vorschrift geltenden Handlungen sind in § 3a AsylG näher geregelt. Insbesondere handelt es sich bei schwerwiegenden Verletzungen grundlegender Menschenrechte um Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), aber auch bei Maßnahmen unterhalb dieser Stufe, wenn sie kumuliert eine ähnliche Intensität erreichen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Die Verfolgungsgründe, die schon in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgelistet sind, werden in § 3b AsylG konkretisiert. Nach § 3b Abs. 2 AsylG ist es unerheblich, ob die Verfolgungsgründe tatsächlich vorliegen, solange der Verfolger dem Verfolgten diese Merkmale zuschreibt. Während die Flüchtlingseigenschaft also an subjektive und individuelle Merkmale anknüpft, knüpft der subsidiäre Schutz an objektive Merkmale an. Todesstrafe und Folter können einem zwar auch aufgrund der Rasse, Religion oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe drohen. Und auch § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG stellt dem Wortlaut nach auf eine individuelle Bedrohung ab. Jedoch sind diese Untergruppen des ernsthaften Schadens nicht von bestimmten Intentionen des Schädigers oder individuellen Anknüpfungsmerkmalen des Schutzsuchenden abhängig299. Es geht nicht um die Motivation der Verfolger, sondern um die Schutzbedürftigkeit der Verfolgten300. Es wird also nicht auf subjektive Begriffe, sondern allein auf den objektiven Gefahrenbegriff abgestellt301, also ob rein objektiv die Todesstrafe, Folter oder eine individuelle Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts drohen. Bei Konventionsflüchtlingen ist die begründete Furcht vor der Verfolgung entscheidend. Bei subsidiär Schutzberechtigten müssen stichhaltige Gründe vorgebracht werden, die die Annahme der Bedrohung eines ernsthaften Schadens stützen. Während die Betrachtungsweise bei Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund des Merkmals der „Furcht“ eine gewisse subjektive Prägung hat302, ist dies bei dem subsidiären Schutzstatus nicht der Fall, woran sich wie zuvor zeigt, dass für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft deutlich subjektivere Maßstäbe anzuwenden sind. Dieser Unterschied darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in beiden Fällen die Voraussetzungen sehr ähnlich sind. So ist bei beiden Prüfungen ein gewisser Prognosemaßstab erforderlich, für den auf das Merkmal der „Verfolgungsdichte“ beziehungsweise der „Gefahrendichte“ zurückgegriffen wird303. Diese Merkmale entsprechen einander304. Hierunter versteht 299

Heusch (Fn. 37), Rn. 128. U. Becker, Die Zukunft des europäischen und deutschen Asylrechts, in: Walter/ Burgi, Flüchtlingspolitik (Fn. 174), S. 55 (79). 301 R. Marx, Asylgesetz, 10. Aufl. 2019, § 4 AsylG Rn. 9. 302 Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 12. 303 Goebel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Flüchtlingsrecht (Fn. 298), Rn. 118. 304 U. Berlit, Die Bestimmung der „Gefahrendichte“ im Rahmen der Prüfung der Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter, ZAR 2017, S. 110 (111). 300

76

C. Der subsidiäre Schutz

man die Wahrscheinlichkeit, einem ernsthaften Schaden ausgesetzt zu sein305. Die im Mittelpunkt dieser Prüfung stehende „begründete Furcht“, also die „begründete oder beachtliche Wahrscheinlichkeit“ einer Verfolgungsgefahr für den Nachweis der Flüchtlingseigenschaft306 und das Merkmal der „stichhaltigen Gründe“ für den Nachweis der subsidiär Schutzbedürftigkeit unterscheiden sich nicht voneinander307. Diese Wahrscheinlichkeit ist beachtlich, wenn die für die Annahme einer Verfolgungsgefahr beziehungsweise für das Vorliegen von stichhaltigen Gründen sprechenden Tatsachen von größerem Gewicht sind als die dagegensprechenden Umstände308. Eine „beachtliche Wahrscheinlichkeit“ kann auch schon bei einem Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % möglich sein309. Daneben sind noch weitere Voraussetzungen zu erfüllen. Zum einen muss für die Zuerkennung der subsidiär Schutzbedürftigkeit der Schaden im Herkunftsland drohen (§ 4 S. 1 AsylG). Und auch für die Anerkennung als Flüchtling muss der Ausländer sich gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG außerhalb seines Herkunftslandes befinden und dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen (wollen). Für beide Arten des internationalen Schutzes gilt hier der gleiche Maßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylG auch ausformuliert ist. Unter Herkunftsland versteht man das Land, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt beziehungsweise für den Fall der Staatenlosigkeit, in dem er sich früher gewöhnlich aufgehalten hat. Die Definition ergibt sich für beide aus Art. 2 lit. n der Qualifikationsrichtlinie. Weitere Voraussetzungen für die Anerkennung als Konventionsflüchtling ergeben sich aus den §§ 3c–3e AsylG. Diese gelten über den Verweis in § 4 Abs. 3 AsylG auch für den subsidiären Schutz. Gemäß § 3c AsylG sind verfolgende Akteure der Staat und daneben auch Parteien oder Organisatoren, die den Staat oder wesentliche Teile hiervon beherrschen. Dieselben Akteure sind auch gemäß § 3d AsylG die Einzigen, die Schutz bieten können. Sofern dies von ihnen nicht gewährleistet werden kann, kann auch ein ernsthafter Schaden von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, falls der Staat oder die Parteien beziehungsweise Organisationen

305 Tiedemann, Gefahrendichte (Fn. 262), ZAR 2016, S. 53; ausführlicher zur Gefahrendichte im Rahmen der Prüfung der ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bereits oben unter C. II. 3. 306 BVerwG, Beschluss vom 7.2.2009, Az. 10 C 33/07, BeckRS 2008, 33994 (Rn. 37); BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, Az. 10 C 5/09, BVerwGE 136, 377 (384, Rn. 22). 307 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 61; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 32. 308 BVerwG, Beschluss vom 7.2.2009, Az. 10 C 33/07, BeckRS 2008, 33994 (Rn. 37); OVG Lüneburg, Urteil vom 31.5.2016, Az. 11 LB 53/15, BeckRS 2016, 47530 (Rn. 24). 309 BVerwG, Beschluss vom 7.2.2009, Az. 10 C 33/07, BeckRS 2008, 33994 (Rn. 37); Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 3 AsylG Rn. 8; Goebel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Flüchtlingsrecht (Fn. 298), Rn. 119.

III. Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz im Vergleich

77

keinen Schutz gewährleisten können (§ 3c Nr. 3 AsylG). Aus § 3e AsylG ergibt sich die Pflicht der Behörden, innerstaatliche Schutzalternativen zu überprüfen. b) Ausschlusstatbestände Neben diesen Tatbestandsvoraussetzungen sind sowohl für den Flüchtlingsschutz als auch für den subsidiären Schutz bestimmte Ausschlusstatbestände geregelt310. Die ersten drei Ausschlusstatbestände in § 3 Abs. 2 beziehungsweise § 4 Abs. 2 AsylG gleichen einander fast wortwörtlich. So ist die Anerkennung als Flüchtling oder der subsidiäre Schutz ausgeschlossen, bei Verbrechen gegen den Frieden, bei schweren nichtpolitischen Straftaten sowie bei Zuwiderhandlungen gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen. Die erste Fallgruppe schließt den Schutz für Ausländer aus, die Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 beziehungsweise § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AsylG). Für eine konkrete Definition ist hierbei für beide Gruppen auf die Art. 7 und 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998 zurückzugreifen311. Auch das Begehen einer schweren Straftat führt zum Ausschluss von der Zuerkennung subsidiären Schutzes. Trotz des veränderten Wortlauts von § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AsylG und § 3 Abs. 2 Nr. 2 AsylG entsprechen beide Gruppen einander, sodass auch die Anforderungen dieselben sind und man den deutlich umfassenderen Wortlaut des § 3 AsylG für die Auslegung nutzen kann, weshalb es hierbei auf die Begehung von schweren nichtpolitischen Straftaten ankommt312. Des Weiteren haben Handlungen gegen Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen den Ausschluss des subsidiären Schutzes zur Folge (§ 3 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 beziehungsweise § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AsylG). Bei dieser Fallgruppe ist § 4 AsylG ausführlicher, der die Quellen jener Ziele und Grundsätze nennt. Inhaltlich unterscheiden sich beide allerdings nicht. Nur für subsidiär Schutzsuchende gilt hingegen § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AsylG. Dieser weicht auch von den anderen drei Fallgruppen deutlich ab. Subsidiärer Schutz ist zusätzlich Personen zu versagen, die eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellen. Anknüpfungspunkt hierbei ist keine bereits begangene Handlung, sondern eine mögliche zukünftige Gefährdung. Im Gegensatz zu den ersten drei Fallgruppen, bei denen die ratio legis ist, dass Straftäter besonders schwerer Taten keinen Schutz verdient haben, so ist diese Gruppe vor allen Dingen präventiv und dient der Gefahrenabwehr313. 310 Ausführlich zu den Ausschlusstatbeständen beim subsidiären Schutz bereits oben unter C. II. 4. 311 Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 22. 312 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 75; Keßler (Fn. 207), § 4 Rn. 23; Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 23. 313 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 4 AsylG Rn. 77; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 37.

78

C. Der subsidiäre Schutz

2. Die Rechtsfolgen Während auf der Tatbestandsseite beide Schutzformen sich relativ ähnlich sind und beinahe nur Begriffe ausgetauscht werden müssen, zeichnet die Rechtsfolgenseite ein deutlich differenziertes Bild. Zwar führt die Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter zunächst zu einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 S. 1 AufenthG, sodass sich beide Gruppen zumindest in diesem Punkt nicht unterscheiden. Indes weichen die weiteren Rechte, die mit einer Aufenthaltserlaubnis einhergehen, dann doch in einigen Punkten voneinander ab. Nach Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichten sich die Vertragsstaaten, Flüchtlingen einen einheitlich geregelten Reiseausweis nach der Vorlage des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention auszustellen. Mit diesem Reisedokument, in Deutschland auch „blauer Pass“ genannt, können sich Flüchtlinge in der Bundesrepublik sowie im Ausland relativ frei bewegen, da beispielsweise Mitgliedstaaten des Europarats bei Vorliegen dieses Ausweises kein Visum verlangen314. Dies ist auch in Art. 25 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie festgehalten. Für subsidiär Schutzberechtigte hingegen gibt es einen vergleichbaren Ausweis nicht. Für sie sind nach Art. 25 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie andere Dokumente für Reisen auszustellen, sofern sie keinen nationalen Pass erhalten können. Subsidiär Schutzberechtigte sollen sich also grundsätzlich um einen eigenen nationalen Pass bemühen, bevor ihnen der Aufnahmestaat einen Reiseausweis ausstellt315. In Deutschland können subsidiär Schutzberechtigte einen Reiseausweis für Ausländer, auch „grauer Pass“ genannt, gemäß § 5 AufenthV beantragen. Im Gegensatz zu dem „blauen Pass“ für Flüchtlinge haben sie hierauf jedoch keinen Anspruch; die Erteilung liegt im Ermessen der Behörden316. Die Voraussetzungen hierfür ergeben sich aus den §§ 5 ff. AufenthV. Nicht nur die Reisemöglichkeiten können für subsidiär Schutzberechtigte beschränkt werden, sondern auch die Sozialleistungen. Gemäß Art. 29 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie können Mitgliedstaaten die Sozialhilfe für subsidiär Schutzberechtigte auf sogenannte Kernleistungen beschränken. Diese Beschränkung gilt nicht für Konventionsflüchtlinge. In Deutschland hingegen hat der Gesetzgeber von dieser durch die Richtlinie gegebenen Beschränkungsermächtigung keinen Gebrauch gemacht. In Deutschland sind sowohl Flüchtlinge als auch subsidiär Schutzberechtigte bei Sozialhilfeleistungen nach SGB II beziehungsweise SGB XII (§ 7 Abs. 1 S. 3 SGB II i.V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG), bei Kindergeld (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 EStG beziehungsweise § 1 Abs. 3 Nr. 2 BKGG), bei Elterngeld (§ 1 Abs. 7 Nr. 2 BEEG) sowie bei der Ausbildungsförderung (§ 8 314 K. Müller, in: Hofmann, Ausländerrecht (Fn. 207), 8.5, Merkblatt für Asylberechtigte, international und national Schutzberechtigte, Rn. 2. 315 Müller (Fn. 207), 8.5, Merkblatt für Asylberechtigte, international und national Schutzberechtigte, Rn. 2. 316 D. Bender, in: Hofmann, Ausländerrecht (Fn. 207), § 3 Rn. 8.

III. Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz im Vergleich

79

Abs. 2 Nr. 1 BAFöG beziehungsweise § 59 Abs. 1 SGB III) deutschen Staatsbürgern gleichgestellt. Somit ist zwar auf europarechtlicher Ebene eine Schlechterstellung von subsidiär Schutzberechtigten bei Sozialleistungen rechtlich möglich. In Deutschland hingegen gibt es hier keinen Unterschied. Obgleich es in Teilen der Öffentlichkeit den festen Glauben gibt, dass insbesondere der temporäre Charakter das Alleinstellungsmerkmal des subsidiären Schutzes ist und sich somit die beiden Schutzstatus hinsichtlich der Haltbarkeit des Aufenthaltstitels stark unterscheiden, ist dies doch recht ähnlich geregelt. Die Dauer des Aufenthaltstitels sowohl für Konventionsflüchtlinge als auch subsidiär Schutzberechtigte ergibt sich aus Art. 25 der Qualifikationsrichtlinie. Gemäß § 26 Abs. 1 S. 2 AufenthG wird Ausländern, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird, eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erteilt. Sofern die Voraussetzungen für den subsidiären Schutz vorliegen, ergibt sich die Dauer des Aufenthaltsrechts aus § 26 Abs. 1 S. 3 AufenthG, nach dem einem subsidiär Schutzberechtigten eine Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr, bei Verlängerung für zwei weitere Jahre erteilt wird. Die Verlängerung steht hierbei im Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde und wird erst auf Antrag erteilt317. Der Aufenthaltstitel wird regelmäßig verlängert, sofern das Schutzbedürfnis nach einem Jahr noch fortbesteht318. Im Anschluss an die drei Jahre kann eine Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG erteilt werden. Dies gilt sowohl für Flüchtlinge als auch für subsidiär Schutzberechtigte. Die Aufenthaltsdauer kann also gleich lang sein. Dies wird auch durch empirische Untersuchungen unterstützt, die zeigen, dass die tatsächliche Aufenthaltsdauer beider Gruppen in Deutschland kaum voneinander abweicht319. Vor diesem Hintergrund ist es irreführend, den subsidiären Schutz als „vorübergehend“ oder „vorläufig“ zu bezeichnen, auch wenn dies teilweise zu lesen ist. Denn die Aufenthaltstitel für Konventionsflüchtlinge sind genauso befristet. Beide Schutzstatus sind genauso vorübergehend beziehungsweise vorläufig wie sie es beide zugleich auch nicht sind. Sowohl der subsidiäre Schutz als auch die Flüchtlingseigenschaft besteht – von den praktischen Problemen bei Rückführungen, die bei beiden Gruppen bestehen, abgesehen – mindestens und zugleich nur, solange die Schutzbedürftig-

317 H.-G. Maaßen/W. Kluth, in: Heusch/Kluth, Ausländerrecht (Fn. 22), § 26 AufenthG Rn. 8; J. Mantel, Schutzberechtigt, aber ungleich behandelt, Asylmagazin 2018, S. 397 (399). 318 R.Göbel-Zimmermann/L. Hupke, in: Huber, Aufenthaltsgesetz (Fn. 45), § 26 Rn. 3. 319 M. Maier-Borst, Zu Verschärfungen in der deutschen Ausländer- und Flüchtlingspolitik, in: Beichel-Benedetti/Janda, Festschrift Klaus Barwig (Fn. 93), S. 442 (450 f.); vgl. hierzu den 9. Bericht der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland zur alten Rechtslage, Juni 2012, S. 280 Fn. 1122, abrufbar unter: https://www.bundesregierung.de/resource/ blob/975292/732994/29f4015417300767b4e594e5ce87d413/2012-12-18-9-lageberichtdownload-ba-ib-data.pdf?download=1 (zuletzt abgerufen am 4.5.2020).

80

C. Der subsidiäre Schutz

keit wegen drohenden ernsthaften Schadens oder Verfolgung andauert320. Die Rechtsfolgen unterscheiden sich somit dennoch, da nicht beiden sofort drei Jahre Aufenthalt gewährt wird, jedoch in einem sehr geringen Maße. Ein entscheidender Unterschied auf Rechtsfolgenseite hingegen ist hinsichtlich der Familienzusammenführung gegeben. So galten für viele Jahre für subsidiär Schutzberechtigte nicht die gleichen Möglichkeiten, ihre Familie nachzuholen, wie für Konventionsflüchtlinge. Nach einer kurzen Zeit der Angleichung der Regelungen zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen ist die Familienzusammenführung nun durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz wieder unterschiedlich geregelt321. Im Gegensatz zu diesen unterschiedlich geregelten Rechtsfolgen gewähren sowohl die Anerkennung als Flüchtling als auch der subsidiäre Schutz in anderen Punkten die gleichen Rechte. So unterscheidet die Qualifikationsrichtlinie in einigen Fragen nicht zwischen diesen beiden Gruppen des internationalen Schutzes oder gestattet abweichende Regelungen für subsidiär Schutzberechtigte. Dies führt zu einer Gleichstellung im Hinblick auf die Beschäftigungslage (Art. 26, 28 Qualifikationsrichtlinie), den gleichen Zugang zu Bildung (Art. 27 Qualifikationsrichtlinie), medizinischer Versorgung (Art. 30 Qualifikationsrichtlinie) und Integrationsleistungen (Art. 34 Qualifikationsrichtlinie) sowie zu den gleichen Rechten für den Antragsteller begleitende Familienangehörige (Art. 23 Qualifikationsrichtlinie)322. 3. Schlussfolgerungen Vor den Verwaltungsgerichten in Deutschland ist es in den letzten Jahren zu einem deutlichen Anstieg von Verpflichtungsklagen von subsidiär Schutzberechtigten gekommen, die, nachdem ihnen dieser Schutzstatus erteilt wurde, auf die Erteilung des Flüchtlingsstatus klagen323. Sie wollen also „hochgestuft“ werden. Die Gründe hierfür sind ersichtlich. Es zeigt sich, dass die Tatbestandsebene beider Schutzinstitute sehr ähnlich sind, sodass eine eindeutige Einteilung nicht immer trennscharf möglich ist. So kann sich die Voraussetzung der individuellen Gefährdung für die Berechtigung des subsidiären Schutzes aus in der Person des Ausländers ergebener Umstände, wie beispielsweise der beruflichen Stellung als Arzt oder wegen der religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit, ergeben324. Die Verfolgung aufgrund der Rasse, Religion oder Zugehörigkeit zu einer bestimm320 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 411 f.; Marx, Handbuch (Fn. 165), § 38 Rn. 5. 321 Ausführlich zu der Regelungshistorie, den Unterschieden im Familiennachzug sowie den neuen Regelungen des Familiennachzugneuregelungsgesetz s. D. 322 Tödter, Anerkennung (Fn. 295), S. 44. 323 Kluth (Fn. 22), § 3 Rn. 7a. 324 BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, Az. 10 C 4/09, NVwZ 2011, 56 (60, Rn. 33); Urteil vom 17.11.2011, Az. C 13/10, NVwZ 2012, 454 (455, Rn. 18).

III. Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz im Vergleich

81

ten sozialen Gruppe ist jedoch auch Tatbestandsvoraussetzung für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine eindeutige Trennung zwischen Flüchtlingsschutz und subsidiärem Schutz ist also kaum möglich. Oftmals ist im Vorhinein auch nicht vorherzusehen, welchen Schutzstatus ein Antragsteller erhält325. So sind beispielsweise die Vorgaben, mit deren Hilfe das BAMF die Einstufung vornimmt, die sog. Herkunftsländerleitlinien, nicht öffentlich einsehbar und können sich im Zuge einer Veränderung der politischen Einschätzung mitverändern326. Darüber hinaus sind auch die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen entweder identisch oder aber aneinander angelehnt. So ähneln sich bei beiden die Merkmale der „Gefahrendichte“ beziehungsweise „Verfolgungsdichte“, beide gehen vom gleichen Begriff des Herkunftslandes aus und die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der §§ 3c–3e AsylG sind fast deckungsgleich327. Die schwierige Trennbarkeit der beiden Schutzinstitute sowie die Ähnlichkeit vieler Tatbestandsvoraussetzungen ergeben sich auch daraus, dass sich der Schutzbedarf beider Gruppen kaum unterscheidet. In allen Unterfällen sowohl des subsidiären Schutzes als auch des Flüchtlingsschutzes drohen den Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Beeinträchtigungen grundlegender Menschenrechte und Rechtsgüter, die nicht auf einer Skala von „weniger“ bis „mehr“ verletzend gemessen werden können328. Diametral zu den ähnlichen Tatbestandsvoraussetzungen und trotz des fast gleichen Schutzbedarfs unterscheiden sich die Rechtsfolgen von subsidiärem Schutz einerseits und Flüchtlingsschutz andererseits deutlich. So bieten sich für Flüchtlinge bessere und einfache Reisemöglichkeiten mit dem „blauen Pass“, die Zusammenführung mit ihrer Familie ist leichter beziehungsweise überhaupt möglich und die Aufenthaltserlaubnis ist direkt für drei Jahre gewährt329. Im Gegensatz zu dem Schutzbedarf können bei den Rechtsfolgen die Schutzinstitute auf einer Skala von „weniger“ bis „mehr“ Rechten gemessen werden. Folglich ist es verständlich, weshalb so viele subsidiär Schutzberechtigte versuchen, vor den Verwaltungsgerichten die Eigenschaft als Konventionsflüchtling zuerkannt zu bekommen. Der europäische sowie der deutsche Gesetzgeber haben aufgrund der Vergleichbarkeit der Schutzbedürftigkeit von subsidiären Schutz und Flüchtlingsschutz auch die Tatbestandsebene ähnlich gestaltet. Doch auf Rechtsfolgenebene wurde auf etwas Vergleichbares verzichtet. Die Gründe hierfür sind verschieden und eher rechtspolitischer denn rechtsdogmatischer Natur. Zum einen handelt es sich bei der Qualifikationsrichtlinie und damit auch bei dem durch sie eingeführten internationalen Schutz um einen legislativen Kompromiss. Zum anderen ist ein Schutzstatus, der nicht an jahrzehntealte völkerrechtlich verbindliche Ver325 326 327 328 329

Haubner/Kalin, Einführung Asylrecht (Fn. 296), Rn. 29. Haubner/Kalin, Einführung Asylrecht (Fn. 296), Rn. 29. Ausführlich hierzu s. C. III. 1. a). Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 412 f. Ausführlich hierzu, s. C. III. 2.

82

C. Der subsidiäre Schutz

träge gebunden ist, ein einfach veränderbares Steuerungsinstrument der Migration. Die Qualifikationsrichtlinie verbindet einerseits das Anliegen, die unterschiedlichen nationalen Schutzstatus zu vereinheitlichen und dadurch einen verglichen mit dem Flüchtlingsschutz schwächeren Schutz einzuführen, andererseits das Ziel einer Harmonisierung der verschiedenen völkerrechtlichen Verpflichtungen330. Aufgrund dieses legislativen Kompromisses wurden einerseits die Voraussetzungen vielfach gleich geregelt, um eine internationale Harmonisierung herbeizuführen. Andererseits unterscheiden sich die Rechtsfolgen der Anerkennung in vielen Punkten331, da eine Vereinheitlichung der vorherigen subsidiären Schutzsysteme, die oftmals aus Abschiebeverboten und Duldungen mit weniger Rechten bestanden, angestrebt wurde. Dazu entstand die Genfer Flüchtlingskonvention vor einem anderen zeitgeschichtlichen Hintergrund mit anderen politischen Bestrebungen als die Qualifikationsrichtlinie. Die Bedeutung dieser historisch-politischen Umstände ist mit zu berücksichtigen. Die Genfer Flüchtlingskonvention ist entstanden, um die Migrationsbewegungen infolge des Zweiten Weltkrieges zu bewältigen sowie die Lage der Flüchtlinge zu verbessern und war zunächst auch nur auf Europa begrenzt. Die Qualifikationsrichtlinie und ihre nationalen Umsetzungen folgten nach den starken Fluchtbewegungen in Folge der Balkankriege und schon unter dem Eindruck einer zunehmenden Migration vom afrikanischen Kontinent und aus dem Nahen Osten. Die Begrenzung der Aufnahme auf tatsächlich schutzbedürftige Menschen, das Verhindern falscher Anreize beziehungsweise „Pull-Faktoren“ sind inzwischen entscheidende staatliche Anliegen in der europäischen sowie einzelstaatlichen Migrationspolitik. Um diese Ziele zu erreichen und als Steuerungsinstrument der Migration wurden die Rechte für subsidiär Schutzberechtigte eingeschränkt. Für Flüchtlinge ist dies aufgrund der vertraglichen Bindung der Genfer Flüchtlingskonvention nur begrenzt möglich. Dass die Änderung der Rechtsfolgen des subsidiären Schutzes als migrationspolitisches Steuerungsinstrument beim Gesetzgeber beliebt ist, verdeutlichen beispielsweise die Veränderungen der Regelungen des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Nach einer Angleichung der Rechtsstellung 2014 wurde kurz nach der sog. Flüchtlingskrise im Herbst 2015 im Zuge des „Asylpakets II“332 der Familiennachzug wieder ausgesetzt333. Aus diesen Gründen ist die Rechtsfolgenebene der beiden Teile des internationalen Schutzes, Flüchtlingsschutz und subsidiärer Schutz, unterschiedlich gestaltet und unterscheidet sich damit von der ähnlich gestalteten Tatbestandsebene.

330

Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 410. Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 410; für einen ausführlichen Vergleich zwischen subsidiärem Schutz und Flüchtlingseigenschaft s. III. 332 Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren, BGBl. 2016 I 12, 16.3. 2016, S. 390 ff. (Asylpaket II). 333 C. Mungan/S. Muy/D. Weber, Familientrennung auf Dauer?, Asylmagazin 2018, S. 406. 331

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

83

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen Die soeben dargestellte fehlende trennscharfe Abgrenzung zwischen subsidiär Schutzberechtigten und Flüchtlingen führt dazu, dass zwischen Behörden und Gerichten oftmals Uneinigkeit bezüglich der richtigen Statusgewährung für bestimmte Antragsteller herrscht. In den letzten Jahren stellten syrische Staatsangehörige, die in Folge des dort herrschenden Bürgerkriegs nach Deutschland geflogen sind, die größte Gruppe von Asylantragsstellern334. Zwar ist es richtig, dass genauso wenig wie es „den syrischen Staatsangehörigen“ gibt, es „den Schutzstatus des syrischen Staatsangehörigen“ gibt. Es ist immer der Einzelfall zu betrachten. Doch da viele syrische Staatsangehörige in den letzten Jahren aus sehr ähnlichen Gründen geflohen und ihre Hintergründe vergleichbar sind, ist es zumindest möglich, über viele der Fälle eine allgemeinere Aussage zu treffen, obgleich dies natürlich nicht die Prüfung des Einzelfalls ersetzt. Darüber hinaus ist es in der Debatte um den subsidiären Schutz und insbesondere um den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten hilfreich, wenn Anhaltspunkte bestehen, ob syrische Staatsangehörige als größte Gruppe von Schutzsuchenden, die in den letzten Jahren nach Deutschland gezogen sind, eher als Konventionsflüchtlinge oder vielmehr als subsidiär Schutzberechtigte zu qualifizieren sind. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) selbst erkannte bis zum Frühjahr 2016 bei Syrern die Flüchtlingseigenschaft an, ehe es seine Verwaltungspraxis hierzu änderte und vielfach stattdessen subsidiären Schutz zuerkannte335. Die Anforderungen an die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus unterscheiden sich gegenüber denjenigen des subsidiären Schutzes unter anderem und insbesondere in den für die meisten Syrer relevanten Fällen dadurch, dass die Antragsteller begründet befürchten müssen, nicht willkürlich, sondern gezielt Opfer einer Verfolgungshandlung zu werden, weil sie ein nach § 3b Abs. 1 AsylG als Verfolgungsgrund anerkanntes Merkmal tatsächlich oder in der Vorstellung des Verfolgungsakteurs (§ 3b Abs. 2 AsylG) erfüllen336. Es geht also im Kern um die Frage, ob ein solcher Verfolgungsgrund bei dem Großteil der syrischen Staatsangehörigen vorliegt und ob deshalb eine Verfolgung hinreichend wahrscheinlich ist. Wie unklar die Lage ist und wie kompliziert es ist, diese Frage eindeutig zu beantworten, zeigt sich schon daran, dass in den letzten beiden Jahren sowohl das 334 BAMF, Asylgeschäftsbericht 12/2016, 11.1.2017; Asylgeschäftsbericht 12/2017, 16.1.2019, S. 2; Asylgeschäftsbericht 12/2018, 23.1.2019, S. 2. 335 Pro Asyl, BAMF-Entscheidungspraxis geändert: Für immer mehr SyrerInnen wird der Familiennachzug ausgesetzt, Rechtspolitisches Papier Familiennachzug aktuell, 23.5.2016, S. 3, abrufbar unter: https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2015/12/ Rechtspolitisches-Papier_Familiennachzug_aktuell_f inal.pdf (zuletzt abgerufen am 27.6.2019). 336 T. Ellerbrok/L. Hartmann, Flüchtlingsstatus statt subsidiärer Schutz für syrische Staatsangehörige?, NVwZ 2017, S. 522.

84

C. Der subsidiäre Schutz

BAMF als auch verschiedenste Verwaltungsgerichte in Deutschland zu ganz unterschiedlichen Einschätzungen gekommen sind. So wurden beispielsweise vom BAMF im Jahr 2019 45.838 Asylanträge und im Jahr 2018 43.875 Asylanträge von syrischen Staatsbürgern entschieden; hierbei wurde 2019 22.705 und 2018 18.246 Syrern die Rechtsstellung als Flüchtling sowie 2019 15.173 und 2018 18.411 der subsidiäre Schutz gewährt337. 2017 sah das Bild ähnlich aus: Von 99.527 Entscheidungen über Asylanträge gewährte das BAMF 34.880 syrischen Bürgern den Flüchtlingsstatus und 55.697 den subsidiären Schutz338. Dieses nicht eindeutige Bild setzt sich bei den Verwaltungsgerichten fort. So haben unter anderem in der ersten Instanz die Verwaltungsgerichte Trier, Köln, Berlin, Osnabrück, Oldenburg, Düsseldorf und Regensburg339 syrischen Staatsangehörigen den Flüchtlingsstatus zuerkannt, wohingegen die Oberverwaltungsgerichte Münster, Saarlouis und Schleswig340, aber auch beispielsweise das Verwaltungsgericht Minden341 bei der Gewährung des subsidiären Schutzes verblieben sind. Im Folgenden sollen die Positionen der verschiedenen Gruppen verglichen und bewertet werden. 1. Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft Wenn man dem beinahe einhelligen Tenor der erstinstanzlichen Rechtsprechung folgt, so sind syrische Antragsteller als Flüchtlinge zu qualifizieren342. Hierbei ähneln sich die Sachverhalte in dem Punkt, dass die syrischen Antragsteller vor ihrer Ausreise eine Verfolgung aufgrund individueller Merkmale nicht fürchten mussten und nach Ansicht der Verwaltungsgerichte erst aufgrund ihrer Ausreise nun eine solche Verfolgung fürchten müssen343. So fasst das Verwaltungsgericht Trier in seinem ersten amtlichen Leitsatz folgende kumulativ vorzu-

337 2019: BAMF, Aktuelle Zahlen, Ausgabe Dezember 2019, 31.12.2019, abrufbar unter: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuellezahlen-dezember-2019.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (zuletzt abgerufen am 1.7. 2020); 2018: BAMF, Asylgeschäftsbericht 12/2018, 23.1.2019, S. 2. 338 BAMF, Asylgeschäftsbericht 12/2017, 16.1.2019, S. 2. 339 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312; VG Köln, Urteil vom 24.4.2017, Az. 20 K 7836/16.A, BeckRS 2017, 108133; VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554; VG Osnabrück, Urteil vom 5.12.2016, Az. 7 A 35/16, BeckRS 2016, 111276, VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016, Az. 2 A 5162/16, BeckRS 2016, 54680; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016, Az. 3 K 7501/16.A, BeckRS, 2016, 108517; VG Regensburg, Urteil vom 29.6.2016, Az. RN 11 K 16.30723, BeckRS 2016, 49134. 340 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 ff.; OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 ff.; OVG Schleswig, Urteil vom 23.11.2016, Az. 3 LB 17/16, BeckRS 2016, 110100. 341 VG Minden, Urteil vom 22.12.2016, Az. 1 K 5137/16.A, BeckRS 2016, 110250. 342 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 522. 343 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 523.

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

85

liegende Voraussetzungen zusammen, die gegeben sein müssen, damit eine Verfolgung und damit die Flüchtlingseigenschaft gegeben sind: „Asylsuchenden aus Syrien droht bei ihrer hypothetischen Rückkehr weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in Form menschenrechtswidriger Behandlung, wenn sie illegal aus Syrien ausgereist sind, sich länger im westlichen Ausland aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt haben, da ihnen unter diesen Voraussetzungen seitens des syrischen Staats im Regelfall eine regierungsfeindliche Überzeugung zugeschrieben wird.“344

Allein aufgrund ihrer Flucht und des Aufenthalts und der Antragstellung in Deutschland schreibe das syrische Regime folglich den Antragstellern eine oppositionelle oder regimefeindliche Gesinnung zu, gleich wie die tatsächliche politische Position ist345. Durch diese politische Einordnung des syrischen Regimes entstünde eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung, sodass den syrischen Staatsangehörigen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei. Dieser Ansicht haben sich viele Verwaltungsgerichte angeschlossen346. Das Entscheidende an dieser Argumentation ist, dass die von dem Verwaltungsgericht Trier aufgestellten Voraussetzungen auf beinahe alle syrischen Staatsangehörigen, die Schutz in Deutschland suchen, zutreffen. Somit wären (fast) alle syrischen Antragsteller Konventionsflüchtlinge. Bei der Flucht, dem Aufenthalt und der Asylantragstellung in Deutschland müsste es sich also um berücksichtigungsfähige Nachfluchttatbestände im Sinne von § 28 AsylG handeln. Hierdurch müsste schlüssig eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung wegen einer politischen Überzeugung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG entstehen. Unter Nachfluchttatbeständen sind Tatbestände zu verstehen, die nach dem Zeitpunkt der Ausreise aus dem Herkunftsland verwirklicht werden und eine Verfolgungsgefahr begründen347. Solche Nachfluchttatbestände werden in einem zweiten Schritt zwischen objektiven und subjektiven beziehungsweise selbstgeschaffenen Nachfluchttatbeständen unterschieden348. Während Erstere allein auf

344 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (1. Amtl. Ls.). 345 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 32 f.); VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 28); Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 523. 346 So unter anderem: VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 28); VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016, Az. 2 A 5162/ 16, BeckRS 2016, 54680 (Rn. 18); VG Osnabrück, Urteil vom 5.12.2016, Az. 7 A 35/ 16, BeckRS 2016, 111276 (Rn. 21 ff.). 347 R. Fränkel, in: Hofmann, Ausländerrecht (Fn. 207), § 28 Rn. 4; A. Heusch, in: ders./Kluth, Ausländerrecht (Fn. 22), § 28 AsylG Rn. 2; F. Wittreck, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 224), Art. 16a Rn. 79 m.w. N. 348 Heusch (Fn. 22), § 28 Rn. 3.

86

C. Der subsidiäre Schutz

äußeren Ereignissen im Herkunftsland beruhen, die ohne ein Zutun des Antragstellers entstanden sind, entspringen Letztere aus Umständen, zu denen der Antragsteller durch seine Handlungen selbst einen Beitrag erbracht hat349. In der Regel werden solche selbstgeschaffenen Nachfluchttatbestände nicht berücksichtigt, um die Missbrauchsgefahr durch das nachträgliche Schaffen der Voraussetzungen für ein Bleiberecht, auch Verfolgungsprovokation genannt, zu verhindern350. Eine Ausnahme hiervon wird jedoch gemacht, wenn der Entschluss, auf dem die Nachfluchttatbestände beruhen, einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht. Dieser Entschluss muss „als notwendige Konsequenz einer dauernden, die eigene Identität prägenden und nach außen kundgegebenen Lebenshaltung erscheinen“351. Es geht hierbei weniger darum, dass diese Überzeugung schon im Herkunftsland den Behörden bekannt war oder der Antragsteller aufgrund derer schon vor der Ausreise bedroht war, sondern es wird eine gewisse Kontinuität verlangt, um auch zu verhindern, dass der Antragsteller in Deutschland erstmals politisch aktiv wird, nur um auf diese Weise missbräuchlich ein Bleiberecht zu erlangen352. Für den internationalen Schutz, also Flüchtlingsschutz und subsidiären Schutz, regelt § 28 Abs. 1a AsylG die Nachfluchttatbestände hingegen anders. Sie sind nicht grundsätzlich ausgeschlossen mit einigen wenigen möglichen Ausnahmen, sondern sie sind regelmäßig relevant353. Sie können also auf Ereignissen beruhen, die erst nach dem Verlassen des Herkunftslandes eingetreten sind. Hierbei spielt es auch keine Rolle, ob diese Nachfluchttatbestände objektiv oder selbstgeschaffen sind. Die zeitliche Zäsur erfolgt auch nicht bei der Ausreise aus dem Herkunftsland, sondern vielmehr erst mit dem unanfechtbaren Abschluss des Erstverfahrens, wie sich aus der Ausschlussregelung des § 28 Abs. 2 AsylG ergibt354. Für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft müssen die selbstgeschaffenen Nachfluchttatbestände nicht einmal auf festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugungen beruhen355. Als solche selbstgeschaffenen Nachfluchttatbestände erkennen die Gerichte grundsätzlich auch bereits die

349 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 523; Fränkel (Fn. 207), § 28 Rn. 6; Heusch (Fn. 22), § 28 Rn. 3; Wittreck (Fn. 347), Art. 16a Rn. 80 m.w. N.; ausführlich zu solchen subjektiven Nachfluchttatbeständen: B. Karras, Missbrauch des Flüchtlingsrechts, 2017. 350 Heusch (Fn. 22), § 28 Rn. 1; Wittreck (Fn. 347), Art. 16a Rn. 80 m.w. N. 351 BVerfG, Beschluss vom 26.11.1986, Az. 2 BvR 1058/85, BVerfGE 74, 51 (66, Rn. 43). 352 Bergmann (Fn. 143), § 28 Rn. 13; Fränkel (Fn. 207), § 28 Rn. 8; Heusch (Fn. 22), § 28 Rn. 15. 353 Fränkel (Fn. 207), § 28 Rn. 14. 354 Heusch (Fn. 22), § 28 Rn. 27. 355 OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 18.7.2012, Az. 3 L 47/12, BeckRS 2012, 59267 (Rn. 26).

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

87

illegale Ausreise aus einem Herkunftsland sowie den Aufenthalt und die Asylantragstellung in Deutschland an356. Eine solche illegale Ausreise unternimmt (fast) jeder Syrer, der ohne Kenntnisnahme der Behörden aus dem Land flieht, da stets eine staatliche Erlaubnis für die Ausreise zu erfolgen hat357. Mit der Antragstellung und dem damit verbundenen langfristigen Aufenthalt in Deutschland liegen auch diese beiden Nachfluchttatbestände vor. Sofern diese Tatbestände allein dafür ausreichen, dass das syrische Regime der Überzeugung ist, dass eine oppositionelle oder gar regimefeindliche Gesinnung gegeben ist, könnte dies zu Verfolgungshandlungen wegen der politischen Überzeugung gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG führen. Eine den Verfolgungshandlungen ausgesetzte Überzeugung im Sinne dieser Vorschriften liegt vor, sofern ein staatliches Regime eine oppositionelle Gesinnung als Gefahr für den eigenen Machterhalt ansieht und aus diesem Grund nicht toleriert358. Und obgleich in zahlreichen Fällen die Antragsteller vielleicht gar nicht der Opposition in Syrien angehörten oder exilpolitisch in der Opposition aktiv sind, können sie dennoch begründete Furcht vor der Verfolgung haben. Denn ob die tatsächlichen Verfolgungsgründe in seiner Person vorliegen, ist unerheblich, solange die Schutzsuchenden befürchten müssen, dass der Verfolgungsakteur ihnen diese Merkmale zuschreibt, § 3b Abs. 2 AsylG359. Wenn also das syrische Regime die bloße Ausreise und die Asylantragstellung als Grund nimmt, von einer oppositionellen Gesinnung des Schutzsuchenden auszugehen und deshalb dieser im Falle der Rückkehr des Antragstellers begründet Verfolgungshandlungen von jenem fürchten muss, liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes vor. Es ist daher zu klären, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass diese Entwicklung eintritt. Denn auch wenn solche Nachfluchttatbestände grundsätzlich eine politische Überzeugung begründen und damit im Allgemeinen berücksichtigungsfähig sind, müsste auch eine begründete Furcht vor der Verfolgungsgefahr bestehen, sodann die Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Diese beachtliche Wahrscheinlichkeit ist mit Hilfe einer Prognose zu ermitteln, die einerseits den bisherigen Lebenssachverhalt zusammenfassend bewertet, andererseits die Wahrscheinlichkeit potenzieller zukünftiger Szenarien für den hypothetischen Fall, 356 BVerwG, Urteil vom 6.12.1988, Az. 9 C 22/88, NVwZ 1989, 774 (775, Rn. 12); Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 523; Fränkel (Fn. 207), § 28 Rn. 14; Heusch (Fn. 22), § 28 Rn. 10, 29. 357 Immigration and Refugee Board of Canada, Responses to Information Requests, SYR105361.E, 19.1.2016, S. 4, abrufbar unter: https://www.justice.gov/eoir/file/852 621/download (zuletzt abgerufen am 27.6.2019). 358 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 523; W. Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht (Fn. 207), § 3b Rn. 23; Marx, Asylgesetz (Fn. 301), § 3b Rn. 62. 359 VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 30); VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 24).

88

C. Der subsidiäre Schutz

dass der Schutzsuchende in seine Heimat zurückkehrt, beurteilt360. Wenn man auf Nachfluchttatbestände abstellt, ist eine solche Bewertung schwieriger, da die Prüfung deutlich hypothetischer wird. Vor der Flucht lagen noch keine Umstände vor, an denen sich die Verfolgungsgefahr messen ließe. Das Verwaltungsgericht Trier setzt für eine solche Prognose folgenden Prüfungsrahmen: „Ist der Asylsuchende unverfolgt ausgereist, liegt eine Verfolgungsgefahr und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung vor, wenn dem Schutzsuchenden bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, sodass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine ,qualifizierende Betrachtungsweise‘ im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden besonnen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.“361

Eine solche auf einer Prognose beruhende, qualifizierende Betrachtungsweise kann sich auch aus Erkenntnissen über gegen Dritte gerichtete Maßnahmen ergeben, die sich in einer vergleichbaren Lage befanden362. Es gibt so gut wie keine Erfahrungen mit Oppositionellen oder Schutzsuchenden, die nach Syrien zurückgekehrt sind. Abschiebungen nach Syrien sind europaweit seit mehreren Jahren ausgesetzt (in Deutschland gemäß § 60a Abs. 1 AufenthG)363. Das Gericht behilft sich mit der Vergleichsgruppe der „einreisenden Rückkehrer aus westlichen Staaten“ und nimmt als Anhaltspunkte die Überwachung von Exilsyrern in Deutschland durch das syrische Regime oder den Umgang mit politischen Gegnern im Inland364. Doch zugleich besteht sowohl für diese Vergleichsgruppen als auch für die Lage in Syrien generell ein großes Problem hinsichtlich der Informationsbeschaffung. Der letzte reguläre Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Syrien stammt aus September 2010365. Es herrscht eine große Ungewissheit über die tatsächlichen Begebenheiten in Syrien und die tatsächliche Reaktion des syrischen Regimes auf Rückkehrer. Die Gerichte versuchen dies durch eine beachtliche Anzahl anderweitige Quellen zu kompensieren. Es wurden unter anderem Berichte von Amnesty International sowie von staatlichen Behörden aus den USA, Kanada und Österreich verwertet. Auch wenn die Quellen sich teilweise unterscheiden und auch wiederum unterschiedliche Berichte von diversen Orga360 BVerwG, Urteil vom 6.3.1990, Az. 9 C 14/89, BVerwGE 85, 12, 15, Rn. 13 m.w. N.; VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 20). 361 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 25). 362 BVerfG, Beschluss vom 23.1.1991, Az. 2 BvR 902/85, 515/89, 1827/89, NVwZ 1991, 768 (769, Rn. 36). 363 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 523. 364 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 524. 365 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 523.

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

89

nisationen zu Rate ziehen, so stimmen sie doch in ihrer Einschätzung überein: Schutzsuchende, die nach Syrien zurückkehren, seien verschärften Ermittlungen ausgesetzt und ihnen drohe die reale und konkrete Gefahr, dass sie, weil sie als oppositionell wahrgenommen werden könnten, willkürlich verhaftet und gefoltert beziehungsweise misshandelt werden oder „verschwinden“366. Für die Behandlung von Exilsyrern greift das Verwaltungsgericht Trier auf verschiedene Verfassungsschutzberichte zurück. Diesen folgend drohe Exilsyrern eine weitgehende Überwachung durch die syrischen Geheimdienste, was das uneingeschränkt andauernde Interesse des syrischen Regimes an der Exilopposition belege367. Auch die Tatsache, dass nach Auffassung der syrischen Regierung es sich bei dem Bürgerkrieg um eine von außen organisierte und finanzierte Verschwörung gegen das Land handelt, erhöhe die Wahrscheinlichkeit von politischer Verfolgung zurückkehrender Schutzsuchender368. Aufgrund dieser ganzen Erkenntnisquellen, die zu Rate gezogen wurden, kommen die unterschiedlichen Verwaltungsgerichte zu der Überzeugung, dass ein Asylantrag und der hiermit einhergehende Aufenthalt in Deutschland für die syrische Regierung unterschiedslos und allgemein Ausdruck einer oppositionellen und sogar regimefeindlichen Überzeugung sei369. Hieraus folge für Personen, die seitens des syrischen Regimes in dem – berechtigten oder unberechtigten – Verdacht stehen, politisch nicht fest zur syrischen Regierung zu stehen, die konkrete

366 Vgl. VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 39 ff.) mit Verweis auf: Amnesty International, It breaks the human – torture, disease and death in Syria’s prisons, 18.8.2016, S. 16, abrufbar unter https:// www.amnesty.org/en/documents/mde24/4508/2016/en/ (zuletzt abgerufen am 2.7. 2019); U.S. Department of State, 2015 Human Rights Report: Syria, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor. 2015 Country Reports on Human Rights Practices, 13.4.2016, S. 35/36, abrufbar unter: https://2009-2017.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2015&dlid=252947#wrapper (zuletzt abgerufen am 2.7. 2019); Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points [2014–December 2015], 19.1.2016, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/ document/1130956.html (zuletzt abgerufen am: 2.7.2019); VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 25 f.) mit Verweis auf: (österreichisches) Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Syrien, 5.1.2017, S. 2. 367 Vgl. VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 69 ff.) mit Verweis unter anderem auf Bundesinnenministerium, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 267 f.; Landesinnenministerium Rheinland-Pfalz, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 82; Landesinnenministerium Sachsen, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 236. 368 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 65). 369 VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 31) m.w. N.; VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2016, Az. 3 K 7501/16.A, BeckRS, 2016, 108517 (Rn. 36); VG Regensburg, Urteil vom 29.6.2016, Az. RN 11 K 16.30723, BeckRS 2016, 49134 (Rn. 30).

90

C. Der subsidiäre Schutz

Gefahr von willkürlicher Verhaftung zu menschenunwürdigen Bedingungen, von Misshandlungen und Folter und sogar von willkürlichen Tötungen370. Diese Handlungen verletzten die Menschenrechte der Verfolgten und stellten folglich Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 2AsylG dar. Damit führe die auf einer Prognose beruhende Bewertung, die die Verwaltungsgerichte getroffen haben, zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung und somit zu einer begründeten Furcht vor Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Folglich liegen nach Ansicht der Verwaltungsgerichte sowohl ein Verfolgungsgrund als auch die begründete Furcht vor einer Verfolgungshandlung vor. Zwischen dem Verfolgungsgrund und der Verfolgungshandlung muss auch nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Verfolgung durch den Verfolgungsakteur muss gerade wegen eines Verfolgungsgrundes drohen371. Hierbei geht es weniger darum, dass der Verfolgungsgrund conditio sine qua non für die Verfolgung sein muss, sondern, dass er zumindest auch ein Faktor hierfür war372. Zwar kann die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit durch den Nachweis der Verfolgungspraxis von Seiten des syrischen Staates diesen Anforderungen genügen, jedoch darf es keine generelle, systematische Praxis, also keine allgemeine Gefahr geben373. Denn wenn für sämtliche am Flughafen Ankommende eine Gefährdung besteht, so knüpft diese nicht an die Verfolgungshandlung an374. Sofern allerdings nur gewisse Teile der Bevölkerung betroffen sind und bei den Handlungen des syrischen Regimes eine „erkennbare Gerichtetheit“ vorliegt, genügt dies den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG375. Diese ist nach Überzeugung der Verwaltungsgerichte vorhanden, sofern man davon ausgehe, dass das Ziel der syrischen Geheimdienste sei, politische Informationen über die Exilszene im Ausland zu erhalten und das Vorliegen einer politischen Gesinnung zu ermitteln376. Wenn man den Verwaltungsgerichten folgt, liegen die Voraussetzungen der §§ 3 ff. AsylG vor. Und zwar – und das ist das Besondere an diesen Entscheidungen – unabhängig von dem Einzelschicksal des jeweiligen syrischen Schutz370 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 63); VG Köln, Urteil vom 24.4.2017, Az. 20 K 7836/16.A, BeckRS 2017, 108133 (Rn. 22). 371 Bergmann (Fn. 143), § 3a Rn. 7. 372 Marx, Asylgesetz (Fn. 301), § 3a Rn. 51 f.; Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 525. 373 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 525. 374 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 525. 375 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 526. 376 VG Wiesbaden, Urteil vom 7.9.2016, Az. W 2 K 16.30603, BeckRS 2016, 110368; VG Meiningen, Urteil vom 1.7.2016; Az. 1 K 20205/16.Me, BeckRS 2016, 105778; VGH Mannheim, Beschluss vom 29.10.2013, Az. A 11 S 2046/13, BeckRS 2013, 196384.

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

91

suchenden. Allein die Tatsache, dass er aus Syrien geflohen und in Deutschland Schutz gesucht hat, genüge zur Bejahung der Verfolgung und somit zur Zuerkennung des Flüchtlingsstatus. Sofern man dieser Linie folgt, sind alle nach Deutschland geflohenen und sich in Deutschland aufhaltenden syrischen Staatsbürger nicht nur umgangssprachlich, sondern auch im Sinne des Gesetzes „Flüchtlinge“. 2. Gewährung des subsidiären Schutzes Ursprünglich vertrat auch das BAMF die Überzeugung, dass syrischen Bürgern der Flüchtlingsstatus zuerkannt werden sollte. So bekamen 2015 syrische Schutzsuchende in 95,8 % der Fälle den Flüchtlingsschutz zugesprochen377. Im Frühjahr 2016 änderte sich diese Entscheidungspraxis. Seitdem wird nicht mehr regelmäßig der Flüchtlingsstatus zuerkannt, sondern der subsidiäre Schutz. Diese neue Linie des BAMF wurde inzwischen auch von vielen Oberverwaltungsgerichten, unter anderen Münster, Saarlouis und Schleswig, bestätigt, die damit den rechtlichen Wertungen der Verwaltungsgerichte seit Herbst 2016 zunehmend widersprechen378. Im April 2016 begründete das BAMF seine neue Verfahrenspraxis und die Tatsache, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr die Regelentscheidung ist, einerseits mit der Massenfluchtbewegung und andererseits mit der Förderung von Reisemöglichkeiten durch die geänderte Passvergabepraxis des syrischen Regimes, wodurch sich die pauschale Annahme einer oppositionellen Gesinnung durch die syrische Regierung nicht mehr begründen ließe379. Die neueren Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte unterstützten diese Thesen. Sie kommen zu dem Schluss, dass die Furcht der Schutzsuchenden vor politischer Verfolgung unbegründet sei, da es keine beachtliche Wahrscheinlichkeit gäbe, dass allen Syrern, die nach Deutschland geflohen sind, im Falle ihrer Rückkehr Verfolgung droht380. Somit sei auch die nach § 3a Abs. 3 AsylG notwendige Verknüpfung zwischen Verfolgungsgrund und Verfolgungshandlung im Zuge der neueren Entwicklungen zweifelhaft. Seit 2015 hat sich die Anzahl an Syrern, die ihr Land verlassen, dramatisch gesteigert. Dieser „Massenexodus“ betrifft mehr als ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Syriens381. Sowohl das BAMF als auch einige Oberverwaltungsgerichte halten die pauschale Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung infolge dieser 377

Pro Asyl, BAMF-Entscheidungspraxis (Fn. 335), S. 2. M. Putzer, Nur subsidiärer Schutz für syrische Asylbewerber?, NVwZ 2017, S. 1176 (1177); Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 522. 379 Pro Asyl, BAMF-Entscheidungspraxis (Fn. 335), S. 3. 380 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1224, Rn. 18 f.). 381 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 37). 378

92

C. Der subsidiäre Schutz

Massenfluchtbewegung nicht mehr für realistisch382. Es könne bei einer so großen Anzahl von Menschen, die aus dem syrischen Staatsgebiet flüchten, nicht davon ausgegangen werden, dass der syrische Staat alle diese Menschen für Oppositionelle halte, gegen die intensiv ermittelt werden müsse. Die Gerichte gehen davon aus, dass auch die syrische Regierung erkennen könne, dass die weit überwiegende Anzahl der Menschen nicht aus politischen Gründen, sondern aus Angst vor den Schrecken eines Bürgerkriegs ihr Herkunftsland verlassen hat383. Eine andere Auffassung würde nach Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Münsters bedeuten, „dem syrischen Regime ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit zu unterstellen, wenn angenommen wird, es könne nicht erkennen, dass die Masse der Flüchtlinge vor dem Bürgerkrieg flieht.“384

Der syrische Staat könne angesichts der massenhaften Auswanderung auch gar kein Interesse mehr daran haben, jede Person zu bekämpfen, die im westlichen Ausland Schutz gesucht und einen Asylantrag gestellt hat, nur weil dies als Anzeichen der Regimefeindlichkeit gewertet würde385. Diese Einschätzung würde auch durch Aussagen des syrischen Regimes gedeckt. So habe beispielsweise der syrische Präsident Baschar al-Assad Ende 2015 in einem Interview im tschechischen Fernsehen erklärt, dass es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ und „Patrioten“ handele, auch wenn es „natürlich [. . .] eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe386. Darüber hinaus sei jedem und auch der syrischen Regierung bewusst, dass man nur durch das Stellen eines Asylantrags einen gesicherten Aufenthalt erhalten kann387. Insgesamt sei es also in Folge der massenhaften Fluchtbewegung aus Syrien nach Europa unwahrscheinlich geworden, dass jedem Rückkehrer Verfolgung wegen seiner ihm vom Regime angehängten politischen Gesinnung droht. Ihre Schlussfolgerungen sehen die Oberverwaltungsgerichte auch durch die Erkenntnisse der Bundesbehörden gedeckt. So ergibt die bisherige Auskunftslage des Auswärtigen Amts, dass keine Erkenntnisse darüber vorliegen, dass Rückkehrer ausschließlich aufgrund ihrer vor382

Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 524 m.w. N. Putzer, Schutz (Fn. 378), S. 1178; OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 35); OVG Schleswig, Urteil vom 23.11.2016, Az. 3 LB 17/16, BeckRS 2016, 110100 (Rn. 36). 384 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 35). 385 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 35), zitiert auch von OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 20). 386 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 37); OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 19); jeweils mit Verweis auf: www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Pu tins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html (zuletzt abgerufen am 24.7.2019). 387 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1226, Rn. 38). 383

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

93

ausgegangenen illegalen Ausreise, des Asylantrags und des Auslandaufenthalts Verfolgungsmaßnahmen erdulden müssen oder dass sie systematisch befragt werden388. Als weiteres Argument führt das BAMF die geänderte Passvergabepraxis durch das syrische Regime ins Feld. Sowohl die Behörden innerhalb Syriens als auch die Auslandsvertretungen stellen vermehrt Pässe aus389. Einem Bericht der regimetreuen Zeitung „Al Watan“ nach wurden teilweise etwa 3.000 Pässe am Tag verteilt390. So wurden alleine im Jahr 2015 mehr als 800.000 Reisepässe ausgestellt391. Dies deute darauf hin, dass das syrische Regime die Ausreise aktiv unterstütze392. Auch widerspreche es, so das BAMF, der pauschalen Zuschreibung einer oppositionellen Gesinnung durch das syrische Regime nur aufgrund eines Aufenthalts im westlichen Ausland393. Teilweise wird hiergegen eingewendet, dass das syrische Regime dies lediglich aus finanziellen Gründen mache. Hierfür spreche insbesondere die Tatsache, dass der syrische Staat aufgrund der gleichzeitig gestiegenen Passgebühren mit der Ausstellung von über 800.000 Pässen ca. 470 Mio. Euro verdient habe394. Dies mag zwar auch ein Beweggrund des syrischen Regimes gewesen sein, ändere jedoch nichts an der Tatsache, dass diese Passvergabepraxis insoweit ein weiterer Hinweis sei, dass eine Verfolgung durch den syrischen Staat allein wegen der Ausreise nicht wahrscheinlich sei395. Die aktive Unterstützung des syrischen Staates durch die Vergabe von Pässen 388 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 43) mit Verweis auf Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Wiesbaden vom 2.1.2017, Az. 508-9-516.80/; OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 19) mit Verweis auf Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom Februar 2012, S. 10–12; OVG Schleswig, Urteil vom 23.11.2016, Az. 3 LB 17/16, BeckRS 2016, 110100 (Rn. 36) mit Verweis auf Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG Schleswig vom 7.11.2016, Asyldokumentation Nr. 602. 389 OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (591, Rn. 24). 390 Tagesspiegel vom 5.11.2015, https://www.tagesspiegel.de/politik/800-000-neuepaesse-ausgegeben-syriens-regime-verdient-gut-an-fluechtlingen/12548038.html (zuletzt abgerufen am 24.7.2019). 391 Pro Asyl, BAMF-Entscheidungspraxis (Fn. 335), S. 3; VG Minden, Urteil vom 22.12.2016, Az. 1 K 5137/16.A, BeckRS 2016, 110250 (Rn. 29). 392 VG Minden, Urteil vom 22.12.2016, Az. 1 K 5137/16.A, BeckRS 2016, 110250 (Rn. 29). 393 Pro Asyl, BAMF-Entscheidungspraxis (Fn. 335), S. 3. 394 So anderem auch das VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 41), aber auch die Begründung des VG in OVG Schleswig, Urteil vom 23.11.2016, Az. 3 LB 17/16, BeckRS 2016, 110100 (Rn. 14); vgl. auch Tagesspiegel vom 5.11.2015, https://www.tagesspiegel.de/politik/800-000-neue-paesseausgegeben-syriens-regime-verdient-gut-an-fluechtlingen/12548038.html (zuletzt abgerufen am 24.7.2019). 395 VG Minden, Urteil vom 22.12.2016, Az. 1 K 5137/16.A, BeckRS 2016, 110250 (Rn. 31).

94

C. Der subsidiäre Schutz

spreche somit gegen die Annahme, dass jedem Rückkehrer Verfolgung wegen seiner politischen Gesinnung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG drohe. Sowohl die massenhafte Flucht aus Syrien als auch die veränderte Passvergabepraxis des syrischen Regimes sind also die beiden Entwicklungen der letzten Jahre, die im Ergebnis begründen, so das BAMF und die Oberverwaltungsgerichte, dass es an einer Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund, die nach § 3a Abs. 3 AsylG notwendig ist, fehle396. Diese Verknüpfung wurde auch vom Bundesverfassungsgericht insofern konkretisiert, als dass es für eine Verfolgung aus politischen Gründen ausreichend sei, wenn der Schutzsuchende selbst der Opposition zugerechnet werde oder zu dem persönlichen Umfeld einer solchen Person gehöre397. Bei der Prüfung, ob eine derartige Verknüpfung vorliegt, ist auf den konkreten Einzelfall abzustellen. Das Oberverwaltungsgericht Saarlouis führt hierzu aus: „Ein solcher Zusammenhang zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund würde voraussetzen, dass gerade der Klägerin von den syrischen Behörden ein entsprechendes Merkmal zumindest zugeschrieben würde (§ 3b Abs. 2 AsylG).“398

Dies müsste bei jedem einzelnen Schutzsuchenden in Deutschland der Fall sein, wenn man wie die Verwaltungsgerichte davon ausgeht, dass die illegale Ausreise und der Aufenthalt sowie die Asylantragstellung in einem westlichen Land allein ausreichen. Jedem einzelnen Schutzsuchenden müsste also individuell eine politische Gesinnung zugeschrieben werden. Dies sei wegen der oben genannten Gründe jedoch wenig realistisch399. Die fehlende Verknüpfung und die fehlende beachtliche Wahrscheinlichkeit aufgrund der Entwicklung in Syrien in den letzten Jahren sind also die Gründe, warum sowohl das BAMF als auch die Oberverwaltungsgerichte von ihrer bisherigen Linie abgewichen sind und seitdem syrischen Staatsbürgern nicht mehr generell den Flüchtlingsstatus zuerkennen. Stattdessen ist ihnen der subsidiäre Schutz zu gewähren. Dessen Voraussetzungen dürften Personen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg geflohen sind, derzeit regelmäßig erfüllen400. Denn gerade der subsidiäre Schutz ist als Instrument gedacht, um vor der wahllosen und nicht 396 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 26); OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 20); OVG Schleswig, Urteil vom 23.11.2016, Az. 3 LB 17/16, BeckRS 2016, 110100 (Rn. 34). 397 BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996, Az. 2 BvR 1753/96, BeckRS 1996, 12515 (Rn. 5); OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 26). 398 OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 20) m.w. N. 399 OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 20). 400 Heusch (Fn. 37), Rn. 143.

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

95

zielgerichteten eine Person betreffenden Gefahr der Folter oder der ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts – was auf die Lage in Syrien zutrifft – zu schützen (§ 4 Abs. 1 S. 2 und 3 AsylG401. Sofern also die notwendige Verknüpfung nicht vorliegt, weil es unwahrscheinlich sei, dass sich die Verfolgungshandlung zielgerichtet gegen den einzelnen Antragsteller richtet, so ist doch die willkürliche und damit nicht zielgerichtete Gefahr gegeben. Im Ergebnis gelangt also das BAMF zu dem von vielen Oberverwaltungsgerichten bestätigten Schluss, dass syrische Staatsbürger nicht pauschal als Konventionsflüchtlinge zu qualifizieren sind, sondern es auf den Einzelfall ankommt und es im Zweifelsfall näher liegt, ihnen den subsidiären Schutz zuzuerkennen. 3. Nach Europa geflohenen Syrern droht Verfolgung in Syrien Ob man syrischen Staatsbürgern, die in Deutschland Schutz suchen, pauschal den Flüchtlingsstatus gewähren soll oder ob man vom subsidiären Schutz ausgeht und vereinzelnd bei entsprechender Analyse des Einzelfalls die Flüchtlingseigenschaft bejaht, hängt davon ab, wie beachtlich die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Verfolgungshandlung wegen eines Verfolgungsgrundes, hier wegen der (vermeintlichen) politischen Gesinnung, vorliegt. Die Verwaltungsgerichte, die den Flüchtlingsschutz zuerkennen, begründen dies damit, dass jedem Verfolgung droht, sobald er nach Syrien zurückreist, da das syrische Regime diesem eine oppositionelle Gesinnung zuschreibe. Dies wird auf die Aussagen verschiedener staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen gestützt. Aber auch die Berichte über die Behandlung von Rückkehrern vor dem europaweiten Abschiebestopp im April 2011 sowie die umfassenden Auslandsaktivitäten der syrischen Geheimdienste im Ausland untermauern diese Ansicht402. Die Gesamtschau aller zurate gezogenen Quellen überzeugt die Verwaltungsgerichte, dass tatsächlichen oder vermeintlichen Oppositionellen im Falle ihrer Rückkehr nach Syrien Inhaftierung, Misshandlung und sogar der Tod drohen403. Die Oberverwaltungsgerichte werfen hiergegen ein, dass nach Einschätzung des Auswärtigen Amts keine Erkenntnisse vorliegen, dass ausgereiste Asylbewerber nach ihrer Rückkehr Übergriffe oder Sanktionen zu befürchten haben, ja noch nicht einmal, dass sie überhaupt systematisch befragt würden404. Dies kann je-

401

Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 4. VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 34). 403 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 67). 404 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1224, Rn. 24); OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 19). 402

96

C. Der subsidiäre Schutz

doch nicht überzeugen. Die Einschätzung, dass nicht jedem bei Rückkehr die Gefahr droht, Opfer von Verfolgungshandlungen zu werden, kann nicht durch die Einschätzungen des Auswärtigen Amts substantiell begründet werden. Das Auswärtige Amt teilt vielmehr in seinen Auskünften mit, über keine Erkenntnisse zu verfügen405. Sofern es Angaben macht, stehen diese unter dem Vorbehalt, nur auf eingeschränkt verfügbaren Erkenntnissen zu beruhen, im Einzelnen nicht konkretisiert und ohne Gewähr hinsichtlich Vollständigkeit und Richtigkeit abgegeben worden zu sein406. Es wird somit deutlich, dass die Erkenntnisse des Auswärtigen Amts sehr lückenhaft sind. Es liegen nicht nur keine Erkenntnisse vor, dass jedem Rückkehrer die Verfolgung durch das Regime drohe, sondern auch keine Erkenntnisse, dass nicht jedem die Verfolgung drohe. Hierbei stellt sich nun auch die Frage, ob es wahrscheinlich ist, dass sich die Situation in Syrien selbst in den letzten Jahren groß verändert hat. Sichere Erkenntnisse aus Syrien sind zwar teilweise veraltet, aber seitdem ist der Bürgerkrieg eher noch weiter eskaliert und das Regime befindet sich weiterhin in einem Überlebenskampf 407. Durch diese Eskalation des Bürgerkriegs wurde laut Erkenntnissen des Immigration and Refugee Board of Canada die Schwelle für Verdächtigungen sogar eher noch gesenkt408. Zwar scheint es zum jetzigen Zeitpunkt, dass der Bürgerkrieg bald aufgrund des Eingriffs der verbündeten Länder Russland und Iran zugunsten der syrischen Regierung ausgehen könnte. Doch bedeutet dies keineswegs, dass deshalb Oppositionelle im In- und Ausland, seien sie tatsächliche oder vermeintliche, nun friedlich und freundlich behandelt werden. Vielmehr könnte dies bedeuten, dass die freiwerdenden Kapazitäten erst recht für die systematische Befragung und Verfolgung von (vermeintlich) oppositionellen Exilsyrern verwendet werden können. Infolgedessen könnte dies wohl eher dafür sprechen, dass die Lage für syrische Rückkehrer sich möglicherweise noch weiter zuspitzt. Jedoch haben sich nicht nur die Intensität und der Verlauf des Bürgerkriegs in Syrien geändert. Auch zwei andere Umstände haben sich geändert, die beide zusammen den Hauptanlasspunkt für die Änderung sowohl der Verwaltungspraxis des BAMF als auch der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte darstellen. Dies sind zum einen der „Massenexodus“ aus Syrien und zum anderen die ver405 VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 27); VG Köln, Urteil vom 24.4.2017, Az. 20 K 7836/16.A, BeckRS 2017, 108133 (Rn. 27). 406 VG Köln, Urteil vom 24.4.2017, Az. 20 K 7836/16.A, BeckRS 2017, 108133 (Rn. 27); VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 27). 407 Putzer, Schutz (Fn. 378), S. 1178. 408 Vgl. VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 41) mit Verweis auf: Immigration an Refugee Board of Canada [IRB], Syria: Treatment of returnees upon arrival at Damascus International Airport and international land border crossing points [2014–December 2015], 19.1.2016, abrufbar unter: https://www.ecoi.net/en/document/1130956.html (zuletzt abgerufen am: 2.7.2019).

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

97

änderte Passvergabepraxis des syrischen Staats. Die Tatsache, dass der syrische Staat seit 2015 Pässe in großer Stückzahl ausstellt und allein im Jahr 2015 über 800.000 solcher Pässe ausgegeben wurden, belege, dass das syrische Regime die Ausreise aktiv unterstütze. Die aktive Unterstützung der Ausreise widerspreche der These, dass jeder Syrer bei seiner Rückkehr als Bedrohung für das Regime angesehen werde409. Hiergegen lässt sich jedoch einwenden, dass der syrische Staat sicherlich auch ein finanzielles Interesse an der Passvergabe hat. Durch die Passvergabe soll der syrische Staat um die 470 Mio. Euro verdient haben410. Diese Einnahmen hat der syrische Staat angesichts der angespannten wirtschaftlichen Lage dringend nötig411. Es ist nicht fernliegend zu vermuten, dass es dem syrischen Staat weniger um die aktive Unterstützung der Ausreise ging als um seine eigene finanzielle und wirtschaftliche Lage. Daneben könnte es auch andere geopolitische Gründe für die veränderte Passvergabepraxis geben. Die syrische Regierung könnte mit der Passvergabepraxis die massenhafte Ausreise fördern, um die Flüchtlingskrise in Europa zu verschärfen und damit die Europäer zu einer schnellen Lösung des Konflikts in Syrien zu bewegen, die ein Beibehalten des jetzigen Regimes beinhaltet412. Abgesehen davon bedeutet die aktive Unterstützung der Ausreise nicht, dass keine Verfolgung bei der Rückkehr droht. Das syrische Regime könnte immer noch überzeugt sein, dass man sich spätestens im europäischen Ausland der Exilopposition angeschlossen hat oder zumindest Kenntnisse über die Exilopposition erlangt hat. Das durch viele Quellen bestätigte Interesse der syrischen Sicherheitsbehörden an den oppositionellen und regimekritischen Bewegungen im Ausland könnte auch trotz aktiver Unterstützung der Ausreise zu intensiven Befragungen im Falle der Rückkehr führen. Hinsichtlich der massenhaften Ausreise der letzten könnte es jedoch fraglich sein, ob überhaupt noch im Falle der Rückkehr wirklich jeder solche Befragungen durch die Sicherheitsbehörden sowie die Verfolgung durch den syrischen Staat befürchten muss. Bei einer so massenhaften Auswanderung aus Syrien kommt schließlich auch ein Staat, insbesondere einer, der sich in einem jahrelangen Bürgerkrieg befindet, irgendwann an die Grenzen seiner Ressourcen, um alle Flüchtlinge im Ausland zu überwachen und im Falle ihrer Rückkehr zu verfolgen. Doch ist eine Rückkehr nach Syrien nur in Absprache mit der syrischen

409 OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (591, Rn. 23); VG Minden, Urteil vom 22.12.2016, Az. 1 K 5137/16.A, BeckRS 2016, 110250 (Rn. 29 ff.). 410 Pro Asyl, BAMF-Entscheidungspraxis (Fn. 335), S. 4. 411 VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 41) mit Verweis auf Botschaft Beirut, Auskunft an das BAMF vom 3.2. 2016, S. 2 f. 412 Pro Asyl, BAMF-Entscheidungspraxis (Fn. 335), S. 4; Tagesspiegel vom 5.11. 2015, https://www.tagesspiegel.de/politik/800-000-neue-paesse-ausgegeben-syriens-re gime-verdient-gut-an-fluechtlingen/12548038.html (zuletzt abgerufen am 15.8.2019).

98

C. Der subsidiäre Schutz

Regierung413 und ausschließlich über den Flughafen in Damaskus möglich414, sodass dies einfach und mit nicht allzu großem Aufwand für das syrische Regime zu kontrollieren ist415. Gegen die Annahme, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedem Rückkehrer die Verfolgung droht, wenn er nach Deutschland geflohen ist, Asyl beantragt hat und sich eine längere Zeit in Deutschland aufgehalten hat, spricht laut den Oberverwaltungsgerichten auch, dass dies ansonsten bedeute, dem syrischen Regime eine vollkommene Realitätsferne vorzuwerfen416. Dies gelte insbesondere nach der nunmehr erfolgten massenhaften Flucht aus Syrien. Auch dem syrischen Regime sei bewusst, dass die meisten der Millionen Syrer, die aus dem Land fliehen, dies aufgrund des Bürgerkriegs und nicht aufgrund ihrer politischen Gesinnung machen, wie sich durch die Interviewaussagen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad Ende zeigt, wenn er erklärt, dass es sich bei der Mehrheit der syrischen Flüchtlinge um „gute Syrer“ und „Patrioten“ handele417. Zunächst einmal ist es fragwürdig, das Fernsehinterview des diktatorisch herrschenden Präsidenten zurate zu ziehen, um damit zu beweisen, dass aus dem Land geflohene Menschen keine Angst vor Verfolgung haben müssen418. Doch abgesehen davon stellt sich auch die Frage, ob man einem unberechenbaren, sich im Überlebenskampf befindenden Regime wirklich ein rationales Verhalten unterstellen kann. Das Verwaltungsgericht Berlin weist diese Argumentation demnach auch entschieden zurück, da man beim Verhalten des syrischen Staates nicht von einem rationalen Handeln nach westlichem Maßstab ausgehen kann: „Auch wenn dem syrischen Staat bekannt sein mag, dass die überwiegende Zahl der syrischen Asylbewerber vor den Gefahren des Bürgerkrieges nach Westeuropa geflohen ist, rechtfertigt dies nicht den Schluss, dass er Rückkehrern aus Deutschland generell keine regimefeindliche Gesinnung unterstellen wird. Von einer solchen westeuropäisch geprägten, rationalen Sichtweise kann bei dem syrischen Staat angesichts der derzeitigen Situation nicht ausgegangen werden.“419

413

VG Würzburg, Urteil vom 7.9.2016, Az. W K 16.30603, BeckRS 2016, 110368. VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 84). 415 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 525. 416 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 35); OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 20). 417 OVG Münster, Urteil vom 21.2.2017, Az. 14 A 2315/16.A, NVwZ 2017, 1223 (1225, Rn. 37); OVG Saarlouis, Urteil vom 11.3.2017, Az. 2 A 215/17, NVwZ-RR 2017, 588 (590, Rn. 19); jeweils mit Verweis auf: www.n-tv.de/politik/Assad-lobtPutins-Eingreifen-in-Syrien-article16478486.html (zuletzt abgerufen am 24.7.2019). 418 Putzer, Schutz (Fn. 378), S. 1179. 419 VG Berlin, Urteil vom 24.4.2017, Az. VG 23 K 1540.15 A, BeckRS 2017, 107554 (Rn. 37). 414

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

99

Des Weiteren spricht Baschar al-Assad in diesem Interview auch davon, dass es „natürlich [. . .] eine Unterwanderung durch Terroristen“ gebe420. Doch die syrische Regierung nennt oftmals ziemlich pauschal alle Oppositionellen „Terroristen“, auch wenn es sich um gemäßigte Oppositionsparteien handelt421. Dies könnte gerade dafür sprechen, dass dem syrischen Regime noch eher daran gelegen ist, die zurückkehrenden Exilsyrer genau zu befragen, um eben diese „untergewanderten Terroristen“ aufzuspüren, gleich, ob es sich dabei um wirkliche Terroristen handelt oder um Oppositionelle beziehungsweise um Menschen, die lediglich für solche gehalten werden. Entgegen der Auffassung des BAMF und der Oberverwaltungsgerichte liegt somit immer noch eine beachtliche Wahrscheinlichkeit vor, dass syrischen Rückkehrern intensive Befragungen, Folter oder Misshandlung drohen, oder dass diese „verschwinden“. Die Argumente, dass dies wegen der massenhaften Flucht und der neuen Passvergabepraxis nun anders ist, fußen letztlich auf der Annahme, dass man der syrischen Regierung eine Rationalität zugesteht, wie man sie zwar von ordentlichen Regierungen annehmen darf, jedoch nicht von einem Regime, das sich seit nunmehr neun Jahren im Überlebenskampf befindet und hierbei auch nicht davor zurückschreckt, Zivilisten oder auch Krankenhäuser anzugreifen. Einem Regime, das mit großer Wahrscheinlichkeit gegen die eigene Bevölkerung Chemiewaffen eingesetzt hat oder vielleicht sogar noch einsetzt422, gleichzeitig ein rationales und logisches Verhalten zuzugestehen, um damit zu begründen, dass Rückkehrern keine Verfolgung droht, lässt selbst eine gewisse Rationalität und Logik vermissen. Und auch wenn keine aktuellen Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes hierzu vorliegen, so zeigen doch die Berichte diverser anderer staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen, dass die Gefahren für Rückkehrer real sind. Bei einer Abwägung, ob diese so wahrscheinlich sind, als dass es den Anforderungen des Flüchtlingsschutzes genügt, ist im Zweifel auch eher eine solche Wahrscheinlichkeit anzunehmen als diese abzulehnen, im Sinne des Grundsatzes „better safe than sorry“. Doch wenn mehr oder weniger unterschiedslos jedem, der wieder nach Syrien zurückkehrt, verschärfte Kontrollen und Befragungen durch die Sicherheitsbehörden drohen, betrifft es dann noch den Einzelnen aufgrund eines individuellen Verfolgungsgrundes im Sinne des § 3b AsylG, oder handelt es sich bei dieser Auswahl nicht vielmehr um eine „Willkürstichprobe“423? Denn in der Tat fehlt

420 NTV, 1.12.2015, www.n-tv.de/politik/Assad-lobt-Putins-Eingreifen-in-Syrien-ar ticle16478486.html (zuletzt abgerufen am 21.8.2019). 421 Die WELT, 1.3.2016, https://www.welt.de/politik/ausland/article152806448/ Assad-lobt-Deutschland-fuer-Aufnahme-von-Fluechtlingen.html (zuletzt abgerufen am 15.8.2019). 422 So sehr wahrscheinlich unter anderem im April 2018 in Duma, s. Tagesschau vom 1.3.2019, https://www.tagesschau.de/ausland/opcw-chemiewaffen-syrien-101.html (zuletzt abgerufen am 21.8.2019). 423 Berlit, „Gefahrendichte“ (Fn. 304), S. 112.

100

C. Der subsidiäre Schutz

es an der für den Flüchtlingsschutz notwendigen Individualisierung, wenn jedem Rückkehrer solche Risiken drohen und wenn das Regime zur willkürlichen Anwendung von Folter und Misshandlungen greift. Es könnte also an der Zielgerichtetheit und damit an der Verknüpfung zwischen der Verfolgung und dem Verfolgungsgrund fehlen. Denn gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss die Verfolgung wegen eines Verfolgungsgrundes erfolgen. Wenn jedoch systematisch jeder Rückkehrer gleichbehandelt wird, so handelt es sich vielmehr um eine allgemeine Gefahr424. Laut den Verwaltungsgerichten ist eine „erkennbare Gerichtetheit“ gegeben, da das Ziel der syrischen Sicherheitsbehörden sei, politische Informationen über die Exilszene im Ausland zu erhalten und das Vorliegen einer politischen Gesinnung zu ermitteln425. Doch diese Argumentation ist reichlich schwach. Auch wenn der syrische Staat ein Ziel mit den Befragungen verfolgt, nämlich Informationen zu sammeln und die Gesinnung zu überprüfen, so fehlt es dennoch an einem individuellen Verfolgungsgrund und an einer Zielgerichtetheit der Verfolgung, wenn diese Befragung unterschiedslos allen syrischen Staatsbürgern droht. Denn der individuelle Verfolgungsgrund, also die zugeschriebene politische Gesinnung, muss zumindest auch ein Anlass für die Verfolgungshandlung sein426. Damit also eine Verfolgung im Sinne des Gesetzes gegeben ist, müssten Umstände vorliegen, die den Einzelnen individualisieren, sodass aufgrund dieses individuellen Merkmals die Verfolgung droht. Hier scheint eine Differenzierung notwendig. Dafür bietet sich die Differenzierung je nach Zielfluchtort des Schutzsuchenden an. Syrer, die nach Westeuropa geflohen und dort Asyl beantragt haben, könnten eher in den Augen des syrischen Regimes Oppositionelle sein als solche, die in die Nachbarländer geflohen sind. Von den ca. 6,6 Millionen Syrern427, die das Land bisher verlassen haben, fanden ca. 5,4 Millionen Schutz in den Nachbarländern, verglichen mit „nur“ einer Million in Europa428. Auch sieht das syrische Regime den Bürgerkrieg als einen vom Westen gesteuerten Umsturz an429, sodass ihm Syrer, die eben in diesen Westen fliehen, eher suspekt vorkommen müssen und sich bei ihnen eine intensivere Befragung über die Exilopposition eher lohnt. Des Weiteren kehren Syrer, die aus West424

Vgl. Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 525. VG Wiesbaden, Urteil vom 7.9.2016, Az. W 2 K 16.30603, BeckRS 2016, 110368; VG Meiningen, Urteil vom 1.7.2016; Az. 1 K 20205/16.Me, BeckRS 2016, 105778; VGH Mannheim, Beschluss vom 29.10.2013, Az. A 11 S 2046/13, BeckRS 2013, 196384. 426 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 525 m.w. N. 427 Stand: Ende 2019, https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/informieren/fluechtlings zahlen/ (zuletzt abgerufen am 30.5.2021). 428 Davon 3,7 Mio. in der Türkei, 0,9 Mio. im Libanon, 0,7 Mio. in Jordanien und 0,7 Mio. in Deutschland, https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/syri sche-fluechtlinge.html; https://data2.unhcr.org/en/situations/syria (zuletzt abgerufen am 30.5.2021). 429 VG Trier, Urteil vom 7.10.2016, Az. 1 K 5093/16.TR, BeckRS 2016, 131312 (Rn. 65). 425

IV. Exkurs: Schutzstatus von syrischen Staatsangehörigen

101

europa kommen, über den Flughafen Damaskus zurück, der von den syrischen Regierungskräften kontrolliert wird und an dem deutlich einfacher und mit weniger Ressourcen die Kontrolle von Rückkehrern durch das Regime möglich ist430. Im Gegensatz ist es für das syrische Regime auch rein faktisch kaum zu kontrollieren, wer wann über die „grüne Grenze“ in ein Nachbarland flieht oder von dort wieder zurückkehrt. Im Ergebnis sind die veränderte Entscheidungspraxis des BAMF und die veränderte Rechtsprechung der Oberlandesgerichte abzulehnen. Ihre Argumente gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung können nicht überzeugen, da sie sich zu sehr auf ungenaue Erkenntnisquellen berufen und gleichzeitig dem syrischen Regime beinahe naiv eine Rationalität zumessen, die sie zudem auch noch auf Propaganda – und als nichts anderes sind Einzelfernsehinterviews mit Assad zu bezeichnen – stützen. Hingegen ist die Frage nach der möglicherweise fehlenden Verknüpfung in der Tat ein Punkt, über den nicht so einfach „hinweggewischt“ werden kann, wie dies teilweise von den Verwaltungsgerichten getan wird. Hier bietet sich eine Differenzierung an. Insbesondere Flüchtlinge, die nach Westeuropa fliehen, dort Asyl beantragen und sich in Westeuropa aufhalten, sind im Falle ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen aufgrund ihrer (vermeintlichen) oppositionellen Gesinnung ausgesetzt. Insofern ist es folgerichtig, dass syrischen Schutzsuchenden in Deutschland der Flüchtlingsschutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen ist.

430 VG Regensburg, Urteil vom 29.6.2016, Az. RN 11 K 16.30723, BeckRS 2016, 49134 (Rn. 31), VG Hannover, Urteil vom 10.12.2013, Az. 2 A 6900/12, BeckRS 2014, 46147 (Rn. 51).

D. Die Regelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten Mit dem Familiennachzug und dem subsidiären Schutz wurden in den ersten beiden Kapiteln zwei der komplexeren Rechtsregime des Asyl- und Aufenthaltsrecht dargestellt. Der Familiennachzug als Thema rund um die Frage, ob und wie Familienmitglieder zusammengeführt werden können, ist im Ausländerrecht schon sehr lange bedeutend. Das liegt insbesondere an den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 6 Abs. 1 GG. Der subsidiäre Schutz hingegen ist eine sehr junge Erfindung, die Asylrecht und Flüchtlingskonvention ergänzen soll. Beiden, Familiennachzug und subsidiärem Schutz, ist gemeinsam, dass sie zwischen den humanitären Verpflichtungen der Bundesrepublik, die sich aus bestimmten Wertvorstellungen, kodifiziert in Grundgesetz und völkerrechtlichen Vereinbarungen, ableiten, und der staatlichen Verpflichtung eines kontrollierenden und ordnenden Rechtsstaats abwägen. Beide Rechtsinstitute, der Aufenthalt aus familiären Gründen und der aus humanitären Gründen, stellen Besonderheiten im Aufenthaltsrecht dar. Denn nur in diesen beiden Fällen sind allein wegen des konkreten Anlasses des Aufenthalts – Familienzusammenführung oder humanitärer Schutz – dem Staat Schranken gesetzt und mithin die besonderen menschenrechtlichen Gründe des Aufenthalts zu berücksichtigen431. Beide für sich sind auch nicht so umstritten beziehungsweise sollten es nicht sein. Sowohl der staatliche Auftrag, Familien zu unterstützen als auch, Menschen in Not zu helfen, werden an sich glücklicherweise vom Großteil der Menschen nicht bestritten. Doch wie bereits in den beiden vorstehenden Kapiteln gezeigt, ist die genaue Ausgestaltung dieser staatlichen Aufgaben umstritten. Beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten treffen nun diese beiden Rechtsregime aufeinander. Es geht nicht mehr nur um den Familiennachzug zu Menschen, die aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit oder aufgrund eines seit Jahrzehnten be- und anerkannten Rechtes wie dem Asylrecht nach Art. 16a GG oder der Genfer Flüchtlingskonvention in Deutschland leben. Es geht stattdessen um subsidiär Schutzberechtigte. Eine Gruppe von Schutzsuchenden, die bis vor vielen Jahren den meisten nicht bekannt war und die schon „weniger bedeutend“ wirkt, wie bereits das „subsidiär“ im Namen zu intendieren scheint432. Spiegelbildlich hierzu bedeutet der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, dass man nicht nur einzelnen Ausländern Schutz gewährt, wenn ihnen Todesstrafe, Folter oder Leib- und 431 432

Maor (Fn. 6), § 4 Rn. 1152. Ausführlicher zu der Tatsache, dass dies eben nicht so ist, s. C. III. ff.

I. Regelungshistorie

103

Lebensgefahr im Rahmen eines bewaffneten Konflikts drohen, sondern dass dies auch zum Nachzug ihrer Familienangehörigen führt. Dies ist verglichen mit der Rechtslage bis vor wenigen Jahren, als aus den gleichen Gründen Ausländer lediglich nicht abgeschoben werden durften, ein gewaltiger Sprung. Daraus resultierend erfolgt eine gewisse Rechtsungewissheit, wenn es um die Handhabung dieses Themas geht. Beiden Rechtsregimen ist außerdem gemeinsam, dass sie europarechtlich determiniert sind. Sowohl das Recht auf Familienzusammenführung als auch das Recht auf Gewährung des subsidiären Schutzes beruhen jeweils auf Richtlinien der Europäischen Union, die noch vergleichsweise jung sind. Namentlich sind dies die Familienzusammenführungsrichtlinie sowie die Qualifikationsrichtlinie. Der Umstieg von einer nationalen zu einer europäischen Asyl- und Ausländerpolitik zeigt sich neben den Dublin-Verordnungen433 insbesondere in dem Familiennachzug und der Ausgestaltung des subsidiären Schutzes als Teil des unionsrechtlich normierten internationalen Schutzes. Die rasanten Entwicklungen des deutschen sowie europäischen Asyl- und Aufenthaltsrechts der letzten Jahre lassen sich folglich nirgendwo leichter erkennen als bei der Schnittstelle dieser beiden Rechtsregime, dem Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Nachfolgend geht dieses Kapitel auf die wechselhafte Geschichte des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ein (I.). Hieran anschließend erfolgt eine Darstellung des Kerns des Familiennachzugneuregelungsgesetzes, § 36a AufenthG, der den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten seit dem 1. August 2018 regelt (II.).

I. Regelungshistorie Nicht erst im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 und ihrer Bewältigung in den Jahren danach wurden in kurzer Zeit viele Regelungen des Asylund Aufenthaltsrechts geändert oder neu eingeführt. Schon in den Jahren zuvor vollzog sich ein reger Wandel im Asyl- und Aufenthaltsrecht, insbesondere im Hinblick auf den Familiennachzug und den subsidiären Schutz. Dies ist sicherlich zunächst einmal auf die Angleichung der betroffenen Materie auf europäischer Ebene zurückzuführen. Exemplarisch machten die Umsetzung der Familienzusammenführungsrichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie Gesetzesänderungen in Deutschland unumgänglich. Gleichzeitig stand die Asyl- und Ausländerpolitik schon immer im Spannungsfeld zwischen der Ansicht, eine hohe Migration aus humanitären Gründen zu gestatten, und der Ansicht, die aus sicherheits- und ordnungspolitischen Gründen eine restriktive Migrationspolitik bevorzugte434. 433 Das Dubliner Übereinkommen, die Dublin-II-VO und die Dublin-III-VO regeln die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Asylverfahren. 434 Beispielsweise erkennbar am „Asylkompromiss“ zwischen CDU/CSU und SPD vom 6.12.1992 und der daraus resultierenden Grundgesetzänderung von 28.6.1993, durch die Art. 16a GG entstand (BGBl. 1993 I 31 vom 29.6.1993, S. 1002).

104

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

Doch in den letzten Jahren und nicht zuletzt wegen der „Flüchtlingskrise“ hat neben anderen asyl- und aufenthaltsrechtlichen Themen vor allem die Gestaltung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten einen „außergewöhnlichen Wandlungsprozess“435 vollzogen. Es scheint so, als würde diese Materie stellvertretend für die gesamte Migrationspolitik und die Unsicherheit des Staates und der Gesellschaft in Deutschland über den richtigen Weg hierbei stehen. Die Frage, ob und wie der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten auszugestalten sei, glich dabei teilweise einer Partie Tischtennis, so schnell wie der Nachzug untersagt, teilweise gewährt, erlaubt, ausgesetzt und dann wieder eingeschränkt zugelassen wurde. Für die subsidiär Schutzberechtigten selbst und ihre Familienangehörigen führte dies zunächst zu einer deutlichen Verbesserung ihrer Rechte, bevor sie dann wieder beschränkt wurden436. 1. 1990–2013: Der „subsidiäre Schutz“ im Ausländer- und Zuwanderungsgesetz Der Familiennachzug zu Ausländern in die Bundesrepublik Deutschland war bis 1990 Ländersache. Erst durch die Neufassung des Ausländergesetzes erfolgten bundeseinheitliche materielle Vorgaben für die Aufenthaltserlaubnis von Ausländern437. Die Neufassung regelte nicht nur zum ersten Mal den Familiennachzug. Es wurden auch Abschiebungshindernisse vereinheitlicht und kodifiziert (§ 53 AuslG), die sich bis zu diesem Zeitpunkt teilweise aus Gesetzen, teilweise aus völkerrechtlichen Vorgaben sowie teilweise aus höchstrichterlicher Rechtsprechung ergaben438. Die Fallgruppen des Abschiebungshindernisses entsprachen schon in bestimmten Punkten den späteren des subsidiären Schutzes, auch wenn dies im Gesetz selbst noch nicht so genannt wurde. Jedoch hatte ein Ausländer, der aufgrund eines Abschiebungshindernisses in Deutschland bleiben durfte, keinen Zugang zum Familiennachzug. Im Jahr 2003 beschloss die Europäische Union die Familienzusammenführungsrichtlinie. Durch diese Richtlinie sollten die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen harmonisiert werden439. Die Bundesregierung reagierte hierauf mit einer generellen Reform des Ausländer435 B. Bartolucci/M. Pelzer, Fortgesetzte Begrenzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten im Lichte höherrangingen Rechts, ZAR 2018, S. 133. 436 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 133, wobei die Autoren, wenn sie an dieser Stelle von einer „zuvor nie dagewesene[n] Beschränkung“ sprechen, verkennen, dass auch die Neuregelung des Familiennachzugs 2018 den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten einfacher und schneller ermöglicht, als dies vor der Gleichstellung mit Konventionsflüchtlingen 2015 der Fall war. 437 Vgl. Bundesregierung, Gesetzesbegründung, Entwurf für ein Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 27.1.1990, BT-Drucks. 11/6321, S. 1. 438 Vgl. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 437), BT-Drucks. 11/6321, S. 75. 439 Vgl. Familienzusammenführungsrichtlinie (Fn. 8), Erwägungsgrund 3, S. 12.

I. Regelungshistorie

105

rechts durch das Zuwanderungsgesetz im Jahr 2004, mit dem unter anderem das Asylgesetz und das Aufenthaltsgesetz neu in Kraft traten440. Hierdurch wurde der Familiennachzug im neuen Aufenthaltsgesetz in seiner bis heute wesentlich bestehen gebliebenen Form neu geregelt. Unverändert blieben hingegen die Fallgruppen der Abschiebungshindernisse des § 53 AuslG, die nun neu als Verbote der Abschiebung in § 60 AufenthG a. F. geregelt wurden. Auch die Qualifikationsrichtlinie 2004, die erstmals den subsidiären Schutz als feststehenden europäischen Begriff einführte, änderte hieran nur wenig. Der Gesetzgeber setzte diese Richtlinie lediglich minimalintensiv um und regelte den subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie nur als Fallgruppe der Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 7 AufenthG a. F.441. Lediglich manche Fallgruppen wurden an die europäischen Vorgaben angepasst. Dennoch ergab sich für die Gruppe der subsidiär Schutzberechtigten (beziehungsweise Ausländer, die nicht abgeschoben werden durften) durch das Aufenthaltsgesetz eine deutliche Statusverbesserung. Gemäß § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG a. F. sollte ihnen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Dies führte auch zu der Möglichkeit, ihre Familienangehörigen nachziehen zu lassen, obgleich dies noch lediglich in einem sehr eng begrenzten Rahmen möglich blieb. Nach § 29 Abs. 3 S. 1 i.V. m. § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG a. F. war ein Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten erlaubt, sofern dies aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland geschah442. Dies war verglichen mit dem Familiennachzug zu Asylberechtigten und Konventionsflüchtlingen zwar eine deutliche Einschränkung, aber zum ersten Mal gewährte das Gesetz den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten unter bestimmten Voraussetzungen. 2. 2013: Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie Auf europäischer Ebene wurde mit der Qualifikationsrichtlinie im Jahre 2011 die Rechtsstellung von subsidiär Schutzberechtigten noch einmal verbessert. Auch wenn schon die Qualifikationsrichtlinie 2004 den internationalen Schutz und damit auch den subsidiären Schutz eingeführt hat, so ist durch die Qualifikationsrichtlinie der Spielraum der Nationalstaaten deutlich kleiner geworden, wie sich unter anderem bei der Familienzusammenführung zeigte443. Durch das entsprechende Umsetzungsgesetz vom 15. April 2013444 wurden die europäischen Bestimmungen in nationales Recht umgewandelt. Doch für die Familienzusam440

S. zur Historie des Familiennachzugs B. I. S. hierzu: C. I. 1. 442 Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 1. 443 S. ausführlicher zur Qualifikationsrichtlinie: C. I. 2. 444 Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013, BGBl. 2013 I 54, 5.9.2013, S. 3474 ff. 441

106

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

menführung zu subsidiär Schutzberechtigen ergab sich zunächst wenig Neues. Zwar wurde mit diesem Gesetz unter anderem der § 25 Abs. 2 AufenthG a. F. neu gefasst, der nun nicht nur Konventionsflüchtlingen, sondern auch subsidiär Schutzberechtigten einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gewährte445. Teilweise liest man deshalb, dass durch diese Ausdehnung des Anwendungsbereichs auch auf subsidiär Schutzberechtigte für diese nach § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AufenthG a. F. der Familiennachzug nun möglich war, sofern sie ihren Lebensunterhalt sichern und ausreichend Wohnraum nachweisen konnten446. Indes darf hierbei nicht übersehen werden, dass durch dieses Gesetz nicht nur § 25 AufenthG, sondern auch § 29 AufenthG geändert wurde. Durch die Neufassung fielen subsidiär Schutzberechtigte explizit unter § 29 Abs. 3 AufenthG a. F., sodass weiterhin nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik ein Nachzug der Ehegatten oder der minderjährigen Kinder gewährt wurde. Sie wurden also beim Familiennachzug nach wie vor so behandelt wie Ausländer, denen nur eine Aufenthaltserlaubnis wegen eines Abschiebeverbots erteilt wurde (vgl. § 29 Abs. 3 S. 1 i.V. m. § 25 Abs. 3 S. 1 AufenthG a. F.). Da subsidiär Schutzberechtigte auch zuvor keine eigene Gruppe mit individuellem Anspruch auf Schutz waren, sondern nur durch Abschiebeverbote geschützt wurden, fielen sie also weiter unter § 29 Abs. 3 S. 1 AufenthG a. F. und es ergab sich für sie keine Neuerung. Dies war vom Gesetzgeber auch so beabsichtigt, der zu dem Zeitpunkt keine unterschiedliche Beurteilung zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten beabsichtigte447. 3. 2015: Gleichstellung beim Familiennachzug Im August 2015 erfolgte schließlich eine deutliche Verbesserung für subsidiär Schutzberechtigte und ihre Familienangehörigen. Durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015448 glich der Gesetzgeber mit Wirkung zum 1. August 2015 die Rechtsstellung von subsidiär Schutzberechtigten, Asylberechtigten und Konventionsflüchtlingen zumindest beim Familiennachzug vollständig an449. Auch subsidiär Schutzberechtigten wurde damit ein Rechtsanspruch auf Nachzug ihrer Kernfamilie450 gewährt451. 445 Vgl. Bundesregierung, Gesetzesbegründung, Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 15.4.2013, BT-Drucks. 17/13063, S. 24. 446 So fälschlicherweise zu lesen bei: Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 1; D. Thym, Schnellere und strengere Asylverfahren, NVwZ 2015, S. 1625 (1632); richtig hingegen dargestellt bei: K. Schönenbroicher, in: A. Heusch/N. Haderlein/ K. Schönenbroicher (Hrsg.), Das neue Asylrecht, 1. Aufl. 2016, Rn. 442. 447 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 444), BT-Drucks. 17/13063, S. 24. 448 BGBl. 2015 I 32, 31.7.2015, S. 1386 ff. 449 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 134. 450 Vgl. D. II. 1. 451 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), Asylmagazin 2018, S. 406.

I. Regelungshistorie

107

Die Rechtsstellung von subsidiär Schutzberechtigten sollte an die von Konventionsflüchtlingen angepasst werden, weil die tatsächlichen Lebensumstände vergleichbar seien und es auch subsidiär Schutzberechtigten, die vor innerstaatlichen Konflikten, vor Todesstrafe oder Folter fliehen, nicht möglich sei, die familiäre Gemeinschaft in ihrem Herkunftsland wiederherzustellen452. Insgesamt wurden durch dieses Gesetzespaket zwei Seiten der deutschen Migrationspolitik sichtbar. Einerseits wurden die Rechte derjenigen gestärkt, die schutzbedürftig sind oder in anerkennenswerter Weise Integrationsleistungen erbracht haben. Andererseits sollten vollziehbar Ausreisepflichtige schneller und notfalls auch unter Anwendung von Zwang abgeschoben werden können453. Es scheint, dass die Erleichterungen für subsidiär Schutzberechtigte einerseits ein Teil eines Kompromisses, do ut des, waren, der andererseits die schnellere und einfachere Abschiebung bestimmter Ausländer möglichen machen sollte. 4. 2016: Aussetzung des Familiennachzugs Nur sieben Monate nach der Gleichstellung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen beim Familiennachzug entschieden sich die Regierungsfraktionen von CDU/CSU und SPD zu einer Kehrtwende. In Folge der sogenannten Flüchtlingskrise und der massenhaften Zuwanderung von Schutzsuchenden, die insbesondere aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten flohen, suchte man eine Möglichkeit, die Zuwanderung rechtlich zulässig zu begrenzen454. Am 11. März 2016 wurde durch den Gesetzgeber das Gesetz zur Einführung beschleunigter Asylverfahren („Asylpaket II“)455 beschlossen. Dieses Gesetz stellt im Vergleich zur vorherigen Rechtslage sogar eine „doppelte Rolle rückwärts“ dar456. Durch die mit diesem Gesetz beschlossene Aussetzung des Familiennachzugs wurden nicht nur die erst wenige Monate zuvor beschlossene Gleichstellung zurückgenommen, sondern auch die Schutzsuchenden im Bereich des Familiennachzugs noch schlechter gestellt, als sie es seit 2013 gewesen sind. Nachdem sich der erste Entwurf, der § 29 AufenthG um einen neuen Absatz 2a ergänzen und eine zweijährige Wartezeit für den Familiennachzug einführen wollte, politisch nicht durchsetzen konnte457, entschied sich der Gesetzgeber für eine generelle Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Gemäß dem neu eingefügten § 104 Abs. 13 AufenthG sollte bis zum 16. März 2018 ein 452 Bundesregierung, Gesetzesbegründung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 25.2.2015, BT-Drucks. 18/ 4097, S. 46. 453 Vgl. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 452), BT-Drucks. 18/4097, S. 1. 454 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 1; Kluth (Fn. 22), § 36a AufenthG Rn. 1. 455 BGBl. 2016 I 12, 16.3.2016, S. 390 ff. 456 I. Stetter-Karp, Dauerthema Familiennachzug, ZAR 2018, S. 200 (201). 457 Schönenbroicher (Fn. 446), Rn. 442.

108

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht gewährt werden. Dabei wurde nicht die Möglichkeit ausgeschlossen, vor Ablauf der zwei Jahre einen Antrag zu stellen, der dann später entschieden würde (vgl. § 22 VwVfG)458. Gleichzeitig sollte die Dreimonatsfrist des § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AufenthG bei Schutzberechtigten, denen nach dem 17. März 2016 eine Aufenthaltserlaubnis gewährt wurde, erst ab dem 16. März 2018 weiterlaufen. Der zweite Teil der Regelung ist nie wirksam geworden, da mit dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz für subsidiär Schutzberechtigte das Fristerfordernis gestrichen wurde459. Diese Aussetzung begründete die Bundesregierung mit der Situation der „Flüchtlingskrise“ sowie der daraus resultierenden zu erwartenden hohen Anzahl an Anträgen auf Familiennachzug460. „Zur besseren Bewältigung der [. . .] Situation“461 und im „Interesse der Aufnahme- und Integrationssysteme in Staat und Gesellschaft“462 sollte eine Überforderung verhindert und deshalb der Familiennachzug ausgesetzt werden463. Um die schlimmsten Auswirkungen bei „Härtefällen“ zu mildern, sollte allerdings weiterhin der Familiennachzug über eine humanitäre Aufnahme nach §§ 22, 23 AufenthG möglich bleiben464. Laut eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts ist es auch für die Verfassungsmäßigkeit der Aussetzung entscheidend, wie in solchen Härtefällen die Regelung der Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung aus humanitären Gründen nach § 22 S. 1 AufenthG angewandt würde465. Indes erfolgte der Familiennachzug nach §§ 22, 23 AufenthG wegen einer sehr restriktiven Auslegung und Anwendung nur äußerst selten466. So wurden im Zeitraum von März 2015 bis Anfang November 2018 nur 277 Visa für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aufgrund § 22 S. 1 AufenthG gewährt467. Ursprünglich sollte die Aussetzung nur auf die zwei Jahre befristet sein und nach Ablauf dieser Frist die alte Rechtslage automatisch wieder aufleben468. Je458

D. Thym, Die Auswirkungen des Asylpakets II, NVwZ 2016, S. 409 (413). S. hierzu D. II. 5. 460 Fraktionen CDU/CSU und SPD, Gesetzesbegründung, Entwurf eines Gesetzes zur Einführung beschleunigter Verfahren vom 16.2.2018, BT-Drucks. 18/7538, S. 1. 461 Fraktionen CDU/CSU und SPD, Gesetzesbegründung (Fn. 460), BT-Drucks. 18/ 7538, S. 2. 462 Fraktionen CDU/CSU und SPD, Gesetzesbegründung (Fn. 460), BT-Drucks. 18/ 7538, S. 1. 463 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 1. 464 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 406. 465 BVerfG, Beschluss vom 11.10.2017, Az. 2 BvR 1758/17, NVwZ 2017, 1699 (1700, Rn. 12 f.). 466 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 134; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 406. 467 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 406. 468 So der ursprüngliche Plan der Gesetzesbegründung, s. Fraktionen CDU/CSU und SPD, Gesetzesbegründung (Fn. 460), BT-Drucks. 18/7538, S. 12, 20. 459

I. Regelungshistorie

109

doch kam es hierzu nie. Stattdessen wurde nach der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag und noch vor Unterzeichnung des Koalitionsvertrags der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten am 8. März 2019 durch das „Aussetzungsverlängerungsgesetz“469 um weitere viereinhalb Monate bis Juli 2019 ausgesetzt und sodann mit dem Familiennachzugneuregelungsgesetz vom 12. Juli 2018 durch die neue Regelung in § 36a AufenthG gänzlich neu gestaltet470. 5. 2018: Begrenzung des Familiennachzugs Im Mittelpunkt dieses Familiennachzugsneuregelungsgesetzes steht der neugeschaffene § 36a AufenthG. Mit dem Gesetz wird geregelt, unter welchen Voraussetzungen Familienangehörige zu subsidiär Schutzberechtigten einreisen dürfen. Der Familiennachzug wird durch das Gesetz zwar wieder ermöglicht, jedoch dabei auch auf monatlich maximal 1.000 Visa beschränkt. Hierbei handelte es sich um einen Kompromiss, um den während der Sondierungs- und Koalitionsgespräche zwischen CDU, CSU und SPD Anfang 2018 heftig und lange gerungen wurde. Teil des Kompromisses war zunächst die Verlängerung der Aussetzung noch während der Koalitionsverhandlungen, bevor darauffolgend als eines der ersten Gesetzesvorhaben der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten neu geregelt wurde. Es soll hierbei ein abwägender Ausgleich zwischen Steuerung und Begrenzung der Migration einerseits und der Humanität durch die Gewährung der Familienzusammenführung andererseits stattfinden. Die Begrenzung des Familiennachzugs erfolgte aus ähnlichen Gründen wie seine Aussetzung im März 2018 (§ 104 Abs. 13 AufenthG a. F.): Denn obgleich infolge des EU-Türkei-Abkommens vom 16. März 2016 sowie des „Schließens“ der „Balkan-Route“ im Frühjahr 2016 die Zahl der einreisenden Schutzsuchenden deutlich zurückgegangen ist, sei ein Anstieg von Anträgen auf Familiennachzug zu erwarten471. Es sei zwar weder bekannt noch seriös schätzbar, wie viele Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten bereits selbst anerkannte Flüchtlinge seien und wie viele noch Anträge auf Familiennachzug stellten, doch dem Auswärtigen Amt lägen schon ca. 26.000 Anträge auf Familiennachzug vor472. Deshalb erfolge die Begrenzung des Familiennachzugs, um insbesondere die Kapazitäten der Aufnahme- und Integrationssysteme der Institutionen von Bund, Ländern und Kommunen sowie die Zivilgesellschaft nicht durch einen zu großen Andrang an

469 Durch das Gesetz zur Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten vom 8. März 2018, BGBl. 2018 I 9, 15.3.2018, S. 342. 470 Vgl. Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 134; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 406. 471 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1 f. 472 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 2; Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 6.

110

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

Nachziehenden zu überfordern473. Zum 1. August 2018 trat das Familiennachzugsneuregelungsgesetz sodann in Kraft.

II. Der neue § 36a AufenthG Im Zentrum der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten steht die Vorschrift des § 36a AufenthG. Dieser lautet wie folgt: „§ 36a AufenthG – Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (1) 1Dem Ehegatten oder dem minderjährigen ledigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative besitzt, kann aus humanitären Gründen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. 2Gleiches gilt für die Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Absatz 2 Satz 1 zweite Alternative besitzt, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält; § 5 Absatz 1 Nummer 1 und § 29 Absatz 1 Nummer 2 finden keine Anwendung. 3Ein Anspruch auf Familiennachzug besteht für den genannten Personenkreis nicht. 4Die §§ 22, 23 bleiben unberührt. (2) 1Humanitäre Gründe im Sinne dieser Vorschrift liegen insbesondere vor, wenn 1. die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist, 2. ein minderjähriges lediges Kind betroffen ist, 3. Leib, Leben oder Freiheit des Ehegatten, des minderjährigen ledigen Kindes oder der Eltern eines minderjährigen Ausländers im Aufenthaltsstaat ernsthaft gefährdet sind oder 4. der Ausländer, der Ehegatte oder das minderjährige ledige Kind oder ein Elternteil eines minderjährigen Ausländers schwerwiegend erkrankt oder pflegebedürftig im Sinne schwerer Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten ist oder eine schwere Behinderung hat. Die Erkrankung, die Pflegebedürftigkeit oder die Behinderung sind durch eine qualifizierte Bescheinigung glaubhaft zu machen, es sei denn, beim Familienangehörigen im Ausland liegen anderweitige Anhaltspunkte für das Vorliegen der Erkrankung, der Pflegebedürftigkeit oder der Behinderung vor. 2

Monatlich können 1.000 nationale Visa für eine Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 Satz 1 und 2 erteilt werden. 3Das Kindeswohl ist besonders zu berücksichtigen. 4Bei Vorliegen von humanitären Gründen sind Integrationsaspekte besonders zu berücksichtigen. (3) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 Satz 1 oder Satz 2 ist in der Regel ausgeschlossen, wenn 1. im Fall einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 1 Satz 1 erste Alternative die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde,

473

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1, 21.

II. Der neue § 36a AufenthG

111

2. der Ausländer, zu dem der Familiennachzug stattfinden soll, a) wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, b) wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist; bei serienmäßiger Begehung von Straftaten gegen das Eigentum gilt dies auch, wenn der Täter keine Gewalt, Drohung oder List angewendet hat, c) wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, oder d) wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten nach § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Betäubungsmittelgesetzes rechtskräftig verurteilt worden ist, 3. hinsichtlich des Ausländers, zu dem der Familiennachzug stattfinden soll, die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels nicht zu erwarten ist, oder 4. der Ausländer, zu dem der Familiennachzug stattfinden soll, eine Grenzübertrittsbescheinigung beantragt hat. (4) § 30 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, Absatz 2 Satz 1 und Absatz 4 sowie § 32 Absatz 3 gelten entsprechend. (5) § 27 Absatz 3 Satz 2 und § 29 Absatz 2 Satz 2 Nummer 1 finden keine Anwendung.“ 474

§ 36a AufenthG regelt als lex specialis den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Die Begrenzung des Familiennachzugs vollzieht sich durch die Abschaffung des individuellen Anspruchs auf Familiennachzug (§ 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG), wie er Asylberechtigten und Konventionsflüchtlingen zusteht und wie er subsidiär Schutzberechtigten eine kurze Zeit gewährt wurde. Hier ist der Gesetzgeber nicht hinreichend konkret, wenn er sagt, dass subsidiär Schutzberechtigte keinen Anspruch auf Familiennachzug haben. Die Verwirklichung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen für sich allein bewirkt zwar keinen gebundenen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung475. Denn diese steht nun im Ermessen der Behörden. Wohl aber haben sie einen Anspruch auf ermes474 Zitiert nach BGBl. 2018 I 26, 17.7.2018, S. 1148 f. Die Nummerierung der Sätze folgt in anderer Art und Weise als im C. H. Beck Verlag, da dieser in § 36a Abs. 2 AufenthG den dritten Satz nicht berücksichtigt und Satz 4 als Satz 3 zählt. Zum besseren Verständnis empfiehlt es sich aber von vier Sätzen auszugehen, sodass in dieser Arbeit obenstehende Nummerierung verwenden wird. 475 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 59.

112

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

sensfehlerfreie Entscheidung auf Grundlage der Kriterien des § 36a AufenthG476. Die Behörden können subsidiär Schutzberechtigten den Familiennachzug aufgrund von humanitären Gründen gewähren (§ 36a Abs. 1 S. 1 AufenthG). Hierbei soll sowohl die Situation der bereits in Deutschland lebenden Schutzberechtigten als auch die der sich noch im Ausland befindenden Familienangehörigen berücksichtigt werden477. Gleichzeitig ist der Familiennachzug nach § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG auf monatlich maximal 1.000 nationale Visa für eine Aufenthaltserlaubnis im Rahmen des Familiennachzugs kontingentiert. In § 36a Abs. 1 AufenthG wird der Anwendungsbereich genau umfasst. Im zweiten Absatz werden der unbestimmte Rechtsbegriff der humanitären Gründe durch Fallgruppen konkretisiert und die Kontingentierung normiert. § 36a Abs. 3 AufenthG legt Ausschlussgründe fest, während Abs. 4 und Abs. 5 die (Nicht-)Anwendbarkeit weiterer Vorschriften regeln. 1. Personenkreis: Kernfamilie § 36a Abs. 1 S. 1 und 2 AufenthG legen zunächst grundsätzlich fest, welche Familienmitglieder zu welchem subsidiär Schutzberechtigten nachziehen dürfen. Die Anforderungen an diesen Personenkreis der Nachziehenden unterscheiden sich nur geringfügig von denen des Familiennachzugs zu Asylberechtigten oder Konventionsflüchtlingen. So sind grundsätzlich die allgemeinen Vorschriften, die für den Familiennachzug gelten (§§ 27, 29, 31, 33–35, 36 Abs. 2 AufenthG) auf den Familiennachzug zu § 36a anwendbar, es sei denn, sie sind vom Gesetzgeber ausdrücklich ausgeschlossen478. Nachgezogen werden kann zu jedem Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 S. 1 2. Alt. AufenthG besitzt, dem also der subsidiäre Schutz zuerkannt wurde. Nachzugsberechtigt sind grundsätzlich nur Angehörige der Kernfamilie, also Ehegatten, minderjährige Kinder sowie die Eltern von minderjährigen Kindern. Der Nachzug von Ehegatten und minderjährigen ledigen Kindern richtet sich nach § 36a Abs. 1 S. 1 AufenthG. Da § 36a Abs. 4 AufenthG auf die § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und § 30 Abs. 4 AufenthG verweist, ist bei der Frage des Ehegattennachzugs der Ehebegriff restriktiv im Sinne dieser Vorschriften auszulegen479. Demnach müssen beide Ehegatten bereits das 18. Lebensjahr vollendet haben, wobei hiervon zur Vermeidung besonderer Härte abgewichen werden kann (§ 36a Abs. 4 i.V. m. § 30 Abs. 2 S. 1 AufenthG). Außerdem kann im Falle von Polygamie nur ein Ehegatte nachziehen, sodass jedem weiteren Ehegatten dies verwehrt bleibt. Zwangs- und Scheinehen sind gemäß den allgemeinen Grundsätzen des § 27 Abs. 1a AufenthG ausgeschlossen. Auch 476 G. Zimmerer, in: Decker/Bader/Kothe, Migrationsrecht (Fn. 162), § 36a AufenthG (2021), Rn. 5. 477 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 5; Zimmerer (Fn. 162), § 36a AufenthG, Rn. 4. 478 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. 479 W. Kluth, Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten: eine verfahrensrechtliche Herausforderung, ZAR 2018, S. 375 (376).

II. Der neue § 36a AufenthG

113

minderjährige ledige Kinder sind selbstverständlich weiterhin nachzugsberechtigt. Auf ihr Kindeswohl ist sogar besonders zu achten (§ 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 sowie Abs. 2 S. 3 AufenthG). Hierbei ist für die Bestimmung der Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen. Eine Unterscheidung des Alters des Kindes, wie sie in § 32 Abs. 2 AufenthG vorgenommen wird, findet nicht statt. Eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift verbietet sich auch angesichts der Tatsache, dass der Gesetzgeber zum einen in § 36a Abs. 4 AufenthG explizit nur § 32 Abs. 3 AufenthG für anwendbar erklärt und zum anderen in seiner Gesetzesbegründung die Anwendbarkeit von § 32 AufenthG ansonsten ausschließt480. Im umgekehrten Fall dürfen Eltern zu ihren minderjährigen Kindern nachreisen, § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG. Dies gilt jedoch nur für den Fall, dass sich kein personensorgeberechtigter Elternteil bereits in Deutschland aufhält. Es geht bei dem Elternnachzug nämlich zuerst um den Schutz des minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten, dem mit dem Aufenthalt eines personensorgeberechtigten Elternteils bereits genüge getan ist481. Der Nachzug gilt dennoch für beide Elternteile, wenn sie gemeinsam nach Deutschland einreisen, wobei der Ausschlussgrund nicht eingreift, wenn der Nachzug aus bestimmten Gründen versetzt erfolgen muss482. Für die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Minderjährigkeit vorgelegen haben muss, gilt das für den Familiennachzug zu Konventionsflüchtlingen bereits Ausgeführte, einschließlich der unterschiedlichen Positionen des Bundesverwaltungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs483. Folgerichtig ist der relevante Zeitpunkt, an dem die Minderjährigkeit des Nachholenden vorgelegen haben muss, der Zeitpunkt des Asylantrags484. § 5 Abs. 1 Nr. 1 und § 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG sind ausgeschlossen (§ 36a Abs. 1 S. 2, 2. Hs. AufenthG), was insoweit der Regelung des § 36 Abs. 1 AufenthG entspricht. Für den Nachzug von Eltern zu ihren minderjährigen Kindern ist also weder die Sicherung des Lebensunterhalts noch der Nachweis der ausreichenden Verfügbarkeit von Wohnraum erforderlich. Für den Ehegatten- und Kindernachzug gilt nach § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG das Gleiche, weshalb der Gesetzgeber von einer eigenständigen Regelung abgesehen hat485. Allerdings findet durch den Ausschluss von § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AufenthG durch § 36a Abs. 5 AufenthG die Dreimonatsfrist keine Anwendung. Nicht ausgeschlossen ist hingegen weiterhin der § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 2 AufenthG, sodass nur von dem Wohnraumerfordernis und der Lebensunterhaltsicherung abzusehen ist, wenn keine besondere Bindung in einen Drittstaat besteht; ansonsten ist dies im Ermessenswege zu 480

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 31. 482 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 34. 483 Siehe ausführlich zum Streitstand über die Frage des relevanten Zeitpunkts des Vorliegens der Minderjährigkeit beim Elternnachzug: B. III. 3. a) ff. 484 S. für die ausführliche Begründung dieser Schlussfolgerung: B. III. 3. c). 485 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. 481

114

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

entscheiden486. Für weitere Familienangehörige, die über die Kernfamilie hinausgehen, ist kein Nachzug über § 36a AufenthG vorgesehen. Dies schließt insbesondere Geschwister von minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten mit ein487. Hier ist der Nachzug zur Vermeidung außergewöhnlicher Härte nach § 36 Abs. 2 AufenthG, aus dringenden humanitären Gründen nach § 22 AufenthG oder im Rahmen von Bundes- oder Länderprogrammen nach § 23 AufenthG möglich. 2. Obergrenze: 1.000 Visa pro Monat Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten enthält eine Obergrenze. Monatlich dürfen nach § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG im Zuge des Familiennachzugs maximal 1.000 Ausländer nachziehen. Bei dieser Kontingentierung wird zur besseren Steuerung auf die durch die Auslandsvertretungen ausgestellten Visa abgestellt488. Mit einer solchen monatlichen Begrenzung auf feste Zahlen betritt der Gesetzgeber aufenthaltsrechtliches Neuland, da eine Steuerung der Migration bislang über die Festlegung bestimmter zu erfüllender Voraussetzungen erfolgte489. Doch der Ursprung oder der Hintergrund dieser bestimmten Menge von maximal 1.000 Visa pro Monat wird in der Gesetzesbegründung weder näher abgeleitet noch begründet, sondern lediglich pauschal mit Blick auf die Kapazitätsfähigkeiten und Folgelasten erklärt490. Der Gesetzgeber erläutert lediglich, dass die Zahl 1.000 der Personenzahl entspreche, zu deren Übernahme sich die Bundesregierung im Rahmen eines gemeinsamen Vorgehens der Mitgliedstaaten der Europäischen Union bis März 2018 gegenüber Italien und Griechenland im Rahmen von Relocation-Programmen verpflichtet hatte491. Dies ist allerdings nur bedingt als Begründung der Zahl 1.000 tauglich. Ein Zusammenhang zwischen der Familienzusammenführung und der Entlastung anderer EU-Staaten ist nur schwer zu erkennen. Vielmehr scheint es so, dass die Bundesregierung nach dem Auslaufen dieser Relocation-Programme gewissermaßen eine Art frei gewordene Aufnahmekapazität neu ausnutzen möchte492. Indes existiert keine formelle Begründungspflicht des Gesetzgebers, sodass eine fehlende Begründung für sich genommen kein verfassungsrechtlicher Mangel ist493. Auch 486 Caritas, Familiennachzug zu subsidiär Geschützten, Erläuterungen und Beratungshinweise, Stand: November 2018, S. 4, abrufbar unter: https://www.ggua.de/file admin/Neue_Arbeitshilfen/18_AhFamiliennachzugSubs.pdf (zuletzt abgerufen am 19.9. 2019). 487 Zu der Frage des Geschwisternachzugs s. B. III. 4. b). 488 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 35; Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. 489 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 54. 490 Kluth, Neuregelung des Familiennachzugs (Fn. 479), S. 380. 491 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 3. 492 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 55. 493 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 36; ausführlicher zu dem Thema: K. Schwarz/C. Bravidor, Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzgebers, JZ 2011,

II. Der neue § 36a AufenthG

115

hat der Gesetzgeber hierbei einen weiten Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten wegweisenden Urteil zur Familienzusammenführung feststellte: „Das Grundgesetz überantwortet es vielmehr weitgehend der gesetzgebenden und vollziehenden Gewalt festzulegen, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht wird.“494

Somit ist die fehlende beziehungsweise wohl eher nicht überzeugende Begründung für die Festlegung auf monatlich maximal 1.000 Visa an sich rechtlich unproblematisch. Jedoch ist anhand des § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG nicht eindeutig zu erkennen, ob es sich um eine ausschließlich für den jeweilig laufenden Monat geltende Obergrenze der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen handelt oder ob es möglich ist, dass nicht genutzte Kapazitäten auf den nächsten Monat übertragen werden können und es sich vielmehr um eine Grenze für das ganze Jahr insgesamt handelt (also 12.000 pro Jahr)495. Dies hat das Bundesinnenministerium im Nachhinein noch einmal aufgeklärt. Die Lösung ist ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Koalitionspartnern496: Für die Zeit vom 1. August bis zum 31. Dezember 2018 lag die Begrenzung bei insgesamt 5.000 Visa, sodass bis zum Ende des Jahres das nicht ausgeschöpfte Kontingent auf den nächsten Monat übertragen werden konnte497. Diese Übertragung fand auch statt. So wurden im Rahmen des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten zwar im August 2018 nur 42 Visa verteilt, im Dezember dann aber 1.050 Visa und insgesamt 2018 2.612 Visa498. Seit dem 1. Januar 2019 ist dies nicht mehr möglich, sodass es sich um eine jeweils für den einzelnen Monat gültige Obergrenze handelt. Diese Obergrenze wurde seitdem auch jeden Monat annäherungsweise ausgeschöpft. Im Jahr 2019 sind über diesem Wege monatlich im Schnitt etwas über

S. 653 ff.; bei bestimmten Themen verlangt das Bundesverfassungsgericht allerdings doch eine ausführlichere Begründung, s. hierzu das „Hartz-IV Urteil“: BVerfG, Urteil vom 9.2.2010, Az. 1 BvL 1, 3, 4/09, BVerfGE 125, 175 (226, Rn. 142 ff.). 494 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96). 495 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 53. 496 Zeit vom 2.5.2018: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-05/fluecht linge-grosse-koalition-einigung-familienzusammenfuehrung-nachzug (zuletzt abgerufen am 26.9.2019). 497 Bundestag, Pressemitteilung vom 15.6.2018, S. 1, abrufbar unter: https://www. bundestag.de/dokumente/textarchiv/2018/kw24-de-familiennachzug/558880 (zuletzt abgerufen am 26.9.2019). 498 A. Kessler, Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Zur Umsetzung der gesetzlichen Beschränkung – ein Jahr nach Neuregelung, Asylmagazin 2019, S. 295 (296), mit Verweis auf eine Präsentation von M. Katz, Auswärtiges Amt, vom 24.6. 2019.

116

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

900 Visa erteilt worden, und insgesamt beläuft sich die Zahl auf 11.133499. Im Jahr 2020 wurde das Kontingent nicht mehr vollständig ausgeschöpft500, was ab Mitte März auch an den Einreisebeschränkungen aufgrund der COVID-19-Pandemie lag. 3. Der unbestimmte Begriff der „humanitären Gründe“ Der zentrale Begriff des § 36a Abs. 1 S. 1 AufenthG ist der Begriff der humanitären Gründe. Neben der Stammberechtigung des subsidiär Schutzberechtigten sowie der Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft müssen solche humanitären Gründe vorliegen, damit der Familiennachzug möglich ist. Hierbei handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der vom Gesetzgeber hinreichend definiert werden muss. Der Begriff selbst ist nicht mit den humanitären Gründen vergleichbar, die an anderen Stellen des Gesetzes auftauchen (so zum Beispiel in § 22 oder § 25 Abs. 4 AufenthG)501. Vielmehr wird er vom Gesetzgeber in § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1–4 AufenthG durch beispielhafte Fallgruppen konkretisiert, die der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit dienen sollen502. Sie sind aus einer Abwägung zwischen den verfassungsrechtlich geschützten Interessen der subsidiär Schutzberechtigten beziehungsweise ihrer Familien einerseits und den Aufnahme- und Integrationskapazitäten Deutschlands und seiner Zivilgesellschaft andererseits heraus entstanden503. Die Aufzählung der Fallgruppen ist jedoch, wie man an dem Adverb „insbesondere“ unschwer erkennt, nicht abschließend. Weitere Fallgruppen sind durchaus denkbar. Diese müssen aber den gesetzgeberischen Wertungen, die sich aus den normierten Fallgruppen ergeben, entsprechen504. Zu diesen gesetzgeberischen Wertungen gehört auch, dass bei der Bestimmung des Vorliegens von humanitären Gründen insbesondere das Kindeswohl und Integrationsaspekte zu berücksichtigen sind (§ 36a Abs. 2 S. 3 und 4 AufenthG). Die besondere Berücksichtigung des Kindeswohls zeigt sich durch die gesonderte wiederholte Erwähnung, nicht nur als Fallgruppe (§ 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AufenthG), sondern auch durch die Wiederholung in § 36a Abs. 2 S. 3 AufenthG. Dies führt zu einer Pflicht der bevorzugten Bearbeitung von Anträgen auf Familiennachzug, bei denen ein Kind beziehungsweise die Eltern zu einem Kind nachziehen wollen505. Auch das Alter des Kindes ist mit zu

499 Antwort der Bundesregierung auf Anfrage, Plenarprotokoll des Bundestags 19/ 139 vom 15.1.2020, S. 17412. 500 So erhielten im Januar 2020 659 Menschen ein Visum, im Februar 782, im März 480, im April 4, vgl. Antwort der Bundesregierung auf Anfrage, Plenarprotokoll des Bundestags 19/162 vom 27.5.2020, S. 20242. 501 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. 502 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 69. 503 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 21. 504 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 24. 505 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 72.

II. Der neue § 36a AufenthG

117

berücksichtigen; Kinder unter 14 Jahren sind besonders schutzwürdig506. Bei der Berücksichtigung der Integrationsaspekte ist sowohl auf solche beim nachziehenden Familienangehörigen als auf solche beim subsidiär Schutzberechtigten abzustellen, wie beispielsweise der Sprachkenntnisse, Sicherung des Lebensunterhalts, gesellschaftliches Engagement oder Aufnahme einer Erwerbstätigkeit507. Ob im Ergebnis humanitäre Gründe vorliegen, die einen Familiennachzug ermöglichen können, stellt das Bundesverwaltungsamt im Rahmen seiner Mitwirkung am Visumverfahren für jeden Einzelfall fest. Bereits während der öffentlichen Anhörungen des Bundestagsausschusses für Inneres und Heimat zu dem Familiennachzugneuregelungsgesetz wurde die Regelung der „humanitären Gründe“ und ihrer Ausgestaltung im Gesetz teilweise kritisch gesehen. So wurde insbesondere der Verfahrensaufwand kritisiert, der eine Prüfung in einem angemessenen Zeitrahmen praktisch nicht realisierbar mache508. Außerdem fehle es an einer Hierarchie und an einer Priorisierung, sodass ein transparentes, für Betroffene erkennbares und gerichtlich gut zu überprüfenden Verfahren, das Aufschluss darüber gebe, wonach die 1.000 Menschen ausgewählt werden, nicht möglich sei509. Dies widerspreche auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wonach es nicht „völlig unvorhersehbar“ sein dürfe, ob ein Anspruch bestehe oder nicht510. Wobei hier jedoch einzuwenden ist, dass durch das Gesetz ja eindeutig der individuelle Anspruch ausgeschlossen ist. Dennoch schlug der UNHCR deshalb einfachere und leichter handhabbare Kriterien vor: Zunächst sollten erst einmal Familien mit minderjährigen Kindern in der Reihenfolge seit Asylantragstellung bevorzugt werden und im Anschluss alle weiteren Antragsteller in der Reihenfolge ihrer Wartezeit abgearbeitet werden511. Dies führt natürlich zu einer Schlechterstellung von kinderlosen Eheleuten, die dann unter Umständen immer weiter nach hinten rücken und denen ein Nachzug so deutlich erschwert wird. Auch wenn sich sicherlich im Laufe der Zeit durch die Verwaltungspraxis des zentral zuständigen Bundesverwaltungsamts und die sich hieran anschließende Gerichtspraxis der Berliner Verwaltungs-

506

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 24. 508 Pro Asyl, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (Familiennachzugsneuregelungsgesetz), A-Drucks. 19(4)57 F, S. 8 f. 509 UNHCR, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (Familiennachzugsneuregelungsgesetz), A-Drucks. 19(4)57 A, S. 2; Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 9. 510 Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 9; EuGH, Urteil vom 12.4.2018, Az. C550/15, NVwZ 2018, 1463 (1465, Rn. 59). 511 UNHCR, Stellungnahme (Fn. 509), S. 3. 507

118

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

gerichtsbarkeit das Verfahren konkretisieren und stabilisieren wird512, so ist die Kritik doch nachvollziehbar. Auch die Fallgruppen können nicht genug Rechtsklarheit bringen. Es ist fraglich, wie diese zueinanderstehen und auch, wie zwischen den verschiedenen Arten des Familiennachzugs (Eltern, Kinder, Eheleute) priorisiert werden muss. Gerade bei einer festen Kontingentierung ist dies jedoch unerlässlich. Von daher ist es geboten, die genauen Verfahrensabläufe in einer Rechtsverordnung zu regeln, die das Gesetz näher ausgestaltet und Kriterien für eine Priorisierung liefert513. a) Lange Dauer der Trennung Zunächst liegen der ersten Fallgruppe folgend humanitäre Gründe vor, wenn die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft seit langer Zeit nicht möglich ist (§ 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG). Es ist also auf den Zeitraum der Trennung abzustellen, wobei der Anknüpfungspunkt für die Berechnung hierbei der Zeitpunkt der Asylantragstellung ist514. Dabei geht der Gesetzgeber offensichtlich von mehrjährigen Wartezeiten aus, was sich mit der bisherigen Praxis des Familiennachzugs deckt515. Jedoch ist der Zeitraum, der erreicht sein muss, um die Anforderungen an humanitäre Gründe zu erfüllen, nicht eindeutig quantifizierbar und kann nicht einheitlich ausgelegt werden. Vielmehr unterscheidet er sich, je nachdem, ob es sich um die familiäre Lebensgemeinschaft von Kindern und Eltern oder von Eheleuten handelt. Daneben sind die bisherige Art des Zusammenlebens, das Alter der Familienmitglieder sowie die Abhängigkeit der Familienmitglieder voneinander zu berücksichtigen516. Auch wenn die genaue Trennungsdauer unklar bleibt, so ist anlehnend an Wartefristen in anderen Situationen und verglichen mit anderen Ländern ein Zeitraum von zwei bis drei Jahren denkbar517. Das Bundesverfassungsgericht zog in seiner Entscheidung vom 12. Mai 1987 zum Ehegattennachzug als Kriterium außerdem die Gefährdung des

512 So auch D. Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags, A-Drucks. 19(4)57 H, S. 21 f.; ders., Obergrenze für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, NVwZ 2018, S. 1340 (1344); der Autor verweist hier auch auf die verfassungsrechtliche Möglichkeit einer solchen Konkretisierung, vgl. BVerfG, Urteil vom 27.7.2005, Az. 1 BvR 668/04, BVerfGE 113, 348 (375 f., Rn. 119 f.). 513 Vgl. hierzu auch Kluth, Neuregelung des Familiennachzugs (Fn. 479), S. 378. 514 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. 515 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 81; die Dauer ergibt sich neben der Dauer der Flucht selbst hauptsächlich aus der Länge des Asylverfahrens in Deutschland sowie des Visumsverfahren in dem jeweiligen Herkunftsland, zu der tatsächlichen Dauer der Trennung bei Familiennachzug s. Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme, Das Recht auf Familie, Familieneinheit von Kindern und Eltern ermöglichen – auch für subsidiär Geflüchtete, Stand: 16.12.2016, S. 4. 516 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 82. 517 Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1344.

II. Der neue § 36a AufenthG

119

Bestands der familiären beziehungsweise ehelichen Gemeinschaft zurate518. Neben der Dauer des Getrenntlebens muss eine Beendigung dieses Zustands auch unmöglich sein. Dies erfordert eine Untersuchung der Umstände, die im Einzelfall zur Trennung geführt haben, einschließlich der Möglichkeit alternativer Wege zur Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft519. Diese ist seit langer Zeit insbesondere dann nicht möglich, wenn sie in einem Drittstaat wegen der fehlenden Möglichkeit der legalen Einreise des subsidiär Schutzberechtigten unmöglich oder aber wegen der Unsicherheit der Bleibeperspektive der Familienmitglieder oder wegen der Lebensumstände in dem Drittstaat unzumutbar ist520. Für die Anerkennung eines langen Zeitraums der Trennung als humanitärer Grund im Sinne von § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG ist also weder ein bestimmter Zeitraum quantifizierbar noch sind pauschal bestimmte Umstände hierfür evident. Es muss jeweils die einzelne Situation der Familie oder der Ehe betrachtet werden. b) Besonderer Schutz minderjähriger Kinder Ein weiterer besonderer humanitärer Grund ist die Betroffenheit eines minderjährigen ledigen Kindes (§ 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AufenthG). Dies steht in einer Reihe mit dem Auftrag der besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls gemäß § 36a Abs. 2 S. 3 AufenthG. Die Wiederholung dieses Gesichtspunkts hebt diesen Aspekt hervor und verpflichtet den Normanwender, bei der Auswahl der Anträge im Falle einer Überschreitung des Kontingents, das Kindeswohl und damit den Nachzug von oder zu minderjährigen Kindern zu priorisieren521. Bei dieser Priorisierung nach der besonderen Schutzwürdigkeit des Kindeswohls sind Aspekte wie die Unterkunfts-, Betreuungs- und Personensorgesituation der Kinder, sowohl der subsidiär Schutzberechtigten in Deutschland als auch der Nachzugswilligen im Ausland, zu überprüfen522. Auch die Fragen, ob andere Familienangehörige in räumlicher Nähe zu dem Minderjährigen wohnen, sowie das kindliche Zeitempfinden hinsichtlich der Dauer der Trennung sind in Erwägung zu ziehen523. Auf Kritik stößt hingegen die vom Gesetzgeber geforderte besondere Schutzwürdigkeit für Kinder unter 14 Jahren, die im Widerspruch zum Verständnis von Minderjährigkeit sowohl nach dem deutschen Recht (§ 80 Abs. 3 S. 1 AufenthG i.V. m. § 2 BGB) als auch nach Völkerrecht (Art. 1 KRK) stünde, die auf die Vollendung des 18. Lebensjahres abstellen524. Durch diese besondere 518 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (69, Rn. 143). 519 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 83. 520 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22; Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 27. 521 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 85. 522 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 24. 523 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 24. 524 Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 10.

120

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

Schutzbedürftigkeit für Kinder unter dem 14. Lebensjahr würde aufgrund der begrenzten Kontingentierung de facto eine feste Altersgrenze geschaffen525. Hierbei übersieht die Kritik gleichwohl, dass dies nur ein weiteres von vielen Auswahlkriterien ist und dass es sich nicht um eine starre Grenze handelt, sondern vielmehr um eine Schutzbedürftigkeitsvermutung. Dass Minderjährige aber in der Regel schutzbedürftiger sind, je jünger sie sind, muss der Gesetzgeber nicht vorgeben, sondern entspricht dem gesunden Menschenverstand. Die Grenze von 14 Jahren stimmt überdies mit der Definition von „Kind“ nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII überein526. c) Ernsthafte Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit Die dritte Fallgruppe der humanitären Gründe betrifft die ernsthafte Gefährdung von Leib, Leben oder Freiheit des Nachzugswilligen im Aufenthaltsstaat. Dies lehnt sich an den Begriff „real risk“ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 3 EMRK an527, sodass lediglich allgemeine Gefahren, die der Bevölkerung generell drohen, nicht ausreichend sind528. Auch sind entsprechend der Auslegung des subsidiären Schutzes vor unmenschlicher Behandlung ausreichend konkrete Anhaltspunkte für eine individuelle Gefährdungslage vonnöten529. Das bloße Vorliegen einer abstrakten Gefahr ist genügt nicht530. Der Gesetzgeber nennt in seiner Gesetzesbegründung auch Beispiele für Fälle, in denen eine solche Gefährdung vorliegt. Dies sei der Fall bei „drohender Gewalt, drohender Rekrutierung als Kindersoldat, drohendem Menschen- oder Kindeshandel oder drohender Zwangsheirat“531. Die vollumfängliche Beweislast trägt bei dieser Fallgruppe der Nachzugswillige, die auswärtigen Vertretungen müssen hingegen keine eigenen Nachforschungen anstellen532. Die Aufnahme dieser Fallgruppe wird in der Literatur zum Teil kritisiert. Sie verstoße gegen die asylrechtliche Systematik und verwische die Grenze zwischen „asylrechtlichem Schutz und humanitärer Aufenthaltsgewährung“533. Hierdurch ergeben sich Überschneidungen zwischen dem Ersuch nach Familiennachzug und dem Streben nach humanitärem Schutz durch einen Asylantrag, wobei Letzteres im Gegensatz zu Ersterem nur in Deutschland und durch ein förmliches Verfahren möglich ist534. 525 526 527 528 529 530 531 532 533 534

Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 10. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23 f. Stellvertretend hierfür: EGMR, Urteil vom 23.8.2016, Az. 59166/12, Rn. 49 ff. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 91. Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 29; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 92. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 92. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 93. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 93.

II. Der neue § 36a AufenthG

121

d) Schwerwiegende Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit Bei der vierten und letzten Fallgruppe der „humanitären Gründe“ handelt es sich zugleich um die schwierigste und komplexeste Gruppe. Demnach liegen humanitäre Gründe auch vor, wenn entweder der subsidiär Schutzberechtigte oder sein Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind oder ein Elternteil des minderjährigen subsidiär Schutzberechtigten schwerwiegend erkrankt, pflegebedürftig oder schwer behindert ist (§ 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AufenthG). Diese Fallgruppe stellt die höchsten Anforderungen an die Konkretisierung der Norm, wie die Ausführlichkeit und Präzision der Gesetzesbegründung zeigt535. Bei der Bestimmung dieser Fallgruppe sind Parallelen zu § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG denkbar, bei dessen Anwendung und der Frage des Familiennachzugs sonstiger Familienangehöriger Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit als Fall der außergewöhnlichen Härte anerkannt ist, sodass auf die Erfahrungen der Verwaltung und der Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann536. Was genau unter jenen drei Untergruppen der vierten Fallgruppe zu verstehen ist, hat der Gesetzgeber außerdem in der Gesetzesbegründung definiert. So liegt eine schwerwiegende Krankheit vor, wenn sie lebensbedrohlich ist oder eine so schwere Gesundheitsstörung verursacht, dass die Lebensqualität dauerhaft nachhaltig beeinträchtigt ist537. Hingegen sind nach der Gesetzesbegründung solche Menschen pflegebedürftig, die dauerhaft, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, mindestens schwere Beeinträchtigungen (entspricht Pflegegrad 3 im Sinne von § 15 SGB X) der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten in hierfür maßgeblichen Bereichen wie beispielsweise der Mobilität, der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten oder auch der Selbstversorgung aufweisen und deshalb Hilfe durch andere benötigen538. Eine schwere Behinderung im Sinne des § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 AufenthG ist die durch die Schwere der durch sie verursachten Teilhabestörung dauerhafte und nachhaltige Beeinträchtigung der Lebensqualität539. Ob eine Krankheit, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung als schwerwiegend genug und damit als humanitärer Grund zu qualifizieren ist, misst sich daran, ob es anhand der Schwere des Falles geboten ist, die Familienangehörigen in Deutschland zusammenzuführen540. Dies setzt voraus, dass sie weder vorübergehend noch im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts im Ausland behandelbar ist, wobei für Letzteres

535

Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 31; Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 11. Caritas, Familiennachzug (Fn. 486), S. 5; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 94; vgl. zur Anerkennung von außergewöhnlicher Härte bei Pflege- oder Betreuungsbedürftigkeit: Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36 Rn. 22. 537 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. 538 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. 539 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. 540 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. 536

122

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

die Auslandsvertretungen eine Einschätzung abgeben müssen541. Darüber hinaus ist die Erkrankung, Pflegebedürftigkeit oder Behinderung durch eine qualifizierte Bescheinigung glaubhaft zu machen, es sei denn anderweitige Anhaltspunkte liegen vor. Für die Anforderung an solche ärztlichen Atteste können die Maßstäbe, die für vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gelten (§ 60a Abs. 2c S. 3 AufenthG), herangezogen werden542. Die Beweislast liegt hier mit erhöhten Anforderungen bei den Betroffen, was teilweise kritisiert wird, da dies zu Problemen bei der Beweisführung führen kann, falls sich Atteste im Herkunfts- oder einem Drittstaat befinden543. Deshalb sollte zunächst jede Krankheit berücksichtigt werden544. Auf der anderen Seite wird aufgrund der Signalwirkung dieser Regelung und der Schwierigkeiten bei der Überprüfung solcher ärztlichen Atteste teilweise generell die Aufnahme dieser Fallgruppe als Regelbeispiel für humanitäre Gründe abgelehnt545. Als Ausgleich dieser beiden Positionen erscheint die Regelung des Gesetzgebers sinnvoll. Pflegebedürftigkeit und schwerwiegende Erkrankungen oder Behinderungen sind humanitäre Gründe, die bei der Zuerkennung des Familiennachzugs berücksichtigt werden sollten. Gleichzeitig ist es sinnvoll, die Beweispflichten klar zu regeln und gewisse Anforderungen an den Nachweis zu richten, um einen etwaigen Missbrauch zu verhindern. 4. Ausschlussgründe: „Soll-Nicht“-Vorschriften § 36a Abs. 3 AufenthG listet thematisch nicht verbundene Fallgruppen auf, bei denen aufgrund besonders schutzwürdiger Interessen die Erteilung des Aufenthaltstitels zum Familiennachzug in der Regel ausgeschlossen ist546. Ausgeschlossen vom Familiennachzug sind regelmäßig Familienangehörige, wenn bei Ehegatten die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde (Nr. 1), wenn der in Deutschland lebende Familienangehörige wegen bestimmter Straftaten verurteilt worden ist (Nr. 2) oder wenn das Ende des Aufenthalts des subsidiär Schutzberechtigten absehbar ist (Nr. 3 und Nr. 4). Es handelt sich hierbei um eine komplexe Ausnahmeregelung, die keinesfalls strikt den Familiennachzug ausschließt, sondern vielmehr eine umgekehrte intendierte Ermessenentscheidung verlangt547. § 36 Abs. 3 AufenthG kann man insofern vereinfacht auch als „Soll-Nicht“-Vorschrift beschreiben. Zwar ist die Verweigerung des Familiennachzugs „in der 541 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 96; Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. 542 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 95; Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 23. 543 Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 11. 544 Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 11. 545 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 94. 546 Caritas, Familiennachzug (Fn. 486), S. 6; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 97; Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 38. 547 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 38.

II. Der neue § 36a AufenthG

123

Regel“ die Folge der Verwirklichung einer dieser Fallgruppen, jedoch ist bei besonders gelagerten, atypischen Umständen der Familiennachzug dennoch möglich548. Die Gewährung des Aufenthaltstitels ist dann jedoch besonders begründungsbedürftig549. Die Gestaltung der Ausschlussgründe als umgekehrte intendierte Ermessensentscheidungen ermöglicht eine einzelfallbezogene Wertung und erlaubt es, grundrechtliche und menschenrechtliche Belange sowie das Kindeswohl besonders zu berücksichtigen550. Bei der Ausübung ihres Ermessens sind die zuständigen Behörden verpflichtet, den Sachverhalt ausführlich zu ermitteln und angemessen zu würdigen, ansonsten kann dies zu Ermessensfehlern und folglich zur Rechtswidrigkeit des Ausschlusses des Familiennachzugs führen551. a) Erst nach Flucht geschlossene Ehe Nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG wird die Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Ehegattennachzugs regelmäßig nicht erteilt, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde. Auch wenn die Gesetzesbegründung selbst hierzu mangels Begründung oder rechtlicher Würdigung keinen Aufschluss gibt, so liegt wohl der Grund für die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung in der Annahme, dass Ehegatten, die erst nach der Flucht die Ehe geschlossen haben, in Kenntnis der Flucht- und Trennungssituation handelten und deshalb die Herstellung der Familieneinheit in geringerer Weise schutzwürdig sei552. Darüber hinaus kann diese Differenzierung eine zusätzliche Hürde gegen den Missbrauch durch Scheinehen, die nur um der Aufenthaltserlaubnis wegen geschlossen werden, darstellen. Die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung ist indes nicht neu und entspricht Art. 9 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie, der die Mitgliedstaaten ermächtigt, den Familiennachzug auf anerkannte Flüchtlinge zu begrenzen, deren familiäre Bindungen bereits vor der Einreise bestanden haben553. Allerdings handelt es sich bei der Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie lediglich um den Ausschluss vom privilegierten Familiennachzug, nicht vom Familiennachzug generell, sodass hier unterschieden werden muss554. Die erste Fallgruppe der Ausschlussgründe ist zugleich wohl die umstrittenste. So wird teilweise kritisiert, dass es an einem sachlichen Grund für die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung fehle und es gerade bei manchen 548

Caritas, Familiennachzug (Fn. 486), S. 6; Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 38. Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 38. 550 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 39. 551 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 39. 552 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 97 f.; Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 40. 553 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 98. 554 Vgl. F. II. 2. c). 549

124

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

teilweise Jahre andauernden Flüchtlingsschicksalen vorkomme, dass sich Ehen und familiäre Bindungen erst nach der Flucht aus dem Herkunftsland, beispielsweise in Flüchtlingslagern, ergeben555. § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG könnte auch im Widerspruch zur europäischen Rechtsprechung stehen. So hat der Europäische Gerichtshof am 4. März 2010 entschieden, dass eine Differenzierung nach dem Zeitpunkt des Entstehens der familiären oder ehelichen Bindung nicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar ist556. Die Richtlinie unterscheidet weder in Art. 2 lit. d noch in Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a nach einem solchen Zeitpunkt. Eine derartige Differenzierung ist nur beim privilegierten Nachzug zu Konventionsflüchtlingen gemäß Art. 9 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie möglich557. Dies gilt aber nicht für den „einfachen“ Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Zusätzlich würden auch Art. 8 EMRK und Art. 7 EU-GRCh nicht nach den Umständen und dem Zeitpunkt der Entstehung der Familie (und damit auch der Eingehung der Ehe) unterscheiden558. Sofern man die Familienzusammenführungsrichtlinie für auf den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten anwendbar hält559, ist eine solche Differenzierung unzulässig. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte am 6. November 2012, dass es eine ungerechtfertigte Diskriminierung und damit eine Verletzung von Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK darstelle, wenn Familien unterschiedlich behandelt würden, je nachdem, ob die Familienbindung bereits vor oder erst nach der Flucht bestand560. Die Übertragbarkeit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf den § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG wird indes in der Literatur teilweise bestritten. Insbesondere wird kritisiert, dass die Ausgangs- und Interessenlage eine andere sei, da es im Gegensatz zum Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, bei dem es um ein an sich unbegrenztes Recht auf Familiennachzug ging, bei der deutschen Norm um eine kontingentierte Nachzugsregelung gehe und hierbei eine besondere Differenzierung und Priorisierung schlicht notwendig und deshalb gerechtfertigt sei561. Eine Familienbindung, die bereits viele Jahre vor der Flucht bestand, kann in der Tat

555

Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 12; UNHCR, Stellungnahme (Fn. 509),

S. 4. 556 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/09, NVwZ 2010, 697 (701, Rn. 59); die Rechtsprechung des EuGH und die europarechtlichen Überprüfung dieser Ausnahmevorschrift wird unten ausführlicher behandelt, s. F. II. 2. c). 557 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/08, NVwZ 2010, 697 (700, Rn. 60); vgl. zum privilegierten Nachzug: F. II. 2. b). 558 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/09, NVwZ 2010, 697 (701, Rn. 63). 559 Dies ist der Fall, s. hierzu ausführlich: F. II. 2. a). 560 EGMR, Urteil vom 6.11.2012, Az. 22341/09, Rn. 55 f.; auch hierzu unten eine ausführlichere Auseinandersetzung, s. F. II. 2. c). 561 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 100.

II. Der neue § 36a AufenthG

125

schutzwürdiger sein als eine Ehe, die während der Flucht und in Kenntnis einer möglicherweise langjährigen Trennung geschlossen wird, sodass erstere bei einer Kontingentierung priorisiert werden sollte. Im Gegensatz zu dem eindeutigen Wortlaut der Familienzusammenführungsrichtlinie, die keinen Spielraum und auch keine Rechtfertigung für die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindung gestattet, ist bei Art. 8 und Art. 14 EMRK beides möglich. Aus diesem Grund kommt man bei der Frage, ob der regelmäßige Ausschluss von nach der Flucht geschlossenen Ehen rechtmäßig ist, zu einem differenzierten Ergebnis: § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist zwar mit der Europäischen Konvention für Menschenrechte vereinbar, aber nach der Familienzusammenführungsrichtlinie, die auch für den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten maßgeblich ist562, nicht zulässig563. Unabhängig von der rechtlichen Zulässigkeit ist fraglich, ob ein solcher Ausnahmetatbestand überhaupt notwendig ist. De facto führt die besondere Berücksichtigung des Kindeswohls dazu, dass der Ehegattennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten grundsätzlich nachrangig sein wird. Auch wird schon bei der Frage, ob ein Familiennachzug gewährt wird, die Schutzbedürftigkeit berücksichtigt werden, sodass nach der Flucht geschlossene Ehen auch ohne den Ausschlussgrund der Nr. 1 „am Ende der Nahrungskette“ sein dürften, wenn es um den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten geht. Und in Fällen, in denen eine außergewöhnliche Situation vorliegt, die eine besondere Schutzbedürftigkeit und damit die Familienzusammenführung rechtfertigt, ist trotz des Ausschlussgrundes der Ehegattennachzug möglich. Es ist also zweifelhaft, ob der regelmäßige Ausschluss von nach der Flucht geschlossenen Ehen einen Mehrwert hat oder ob eine solche Differenzierung nicht im Rahmen der Ermessensentscheidung des § 36a Abs. 1 AufenthG besser aufgehoben wäre. b) Straftaten durch den subsidiär Schutzberechtigten Nach der zweiten Fallgruppe soll der Familiennachzug in der Regel ausgeschlossen sein, wenn der subsidiär Schutzberechtigte wegen bestimmter schwerwiegender Straftaten verurteilt worden ist (§ 36a Abs. 3 Nr. 2 lit. a–d AufenthG). Insbesondere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie solche, die mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung, mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen wurden, werden hiervon umfasst564. Dieser Strafenkatalog entspricht in etwa denjenigen Straftaten, die ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 1–3 AufenthG begründen565. Die 562 563 564 565

S. hierzu: F. II. 2. a). Ausführlich zu der Rechtmäßigkeit: F. II. 2. c). Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 408 f. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 102.

126

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

Fallgruppe des § 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG bezieht sich hierbei nicht nur auf abgeschlossene Verfahren, sondern auch auf solche, die noch nicht abgeschlossen sind, wie sich aus § 79 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AufenthG ergibt566. Demnach ist der Familiennachzug bis zum Abschluss des jeweiligen Verfahrens, im Falle einer gerichtlichen Entscheidung bis zu ihrer Rechtskraft, ausgesetzt, es sei denn, über den Aufenthaltstitel gemäß § 36a Abs. 1 AufenthG kann ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens entschieden werden. § 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG dient einerseits der Konkretisierung des in § 5 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG angesprochenen öffentlichen Interesses an der Rechtstreue567. Darüber hinaus beruht der Ausschluss des Familiennachzugs in diesen Fällen auf der Annahme, dass eine positive Integrationsprognose bei Gewährung des Familiennachzugs zu einem straffälligen Ausländer nicht zu erwarten sei568. Diese Regelung unterstützend wird vorgetragen, dass es ein berücksichtigungswertes öffentliches Interesse an der Verhinderung des Aufenthaltsrechts für subsidiär Schutzberechtigte gebe, die durch das Begehen schwerer Straftaten ihre „mangelnde Integrationsfähigkeit und -bereitschaft“ zum Ausdruck brächten569. Darüber hinaus sei dies auch eine Gefahr für die Integration der nachziehenden Familienangehörigen, da eine Sozialisierung in einem durch Straftaten geprägten Umfeld nicht integrationsfördernd sei570. Teilweise wird jedoch kritisiert, dass diese Regelung das bisherige System auf dem Kopf stelle und zu einer „Sippenhaft“ der Familienangehörigen führe: So sind nicht die nachzugswilligen Verwandten straffällig geworden, sondern der subsidiär Schutzberechtigte selbst571. Dem sei jedoch mit dem Mittel der Ausweisungsentscheidung nach §§ 53, 54 AufenthG zu begegnen und nicht mit einer Bestrafung für schlechtes Verhalten durch die Einschränkung der Familienzusammenführung572. Sofern die Straftaten nicht ausreichen, um eine Ausweisung zu rechtfertigen, sollen sie auch nicht zum Ausschluss des Familiennachzugs führen573. Doch gerade der Umstand, dass diese Straftatbestände auch eine Ausweisung rechtfertigen können, spricht dafür, dass auch hier der Familiennachzug versagt werden sollte. Diese Gruppe steht dann in einem engen Zusammenhang zu den Fallgruppen in Nr. 3 und Nr. 4. In allen Fällen ist zu erwarten, dass der Aufenthalt des subsidiär Schutzberechtigten absehbar endet. In Fällen, in denen dem 566

Thym, Stellungnahme (Fn. 512), S. 11. Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 41. 568 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 97. 569 So Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 101. 570 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 101. 571 N. Allenberg, Stellungnahme des Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages vom 11. Juni 2018 zum Familiennachzugsneuregelungsgesetz, A-Drucks. 19(4)57 E, S. 9. 572 Allenberg, Stellungnahme (Fn. 571), S. 9. 573 Allenberg, Stellungnahme (Fn. 571), S. 9. 567

II. Der neue § 36a AufenthG

127

subsidiär Schutzberechtigten die Ausweisung droht, gleichzeitig den Familiennachzug zu gewähren, ist hierbei nicht sinnvoll. Es handelt sich in diesen Fällen auch nicht um eine „Sippenhaft“ oder um eine Bestrafung durch die Versagung der Familienzusammenführung, sondern um einen Aspekt der abwägenden Integrationsprognose. Gerade da die Kommunen und Länder in Deutschland nur begrenzte Aufnahme- und Integrationskapazitäten haben, ist es unabdingbar, dass Integrationsaspekte bei der Abwägung des Familiennachzugs eine Rolle spielen, so wie es auch § 36a Abs. 2 Nr. 3 AufenthG normiert. Und bei den in Nr. 2 aufgezählten Straftaten geht es nicht um kleine Vergehen, sondern um schwerwiegende Straftaten. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, in diesen Fällen regelmäßig den Nachzug auszuschließen, wobei hierbei atypische Einzelfälle berücksichtigt werden müssen. c) Absehbares Aufenthaltsende des subsidiär Schutzberechtigten Die dritte und vierte Fallgruppe des § 36a Abs. 3 AufenthG schließen in der Regel den Familiennachzug in Fällen aus, in denen ein baldiges Ende des Aufenthalts des subsidiär Schutzberechtigten zu erwarten ist. Dies ist der Fall, wenn die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels nicht zu erwarten sind (Nr. 3) oder wenn der subsidiär Schutzberechtigte eine Grenzübertrittsbescheinigung beantragt hat (Nr. 4). Die dritte Fallgruppe umfasst alle Fälle, in denen das baldige Ende der Aufenthaltserlaubnis des in Deutschland lebenden subsidiär Schutzberechtigten zu erwarten ist. Dies ist neben der Nichtverlängerung des Aufenthaltstitels auch über den Wortlaut hinweg dann der Fall, wenn die Behörden den Aufenthaltstitel widerrufen oder zurücknehmen (vgl. § 73b AsylG)574. Darüber hinaus ist dies auch bei einer drohenden Ausweisung des subsidiär Schutzberechtigten gegeben, da auch hier die eine Verlängerung des Aufenthaltstitels nicht mehr zu erwarten ist575. Die Regelung ist insofern nicht abschließend. Es fehlt in all diesen Fällen an einer hinreichenden Bleibeperspektive in Deutschland, die für den Familiennachzug der Anknüpfungspunkt ist576. Folgerichtig ist dann auch die Herstellung der Familieneinheit in Deutschland nicht sinnvoll, da es unschlüssig ist, jemanden nachziehen zu lassen, wenn der Aufenthalt des subsidiär Schutzberechtigen nur noch von kurzer Dauer ist577. Wie bei Nr. 2 gilt auch hier die Regelung des § 79 Abs. 3 AufenthG, wonach bereits bei begonnener Widerrufs- oder Rücknahmeprüfung das Verfahren zum Familiennachzug ausgesetzt wird. Auch diese Fallgruppe sorgt bei einzelnen Organisationen für Kritik. So sei die Formulierung „nicht zu erwarten ist“ zu offen formuliert und würde zu einer spekulativen Einschätzung 574 575 576 577

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 25. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 105. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 25. Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 42.

128

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

über den fortdauernden Schutzbedarf und die perspektivische Verlängerung des Aufenthaltstitels führen578. Schon politische Diskussionen über Rückkehrmöglichkeiten in Herkunftsländer wie Irak oder Syrien könnten den Familiennachzug bedrohen579. Für diese komplexe Analyse des Sachverhalts und der rechtlichen Würdigung sei jedoch ein eventuelles Widerrufsverfahren der richtige Ort, sodass bis zu einem rechts- oder bestandskräftigen Widerruf der Familiennachzug gewährt werden sollte580. Im Übrigen sei es widersprüchlich, den Familiennachzug auszusetzen, wenn die zuständigen Behörden von einem Widerruf absehen581. Die Kritik übersieht, dass der subsidiäre Schutz, genau wie der Flüchtlingsschutz, keinen dauerhaften Aufenthalt gewährt. Er wird auf Zeit vergeben, erst für ein Jahr, dann für zwei weitere Jahre. Sofern absehbar ist, dass der Schutz nicht verlängert wird (insbesondere nach drei Jahren), muss die Behörde den Aufenthalt nicht in einem weiteren aufwändigen Verfahren vorzeitig widerrufen, sondern kann den Ablauf des Aufenthaltstitels abwarten. Dies verlangt natürlich eine gewisse Prognose über eine mögliche Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, allerdings treffen die Behörden auch bei der Frage nach Integrationsperspektiven Prognoseentscheidungen. Die ganze Regelung des § 36a AufenthG lebt von Einzelfallabwägungen, wie bei der Frage, ob humanitäre Gründe vorliegen, ob das Kindeswohl ausreichend berücksichtigt wurde oder wem jetzt genau im monatlichen Kontingent der Nachzug gewährt wird. Folglich ist es den Behörden auch zuzutrauen, in dieser Frage eine Prognoseentscheidung zu treffen und gleichzeitig die berechtigten Interessen des subsidiär Schutzberechtigten und seiner Familie im Blick zu haben. Die fehlende Bleibeperspektive des subsidiär Schutzberechtigten ist auch die Grundlage für die Regelung der vierten Fallgruppe. Sofern der subsidiär Schutzberechtigte eine Grenzübertrittsbescheinigung beantragt, soll der Familiennachzug regelmäßig ausgeschlossen sein. Unter einer Grenzübertrittsbescheinigung versteht man eine Bescheinigung in Form eines amtlichen Vordrucks als Nachweis über die freiwillige Ausreiseabsicht des Ausländers582. Hiermit dokumentiert der subsidiär Schutzberechtigte, dass er beabsichtigt, das Bundesgebiet zu verlassen583. Eine solche Bescheinigung ist beispielsweise erforderlich, wenn man Zuwendungen im Rahmen eines nach REAG/GARP584 geförderten Pro578

Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 12; UNHCR, Stellungnahme (Fn. 509), S. 4. Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 12. 580 UNHCR, Stellungnahme (Fn. 509), S. 4. 581 Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 12. 582 Vgl. AVV AufenthG (Fn. 39), Nr. 50.4.1.4. 583 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 25. 584 Reintegration and Emigration Programme for Asylum Seekers in Germany/ Government Assisted Repatration Programme (REAG/GARP): Förderprogramme von Bund und Ländern mit Unterstützung des IOM zur Unterstützung von Personen bei der freiwilligen Rückkehr in ihr Herkunftsland. 579

II. Der neue § 36a AufenthG

129

gramms zur Förderung der freiwilligen Rückkehr in Anspruch nehmen möchte585. Auch hier wäre die Gewährung des Familiennachzugs nicht mehr sinnvoll, wenn der Ausländer die Bundesrepublik bald verlassen möchte. 5. Verhältnis zu anderen Normen § 36a AufenthG regelt den besonderen Fall des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigte. Daneben verweist die Norm an einigen Stellen auf allgemeine Regeln, deren Anwendung beziehungsweise Ausschluss der Anwendung hierdurch geregelt wird. Aus der Systematik des Aufenthaltsgesetzes folgt, dass die allgemeinen Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel und den Familiennachzug auch für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten gelten, sofern nichts Anderweitiges gilt586. Die Absätze 4 und 5 drücken darauf aufbauend aus, welche dieser Voraussetzungen entsprechend gelten und welche keine Anwendung finden587. Die besonderen Voraussetzungen des Ehegatten-, Kinder- und Elternnachzugs (§§ 30, 32, 36 Abs. 1 AufenthG) gelten an sich aufgrund § 36a AufenthG als lex specialis nicht für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Da die Regelungsintention in vielen dieser Anforderungen jedoch die gleiche ist588, normiert der Gesetzgeber in § 36a Abs. 4 AufenthG, welche Grundsätze auch für subsidiär Schutzberechtigte gelten sollen. So gelten auch für den Familiennachzug zu diesen sowohl das Gebot der Volljährigkeit bei Eheschließung (§ 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG, inklusive der Ausnahmeregelung für Härtefälle in § 30 Abs. 2 S. 1 AufenthG) als auch der Ausschluss des Ehegattennachzugs für mehr als einen Ehepartner im Fall von Mehrehen (§ 30 Abs. 4 AufenthG). Daneben ist auch bei subsidiär Schutzberechtigten der Nachzug zu nur einem von zwei Elternteilen möglich, sofern der andere Elternteil sein Einverständnis hierzu gibt oder aber dies rechtsverbindlich entschieden wurde (§ 32 Abs. 3 AufenthG). In § 36a Abs. 5 AufenthG werden spiegelbildlich hierzu Normen genannt, die nicht für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten gelten. So wird unter anderem § 27 Abs. 3 S. 2 AufenthG ausgeschlossen, der wiederum erlaubt, vom Erfordernis des Nichtvorliegens eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen589. Vereinfacht bedeutet dies, dass ein bestehendes Interesse an der Ausweisung des subsidiär Schutzberechtigten den Familiennachzug regelmäßig ausschließt. Dies ist angesichts des Ausschlussgrundes in § 36a Abs. 3 Nr. 3 AufenthG auch schlüssig, da in beiden Fäl-

585 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 25; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 106. 586 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 43; Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. 587 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 43. 588 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 25. 589 Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 51.

130

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

len der Aufenthalt in Deutschland für den subsidiär Schutzberechtigten bald enden soll. Daneben ist auch § 29 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 AufenthG nicht anwendbar, sodass der Familiennachzug nicht an die Dreimonatsfrist für einen privilegierten Nachzug gebunden ist590. Von dem Erfordernis von ausreichend Wohnraum (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) sowie nach Sicherung des Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) ist also zwingend abzusehen. Der Gesetzgeber begründet dies damit, dass eine Frist nicht angemessen sei, da humanitäre Gründe nicht an Fristen gebunden werden könnten591. Zudem beläuft sich die Aufenthaltserlaubnis für subsidiären Schutz erst einmal nur auf ein Jahr, sodass der Schutzberechtigte zunächst ohne den Druck, die Dreimonatsfrist einhalten zu müssen, die Möglichkeit haben soll, zu prüfen, ob er eine längere Aufenthaltserlaubnis erhalte und somit in Anbetracht dieser zeitlichen Komponente der Familiennachzug überhaupt lohnenswert erscheint592. Des Weiteren findet sich in §36a Abs. 1 S. 4 AufenthG ein Verweis auf die §§ 22, 23 AufenthG, die anwendbar bleiben, auch wenn die Voraussetzungen des § 36a AufenthG nicht vorliegen. Dies dient der Rechtssicherheit, wobei bereits die systematische Stellung des § 36a AufenthG erkennen lässt, dass kein Ausschluss dieser Normen beabsichtigt ist593. Gemäß § 22 AufenthG kann eine Aufenthaltserlaubnis aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen in Einzelfällen erteilt werden. Dies ist der Fall, wenn sich die Aufnahme des Familienangehörigen aufgrund des Gebotes der Menschlichkeit aufdrängt und die Situation es zwingend erforderlich macht, zum Beispiel bei erheblicher und unausweichlicher Gefahr für Leib und Leben des Angehörigen im Ausland594. Es ist hierbei jedoch zu beachten, dass die Anwendung des § 22 AufenthG nicht § 36a AufenthG aushöhlen darf, dessen Grundsätze und Abgrenzung bei der Auslegung der dringenden humanitären Gründe zu beachten sind595. Wortlaut und Systematik des § 36a AufenthG legen zudem den Schluss nahe, dass sich durch die Neuregelung des Familiennachzugs nicht die restriktive Auslegung des § 22 AufenthG und Anwendung auf eng begrenzte Ausnahmefälle geändert hat596. Wobei auf der anderen Seite das Bundesverfassungsgericht bereits mit Blick auf Aussetzung des Familiennachzugs nach § 104 Abs. 13 AufenthG a. F. die besondere Bedeutung des § 22 AufenthG zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit betont

590 Caritas, Familiennachzug (Fn. 486), S. 6, Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 407. 591 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 25. 592 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 25. 593 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 20. 594 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. 595 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 61. 596 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 62, 64.

III. Schlussfolgerungen

131

hat597. Dasselbe gilt auch für § 36a AufenthG598. Unverändert besteht zudem die Möglichkeit einer Aufenthaltsgewährung aufgrund einer Verpflichtungserklärung im Rahmen von Bundes- oder Länderprogrammen nach § 23 AufenthG599.

III. Schlussfolgerungen Mit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten hat der Gesetzgeber versucht, ein angemessenes Maß zwischen Begrenzung und Gewährung zu finden. Herausgekommen ist eine recht komplexe und komplizierte Regelung, die in der konkreten Anwendung in der Praxis für Anwender wie Betroffene noch viele Fragen offenlässt. § 36a AufenthG vereint in einem Paragraphen viele Aspekte, die das gesamte Asyl- und Aufenthaltsrecht ausmachen. Es normiert Fallgruppen für humanitäre Gründe, die eine Aufenthaltserlaubnis gewähren, sowie Fallgruppen für Ausschlussgründe, aufgrund derer eine solche Aufenthaltserlaubnis nicht gewährt werden soll. Dies alles stellt der Gesetzgeber in das Ermessen der zuständigen Behörden, namentlich des Bundesverwaltungsamts, der Auslandsvertretungen sowie der Ausländerbehörden600. Diese Ermessensentscheidungen treten an die Stelle von gebundenen Ansprüchen und strikten Ausschlüssen. Das und die Tatsache, dass im Mittelpunkt der Regelung der unbestimmte Rechtsbegriff der humanitären Gründe steht, macht die Norm zu einer eher offenen Regelung, die so viel Platz für Abwägungen und Einzelfallentscheidungen lassen soll. Diese offene Regelung stößt zugleich jedoch auf eine harte Grenze, nämlich der Kontingentierung der Visa zum Familiennachzug auf maximal 1.000 im Monat. Auch wenn die zuständigen Behörden grundsätzlich bei der Beurteilung der humanitären Gründe sehr frei sind und auch von den Ausschlussgründen abweichen können, so sind sie doch an eine monatliche Obergrenze gebunden, von der nur im Rahmen der §§ 22, 23 AufenthG nach oben hin abgewichen werden darf. Eine genaue Ausgestaltung, nach welchen Kriterien der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten priorisiert und geordnet werden soll, ist bislang durch den Gesetzgeber nicht erfolgt. Diese fehlende Hierarchie und Transparenz bei der Gewährung des subsidiären Schutzes ist auch ein häufiger Einwand gegen die neue Regelung des § 36a AufenthG601. Bisher musste das Bundesverwaltungsamt selbst eine solche Priorisierung noch nicht vornehmen, da bis zum Juni 2019 jeweils ca. 1.000 Anträge pro Monat eingegangen waren, sodass schlicht 597 BVerfG, Beschluss vom 11.10.2017, Az. 2 BvR 1758/17, NVwZ 2017, 1699 (1700, Rn. 12 f.). 598 Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 21. 599 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 407; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 63. 600 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 5. 601 S. oben, D. II. 3.

132

D. Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten

nach Eingang beschieden werden konnte und noch keine Ablehnungen erfolgen mussten602. Dies kann sich jedoch jederzeit ändern. Es ist sinnvoll, § 36a AufenthG mit einer entsprechenden Verordnung oder einer allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu ergänzen, die ein genaues und transparentes Verfahren für eine Priorisierung der Anträge auf Familiennachzug vornimmt, für den Fall, dass sich weit mehr als 1.000 Familienangehörige hierum bemühen und die zuständigen Behörden gezwungen sind, zwischen einzelnen Familienangehörigen zu entscheiden und dadurch auch Anträge negativ zu bescheiden. Im Zusammenhang hiermit steht eine weitere Problemstellung. Diese betrifft die Dauer des Verfahrens und die entsprechenden Wartezeiten. Manche Familien haben in Folge der Aussetzung schon bis zu drei Jahre auf die Familienzusammenführung gewartet603. Auch wenn dies nicht der Fall ist, so muss für einen erfolgreichen Antrag auf Familiennachzug zunächst das Asylverfahren des subsidiär Schutzberechtigten abgeschlossen sein und die nachziehenden Familienangehörigen müssen ein Visum beantragen. Die Zeit von der Einreise des Nachholenden bis zur Ankunft der Nachziehenden kann sich dann über viele Monate und Jahre strecken. Im Bundesdurchschnitt dauert ein gesamtes Asylverfahren zurzeit durchschnittlich sechs Monate604. Dazu müssen in den für den Familiennachzug relevanten Ländern wie Jordanien, Ägypten, Türkei und Libanon die Familienangehörigen bei der jeweiligen deutschen Botschaft viele Monate oder zum Teil länger als ein Jahr warten605. Die Wartezeit nähert sich damit schon gefährlich der vermeintlich verfassungsrechtlich zulässigen Grenze, die das Bundesverfassungsgericht schon bei einer Trennung von drei Jahren bei Eheleuten überschritten sieht606. Es muss also ein Weg gefunden werden, innerhalb der Auswahl – neben der besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls und von Integrationsaspekten – zu vermeiden, dass Familienangehörige zu lange warten und somit ihr Schutz durch Art. 6 Abs. 1 GG verletzt wird. Obgleich der Gesetzgeber zwar die Dauer der familiären Trennung als humanitären Grund aufgeführt hat (§ 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AufenthG), fehlt es an einer praktischen Handhabung, wie mit zu langen Wartezeiten aufgrund der Verfahrensdauer und der Kontingentierung umgegangen werden soll.

602

Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296. So Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296. 604 Stand September 2019; BAMF, Aktuelle Zahlen (09/2019) vom 7.10.2019, http:// www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zah len-zu-asyl-september-2019.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 25.10. 2019). 605 Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme (Fn. 515), S. 4 m.w. N. 606 So das BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 BVerfGE 76, 1 (70, Rn. 145); die Verfassungswidrigkeit einer Trennungsdauer von drei Jahren und länger ist jedoch nicht derart „in Stein gemeißelt“, wie dies zum Teil den Anschein hat, s. E. I. 2. e) cc). 603

III. Schlussfolgerungen

133

Es bleiben auch nach über zwei Jahren seit Inkrafttreten des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes weiterhin noch manche Fragen offen. Vielfach ist hier die weitere Ausgestaltung durch die Verwaltungs- sowie Rechtsprechungspraxis abzuwarten. Neben den vorstehenden Fragen und Einwänden drängen sich darüber hinaus noch allgemeine verfassungs- und europarechtliche Fragen auf, die Gegenstand der nachfolgenden Kapitel sein werden.

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung Sowohl die Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten als auch die Einschränkung durch das Familiennachzugneuregelungsgesetz hatten nicht nur politische, sondern auch verfassungsrechtliche Bedenken zur Folge. Wiederholt wurde und wird in der Literatur bezweifelt, ob die Gesetze mit dem Grundgesetz, insbesondere mit dem Schutz von Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 GG und dem Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG sowie dem Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG und dem Bestimmtheitsgebot nach Art. 20 Abs. 3 GG in Einklang stehen. Auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes ging die Bundesregierung in ihrer Gesetzesbegründung kaum ein und erklärte lediglich: „Aus Verfassungs- und Völkerrecht resultiert [. . .] weder ein Anspruch darauf, die familiäre Lebensgemeinschaft in einem bestimmten Staat zu führen, noch ein Anspruch auf Einreise zum Zweck des Nachzugs zu im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen. Dem Gesetzgeber steht ein Gestaltungsspielraum zu, in welchem Rahmen ein Familiennachzug stattfinden soll.“607

Doch so scheinbar einfach, wie die verfassungsrechtliche Konformität durch die Bundesregierung vorstehend proklamiert wird, ist der Fall nicht gelagert. Die Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit von Begrenzungen des Familiennachzugs wird schon seit vielen Jahrzehnten geführt. Im Jahr 1987 fällte das Bundesverfassungsgericht eine bekannte Grundsatzentscheidung zum Familiennachzug (in dem damaligen Fall zu sog. Gastarbeitern)608, die bis heute von Gegnern wie Befürwortern der Neuregelung des Familiennachzugs bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 GG ins Feld geführt wird. Einerseits wird aus dem Beschluss die generelle Aussage gezogen, dass sich aus dem Recht auf Ehe und Familie kein Anspruch auf Familiennachzug ergebe und der Gesetzgeber generell einen sehr weiten Spielraum habe609. Andererseits wird insbesondere auf die für den Familiennachzug relevante zeitliche Komponente hingewiesen und darauf, dass die Karlsruher Richter eine Familientrennung von mehr als drei Jahren für verfassungswidrig erachten610. Auch wenn sich alle diese Aussagen durchaus mit 607

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 21 f. BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 ff. 609 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2, 15, 22; Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 3. 610 So stellvertretend für viele Kritiker des Gesetzes: Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 139; Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 17. 608

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

135

dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts belegen lassen, so ist die Verfassungsrechtslage nicht so eindeutig und leicht interpretierbar, wie von den Verteidigern und den Kritiker der Neuregelung des Familiennachzugs gerne behauptet und erwünscht. Nachfolgend soll auf die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten eingegangen werden (II.). Schwerpunkte sind hierbei die Frage des Bestehens eines Anspruchs auf Familiennachzug und die möglicherweise verfassungswidrig lange Trennungsdauer. Auch die verfassungsrechtlichen Fragen zur Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen (II.) sowie zu der Bestimmtheit des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes (II.) werden behandelt.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) Zunächst betrifft das Familiennachzugsneuregelungsgesetz wie sowohl sein Name als auch der Bezug des § 27 Abs. 1 AufenthG auf Art. 6 GG zeigen, den Schutz von Familie und Ehe. Es drängt sich also förmlich auf, dass zunächst die verfassungsrechtlichen Maßstäbe dieses Grundrechts zu prüfen sind. Bei Art. 6 GG handelt es sich um ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Grundrecht. Dieser Artikel betrifft die Ehe und Familie als „Keimzelle jeder menschlichen Gemeinschaft, deren Bedeutung mit keiner anderen menschlichen Gemeinschaft verglichen werden kann“611 und spricht dieser einen besonderen Schutz durch die staatliche Ordnung zu. Die Außergewöhnlichkeit des Schutzgutes geht einher mit der Außergewöhnlichkeit des gewährten Schutzes. So beeinflusst das Grundrecht das staatliche Handeln gleich in mehreren Schutzrechtsdimensionen. Es ist sowohl Freiheits- als auch Gleichheitsrecht, enthält eine Institutsgarantie für die bürgerlichen Rechtsbegriffe von Ehe und Familie und ist darüber hinaus eine Grundsatznorm, die verbindlich eine Wertentscheidung für das gesamte Ehe und Familie betreffende Recht setzt612. Damit handelt es sich bei Art. 6 GG sowohl von der Systematik als auch von der Methodik her um eines der komplexesten und herausforderndsten Grundrechte der Verfassung613. Das liegt zum einen daran, dass es sich bei Art. 6 Abs. 1 GG um ein normgeprägtes Grundrecht handelt, das davon abhängig ist, dass die genaue Ausgestaltung seines Inhalts, also der Ehe und Familie, vom Gesetzgeber ausgefüllt wird614. Auch kennt das Grundgesetz einen dem in Art. 6 Abs. 1 GG vergleichbaren Schutzauftrag nur in Art. 1 Abs. 1 GG und in Art. 6 Abs. 4 GG, wobei allerdings nur Art. 6 Abs. 1 GG von einem besonderen Schutz spricht, was nahelegt, dass eine Steigerung der 611 H. Hofmann, in: B. Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 14. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 3. 612 Papier, Ehe und Familie (Fn. 11), NJW 2002, 2129 (2130). 613 Papier, Ehe und Familie (Fn. 11), NJW 2002, 2129; Steiner (Fn. 11), § 108 Rn. 1. 614 F. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 224), Art. 6 Rn. 49, 100.

136

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

„Intensität“ staatlicher Schutzpflichten der Ehe und Familie als „auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaften“ 615 intendiert ist616. Indem der Verfassunggeber diesen besonderen Schutz zusichert, trifft er eine objektive Wertentscheidung, die bei jeder Maßnahme der öffentlichen Gewalt zu beachten ist und die der Gesetzgeber und die Verwaltung verwirklichen müssen617. Diese Wertentscheidung muss der Gesetzgeber auch beim Erlass des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes beachtet haben. Das Gesetz dürfte somit nicht gegen die verschiedenen Ausgestaltungen des Schutzes von Art. 6 GG verstoßen. 1. Inhalt und Ausgestaltung des besonderen Schutzes von Ehe und Familie Ehe und Familie stehen laut dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Um die Frage zu beantworten, ob die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten im Widerspruch zu diesem Schutzauftrag steht, ist zunächst genau zu betrachten, welchen Inhalt dieser Schutzauftrag hat. Hierbei ist zunächst zu erläutern, was unter Ehe und Familie im Sinne des Grundgesetzes zu verstehen ist und in welcher Ausgestaltung sich der Schutzauftrag für diese beiden Gruppen durch Art. 6 GG bemerkbar macht. Unter der Familie versteht man „die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern, die für diese Verantwortung tragen“618. Die Ehe hingegen ist die Verbindung zweier Menschen zur grundsätzlich unauflöslichen und von gegenseitiger und umfassender rechtlicher Verantwortung und Achtung getragenen Lebensgemeinschaft im Rahmen der vom Gesetzgeber näher zu gestaltenden Rechtsverfassung619. Das Grundgesetz schützt beide Institute 615 H. Jarass, in ders./B. Pieroth. Grundgesetz. Kommentar, 15. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 2. 616 Brosius-Gersdorf (Fn. 614), Art. 6 Rn. 59; C. Seiler, in: W. Kahl/C. Waldhoff/ C. Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 6 Abs. 1 (2014), Rn. 97; G. Robbers, in: P. Huber/A. Voßkuhle (Hrsg.), Mangoldt/Klein/Starck. Grundgesetz. Kommentar, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 21 m.w. N. 617 P. Badura, Staatsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 208. 618 BVerfG, Beschluss vom 9.4.2003, Az. 1 BvR 1493/96, 1724/01, BVerfGE 108, 82 (112, Rn. 89); das Bundesverfassungsgericht hat mit dieser Entscheidung seine ständige Rechtsprechung zur Familie konkretisiert und somit auch erklärt, dass es für den Familienbegriff nicht darauf ankomme, ob die Kinder von den Eltern abstammen oder ehelich geboren wurden, vgl. J. Ipsen, Ehe und Familie, in: HStR3, 3. Aufl. 2009, § 154 Rn. 67; vormals sprach es in ständiger Rechtsprechung von der „Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und Kindern“, BVerfG, Beschluss vom 30.6.1964, Az. 1 BvL 16–25/ 62, BVerfGE 18, 97 (105 f., Rn. 38); Beschluss vom 29.7.1968, Az. 1 BvL 20/63, 31/ 66, 5/67, BVerfGE 24, 119 (135, Rn. 38); Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/ 84, BVerfGE 80, 81 (90, Rn. 29). 619 Nach bislang ständiger Rechtsprechung ist zusätzlich das Merkmal der Geschlechterverschiedenheit notwendig, Steiner (Fn. 11), § 108 Rn. 9; ständige Rechtspre-

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

137

umfassend. Dabei handelt es sich bei Art. 6 Abs. 1 GG nicht um ein bloßes Abwehrrecht, vielmehr weist die Norm drei verschiedene Kerngehalte auf. Erstens dient sie als Institutsgarantie, zweitens verkörpert sie eine wertentscheidende Grundsatznorm für das gesamte Ehe- und Familienrecht und drittens schützt das Familien- und Ehegrundrecht als klassisches Grundrecht vor staatlichen Eingriffen620. Als Institutsgarantie schützt es den Kernbereich der Familie und der sie ausgestaltenden Normen (insbesondere des bürgerlichen Rechts) gegen eine Aufhebung oder wesentliche Änderungen621. Auch wenn vom Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG ausgehend nur ein Schutzauftrag bestimmt ist und subjektive-öffentliche Rechte nicht benannt werden, so dient das Grundrecht über den Wortlaut hinaus auch als klassisches Abwehrrecht der Familien und Ehepartner gegenüber Eingriffen des Staats622. Dies geht aus der Systematik des Grundgesetzes mit der Verortung des Art. 6 Abs. 1 GG im Grundrechtsteil hervor, anderseits aber auch aus der Bedeutung des Schutzes der Privatsphäre von Ehe und Familie vor staatlichem Zugriff 623. In den Schutzbereich dieses Abwehrrechts fallen die Freiheit, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen sowie das Recht auf ein Eheund Familienleben624. Darüber hinaus ist auch die Entscheidung des Grundrechtsträgers über den Aufenthalt des Familienmittelpunktes geschützt625. Abgesehen von dieser freiheitsrechtlichen Dimension stellt Art. 6 Abs. 1 GG auch ein besonderes Gleichheitsrecht dar, das speziell vor an die Familie oder Ehe gechung des BVerfG, Urteil vom 29.7.1969, Az. 1 BvR 205, 332, 333, 367/58, 1 BvL 27, 100/58, BVerfGE 10, 59 (66, Rn. 27); Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (51, Rn. 105). Doch könnte sich spätestens durch das „Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts“ vom 20.7.2017 (BGBl. 2017 I 52, 28.7.2017, S. 2787 ff.) diese Notwendigkeit überholt haben. Darüber hinaus wird vertreten, dass auch ohne dieses Gesetz die Verschiedengeschlechtlichkeit kein wesentliches Element der Ehe (mehr) ist, da gleichgeschlechtliche Paare gem. Art. 3 Abs. 1 GG nicht diskriminiert werden dürfen und sich der Ehebegriff auch wandeln kann, s. hierzu B. Heiderhoff, in: I. v. Münch/P. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 58 ff. m.w. N. Indes ist umstritten, ob dieses Gesetz verfassungsgemäß ist und ob überhaupt durch ein einfaches Gesetz der Begriff der Ehe geändert werden kann oder ob es einer Verfassungsänderung bedarf, letzteres vertreten durch: Badura, Staatsrecht (Fn. 617), S. 212; a. A.: Brosius-Gersdorf (Fn. 224), Art. 6 Rn. 81; M. Kotzur/J. J. Vasel, in: K. Stern/F. Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 3. Aufl. 2019, Art. 6 Rn. 37 f.; für die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist dies jedoch nicht relevant, sodass hier an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen wird. 620 BVerfG, Beschluss vom 4.5.1971, Az. 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 (68 f., Rn. 34 f.); Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 116/84, BVerfGE 80, 81 (92, Rn. 36). 621 BVerfG, Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (92, Rn. 36). 622 BVerfG, Beschluss vom 17.1.1957, Az. 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (71, Rn. 50); Urteil vom 17.7.2002, Az. 1 BvF 1, 2/01, BVerfGE 105, 313 (342, Rn. 78). 623 V. Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 510. 624 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (42, Rn. 84). 625 BVerwG, Urteil vom 3.5.1973, Az. I C 20/70, BVerwGE 42, 133 (136, Rn. 25).

138

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

knüpften rechtlichen Nachteilen schützen soll626. Neben diesen eher klassischen Schutzformen eines Grundrechts handelt es sich bei Art. 6 Abs. 1 GG darüber hinaus auch um eine wertentscheidende Grundsatznorm: Mit ihr ist der Auftrag an den Staat verbunden, Ehe und Familie besonders zu schützen. Der Staat muss zum einen alles unterlassen, was Ehe und Familie schädigen oder in sonstiger Art und Weise beeinträchtigen könnte, und zum anderen durch geeignete Maßnahmen die Ehe und Familie fördern und unterstützen627. Der besondere staatliche Schutzauftrag des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst als wertentscheidende Grundsatznorm auch den Bestand, die Einheit sowie die Selbstverantwortlichkeit der Ehe und der Familie628. Er adressiert alle drei staatlichen Gewalten: die Legislative, Exekutive und Judikative. Dies gilt selbstverständlich auch im Ausländerrecht. Sowohl bei der Schaffung als auch bei der Anwendung und der Beurteilung der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Regelungen ist der Schutzauftrag folglich zu berücksichtigen629. Das zu untersuchende Familiennachzugsneuregelungsgesetz betrifft den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Ehegatten, minderjährige Kinder und Eltern minderjähriger Kinder haben durch die Gesetzesänderung nunmehr keinen Anspruch auf den Familiennachzug zu ihren Angehörigen in Deutschland. Dieser kann ihnen fortan lediglich aus humanitären Gründen gewährt werden und das auch maximal für 1.000 Nachziehende pro Monat. Aus diesen Gründen könnten die verschiedenen Schutzdimensionen des Rechts auf Ehe und Familie betroffen sein und ein Eingriff in den aus diesen ergebenden verfassungsrechtlichen Schutzbereich vorliegen. a) Eröffnung des abwehrrechtlichen Schutzbereichs Der Schutzbereich der freiheitsrechtlichen Dimension des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst sowohl die Freiheit zur Eheschließung und Familiengründung als auch das Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben. Hinsichtlich des Rechtes auf freie Eheschließung und Familiengründung ist der Schutzbereich nicht berührt. Durch die Neuregelung des Familiennachzugs wird keinem Menschen diese Freiheit genommen. Die Regelung betrifft weniger das „Ob“ der Ehe und Familie, sondern vielmehr das „Wie“, also die Ausgestaltung beziehungsweise die fehlende Möglichkeit der Ausgestaltung von Ehe und Fami626 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (72, Rn. 150); Beschluss vom 10.11.1998, Az. 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91, BVerfGE 99, 216 (232, Rn. 65). 627 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (49, Rn. 101); Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (93, Rn. 38); Beschluss vom 21.7.2010, Az. 1 BvR 611/07, 2464/07, BVerfGE 126, 400 (420, Rn. 89). 628 Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländerrecht (Fn. 34), Rn. 641. 629 Uhle (Fn. 62), Art. 6 Rn. 44.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

139

lie. Denn durch das Gesetz wird das gemeinsame Familienleben erschwert, verglichen mit der Regelung, die für kurze Zeit vor der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten galt. Indes wird die Freiheit von Ehegatten, Familien zu gründen, erheblich erschwert, wenn der Ehegattennachzug nicht gewährt oder beschränkt wird, und so die beiden Ehegatten räumlich voneinander getrennt leben. Gleichzeitig könnten Menschen noch vor oder während der Flucht auf Eheschließung oder Familiengründung verzichten, weil sie vermuten müssen, dass die Ehe- und Familiengemeinschaft wegen der Schwierigkeit des Familiennachzugs für eine ungewiss lange Zeit nicht möglich sein könnte. Doch hierbei handelt es sich vielmehr um eine intrinsische Entscheidung des Einzelnen, seine Freiheit nicht auszuleben. Die Freiheit als solche bleibt ihm trotz allem gegeben. Folgerichtig betont auch das Bundesverfassungsgericht: „Diese Wirkung stellt sich jedoch allenfalls als tatsächliche, mittelbare Beeinträchtigung der Freiheit der Eheschließung und Familiengründung dar, die diese Freiheit als solche nicht berührt.“630

Die restriktive Auslegung, dass die Freiheit als solche betroffen sein muss, dient auch der Abgrenzung zu dem Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben, unter das sich die vorstehend beschriebenen Umstände viel treffender fassen lassen. Dem Bild von Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 GG und auch den dieses Bild prägenden Normen des bürgerlichen Rechts (§§ 1353 Abs. 1 S. 2, 1626 ff. BGB) liegt der Gedanke zugrunde, dass Ehegatten einander in ehelicher Lebensgemeinschaft verbunden sind und auch die Erziehung zumindest der minderjährigen Kinder in häuslicher Gemeinschaft erfolgen soll631. Schon durch die Flucht eines Familienmitglieds kommt es oft zu einer mehrjährigen Trennung der Familienmitglieder. Angekommen in Deutschland muss der Schutzsuchende zunächst einen Asylantrag stellen, bevor er darauf aufbauend einen Antrag auf Familiennachzug stellen kann. Durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz ist nun jedoch keine Gewissheit gegeben, ob und wann ein Familiennachzug gewährt wird. Das Gesetz führt sowohl durch den fehlenden Rechtsanspruch auf Nachzug als auch durch die Kontingentierung des Nachzugs zu einer Beeinträchtigung des ehelichen und familiären Zusammenlebens. Die Familiengemeinschaft kann auch in den meisten Fällen weder in einem Drittstaat noch im Herkunftsland wiederhergestellt werden. Wie der Gesetzgeber schon 2015 betonte, ist für subsidiär Schutzberechtigte die Wiederherstellung der ehelichen und familiären Gemeinschaft im Herkunftsland nicht möglich632. Und in einem Drittstaat ist dies nach Ansicht des Gesetzgebers oft wegen der fehlenden 630 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (42, Rn. 85). 631 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (42, Rn. 85); vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.5.1978, Az. 1 BvR 684/77, BVerfGE 48, 327 (339, Rn. 38). 632 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 452), BT-Drucks. 18/4097, S. 46.

140

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Möglichkeit der legalen Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder wegen der Unsicherheit der Bleibeperspektive der Familie nicht möglich633. Folglich weiß auch der Gesetzgeber, dass die Beschränkung des Familiennachzugs die Chance des ehelichen und familiären Zusammenlebens eines in Deutschland anerkannten subsidiär Schutzberechtigten beeinträchtigt, da dies zumeist nur in der Bundesrepublik möglich ist. Der Schutzbereich des Rechts auf eheliches und familiäres Zusammenleben ist somit durch die Neuregelung des Familiennachzugs berührt. Der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie müsste auch den subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familienangehörigen zukommen. Zunächst ist hierbei festzuhalten, dass in persönlicher Hinsicht der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG auch ausländischen Ehen, Familien und Eltern zusteht634. Denn das in Art. 6 GG normierte Grundrecht ist ein für Jedermann geltendes Menschenrecht, das nicht auf deutsche Staatsbürger beschränkt ist, sondern auch Ausländer und Staatenlose einschließt635. Der Schutzbereich umfasst Ehen und Familien, unabhängig davon, wo und nach welchem Recht sie begründet wurden636 oder nach welchem Recht die Wirkung der ehelichen oder familiären Gemeinschaft zu beurteilen ist637. Dies gilt natürlich nur, solange die Ehen nicht gegen den ordre public verstoßen638. Anknüpfungspunkt des Schutzbereichs des deutschen Grundrechts ist lediglich die Frage, ob die Ehe oder die Familie durch einen Akt der deutschen öffentlichen Gewalt betroffen sein könnte639. Art. 6 Abs. 1 GG schützt dabei zum einen die Gemeinschaft als Kollektiv, aber auch die Ehepartner und jedes einzelne Mitglied der Familie individuell. Dabei kann sich nicht nur das durch den Akt der öffentlichen Gewalt konkret betroffene Familienmitglied, sondern auch jedes andere Mitglied auf den Schutz berufen, obgleich es nicht selbst Adressat der Maßnahme ist640. Damit der Schutz des Grundgesetzes allerdings nicht nur die in Deutschland lebenden subsidiär Schutzberechtigten, sondern auch die im Ausland lebenden Angehörigen umfasst, bedarf es eine Berührung mit dem Geltungsbereich des Grundgesetzes. Eine solche wird man zumeist je633

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. G. Robbers, Ausländer im Verfassungsrecht, in: HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, § 11 Rn. 57. 635 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 555; Hofmann (Fn. 611), Art. 6 Rn. 6; Robbers (Fn. 616), Art. 6 Rn. 27 m.w. N. 636 Vgl. beispielsweise Art. 13 EGBGB. 637 P. Badura, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Art. 6 (2020) Rn. 63; Tewocht (Fn. 22), § 27 Rn. 42. 638 S. ausführlicher zu der Frage der Wirksamkeit der Ehe und dem ordre public: B. III. 1. a). 639 Badura (Fn. 637), Art. 6 Rn. 64; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (44 ff., Rn. 90 ff.). 640 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (44 f., Rn. 91). 634

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

141

doch nicht annehmen können, da die Angehörigen noch nicht in die Bundesrepublik eingereist sind und mithin noch keinen räumlichen Kontakt zum deutschen Hoheitsgebiet hatten. Der gebietsfremde Ausländer unterfällt nicht dem Verantwortungsbereichs des Grundgesetzes, dessen Schutzpflichten nicht weltweit gelten641. Allerdings reicht es daneben bereits, wenn der Betroffene mit einer anderen Person, die bereits Gebietskontakt hat, in vom Grundgesetz geschützter Weise verbunden ist642. Eine derartige Verbundenheit ist beim Nachzug von Ehegatten, Kindern und Eltern zu einem subsidiär Schutzberechtigten gegeben. Für die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Familiennachzugsneuregelungsgesetz bedeutet dies, dass sich auf den Schutz des ehelichen und familiären Zusammenlebens aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht nur die subsidiär schutzberechtigten Eltern, minderjährigen Kinder und Ehegatten berufen dürfen, die bereits in Deutschland leben, sondern auch diejenigen Familienangehörigen, deren Nachzugsmöglichkeit nach Deutschland durch die Kontingentierung in § 36a AufenthG beschränkt wird643. Insofern ist der abwehrrechtliche Schutzbereich eröffnet. b) Neuregelung des Familiennachzugs greift in Art. 6 Abs. 1 GG ein Ob die Neuregelung des Familiennachzugs mit dem Recht auf Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG im Einklang steht, hängt maßgeblich von der Frage ab, ob in den abwehrrechtlichen Schutzbereich dieses Grundrechtes eingegriffen wurde oder ob Art. 6 Abs. 1 GG lediglich im Rahmen seiner Dimension als wertentscheidende Grundsatznorm berücksichtigt werden muss. Aus der Beantwortung dieser Fragestellung kann gefolgert werden, ob das Gesetz einer Abwägung zwischen dem Recht auf Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG und anderen Interessen und Rechtsgütern von Verfassungsrang standhalten muss oder ausschließlich eine Abwägung mit einfachen, nicht verfassungsrechtlichen Interessen notwendig ist. Denn das Recht auf Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG ist erst einmal vorbehaltlos gewährleistet und kann demnach nur aufgrund verfassungsimmanenter Schrankenvorbehalte eingeschränkt werden644. Somit können Eingriffe in den Schutzbereich des Ehe- und Familiengrundrechts nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt sein645. Doch aufgrund der Tatsache, dass es sich bei 641 J. Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, VVDStRL 32 (1974), S. 49 (63); dieser Grundsatz könnte durch das jüngste BND-Urteil des BVerfG diskutabel sein, vgl. BVerfG, Urteil vom 19.5.2020, Az. 1 BvR 2835/17, NVwZ-Beilage 2020, S. 10 ff. 642 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (46, Rn. 95). 643 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (45 f., Rn. 93 f.). 644 BVerfG, Beschluss vom 29.7.1968, Az. 1 BvL 20/63, 31/66, 5/67, BVerfGE 24, 119 (135, Rn. 39). 645 Brosius-Gersdorf (Fn. 224), Art. 6 Rn. 140.

142

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Art. 6 Abs. 1 GG um ein normgeprägtes Grundrecht und es sich bei Ehe und Familie sowohl um soziale als auch um rechtliche Gebilde handelt, die der Gesetzgeber genauer ausgestaltet hat, stellt nicht jede ehe- und familienbezogene Regelung sogleich einen Eingriff dar646. Bei Regelungen, die die Ehe und die Familie betreffen, kann es sich entweder um solche handeln, die diese rechtlichen Gebilde überhaupt erst genauer definieren, wie beispielsweise die Vorschriften des Bürgerlichen Rechts, oder um solche, die anderen Rechtsgebieten als dem Familienrecht angehören und die Freiheit von Ehe und Familie beschränken647. Letztere können Eingriffe darstellen und wären somit nur aufgrund von Rechten und Interessen mit Verfassungsrang einschränkbar. Unter einem Eingriff versteht man zunächst nach dem modernen und in der Auslegung großzügigeren, erweiterten Begriffsverständnis jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen eine grundrechtlich geschützte Verhaltensweise oder den Genuss eines grundrechtlich geschützten Rechtsguts ganz oder teilweise unmöglich macht648. Dem Bundesverfassungsgericht folgend liegt ein Eingriff in das Abwehrrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG jedoch nur vor, wenn dem Nachzugswilligen ein gewährtes Recht genommen wird. Dies sei wiederum nur der Fall, wenn sich aus dem Grundgesetz ein Anspruch auf Familiennachzug ergäbe. Die Karlsruher Richter führen hierzu aus: „Ein Eingriff in das durch Art. 6 Abs. 1 GG verbürgte Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben könnte in der Versagung eines weiteren Aufenthalts indessen dann erblickt werden, wenn Art. 6 Abs. 1 GG für ausländische Ehegatten und Familienmitglieder einen grundrechtlichen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt zwecks Nachzugs zu ihren im Bundesgebiet lebenden ausländischen Angehörigen begründete. Wortlaut, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 1 GG geben für einen solchen Anspruch jedoch nichts her.“649

Das Bundesverfassungsgericht leitet also aus dem Grundgesetz kein Recht ausländischer Ehegatten und Familienangehörigen ab, das ihnen erlaubt, im Zuge des Familiennachzugs in die Bundesrepublik einzureisen und sich hier aufzuhalten, ohne dass gegenläufige öffentliche Interessen berücksichtigt werden müssen650. Mangels eines solchen Anspruchs könne auch kein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG vorliegen. 646

T. Kingreen/R. Poscher, Grundrechte, 36. Aufl. 2020, Rn. 760. Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 760. 648 Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 294, F.-J. Peine, Der Grundrechtseingriff, in: HGR (Fn. 11), Band III, § 57 Rn. 31; vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.6.2002, Az. 1 BvR 558, 1428/91, BVerfGE 105, 252 (273, Rn. 62); Beschluss vom 26.6.2002, 1 BvR 670/91, BVerfG 105, 279 (303, Rn. 77); Beschluss vom 24.5.2005, Az. 1 BvR 1072/01, BVerfGE 113, 63 (76 f., Rn. 52). 649 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96). 650 Steiner (Fn. 11), § 108 Rn. 57; BVerfG, Beschluss vom 18.7.1979, Az. 1 BvR 650/77, BVerfGE 51, 386 (396 f., Rn. 32 ff.); Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 647

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

143

Das Gericht führt im Folgenden nicht aus, warum es diese enge Verknüpfung zwischen Rechtsanspruch auf Familiennachzug und Eingriff in das Recht auf Familie annimmt. Vielmehr widmen sich die Karlsruher Richter dem fehlenden Anspruch aus Art. 6 Abs. 1 GG. So kann sich ein grundrechtlicher Anspruch auf Aufenthalt nicht aus Art. 6 Abs. 1 GG ergeben, weil dies nicht mit Art. 11 GG („Freizügigkeit“) sowie Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F. (dies entspricht dem heutigen Art. 16a Abs. 1 GG „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) vereinbar sei651. Denn nur aus diesen beiden Grundrechten könne sich ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Aufenthalt für Deutsche beziehungsweise für Ausländer ergeben652. Diesem systematischen Verständnis ist zuzustimmen. In der Tat handelt es sich bei diesen beiden Grundrechten um die einzigen, die unmittelbar aus der Verfassung heraus einen Aufenthalt gewähren. Dies bedeutet allerdings nur, dass sich aus Art. 6 Abs. 1 GG nicht unmittelbar ein „Aufenthaltsanspruch im Sinne eines absolut zu setzenden Rechts“653 ergibt654. Ein Ausländer kann sich bei einem möglichen Nachzug aus familiären Gründen demnach nicht nur auf das Grundgesetz berufen. Vielmehr kann sich ein solcher Anspruch aus den Normen des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes (beispielsweise § 32 Abs. 1 oder § 36 Abs. 1 AufenthG) ergeben. Diese Normen sind wiederum im Lichte des Grundgesetzes und insbesondere im Lichte des Art. 6 GG auszulegen. Sofern die Normen des Aufenthaltsrechts den Familiennachzug einschränken, wie dies bei § 36a AufenthG durch die Verwehrung des Anspruchs auf Familiennachzug und die Kontingentierung der Fall ist, kann ein Eingriff vorliegen. Zur Unterstützung seiner Argumentation vergleicht das Bundesverfassungsgericht aber auch Art. 6 Abs. 1 GG mit Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. Auch hieraus ergäbe sich für ausländische Wissenschaftler kein Anspruch auf Einreise oder Aufenthalt, nur weil der Forschungsgegenstand in Deutschland sei655. Deshalb könnte auch aus Art. 6 Abs. 1 GG kein Anspruch entstehen. Dieser zur Begründung herangezogene Vergleich ist allerdings aus mehreren Gründen fernliegend und so nicht haltbar. Der Vergleich ist untauglich, um darzulegen, weshalb kein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG vorliegen soll. Das Bundesverfassungsgericht übersieht nämlich, dass nicht nur der Familienangehörige im Aus1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 90); Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (93, Rn. 39). 651 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (46 f., Rn. 96); so auch H. Quaritsch, Kindernachzug und Art. 6 GG, NJW 1984, S. 2731 (2733). 652 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (46 f., Rn. 96). 653 So zutreffend beschrieben von: M. Wagner, Kulturelle Integration und Grundgesetz, 2020, S. 178; Hervorhebung durch Wagner. 654 Vgl. hierzu auch: H.-P. Welte, Ausländerrecht, 1999, Rn. 149 ff. 655 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96).

144

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

land, den es mit dem ausländischen Wissenschaftler vergleicht, sich auf das Grundrecht auf Ehe und Familie berufen kann, sondern auch derjenige, der sich legal in Deutschland aufhält. Auch dessen Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben wird berührt. Darüber hinaus widerspricht das Bundesverfassungsgericht hiermit seiner nur wenige Zeilen zuvor geäußerten Begründung, warum auch ohne unmittelbaren Gebietskontakt eine Person grundrechtsberechtigt sein kann, nämlich dann, wenn sie mit einer anderen Person, die bereits Gebietskontakt hat, in vom Grundgesetz geschützter Weise verbunden ist656. Eben dieser personelle Bezug zu einem in Deutschland lebenden Grundrechtsträger liegt beim Nachzug von Familienangehörigen vor und fehlt bei Wissenschaftlern657. Auch ist es zweifelhaft, ob das Schutzniveau beider Gruppen wirklich vergleichbar ist. Das Grundgesetz selbst unterstreicht die Bedeutung von Ehe und Familie und gewährt nur ihnen den besonderen Schutz des Staates. Und auch wenn es sich bei Wissenschaft und Forschung um immanent wichtige Güter handelt, deren Freiheit zurecht einen äußerst hohen Schutz durch den Staat genießen, so ist doch das Schutzniveau nicht vergleichbar mit dem von Kindern, Eltern und Ehegatten, die potenziell einer jahrelangen Trennung ausgesetzt sind. Beide Schutzgüter auf dieselbe Stufe zu stellen, wird dem besonderen Schutz von Ehe und Familie, den Art. 6 Abs. 1 GG normiert, nicht gerecht. Dies alles bedeutet nicht, dass Ausländer einen Anspruch auf Familiennachzug haben, sondern lediglich, dass dieses Argument des Bundesverfassungsgerichts, das den fehlenden Anspruch untermauern soll, nicht überzeugen kann. Das Bundesverfassungsgericht führt weiter aus, dass es keinen Anspruch auf Familiennachzug aus dem Grundgesetz geben kann, da nur die Legislative und Exekutive entscheidungsbefugt seien, wie und aus welchen Gründen Ausländer nach Deutschland einreisen dürfen. So erklären die Karlsruher Richter: „Das Grundgesetz überantwortet es vielmehr weitgehend der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt festzulegen, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht wird.“658

Dieser Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts kann indes nicht vollends überzeugen. Zwar gibt es ein solches verfassungsrechtliches Recht des Staates, zu entscheiden, wer in das Staatsgebiet einreisen darf659. Durch die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts und seine Ablehnung des Eingriffscharakters entsteht jedoch der Eindruck, als würde zu dem verfassungsimmanenten Schrankenvorbehalt des Art. 6 Abs. 1 GG noch ein ausländerpolitischer und -rechtlicher 656 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (46, Rn. 95). 657 B. Huber, Zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des Ehegatten- und Familiennachzugs, NJW 1988, S. 609. 658 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96). 659 Vgl. E. I. 2. a).

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

145

Vorbehalt hinzutreten, der bestimmt, dass der Familiennachzug der Dispositionsfreiheit des einfachen Gesetzgebers sowie der Behörden unterliegt660. Dieser Gedanke führt, auch wenn vielleicht nicht derartig beabsichtigt, zu einer Relativierung von Art. 6 Abs. 1 GG, bei dem es sich als Folge dieser Auslegung dann zumindest im Bereich des Ausländer- und Aufenthaltsrecht weniger um ein wichtiges verfassungsrechtlich verbürgtes Menschenrecht als vielmehr um einen „unverbindlichen Programmsatz“661 handelt, was der Bedeutung dieses Grundrechts nicht gerecht werden kann662. Dies ist mit dem „besonderen Schutz“, den Art. 6 Abs. 1 GG einfordert, nicht zu vereinbaren. Das systematische Argument des Bundesverfassungsgerichts vermag also zu überzeugen, indes sind die weiteren Ausführungen und Gründe, warum ein Anspruch auf Familiennachzug nicht besteht, zutiefst zweifelhaft. Folglich gibt es auch Stimmen in der Literatur, die vertreten, dass sich ebenso aus Art. 6 Abs. 1 GG ein Anspruch auf Nachzug ergebe und es aus dogmatischer Sicht nicht nachvollziehbar sei, warum die Karlsruher Richter fast schon ängstlich davor zurückscheuen, von einem aus Art. 6 Abs. 1 GG erwachsenem Aufenthaltsrecht zu sprechen663. So hätte das Bundesverfassungsgericht akzeptiert, dass die staatliche Pflicht des Familienschutzes in bestimmten Fällen einwanderungspolitische Belange verdränge, und dass in solchen Fällen die Betroffenen auf dem Rechtsweg durchsetzen könnten, dass die Ausländerbehörden aus Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet seien, den Aufenthalt zu gewähren664. Somit seien alle wesentlichen Elemente eines subjektiven Rechts auf Nachzug erfüllt665. Losgelöst von der Frage, ob sich nun aus Art. 6 Abs. 1 GG selbst ein unmittelbarer und direkter Anspruch auf Aufenthalt und Einreise ergibt, kann entgegen der Schlussfolgerung des Bundesverfassungsgerichts ein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG auch vorliegen, selbst wenn die subsidiär Schutzberechtigten keinen Rechtsanspruch aus ebendiesem Grundrecht haben. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und seine Auslegung des Art. 6 GG übersehen, dass auch ohne einen sich aus Art. 6 Abs. 1 GG automatisch ergebenden Anspruch auf Nachzug dennoch generelle Schutzwirkungen von diesem Grundrecht ausgehen können666, 660 So auch Huber, Verfassungsmäßigkeit (Fn. 657), S. 610; Wagner, Integration (Fn. 653), S. 178. 661 Huber, Verfassungsmäßigkeit (Fn. 678), S. 610. 662 F. Franz, Der Nachzug ausländischer Familienangehöriger im Lichte der Verfassung, NJW 1984, S. 530 (532). 663 U. Davy, Aufenthaltssicherheit: Ein verlässliches Versprechen?, ZAR 2007, S. 233 (237). 664 Davy, Aufenthaltssicherheit (Fn. 663), S. 237; BVerfG, Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (95, Rn. 44); Beschluss vom 1.10.1992, Az. 2 BvR 1365/92, InfAuslR 1993, 10 (11, Rn. 3). 665 Davy, Aufenthaltssicherheit (Fn. 663), S. 237. 666 H.-P. Welte, Familienschutz im Spektrum des Ausländerrechts, 2012, S. 44, vgl. auch S. 234 f.

146

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

die auch Ausländern und ihren Familien zugute kommen. Dazu kommt, dass nicht nur der Ausländer, der zu seinen Familienangehörigen nach Deutschland nachziehen möchte, sondern auch der sich in Deutschland aufhaltendende Ausländer selbst durch die Beschränkung des Familiennachzugs betroffen ist667. Denn Art. 6 Abs. 1 GG schützt nicht nur die Ehe und die Familie als Gemeinschaft, sondern jedes einzelne Mitglied dieser Gemeinschaft, das durch einen Akt der öffentlichen Gewalt betroffen ist668. Das Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs erschwert auch dem in Deutschland lebenden Ausländer die Möglichkeit, ein normales Ehe- und Familienleben zu führen. Da er sich legal in Deutschland aufhält, ist es auch nicht von Bedeutung, ob sich aus dem Grundgesetz ein direkter Anspruch auf Aufenthalt ergibt oder nicht. Aus dem Grundgesetz ergibt sich jedenfalls der Auftrag, Ehe und Familie besonders zu beschützen sowie das Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben. Dies entfaltet auch Geltung für die Ehe und Familie von sich legal in Deutschland aufhaltenden Ausländern; seien es Gastarbeiter, wie in dem der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegenden Sachverhalt, oder subsidiär Schutzberechtigte. Die Karlsruher Richter beschäftigten sich jedoch ausschließlich mit den im Ausland lebenden Familienangehörigen. Hierdurch übersieht das Bundesverfassungsgericht einen gravierenden Aspekt bei der Frage nach dem Eingriffscharakter von Einschränkungen des Familiennachzugs. Die Eingriffsqualität der Verweigerung des Nachzugs wird teilweise mit derjenigen der Abschiebung verglichen. Denn im Fall der Abschiebung sei in dem Entzug der Rechtsposition „Aufenthalt“ ein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG zu sehen, wie dies in anderen Fällen beim Entzug von Rechtspositionen auch der Fall ist669. Eine solche Versagung des Aufenthalts stelle sowohl einen Eingriff in die Rechte des Abgeschobenen als auch in die der in Deutschland legal lebenden Familienangehörigen dar, da durch die Rechtsentziehung die Aufrechterhaltung der ehelichen und familiären Einheit verhindert werde670. Indes ist die Versagung

667 So auch T. Kingreen, Verfassungsfragen des Ehegatten- und Familiennachzugs im Aufenthaltsrecht, ZAR 2007, S. 13 (15). 668 Brosius-Gersdorf (Fn. 224), Art. 6 Rn. 48, C. Meissner, Familienschutz im Ausländerrecht, Jura 1993, S. 1 (2); vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (45, Rn. 91); Beschluss vom 18.7.1979, Az. 1 BvR 650/77, BVerfGE 51, 386 (395, Rn. 28); Beschluss vom 4.5.1971, Az. 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 (68, Rn. 33). 669 Davy, Aufenthaltssicherheit (Fn. 663), S. 237; Brosius-Gersdorf (Fn. 224), Art. 6 Rn. 93; hingegen nicht so eindeutig: C. Gusy, Familiennachzug und Grundgesetz, DÖV 1986, S. 321 (327), der bei Abschiebungen einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ablehnt, solange die Möglichkeit besteht, dass die Familienangehörigen nachziehen können. 670 BVerfG, Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (91 ff., Rn. 33 ff.); Robbers (Fn. 634), § 11 Rn. 58; A. Leisner-Egensperger, in: K. H. Friauf/ W. Höfing (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 6 (2002), Rn. 233.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

147

des Nachzugs nicht ohne Weiteres mit einer Abschiebung vergleichbar. Bei einer Abschiebung wird ein bestehendes Aufenthaltsrecht entzogen. Der Gesetzgeber nimmt dem einzelnen abzuschiebenden Ausländer zwangsweise eine Rechtsposition. Hingegen haben bei der Verweigerung des Nachzugs die Ausländer noch keine Aufenthaltsrechte erworben. Sofern man also entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen unmittelbar aus dem Grundgesetz resultierenden Rechtsanspruch auf Familiennachzug ablehnt, kann der Gesetzgeber einen solchen dem subsidiär Schutzberechtigten auch nicht entreißen. Weiter darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Ersuchen des Familiennachzugs eine Erweiterung des Rechtskreises und nicht bloß die Erhaltung des status quo darstellt, wie dies bei einer begehrten Verhinderung der Abschiebung der Fall wäre671. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte legt für die Verweigerung des Familiennachzugs ebenso andere Maßstäbe zugrunde als für die Familientrennung aufgrund einer Abschiebung, da es bei jenem verglichen mit dieser nicht nur ausschließlich um das Familienleben, sondern daneben immer auch um Einwanderung ginge672. Daher bleibt festzuhalten, dass für die Versagung des Familiennachzugs weniger strenge Maßstäbe gelten als für eine Abschiebung. Das Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs regelt sodann nicht einmal die Versagung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Der Familiennachzug ist nach wie vor möglich. Jedoch wird durch dieser den fehlenden Rechtsanspruch, dem Erfordernis von humanitären Gründen und der Begrenzung auf monatlich maximal 1.000 Visa für den Familiennachzug stark eingeschränkt. Die Eingriffsqualität ist folglich deutlich niedriger als bei einer Abschiebung oder der Versagung des Familiennachzugs als solchem. Dennoch bedeutet dies nicht automatisch, dass der subsidiär Schutzberechtigte und seine Familienangehörigen durch das Gesetz nicht in ihrem Recht auf Ehe und Familie verletzt sind. Denn auch ohne einen sich unmittelbar und direkt aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Rechtsanspruch auf Aufenthalt und Einreise in die Bundesrepublik Deutschland kann der subsidiär Schutzberechtigte durch das Grundgesetz mit Rechten ausgestattet werden, die auch durch eine Nichterweiterung des Rechtskreises durch den Gesetzgeber entzogen werden, sodass ein Eingriff vorliegt. Art. 6 Abs. 1 GG garantiert die Freiheit, die Art und Weise des ehelichen und familiären Zusammenlebens frei zu gestalten673; dies schließt auch das Recht mit ein, autonom über den Wohnort der Ehegatten beziehungsweise der Familie zu

671

Thym, Asylpaket II (Fn. 458), S. 414. EGMR, Urteil vom 3.10.2014, Az. 12.738/10, NLMR 2014, 417 (418, Rn. 105); Thym, Asylpaket II (Fn. 458), S. 414. 673 BVerfG, Urteil vom 6.2.2001, Az. 1 BvR 12/92, BVerfGE 103, 89 (101, Rn. 34); Urteil vom 17.7.2002, Az. 1 BvF 1, 2/01, BVerfGE 105, 313 (345 Rn. 87); Beschluss vom 4.12.2002, Az. 2 BvR 400/98, 1735/00, BVerfGE 107, 27 (53, Rn. 66). 672

148

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

entscheiden674. Eine Versagung dieses Recht stellt folglich einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG dar675. Für in Deutschland lebende Ehegatten und Familien ist dies insofern ständige Rechtsprechung. Es ist denkbar, dass dies auch für die Beschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten gelten könnte. Denn auch wenn es sich lediglich um die Beschränkung des Nachzugs handelt, so ist diese für den subsidiär Schutzberechtigten und seine Familie gleichzeitig mit einer vorher nicht absehbaren und näher zu bestimmenden Trennungsdauer verbunden. Durch den Austausch eines Rechtsanspruchs durch eine Ermessensentscheidung, für die humanitäre Gründe vorliegen müssen, sowie die Kontingentierung des Nachzugs auf monatlich maximal 1.000 Menschen kann die familiäre Einheit für unbestimmt lange Zeit nicht hergestellt werden. Durch das Gesetz wird also die familiäre und eheliche Einheit, die zweifellos in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG fällt, für einen längeren Zeitraum unmöglich gemacht. Aufgrund der Unsicherheit muss die betroffene Familie davon ausgehen, dass im schlimmsten Fall die Gewährung des Familiennachzugs für Jahre ausgeschlossen ist. Auch wenn dies keine dauerhafte Trennung bedeutet, wie dies bei der Abschiebung und der Versagung des Familiennachzugs der Fall ist, so ist die Trennung doch, auch bedingt durch die Zeit der Flucht sowie die Zeit des Asylverfahrens des subsidiär Schutzberechtigten, von einer nicht unbeachtlichen Dauer. Diese Beeinträchtigung des Ehe- und Familienlebens kann einen Eingriff in die abwehrrechtliche Dimension des Art. 6 Abs. 1 GG darstellen676. Denn ein solcher Eingriff liegt insbesondere bei staatlichen Maßnahmen vor, die die Ehe- und Familiengemeinschaften schädigen oder in sonstiger Weise beeinträchtigen677. Sowohl die Trennungsdauer als auch die Ungewissheit über das Ob und Wann der Wiederherstellung der ehelichen und familiären Einheit stellen solche Beeinträchtigungen dar. Wie bereits ausgeführt, genießt zumindest der in Deutschland sich legal aufhaltendende subsidiär Schutzberechtigte dasselbe Recht auf Ehe und Familie wie ein deutscher Bürger. Eine Differenzierung nach der Staatsangehörigkeit sieht Art. 6 Abs. 1 GG nicht vor. In dem Moment, in dem ein Ausländer sich rechtmäßig in Deutschland aufhält, ist diesem ohne Abzüge der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu gewähren678. Doch auch wenn dem Ausländer der Schutz des Art. 6 674 BVerfG, Beschluss vom 18.7.1979, Az. 1 BvR 650/77, BVerfGE 51, 386 (397, Rn. 33); Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (42 ff., Rn. 87 ff.); Brosius-Gersdorf (Fn. 224), Art. 6 Rn. 66. 675 Brosius-Gersdorf (Fn. 224), Art. 6 Rn. 69. 676 Robbers (Fn. 616), Art. 6 Rn. 122; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (44, Rn. 80). 677 BVerfG, Beschluss vom 17.1.1957, Az. 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (76, Rn. 76); Urteil vom 21.10.1980, Az. 1 BvR 179/78, 464/78, BVerfGE 55, 114 (126 f., Rn. 47); Beschluss vom 31.10.1989, Az. 1 BvL 78/85, 79/86, BVerfGE 81, 1 (6, Rn. 27); Epping, Grundrechte (Fn. 623), Rn. 514. 678 Huber, Verfassungsmäßigkeit (Fn. 657), S. 609.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

149

Abs. 1 GG zuteil wird, bedeutet dies nicht zwingend, dass der Staat seinem Schutzauftrag nur gerecht werden kann, indem er aufenthaltsrechtliche Voraussetzungen dafür schafft, dass die familiäre Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland wiederhergestellt werden kann679. Nur weil eine möglicherweise vorgenommene Verweigerung des Nachzugs bewirkt, dass dies nicht realisierbar ist, liegt noch kein Eingriff vor680. Die eheliche und familiäre Gemeinschaft kann schließlich auch in einem anderen Land verwirklicht werden, entweder in einem Drittstaat oder in dem Herkunftsstaat. Aus völker- und staatsrechtlicher Sicht ist insbesondere der Herkunftsstaat des subsidiär Schutzberechtigten und seiner Familie der Ort für seine persönliche und damit auch familiäre Selbstverwirklichung681. Allerdings kann sich der deutsche Staat nicht mit dem bloßen Hinweis darauf, dass die Familieneinheit auch in einem anderen Staat wiederhergestellt werden kann, aus der Affäre ziehen und so seinem Schutzauftrag nicht vollends nachkommen. Schließlich gebietet der besondere Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG, dass der deutsche Staat die Familie und Ehe schützt und deshalb auch in seine Abwägung miteinbeziehen muss, ob ein Verweis auf einen anderen Staat diesem Schutz gerecht wird. Auch wenn eine Rückkehr in das Herkunftsland Ausländern im Interesse der Wiederherstellung der Familieneinheit grundsätzlich zuzumuten ist, so können außergewöhnliche Umstände vorliegen, warum dies in konkreten Einzelfällen nicht der Fall ist682. Solche Umstände liegen vor, wenn die Wiederherstellung der Ehe oder Familie im Ausland unmöglich oder unzumutbar ist683. Wenn dies der Fall ist, dann kann eine Verweigerung des Nachzugs einen Eingriff darstellen und das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG verletzt sein684. Im dem vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fall zum Familiennachzug ging es um den Nachzug zu Gastarbeitern. Auch wenn es etwas zynisch wirkt, Menschen, die man zunächst bittet, in Deutschland zu arbeiten, dann wiederum darauf zu verweisen, dass sie ihre Familieneinheit im Ausland herstellen können, so ist dies grundsätzlich möglich. 679 K. Hailbronner, Ausländerrecht und Verfassung, NJW 1983, S. 2105 (2108); Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 764; vgl. auch G. Renner, Ehe und Familie im Zeichen neuer Zuwanderungsregeln, NVwZ 2004, S. 792 (795 ff.). 680 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47); Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 764; a. A. M. Zuleeg, Öffentliche Interessen gegen Familiennachzug, DÖV 1988, S. 587 ff. 681 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 679), S. 2108. 682 BVerwG, Urteil vom 11.6.1975, Az. I C 8/71, BVerwGE 48, 299 (302 f., Rn. 20). 683 Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 764; BVerwG, Urteil vom 23.10. 2007, Az. 1 C 10/07, BVerwGE 129, 367, (373 ff., Rn. 24 ff.); vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 9.1.2009, Az. 2 BvR 1064/08; NVwZ 2009, 387. 684 C. v. Coelln, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 24; Kotzur/Vasel (Fn. 619), Art. 6 Rn. 96; BVerfG, Kammerbeschluss vom 5.6.2013, Az. BvR 586/13, NVwZ 2013, 1207 (1208, Rn. 12); Kammerbeschluss vom 23.1.2006, Az. 2 BvR 1935/05, NVwZ 2006, 682 (683, Rn. 17); ähnlich argumentiert auch: S. Fontana, Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unions- und völkerrechtlichen Kontext, NVwZ 2016, S. 735 (740).

150

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

In dem Fall von Asylberechtigten, Flüchtlingen oder subsidiär Schutzberechtigten hingegen liegen eben solche außergewöhnlichen Umstände vor685. In Deutschland anerkannte subsidiär Schutzberechtigte und ihre Familienangehörigen können oftmals nicht darauf verwiesen werden, ihre Ehe oder Familie in einem anderen Land wiederherzustellen686. Subsidiär Schutzberechtigten ist es regelmäßig nicht möglich, in ihr Herkunftsland zurückzukehren, um dort ihre eheliche oder familiäre Gemeinschaft wiederherzustellen687, zumindest nicht, solange ihnen dort ein ernsthafter Schaden droht, sei es Todesstrafe, Folter oder die Bedrohung durch einen bewaffneten Konflikt. Selbiges gilt wegen der fehlenden Möglichkeit der legalen Einreise des subsidiär Schutzberechtigten oder wegen der Unsicherheit der Bleibeperspektive der Familie auch für die Familienzusammenführung in einem Drittstaat688. Dies ist zumindest bei Abschiebungen und der Versagung des Familiennachzugs der Fall. Doch durch die Neuregelung des Familiennachzugs wird der Familiennachzug nicht versagt, sondern nur eingeschränkt. Aber auch eine derartige Einschränkung führt dazu, dass die Familieneinheit über einen längeren und im Vorhinein nicht bestimmbaren Zeitraum nicht möglich ist. Gleichzeitig muss hier auch die besondere Situation der subsidiär Schutzberechtigten bedacht werden. Denn nicht nur, dass die Herstellung der Familieneinheit in einem anderen Land als in Deutschland so gut wie unmöglich ist. Wenn es sich bei dem Schutzgrund um einen ernsthaften Schaden in Folge eines innerstaatlichen Konflikts handelt, wie dies beim subsidiären Schutz sehr häufig der Fall ist, so muss der subsidiär Schutzberechtige jederzeit in der berechtigten Angst leben, dass seinen Familienangehörigen in dem Herkunftsland, aus dem er fliehen konnte, ebenfalls ein solcher Schaden droht. Zu der fehlenden Möglichkeit der Familienwiederherstellung in einem Drittstaat oder dem Herkunftsland kommt also darüber hinaus das Risiko eines ernsthaften Schadens hinzu. Der subsidiär Schutzberechtigte und seine Familie können sich also einerseits nicht sicher sein, ob und wann der Familiennachzug durch die deutschen Behörden gestattet wird, und andererseits nicht sicher sein, wie groß die Gefahren im Herkunftsland sind und wie lange diese anhalten. Dies führt zu einer permanenten Unsicherheit des subsidiär Schutzberechtigten, ob und falls ja wann die Wiederherstellung der ehelichen und familiären Gemeinschaft möglich ist. Aus diesem Grund stellt die Beeinträchtigung

685 Gusy, Familiennachzug (Fn. 669), S. 324; seit BVerwG, Urteil vom 19.4.1974, Az. 1 C 31/71, DVBl. 1974, 852 f. 686 W. Kluth, Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtlich-adminisetrativer Wirklichkeit, ZAR 2016, S. 121 (127). 687 So auch die Argumentation des Bundesgesetzgebers für die Ausweitung der Möglichkeit des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten 2015, Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 452), BT-Drucks. 18/4097, S. 46. 688 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

151

des Rechts auf Familiennachzug für die subsidiär Schutzberechtigten und ihre Familien einen Eingriff in ihr Grundrecht auf eheliches und familiäres Zusammenleben aus Art. 6 Abs. 1 GG dar689. Die Nichtannahme des Eingriffscharakters widerspricht auch der Rechtsauslegungstradition des Bundesverfassungsgerichts690. Dieses wählt in Zweifelsfällen diejenige Auslegung, die „die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet“ 691. Dass das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung zum Familiennachzug nicht an seine eigene Auslegungspraxis hält und stattdessen einen Eingriff recht wortkarg ablehnt, kann indes nur verwundern. Im Sinne eines optimalen Grundrechtsschutzes und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich bei Art. 6 Abs. 1 GG um das einzige Grundrecht handelt, das dem Staat auferlegt, seine Schutzgüter besonders zu schützen, ist gerade die Auslegung zu wählen, die diese Schutzgüter, Ehe und Familie, am stärksten schützt. Dies hat zur Folge, dass im Zweifelsfall der Eingriffscharakter einer staatlichen Maßnahme anzunehmen ist, wenn ansonsten der grundrechtliche Schutz deutlich niedriger ausfällt. Eine andere Auslegung widerspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und führt dazu, dass Grundrechte auch aufgrund von Rechtsgütern, die keinen Verfassungsrang genießen, eingeschränkt werden können und ist insofern dogmatisch unbefriedigend und nur schwerlich nachvollziehbar692. Gerade im Hinblick auf die Tatsache, dass Art. 6 Abs. 1 GG nur durch verfassungsimmanente Schrankenvorbehalte eingeschränkt werden kann und dass bei einer Ablehnung eines Eingriffs auch aufgrund von nichtverfassungsrechtlichen Rechten und Interessen eingeschränkt werden kann, ist im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes vorliegend ein Eingriff durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz anzunehmen. Eine solche Auslegung und die Qualifikation der Neuregelung des Familiennachzugs als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG bedeuten indes nicht, dass diese Regelung per se verfassungswidrig ist, sondern führen lediglich zu den vom Verfassunggeber intendierten Folgen. Mit der Folge, dass das Gesetz am Maßstab des Grundgesetzes und einer Abwägung mit anderen Gütern von Verfassungsrang zu messen ist. Ein derartiges Verständnis wird dem besonderen Schutzauftrag des Grundgesetzes gerecht. Ob der Eingriff in das Recht auf Ehe und Familie auch verfassungsrechtlich zu rechtfertigen ist, hängt folglich davon ab, ob eine angemessene Abwägung stattgefunden hat. Zunächst sind jedoch die 689 Kluth, Asylpaket II (Fn. 686), S. 127; Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 647), Rn. 764. 690 Huber, Verfassungsmäßigkeit (Fn. 657), S. 610. 691 Ständige Rechtsprechung des BVerfG, so unter anderem: BVerfG, Beschluss vom 17.1.1957, Az. 1 BvL 4/54, BVerfGE 6, 55 (72, Rn. 52); Beschluss vom 3.4.1979, Az. 1 BvR 994/76; BVerfGE 51, 97 (111, Rn. 40) m.w. N. 692 I. Richter, in: R. Wassermann (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Band 1, 2. Aufl. 1989, Art. 6 Rn. 29c.

152

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

weiteren Schutzdimensionen des Art. 6 Abs. 1 GG, namentlich die Institutsgarantie sowie der Umfang der wertentscheidenden Grundsatznorm, genau zu beleuchten. c) Institutsgarantie und wertentscheidende Grundsatznorm Neben der klassischen abwehrrechtlichen Dimension, die sich um die Frage dreht, ob ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG stattgefunden hat, schützt das Grundgesetz Ehe und Familie auch, indem es den Bestand dieser Rechtsinstitute garantiert. Die Institutsgarantie für Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG ist jedoch vorliegend nicht berührt. Hierfür müssten der Kernbereich dieser beiden Institute betroffen sein oder die sie bildenden Normen des bürgerlichen Rechts aufgehoben oder wesentlich umgestaltet werden693. Die Beschränkung des Familiennachzugs ändert weder etwas an der grundsätzlichen Bedeutung von Ehe und Familie noch an der Art, wie sie rechtlich geregelt wird. Die Vorstellungen von Ehe und Familie des deutschen Rechts werden hierdurch nicht berührt. Doch die Institutsgarantie ist nicht nur bei derart gravierenden staatlichen Maßnahmen betroffen, wie das Bundesverfassungsgericht feststellt: „Sie [die Institutsgarantie, Anm. d. Verf.] kann vielmehr auch dann verletzt sein, wenn bestimmende Merkmale des Bildes von Ehe und Familie, das der Verfassung zugrunde liegt, mittelbar beeinträchtigt werden.“694

Indes beeinträchtigt die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten keine Merkmale, aus denen sich die verfassungsrechtlichen Vorstellungen von Ehe und Familie ergeben. Weder wird durch die Neuregelung die Familie als Lebensgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern oder die Verantwortung der Eltern für ihre Kinder noch die Ehe als grundsätzlich unauflösliche und von Verantwortung getragene Verbindung zwischen Mann und Frau in Frage gestellt. Das Gesetz behindert die Auslebung dieser Lebensgemeinschaft, indem es das räumliche Zusammenleben erschwert respektive für eine gewisse Zeit verhindert. Dies mag auch durchaus für die einzelnen Betroffenen eine schwerere Beeinträchtigung darstellen. Doch führt das Gesetz nicht zu einer vollständigen oder endgültigen Auflösung von den die Ehe und die Familie konstituierenden Merkmalen. Das Institut Ehe und das Institut Familie sind somit jedenfalls von der Neuregelung des Familiennachzugs nicht berührt. Überdies handelt es sich bei Art. 6 Abs. 1 GG um eine wertentscheidende Grundsatznorm, die stets zu berücksichtigen ist, sobald es um staatliche Maßnahmen geht, die den Bereich der Ehe und der Familie betreffen. Dies ist bei der Neuregelung des Familiennachzugs zweifellos der Fall. Unter dieser Berücksich693 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (48, Rn. 101); Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (92, Rn. 36). 694 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (48, Rn. 101).

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

153

tigung versteht man, dass die Grundrechtsträger einen Anspruch darauf haben, dass der Staat die ehelichen und familiären Bindungen angemessen beachtet und bei widerstreitenden öffentlichen Interessen und Interessen Dritter in einer den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechenden Art und Weise eine Abwägung treffen muss695. Im Gegensatz zur Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den abwehrrechtlichen Charakter des Art. 6 Abs. 1 GG sind hierbei nicht nur kollidierende Rechte und Interessen mit Verfassungsrang zu beachten, sondern jegliche öffentlichen Interessen und Interessen Dritter696. Je nach Ergebnis dieser Abwägung zwischen den verschiedenen widerstreitenden Interessen kann dies auch dazu führen, dass die objektive Wertentscheidung des Art. 6 Abs. 1 GG eine Ausstrahlungswirkung auf die Ausgestaltung und Anwendung des Aufenthaltsrechts entfaltet und dadurch mittelbar einer Aufenthaltsgestattung gleichkommt697, auch wenn sich aus dem Grundgesetz direkt kein solcher bindender Aufenthaltsanspruch ergibt698. Nachfolgend werden die widerstreitenden Interessen miteinander abgewogen. Dabei liegt der Fokus zunächst auf dem Vergleich und der Abwägung der Interessen der subsidiär Schutzberechtigten und ihrer Familien mit kollidierendem Verfassungsrecht. Sofern sich hieraus schon öffentliche Rechtsgüter und Interessen aus dem Grundgesetz selbst ergeben, die einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 GG rechtfertigen, ist es nicht mehr nötig, auf untergeordnete einfachrechtliche öffentliche Interessen und Interessen Dritter, die bei der Prüfung der Vereinbarkeit mit Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidende Grundsatznorm maßgeblich sind, einzugehen. 2. Abwägung zwischen den Interessen der betroffenen Familien und denen der Allgemeinheit Das Recht auf Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG unterliegt keinem Schrankenvorbehalt und ist deshalb grundsätzlich nicht einschränkbar. Eine Einschränkung ist demnach nur im Wege der praktischen Konkordanz möglich. Entsprechend dem Prinzip der praktischen Konkordanz ist eine Einschränkung eines schrankenvorbehaltlos gewährten Grundrechtes nur insoweit denkbar, wie diese Einschränkung nötig ist, um die Entfaltung eines anderen Grundrechts oder Ver-

695 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (50, Rn. 103 f.). 696 Richter (Fn. 692), Art. 6 Rn. 29c; vgl. auch hierzu Uhle (Fn. 62), Art. 6 Rn. 34; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (50, Rn. 104). 697 Seiler (Fn. 616), Art. 6 Abs. 1, Rn. 233; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (49, Rn. 101); Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (92 f., Rn. 38 f.). 698 S. hierzu: E. I. 1. b).

154

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

fassungsguts zu gewährleisten699. Nach diesem Grundsatz sind beide gegenüberstehenden Verfassungswerte nur so einzuschränken, dass sie ihre größtmögliche Wirksamkeit und Entfaltung erlangen700. Wo diese Grenze zu ziehen ist und inwieweit eine Einschränkung von Art. 6 GG zulässig ist, bemisst sich zuallererst an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dabei vor allem daran, ob eine angemessene und hinreichende Abwägung zwischen den widerstreitenden Verfassungswerten stattgefunden hat. Es ist folglich im Rahmen einer solchen Abwägung und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein Ausgleich zwischen den grundgesetzlich geschützten Interessen des subsidiär Schutzberechtigten und seinen Familienangehörigen im Ausland und den kollidierenden Interessen und Rechten von Verfassungsrang zu finden701. Ansonsten wäre der Eingriff durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz nicht gerechtfertigt und würde das Recht auf Ehe und Familie der Betroffenen verletzen. a) Widerstreitendes Verfassungsrecht Es ist also zunächst zu untersuchen, ob und wenn ja welche verfassungsrechtlich geschützten Rechte und Interessen den sich aus Art. 6 Abs. 1 GG ergebenden Interessen des Einzelnen an der Herstellung der ehelichen und familiären Einheit entgegengehalten werden und somit eine Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigten können, obgleich solche Interessen niemals gänzlich den Schutz aus Art. 6 Abs. 1 GG aufheben könnten702. Die Bundesregierung begründet die Notwendigkeit dieses Gesetzes einerseits mit dem „Interesse der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft“703 und andererseits mit einer ohne die Neuregelung drohenden Überforderung der „Kapazitäten der Institutionen von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilgesellschaft“704. Hieraus lassen sich als mögliche gegenläufige Interessen Integrationserfordernisse, die Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung, die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner staatlichen Einrichtungen sowie die innere und äußere Sicherheit Deutschlands herausdestillieren705. Zunächst ist das von der Bundesregierung auch an zentraler Stelle im zweiten Satz der Gesetzesbegründung genannte Interesse der Aufnahme- und Integra-

699

Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 380. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 72. 701 Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht (Fn. 35), Rn. 556; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (50 f., Rn. 104); BVerwG, Urteil vom 30.3.2010, Az. 1 C 8/09, BVerwGE 136, 231 (244, Rn. 32). 702 Wagner, Integration (Fn. 653), S. 180 f. 703 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1. 704 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1. 705 Vgl. hierzu auch: Wagner, Integration (Fn. 653), S. 180 f. 700

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

155

tionssysteme zu untersuchen706. Das Grundgesetz kennt allerdings kein ausdrückliches Staatsziel „Integration“ und auch im Übrigen findet sich in der Verfassung kein anderes Recht oder Interesse für integrationspolitische Belange707. Im Gegenteil, ein Ausländer hat aufgrund seiner Grundrechte aus Art. 2, 4 und 5 GG sogar das Recht, sich nicht integrieren zu müssen708. Sofern man aber unter Integration die Eingliederung in die gesellschaftliche Ordnung versteht, könnte man sie aus der Verfassung herleiten, weil das Grundgesetz ganz allgemein die herrschende Ordnung der Bundesrepublik schützt709. Jedoch ist dies wirklich sehr allgemein – beinahe nichtssagend – gehalten und es ist auch nicht erkennbar, dass aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes der bundesrepublikanischen Ordnung die Einschränkung des Familiennachzugs gerechtfertigt werden könnte. Schließlich ist die eheliche und familiäre Gemeinschaft ein ganz entscheidender Aspekt der gesellschaftlichen Ordnung in Deutschland. Aus dem Grundgesetz ergibt sich somit kein geschütztes Rechtsgut „Integration“, das das Recht auf Ehe und Familie aus Art. 6 GG in zu rechtfertigender Weise einschränken kann. Doch auch wenn es sich bei Integrationserfordernissen beziehungsweise den Interessen der Aufnahme- und Integrationssysteme um kein eigenständiges verfassungsrechtlich verankertes Recht handelt, bedeutet dies nicht, dass die durchaus verständlichen Argumente im Hinblick auf Integrationsaspekte und die staatlichen und gesellschaftlichen Aufnahme- und Integrationskapazitäten bei der Frage der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten irrelevant sind. Es handelt sich zwar nicht um verfassungsrechtlich geschützte Rechte und Rechtsgüter, die im Wege der praktischen Konkordanz mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang gebracht werden können. Integrationserfordernisse sind jedoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der Abwägung von großer Wichtigkeit. Der Bundesgesetzgeber führt in seiner Gesetzesbegründung auch das „legitime Interesse an einem gesteuerten und geordneten Zuzug von Ausländern“710 ins Feld. Die Hoheit des Staates in Belangen der Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung ist tatsächlich ein theoretisch aus der Verfassung herzuleitendes öffentliches Interesse711. Nach dem Grundgesetz liegt es in der Verantwortung des Staates zu entscheiden, „in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen

706

Vgl. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1. M. Kau, Integration zwischen Migrationsfolgenrecht und Integrationsverwaltungsrecht, NVwZ 2018, S. 1337 (1338); Richter (Fn. 692), Art. 6 Rn. 29c. 708 H. Steiger, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel – Das Beispiel von Ehe und Familie, VVDStRL 45 (1987), S. 55 (83). 709 Steiger, Verfassungsgarantie (Fn. 708), S. 83. 710 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 22. 711 Wagner, Integration (Fn. 653), S. 181. 707

156

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht wird“712. Auch nach dem Völkergewohnheitsrecht liegt die Aufnahme von Ausländern im Ermessen der einzelnen Staaten713. Denn solange kein allgemeingültiges Menschenrecht auf Einreise in ein bestimmtes Land existiert, ist die freie Entscheidung über den Umfang der Zuwanderung Bestandteil der Souveränität der einzelnen Staaten714. Von der Bundesregierung wird außerdem die drohende Überforderung der „Kapazitäten der Institutionen von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilgesellschaft“715 ins Feld geführt. Ein derartiger Kontrollverlust über die Funktionsfähigkeit des Staates und seiner Einrichtungen wird auch in der Literatur teilweise zur Rechtfertigung von Maßnahmen der Migrationssteuerung verwendet716. Sofern der Staat aufgrund des starken Zustroms an Migranten seine wesentlichen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen könne und die öffentliche Sicherheit gefährdet sei, könne hieraus ein Staatsnotstand entstehen, der sowohl verfassungs- als auch völkerrechtlich als ungeschriebener Rechtfertigungsgrund möglich und zulässig wäre, um die Zuwanderung einzugrenzen717. Zunächst sei vorangestellt, dass es sich generell empfiehlt, mit dem Begriff „Notstand“ äußerst vorsichtig umzugehen und ihn nicht aus einem populistischen Reflex heraus zu schnell zu gebrauchen. Ansonsten nimmt man dem Begriff und der durch ihn beschriebenen Situation seinen Charakter als außergewöhnlichen Ausnahmefall und die Ausrufung des Notstands könne schnell bei jeder politischen Krise und jedem politischen Problem drohen. Dies gebietet sich nicht zuletzt unter Berücksichtigung der Geschichte der Notstandsgesetzgebung in Deutschland. So war der ausufernde Einsatz von Notverordnungen im Rahmen der Ermächtigung des Art. 48 Abs. 2 WRV, die allgemein mit dem Ende der Republik und der Demokratie 1933 verbunden wird, sowohl bei der Entstehung des Grundgesetzes 1949 als auch bei dem Beschluss der Notstandsgesetze 1968 ein abschreckendes Beispiel718. Nach Art. 91 GG ist der Kernbereich des inneren Notstands betroffen719, wenn Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung drohen. Diese hohe Hürde muss eine Situation also überwinden, 712 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96). Das Bundesverfassungsgericht stellte dies fest und argumentierte hierbei, dass es deshalb keinen Anspruch auf Familiennachzug geben kann und somit keinen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 vorliegt. Dies überzeugt nicht, s. E. I. 1. b). Dennoch kann sich hieraus ein aus dem Grundgesetz herzuleitendes Recht des Staates auf Steuerung der Zuwanderung. 713 M. Herdegen, Völkerrecht, 20. Aufl. 2021, § 27 Rn. 2. 714 W. Kluth, Begrenzung der Schutzgewährung versus alternative Formen der Migrationssteuerung, ZAR 2016, S. 1. 715 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1. 716 Kluth, Begrenzung (Fn. 714), S. 3 ff. 717 Als theoretische Möglichkeit zu finden bei: Kluth, Begrenzung (Fn. 714), S. 5. 718 W. Heun, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 224), Band III, Art. 91, Rn. 1. 719 U. Volkmann, in: Huber/Voßkuhle, Grundgesetz (Fn. 616), Art. 91 Rn. 8.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

157

damit sie als Staatsnotstand rechtfertigende Wirkung entfalten kann. Während der „Flüchtlingskrise“ 2015 sind innerhalb kürzester Zeit hunderttausende Migranten in Deutschland angekommen. Auch wenn die gefühlte Wahrnehmung und die öffentliche Debatte teilweise so wirkten, als wäre der Staat am Rande eines Kollapses, so hat die Aufnahme all dieser Migranten objektiv betrachtet den Staat und seine Einrichtungen nicht derartig überfordert, dass ein geregelter Staatsbetrieb schlechterdings unmöglich und die Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bedroht waren720. Dies soll freilich in keiner Weise den enormen Kraftakt, den insbesondere Kommunen und ehrenamtliche Organisationen leisteten, schmälern oder die partiellen Ausnahmesituationen und -mittel, wie beispielsweise die Unterbringung in Turnhallen, Hotelzimmern und anderen öffentlichen und privaten Gebäuden bestreiten. Doch trotz der Schwierigkeiten, die die Aufnahme von fast einer Million Migranten im Jahr 2015 mit sich brachten, kam es zu keiner Situation, in der die Grundfesten der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlich demokratischen Grundordnung derartig erschüttert wurde, als dass von einem „Staatsnotstand“ gesprochen werden kann. Ein Interesse oder Rechtsgut von Verfassungsrang, aufgrund dessen eine Einschränkung des Rechts auf Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG gerechtfertigt ist, könnte sich aus den Interessen des Staates an der Wahrung der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschlands ergeben721. Die Wahrung der Rechts- und Friedensordnung Deutschlands ist zweifellos eine der zentralen Aufgaben des Staates722 und dementsprechend vielfach im Grundgesetz verankert. So ergibt sich diese Staatsaufgabe unter anderem aus den Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 S. 1, 35 Abs. 2 und 3, 73 Abs. 1 Nr. 1, 87a und 115a ff. GG. Grundsätzlich handelt es sich hierbei also um ein Rechtsgut von Verfassungsrang, aufgrund dessen auch vorbehaltlos gewährte Grundrechte eingeschränkt werden können. Doch auch diesbezüglich ist es, entgegen der öffentlichen Wahrnehmung und trotz solcher Geschehnisse wie der Kölner Silvesternacht 2015, durch die „Flüchtlingskrise“ 2015 nicht zu einer Lage in Deutschland gekommen, in der objektiv die öffentliche Sicherheit nicht mehr gewährleistet werden konnte. Eine drohende Gefahr für diese, aufgrund derer der Staat Art. 6 Abs. 1 GG in rechtfertigender Weise einschränken kann, ist nicht ersichtlich. Sodann bleibt als Rechtsgut und Interesse von Verfassungsrang, das im Wege der praktischen Konkordanz mit dem Recht auf Ehe und Familie in Einklang gebracht werden muss, damit die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten verfassungsgemäß ist, das Recht des Staates zur Steuerung der Zuwanderung.

720 721 722

Wagner, Integration (Fn. 653), S. 181. Vgl. Steiger, Verfassungsgarantie (Fn. 708), S. 83. O. Depenheuer, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (Fn. 637), Art. 87a (2009) Rn. 18.

158

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

b) Verfassungslegitime Zwecke für die Steuerung der Zuwanderung Die Neuregelung und die damit einhergehende Einschränkung des Familiennachzugs für subsidiär Schutzberechtigte stützt sich auf das verfassungs- und völkerrechtlich normierte Recht der Bundesrepublik Deutschland, die Zuwanderung ins Bundesgebiet zu steuern und zu kontrollieren. Damit der daraus resultierende Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG auch verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, muss er dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Der Ausgangspunkt für eine solche Verhältnismäßigkeitsprüfung ist der jeweils verfolgte Zweck des staatlichen Handelns723, der genau bestimmt und legitim sein muss724. Die Prüfung der Legitimität des Eingriffsziels ist deshalb entscheidend, da nur dann, wenn sowohl die Legitimität des Ziels als auch des Mittels betrachtet wird, eine angemessene Zweck-Mittel-Relation, die den Kern der Verhältnismäßigkeitsprüfung darstellt, vorgenommen werden kann725. Es bedarf also zunächst eines legitimen und bestimmten Zweckes für das Eingreifen des Gesetzgebers in Form des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes. Grundsätzlich ist der Gesetzgeber bei der Frage, welche Zwecke er verfolgt und mit welchen Mitteln er diesen nachgeht, deutlich freier als die vollziehende Gewalt726. Die Grenzen für die Frage, ob ein Zweck legitim ist, ergeben sich für jenen aus der Verfassung selbst. Nur Ziele und Zwecke, die im Grundgesetz und insbesondere in den Grundrechten explizit missbilligt oder sogar als verfassungswidrig gekennzeichnet sind, sind nicht verfassungslegitim und als solche von vornherein ausgeschlossen727. Innerhalb dieser Grenzen darf der Gesetzgeber durch das Gesetz selbst bestimmen, welche Zwecke für seine Gesetze legitim sind728. 723 B. Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (Fn. 637), Art. 20 (2020) Abschnitt VII Rn. 111; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Grundgesetz (Fn. 224), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 181; BVerfG, Beschluss vom 11.12.1962, Az. 2 BvL 2, 3, 21, 24/60, 4, 17/61, BVerfGE 15, 167 (192, Rn. 54); Beschluss vom 3.3.2004, Az. 1 BvF 3/92, BVerfGE 110, 33 (55, Rn. 111 ff.); vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 26.2.2008, Az. 2 BvR 392/ 07, BVerfGE 120, 224 (243 ff., Rn. 41 ff.); Beschluss vom 20.2.2013, Az. 2 BvR 228/ 12, BVerfGE 133, 112 (137, R. 64). 724 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 181; ständige Rechtsprechung: BVerfG, Beschluss vom 6.6.1989, Az. 1 BvR 921/85, BVerfGE 80, 137 (159, Rn. 80 f.); Beschluss vom 3.4.2001, Az. 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (306 f., Rn. 49 f.); Beschluss vom 12.12.2006, Az. 1 BvR 2576/04, BVerfGE 117, 163 (182 ff., Rn. 61 ff.); Urteil vom 11.3.2008, Az. 1 BvR 2074/05, 1254/07, BVerfGE 120, 378 (427, Rn. 163); Beschluss vom 4.11.2009, Az. 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300 (331 f., Rn. 69 ff.); Beschluss vom 24.1.2012, Az. 1 BvR 1299/05, BVerfGE 130, 151 (208, Rn. 183). 725 D. Merten, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: HGR (Fn. 11), § 68 Rn. 53. 726 Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 331. 727 Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 331; Merten (Fn. 725), § 68 Rn. 54, der an dieser Stelle viele verfassungsillegitime Ziele auflistet, wie beispielsweise Vorbereitung eines Angriffskrieges (Art. 26 Abs. 1 GG) oder Zensur (Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG). 728 Grzeszick (Fn. 637), Art. 20 Abschnitt VII Rn. 111.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

159

In ihrer Gesetzesbegründung benennt die Bundesregierung vor allem „die Interessen der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft“729. Das Ziel des Gesetzes ist zunächst die Verringerung der Migration nach Deutschland durch die Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Dadurch sollen die Kapazitäten der staatlichen Institutionen von Bund und Ländern, die zuständigen Behörden sowie die aufnehmenden Kommunen vor Überforderung geschützt werden. Insbesondere die Kapazitäten von Integrationsund Sprachkursen, die angespannte Wohnungssituation und die komplexe Eingliederung in den Arbeitsmarkt müssen hierbei bedacht werden. Gleichzeitig soll durch eine Reduzierung der Migration die Akzeptanz der Zivilgesellschaft für die Flüchtlingspolitik gestärkt werden. Für eine gelungene Aufnahme und Integration von Migranten ist jene unerlässlich, da es zum Gelingen gerade auf das ehrenamtliche Engagement der Zivilgesellschaft ankommt. Die Ziele, die mit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten erreicht werden sollen, sind damit hinreichend bestimmt. All diesen Zielen und Zwecken des Gesetzes steht kein verfassungsrechtliches Verbot entgegen. Am ehesten könnten der Integration die Rechte der Ausländer, ihre kulturelle Identität nicht aufzugeben, nach Art. 2, 4 und 5 GG entgegenstehen, doch sind diese durch den Zweck, ausreichend Integrationssysteme betreiben zu können, noch nicht tangiert730. Die verfolgten Zwecke stehen auch in einem inneren Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Recht des Staates auf Steuerung der Migration und sind aus diesem ableitbar. Sie sind hinreichend verfassungslegitim und als Zweck und Ausgangspunkt des staatlichen Handelns folglich zulässig. c) Geeignetheit der Neuregelung des Familiennachzugs Damit das Familiennachzugsneuregelungsgesetz verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist, muss es auch geeignet sein, die legitimen Zwecke zu erreichen731. Dabei muss die staatliche Maßnahme weder in jedem einzelnen Fall noch gänzlich den Zweck erreichen und auch nicht das bestgeeignete Mittel darstellen, solange sie sich zumindest teilweise eignet, diesen zu fördern732. Das Gesetz muss damit 729

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1. So ähnlich auch bei BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (53, Rn. 109). 731 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.4.1964, Az. 1 BvL 12/63, BVerfGE 17, 306 (313 f., Rn. 27); Urteil vom 3.3.2004, Az. 1 BvR 2378/97, 1084/99, BVerfGE 109, 279 (336, Rn. 209 f.). 732 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 182; BVerfG, Beschluss vom 20.6.1985, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (175, Rn. 52); Beschluss vom 3.12. 1985, Az. 1 BvL 15/84, BVerfGE 71, 206 (217 f., Rn. 41); Beschluss vom 14.3.1989, Az. 1 BvR 1033/82, 174/84, BVerfGE 80, 1 (24 f., Rn. 68); Urteil vom 23.1.1990, Az. 1 BvL 44/86, 48/87, BVerfGE 81, 156 (192, Rn. 136); Urteil vom 4.7.2008, Az. BvE 1– 4/06, BVerfGE 118, 277 (374, Rn. 327); Urteil vom 2.3.2010, Az. 1 BvR 256, 263, 586/08, BVerfGE 125, 260 (317, Rn. 207). 730

160

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

lediglich einen Beitrag zur Zweckerreichung leisten, der die Wahrscheinlichkeit des angestrebten Erfolgseintritts zumindest erhöht733, wobei die abstrakte Möglichkeit der Zweckerreichung bereits ausreicht734. Dem Gesetzgeber wird hier vom Bundesverfassungsgericht eine weite Einschätzungsprärogative hinsichtlich einer sachgerechten und zu vertretenen Prognose eingeräumt735. Es ist nicht Aufgabe des Verfassungsgerichts zu prüfen, ob außer der ausgewählten staatlichen Maßnahme auch andere geeignete Mittel zur Verfügung gestanden hätten736. Eine staatliche Maßnahme ist demnach insbesondere dann ungeeignet, wenn sie „objektiv untauglich“737 oder „schlechthin ungeeignet“738 ist, wenn sie also den gewünschten Zweck überhaupt nicht fördert oder gar behindert739. Durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz möchte der Gesetzgeber aus seinem Recht auf Steuerung der Zuwanderung heraus die Interessen „der Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft“740 wahren. Insbesondere sollen die Kapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen, Integrationskurse und der Behörden vor Überforderung geschützt und die Akzeptanz der Zivilgesellschaft für die Aufnahme von Migranten nicht überdehnt werden. Es geht also vor allem um eine Reduzierung der Zuwanderung und gleichzeitig um die Schaffung einer geordneten und gestaffelten Einreise, um die bezweckten Ziele zu verwirklichen. Durch die Neuregelung des Familiennachzugs wird die Zuwanderung

733 Grzeszick (Fn. 637), Art. 20 Abschnitt VII Rn. 112; Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 182; vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 22.5.1963, Az. 1 BvR 78/ 56, BVerfGE 16, 147 (183, Rn. 144 f.); Beschluss vom 20.6.1985, Az. 1 BvR 1494/78, Beschluss vom 20.6.1985, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (173 ff., Rn. 49 ff.); Urteil vom 14.7.1999, Az. 1 BvR 2226/94, 2420, 2437/95, BVerfGE 100, 313 (373 f., Rn. 213 ff.); Beschluss vom 3.4.2001, Az. 1 BvL 32/97, BVerfGE 103, 293 (307 f., Rn. 51 f.). 734 Merten (Fn. 725), § 68 Rn. 65; vgl. BVerfG, Beschluss vom 20.6.1985, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (175, Rn. 52). 735 Ständige Rechtsprechung: BVerfG, Beschluss vom 19.3.1975, Az. 1 BvL 20–24/ 73, BVerfGE 39, 210 (230, Rn. 56); Beschluss vom 6.10.1987, 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (106, Rn. 75); Beschluss vom 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, BVerfGE 90, 145 (173, Rn. 122); Urteil vom 3.3.2004, Az. 1 BvR 2378/97, 1084/99, BVerfGE 109, 279 (336, Rn. 210). 736 BVerfG, Beschluss vom 14.5.1985, Az. 1 BvR 449, 523, 700, 728/82, BVerfGE 70, 1 (26, Rn. 65). 737 Merten (Fn. 725), § 68 Rn. 65; BVerfG, Urteil vom 22.5.1963, Az. 1 BvR 78/56, BVerfGE 16, 147 (181, Rn. 142); Beschluss vom 9.3.1971, Az. 2 BvR 326, 327, 341– 345/69, BVerfGE 30, 250 (263, Rn. 37). 738 Merten (Fn. 725), § 68 Rn. 65; vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.4.1964, Az. 1 BvL 12/63, BVerfGE 17, 306 (317, Rn. 37); Beschluss vom 24.9.1965, Az. 1 BvR 228/65, BVerfGE 19, 119 (126 f., Rn. 19); Beschluss vom 9.3.1971, Az. 2 BvR 326, 327, 341– 345/69, BVerfGE 30, 250 (263, Rn. 37). 739 Jarass (Fn. 615), Art. 20 Rn. 118; K. Stern, in: ders./Becker, Grundrechte (Fn. 619), Einl. Rn. 157 m.w. N. 740 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 1.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

161

zumindest begrenzt. Um welche Anzahl sich diese reduziert, hängt davon ab, wie vielen Menschen der subsidiäre Schutzstatus gewährt wird. Ob der Beitrag des Gesetzes zu den damit angestrebten Zielen wirklich so groß ausfällt wie erhofft, hängt weniger am Gesetzgeber als vor allem an den Entscheidungen des BAMF und der Verwaltungsgerichte. Jedenfalls fördert die Kontingentierung die Reduzierung und gleichzeitig die Ordnung, weil durch das langwierige Verfahren von Antragstellung auf subsidiären Schutz bis zur Antragstellung auf Familiennachzug die zuständigen Behörden und Kommunen genügend Zeit haben, sich vorzubereiten. Dennoch gibt es auch Gründe, die gegen eine Eignung des Gesetzes sprechen könnten. So führt die Begrenzung des Familiennachzugs möglicherweise stattdessen dazu, dass ungeordnete Einreisen zunehmen. Es könnten sich in Folge des Gesetzes vermehrt Familienangehörige dazu gezwungen sehen, anstatt im Rahmen des regulären Familiennachzugs auf illegale Art und Weise nach Deutschland nachzuziehen741. Dies bedeutet zum einen eine gefährliche und teure Reise für die Familienangehörigen selbst und begünstigt zum anderen das illegale Geschäftsmodell von Schleppern742, obwohl gerade dessen Bekämpfung ein Ziel der deutschen und europäischen Asylpolitik ist. Daneben fördert ein vermehrter illegaler Nachzug auch eine ungeordnete Einreise743. Dies stellt für die deutschen Aufnahmesysteme eine viel größere Herausforderung als ein geordnete Einreise im Rahmen des regulären Familiennachzugs dar, da die deutschen Behörden bei einem illegalen und ungeordneten Nachzug weder Identität und Anzahl der Nachziehenden noch den genauen Zeitpunkt und Ort der Einreise im Vorhinein kennen, wie dies bei einem geordneten Zuzug der Fall wäre744. Indes darf die Eignung einer Maßnahme nicht daran gemessen werden, ob Menschen zur Umgehung der Regelung oder zu Straftaten bereit sind und damit durch die

741 Im Rahmen der Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten im Zuge des Asylpakets II wurde dies teilweise befürchtet, so: Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes beschleunigter Asylverfahren vom 2.2.2015, S. 1, abrufbar unter: https://b-umf.de/src/wpcontent/uploads/2017/12/20160202_Stellungnahme_des_Bundesfachverband_unbeglei tete_minderjährige_Flüchtlinge_zum_Entwurf_eines_Gesetzes_zur_Einführung_beschleu nigter_Asylverfahren.pdf (zuletzt abgerufen am 11.1.2020); Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung beschleunigter Asylverfahren, S. 5 f., https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/file admin/user_upload/Publikationen/Stellungnahmen/Stellungnahme_des_Deutschen_Insti tuts_fuer_Menschenrechte_zum_Gesetzentwurf_der_Bundesregierung_zur_Einfuehrung _beschleunigter_Asylverfahren_so_genanntes_Asylpaket_II.pdf (zuletzt abgerufen am 11.1.2020). 742 H. Heuser, Aussetzung des Familiennachzugs, Asylmagazin 2017, S. 125 (130). 743 Deutsches Kinderhilfswerk, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat über das Familiennachzugsneuregelungsgesetz am 11.06. 2018, A-Drucks. 19(4)66, S. 3. 744 Heuser, Aussetzung (Fn. 742), Asylmagazin 2017, 125 (130).

162

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

mögliche Rechtsbrechung ein schlechterer Zustand als der status quo entsteht745. Der Gesetzgeber muss bei seiner Gesetzgebung davon ausgehen dürfen, dass sich die Normadressaten an die Gesetze halten, die er erlässt. Insofern steht dieses Argument der Geeignetheit der Maßnahme nicht entgegen. Ein weiterer Grund, die Geeignetheit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in Frage zu stellen, könnte damit verbunden sein, dass bezweifelt werden kann, ob eine Aussetzung oder Beschränkung des Familiennachzugs wirklich dem hinter dem Ziel der Steuerung der Zuwanderung liegenden Interesse der Aufnahme- und Integrationssysteme dient oder ob sie nicht vielmehr integrationshemmend wirkt746. Denn die familiäre Trennung könnte die Integration der in Deutschland lebenden subsidiär Schutzberechtigten sogar behindern, da sie sich in ständiger Sorge um ihre Familie befinden könnten. Darüber hinaus könnte es auch aufgrund von gesundheitlichen und psychischen Belastungen infolge dieser Trennung zu zusätzlichen Belastungen der Aufnahmesysteme kommen747. Die Bedeutung der fördernden Integrationswirkung durch die familiäre Gemeinschaft ist indes umstritten. Ihr Beitrag, obgleich vorhanden, wird teilweise als nicht so gewichtig angesehen, als dass er in einer Gesamtabwägung von Erheblichkeit wäre748. Ob der familiäre Beitrag an der Integration so gravierend ist, dass eine Integration ohne ihn nicht möglich ist, ist durchaus vertretbar. Zweifelsohne hilft ein intaktes familiäres Umfeld, sich in einem neuen Land in einer neuen Situation besser zurecht zu finden. Doch ob deshalb das Gesetz „objektiv untauglich“ und „schlechthin ungeeignet“ ist, darf bezweifelt werden. Dem Gesetzgeber steht eine sehr weite Einschätzungsprärogative zu, und er muss nicht das für die Integration bestmögliche Mittel wählen, sodass auch Zweifel hieran für die Frage der Geeignetheit nicht zu berücksichtigen sind. Nach dem Gesetz sind zudem gemäß § 36a Abs. 2 S. 3 AufenthG Integrationsaspekte besonders zu berücksichtigen. Außerdem sind in Art. 36a Abs. 3 Nr. 2 AufenthG viele integrationshemmende Umstände wie Straftaten negativ berücksichtigt. Dies und die Reduzierung der Zuwanderung lassen die Annahme zu, dass das Gesetz für die Integration aller Migranten förderlich sein kann. Zumindest ist dies nicht so unwahrscheinlich, als dass das Gesetz als gänzlich ungeeignet anzusehen ist, den Zweck, Wahrung der Interessen der Aufnahme- und Integrationssysteme, zu erfüllen. Insofern genügt die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten den Grundsätzen der Geeignetheit. 745 So auch das BVerfG, dass es nicht als Hindernis der Geeignetheit ansah, dass Straftäter eine Pflicht zur Zuordnung von Telekommunikationsnummern zu ihren Anschlussinhabern durch das Nutzen falscher Namen oder mit Hilfe Dritter umgehen könnten, vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.1.2012, Az. 1 BvR 1299/05, BVerfGE 130, 151 (177, Rn. 134). 746 So auch Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296. 747 Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296; Deutsches Kinderhilfswerk, Stellungnahme (Fn. 743), S. 3. 748 Kluth, Asylpaket II (Fn. 686), S. 127.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

163

d) Erforderlichkeit der Neuregelung des Familiennachzugs Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten müsste sodann auch erforderlich gewesen sein, um die legitimen Zwecke, also die Interessen der Aufnahme- und Integrationssysteme von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilgesellschaft, zu erreichen. Demnach darf es kein milderes Mittel geben, das die Grundrechte der Adressaten weniger intensiv beschränkt und gleichzeitig das Eingriffsziel ebenso effektiv erreicht749. Die staatliche Maßnahme muss hierfür generell und insbesondere in der gewählten Intensität und zu dem Zeitpunkt der Maßnahme notwendig sein750. Dabei muss der Gesetzgeber versuchen, unnötige Härten zu vermeiden und den schonendsten Eingriff zu wählen751. Bei der Auswahl eines alternativen milderen Mittels ist zu berücksichtigen, dass dieses eindeutig der Zweckerreichung genauso wirksam dienen muss752. Bei der Auswahl des mildesten Mittel sind verschiedene Faktoren, wie die Eingriffsintensität, die Anzahl der Betroffenen sowie die belastenden oder begünstigenden Effekte auf Dritte und sonstige Nebenwirkungen zu berücksichtigen753. Es findet bei der Prüfung der Erforderlichkeit allerdings keine Gegenüberstellung von Wirksamkeit des Mittels und seiner Eingriffsintensität statt, da dies allein eine Frage der Angemessenheit des Mittels ist, sodass weniger wirksame Mittel außer Acht zu lassen sind754. Ähnlich wie bei der Geeignetheit hat

749 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183; vgl. BVerfG, Urteil vom 4.3.1964, Az. 1 BvR 371, 373/61, BVerfGE 17, 269 (279 f., Rn. 25); Beschluss vom 15.12.1965, Az. 1 BvR 513/65, BVerfGE 19, 342 (351 ff., Rn. 21 ff.).; Beschluss vom 20.6.1984, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (177 f., Rn. 55); Beschluss vom 9.3.1994, Az. 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80, 2031/92, BVerfGE 90, 145 (172 f., Rn. 122, 182 f., Rn. 151); Beschluss vom 13.6.2007, Az. 1 BvR 1550/03, 2357/04, 503/06, BVerfGE 118, 168 (194 f., Rn. 122 f.); Beschluss vom 8.6.2010, Az. 1 BvR 2011, 2959/ 07, BVerfGE 126, 112 (144 f., Rn. 103); Beschluss vom 14.1.2014, Az. 1 BvR 2998/11, 236/12, BVerfGE 135, 90 (118, Rn. 74). 750 Merten (Fn. 725), § 68 Rn. 67; vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.3.1985, Az. 1 BvL 25, 45, 52/83, BVerfGE 69, 209 (218 f., Rn. 25). 751 Merten (Fn. 725), § 68 Rn. 67; BVerfG, Beschluss vom 27.1.1983, Az. 1 BvR 1008/79, 322/80, 1091/81, BVerfGE 63, 88 (Amtl. Ls.); vgl. BVerfG, Beschluss vom 4.4.1984, Az. 1 BvR 1287/83, BVerfGE 66, 337 (354 f., Rn. 51). 752 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183; Beschluss vom 16.3. 1971, Az. 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, BVerfGE 30, 292 (319, Rn. 73); Beschluss vom 6.10.1987, Az. 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (109, Rn. 84, 111, Rn. 88); Beschluss vom 14.11.1989, Az. 1 BvL 14/85, 1276/84, BVerfGE 81, 70 (90 f., Rn. 65); Urteil vom 14.7.1999, Az. 1 BvR 2226/94, 2420, 2437/95, BVerfGE 100, 313 (375, Rn. 219). 753 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183; vgl. Beschluss vom 18.7. 2005, Az. 2 BvF 2/01, BVerfGE 113, 167 (259, Rn. 243); Beschluss vom 17.9.2013, Az. 2 BvE 6/08, 2 BvR 2436/10, BVerfGE 134, 141 (181 ff., Rn. 119 ff.); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, § 84 II 3. 754 M. Gentz, Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, NJW 1986, S. 1600 (1604); Grzeszick (Fn. 637), Art. 20 Abschnitt VII Rn. 116.

164

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

der Gesetzgeber bei der Frage, ob eine staatliche Maßnahme erforderlich ist, eine weite Einschätzungsprärogative755. Der Bundesgesetzgeber möchte mit der Neuregelung die Migration nach Deutschland einschränken und verringern, um insbesondere die Aufnahme- und Integrationssysteme von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilgesellschaft zu entlasten. Um dies zu erreichen, wäre ein denkbar milderes Mittel auch die Steigerung und Verstärkung der vorhandenen Kapazitäten, sodass auch bei einer höheren Anzahl von Migranten im Zuge des Familiennachzugs keine Überlastung eintritt. Dies wäre beispielsweise durch eine Aufstockung des Personals der zuständigen Behörden, durch den Bau weiterer Unterkünfte sowie den Ausbau von Sprach- und Integrationskursen möglich. Doch handelt es sich hierbei nicht um ein milderes oder gleichwertiges Mittel im Sinne der Erforderlichkeit. Denn ein solches liegt nicht schon dann vor, wenn zwar der Betroffene weniger belastet wird, dafür aber eine Mehrbelastung von Dritten oder der Allgemeinheit gegeben ist756. Dazu zählen auch unverhältnismäßig höhere finanzielle Belastungen des Staates757. Um den Ausbau der Kapazitäten zu bewältigen, müssten Bund, Länder und Kommunen viel Geld in die Hand nehmen. Daneben müssten auch geeignete Personen, sei es in den Behörden, sei es für die Kurse, gefunden und ausgebildet werden. Dazu sind neben den Kapazitäten der Aufnahme- und Integrationssysteme, deren Ausbau zumindest denkbar ist, auch die Kosten für die Sozialversicherungssysteme zu bedenken. Außerdem ist fraglich, ob diese Mittel gleich geeignet sind, da der Ausbau der Aufnahme- und Integrationssysteme eine längere Zeit in Anspruch nimmt und nicht zeitnah bewerkstelligt werden kann. Man könnte darauf abstellen, dass im Zuge der „Flüchtlingskrise“ 2015 die Aufnahmekapazitäten mittlerweile stark ausgeweitet sind und deshalb eine Überforderung nicht mehr stattfindet, sodass mildere, die Familien der subsidiär Schutzberechtigten weniger belastende Mittel zur Verfügung stünden758. Doch darf man hierbei nicht vergessen, dass ein nicht zu vernachlässigender Teil der Kapazitäten damals von kurzfristiger Natur und als Übergangslösungen gedacht waren. Ohne die Nutzung von Turnhallen, Hotels und Jugendherbergen sowie 755 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 183; Grzeszick (Fn. 637), Art. 20 Abschnitt VII Rn. 116; Beschluss vom 19.7.2000, Az. 1 BvR 539/96, BVerfGE 102, 197 (218, Rn. 90); Urteil vom 27.2.2008, Az. 1 BvR 370, 595/07, BVerfGE 120, 274 (321, Rn. 224); Beschluss vom 8.6.2010, Az. 1 BvR 2011, 2959/07, BVerfGE 126, 112 (145, Rn. 103); Beschluss vom 14.1.2014, Az. 1 BvR 2998/11, 236/12, BVerfGE 135, 90 (118, Rn. 74). 756 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Art. 20 Rn. 183. 757 Jarass (Fn. 615), Art. 20 Rn. 119, mit Verweis auf Beschluss vom 6.10.1987, Az. 1 BvR 1086, 1468, 1623/82, BVerfGE 77, 84 (109 ff., Rn. 84 ff.); Beschluss vom 14.11.1989, Az. 1 BvL 14/85, 1276/84, BVerfGE 81, 70 (91 f., Rn. 66 f.); Beschluss vom 13.6.2006, Az. 1 BvL 9, 11, 12/00, 5/01, 10/04, BVerfGE 116, 96 (127, Rn. 90). 758 So vertreten vom Deutsches Kinderhilfswerk, Stellungnahme (Fn. 743), S. 3.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

165

Zelten und Containern wäre die Aufnahme von Migranten nicht möglich gewesen. Diese Mittel stehen aber nicht dauerhaft zur Verfügung und sind insbesondere für die Herstellung der Ehe- und Familieneinheit keine tragfähige Lösung. Daneben möchte der Gesetzgeber auch die Aufnahme- und Integrationssysteme der Zivilgesellschaft vor Überforderung schützen. Ein Ausbau des Ehrenamts ist aber von staatlicher Seite einseitig nicht möglich. Das zivilgesellschaftliche und ehrenamtliche Engagement darf auch von staatlicher Seite nicht überreizt werden. Ohne dieses Engagement hätte man die Situation der massenhaften Zuwanderung 2015 nicht derartig bewältigen können. Hieraus sollte man aber nicht schließen, dass fortan die Aufnahme- und Integrationssysteme weiterhin in gleicher Weise funktionieren. Auch die ausgebauten bestehenden Aufnahme- und Integrationssysteme können also nicht als milderes und zugleich gleichwertig effektives Mittel erreicht werden. Sodann ist die Neuregelung des Familiennachzugs zur Erreichung des vom Gesetzgeber ausgegebenen Ziels auch erforderlich. e) Angemessener Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen Schließlich müsste der Bundesgesetzgeber bei der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten einen angemessenen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen gefunden haben. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne oder auch Angemessenheit759 ist ein Eingriff in Grundrechte nur gerechtfertigt, soweit das staatliche Handeln „in [einem] angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts“760 steht. Hierbei ist der Nutzen für den Staat, also der durch das staatliche Handeln verfolgte Zweck, mit den Belastungen für den Bürger angemessen in Relation zu setzen761. Dabei darf im Rahmen einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung zwischen der Schwere des Grundrechtseingriffs sowie dem Gewicht und der Eile der diesen rechtfertigenden Gründe die Grenze des für den Betroffenen Zumutbaren nicht überschritten werden762. Bei der Neuregelung des 759 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 184; vgl. hierzu auch: BVerfG, Beschluss vom 9.8.1995, Az. 1 BvR 2263/94, 229, 534/95, BVerfGE 93, 213 (237 f., Rn. 53); Beschluss vom 13.2.2007, Az. 1 BvR 910, 1389/05; BVerfGE 118, 1 (24, Rn. 92 f.); Urteil vom 24.11.2010, Az. 1 BvF 2/05, BVerfGE 128, 1 (68, Rn. 246). 760 BVerfG, Beschluss vom 20.6.1984, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (173, Rn. 48). 761 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 184; Merten (Fn. 725), § 68 Rn. 71; BVerfG, Urteil vom 23.1.1990, Az. 1 BvL 44/86, 48/87, BVerfGE 81, 156 (194, Rn. 141); Beschluss vom 27.10.2006, Az. 2 BvR 473/06, NJW 2007, 2318 (2319, Rn. 16). 762 Ständige Rechtsprechung, so zum Beispiel: BVerfG, Beschluss vom 16.3.1971, Az. 1 BvR 52, 665, 667, 754/66, BVerfGE 30, 292 (316 f., Rn. 65); Beschluss vom 20.6.1984, Az. 1 BvR 1494/78, BVerfGE 67, 157 (178, Rn. 57); Beschluss vom 17.10.1990, Az. 1 BvR 283/95, BVerfGE 83, 1 (19, Rn. 74); Beschluss vom 9.3.1994, Az. 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, BVerfGE 90, 145 (173, Rn. 123); Urteil vom 14.7.1999, Az. 1 BvR 2226/94, 2420, 2437/95, BVerfGE 100, 313 (391,

166

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten sind also die Grundrechte der Familien aus Art. 6 Abs. 1 GG mit den verfassungsrechtlich legitimen ausländerund integrationspolitischen Interessen des Staates angemessen abzuwägen, wobei vor allem der besondere Schutz zu berücksichtigen ist, den die Verfassung Ehen und Familien zukommen lässt763. Sofern diese Abwägung nicht ausreichend ist und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt wird, sind subsidiär Schutzberechtigte und ihre Familien in ihrem Grundrecht auf Ehe und Familie verletzt764. Bei der Abwägung sollen im Folgenden insbesondere drei Aspekte genauer untersucht werden, bei denen sich die Frage einer angemessenen Berücksichtigung stellt. Diese sind auf der einen Seite die allgemeine Abwägung zwischen dem Kindeswohl und dem Familienschutz sowie der besonderen Schutzsituation der subsidiär Schutzberechtigten und ihrer Familien vor dem Hintergrund der Lage in ihren Heimatländern und den Interessen des Staates auf der anderen Seite. Daneben sind zwei besonders umstrittene Punkte des Gesetzes zu beleuchten: die Kontingentierung des Nachzugs auf 1.000 Visa sowie die Dauer der durch das Gesetz verursachten Trennung. aa) Die widerstreitenden Interessen der Familien und des Staates Die Angemessenheitsprüfung der Neuregelung des Familiennachzugs ist im Lichte des besonderen Schutzes, den das Grundgesetz Ehe und Familie zuteilwerden lässt, zu führen. Dabei darf die Berücksichtigung des Kindeswohls nicht zu kurz kommen. Gleichzeitig sind auch die besondere Schutzbedürftigkeit von subsidiär Schutzberechtigten und die Situation in ihrem Herkunftsland zu bedenken. Allerdings müssen daneben auch die berechtigten integrations- und ordnungspolitischen Interessen der Bundesrepublik berücksichtigt werden. Jedoch müssten nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts solche integrations- und ordnungspolitischen Interessen regelmäßig gegenüber der staatlichen Pflicht, Ehe und Familie zu schützen, zurücktreten, sofern eine WiederherRn. 270); Beschluss vom 19.7.2000, Az. 1 BvR 539/96, BVerfGE 102, 197 (220, Rn. 80); Urteil vom 15.1.2002, Az. 1 BvR 1783/99, BVerfGE 104, 337 (349 f., Rn. 42); Beschluss vom 18.7.2005, Az. 2 BvF 2/01, Beschluss vom 8.3.2005, Az. 1 BvR 2561/ 03, BVerfGE 112, 255 (263 f., Rn. 23); BVerfGE 113, 167 (260, Rn. 248); Urteil vom 15.2.2006, Az. 1 BvR 357/05, BVerfGE 115, 118 (163 f., Rn. 148); Beschluss vom 26.2.2008, Az. 2 BvR 392/07, BVerfGE 120, 224 (241, Rn. 37); Urteil vom 30.7.2008, Az. 1 BvR 3262/07, 402, 906/08, BVerfGE 121, 317 (346, Rn. 95). 763 Robbers (Fn. 616), Art. 6 Rn. 112; BVerwG, Urteil vom 4.6.1997, Az. 1 C 9/95, BVerwGE 105, 35 (41 f., Rn. 33 f.); Urteil vom 18.11.1999, Az. 5 C 4/99, BVerwGE 110, 106 (109 f., Rn. 13); Coester-Waltjen (Fn. 619), Art. 6 Rn. 12.; vgl. hierzu auch: M. Geißler, Der Schutz von Ehe und Familie in der ausländerrechtlichen Ausweisungsverfügung, ZAR 1996, S. 27 ff.; Meissner, Familienschutz (Fn. 668), S. 1 ff., 113 ff. 764 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (50 f., Rn. 104); Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (92 f., Rn. 35 ff.); zu dieser Schlussfolgerung kommt beispielsweise das Deutsches Kinderhilfswerk, Stellungnahme (Fn. 743), S. 3.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

167

stellung der ehelichen und familiären Gemeinschaft außerhalb Deutschlands nicht möglich ist765. Allerdings haben die Karlsruher Richter dies in einer solchen Eindeutigkeit bislang lediglich für Abschiebungen entschieden. Die Versagung des Familiennachzugs ist aber nicht mit einer Abschiebung gleichzusetzen, da kein bisher bestehendes Recht entzogen, sondern vielmehr der Rechtskreis der betroffenen Personen nur nicht erweitert wird. Diese Differenzierung hat in die Abwägung einzufließen. Aus ihr folgt, dass der Grundsatz des Bundesverfassungsgerichts von einem gewissen Gewicht für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Neuregelung ist, dessen ungeachtet aber nicht ohne Weiteres zu übernehmen ist. Im Falle des Familiennachzugs tritt vielmehr an die Stelle eines regelmäßigen und eindeutigen Rangverhältnisses zwischen einwanderungspolitischen Interessen und Familienschutz eine Abwägung zwischen beiden Interessen. Hierbei bedarf es auch einer Berücksichtigung des größeren Spielraums, den das Grundgesetz dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der besonderen Schutzpflicht des Art. 6 Abs. 1 GG aufgrund dessen Charakters als normgeprägtes Grundrecht gestattet766. Obschon der Staat trotz dieses Gestaltungsspielraums auch bei der Steuerung der Zuwanderung an die Vorgaben und Grenzen der Verfassung und insbesondere an Art. 6 Abs. 1 GG gebunden ist, kommen der Legislativen und der Exekutiven das Recht und zugleich die Pflicht zu, die ordnungs- und integrationspolitischen Interessen des Landes sowie die humanitären Interessen der subsidiär Schutzberechtigten zu wahren und eine auf diese Interessen Rücksicht nehmende vorausschauende und rationale Politik der Zuwanderung von Familienangehörigen zu gestalten767. Bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten obliegt es dem Staat folglich nicht, den familiären Interessen regelmäßig den Vorzug zu gewähren, sondern vielmehr zwischen den verschiedenen Gütern und Interessen angemessen abzuwägen. In einem ersten Schritt sind die Interessen der subsidiär Schutzberechtigten und ihrer Familien beziehungsweise Ehegatten zu berücksichtigen. Hierbei ist zunächst das Kindeswohl zu beachten. Das Gesetz selbst statuiert expliziert in 765 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 138; Heuser, Aussetzung (Fn. 742), S. 128; für Abschiebungen mehrfach vom Bundesverfassungsgericht entschieden: BVerfG, Beschluss vom 18.4.1989, Az. 2 BvR 1169/84, BVerfGE 80, 81 (95, Rn. 44); Kammerbeschluss vom 30.1.2002, Az. 2 BvR 231/00, NVwZ 2002, 849 (850, Rn. 22); Kammerbeschluss vom 8.12.2005, Az. 1 BvR 1001/04, BVerfGK 7, 49 (55 f., Rn. 19); Beschluss vom 23.1.2006, Az. 2 BvR 1935/05, NVwZ 2006, 682 (683, Rn. 17); Kammerbeschluss vom 10.5.2008, Az. 2 BvR 588/08, BVerfGK 13, 562 (567, Rn. 14); Beschluss vom 5.6.2013, Az. 2 BvR 586/13, NVwZ 2013, 1207 (1208, Rn. 12). 766 Coester-Waltjen (Fn. 619), Art. 6 Rn. 35; vgl. auch Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 3; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96). 767 K. Hailbronner, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 11.6.2018, A-Drucks. 19(4)57 C, S. 3; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96).

168

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

§ 36a Abs. 2 S. 3 AufenthG das Erfordernis dessen besonderer Berücksichtigung. Der Schutz von Kindern und ihren Rechten ist in Deutschland und im deutschen Grundgesetz, auch ohne die bislang fehlende ausdrückliche Erwähnung von Kindesrechten768, von besonderer Bedeutung, wie man neben Art. 6 GG auch beispielsweise an Art. 5 Abs. 2 oder Art. 7 GG feststellen kann. Diesem besonderen Schutz muss das Gesetz neben der rein formellen Nennung auch materiell gerecht werden, indem das Kindeswohl im Rahmen der Abwägung besonders bedacht wird. Im Gesetz bleibt zunächst unklar, wie eine besondere Berücksichtigung dergestalt gewährleistet wird. Es fehlt an einer Klarstellung durch Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften. Viele Familien und mit ihnen viele Minderjährige sind von der Neuregelung des Familiennachzugs betroffen, sodass es denkbar ist, dass auch Minderjährige aus dem monatlichen Kontingent von 1.000 Visa fallen und somit nicht nachziehen können769. Gleiches gilt für Eltern, die zu ihren Kindern nachziehen wollen und vom monatlichen Kontingent nicht erfasst werden. Auch in diesem Fall sind die Kinder, wenn auch in Deutschland lebend, von ihren Eltern für eine unbestimmte und nicht absehbare Zeit getrennt. Durch die Neuregelung des Familiennachzugs könnte sich also die Situation für Kinder und Eltern erschweren, da sich ihre Wartezeit infolge der Kontingentierung verlängern kann, ohne dass absehbar ist, wann und ob ein erfolgreicher Nachzug stattfinden wird. Kinder sind besonders schutzwürdig, sodass ihre Situation in der Abwägung von größerem Stellenwert ist. Gleichwohl betrifft die beschriebene Situation gleichermaßen Ehegatten, die zueinander ziehen wollen. Auch sie müssen infolge des monatlichen Kontingents mit verlängerten Wartezeiten rechnen. Aufgrund der besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls ist es in der Praxis sogar wahrscheinlicher, dass Ehegatten im Abwägungsfall nicht in das monatliche Kontingent aufgenommen werden, sondern zugunsten von Kindern oder Eltern von subsidiär Schutzberechtigten außen vor bleiben. Gerade diese könnten daher kann also durch die Neuregelung des Familiennachzugs von deutlich längeren Trennungszeiten betroffen sein. Allerdings ist bei der Berücksichtigung der familiären Situation und der Trennung auch an den Hintergrund der Trennung zu denken. Es macht einen Unterschied, ob die Familie sich unfreiwillig trennen musste oder ob es sich um eine freiwillige Entscheidung handelte, bei der die späteren und hierbei insbesondere die komplizierten aufenthaltsrechtlichen Folgen der Trennung bewusst waren. Sofern letzteres der Fall war, kann dies zu einer geringeren Gewichtung der familiä768 Der Bundestag befasste sich am 15.4.2021 in erster Lesung, Kinderrechte im Grundgesetz durch eine Ergänzung von Art. 6 Abs. 2 GG zu verankern, https://www. bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw15-de-kinderrechte-833256 (zuletzt abgerufen am 16.4.2021). Das Gesetzesvorhaben scheiterte jedoch, https://www.tages schau.de/inland/innenpolitik/kinderrechte-grundgesetz-113.html (zuletzt abgerufen am 17.4.2021). 769 Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

169

ren und ehelichen Einheit führen, falls ein Ausländer seine Familie im Herkunftsland oder in einem Drittland in Flüchtlingslagern zurückgelassen hat, um sich alleine auf den Weg in die Bundesrepublik Deutschland zu machen770. Da dies jeweils einzelne Fälle betrifft, ist es bei der Ermessensentscheidung der Behörden hinsichtlich des Vorliegens von humanitären Gründen und der Kontingentierung zu beachten. Nichtsdestotrotz muss man sich im Rahmen der Abwägung vor Augen führen, dass es sich bei der familiären Trennung um keine vom deutschen Staat ausgelöste Situation handelt, sodass diesem hinsichtlich der Neuregelung des Familiennachzugs nicht die alleinige Verantwortung für die Trennung der Familien und Ehen trifft. Neben der komplizierten familiären Situation in Folge der Trennung ist auch die besondere Situation des subsidiären Schutzes beziehungsweise der Gründe für den subsidiären Schutz zu berücksichtigen. Es handelt sich nicht um Familien und Ehegatten, die lediglich in verschiedenen Ländern leben. Vielmehr lebt ein Teil der Familie entweder in Flüchtlingslagern in Drittländern oder aber in ihrem Herkunftsland, aus dem der subsidiär Schutzberechtige geflohen ist und in dem zumindest ihm – behördlich durch die Zuerkennung des subsidiären Schutzes anerkannt – ein ernsthafter Schaden droht; in Fällen des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 AsylG (bewaffneter Konflikt) darüber hinaus auch sehr wahrscheinlich seiner restlichen Familie. Für den subsidiär Schutzberechtigten bleibt als Möglichkeit der Familienzusammenführung neben dem Nachzug seiner Familie nach Deutschland nur die Rückkehr zu seiner Familie in jene Länder. Im schlimmsten Fall könnte der subsidiär Schutzberechtigte sich zu der Wahl gezwungen fühlen, entweder in Deutschland allein Schutz vor ihm drohenden ernsthaften Schäden zu genießen oder in dem für ihn gefährlichen Herkunftsland seine Familieneinheit wiederherzustellen771. Sofern der Staat subsidiär Schutzberechtigte vor eine solche Wahl – vereinfacht ausgedrückt zwischen Leben und Familie – stellt, müsste dies stets äußerst streng am Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG zu messen sein. In diesem Fall scheint auch eine Rechtfertigung durch integrationspolitische Interessen undenkbar772. Indes wird durch die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten dem subsidiär Schutzberechtigten keine solche Wahl aufgezwungen. Der Familiennachzug wird schließlich nicht untersagt oder ausgesetzt. Er wird beschränkt und damit verlangsamt. Dies führt zu einer längeren Dauer der Trennung und auch gewiss zu einer schwierigen Zeit für die betroffenen Familien. Dennoch ist ein Nachzug grundsätzlich möglich, sodass der 770

Thym, Asylpaket II (Fn. 458), S. 415. Vgl. A. Weber, Verfassungsrechtliche Probleme des Familiennachzugs von Ausländern, NJW 1983, S. 1225 (1228); ähnlich auch: K. Rennert, Ehe und Familie im Ausländerrecht, in: E. Schmidt-Aßmann u. a., Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 433 (442). 772 So für den ähnlich gelagerten Fall vom Familiennachzug zu Asylbewerbern: Weber, Verfassungsrechtliche Probleme (Fn. 771), S. 1228. 771

170

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

subsidiär Schutzberechtigte nicht gezwungen ist, für die Wiederherstellung der familiären oder ehelichen Einheit, den Schutz Deutschlands aufzugeben. Dies bedeutet aber auch, dass, sofern nicht gewichtige Gründe wie die Ausschlusstatbestände in § 36a Abs. 3 AufenthG vorliegen, der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht dauerhaft verwehrt werden darf, da es ansonsten zu einer solchen Wahl kommen kann. Zugleich sind aber neben den berechtigten Interessen der subsidiär Schutzberechtigten und ihrer Familien auch die integrations- und ordnungspolitischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland bei einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung zu berücksichtigen. Bei der Wiederherstellung der ehelichen und familiären Einheit im Zuge des Familiennachzugs sind folglich auch die gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen im Blick zu behalten773. Zunächst bietet sich ein Rückblick auf die Situation in der zweiten Jahreshälfte 2015 an, also zum Höhepunkt der „Flüchtlingskrise“, als täglich tausende Flüchtlinge über die Balkanroute und insbesondere Anfang September 2015 aus Ungarn in die Bundesrepublik Deutschland einreisten. Dies führte einerseits zu einer unglaublichen Hilfsbereitschaft und Solidarität seitens der Zivilbevölkerung, andererseits auch alsbald zu überfüllten Flüchtlingsunterkünften und einem Ausbau an Notunterkünften, sei es in Turnhallen, in Hotels, in Zelten oder Containern. Der große Andrang an Zuwanderern brachte auch die zuständigen Behörden, auf Bundes-, Landes- und auf kommunaler Ebene sowie die ehrenamtlichen Strukturen an ihre Belastungsgrenzen und teilweise darüber hinaus. Die große Anzahl an Migranten in relativ kurzer Zeit führte notgedrungen dazu, dass trotz der am 13. September 2015 wieder eingeführten Grenzkontrollen774 es zu unkontrollierter und nicht oder nur fehlerhaft dokumentierter Einwanderung in die Bundesrepublik kam. Die heutige Situation und auch die Situation zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs sind zweifelslos mit der Lage 2015 nicht vergleichbar. Die Zuwanderung ist deutlich zurückgegangen, und gleichzeitig wurden staatliche Kapazitäten ausgebaut. Dennoch sind die Herausforderungen und die Belastungen für die staatlichen und gesellschaftlichen Aufnahme- und Integrationssysteme weiterhin zugegen und nicht zu unterschätzten, da die Anzahl der Migranten nach Deutschland trotzdem erheblich höher ist als dies zwischen 1994 und 2013 der Fall war775. Und auch wenn es inzwischen keine unkontrollierte Zuwanderung mehr gibt und man für 773

Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 3. Denn entgegen einer in manchen Teilen der Bevölkerung und bestimmten Kreisen weitverbreiteten Ansicht hat die Bundesrepublik Deutschland im September 2015 ihre Grenzen nicht geöffnet; dies wäre angesichts der Tatsache, dass seit dem Schengener Übereinkommen Deutschland keine „geschlossenen“ Grenzen hat, eh nicht möglich. Vielmehr wurden die Grenzkontrollen wieder eingeführt, vgl. hierzu: https://www. bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2015/09/grenzkontrollen-an-der-grenzezu-oesterreich-wiedereingeführt.html (zuletzt abgerufen am 14.2.2020). 775 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2. 774

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

171

die Unterbringung der Asylbewerber nicht mehr auf Notunterkünfte angewiesen ist, so sind wichtige Kapazitäten, die zugleich für eine erfolgreiche Integration essenziell sind, nach wie vor nur begrenzt verfügbar, wie beispielsweise genügend Sprach- und Integrationskurse. Dazu kommen die ausreichende Verfügbarkeit von Wohnraum auf einem in vielen Teilen Deutschlands ohnehin angespannten Wohnungsmarkt sowie der Zugang zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt776. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten haben in den vergangenen Jahren bereits dazu geführt, dass manche Kommunen zuzugshindernde Wohnsitzauflagen (sogenannte Zuzugssperren) zur Vermeidung von sozialer und gesellschaftlicher Ausgrenzung im Sinne von § 12a Abs. 4 AufenthG erlassen haben777. Es ist unsicher, wie sich die Anzahl der nach Deutschland kommenden Migranten oder die Anzahl der Anträge auf Familiennachzug entwickelt. Deshalb ist es schwierig einzuschätzen, ob die Herausforderungen für die Integrations- und Aufnahmesysteme von Staat und Gesellschaft zurückgehen oder anhalten. Von letzterem geht die Bundesregierung vorerst aus778. Im Interesse der vorstehenden Erwägungen sollen deshalb durch die Neuregelung des Familiennachzugs die Zuwanderung nach Deutschland für subsidiär Schutzberechtigte und ihre Familien eingeschränkt und damit die Zuwanderung nach Deutschland insgesamt entschleunigt werden, um die soeben beschriebene Situation und ihre Folgen besser bewältigen zu können. Jedoch ergibt sich durch die Sonderregelung für subsidiär Schutzberechtigte nicht in jedem Bereich staatlichen Handelns eine Entlastung. Teilweise führt das Gesetz auch zu einer Mehrbelastung. Gerade die durch die „Flüchtlingskrise“ arg beanspruchte Verwaltungsgerichtsbarkeit hat mit den Folgen der Aussetzung und nun der Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten große Mühen. Die unterschiedliche Ausgestaltung der Rechtsfolgenseite von subsidiärem Schutz und Flüchtlingsschutz und die daraus resultierenden Vorteile des Flüchtlingsstatus führen zu einem gewaltigen Anstieg von Gerichtsverfahren von hauptsächlich syrischen subsidiär Schutzberechtigten, die auf die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus klagen779. Insbesondere da die Rechtsprechung hier uneins ist und gute Gründe dafürsprechen, dass ihnen dieser Status zuzuerkennen ist780. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass durch die Neuregelung des Familiennachzugs für Familien eine unsichere Situation entsteht, in der diese nicht sicher sein können, wann die Familieneinheit wiederhergestellt werden kann. 776

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2; kritisch hierzu der niedersächsische Flüchtlingsrat: https://www.nds-fluerat.org/themen/ aufnahme/wohnsitzauflgen/ (zuletzt abgerufen am 15.2.2020). 778 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2. 779 Ellerbrok/Hartmann, Flüchtlingsstatus (Fn. 336), S. 522. 780 S. zu der Frage des Status syrischer Migranten: C. IV. 777

172

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Dies könnte vor allem dem besonderen Schutz des Kindeswohls widersprechen. Auch die Lage der subsidiär Schutzberechtigten und ihrer Familien, insbesondere vor dem Hintergrund der Umstände für die Gewährung von Schutz in Deutschland, ist zu berücksichtigen. Art. 6 GG lässt nicht zu, dass der subsidiär Schutzberechtigte genötigt wird, sich zulasten seines Schutzes für die Familie entscheiden zu müssen. Auch führt die Neuregelung nicht nur zur Entlastung der staatlichen Strukturen, sondern insbesondere in der Gerichtsbarkeit zu neuen Belastungen. Auf Seiten des Staates streiten vor allem dessen integrations- und ordnungspolitischen Interessen. Durch die Neuregelung soll die Migration nach Deutschland besser gesteuert und gleichzeitig durch die Einschränkung verringert und verlangsamt werden, um die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen nicht zu überlasten und die Nachwirkungen der hohen Anzahl an Migranten während der „Flüchtlingskrise“ besser zu bewältigen. Letztere hat die Integrations- und Aufnahmekapazitäten stark beansprucht und soll durch die Verlangsamung der Zuwanderung infolge des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes eine Art „Verschnaufpause“ erhalten. Dabei führt § 36a AufenthG im Rahmen dieser allgemeinen Güter- und Interessenabwägung zu einem fairen Ausgleich. Das Familiennachzugsneuregelungsgesetz dient der Entschleunigung und Begrenzung der Zuwanderung im Rahmen des Familiennachzugs. Gleichzeitig lässt es genug Spielraum, um die Interessen der Familien, hierbei auch das Kindeswohl sowie besondere Härtefälle, innerhalb der Ermessensentscheidungen zu berücksichtigen. Insbesondere ist zu beachten, dass der Familiennachzug eben nicht generell untersagt, sondern nur eingeschränkt und verlangsamt wird, aber sofern keine Ausschlussgründe vorliegen, stattfindet781. Außerdem ist es auch im Interesse von subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familien, dass durch die Entschleunigung des Familiennachzugs die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen nicht überfordert werden, sodass die integrativen und logistischen Herausforderungen, die die Aufnahme subsidiär Schutzberechtigter mit sich bringt, geleistet werden können782. Auch ihnen ist an ausreichenden Kapazitäten in der Verwaltung, bei der Unterbringung und bei den Integrationsmaßnahmen gelegen. Neben diesen allgemeinen einander gegenüberstehenden Interessen sind folgend zwei besonders umstrittene Aspekte der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten zu betrachten: die Kontingentierung und die durch die Einschränkung verursachte Trennungsdauer. bb) „Warteschlangenprinzip“ statt Einzelfallprüfung? Insbesondere die Regelung des § 36a Abs. 2 S. 2 AufenthG, die den Familiennachzug auf 1.000 Visa monatlich begrenzt, bietet Anlass, die verfassungsrecht781 782

Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 16. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 16.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

173

liche Konformität anzuzweifeln. Bei dieser Regelung könnte der Bundesgesetzgeber die Interessen der Familien nicht ausreichend angemessen berücksichtigt haben. Denn durch die Einhaltung einer festen Obergrenze könnte eine genaue Überprüfung jedes Einzelfalls und jedes Einzelschicksals unmöglich sein. Ohne eine ausreichende und angemessene Einzelfallprüfung kann sich aber der besondere Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG gegenüber Ehen und Familien nicht in jedem Fall in angemessener Weise entfalten. Gerade dieser Ausschluss von Einzelfallentscheidungen ist mit dem Schutz jeder einzelnen Familie und jedes einzelnen Familienmitglieds nur schwierig in Einklang zu bringen. Daneben führt dies, wie oben bereits beschrieben, dazu, dass die Trennung der Ehe oder Familie noch länger fortdauert. Auch das Bundesverfassungsgericht sah eine solche Kontingentierung als verfassungsrechtlich zumindest fragwürdig an und hielt in seinem Urteil zum Familiennachzug 1987 hierzu als obiter dictum fest: „Eine ,Kontingentierung‘ des Ehegattennachzugs müßte Bedenken im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG begegnen. Eine Behandlung von Nachzugswilligen nach dem ,Warteschlangenprinzip‘ wäre dem Schutz- und Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG schwerlich angemessen, weil eine hinreichende Berücksichtigung von Umständen des Einzelfalls nicht gewährleistet wäre und die Betroffenen der Gefahr langer Warezeiten ausgesetzt wären.“783 [Hervorhebung d. Verf.]

Vor allem, wenn die Kontingentierung zu einem vollständigen Ausschluss des Nachzugs für manche Angehörigen subsidiär Schutzberechtigter führt, sei dies verfassungsrechtlich nur schwer zu rechtfertigen784. Jedoch darf man ähnlich wie bei der Frage nach der maximal zulässigen Dauer der Trennung aus der Aussage des Bundesverfassungsgerichts nicht einfach schließen, dass eine Kontingentierung im Rahmen des Familiennachzugs per se verfassungsrechtlich unzulässig sei, da in Folge einer derartigen Obergrenze eine Einzelfallentscheidung nicht mehr möglich sei785. Um die Übertragbarkeit der Feststellung der Karlsruher Richter auf die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten zu ergründen, muss man sich zunächst den Hintergrund der jeweiligen Entscheidung und die besondere Interessenlage der Gruppen, die von der Kontingentierung betroffen gewesen wären beziehungsweise betroffen sind, vor Augen führen. Im vom Bundesverfassungsgericht damals entschiedenen Fall ging es um den Ehegattennachzug zu angeworbenen Gastarbeitern sowie ihren Nachkommen der zweiten Generation, die sich schon 783 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (65 f., Rn. 134). 784 Vgl. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 12; BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (65 f., Rn. 134). 785 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 12; so beispielsweise zu lesen bei: Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 139; Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 7.

174

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

viele Jahre wenn nicht sogar Jahrzehnte in Deutschland aufhielten und ihren Lebensunterhalt für die gesamte Familie selbstständig sicherten786. Nach der Ansicht der Karlsruher Richter genießen die betroffenen Personen grundsätzlich einen Vertrauensschutz, der ihnen einen Daueraufenthalt gewährt, solange gewisse Bedingungen erfüllt sind787. Außerdem ist die Bundesrepublik in gewisser Weise verantwortlich für die Arbeitskräfte, die sie gezielt aus dem Ausland angeworben hat788. Die Entscheidung ist also im Lichte ihres Kontexts und ihrer besonderen Interessenlage zu verstehen. Diese Interessenlage ist mit der Situation der in Deutschland lebenden subsidiär Schutzberechtigten offensichtlich nicht vergleichbar. Subsidiär Schutzberechtigte fliehen nach Deutschland, ihre Zuwanderung ist nicht von langer Hand geplant, sondern geschieht aus der Not heraus. Ihnen ist von Anfang an bewusst, dass ihr Aufenthalt temporär ist und nur solange gewährt wird, wie ihnen ein ernsthafter Schaden droht789. Dabei besteht grundsätzlich keine Perspektive auf einen Daueraufenthaltstitel. Auch wenn sie zum Teil viele Jahre in der Bundesrepublik leben, ist ihnen nicht der gleiche Vertrauensschutz wie in der damaligen Situation der Gastarbeiter zuzuerkennen. Den Staat trifft zwar auch eine humanitäre Verantwortung für diejenigen, denen er Schutz bietet, jedoch handelt es sich bei subsidiär Schutzberechtigten nicht um Arbeiter, deren Aufenthalt gezielt gesucht und gefördert wurde, sondern um Menschen, die nach Deutschland kommen, um Hilfe und Schutz zu suchen790. Trotzdem und unabhängig von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und ihrer Übertragbarkeit könnte die fehlende Einzelfallbetrachtung gegen die Angemessenheit der Neuregelung des Familiennachzugs sprechen. Denn grundsätzlich entspricht es dem verfassungsrechtlichen Prinzip, dass der Staat jeden Einzelfall, also jeden Eingriff in die jeweils geschützte Freiheit, rechtfertigen muss791. Doch trotz der monatlichen Obergrenze ist es nicht nur möglich, jeden Einzelfall zu prüfen, sondern vom Gesetzgeber in § 36a AufenthG auch so angelegt. Obgleich nur maximal 1.000 Visa monatlich verteilt werden dürfen, kann und muss dennoch jeder Einzelfall von den Behörden geprüft werden. Es ist lediglich durch das Gesetz ausgeschlossen, dass mehr als 1.000 Menschen monatlich eine positive Visumsentscheidung für den Familiennachzug erhalten. Die übrigen Personen müssen weitere Monate warten. Allerdings ist die Einzelfallprüfung nicht tangiert. Auch ist die Einzelfallprüfung im Gesetz an einigen Stellen angelegt. § 36a AufenthG ist als offene Norm gestaltet, die Platz für Abwägungen und Einzelfallentscheidungen lässt. Dies resultiert aus der Gestaltung 786

Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1342. Hailbronner, Stellungnahme (Fn. 767), S. 4. 788 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (70, Rn. 144). 789 So auch Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 13. 790 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 13. 791 Wagner, Integration (Fn. 653), S. 182. 787

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

175

der Ausschlussgründe als umgekehrt intendierte Ermessensentscheidungen, die einzelfallbezogene Wertungen erlauben792, durch die Pflicht zur besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls sowie von Integrationsaspekten und natürlich durch den unbestimmten Rechtsbegriff der „humanitären Gründe“. Das Gesetz darf weiter nicht dazu führen, dass es sich beim Familiennachzug um eine „Warteschlange“ handelt, bei der lediglich der Zeitpunkt des Eingangs des Antrags für den Erfolg entscheidend ist; es müssen vielmehr die vom Gesetz angelegten materiellen Gesichtspunkte des Einzelfalls ausschlaggebend sein793. Über § 36a Abs. 1 S. 4 sind daneben §§ 22, 23 AufenthG anwendbar, die auch Einzelfallentscheidungen über das monatliche Kontingent hinaus ermöglichen und für die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten vom Bundesverfassungsgericht für entscheidend angesehen werden794. Obgleich die Neuregelung eine Kontingentierung vorsieht, ist die Wahrung des Gebots der Einzelfallprüfung in § 36a AufenthG gegeben. cc) Das Grundgesetz gebietet keine fixe Höchstgrenze der Trennungsdauer Durch die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten und der daraus resultierenden Beschränkung könnte sich die Dauer, in denen Familien voneinander getrennt sind, um einiges verlängern. Je länger die Zeit der Trennung andauert, umso stärker wiegen die berechtigten Interessen der Familien an der Beendigung dieser. Insofern können unverhältnismäßig lange Wartezeiten zu einer Unverhältnismäßigkeit des Gesetzes führen. Manche Familien haben in Folge der Aussetzung schon bis zu drei Jahren auf die Familienzusammenführung gewartet795. Auch wenn dies nicht der Fall ist, so muss für einen erfolgreichen Antrag auf Familiennachzug zunächst das Asylverfahren des subsidiär Schutzberechtigten abgeschlossen sein, und die nachziehenden Familienangehörigen müssen ein Visum beantragen. Die Zeit von der Einreise des Nachholenden bis zur Ankunft der Nachziehenden kann sich dann über viele Monate und Jahre strecken. Im Bundesdurchschnitt dauert ein gesamtes Asylverfahren zurzeit durchschnittlich sechs Monate796. Dazu müssen in den für den Familiennachzug relevanten Ländern wie Jordanien, Ägypten, Türkei und Libanon die Familienangehörigen bei der jeweiligen deutschen Botschaft viele Monate oder zum Teil 792

Vgl. Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 39. So auch Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1342 f. 794 So BVerfG, Beschluss vom 11.10.2017, Az. 2 BvR 1758/17, NVwZ 2017, 1699 (1700, Rn. 12). 795 So Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296. 796 Stand September 2019; BAMF, Aktuelle Zahlen (09/2019) vom 7.10.2019, http:// www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zah len-zu-asyl-september-2019.pdf?__blob=publicationFile (zuletzt abgerufen am 25.10. 2019). 793

176

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

länger als ein Jahr warten797. Hinzu kommt die Zeit der Flucht des subsidiär Schutzberechtigten, die sich teilweise ebenfalls über Wochen und Monate erstreckt798. Durch die Neuregelung des Familiennachzugs und die Kontingentierung könnte diese Trennungsdauer weiter verlängert werden. Gerade im Hinblick auf die Einzelfallprüfung und die Berücksichtigung von humanitären Gründen, Kindeswohl und Integrationsaspekten könnte Antragstellern nicht im gewünschten Monat, sondern erst Monate später der Familiennachzug gewährt werden, falls das Kontingent ausgeschöpft ist und bei anderen Nachzugswilligen dringendere humanitäre oder andere berücksichtigungsfähige Gründe vorliegen. Auch wenn die Dauer der Trennung gemäß § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 einen humanitären Grund darstellt, ist er doch verglichen mit den anderen Fallgruppen der am wenigsten gewichtige. Insgesamt könnte aufgrund dieser ganzen Faktoren für manche Familien von subsidiär Schutzberechtigten eine Situation entstehen, in der die Trennungszeit nicht mehr „überschaubar“799 ist, sodass eine Grenze überschritten sein könnte, bei der die Trennungsdauer als unverhältnismäßig anzusehen ist. Das Bundesverfassungsgericht nahm dies in seiner Entscheidung zum Familiennachzug vom 12. Mai 1987 für Ehegatten bei einer Trennungsdauer von drei Jahren an800. Aus diesem Grund wird vielfach auch auf den ersten Blick angenommen, dass eine Trennungsdauer von mehr als drei Jahren per se verfassungswidrig sei801. So eindeutig ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht zu verstehen. Wie bereits beschrieben und auch für die Bewertung der Aussage der Karlsruher Richter zur Kontingentierung maßgeblich, ist stets der Kontext einer Entscheidung als wichtiger Faktor zu berücksichtigen802. Das Bundesverfassungsgericht fällte die Entscheidung, dass es sich bei drei Jahren um eine zu lange Trennungsdauer handelt, im Rahmen einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung, die es vor dem Hintergrund des jeweiligen Einzelfalls zu betrachten gilt. Es ging bei dem Urteil um das Erfordernis einer dreijährigen Ehebestandszeit, die vorausgesetzt wurde, bevor Ehepartner von Gastarbeitern nach Deutschland zuziehen durften. Daher ist die Verhältnismäßigkeit der Abwägung vor diesem Hintergrund zu überprüfen. Die Dreijahresfrist stellt somit keine feste Zahl oder Regel dar, sondern das Ergebnis einer Abwägung803. Einerseits betonte das Bundes797

Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme (Fn. 515), S. 4 m.w. N. Ausführlich zur Länge der Trennungsdauer beitragenden Faktoren: Heuser, Aussetzung (Fn. 742), S. 130. 799 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (63, Rn. 130). 800 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (70, Rn. 145). 801 So deutlich: Pro Asyl, Stellungnahme (Fn. 508), S. 7; dies zumindest andeutend: Heuser, Aussetzung (Fn. 742), S. 130. 802 Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1342. 803 Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1342. 798

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

177

verfassungsgericht, dass die Verantwortung, die die Bundesrepublik für die Gastarbeiter trage, die sie ins Land geholt hat, besonders berücksichtigt werden muss804. Darüber hinaus handelte es sich um Menschen, die oftmals schon seit vielen Jahren in Deutschland lebten und in der Lage waren, den Lebensunterhalt für die gesamte Familie zu sichern. Dies sind zwei Faktoren, die auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei jeder Güterabwägung auf Seiten der Zulassung des Familiennachzugs ins Feld zu führen sind805. Andererseits könnten die Unterschiede zwischen dem damaligen Sachverhalt und den Umständen des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes auch im Sinne eines Erst-Recht-Schlusses dafür sprechen, dass die Trennungsdauer der Familien aufgrund der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten unverhältnismäßig ist. Die Gastarbeiter und ihre Familien hatten teilweise einfachere Rahmenbedingungen, da die Ein- und Ausreisen und auch Besuche der Verwandten in Deutschland oder im Ausland faktisch und rechtlich möglich waren806. Dies ist subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familien in der Regel nicht möglich. Im Ergebnis ist zumindest eindeutig, dass die Situation von subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familien mit der von Gastarbeitern und deren Familien nicht zu vergleichen ist. Die strikte Grenze einer verfassungsrechtlichen Trennungsdauer von drei Jahren ist deshalb nicht ohne Weiteres übertragbar. Im Rahmen der Abwägung sind vielmehr alle Umstände des Einzelfalls zu betrachten und erst anschließend auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob die Trennungsdauer unverhältnismäßig ist. Die maximal zulässige Zeitspanne kann dann im Ergebnis trotzdem durchaus drei Jahre betragen; sie kann aber auch kürzer oder länger sein. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich bei der Dauer der Trennung von subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familien um keine starre Zahl handelt, wie dies bei dem Erfordernis der dreijährigen Ehebestandszeit der Fall war. Vielmehr handelt es sich um hypothetische Zeiträume, die je nach Einzelfall variieren können. Eine Trennung von mehreren Jahren ist durch das Gesetz weder indiziert noch intendiert. Die Dauer der Trennung hängt vielmehr von Faktoren ab, die durch dieses Gesetz nicht beeinflusst werden können, wie der Dauer der Flucht und der Frage, wie schnell die zuständigen Behörden in Deutschland und im Ausland die Anträge bearbeiten. Diese Faktoren lägen allerdings auch vor, wenn der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wieder mit dem der Konventionsflüchtlinge gleichgestellt würde. Insofern ändert sich an der Tren804 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (70, Rn. 144). 805 Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1342; EGMR, Urteil vom 30.7.2013, Az. 948/12, InfAuslR 2014, 220 (222, Rn. 59 ff.); Urteil vom 11.6.2013, Az. 52166/09, Rn. 57 ff. 806 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 139; BVerfG, Beschluss vom 12.5. 1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (58, 66 ff., Rn. 119, 135, 137, 140).

178

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

nungsdauer nichts. Entscheidend ist vielmehr, ob durch die Neuregelung des Familiennachzugs sich die Dauer durch das neue Verfahren und die sich durch die Neuregelung des Familiennachzugs und die damit einhergehenden Umstände wie das neue Verfahren, die Kontingentierung sowie die aus dieser folgenden negativen Bescheide und Rückstellungen, die Dauer so sehr verlängert, dass sie nicht mehr zumutbar und damit unverhältnismäßig ist. Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht feststellbar. Bisher wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes jeden Monat alle Anträge auf Familiennachzug bewilligt, da bisher die Grenze von 1.000 monatlichen Anträgen noch nicht überschritten wurde807. Gleichzeitig ist sowohl die Anzahl der nach Deutschland kommenden Migranten und somit auch die Anzahl der Asylverfahren genauso wie die Asylverfahrensdauer in Deutschland rückläufig808. Insofern ist nicht absehbar, ob es durch das neue Verfahren zu einer für die Abwägung und die Entscheidung der Verhältnismäßigkeit erheblichen Verlängerung der Trennungsdauer für subsidiär Schutzberechtigte und ihre Familien kommt809. dd) Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a AufenthG beeinträchtigt die Möglichkeit des ehelichen und familiären Zusammenlebens eines in Deutschland anerkannten subsidiär Schutzberechtigten und seiner Angehörigen, sodass der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG berührt ist. Und selbst wenn sich aus Art. 6 Abs. 1 GG im Gegensatz zu Art. 11 und Art. Art. 16a Abs. 1 GG kein unmittelbarer und direkter Anspruch auf Aufenthalt direkt aus der Verfassung selbst ergibt, so liegt doch ein Eingriff in dessen Schutzbereich vor, da die Bundesrepublik durch die Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten das eheliche und familiäre Zusammenleben behindert. Dies ist nämlich für subsidiär Schutzberechtigte regelmäßig nur in Deutschland möglich, da eine Rückkehr in ihr Herkunftsland für diesen nicht zumutbar ist und die Bundesrepublik die subsidiär Schutzberechtigten auch nicht vor eine Wahl zwischen Familie und Sicherheit stellen darf. Daneben ist auch eine Familienzusammenführung in Drittstaaten oft unmöglich, da der subsidiär Schutzberechtigte dort kein Aufenthaltsrecht erhält. Der Eingriff ist allerdings verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Im Wege der praktischen Konkordanz ist eine angemessene Güter- und Interessenabwägung 807

Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 297. BAMF, Schlüsselzahlen Asyl 2019, Flyer vom 7.1.2020, abrufbar unter: https:// www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/SchluesselzahlenAsyl/flyer-schluessel zahlen-asyl-2019.html (zuletzt abgerufen am 8.4.2020). 809 Dies unterscheidet das Familiennachzugsneuregelungsgesetz auch vom „Asylpaket II“ und die darin statuierte zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs. Dementsprechend muss die verfassungsrechtliche Debatte in diesem Punkt anders geführt werden. 808

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

179

zwischen dem Recht auf Ehe und Familie und dem verfassungsmäßigen Recht Deutschlands, die Zuwanderung in das Bundesgebiet zu steuern und zu ordnen, vorzunehmen. Auf der Seite der subsidiär Schutzberechtigten und ihrer Familien sind dabei insbesondere das Kindeswohl und die schwierige Lage von Familien und Ehegatten, die über Monate oder Jahre getrennt sind und die es durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz noch schwieriger haben, ein familiäres und eheliches Zusammenleben wiederherzustellen, zu beachten. Gleichzeitig ist zu bedenken, dass die subsidiär Schutzberechtigten und ihre Familie aus Herkunftsländern kommen, in denen ihnen regelmäßig ernsthafte Schäden drohen, sodass ein familiäres Zusammenleben in Deutschland umso dringender und wichtiger ist. Zugleich sind aber auch die berechtigten Interessen des Staates zu berücksichtigen. Das Gesetz wurde erlassen, um durch eine Kontrolle und Entschleunigung der Zuwanderung die Aufnahme- und Integrationskapazitäten von Bund, Ländern und Kommunen sowie der Zivilbevölkerung vor Überforderung zu schützen, insbesondere vor dem Hintergrund der Situation 2015, als staatliche und ehrenamtliche Stellen an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinauskamen. Dies dient auch den subsidiär Schutzberechtigten, da es hierbei auch um Aspekte wie Integrations- und Sprachkurse sowie den Wohnungs- und Arbeitsmarkt geht. Im Ergebnis sind sowohl die Interessen der subsidiär Schutzberechtigten als auch die des Staates durch die Neuregelung des Familiennachzugs angemessen berücksichtigt worden, sodass das Gesetz insgesamt verhältnismäßig ist. Insbesondere zeigt sich, dass bei der Frage der Verhältnismäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs nicht zu unbedacht Vergleiche und Rückschlüsse aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1987 zum Familiennachzug810 gezogen werden sollten, wie dies teilweise in der Argumentation von Befürwortern oder Kritikern der Neuregelung zu beobachten ist. Dies gilt für die Aussagen zur Kontingentierung und „Warteschlange“ und auch zu der zur scheinbar maximal zulässigen Trennungsdauer von drei Jahren. Denn zum einen ist der Kontext der Entscheidung und der des aktuellen Gesetzes unterschiedlich, zum anderen waren jene Aussagen des Gerichts nur Aspekte einer Gesamtabwägung der konkreten Umstände vor eben diesem Kontext. So ist trotz der Kontingentierung dennoch ausreichend Spielraum für eine Einzelfallprüfung möglich811 und vom Gesetz auch an einigen Stellen angelegt. Daneben sind gemäß § 36a Abs. 1 S. 4 AufenthG die §§ 22, 23 AufenthG weiterhin anwendbar, die auch über das monatliche Kontingent hinaus Einzelfallentscheidungen ermöglichen. Zudem ist entgegen mancher Kritiker des Gesetzes trotz des Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine Trennungsdauer von drei Jahren nicht per se verfassungswidrig. Vielmehr ist dies nur ein Teilaspekt einer umfassenden Abwägung

810 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 ff. 811 So auch Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 3.

180

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

im konkreten Einzelfall. Beim Familiennachzug gibt es verschiedene Faktoren, die zu einer langen Trennungsdauer führen. Hinzu kommen die Fluchtdauer an sich, die Dauer der Asylantragstellung des subsidiär Schutzberechtigten sowie die Dauer des Visumsverfahrens der Angehörigen. Hieran ändert sich durch die Neuregelung nichts. Die Prüfung der humanitären Gründe und die Kontingentierung können danach zu einer Verlängerung der Trennungsdauer führen. Bisher hat das Bundesverwaltungsamt aber keine zeitliche Verschiebung des Familiennachzugs wegen der Überschreitung der monatlichen Obergrenze vornehmen müssen, da das monatliche Kontingent noch nicht erreicht wurde, sodass bisher jeder Antrag gewährt wurde812. Schließlich handelt es sich bei der Gewährung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten um eine Rechtskreiserweiterung des subsidiär Schutzberechtigten durch den Staat. Im Gegensatz zur Abschiebung wird ihm kein Recht entzogen, sondern ein weiteres Recht gewährt. Auch wenn die Behinderung der Gewährung des Familiennachzugs zu einem Eingriff führt, da die Familieneinheit nur in Deutschland hergestellt werden kann, so ist dies Tatsache, dass kein bestehendes Recht entzogen wird, dennoch bei einer Abwägung zu berücksichtigen. Gleichzeitig geht es nicht um eine vollständige Aussetzung des Familiennachzugs, sondern bloß um eine Einschränkung in Form der Umwandlung eines verbindlichen Rechtsanspruchs in eine Ermessensentscheidung und in Form einer Kontingentierung. Im Ergebnis fand also eine angemessene Abwägung zwischen dem Recht auf Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG und dem Recht des Staates, Zuwanderung zu steuern, statt. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist somit verhältnismäßig und verfassungsgemäß. Da sich somit schon aus dem Grundgesetz öffentliche Interessen ergeben haben, die die Neuregelung des Familiennachzugs rechtfertigen, kann dahinstehen, ob auch untergeordnete einfachrechtliche öffentliche Interessen und Interessen Dritter, die bei einer Abwägung im Rahmen des Charakters des Art. 6 Abs. 1 GG als wertentscheidende Grundsatznorm zur Rechtfertigung ausreichen können, die Neuregelung gestatten, sodass hierauf nicht mehr eingegangen wird. 3. Keine Verletzung des Elternrechts nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG Neben der Ehe und Familie schützt das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG auch das Elternrecht. Dieses könnte durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz verletzt sein. Eltern im Sinne des Grundgesetzes sind die biologischen oder rechtlichen Eltern eines Kindes; insofern greift die Verfassung hier auf einfaches Recht zurück (§§ 1591 f. BGB)813. Der Schutz des Elternrechts umfasst das Recht der Eltern, ihre Kinder selbstverantwortlich und nach eigenen Vorstellungen so812 813

Vgl. Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 297. Coester-Waltjen (Fn. 619), Art. 6 Rn. 70.

I. Vereinbarkeit mit dem Schutz von Ehe und Familie

181

wie im Interesse des Kindeswohls frei zu erziehen und zu pflegen814. Dabei handelt es sich bei Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG um eine bereichsspezifische Ausgestaltung des Grundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG815, sodass auch für das Elternrecht ebenso wie für das Recht auf Ehe und Familie die drei Schutzdimensionen gelten. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist dementsprechend zugleich Abwehrrecht, Institutsgarantie und wertentscheidende Grundsatznorm816. Der Schutzbereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG ist durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz betroffen. Durch das Gesetz wird Eltern der Nachzug zu ihren minderjährigen Kindern beziehungsweise das Nachholen ihre minderjährigen Kinder nach Deutschland erschwert. Aufgrund des fehlenden Rechtsanspruchs ist es sogar nicht sicher, dass Kinder beziehungsweise ihrer Eltern nachziehen können. Die Kontingentierung kann hierbei zu einer Verzögerung von mehreren Monaten führen. Zu erheblichen Belastungen für die Eltern und ihre Kinder führt aber nicht nur die komplette Trennung dieser, sondern auch der Fall, wenn nur ein Elternteil im Herkunftsland, in einem Drittstaat oder in Deutschland lebt und der Rest der Familie noch in einem anderen Land. Denn dies bedeutet, dass die gesamte Pflege und Erziehung nur einem Elternteil überlassen sind. Auch hieraus folgt, dass der Schutzbereich des Elternrechts aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG berührt ist. Da die Schutzdimensionen des Elternrechts des Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG als bereichsspezifische Ausgestaltung denen des Rechts auf Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 GG gleichen, ergibt sich vorliegend auch ein Eingriff in das Elternrecht aus denselben Gründen, die auch einen Eingriff in das Recht auf Ehe und Familie begründen. Im Gegensatz zu Eingriffen in das Recht auf Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG ist das Elternrecht zwar grundsätzlich einschränkbar, allerdings nur durch Maßnahmen aufgrund des staatlichen Wächteramtes nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG. Vorliegend sind jedoch keine Anhaltspunkte für solche Maßnahmen erkennbar, sodass eine Prüfung diesbezüglich nicht in Betracht kommt817. Es bleibt somit nur die Möglichkeit einer Einschränkbarkeit aufgrund widerstrei814 BVerfG, Beschluss vom 29.7.1968, Az. 1 BvL 20/63, 31/66, 6/57, BVerfGE 24, 119 (143 f., Rn. 57); Beschluss vom 15.6.1971, Az. 1 BvR 192/70, BVerfGE 31, 194 (204, Rn. 32); Beschluss vom 21.12.1977, Az. 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75, BVerfGE 47, 46 (69 f., Rn. 71); Beschluss vom 18.7.1979, Az. 1 BvR 650/77, BVerfGE 51, 386 (398, Rn. 35); Beschluss vom 17.2.1982, Az. 1 BvR 188/80, BVerfGE 60, 79 (88, Rn. 34); Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (48, Rn. 97); Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländerrecht (Fn. 34), Rn. 641. 815 Uhle (Fn. 62), Art. 6 Rn. 46; M. Jestaedt/P. Reimer, in: Kahl/Waldhoff/Walter, Bonner Kommentar (Fn. 616), Art. 6 Abs. 2 und 3, Rn. 62 f.; Stern, Staatsrecht (Fn. 753), Band IV/1, 2006, § 100 VIII 5. 816 Vgl. im Einzelnen: Uhle (Fn. 62), Art. 6 Rn. 48 ff. 817 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (48, Rn. 98); Beschluss vom 17.2.1982, Az. 1 BvR 188/80, BVerfGE 60, 79 (88 f., Rn. 34 ff.).

182

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

tenden Verfassungsrechts. Für beide Grundrechte ergibt sich folglich die gleiche Prüfung. Auf die Besonderheiten des Kindeswohls und die familiäre Situation für Eltern und Kinder wurde schon in der Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG eingegangen, sodass sich auch für einen Eingriff in Art. 6 Abs. 2 Abs. 1 GG nichts anderes ergibt. Deshalb wird an dieser Stelle auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen.

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG) Auch wenn das Recht auf Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 GG durch die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nicht verletzt ist, so könnte diese doch verfassungswidrig sein, soweit sie gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG verstößt. Denn durch die Neuregelung werden subsidiär Schutzberechtigte einerseits und Konventionsflüchtlinge andererseits bei der Frage des Familiennachzugs ungleich behandelt. Eine solche Ungleichbehandlung könnte einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG darstellen, sofern durch das Gesetz die beiden Gruppen ungleich behandelt werden, obwohl sie im Wesentlichen gleich sind. Denn gemäß Art. 3 Abs. 1 GG sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Demgemäß ist dieses Grundrecht zuvorderst dann verletzt, wenn eine Gruppe verglichen mit einer anderen Gruppe ungleich behandelt wird, obwohl zwischen beide Gruppen keine solch gravierenden Unterschiede bestehen, die eine derartige ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten818. Demnach ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches seiner Eigenart entsprechend ungleich zu behandeln819. Nicht jede Differenzierung ist dabei allerdings ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG820. Ein solcher Verstoß liegt nicht vor, wenn bei der Ungleichbehandlung ein sachlicher Rechtfertigungsgrund besteht, der in einem angemessenen Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung steht821. Es ist folglich zu untersuchen, ob eine wesentliche Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen vorliegt und wenn ja, ob diese durch sachliche Gründe angemessen gerechtfertigt werden kann. 818 BVerfG, Beschluss vom 7.10.1980, Az. 1 BvL 50, 89/79, 1 BvR 240/79, BVerfGE 55, 72 (88, Rn. 47). 819 Ständige Rechtsprechung: BVerfG, Urteil vom 16.3.2004, Az. 1 BvR 1778/01, BVerfGE 110, 141 (167, Rn. 92); Urteil vom 3.4.2001, Az. 1 BvR 1629/94, BVerfGE 103, 242 (258, Rn. 43). 820 Vgl. BVerfG, Urteil vom 16.3.2004, Az. 1 BvR 1778/01, BVerfGE 110, 141 (167, Rn. 92); Urteil vom 14.3.2000, Az. 1 BvR 284, 1659/96, BVerfGE 102, 41 (54, Rn. 41); Urteil vom 28.4.1999, Az. 1 BvL 22, 34/95, BVerfGE 100, 59 (89, Rn. 129). 821 BVerfG, Beschluss vom 15.3.2000, Az. 1 BvL 16-20/96, 18/97, BVerfGE 102, 68 (87, Rn. 72), vgl. auch Beschluss vom 10.11.1998, Az. 1 BvL 50/92, BVerfGE 99, 166 (178, Rn. 63).

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot

183

1. Der speziellere Gleichheitssatz des Art. 6 Abs. 1 GG ist nicht anwendbar Um einen Verstoß von Art. 3 Abs. 1 GG zu überprüfen, müsste allerdings zuerst die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten in den Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes fallen. Sofern nämlich die Tatbestandsvoraussetzungen eines spezielleren Gleichheitssatzes erfüllt sind, ist ein Rückgriff auf Art. 3 Abs. 1 GG ausgeschlossen, auch wenn dabei die Anforderungen des spezielleren Grundrechts gewahrt bleiben822. Ein solches spezielleres Gleichheitsrecht stellt auch Art. 6 Abs. 1 GG dar, das vor an die Familie oder Ehe geknüpften rechtlichen Nachteilen schützen soll823. Es untersagt also, Familie oder Ehe gegenüber anderen Lebens- oder Erziehungsformen schlechter zu stellen824. Damit sind folglich sowohl eine Diskriminierung gegenüber Kinderlosen825 oder gegenüber Ledigen826 als auch eine Schlechterstellung von ehelichen gegenüber anderen Erziehungsgemeinschaften verboten827. Ein Verstoß gegen dieses Diskriminierungsverbot stellt jede Differenzierung dar, deren Anknüpfungspunkt für rechtliche Nachteile gerade „die Existenz einer Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) oder die Wahrnehmung des Elternrechts in ehelicher Erziehungsgemeinschaft (Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG)“828 ist829. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigen richtet sich ausschließlich an Ehepartner, Familien und Eltern. Es richtet sich nicht an andere Lebensgemeinschaften wie Ledige oder Kinderlose. Doch es liegt dennoch kein Verstoß gegen das Gleichheitsrecht des Art. 6 Abs. 1 GG vor. Denn das sich aus diesem speziellen Gleichheitssatz ergebende Benachteiligungsverbot schließt es lediglich aus,

822 U. Kischel, in: Epping/Hillgruber, Grundgesetz (Fn. 62), Art. 3 Rn. 2; BVerfG, Beschluss vom 14.4.1959, Az. 1 BvL 23, 34/57, BVerfGE 9, 237 (248 f., Rn. 41). 823 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (72, Rn. 150); Beschluss vom 10.11.1998, Az. 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91, BVerfGE 99, 216 (232, Rn. 65). 824 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (72, Rn. 150); Urteil vom 10.11.1998, Az. 2 BvR 1057, 1226, 980/91, BVerfGE 99, 216 (232, Rn. 65). 825 Vgl. BVerfG, Urteil vom 29.5.1990, Az. 1 BvL 20, 26, 4/86, BVerfGE 82, 60 (80, Rn. 126); Urteil vom 7.7.1992, Az. 1 BvL 51/86, 50/87, 1 BvR 873/90, 761/91, BVerfGE 87, 1 (37, Rn. 126). 826 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.5.1970, Az. 1 BvL 22/63, 27/64, BVerfGE 28, 324 (347, Rn. 62); Beschluss vom 12.3.1985, Az. 1 BvR 571/81, 494/82, 47/83, BVerfGE 69, 188 (205 f., Rn. 57). 827 Vgl. BVerfG, Urteil vom 3.11.1982, Az. 1 BvR 620, 1335/78, 1104/79, 363/80, BVerfGE 61, 319 (355, Rn. 99); Beschluss vom 10.11.1998, Az. 2 BvR 1057/91, 1226/ 91, 980/91, BVerfGE 99, 216 (232, Rn. 65). 828 BVerfG, Beschluss vom 10.11.1998, Az. 2 BvR 1057/91, 1226/91, 980/91, BVerfGE 99, 216 (232, Rn. 65). 829 Vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (72, Rn. 150).

184

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

dass Ehen und Familien gegenüber Ledigen und Nichtfamilienmitgliedern entgegen der dem Art. 6 Abs. 1 GG innewohnenden Wertung in einer vergleichbaren Lage ungleich behandelt werden830. Eine solche vergleichbare Lage liegt allerdings nicht vor. Denn schon die Möglichkeit des Familiennachzugs selbst richtet sich ausschließlich an Ehepaare, Familien und Eltern. Für Ledige und Kinderlose ist ein solcher Nachzug von Freunden oder sonstigen dritten Personen zu ihnen hingegen weder vorgesehen noch möglich. Die beiden Ausgangslagen unterscheiden sich also, sodass auch keine ungleiche Behandlung Gleicher vorliegt, die an ein Schutzgut des Art. 6 Abs. 1 GG anknüpft. Die unterschiedliche Behandlung beim Familiennachzug knüpft hingegen an den unterschiedlichen Schutzstatus von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen an. Somit ist der speziellere Gleichheitssatz nicht anwendbar, womit der Prüfungsmaßstab das allgemeine Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG ist. 2. Die Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen Zunächst muss eine Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vorliegen. Eine solche wird durch zwei Schritte festgestellt. Um die Gleichheit der zu vergleichenden Gruppen festzustellen, muss für diese zunächst ein gemeinsamer Oberbegriff (tertium comparationis oder genus proximum) festgelegt werden, unter den beide Gruppen fallen831. Die zu untersuchenden Vergleichsgruppen sind subsidiär Schutzberechtigte und Konventionsflüchtlinge. Bei beiden handelt es sich um Personengruppen, die aufgrund von bestimmten Voraussetzungen den in der Qualifikationsrichtlinie normierten internationalen Schutz genießen. Dieser übergeordnete Schutzstatus ist somit der Bezugspunkt beider Gruppen. In einem weiteren Schritt wird die Ungleichbehandlung aufgrund eines bestimmten Unterscheidungsmerkmals (differentia specifica) festgestellt832. Im vorliegenden Fall wird bei beiden Gruppen unterschieden, welchen Schutzstatus sie genau erhalten. Die Neuregelung des Familiennachzugs führt dazu, dass subsidiär Schutzberechtigten der Nachzug ihrer Familien aufgrund von § 36a AufenthG nur eingeschränkt möglich ist, während Konventionsflüchtlingen dieser vollständig ermöglicht wird. Die Frage, ob eine Ungleichbehandlung an sich vorliegt, ist also relativ eindeutig positiv zu beantworten. Komplizierter ist die Beantwortung der Frage, ob es sich auch um eine Ungleichbehandlung wesentlich Gleicher handelt, also ob diese Gruppen überhaupt im Wesentlichen vergleichbar sind, was für die Bestimmung einer Ungleichbe830 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (72, Rn. 150). 831 Heun (Fn. 718), Art. 3, Rn. 24; Kingreen/Poscher, Grundrechte (Fn. 646), Rn. 518 ff. 832 Heun (Fn. 718), Art. 3, Rn. 24.

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot

185

handlung im Sinne des Grundgesetzes unerlässlich ist833. Dies ist der Fall, wenn die Vergleichsgruppen dem gleichen rechtlichen Ordnungsbereich angehören und in einem systematischen Zusammenhang stehen834, wobei hierbei die Anforderungen an die Vergleichbarkeit nicht zu hoch ausfallen dürfen835. Bei beiden Schutzstatus handelt es sich um Teile des internationalen Schutzes, die nach den Voraussetzungen des Asylgesetzes und des Aufenthaltsgesetzes Aufenthalt und weitere Rechte in Deutschland gewähren. Sie sind also Teil des gleichen rechtlichen Ordnungsbereichs. Auch besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen beiden Gruppen. Wie bereits an anderer Stelle erläutert836, knüpfen die beiden Schutzstatus zwar an unterschiedliche Tatbestände an, sind aber auf Tatbestandsebene doch so ähnlich, dass eine Einteilung nicht immer trennscharf möglich ist. So ist vereinfacht ausgedrückt gemäß § 3 AsylG der Flüchtlingsstatus anzuerkennen, wenn sich ein Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslandes befindet und nicht zurückkehren kann oder will. Nach § 4 AsylG ist hingegen derjenige subsidiär Schutzberechtigter, der stichhaltige Gründe für die Annahme vorbringt, dass ihm ein ernsthafter Schaden in seiner Heimat droht. Die beiden unterschiedlichen Tatbestandsmerkmale Verfolgung auf der einen und ernsthafter Schaden auf der anderen Seite scheinen zwar zunächst einmal dazu zu führen, dass die beiden Schutzstatus nicht wesentlich gleich sind. Denn beim Merkmal der „Verfolgung“ im Flüchtlingsschutz stehen individuelle Aspekte im Vordergrund, die sich aus der Person des Ausländers selbst ergeben beziehungsweise aus der Reaktion von Menschen auf individuelle Merkmale des Ausländers. Bei dem für den subsidiären Schutz wesentlichen Begriff des „ernsthaften Schadens“ kommt es hingegen auf bestimmte Intentionen des Schädigers oder individuelle Anknüpfungsmerkmale des Schutzsuchenden nicht an837. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Schutzbedürftigkeit des Verfolgten838, sodass nicht auf subjektive Begriffe, sondern allein auf den objektiven Gefahrenbegriff abgestellt wird839. Doch zugleich gibt es auch Überschneidungen in beiden Tatbeständen, die eine genaue Einordnung nicht immer zulassen. So kann sich die Voraussetzung der individuellen Gefährdung für die Berechtigung des subsidiären Schutzes aus der Tätigkeit als Arzt sowie aus

833 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.1.2012, Az. 1 BvR 1299/05, BVerfGE 130, 151 (174 f., Rn. 95). 834 BVerfG, BVerfG, Beschluss vom 19.12.2012, Az. 1 BvL 18/11, BVerfGE 133, 1 (20 f., Rn. 63); Jarass (Fn. 615), Art. 3 Rn. 11. 835 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18.6.1985, Az. 1 BvL 4/74, BVerfGE 40, 121 (139 f., Rn. 59 f.).; Jarass (Fn. 615), Art. 3 Rn. 11. 836 S. zu der Vergleichbarkeit von subsidiärem Schutz und Flüchtlingsschutz bereits: C. III. 837 Heusch (Fn. 37), Rn. 128. 838 Becker, Zukunft (Fn. 300), S. 79. 839 Marx, Asylgesetz (Fn. 301), § 4 Rn. 9.

186

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

einer bestimmten religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit ergeben840. Gleichzeitig kann es sich bei Rasse, Religion oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch um Verfolgungsgründe handeln, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlauben. Darüber hinaus ist zur Bestimmung des Vorliegens einer begründeten Furcht vor Verfolgung oder von stichhaltigen Gründen für die Annahme eines ernsthaften Schadens bei beiden Gruppen ein gewisser Prognosemaßstab erforderlich, für den auf das Merkmal der „Verfolgungsdichte“ beziehungsweise der „Gefahrendichte“ zurückgegriffen wird841. Schließlich sind die Schutzbedürftigkeit und die Situation von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen im Wesentlichen vergleichbar. Denn beide Schutzstatus gewährleisten den Ausländern für den Zeitraum, in dem die Gefahr andauert, Schutz vor schwerwiegenden Beeinträchtigungen grundlegender Menschenrechte und Rechtsgüter842. Auch wenn also beide Normen formell an unterschiedliche Tatbestände anknüpfen, so sind doch beide Formen des internationalen Schutzes im Hinblick auf die Situation der Ausländer und deren Schutzbedürftigkeit vergleichbar. Somit stellt die Beschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten eine Ungleichbehandlung gegenüber den wesentlich gleichen Konventionsflüchtlingen dar843. 3. Sachlicher Grund und Grad der Ungleichbehandlung Allerdings führt die Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen, die durch die Neuregelung des Familiennachzugs entsteht, nicht zwangsläufig zu einer Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG. Sofern ein „hinreichender sachlicher Grund“844 vorliegt, kann diese Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein845. Hierbei kann jede vernünftige Erwägung ein mögliches Differenzierungsziel darstellen, da es im Allgemeinen dem Gesetzgeber obliegt, zu entscheiden, an welche Sachverhalte er welche Rechtsfolgen knüpft846. Allerdings muss die Entscheidung in der Sache vertretbar sein beziehungsweise darf keine sachfremde Entscheidung getroffen werden847. Indes reicht das Vorliegen

840 BVerwG, Urteil vom 27.4.2010, Az. 10 C 4/09, NVwZ 2011, 56 (60, Rn. 33); Urteil vom 17.11.2011, Az. C 13/10, NVwZ 2012, 454 (455, Rn. 18). 841 Goebel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Flüchtlingsrecht (Fn. 298), Rn. 118. 842 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413; Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 413. 843 So auch: Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413. 844 BVerfG, Urteil vom 28.4.1999, Az. 1 BvL 11/94, 33/95, 1560/97, BVerfGE 100, 138 (174, Rn. 192). 845 Vgl. Jarass (Fn. 615), Art. 3 Rn. 18. 846 Jarass (Fn. 615), Art. 3 Rn. 19. 847 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.3.1994, 2 BvL 43, 51, 63, 64, 70, 80/92, 2 BvR 2031/92, BVerfGE 90, 145 (195 f., Rn. 182); Beschluss vom 12.3.1996, Az. 1 BvR 609,

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot

187

eines sachlichen Differenzierungsziels alleine nicht aus. Vielmehr muss dieses in einem angemessenen Verhältnis zu der Ungleichbehandlung stehen848. Darüber hinaus bedarf es aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung noch weiterer Anforderungen für das Handeln des Gesetzesgebers: „Art. 3 Abs. 1 GG [. . .] verlangt auch für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen der vorgefundenen Verschiedenheit und der differenzierenden Regelung, die sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichenden Gewicht erweist.“849 [Hervorhebung d. Verf.]

Der sachliche Grund für die Differenzierung durch das Gesetz ist zunächst einmal die Verringerung der Zuwanderung nach Deutschland im Wege der Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten. Dadurch sollen die Kapazitäten der staatlichen Institutionen von Bund, Ländern und Kommunen vor Überforderung geschützt werden. Hierunter fallen insbesondere die Kapazitäten von Integrations- und Sprachkursen, die Wohnungssituation sowie der Arbeitsmarkt. Gleichzeitig soll durch eine Reduzierung der Migration die Akzeptanz der Zivilgesellschaft für die Flüchtlingspolitik gestärkt werden. Diese Gründe sind soweit hinreichend bestimmt und verfassungsrechtlich legitim850. Sie sind also in der Sache vertretbar, müssten darüber hinaus aber auch von hinreichendem Gewicht sein. Es müssen also „Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, damit sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können“851. Sodann ist wertend abzuwägen, ob die Differenzierungsziele gewichtig genug sind und deshalb mit der Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen in einem angemessenen Verhältnis stehen. Zunächst ist das Kriterium der Differenzierung zu betrachten. Die Ungleichbehandlung bei der Möglichkeit des Familiennachzugs zwischen subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen erfolgt anhand des Kriteriums der unterschiedlichen Schutzstatus der beiden Gruppen. Bei der Frage, an welche 692/90, BVerfGE 94, 241 (260, Rn. 54); Urteil vom 3.4.2001, Az. 1 BvR 1629/94, BVerfGE 103, 242 (257 f., Rn. 43). 848 BVerfG, Beschluss vom 15.3.2000, Az. 1 BvL 16–20/96, 18/97, BVerfGE 102, 68 (87, Rn. 72); Beschluss vom 21.6.2011, Az. 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49 (68 f., Rn. 64); Urteil vom 17.12.2014, Az. 1 BvL 21/12, BVerfGE 138, 136 (180, Rn. 121). 849 BVerfG, Beschluss vom 19.12.2012, Az. 1 BvL 18/11, BVerfGE 133, 1 (13 f., Rn. 44); vgl. auch Beschluss vom 7.7.2009, Az. 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 (220, Rn. 86); Beschluss vom 21.6.2011, Az. 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49 (68 f., Rn. 64). 850 S. hierzu bereits E. I. 2. b). 851 Ständige höchstrichterliche Rechtsprechung: BVerfG, Beschluss vom 9.4.2003, Az. 1 BvL 1/01, 1 BvR 1749/01, BVerfGE 108, 52 (68, Rn. 44); vgl. auch Beschluss vom 14.1.2008, Az. 1 BvR 2310/06, BVerfGE 122, 39 (52 f., Rn. 38); Beschluss vom 17.1.2012, Az. 2 BvL 4/09, BVerfGE 130, 52 (66, Rn. 58); Beschluss vom 7.5.2013, Az. 2 BvR 909, 1981/06, 288/07, BVerfGE 133, 377 (408, Rn. 76); BVerwG, Urteil vom 29.9.2005, Az. 2 C 44/04, BVerwGE 124, 227 (235, Rn. 19).

188

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Sachverhalte welche Rechtsfolgen geknüpft werden, hat der Gesetzgeber einen gewissen Spielraum852. Er wählt das Mittel des Familiennachzugs, da er glaubt, dass dies die effektivste Möglichkeit darstellt, abgesehen von deutlich schwerwiegenderen Maßnahmen wie dem der Grenzschließung oder der Zurückweisung an den Grenzen, um die Zuwanderung nach Deutschland zu reduzieren. Denn der Familiennachzug erfolgt ohnehin in einem geordneten Verfahren einschließlich der Antragstellung in Deutschland und bei den entsprechenden Auslandsvertretungen. Bei einem solchen Verfahren ist eine Kontrolle möglich. Gleichzeitig erscheint eine Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten auch europarechtlich möglich, da die Qualifikationsrichtlinie teilweise, wie beispielsweise bei der Gewährung von Sozialleistungen, eine Schlechterstellung von subsidiär Schutzberechtigten gestattet. Art. 29 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie erlaubt eine Beschränkung auf Kernleistungen für subsidiär Schutzberechtigte. Auch die Familienzusammenführungsrichtlinie scheint dies zu gestatten853. Insgesamt handelt es sich bei dem Schutzstatus um ein taugliches Differenzierungskriterium, das auch nicht gegen eines der Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 S. 1 oder 2 GG verstößt. Zwischen den verschiedenen Schutzstatus und ihrer Differenzierung durch die Neuregelung des Familiennachzugs besteht auch ein innerer Zusammenhang. Nicht nur im Rahmen des Familiennachzugs, sondern auch bei anderen Aspekten weichen die Rechtsfolgen, die an die Zuerkennung des subsidiären Schutzes anknüpfen, von denen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ab. Dies liegt an der Entstehungsgeschichte des subsidiären Schutzes und ist dergestalt schon in den europarechtlichen Grundlagen angelegt. So sind die Rechtsfolgen der beiden Schutzstatus in einigen Punkten anders ausgestaltet. Dies betrifft unter anderem die Reisemöglichkeiten, auf europäischer Ebene die Gewährung von Sozialleistungen sowie daneben den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten854. Letzterer ist nicht erstmalig durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz anders als der Familiennachzug zu Konventionsflüchtlingen ausgestaltet worden. Vielmehr gab es in der Regelungshistorie des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nur eine kurze Periode von sieben Monaten, in denen beide Schutzinstitute hinsichtlich des Familiennachzugs dieselben Rechtsfolgen hatten855. Die differenzierende Regelung ist also nicht willkürlich vom Gesetzgeber für irgendeine bestimmte Gruppe ausgewählt worden, sondern lässt sich auf historische und systematische Erwägungen zurückführen. 852

Vgl. Jarass (Fn. 615), Art. 3 Rn. 19. Zu der Frage, ob Art. 3 Abs. 2 lit. c die Abwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie auf den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wirklich ausschließt, s. F. II. 2. a). 854 Vgl. zu den unterschiedlichen Rechtsfolgen: C. III. 2. 855 S. zur Regelungshistorie des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten: D. I. sowie zur kurzen Periode der Gleichstellung: D. I. 3. 853

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot

189

Indes ist im Rahmen dieser gesamten Abwägung der widerstreitenden Interessen zu beachten, dass die Anforderungen an eine Rechtfertigung umso höher sind, je eher sich das Differenzierungskriterium auf eine in der Person beziehungsweise der Personengruppe liegende Eigenschaft bezieht. Die Frage ist folglich, ob die Differenzierung nach dem Schutzstatus, den das Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten vornimmt, eine personengebundene Ungleichbehandlung darstellt. In einem solchen Fall muss der Differenzierungsgrund erhöhte Anforderungen erfüllen856. Ob Deutschland einer Person subsidiären Schutz oder Flüchtlingsschutz gewährt, richtet sich danach, ob dieser ein ernsthafter Schaden oder Verfolgung aus bestimmten Verfolgungsgründen droht. Dies ist zunächst einmal kein Kriterium, das sich aus einer Eigenschaft der Person ergibt, sondern ein Sachverhalt, der von persönlichen Eigenschaften unabhängig ist. Indes hängt aber insbesondere der Flüchtlingsstatus mittelbar von persönlichen Eigenschaften ab. Konventionsflüchtlinge haben die begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Mittelbar hängt also der Schutz doch von bestimmten personenbezogenen Kriterien ab beziehungsweise davon, dass diese einer Person zugesprochen werden. Die Neuregelung bezieht sich jedoch in erster Linie nicht auf Konventionsflüchtlinge, sondern auf subsidiär Schutzberechtigte, bei denen es auch mittelbar nicht entscheidend auf persönliche Eigenschaften ankommt. Der subsidiäre Schutz stellt auf einen objektiven Gefahrenbegriff ab, der von persönlichen Anknüpfungsmerkmalen unabhängig ist857. Auch wenn sich die Gewährung des subsidiären Schutzes nach dem Einzelfall und der konkreten Situation einer bestimmten Person richtet, so handelt es sich bei dem unterschiedlichen Schutzstatus nicht um ein Differenzierungskriterium, das sich aus der Person des subsidiär Schutzberechtigten selbst ergibt. Die Umstände, die zu der Schutzgewährung führen, liegen nicht in der Verfügungsgewalt des einzelnen Schutzberechtigten. Dieser kann die ihn benachteiligenden Auswirkungen in der Regel nicht durch sein eigenes Verhalten beeinflussen858. Den Schutzstatus erhält er, weil er vor einem ernsthaften Schaden durch einen bewaffneten Konflikt, der Todesstrafe oder Folter geflohen ist. Sofern er an dieser Situation etwas ändern könnte, müsste er nicht in Deutschland Schutz suchen. Er kann auch, abgesehen von einem möglichen Rechtsweg gegen die Behördenentscheidung, nicht beeinflussen, dass ihm stattdessen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird. Andererseits ist es nicht so, dass er aufgrund eines von ihm nicht zu beeinflussenden Status 856

Jarass (Fn. 615), Art. 3 Rn. 19. Vgl. Heusch (Fn. 37), Rn. 128. 858 BVerfG, Beschluss vom 8.2.1994, Az. 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22 (26, Rn. 17); Beschluss vom 14.10.2008, Az. 1 BvR 2310/06, BVerfGE 122, 39 (52, Rn. 38); Beschluss vom 21.7.2010, Az. 1 BvR 611, 2464/07, BVerfGE 126, 400 (418, Rn. 83). 857

190

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Nachteile hat. Vielmehr genießt er aufgrund dieses Status Schutz in Deutschland und damit einhergehend stehen ihm viele Rechte und Leistungen zu. Jedoch werden ihm nicht in jedem Punkt die gleichen Rechte gewährt wie Konventionsflüchtlingen. Dennoch handelt es sich weniger um eine Verkürzung oder Verschlechterung seiner Rechte aufgrund von ihm nicht zu beeinflussenden Tatsachen als vielmehr um eine Gewährung von weniger Rechten als anderen Gruppen. Diese verschiedenen Erwägungen sind bei der Frage, inwieweit der Differenzierung durch den Gesetzgeber Grenzen gesetzt sind, und bei einer Abwägung zwischen Differenzierungsziel, namentlich den berechtigten Interessen des Staates an der Steuerung der Zuwanderung, und Grad der Ungleichbehandlung zwischen subsidiärem Schutz und Flüchtlingsschutz zu bedenken. Die Ungleichbehandlung zwischen subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz erfolgte aus Gründen der Steuerung und Reduzierung der Zuwanderung nach Deutschland, um so die Kapazitäten der staatlichen Institutionen von Bund, Ländern und Kommunen vor Überforderung zu schützen. Gleichzeitig soll durch eine Reduzierung der Migration die Akzeptanz der Zivilgesellschaft für die Flüchtlingspolitik und die Aufnahme von Schutzsuchenden gestärkt werden. Diese integrations- und ordnungspolitischen Interessen der Bundesrepublik sind vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und staatlichen Rahmenbedingungen, insbesondere der „Flüchtlingskrise“ 2015, zu betrachten859. Diese Situation führte zu vollen Flüchtlingsunterkünften, dem Ausbau von Notunterkünften in Turnhallen, Hotels, Zelten oder Containern und brachte die zuständigen Behörden sowie die ehrenamtlichen Strukturen an ihre Belastungsgrenzen oder teilweise darüber hinaus. Außerdem führte die hohe Anzahl an Migranten in relativ kurzer Zeit notgedrungen zu einer in Teilen unkontrollierten und nicht oder nur fehlerhaft dokumentierten Einwanderung in die Bundesrepublik. Auch wenn die damalige mit der heutigen Situation nicht vergleichbar und die Zuwanderung deutlich zurückgegangen ist, sind die Herausforderungen und die Belastungen für die staatlichen und gesellschaftlichen Aufnahme- und Integrationssysteme weiterhin zugegen und nicht zu unterschätzen, da die Anzahl der Migranten nach Deutschland trotzdem weiterhin erheblich höher ist als dies zwischen 1994 und 2013 der Fall war860. Auch viele wichtige für eine gelungene Integration essenzielle Ressourcen, wie Sprach- und Integrationskurse, sind weiterhin nur begrenzt verfügbar861. Dies führte teilweise schon zu sog. Zuzugssperren für Schutzsuchende in manchen Kommunen862. Vor diesem Hintergrund und aus diesen Gründen möchte 859

Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 3. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2. 861 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2. 862 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 2; kritisch hierzu der niedersächsische Flüchtlingsrat, abrufbar unter: https://www.nds-flue rat.org/themen/aufnahme/wohnsitzauflgen/ (zuletzt abgerufen am 15.2.2020). 860

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot

191

die Bundesregierung die Aufnahme- und Integrationskapazitäten weiterhin vor Überforderung schützen, weshalb die Migration gesteuert und reduziert werden müsste. Für dieses Ziel hat sich die Bundesregierung als Instrument für die Beschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten entschieden. Grundsätzlich obliegt die Entscheidung, an welche Sachverhalte welche Rechtsfolgen geknüpft werden, dem Gesetzgeber863. Dabei hat er einen gewissen Spielraum. Der Gesetzgeber hat sich in diesem Fall entschieden, an die unterschiedlichen Sachverhalte in Form der unterschiedlichen Schutzstatus jeweils andere Rechtsfolgen zu knüpfen und dabei subsidiär Schutzberechtigten weniger respektive weniger weitreichende Rechte eingeräumt. Dies betrifft neben dem Familiennachzug auch die Dauer des Aufenthaltstitels, der zunächst nur für ein Jahr gewährt und dann für zwei weitere Jahre verlängert werden kann. Der Gesetzgeber hat sich aus verschiedenen Gründen dafür entschieden, dass die Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten das richtige Mittel sei, um die Zuwanderung zu kontrollieren und zu reduzieren. Erstens ist der subsidiäre Schutz trotz der wesentlichen Vergleichbarkeit der Schutzbedürftigkeit und der Tatbestandsebene nicht als Schutzinstitut geschaffen worden, das gleichrangig und ebenbürtig neben dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention steht. Er ist zwar kein vorübergehender oder eingeschränkterer Schutz als der Flüchtlingsschutz, aber er ist doch im Verhältnis subsidiär, also schon vom Wortlaut her als unterstützend oder behelfsmäßig angelegt. Dies geht schon auf die Entstehungsgeschichte und die Zielsetzung der europäischen Grundlage des subsidiären Schutzes zurück. Denn wie beschrieben, handelte es sich bei der Qualifikationsrichtlinie wie bei dem durch sie eingeführten subsidiären Schutz um einen legislativen Kompromiss, durch den einerseits die unterschiedlichen nationalen Schutzstatus vereinheitlicht und gleichzeitig die verschiedenen völkerrechtlichen Verpflichtungen der europäischen Staaten harmonisiert werden sollten864. Doch gerade die Vereinheitlichung der verschiedenen nationalen Schutzsysteme führte zu einem verglichen mit dem Flüchtlingsschutz schwächeren Schutz beziehungsweise einem Schutz mit weniger Rechten, da verschiedene Systeme vereinheitlicht wurden, die vormals oft nur aus Abschiebeverboten und Duldungen bestanden. Es war also schon in der europäischen Entstehungsgeschichte des Schutzes keine Gleichstellung mit dem Flüchtlingsschutz geplant, sondern nur eine Vereinheitlichung aller sonstigen internationalen Regelungen und Rechtsprechung, die es abseits von der Genfer Flüchtlingskonvention gab und gibt und die die einzelnen Staaten unterschiedlich umgesetzt hatten. Aus diesem Grund ist von Beginn an vom europäischen und deutschen Gesetzgeber geplant gewesen, an diesen Tatbestand des subsidiären Schutzes andere und

863 864

Jarass (Fn. 615), Art. 3 Rn. 19. Vgl. Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 410, s. hierzu auch unten: C. I. 2.

192

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

„schwächere“ Rechtsfolgen zu knüpfen. Neben der Tatsache, dass es sich um einen vereinheitlichten Kompromiss zwischen mehr oder weniger schutzbereiten Ländern handelt, ist auch der unterschiedliche zeitliche Kontext wenn auch keine Rechtfertigung, so doch eine Erklärung, warum der europäische und der deutsche Gesetzgeber die Rechtsfolgen derartig ausgestaltet haben865. Während die Genfer Flüchtlingskonvention vor dem historisch-politischen Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und den darauffolgenden Migrationsbewegungen entstand, trat die Qualifikationsrichtlinie nach den starken Fluchtbewegungen in Folge der Balkankriege und schon unter dem Eindruck einer zunehmenden Migration vom afrikanischen Kontinent und dem Nahen Osten in Kraft. Zu diesem Zeitpunkt lag, anders als bei der Flüchtlingskonvention, der Fokus vermehrt auf der Begrenzung der Aufnahme von tatsächlich schutzbedürftigen Menschen sowie der Verhinderung falscher Anreize beziehungsweise „Pull-Faktoren“. Aus diesen Gründen und als Steuerungsinstrument der Zuwanderung schränkten der europäische und der deutsche Gesetzgeber die Rechte für subsidiär Schutzberechtigte ein. Ein weiterer Grund dafür, die Steuerung und Reduzierung mit der Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten zu erreichen, liegt an der zeitlichen Komponente des Schutzstatus. Auch wenn es sachlich nicht richtig ist, dass der subsidiäre Schutz ein „vorübergehender“ Schutz als der Flüchtlingsschutz ist866, so wird der Aufenthalt dennoch erst einmal für ein Jahr gewährt und im Anschluss überprüft, ob die Schutzbedürftigkeit noch vorliegt. Auch wenn der Schutz de facto im Regelfall verlängert wird, so läuft er de jure erst einmal nach einem Jahr aus. Es ist insofern tatsächlich nicht sinnvoll, den Familiennachzug in dieser Zeit zu gewähren, da der Zeitraum der Gewährung sich über mehrere Monate zieht und deshalb im schlimmsten Fall die eheliche oder familiäre Zusammenkunft nur wenige Wochen, wenn überhaupt, in Deutschland stattfinden könnte. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten sollte deshalb in jedem Fall unter dem Vorbehalt stehen, dass sich der subsidiär Schutzberechtigte in einer Lage befindet, in der die Gefahr eines ernsthaften Schadens länger als nur ein Jahr dauert, sodass der Aufenthalt verlängert wird, was ja auch regelmäßig der Fall ist. Im Ergebnis sprechen gute sachliche Gründe dafür, dass die unterschiedlichen Schutzstatus ein hinreichend sachlicher Grund für eine Differenzierung sind und sie zumindest dem Ziel, das durch die Differenzierung erreicht werden soll, behilflich sind867.

865

Hierzu ausführlicher, s. C. I. sowie C. III. Vgl. hierzu bereits die Einleitung zu C. 867 Ähnlich auch Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 15; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343; so auch BG Berlin, BeckRS 2017, 130395 Rn. 9, Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi vom 27.6.2018, Az. C-380/17, BeckRS 2018, 13282 (Rn. 29 f.). 866

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot

193

Auf der anderen Seite ist bei der Abwägung der Grad der Ungleichbehandlung zwischen subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen den sachlichen Gründen dieser Ungleichbehandlung entgegenzuhalten. Eine unangemessene und damit verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung könnte sich aber aus dem einheitlichen europäischen Überbau des internationalen Schutzes sowie der vergleichbaren Schutzbedürftigkeit sowohl des Flüchtlingsschutzes als auch des subsidiären Schutzes ergeben868. Denn sowohl subsidiär Schutzberechtigten als auch Flüchtlingen drohen in ihrem Herkunftsland mit großer Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Beeinträchtigungen grundlegender Menschenrechte und Rechtsgüter. Diese können auch nicht auf einer Skala von „weniger“ bis „mehr“ verletzend gemessen werden869. Darüber hinaus ist sowohl bei subsidiär Schutzberechtigten als auch bei Flüchtlingen die besondere und durchaus ähnliche Situation zu bedenken, aufgrund derer der Familiennachzug angestrebt wird. Bei beiden Gruppen handelt es sich um Familien und Ehen, bei denen der eine Teil entweder in Flüchtlingslagern in Drittländern oder aber in ihrem Herkunftsland lebt, aus dem der subsidiär Schutzberechtige geflohen ist und in dem zumindest ihm – behördlich durch die Zuerkennung des jeweiligen Schutzstatus anerkannt – ein ernsthafter Schaden oder Verfolgung droht. Bei vielen Verfolgungsgründen, beispielsweise Rasse, Religion oder Nationalität, aber auch bei dem ernsthaften Schaden aufgrund eines bewaffneten Konflikts drohen gleichermaßen sowohl den Familien des Konventionsflüchtlings als auch denen des subsidiär Schutzberechtigten dieselbe Verfolgung beziehungsweise derselbe Schaden. Für beide Gruppen verbleibt deshalb als einzige Möglichkeit der Familienzusammenführung der Nachzug ihrer Angehörigen nach Deutschland, da ihnen nicht zugemutet werden kann, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, weil sie sonst vor einer Wahl stünden zwischen der Familieneinheit und dem drohenden Schaden oder der drohenden Verfolgung in diesen Ländern870. Allerdings besteht für beide Gruppen die Möglichkeit des Familiennachzugs. Bei subsidiär Schutzberechtigten ist er jedoch durch die Kontingentierung auf maximal 1.000 Nachziehende pro Monat beschränkt. Außerdem ist durch die Überprüfung der humanitären Gründe im Vergleich zu Flüchtlingen eine weitere Ermessensentscheidung dazwischengeschaltet. Im Ergebnis bedeutet dies, dass es subsidiär Schutzberechtigte schwieriger haben, ihre Familien oder Ehegatten nachzuholen und dass dies auch mit einem längeren Zeitaufwand verbunden ist. Doch bleibt ihnen die Möglichkeit des Familiennachzugs genauso wenig wie Konventionsflüchtlingen vollständig verwehrt. Insbesondere die vergleichbare 868 So unter anderem: Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413; andere Ansicht: Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 3, der einen substanziellen Unterschied zwischen der Art und Schwere der bedrohten Rechtsgüter erkennt und deshalb die unterschiedliche Behandlung der Gruppen für gerechtfertigt hält. 869 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 412 f. 870 Vgl. Weber, Verfassungsrechtliche Probleme (Fn. 771), S. 1228.

194

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

Schutzbedürftigkeit und die vergleichbare Lage, in der sich subsidiär Schutzberechtigte und Konventionsflüchtlinge sowie ihre jeweiligen Familien befinden, könnten dagegen sprechen, dass eine Ungleichbehandlung dieser beiden Gruppen gerechtfertigt ist. Jedoch ist der Grad der Ungleichbehandlung zwischen den beiden Gruppen trotz dieser Gründe nicht übermäßig gravierend. Subsidiär Schutzberechtigten wird kein Recht, das Flüchtlingen zusteht, generell genommen, sondern ein Recht, das beiden Gruppen gewährt wird, wird bei ihnen unter zusätzliche Bedingungen gestellt. Dennoch bleibt auch für sie die Möglichkeit bestehen, ihre Familie nachzuholen, obgleich der Aufwand hierfür ein größerer sein kann. Für den Familiennachzug müssen schließlich humanitäre Gründe vorliegen. Indes ist es aus der bisherigen Verwaltungspraxis nicht ersichtlich, ob und wie oft der Familiennachzug schon wegen des Fehlens solcher Gründe versagt wurde. Bislang wurde jeder Antrag auf Familiennachzug bewilligt, und da der Andrang noch nicht allzu groß war, ist dies auch ohne Wertung nach der Reihenfolge des Eingangs des Nachzugsantrags geschehen871. Somit unterscheidet sich in der Praxis der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten sowie zu Konventionsflüchtlingen zurzeit nicht. Dies mag sich ändern, falls die Anzahl der Anträge auf den Familiennachzug zunimmt. Sofern jedoch syrischen Schutzberechtigten vermehrt der Flüchtlingsstatus statt der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wird, wofür es gute Gründe gibt872, dürften Anträge auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten eher sinken als steigen. Der Grad der in § 36a AufenthG angelegten Einschränkung und damit der Ungleichbehandlung der beiden Gruppen ist somit als gering einzustufen. 4. Keine Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten verstößt also auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Zunächst ist das speziellere Gleichheitsrecht des Art. 6 Abs. 1 GG nicht verletzt. Verheiratete subsidiär Schutzberechtigte und/oder solche mit Kindern werden gegenüber ledigen oder kinderlosen subsidiär Schutzberechtigten nicht benachteiligt. Beim Familiennachzug differenziert der Gesetzgeber vielmehr danach, ob es sich bei dem Nachholenden um einen Konventionsflüchtling oder um einen subsidiär Schutzberechtigten handelt. Nicht die Ehe oder die Familie, sondern der unterschiedliche Schutzstatus ist das entscheidende Differenzierungskriterium. Bei diesen beiden Gruppen handelt es sich auch um wesentlich Gleiche. Beide Schutzstatus sind Teil des internationalen Schutzes, die zwar an unterschiedliche Tatbestände anknüpfen, die jedoch so ähnlich sind, dass eine Einteilung nicht immer trennscharf möglich ist. Insbesondere die Schutzbedürftigkeit und die Situation von 871 872

Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 297. Vgl. hierzu C. IV. 3.

II. Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgebot

195

subsidiär Schutzberechtigten und Flüchtlingen im Wesentlichen ist vergleichbar. Denn beide Schutzstatus gewährleisten den Ausländern für den Zeitraum, in dem die Gefahr andauert, Schutz vor schwerwiegenden Beeinträchtigungen grundlegender Menschenrechte und Rechtsgüter873. Diese Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichen ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die sachlichen Gründe für die Ungleichbehandlung sind dabei dieselben, die schon im Rahmen der Abwägung des Art. 6 Abs. 1 GG relevant waren. Der Gesetzgeber möchte durch eine Kontrolle und Verringerung der Zuwanderung nach Deutschland die Kapazitäten der staatlichen Institutionen von Bund, Ländern und Kommunen vor Überforderung schützen. Es besteht dabei auch ein innerer Zusammenhang zwischen der Differenzierung und dem Differenzierungskriterium, also dem Schutzstatus. Sowohl der deutsche als auch der europäische Gesetzgeber haben in verschiedenen Punkten für den subsidiären Schutz andere respektive „schlechtere“ Rechtsfolgen gewählt als für den Flüchtlingsschutz. Die Differenzierung durch die Neuregelung des Familiennachzugs erfolgte somit nicht willkürlich. Grundsätzlich hat der Gesetzgeber auch einen gewissen Spielraum, an welchen Tatbestand er welche Rechtsfolgen knüpft. Hierbei ist sich die Entstehungsgeschichte des subsidiären Schutzes vor Augen zu führen. Der subsidiäre Schutz sollte die verschiedenen Schutzverpflichtungen der Mitgliedstaaten, an die diese durch Völkerrecht oder Richterrecht gebunden sind und deren Ausgestaltung durch die einzelnen Mitgliedstaaten vereinheitlichen. Hierbei war die Harmonisierung wichtiger als ein einheitliches Schutzniveau von subsidiärem Schutz und Flüchtlingsschutz. Schon von Beginn an war also geplant, dass der subsidiäre Schutz andere Rechtsfolgen begründet. Der subsidiäre Schutz wird auch de jure nur für ein Jahr gewährt, auch wenn er de facto regelmäßig verlängert wird, insbesondere in Fällen von bewaffneten Konflikten. Dennoch ist es möglich, dass das Aufenthaltsrecht von subsidiär Schutzberechtigten im Gegensatz zu dem von Konventionsflüchtlingen nach einem Jahr erlischt, weshalb ein Familiennachzug innerhalb dieses Zeitraums nicht sinnvoll wäre. Schließlich handelt es sich auch nicht um ein in der Person des subsidiären Schutzes liegendes Kriterium, aufgrund dessen der Schutzberechtigte durch die Bundesrepublik Nachteile fürchten muss. Auch wenn sich die Gewährung des Schutzes nach der konkreten Situation einer bestimmten Person richtet, so ergibt sich diese nicht aus der Person selbst, sondern aus den Umständen, die zu seiner Schutzgewährung führen. Der subsidiär Schutzberechtigte erfährt auch durch die Ungleichbehandlung vom Staat keine Nachteile, in dem Sinne, dass ihm Rechte entzogen werden, sondern ihm werden lediglich weniger Vorteile durch den Staat gewährt. Sein Rechtskreis wird, verglichen mit dem eines Konventionsflüchtlings, durch die Bundesrepublik nur in geringerem Maße erweitert. Dieses Recht wird 873 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413; Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 413.

196

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

ihm auch nicht dauerhaft verwehrt, sondern die Rechtsgewährung wird nur an bestimmte Voraussetzungen geknüpft und dadurch erschwert. Dennoch bleibt auch für subsidiär Schutzberechtigte die Möglichkeit bestehen, ihre Familie nachzuholen. Insofern ist auch der Grad der Ungleichbehandlung als nicht allzu hoch einzustufen. Im Ergebnis ist damit die Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen gerechtfertigt, sodass kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt.

III. Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot (Art. 20 Abs. 3 GG) Gerade im Hinblick auf die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „humanitären Gründe“ und der fehlenden Vorgaben zur Priorisierung bei der Vergabe der monatlichen Visa874 liegt es nahe, § 36a AufenthG auf seine Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot zu überprüfen. Als Ausprägung des Rechtsstaatsgebots nach Art. 20 Abs. 3 GG und der Rechtssicherheit verlangt dieser Grundsatz die ausreichende Bestimmtheit von Rechtsnormen875. Gesetzliche Tatbestände müssen so präzise formuliert sein, dass der einzelne Normadressat das Ausmaß und die Bedeutung der einzelnen Norm erkennen und so sein Handeln danach richten kann, damit für ihn sowohl die Folgen der Rechtsnorm als auch das Handeln der Verwaltung in einem gewissen Umfang vorhersehbar und berechenbar sind876. Gleichzeitig sollen die Normen so bestimmt sein, dass sie den Behörden einen angemessen klaren Anwendungsrahmen vorgeben und den Gerichten ihre Kontrolle ermöglichen877. Sofern der Verwaltung durch eine Rechtsnorm ein Ermessen eingeräumt wird, darf dies deshalb nicht zu einer willkürlichen Anwendung führen878. Die Norm muss also so bestimmt sein, dass die Verwaltung durch den Normzweck, gewisse Abwägungskriterien und tatbestand874

Vgl. D. II. 3. Jarass (Fn. 615), Art. 20 Rn. 82; Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 129; vgl. BVerfG, Beschluss vom 9.8.1978, Az. 2 BvR 831/76, BVerfGE 49, 158 (181, Rn. 34); Beschluss vom 24.11.1981, Az. 2 BvL/80, BVerfGE 59, 104 (114, Rn. 31 f.). 876 Jarass (Fn. 615), Art. 20 Rn. 83 f.; Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 129; BVerfG, Beschluss vom 7.7.1971, Az. 1 BvR 775/66, BVerfGE 31, 255 (264, Rn. 31); Urteil vom 24.4.1991, Az. 1 BvR 1341/90, BVerfGE 84, 133 (149, Rn. 69); Urteil vom 27.7.2005, Az. 1 BvR 668/04, BVerfGE 113, 348 (375 f., Rn. 119); Beschluss vom 20.6.2012, Az. 2 BvR 1048/11, BVerfGE 131, 268 (309 f., Rn. 124). 877 Jarass (Fn. 615), Art. 20 Rn. 84; BVerfG, Beschluss vom 3.3.2004, Az. 1 BvF/ 92, BVerfGE 110, 33 (54 f., Rn. 106); Urteil vom 26.7.2005, Az. 1 BvR 782/94, 957/96, BVerfGE 114, 1 (53 f., Rn. 187). 878 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 134; BVerfG, Beschluss vom 12.11.1958, Az. 2 BvL 4, 26, 40/56, 1, 7/57, BVerfGE 8, 274 (325 f., Rn. 195 f.); Beschluss vom 12.1.1976, Az. 1 BvR 169/63, BVerfGE 21, 73 (79 f., Rn. 17); Beschluss vom 6.6.1989, Az. 1 BvR 803, 1065/86, BVerfGE 80, 137 (161, Rn. 87); BVerwG, Beschluss vom 20.8.1997, Az. 8 B 170/97, BVerwGE 105, 144 (147 f., Rn. 14). 875

III. Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot

197

liche Bindungen in ihrem Ermessen eingeschränkt wird879. Indes liegt grundsätzlich kein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz vor, wenn der Gesetzgeber unbestimmte oder auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe verwendet880. Denn der Gesetzgeber hat eine gewisse Freiheit, durch die Wahl bestimmter Begriffe den Umfang der zu erfassenden Sachverhalte festzulegen881. Ironischerweise lässt sich der Grad der vom Grundgesetz verlangten Bestimmtheit nicht mit Bestimmtheit festlegen. Er hängt von den jeweiligen Gegebenheiten und Eigenschaften der einzelnen Regelung ab882. Rechtsvorschriften sind nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts so genau „zu fassen, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte und mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist“883. Diese variablen Anforderungen an die gebotene Bestimmtheit richten sich also nach verschieden Faktoren, wie der Materie und dem Zweck der Regelung884, der Grundrechtsrelevanz885 sowie der Intensität der Einwirkungen auf den Regelungsadressaten886. Je gravie879 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 134; BVerfG, Beschluss vom 16.2.1965, Az. 1 BvL 15/62, BVerfGE 18, 353 (363, Rn. 21); Beschluss vom 8.8.1978, Az. BvL 8/77, BVerfG 49, 89 (146 f., Rn. 126); Beschluss vom 17.7.2003, Az. 2 BvL 1, 4, 6, 16, 18/99, 1/01, BVerfGE 108, 186 (235 f., Rn. 174 ff.); Beschluss vom 3.3.2004, Az. 1 BvF/92, BVerfGE 110, 33 (55 f., Rn. 109). 880 BVerfG, Urteil vom 18.12.1953, Az. 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225 (243, Rn. 41); Beschluss vom 12.11.1958, Az. 2 BvL 4, 26, 40/56, 1, 7/57, BVerfGE 8, 274 (326, Rn. 198); Urteil vom 17.11.1992, Az. BvL 8/87, BVerfGE 87, 234 (263 f., Rn. 91); Beschluss vom 3.3.2004, Az. 1 BvF/92, BVerfGE 110, 33 (56 f., Rn. 111); Beschluss vom 13.6.2007, Az. BvR 1550/03, 2357/04, 603/05, BVerfGE 118, 168 (188, Rn. 100); Beschluss vom 17.9.2013, Az. 2 BvE 6/08, 2 BvR 2436/10, BVerfGE 134, 141 (184 f., Rn. 127). 881 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Art. 20 Rn. 133. 882 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 129. 883 BVerfG, Beschluss vom 26.9.1978, Az. 1 BvR 525/77, BVerfGE 49, 168 (181, Rn. 34); Beschluss vom 24.11.1981, Az. 2 BvL/80, BVerfGE 59, 104 (114, Rn. 32); Beschluss vom 9.8.1995, Az. 1 BvR 2263/94, 229, 534/95, BVerfGE 93, 213 (238, Rn. 55); Beschluss vom 7.5.2001, Az. 2 BvK 1/00, BVerfGE 103, 332 (384, Rn. 164); Beschluss vom 20.3.2013, Az. 2 BvF 1/05, BVerfGE 133, 241 (270 f., Rn. 84); Beschluss vom 17.9.2013, Az. 2 BvE 6/08, 2 BvR 2436/10, BVerfGE 134, 141 (184, Rn. 126). 884 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 135; vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.4.1978, Az. 2 BvL 2/75, BVerfGE 48, 210 (226 f., Rn. 54); Urteil vom 17.11.1992, Az. BvL 8/87, BVerfGE 87, 234 (263, Rn. 91); Beschluss vom 7.5.2001, Az. 2 BvK 1/00, BVerfGE 103, 332 (384, Rn. 164). 885 BVerfG, Urteil vom 24.4.1991, Az. 1 BvR 1341/90, BVerfGE 84, 133 (149 f., Rn. 71); Beschluss vom 4.11.1992, Az. 1 BvR 79/85, 643/87, 442/89, 238, 1258/90, 772, 909/91, BVerfGE 87, 287 (317 f., Rn. 103); Beschluss vom 9.8.1995, Az. 1 BvR 2263/94, 229, 534/95, BVerfGE 93, 213 (238, Rn. 55); Beschluss vom 4.6.2012, Az. 2 BvL 9–12/08, BVerfGE 131, 88 (122 f., Rn. 102). 886 BVerfG, Beschluss vom 24.11.1981, Az. 2 BvL/80, BVerfGE 59, 104 (114, Rn. 32); Beschluss vom 3.3.2004, Az. 1 BvF/92, BVerfGE 110, 33 (55, Rn. 108); Urteil vom 11.3.2008, Az. 1 BvR 2074/05, 1254/07, BVerfGE 120, 378 (408, Rn. 95); vgl. auch Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 135.

198

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

render oder belastender die Gesetzesfolgen für den Einzelnen sind, desto bestimmter müssen dessen Voraussetzungen sein887. Dies gilt auch für Konkretisierung eines verfassungsrechtlichen Schutzauftrages888. Gegen die Vereinbarkeit des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes mit dem Bestimmtheitsgebot spricht weniger der unbestimmte Rechtsbegriff „der humanitären Gründe“. Denn die Verwendung solcher Begriffe ist nicht generell unzulässig, und durch die Bestimmung von Fallgruppen hat der Gesetzgeber einen Rahmen gesetzt, der vorgibt, was dieser unter solchen Gründen versteht und der dem Rechtsanwender als Richtschnur dient. Grundsätzlich darf der Gesetzgeber auch eine weitere Ermessensbefugnis durch die Verwendung solcher unbestimmten Rechtsbegriffe einräumen889. Vielmehr könnte die fehlende Bestimmung von Vorgaben, wie eine Auswahl für die monatlich 1.000 Nachziehenden getroffen werden soll, gegen das Bestimmtheitsgebot sprechen890. Es ist aus dem Gesetz nicht zu erkennen, wie und ob zwischen den einzelnen Fallgruppen der humanitären Gründe des § 36a Abs. 2 S. 1 AufenthG und den verschiedenen Gruppen der Nachzugsberechtigten (Kinder, Eltern, Ehegatten) priorisiert und unterschieden werden soll. Lediglich der besondere Schutz des Kindeswohls soll gewährleistet werden, was für eine Priorisierung des Kindes- und Elternnachzugs gegenüber dem Ehegattennachzug spricht. Es bleibt zudem unklar, wie das Kindeswohl besonders zu berücksichtigen ist, wenn Kinder außerhalb des monatlichen Kontingents fallen891. Dies betrifft allerdings nicht nur Kinder, sondern generell fehlt es an Regeln und Vorgaben für Betroffene und für Rechtsanwender, wie mit dem monatlich 1.001. Familienangehörigen zu verfahren ist892. Ist sein Gesuch rangwahrend, sodass er im nächsten Monat bevorzugt werden kann, oder muss er aufs Neue hoffen, dass es nicht 1.000 Familienangehörige gibt, deren humanitäre Gründe dringlicher sind893? Die fehlenden Vorgaben zur Auswahl und Priorisie887 BVerfG, Beschluss vom 8.1.1981, Az. 2 BvL 3, 9/77, BVerfGE 56, 1 (13, Rn. 42); Beschluss vom 27.11.1990, Az. 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130 (145, Rn. 45); Beschluss vom 9.8.1995, Az. 1 BvR 2263/94, 229, 534/95, BVerfGE 93, 213 (238, Rn. 55); Beschluss vom 3.3.2004, Az. 1 BvF/92, BVerfGE 110, 33 (55 ff., Rn. 108 ff.); Beschluss vom 8.11.2006, Az. 2 BvR 578, 796/02, BVerfGE 117, 71 (111, Rn. 117). 888 Schulze-Fielitz (Fn. 723), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 135; Urteil vom 26.7.2005, Az. 1 BvR 782/94, 957/96, BVerfGE 114, 1 (53 ff., Rn. 187 ff.). 889 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 20. 890 So Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413. 891 Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296. 892 In der Praxis stellt sich diese Frage nach der Priorisierung durch das Bundesverwaltungsamt derzeit nicht, da das monatliche Kontingent nicht ausgeschöpft wird, vgl. Krause, Familiennachzug (Fn. 10), S. 204. 893 Vgl. zu den Unklarheiten bei der Vergabe der Kontingentplätze auch: Allenberg, Stellungnahme (Fn. 571), S. 3; sowie die Stellungnahme des Nationalen Normenkontrollrates, Anlage 2 zu Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/ 2438, S. 29, 35 f.

III. Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot

199

rung könnten deshalb gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen, da so das Handeln des Bundesverwaltungsamts, das die Auswahl trifft, für die subsidiär Schutzberechtigten und ihre Familien weder vorhersehbar noch nachvollziehbar ist894. Hierfür könnte sprechen, dass Auswahlentscheidungen, die wesentliche Grundrechte der Betroffenen berühren, durch vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorgegebene klare Kriterien erfolgen müssen und nicht der Verwaltung überlassen werden dürfen895. So entschied das Bundesverfassungsgericht im Dezember 2017, dass die Hochschulzulassung für Plätze zum Medizinstudium neu geregelt werden muss, da der Gesetzgeber keine hinreichend präzisen Auswahlkriterien vorgegeben hat896. Die Neuregelung des Familiennachzugs könnte aus diesen Gründen, also wegen des Fehlens von irgendwelchen gesetzlichen Vorgaben zur Auswahl der Kontingentplätze, gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen897. Indes stellt trotz dieser Argumente die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nicht zwingend einen Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot dar. Denn auch wenn das Bundesverfassungsgericht entschied, dass der Gesetzgeber hinreichend präzise Vorgaben machen muss und dass bei der Verteilung knapper Güter das Bestimmtheitsgebot in hohem Maße beachtet werden muss898, sind Vorgaben zur Priorisierung bei der Kontingentierung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nicht unter allen Umständen notwendig899. Denn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vergabe von Studienplätzen ist aus zwei Gründen auf die Kontingentierung des Familiennachzugs nicht direkt übertragbar900. Zum einen kritisierten die Karlsruher Richter in ihrem Urteil die große Gestaltungsfreiheit der einzelnen Universitäten, die zu unterschiedlich gehandhabt wurde, sodass es deshalb zu vielen unterschiedlichen Kriterien bei der Zulassung kam, die kaum zu überblicken oder zu vergleichen 894 So Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), S. 296; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413. 895 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), Asylmagazin 2018, 406 (413); Kessler, Familiennachzug (Fn. 498), Asylmagazin 2019, 295 (296); beide Beiträge beziehen sich hierbei auf das Urteil des BVerfG zur Studienplatzvergabe: BVerfG, Urteil vom 19.12.2017, Az. 1 BvL 3–4/14, BVerfGE 147, 253 (310 f., Rn. 118 f.). Dies findet sich auch bei Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1345; dieser lehnt diese Argumentation aber ab. 896 BVerfG, Urteil vom 19.12.2017, Az. 1 BvL 3–4/14, BVerfGE 147, 253 ff. (insb. 309 ff., Rn. 115–120). 897 Ähnlich entschied dies beispielsweise auch der österreichische Verfassungsgerichtshof zu einer vergleichbaren Regelung: VfGH, Entscheidung vom 8.10.2003, Az. G 119/03, abrufbar unter: https://rdb.manz.at/document/ris.vfght.JFT_09968992_ 03G00119_00 (zuletzt abgerufen am 1.4.2020). 898 Vgl. BVerfG, Urteil vom 19.12.2017, Az. 1 BvL 3–4/14, BVerfGE 147, 253 (309 ff., Rn. 115 ff.). 899 Hailbronner, Stellungnahme (Fn. 767), S. 5. 900 Vgl. BVerfG, Urteil vom 19.12.2017, Az. 1 BvL 3–4/14, BVerfGE 147, 253 ff. (insb. 310 f., Rn. 119 f.).

200

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

sind. Dagegen sieht § 36a AufenthG bei der Auswahl der Kontingente für den Familiennachzug die alleinige Zuständigkeit des Bundesverwaltungsamts vor, sodass dies zu einer einheitlichen Auslegung und Anwendung der unbestimmten Rechtsbegriffe sowie einheitlichen Auswahlkriterien führen dürfte901. Zum anderen ist bei den Anforderungen an den Bestimmtheitsgrundsatz zu bedenken, dass diese dann besonders hoch sind, sobald es die Inanspruchnahme von Grundrechten wie Studienplätzen betrifft, gerade wenn die „Ressourcen“ bei der Grundrechtsausübung nur begrenzt vorhanden sind902. Beim Familiennachzug ist das hingegen nicht der Fall. Die Gewährung der Einreise und des Aufenthalts im Zuge des Familiennachzugs ist kein begrenzt verfügbares Rechtsgut wie Studienplätze903, sodass ein Angehöriger vielleicht einem anderen den monatlichen Kontingentplatz streitig macht, dies aber nicht das Rechtsgut grundsätzlich und generell ausschließt. Zugleich gibt es vorliegend auch legitime und sinnvolle Argumente, die dafür sprechen, dass der Gesetzgeber für die Auswahlentscheidung bei der Kontingentierung des Familiennachzugs der Verwaltung einen gewissen Handlungs- und Entscheidungsspielraum gewährt und dass die Neuregelung deshalb hinreichend bestimmt ist904. Denn bei der Gewährung des Familiennachzugs geht es um komplexe Einzelfälle, bei denen auf den einzelnen Schutzberechtigten, die konkrete Lage im Herkunftsland und die einzelne Familiensituation geachtet werden muss. Eine detaillierte gesetzliche Regelung, die diese ganzen vielfältigen Möglichkeiten an Fallkonstellationen sowie die Gewichtung der abzuwägenden privaten und öffentlichen Interessen im Rahmen von einheitlichen Vorgaben im Vorhinein regelt, ist nicht möglich905. Insbesondere der Auslandsbezug und die Rückkopplung mit den verschiedenen Auslandsvertretungen erfordern flexible und fallbezogene Entscheidungen, bei denen sich eine Entscheidungspraxis entwickeln und verbessern kann906. Für die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten gibt es darüber hinaus auch Vorläuferregelungen, bei der eine vergleichbare Situation und ähnliche Gründe vorlagen. Der nachgelagerte Familiennachzug zu Spätaussiedlern wurde 1992 mit einer Obergrenze belegt und auch hier oblag die Auswahlentscheidung dem Bundesverwaltungsamt, dem der Gesetzgeber auch keine inhaltlichen Kriterien an die Hand gab907. 901

Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1345. Hailbronner, Stellungnahme (Fn. 767), S. 5. 903 Hailbronner, Stellungnahme (Fn. 767), S. 6. 904 So vertreten von: Hailbronner, Stellungnahme (Fn. 767), S. 6; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1345. 905 Hailbronner, Stellungnahme (Fn. 767), S. 6. 906 Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1345. 907 Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1345; vgl. § 27 Abs. 1 S. 2 Abs. 4 BVFG; T. Herzog/D. Westphal, BVFG, 2. Aufl. 2014, § 27 Rn. 74; die Quote wurde nie erreicht, sodass es wohl bis heute keine Verwaltungspraxis zur Auswahlentscheidung gibt. 902

III. Vereinbarkeit mit dem Bestimmtheitsgebot

201

Und schließlich ist das Gesetz in einem Punkt sehr deutlich. Gemäß § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG besteht kein Anspruch auf Familiennachzug. Die Einschränkung respektive Nichtgewährung eines Rechts ist demnach sehr bestimmt. Das Grundgesetz verlangt insbesondere dann hohe Anforderungen an die Bestimmtheit, wenn Rechte eingeschränkt und Grundrechte verletzt werden. Dies geschieht allerdings im Falle der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten eben nicht durch eine unbestimmte Regelung. Vielmehr ist die Gewährung einer Rechtskreiserweiterung, also eines „Mehr“ an Rechten an den unbestimmten Rechtsbegriff der „humanitären Gründe“ sowie an das Ermessen und die Priorisierung durch die Verwaltung geknüpft. Dies bedeutet indes keineswegs, dass es nicht trotzdem sinnvoll sein kann, dass der Gesetzgeber gewisse Vorgaben zur Priorisierung der Fälle bei der Kontingentierung macht908, beispielsweise im Rahmen einer Verordnung. Man könnte zum Beispiel die Ausgestaltung der Gewährung des besonderen Schutzes des Kindeswohls oder die Integrationsaspekte konkreter erläutern oder aber die Auswahlkriterien mit Hilfe eines Punktesystems ordnen909. Selbst wenn die aktuelle Fassung des § 36a AufenthG gegen das Bestimmtheitsgebot verstoßen sollte, würde dies nicht dazu führen, dass das ganze Gesetz verfassungswidrig ist, sondern vielmehr dazu, dass der Gesetzgeber gefordert ist, den § 36a Abs. 3 S. 3 f. AufenthG präziser zu fassen910. Dies könnte beispielsweise durch die vorherstehenden Vorschläge geschehen. Gleichwohl kann man auch manche Vorgaben aus der jetzigen Regelung ziehen, beispielsweise durch die besondere Berücksichtigung des Kindeswohls. So könnte man dies in dem Sinne deuten, dass der Kindes- und Elternnachzug Vorrang vor dem Ehegattennachzug hat und wiederum der Kindesnachzug Vorrang vor dem Elternnachzug, weil nur im ersten Fall die Kinder im teilweise für sie gefährlichen Herkunftsland leben. Gleichzeitig zielt § 36a Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG darauf ab, dass die Dauer von Bedeutung ist, sodass der Familiennachzug nicht monatelang jedes Mal aufs Neue verschoben werden darf. Auch wenn eindeutigere Vorgaben wünschenswert wären, so führt dies nicht zur Verfassungswidrigkeit, denn insbesondere aufgrund der Tatsache, dass eine einzige Behörde für die Auswahl zuständig ist, besteht nicht die Gefahr einer undurchschaubaren Rechtsanwendungszersplitterung. Die Behörde kann sich selbst Leitlinien setzen, die den Vorgaben und Intentionen des Gesetzgebers gerecht werden. Im Ergebnis liegt also trotz der teilweise berechtigten Einwände hinsichtlich der fehlenden Priorisierung und der fehlenden Vorgaben zu der Handhabung von Anträgen, die das Kontingent übersteigen, kein Verstoß gegen das sich aus Art. 20 Abs. 3 GG ergebende Bestimmtheitsgebot vor.

908 909 910

Vgl. Hailbronner, Stellungnahme (Fn. 767), S. 6. Vgl. Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1346. Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1346.

202

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

IV. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist verfassungsgemäß Im vorstehenden Kapitel wurde die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten insbesondere im Hinblick auf mögliche Verstöße gegen das Recht auf Ehe und Familie des Art. 6 Abs. 1 GG sowie das Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, die Ungleichbehandlung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG sowie der Bestimmtheit der Norm untersucht. Dabei hat sich gezeigt, dass die Rechtslage nicht so offensichtlich erscheint, wie es die Bundesregierung die verfassungsrechtliche Konformität der Neuregelung des Familiennachzugs proklamiert hat. Auch wenn im Ergebnis das Gesetz wohl verfassungsgemäß ist, so haben sich eine Reihe unterschiedlichster verfassungsrechtlicher Fragen hinsichtlich dieses Gesetzes ergeben. Gleichzeitig zeigt sich auch, dass die bekannte Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1987 nicht so einfach und eindeutig interpretiert werden kann, wie dies bis heute Gegner und Befürworter der Neuregelung des Familiennachzugs tun. Weder kann sich aus dem Urteil ergeben, dass eine Einschränkung in Art. 6 Abs. 1 GG aufgrund des weiten staatlichen Spielraums möglich ist, noch darf das Urteil aus seinem Kontext gerissen werden. Ohne den Zusammenhang zu beachten, lassen sich einzelne Aussagen wie eine starre maximale Trennungsdauer von drei Jahren oder das obiter dictum zu Kontingenten und Warteschlangen nicht anwenden. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist mit dem Recht auf Ehe und Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG sowie dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG vereinbar. Auch wenn sich aus der Verfassung direkt und unmittelbar kein Anspruch auf Aufenthalt im Sinne eines absoluten Rechts ergibt, so gebietet das Grundgesetz dennoch den Schutz von Ehe und Familie durch die Bundesrepublik. Subsidiär Schutzberechtigte haben einen Anspruch darauf, dass der Schutz dieser verfassungsrechtlich geschützten Güter vom Staat ernst genommen wird. Es liegt deshalb dennoch ein Eingriff vor, da durch die Einschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten das eheliche und familiäre Zusammenleben in Deutschland durch den Staat behindert wird und ein solches in einem Drittstaat oder dem Herkunftsland für den subsidiär Schutzberechtigten regelmäßig unmöglich oder unzumutbar ist. Dieser Eingriff ist jedoch gerechtfertigt, da eine angemessene Abwägung der widerstreitenden Interessen des Staates an einer kontrollierten Zuwanderung und der subsidiär Schutzberechtigten und ihrer Angehörigen stattfindet. Zum einen wird der Familiennachzug nicht generell untersagt, sondern nur an strengere Voraussetzungen geknüpft, gleichzeitig ist dennoch eine Einzelfallprüfung möglich und angelegt, und für Härtefälle ist auch außerhalb des Kontingents der Weg über § 22, 23 AufenthG nicht versperrt. Eine deutliche Verlängerung der Trennungsdauer durch die Neuregelung, die zu einer Unverhältnismäßigkeit führt, ist nicht ersichtlich. Schlussendlich muss hierbei

IV. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist verfassungsgemäß

203

auch immer bedacht werden, dass es sich um eine Rechtskreiserweiterung des subsidiär Schutzberechtigten und seiner Angehörigen handelt und der Staat ihnen nicht bereits bestehende Rechtspositionen entreißt. Zugleich besteht auch in der Ungleichbehandlung zwischen subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen keine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG. Zwar werden beide Gruppen unterschiedlich behandelt, doch hat der Gesetzgeber die Gestaltungsfreiheit, an verschiedene Tatbestände, in diesem Fall an die verschiedenen Schutzstatus, unterschiedliche Rechtsfolgen zu knüpfen. Hierbei zeigt sich, dass die Neuregelung des Familiennachzugs keine Ausnahme ist, sondern dass sie vom europäischen Gesetzgeber schon bei der Entstehung des subsidiären Schutzes geplant war. Da der Familiennachzug nicht generell ausgeschlossen, sondern nur verzögert beziehungsweise eingeschränkt wird, ist der Grad der Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den sachlichen Gründen des Gesetzgebers, die Aufnahme- und Integrationssysteme von Staat und Gesellschaft nicht zu überfordern, angemessen, sodass die Regelung auch im Hinblick auf die Ungleichbehandlung verhältnismäßig ist. Das Familiennachzugsneuregelungsgesetz verstößt auch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG, obgleich § 36a AufenthG nicht genauer bestimmt, wie die Auswahl der subsidiär Schutzberechtigten bei der Kontingentierung zu treffen ist, und sich keine Priorisierung aus dem Gesetz ergibt. Diese fehlende Bestimmtheit bezieht sich nicht auf für den subsidiär Schutzberechtigten nachteilige Regelungen. Einem subsidiär Schutzberechtigten ist es möglich, beim Lesen des § 36a AufenthG erkennen, dass er grundsätzlich keinen Anspruch auf Familiennachzug hat. Der Familiennachzug kann ihm aber trotzdem gewährt werden. Die Unklarheit der Auswahl betrifft also eine Ermessensentscheidung, die Vorteile für den einzelnen Schutzberechtigten und seine Verwandten mit sich bringt. Es droht bei der Anwendung dieser Regelung auch keine Rechtsanwendungszersplitterung, da die Auswahl ausschließlich durch das Bundesverwaltungsamt getroffen wird. Und hierbei ist es aufgrund der mitunter komplizierten Situation in den Herkunftsländern und der genauen Betrachtung der konkreten einzelnen Situation eines jeden subsidiär Schutzberechtigten und seiner Familie sinnvoll, dass es einen gewissen Spielraum gibt, um alle Fälle abzudecken. Dies kann ein einzelnes Gesetz nicht leisten. Gleichzeitig zeigen die bisherigen Zahlen, dass bislang keine Auswahl getroffen werden musste und die Obergrenze noch nie ausgereizt wurde911. Darauf aufbauend lässt sich natürlich gegen das Gesetz einwenden, dass es möglicherweise für die Steuerung der Zuwanderung gar nicht notwendig ist, wenn erstens die Bearbeitungsdauer des Asylantrags sowie der Visumserteilung eh zu einer gewis-

911 Antwort der Bundesregierung auf Anfrage, Plenarprotokoll des Bundestags 19/ 139 vom 15.1.2020, S. 17412.

204

E. Verfassungsrechtliche Betrachtung

sen Entschleunigung führt912 und zweitens der Andrang doch geringer ist als gedacht. Aber aus diesem Grund ist die Einschränkung durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz ebenfalls geringer. Hierbei ist zu bedenken, dass zurzeit hauptsächlich syrische Staatsbürger subsidiären Schutz erhalten. Sofern diesen jedoch nach erfolgreichen Klagen stattdessen die Flüchtlingseigenschaft gewährt wird, wofür gute Gründe sprechen913, geht die Zahl der Anträge auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten freilich zurück. Dennoch durfte der Gesetzgeber zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Gesetzes für geeignet und erforderlich halten, da er nicht ahnen konnte, wie sich die Lage entwickelt und wie groß der Andrang auf Familiennachzug sein wird. Diese Situation kann sich auch täglich ändern, wie die Situation an der griechisch-türkischen Grenze im Februar und März 2020 zeigt914. Und schließlich lässt sich festhalten, dass die Beschränkung und die Nachteile durch das Gesetz für die subsidiär Schutzberechtigten und ihre Familien umso geringer sind, desto weniger kommen, da die Bearbeitung ihrer Anträge somit schneller und einfacher erfolgt. Im Ergebnis ist die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 GG, mit Art. 3 Abs. 1 GG und dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 20 Abs. 3 GG vereinbar und somit verfassungsgemäß.

912 Göbel-Zimmermann/Eichhorn/Beichel-Benedetti, Asyl- und Flüchtlingsrecht (Fn. 4), Rn. 18. 913 Vgl. C. IV. 3. 914 S. Tagesschau vom 29.2.2020, https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-grie chenland-119.html (zuletzt abgerufen am 9.4.2020).

F. Europarechtliche Betrachtung Große Teile des öffentlichen und rechtlichen Lebens in Deutschland sind zunehmend durch das Unionsrecht determiniert. Viele rechtliche Fragen können deshalb nicht mehr rein national betrachtet werden. Je weiter die europäische Integration voranschreitet, umso mehr nimmt das europäische Recht eine zentrale Rolle ein. Dies gilt insbesondere für die Bereiche, in denen sich die einzelnen Mitgliedstaaten auf eine weitreichende europäische Zusammenarbeit oder Rechtsangleichung einigen, wie dies auch bei der Zuwanderungs- und Asylpolitik der Fall ist. Diese Politik ist eng mit der europäischen Freizügigkeit und dem europäischen Binnenmarkt verknüpft. All diese Politikfelder sind Aspekte eines gemeinsamen europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, dessen Schaffung seit dem Vertrag von Amsterdam ein Ziel der Europäischen Union ist915. Gerade für die Errichtung und Erhaltung der innereuropäischen Freizügigkeit ist es wichtig, auch die europäische Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik anzugleichen, um Anreize zur Sekundärmigration zu unterbinden und gleichzeitig ein race-to-the-bottom in diesem Feld zu verhindern916. Konkretisiert wird dieses Ziel der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Raums der Freizügigkeit, der Freiheit und des Rechts in den Art. 78 und 79 AEUV, die die Entwicklung einer gemeinsamen Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik forcieren. Maßgeblich wird diese Politik durch Richtlinien der Europäischen Union gestaltet. Wenn der deutsche Gesetzgeber also sein nationales Recht in diesen Politikfeldern gestaltet, muss er immer auch das europäische Primär- und Sekundärrecht im Blick haben. Für die Prüfung der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten sind dabei vor allem die Familienzusammenführungsrichtlinie und die Qualifikationsrichtlinie entscheidend. Diese regeln einerseits den Familiennachzug, andererseits den subsidiären Schutz. Deshalb drängt es sich auf, für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des § 36a AufenthG diesen auch auf seine Europarechtskonformität hin zu überprüfen917. Im europäischen Kontext ist daneben auch die Europäische Konvention für Menschenrechte von großer Bedeutung, obgleich es sich nicht um Unionsrecht handelt. Insbesondere im Aufenthaltsrecht ist sie und ihre Interpretation durch den 915

Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997 (Fn. 181), u. a. Art. 1 Nr. 5. Vgl. hierzu Erwägungsgrund Nr. 13 der Qualifikationsrichtlinie; Kluth (Fn. 22), § 4, Rn. 2; Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 409; McAdam, Complementary Protection (Fn. 168), S. 51. 917 So auch ein Impuls von Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), S. 1453, der allerdings diese Überprüfung nicht weiter angeht. 916

206

F. Europarechtliche Betrachtung

Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stets zu berücksichtigen. Manche Vorgaben, die heute beispielsweise Schutztatbestände des subsidiären Schutzes sind, gehen auf diese Rechtsprechung zurück918. Neben dem reinen Unionsrecht ist also auch die Konvention bei der Überprüfung des § 36a AufenthG zu berücksichtigen. Im Folgenden soll die Vereinbarkeit des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes mit der Europäischen Grundrechtecharta und der Europäischen Konvention für Menschenrechte einerseits und mit dem europäischen Sekundärrecht, namentlich der Familienzusammenführungsrichtlinie andererseits genau beleuchtet werden. Dabei geht es im Kern um die Frage, ob ein Rechtsanspruch auf Familiennachzug durch die deutsche Regelung ausgeschlossen werden darf.

I. Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten Für die Prüfung der Europarechtskonformität der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist zunächst das Primärrecht der Europäischen Union zu betrachten. Dieses besteht aus den Verträgen selbst, aus allgemeinen Grundsätzen der Europäischen Union, aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und der Grundrechtecharta der Europäischen Union919. Daneben ist auf europäischer Ebene auch die Europäische Konvention für Menschenrechte entscheidend. Insbesondere Art. 8 EMRK wandelt sich in Fragen des Aufenthaltsrechts zunehmend zur entscheidenden Norm für das europäische Recht920, obgleich es sich hierbei um eine völkerrechtliche und keine unionsrechtliche Norm handelt. Art. 7 GRCh ist an diesen angelehnt und soll unter Berücksichtigung der Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ausgelegt werden. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten muss deshalb mit diesen beiden Rechtsnormen des supra- und internationalen Menschenrechtsschutzes vereinbar sein. Dementsprechend ist die Überprüfung von § 36a AufenthG am Maßstab der Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh von erheblicher Bedeutung. Beide schützen gleichermaßen das Recht auf Achtung des Familienlebens. Die Bundesregierung selbst geht davon aus, dass das Familiennachzugsneuregelungsgesetz sowohl mit Art. 7 GRCh als auch mit Art. 8 EMRK vereinbar ist, da sich aus beiden Normen keine Verpflichtung ableiten lasse, Drittstaatsangehörigen Aufenthalt oder Einreise zu gestatten, und die Verpflichtung, das Familienwohl und die Umstände des Einzelfalls besonders zu berück918

Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 409. M. Geismann, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, EU-Recht (Fn. 183), Art. 288 AEUV Rn. 25. 920 J. Hofmann, in: Heusch/Kluth, Ausländerrecht (Fn. 22), Art. 8 EMRK (2021), Rn. 1; vgl. hierzu auch J. Bast, Internationalisierung und De-Internationalisierung der Migrationsverwaltung, in: C. Möllers/A. Voßkuhle/C. Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S. 279 (302). 919

I. Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten

207

sichtigen, durch die Neuregelung gewahrt seien921. Im Folgenden soll § 36a AufenthG auf seine Vereinbarkeit mit diesen beiden Grund- und Menschenrechten überprüft werden, wobei gleichzeitig die besondere Rolle der Europäischen Konvention für Menschenrechte für die Europäische Union und den durch sie gewährten Grundrechtsschutz dargestellt wird. 1. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK Zunächst ist das Familiennachzugsneuregelungsgesetz am Maßstab des Art. 8 EMRK zu prüfen, der die Achtung des Privat- und Familienlebens normiert. Es handelt sich zwar bei der Europäischen Konvention für Menschenrechte um einen völkerrechtlichen Vertrag des Europarates und damit um keinen Teil des Unionsrechts, sodass die Einordnung als Teil des Europarechts dogmatisch nicht ganz korrekt ist. Allerdings ist die Konvention für die Auslegung der Europäischen Grundrechtecharta entscheidend, sodass eine gemeinsame Behandlung beider Grundrechtequellen inhaltlich stimmig ist. Art. 8 EMRK wandelt sich zunehmend zur entscheidenden Norm des Aufenthaltsrechts922. Denn einerseits hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte regelmäßig aufenthaltsrechtliche Maßnahmen einzelner Vertragsstaaten beanstandet und konnte sich hierbei auch durchsetzen, andererseits ist das Aufenthaltsrecht immer stärker unionsrechtlich determiniert, wobei die Europäische Konvention für Menschenrechte bei der Auslegung des Unionsrechts und der europäischen Grundrechte von entscheidender Bedeutung ist923. a) Bedeutung der Europäischen Konvention für Menschenrechte im Unionsrecht Bei der Europäischen Konvention für Menschenrechte handelt es sich nicht um einen Teil des Unionsrecht, sondern um einen völkerrechtlichen Vertrag und um die bedeutsamste völkerrechtliche Quelle des Grund- und Menschenrechtsschutzes. Über die Einhaltung dieses Schutzes wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Die Konvention gewährleistet für das gesamte Gebiet des Europarates einen Mindeststandard an Grundrechtsschutz, zu dessen Gewährleistung sich alle Vertragsparteien verpflichtet haben924. Sämtliche Mitgliedstaaten der EU sind zugleich Vertragsparteien der Europäischen Konvention für Menschen-

921

Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 16. Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 1. 923 Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 2. 924 C. Langenfeld/S. Mohsen, Die neue EG-Richtlinie zum Familiennachzug und ihre Einordnung in das Völkerrecht, ZAR 2003, S. 398 (400); D. Kraus, in: Dörr/Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar (Fn. 224), Kap. 3 Rn. 4. 922

208

F. Europarechtliche Betrachtung

rechte. Die Europäische Union selbst ist dies bisher noch nicht, auch wenn sie sich in Art. 6 Abs. 2 EUV dazu verpflichtet hat. Obgleich die EU keine Vertragspartei der Europäischen Konvention für Menschenrechte ist, ist die Einhaltung der Konvention unter Berücksichtigung mit der diese auslegenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auch für die Unionsorgane bindend. Denn gemäß Art. 1 EMRK sichern die Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die Rechte und Freiheiten der Konvention zu, sodass ihr Handeln im Einklang mit dieser stehen muss. Dies erstreckt sich auch auf das Handeln und die Rechtsetzung, die die Mitgliedstaaten delegiert haben, die sie also durch die Europäische Union ausführen925. So hält der Europäische Gerichtshof fest, dass die EMRK so auszulegen ist, dass „in der Gemeinschaft [der Europäischen Union, Anm. d. Verf.] keine Maßnahmen als Rechtens [sic] anerkannt werden können, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar sind.“926

Dies umfasst nicht nur die Bestimmungen der Konvention selbst, sondern auch deren Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte927. Denn die Konvention findet als Teil des acquis communautaire (gemeinschaftlichen Besitzstandes) der Union über die allgemeinen Rechtsgrundsätze Eingang in das Unionsrecht, auch wenn es kein unmittelbarer Bestandteil von diesem ist928. Dies führt zwar formal nur zu einer mittelbaren Gewährleistung der Europäischen Konvention für Menschenrechte, macht aber in der praktischen Anwendung keinen Unterschied, da der Grundrechtsschutz des Unionsrechts und derjenige der Konvention im Einklang stehen sollen (vgl. Art. 52 Abs. 3, Art. 53 GRCh)929. Infolgedessen dürfen auch die nationalen Gerichte, der Europäische Gerichtshof und die Kommission die Vereinbarkeit von Unionsrecht mit der Konvention überprüfen930. In Deutschland nimmt die Europäische Konvention für Menschenrechte die Stellung eines Bundesgesetzes ein, sodass die Bestimmungen der Konvention und die Entscheidungen des Gerichtshofs für Menschenrechte wie jedes andere Bundesgesetz von den deutschen Gerichten und Behörden zu beachten sind931. Doch auch auf der verfassungsrechtlichen Ebene sind wegen des Grundsatzes der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes für die 925 H.-J. Cremer, in: C. Grabenwarter (Hrsg.), Europäischer Grundrechteschutz, 2014, B. Rn. 21. 926 EuGH, Urteil vom 18.6.1991, Az. 260/89, BeckRS 2004, 25777 (Rn. 41). 927 Kraus (Fn. 924), Kap. 3 Rn. 15. 928 Groenendijk, Familienzusammenführung (Fn. 17), S. 193; Langenfeld/Mohsen, EG-Richtlinie (Fn. 924), S. 400. 929 Kraus (Fn. 924), Kap. 3 Rn. 15. 930 Groenendijk, Familienzusammenführung (Fn. 17), S. 193. 931 BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 (316 f., Rn. 30); Urteil vom 4.5.2011 Az. 2 BvR 2333/08, 2365/09, 571, 740, 1152/10, NJW 2011, 1931 (1935, Rn. 86); Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 3 f.

I. Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten

209

Auslegung des Inhalts und der Reichweite von deutschen Grundrechten die Konvention und ihre Interpretation als Hilfsmittel heranzuziehen932. Somit zeigt sich, dass auch wenn die Europäische Konvention für Menschenrechte lediglich ein völkerrechtlicher Vertrag ist, sie bei der Anwendung von europäischem und nationalem Recht stets zu beachten ist. Auch die Neuregelung des Familiennachzugs muss also mit der Konvention und hierbei vor allem mit Art. 8 EMRK vereinbar sein. b) Allgemeine Schutzgewährleistung durch Art. 8 EMRK Art. 8 EMRK schützt das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Der Staat darf in diese Bereiche nicht ohne eine Rechtfertigung eingreifen933. Es geht hierbei vor allem um den Schutz des Einzelnen vor willkürlicher staatlicher Gewalt934. Unter „Familienleben“ versteht Art. 8 Abs. 1 EMRK (genauso wie Art. 7 GRCh) das Zusammenleben der Familie als besondere menschliche Gemeinschaft, ohne Unterschied, ob es sich um eine „eheliche“ oder „nichteheliche“ Familie handelt; entscheidend ist das tatsächliche Familienleben935. Damit deckt sich dieses Verständnis von Familie des Art. 8 Abs. 1 EMRK mit dem des Art. 6 Abs. 1 GG936. Lediglich hinsichtlich der Einbeziehung der Ehe unterscheiden sich die beiden Grundrechte, da Art. 8 Abs. 1 EMRK auch sonstiges partnerschaftliches Zusammenleben schützt937. Ein Eingriff in dieses Familienleben liegt vor, wenn staatliche Maßnahmen das Zusammenleben der Eltern oder eines Elternteils mit ihrem Kind behindern938. Auch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen können einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens darstellen, insbesondere, wenn es nicht zumutbar ist, das Familienleben im Ausland zu realisieren939. Auch dies ähnelt sehr dem bereits besprochenen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG940. 932 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.10.2004, Az. 2 BvR 1481/04, BVerfGE 111, 307 (316 f., Rn. 30 ff.); Urteil vom 4.5.2011 Az. 2 BvR 2333/08, 2365/09, 571, 740, 1152/ 10, NJW 2011, 1931 (1935, Rn. 86); Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 6; A. Nußberger, Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht, NVwZ 2013, S. 1305 (1306). 933 Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 14. 934 EGMR, Urteil vom 19.2.1998, Az. 14967/89, Rn. 58; Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 14. 935 EGMR, Urteil vom 12.7.2001, Az. 25702/94, NJW 2003, 809 (810, Rn. 150); Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 16. 936 Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 16; vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.5.2007, Az. 2 BvR 304/07, NVwZ 2007, 946 (947, Rn. 31). 937 Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 17. 938 EGMR, Urteil vom 7.8.1996, Az. 17383/90, BeckRS 2014, 16880 (Rn. 52); Urteil vom 9.6.1998, Az. 22430/93, Rn. 51; Urteil vom 13.7.2000, Az. 25735/94, EuGRZ 2002, 595 (Rn. 43). 939 H. Cremer, Menschenrechtliche Grundlagen des Familiennachzugs, InfAuslR 2018, S. 81 (82); Nußberger, Menschenrechtsschutz (Fn. 932), S. 1309; Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 29.

210

F. Europarechtliche Betrachtung

Die Rechtfertigung solcher Eingriffe ist nur unter den Voraussetzungen möglich, die in Art. 8 Abs. 2 EMRK abschließend aufgezählt sind941; vertragsimmanente Schranken darüber hinaus sieht die Konvention nicht vor942. Die Prüfung, ob ein Eingriff gerechtfertigt ist, erfolgt in drei Stufen943. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK darf in das Recht auf Achtung des Familienlebens nur eingegriffen werden, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist, aufgrund einer der in dieser Norm aufgezählten Eingriffsziele geschieht und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist944. Unter „gesetzlich vorgesehen“ versteht die Konvention dabei einen echten Gesetzesvorbehalt, der vor allem vor einer willkürlichen Anwendung des nationalen Rechts schützen soll 945. Die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten legitimen Ziele sind unter anderem die nationale oder öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes oder die Aufrechterhaltung der Ordnung. Mit Rückgriff auf diese Ziele sind auch die Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung ein solches legitimes Ziel im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK946. Schließlich muss der Eingriff „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein. Dies bedeutet anders gewendet eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie sie auch bei deutschen Grundrechten vorgenommen wird. Es muss ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Eingriff und dem durch ihn verfolgten legitimen Ziel vorliegen947. Hierbei müssen die öffentlichen Interessen und die Interessen und Rechtsgüter der Betroffenen sorgsam miteinander abgewogen und im Einklang gebracht werden948. Ob durch die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten das Recht aus Art. 8 Abs. 1 GG verletzt ist, ist also durch eine Abwägung anhand dieser Kriterien zu bemessen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betont bei seinen Entscheidungen zum Aufenthaltsrecht und Art. 8 EMRK, dass sich aus diesem unmittelbar kein absoluter Anspruch auf Einreise oder Aufenthalt und somit auch kein Nachzugsrecht oder ein Schutz vor Abschiebung ableiten lasse949. Vielmehr er940

Vgl. E. I. 1. b). L. Wildhaber/S. Breitenmoser, in: K. Pabel/S. Schmahl (Hrsg.), Internationaler Kommentar EMRK, 2020, Art. 8 EMRK Rn. 11; T. Marauhn, in: Dörr/Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar (Fn. 224), Kap. 16 Rn. 80. 942 Marauhn (Fn. 941), Kap. 16 Rn. 80. 943 Marauhn (Fn. 941), Kap. 16 Rn. 79. 944 Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 33; Marauhn (Fn. 941), Kap. 16 Rn. 79; vgl. EGMR, Urteil vom 17.4.2003, Az. 52853/99, NJW 2004, 2147, (2148, Rn. 36 ff.). 945 Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 34 f.; Marauhn (Fn. 941), Kap. 16 Rn. 81. 946 So auch Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 36. 947 EGMR, Urteil vom 22.7.2004, Az. 42703/98, Rn. 31; Urteil vom 28.6.2007, Az. 31753/02, InfAuslR 2007, 325 (327, Rn. 51). 948 EGMR, Urteil vom 18.2.1991, Az. 31/1989/191/291, EuGRZ 1993, 552 (554, Rn. 46); Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 38; Marauhn (Fn. 941), Kap. 16 Rn. 96. 949 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 4; Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 15. 941

I. Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten

211

gebe sich aus einem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz das souveräne Recht der Staaten – vorbehaltlich ihrer vertraglichen Verpflichtungen – die Einreise, den Aufenthalt, den Nachzug und die Ausweisung von Ausländern zu steuern und zu kontrollieren950. Auf der anderen Seite garantiert Art. 8 EMRK ein Recht auf Achtung des Familienlebens und damit eine Pflicht der Vertragsstaaten, dieses zu schützen und angemessen zu berücksichtigen951. Bei der Frage, ob die Neuregelung des Familiennachzugs mit Art. 8 EMRK vereinbar ist, muss also angemessen zwischen den Einzelinteressen der subsidiär Schutzberechtigten und ihre Familien und den Interessen der Staaten an der Steuerung und Kontrolle der Migration abgewogen werden (fair balance of interests)952. Im Laufe der Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof diverse Kriterien entwickelt, anhand derer die Güter- und Interessenabwägung vorzunehmen ist. Zu diesen Abwägungskriterien gehören unter anderem, ob das Familienleben tatsächlich im Herkunftsland unmöglich ist oder stark beeinträchtigt wird, ob es besondere Bindungen zum Aufnahmestaat gibt, ob besonders schützenswerte Interessen von Kindern berührt sind oder ob Gesetzesverstöße vorliegen953. Gerade die fehlende Berücksichtigung des Kindeswohls kann hierbei zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen954. Dabei ergibt sich aus der Konvention die Pflicht von staatlichen Behörden und Gerichten, ihre Entscheidungen zur Familienzusammenführung transparent zu machen und im Zuge dessen zu erklären, inwiefern das Kindeswohl bedacht wurde und warum die öffentlichen Interessen diesem vorgezogen werden955. Ausdrückliche Urteile zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Besonderen liegen bisher nicht vor, und auch zum Familiennachzug im Allgemeinen sind diese eher rar, sodass auf die allgemeinen Grundsätze zurückzugreifen ist956. Hieraus ergeben sich allerdings keine Rück-

950 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 4; Hofmann (Fn. 22), Art. 8 Rn. 15; Nußberger, Menschenrechtsschutz (Fn. 932), S. 1306; vgl. auch EGMR, Urteil vom 14.6.2011, Az. 38058/09, NVwZ 2012, 947 (948, Rn. 58). 951 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 4. 952 EGMR, Urteil vom 19.2.1996, Az. 23218/94, InfAuslR 1996, 245 (246, Rn. 38); Urteil vom 28.11.1996; Az. 21702/93, InfAuslR 1997, 141 (142 f., Rn. 67 ff.); Urteil vom 21.12.2001, Az. 31465/96, InfAuslR 2002, 334 (335, Rn. 31); vgl. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 4, 9; Nußberger, Menschenrechtsschutz (Fn. 932), NVwZ 2013, 1305 (1309); Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 136. 953 EGMR, Urteil vom 31.7.2008, Az. 44328/98, BeckRS 2009, 70941 (Rn. 57); Urteil vom 24.9.2012, Az. 16567/10, Rn. 81; Urteil vom 3.10.2014, Az. 12738/10, Rn. 106 ff.; vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 6; Nußberger, Menschenrechtsschutz (Fn. 932), S. 1309. 954 H. Cremer, Kein Recht auf Familie für subsidiär Schutzberechtigte, Asylmagazin 2018, S. 65 (69). 955 Cremer, Kein Recht (Fn. 954), S. 69; der Autor sieht diese Voraussetzungen bei der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nicht erfüllt, sodass das Familiennachzugsneuregelungsgesetz gegen Art. EMRK verstoße. 956 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 9.

212

F. Europarechtliche Betrachtung

schlüsse auf die Möglichkeit, den Familiennachzug zu kontingentieren und auf die dabei erlaubten Auswahlkriterien, mit Ausnahme des Vorrangs des Kindeswohls957. c) Familiennachzugsneuregelungsgesetz mit Art. 8 EMRK vereinbar Bei der Prüfung, ob die Versagung des Familiennachzugs rechtlich zulässig ist, steht insbesondere die Frage im Mittelpunkt, ob sich eine Familie frei aussuchen darf, wo sie ihr Familienleben gestalten möchte. Regelmäßig stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinen Entscheidungen fest, dass sich aus der Konvention grundsätzlich kein Recht ergebe, das Familienleben in einem Staat nach freier Wahl zu verwirklichen, sodass sie hierfür auch auf den Herkunftsstaat verwiesen werden darf 958. Der Ausschluss der freien Wahlmöglichkeit des familiären Aufenthaltsortes gilt allerdings nicht in jedem Fall. Gemäß des vom Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entwickelten „elsewhereapproach“ stellt der Ausschluss des Familiennachzugs dann regelmäßig eine Verletzung von Art. 8 EMRK dar, wenn die Familieneinheit in einem anderen Land als dem Aufnahmestaat nicht möglich ist959. Angesichts der besonderen Bedeutung der Familieneinheit ist in dem Fall regelmäßig ein Anspruch auf Nachzug aus Art. 8 EMRK gegeben960. Zunächst wurde hierbei nur auf rechtliche Hindernisse Bezug genommen, später wurden auch tatsächliche Hindernisse berücksichtigt961. In neueren Entscheidungen hat der Gerichtshof anerkannt, dass bei fehlender Zumutbarkeit der Wiederherstellung der Familieneinheit in einem anderen Land als dem Aufnahmestaat eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegen kann962. Die fehlende Möglichkeit oder Zumutbarkeit des Familienlebens in einem anderen Staat als dem Aufnahmestaat ist bei Flüchtlingen regelmäßig der

957

Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 9. EGMR, Urteil vom 28.5.1985, Az. 15/1983/71/107–109, NJW 1986, 3007 (3008 f., Rn. 60, 68); Urteil vom 19.2.1996, Az. 23218/94, InfAuslR 1996, 245 (246, Rn. 38); 96Urteil vom 2.8.2001, Az. 54273/00, InfAuslR 2001, 476 (477, Rn. 39); Nußberger, Menschenrechtsschutz (Fn. 932), S. 1309; Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 136. 959 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 414; A. Walter, Familienzusammenführung in Europa, 2009, S. 77; Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 136; vgl. EGMR, Urteil vom 21.12.2001, Az. 31465/96, InfAuslR 2002, 334 (336 f., Rn. 40). 960 S. dazu P. Czech, Das Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR, EuGRZ 2017, S. 229 ff. (insb. 231 ff., 236); Cremer, Kein Recht (Fn. 954), S. 69. 961 Walter, Familienzusammenführung (Fn. 959), S. 80; Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 136. 962 EGMR, Urteil vom 21.12.2001, Az. 31465/96, InfAuslR 2002, 334 (336 f., Rn. 40); Walter, Familienzusammenführung (Fn. 959), S. 77; Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 136. 958

I. Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten

213

Fall963. Für subsidiär Schutzberechtigte muss in diesem Zusammenhang dasselbe gelten964. Es zeigt sich, dass die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die von ihm aufgestellten Kriterien fast vollständig denen gleichen, die für die Beurteilung des Vorliegens eines Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG und dessen Rechtfertigung herangezogen werden965. Der Kern der Rechtfertigungsprüfung ist somit ebenfalls eine vollumfängliche und angemessene Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls966. Sofern eine solche angemessene Abwägung zwischen den privaten Interessen und denen der Allgemeinheit nicht stattgefunden hat, stellt ein Ausschluss des Familiennachzugs für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jedenfalls einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK dar967. Einer solchen umfassenden Abwägung aller widerstreitenden Interessen hält die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung des Art. 6 Abs. 1 GG stand968. Die Maßgaben des Art. 8 EMRK sind für solche Eingriffe nicht strenger969, sodass der Schutzumfang des grundgesetzlichen und des konventionsrechtlichen Schutzes der Familie und des Familienlebens in diesem Hinblick einander entsprechen. Daraus folgt, dass eine weitere Abwägung im Rahmen der Überprüfung der Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK zu keinem anderen Ergebnis kommt als die Abwägung im Rahmen der grundrechtlichen Überprüfung. Somit sind bei dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz die unterschiedlichen Rechtsgüter und Interessen hinreichend berücksichtigt, sodass dieses Gesetz und insbesondere § 36a AufenthG mit Art. 8 EMRK grundsätzlich vereinbar sind.

963 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 136; impliziert durch EGMR, Urteil vom 1.3.2006, Az. 60665/00, Rn. 47 ff. 964 Kommissar für Menschenrechte des Europarats, Issue Paper: Realising the Right to Family Reunification of Refugees in Europe, S. 21, abrufbar unter: https://familie. asyl.net/fileadmin/user_upload/pdf/PREMS_052917_GBR_1700_Realising_Refugees_ 160x240_Web.pdf-1.pdf (zuletzt abgerufen am 1.6.2020); Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), ZAR 2018, 133 (136). 965 S. bereits E. I. 1. b) sowie E. I. 2. 966 Czech, Recht auf Familienzusammenführung (Fn. 960), S. 231 f.; Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 136. 967 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 6; vgl. EGMR, Urteil vom 3.10. 2014, Az. 12738/10, Rn. 107 ff.; Urteil vom 21.12.2001, Az. 31465/96, InfAuslR 2002, 334 (337, Rn. 41 f.). 968 S. zur umfassenden Prüfung der Abwägung der widerstreitenden Interessen: E. I. 2. e). 969 So auch Kluth, Asylpaket II (Fn. 686), S. 127; vgl. umfassend hierzu Nußberger, Menschenrechtsschutz (Fn. 932), S. 1309 f. m.w. N.

214

F. Europarechtliche Betrachtung

2. Recht auf Achtung des Familienlebens, Art. 7 GRCh Im Unionsrecht wird innerhalb der Grundrechtecharta der Europäischen Union das Recht auf Achtung des Familienlebens durch Art. 7 GRCh geschützt. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten verstößt gegen das europäische Primärrecht, sofern es nicht mit Art. 7 GRCh vereinbar ist. Aus Art. 7 GRCh ergibt sich für jede Person ein umfassendes Recht auf Achtung des familiären Lebens. Dieses europäische Grundrecht bezieht sich auf die tatsächlich bestehenden Beziehungen zwischen Eltern bzw. Elternteilen und ihren Kindern und ist damit Art. 8 EMRK nachgeahmt970. Auch bei der Auslegung ergibt sich zwischen den Rechten der Grundrechtecharta und den Rechten der Europäischen Konvention für Menschenrechte ein Gleichlauf. Gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh haben die Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die der Konvention und sind deshalb genauso unter Rückgriff auf die Interpretation und die Rechtsentwicklung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen971. Neben der Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs für die Auslegung bewirkt die Pflicht des Art. 52 Abs. 3 GRCh zum Einklang des Grundrechtsschutzes auch, dass sich die Einstufung als Eingriff und auch die Kriterien der Rechtfertigung an den Maßstäben der Konvention messen972. Insofern sind bei der Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 7 GRCh nicht die allgemeinen Schrankenvorbehalte des Art. 52 Abs. 1 GRCh anwendbar, sondern die speziellen Schrankenvorbehalte des Art. 8 Abs. 2 EMRK i.V. m. Art. 52 Abs. 3 GRCh973. Auch der Europäische Gerichtshof hat den Gleichlauf der Schutzgewährung durch Charta und Europäische Konvention für Menschenrechte bestätigt974. Somit sind die aufgestellten Kriterien für die Vereinbarkeit von aufenthaltsrechtlichen Bestimmungen mit Art. 8 EMRK auch auf Art. 7 GRCh zu übertragen975. Daraus ergibt sich, dass bei Beeinträchtigungen des Familiennachzugs 970 I. Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, EU-Recht (Fn. 183), Art. 7 GRCh Rn. 6; M. Knecht, in: J. Schwarze/U. Becker/A. Hatje/J. Schoo (Hrsg.), EUKommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 7 GRCh Rn. 8; H.-P. Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EU-Recht (Fn. 95), Art. 7 GRCh Rn. 1, 5; H. A. Wolff, in: M. Pechstein/ C. Nowak/U. Häde (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Band I, 2017, Art. 7 GRCh Rn. 3. 971 Dienelt (Fn. 143), Art. 7 GRCh Rn. 4; § 36a AufenthG Rn. 25; C. Grabenwarter/ K. Pabel, EMRK, 7. Aufl. 2021, § 4 Rn. 9 ff.; Folz (Fn. 95), Art. 7 GRCh Rn. 2; vgl. auch K. Stern/A. Hamacher, in: K. Stern/M. Sachs (Hrsg.), Europäische GrundrechteCharta, 2016, A. Rn. 39. 972 T. Schmitz, Die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union, EuR 39 (2004), S. 691 (710). 973 H. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4. Aufl. 2021, Art. 34 GRCh Rn. 4; Folz (Fn. 95), Art. 7 GRCh Rn. 11. 974 EuGH, Urteil vom 17.12.2015, Az. C-419/14, DStRE 2016, 547 (556, Rn. 70). 975 Vgl. F. I. 1. b).

I. Vereinbarkeit mit europäischen Grundrechten

215

unter anderem das Kindeswohl von besonderer Bedeutung ist und dass geprüft werden muss, ob das Familienleben auch in einem anderen Land als dem Aufnahmestaat möglich ist. Gleichzeitig ergibt sich daraus dann auch, dass Art. 7 GRCh selbst keinen unmittelbaren Anspruch auf individuellen Nachzug gewährt976. Vielmehr ist auch hier eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen und Rechtsgüter vorzunehmen und der Einzelfall zu betrachten. Da auf die Bedeutung und Tragweite der Konvention und ihrer Interpretation durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurückzugreifen ist, kann sich im Ergebnis bei dieser Abwägung im Rahmen der Vereinbarkeit mit Art. 7 GRCh auch nichts anderes ergeben als bei jener im Rahmen der Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist damit auch mit Art. 7 GRCh vereinbar. 3. Keine Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh Auf europäischer Ebene ist neben dem primären Unionsrecht, namentlich der Grundrechtecharta der Europäischen Union, auch die Europäische Konvention für Menschenrechte entscheidend. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten muss deshalb mit diesen beiden Rechtsquellen des supra- und internationalen Menschenrechtsschutzes vereinbar sein. Dementsprechend ist die Überprüfung von § 36a AufenthG am Maßstab des Art. 8 EMRK und des Art. 7 GRCh von erheblicher Bedeutung. Hierbei zeigt sich, dass Art. 7 GRCh Art. 8 EMRK entsprechen soll und dieser vom Schutzniveau dem deutschen Art. 6 GG ähnelt. Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gleicht der des Bundesverfassungsgerichts bei den Fragen der Rechtmäßigkeit der Einschränkung des Familiennachzugs. Von den jeweiligen Gesetzgebern beziehungsweise Gerichten ist dies auch so gewollt. Es soll europaweit einen einheitlichen Grundrechtsschutz geben, der aus diesem Dreiklang des nationalen verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes, des unionsrechtlichen Schutzes der Charta sowie dem völkerrechtlichen Schutz der Konvention besteht977. Für die Überprüfung der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten bedeutet dies, dass auch nach Art. 8 EMRK beziehungsweise nach Art. 7 GRCh das Familienleben und insbesondere das Kindeswohl eine hohe Bedeutung genießen, gleichzeitig allerdings das Recht der Staaten betont wird, die Zuwanderung in ihr Hoheitsgebiet zu kontrollieren. Subsidiär Schutzberechtigten steht wie auch anderen Drittstaatsangehörigen kein absoluter und unmittelbarer sich aus der Konvention beziehungsweise der Charta ergebender Anspruch 976 Dienelt (Fn. 143), Art. 7 GRCh Rn. 1; § 36a Rn. 25; vgl. D. Thym, Rolle des EuGH in der Migrationspolitik, EuR 53 (2018), S. 672 (678) m.w. N. 977 Vgl. P. Szczekalla, Das Verhältnis zwischen dem Grundrechtsschutz in der EU in den Mitgliedstaaten, in: HdbEuGR, 2. Aufl. 2020, § 3 Rn. 40.

216

F. Europarechtliche Betrachtung

auf Familiennachzug respektive die Wahl des Familienmittelpunktes zu. Allerdings kann hiervon eine Ausnahme vorliegen, sofern es für die jeweilige Familie unmöglich oder unzumutbar ist, die Familieneinheit in einem anderen Land als dem Aufnahmeland herzustellen. Dies gleicht auch den deutschen Grundüberlegungen zur Prüfung von Einschränkungen beim Familiennachzug. Auch auf unions- und völkerrechtlicher Ebene steht eine angemessene und umfassende Güter- und Interessenabwägung im Mittelpunkt, die darüber entscheidet, ob einzelne Gesetze rechtmäßig sind. Da sich das Schutzniveau und die Interpretation durch die Rechtsprechung der verschiedenen Rechtsquellen gleichen, sind hierbei auch dieselben Maßstäbe bei der Abwägung anzulegen. Im Rahmen der Prüfung des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG978 ist deutlich geworden, dass die Neuregelung einer umfassenden Abwägung standhält. Daraus folgt, dass eine weitere Abwägung im Rahmen der Überprüfung der Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh zu keinem anderen Ergebnis kommen kann. Somit sind bei dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz die unterschiedlichen Rechtsgüter und Interessen hinreichend berücksichtigt, sodass dieses Gesetz und insbesondere § 36a AufenthG mit Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh grundsätzlich vereinbar sind.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht Neben den europäischen Grund- und Menschenrechten ist auch das einfache europäische Recht für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten heranzuziehen. Hierbei muss dieses Gesetz insbesondere auf die Vereinbarkeit mit dem europäischen Sekundärrecht überprüft werden. Das Recht der Europäischen Union gliedert sich in primäres und sekundäres Recht. Während sich das Primärrecht aus den Verträgen selbst, aus allgemeinen Grundsätzen der Europäischen Union, aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und der Grundrechtecharta der Europäischen Union ergibt und die zentralen Rechtsvorschriften bildet, handelt es sich bei dem Sekundärrecht um vom Primärrecht abgeleitetes Recht, also Rechtsvorschriften, die auf Grundlage der Verträge erlassen wurden979. Ein (nicht abschließender) Katalog der verschiedenen Handlungsformen des europäischen Sekundärrechts findet sich in Art. 288 AEUV980. Dies sind Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen. Für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes sind die Richtlinien entscheidend. Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV sind Richtlinien für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des

978

S. E. I. 2. e). Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 25. 980 M. Ruffert, in: C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 288 AEUV Rn. 6. 979

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

217

zu erreichenden Ziels verbindlich, aber überlassen diesem die Wahl der Form und der Mittel zur Umsetzung dieser Ziele. Das bedeutet, sie gelten – im Gegensatz zu Verordnungen – nicht unmittelbar im Verhältnis zu den Bürgern, sondern nur im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten, die die Richtlinien erst noch in eigenes nationales Recht umzusetzen haben. Richtlinien sollen also nicht das Recht vereinheitlichen, sondern vielmehr angleichen, was eine schonendere Art der Rechtsintegration darstellt, die die einzelnen Strukturen der Mitgliedstaaten achtet und ihnen gewisse Spielräume lässt981. Richtlinien vereinfachen somit die Kompromissfindung. Sofern ein Mitgliedstaat die Richtlinien nicht in der ihm auferlegten Zeit oder Art und Weise umsetzt, drohen ihm verschiedene Folgen wegen dieses Verstoßes. Einerseits können Rechtsmittel gegen die Mitgliedstaaten eingelegt werden, hierbei ist beispielsweise an ein Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 AEUV) zu denken. Zwar kann nach dem Wortlaut zunächst nur ein Verstoß gegen das Primärrecht Gegenstand dieses Verfahrens sein, nach ganz herrschender Ansicht ist „Verpflichtung aus den Verträgen“ aber sehr weit auszulegen, sodass das gesamte Unionsrecht, also auch das Sekundärrecht, umfasst ist982. Daneben ist im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung als Folge eines Verstoßes gegen die Umsetzungspflicht die Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien entstanden983. Richtlinien können bei einer fehlenden oder fehlerhaften Umsetzung durch die Mitgliedstaaten auch unmittelbare Wirkung entfalten, falls die Umsetzungsfrist abgelaufen ist und soweit die Vorschriften der Richtlinie hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt sind984. Beides könnte bei einer Europarechtswidrigkeit des § 36a AufenthG drohen. Für die vorliegende Untersuchung der Europarechtskonformität der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten sind zwei Richtlinien entscheidend: die Familienzusammenführungsrichtlinie von 2003 und die Qualifikationsrichtlinie von 2011. In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, ob subsidiär Schutzberechtigte im Sinne der Qualifikationsrichtlinie vom Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie umfasst werden, insbesondere da diese vor jener verabschiedet wurde985. Sollte dies der Fall sein, so wäre der neue § 36a AufenthG teilweise europarechtswidrig986. 981 M. Nettesheim, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der EU, 2021, Art. 288 AEUV Rn. 104. 982 Vgl. W. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV (Fn. 980), Art. 258 AEUV Rn. 33 m.w. N. 983 Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 46. 984 EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Az. C-148/78, BeckRS 2004, 71700 (1. Amtl. Ls.); Urteil vom 22.9.1983, Az. C-271/82, BeckRS 2004, 72833 (2. Amtl. Ls.); hierzu ausführlich: F. II. 3. 985 Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), S. 1453. 986 Hruschka, „aging out“ (Fn. 10), S. 1453.

218

F. Europarechtliche Betrachtung

1. Europarechtliche Grundlagen Es ist hilfreich, sich zunächst in gebotener Kürze die beiden Richtlinien anzusehen. Ein bedeutenderer Schritt in Richtung einer einheitlichen europäischen Einwanderungs- und Ausländerpolitik stellen die Familienzusammenführungsrichtlinie von 2003 und die Qualifikationsrichtlinie von 2011 dar. Diese beiden Richtlinien sind auch für die Untersuchung der Vereinbarkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten mit dem europäischen Recht entscheidend. Die Familienzusammenführungsrichtlinie regelt den Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen. Die Qualifikationsrichtlinie gestaltet den subsidiären Schutz aus. Beide Richtlinien sollen zu einer Mindestharmonisierung der unterschiedlichen nationalen Vorschriften und Schutzniveaus führen. Aufgrund dieser Mindestharmonisierung durch die beiden Richtlinien sind die wichtigsten Fragen des Familiennachzugs, des subsidiären Schutzes im Besonderen und des internationalen Schutzes im Allgemeinen europarechtlich determiniert. Bei Streitfragen müssen also zwingend die Familienzusammenführungsrichtlinie und die Qualifikationsrichtlinie herangezogen werden. a) Familienzusammenführungsrichtlinie Entscheidend für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ist auf Ebene des europäischen Sekundärrechts zunächst die Familienzusammenführungsrichtlinie. Ihr Inkrafttreten war ein erster wichtiger Schritt für eine gemeinsame europäische Politik im Asyl- und Aufenthaltsrecht. Auch die Normen des Aufenthaltsgesetzes zum Familiennachzug fußen in ihrer jetzigen Form auf der Familienzusammenführungsrichtlinie987. Ziel der Richtlinie ist gemäß ihrem ersten Artikel die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhaltende Drittstaatsangehörige. Bis zu ihrem Erlass im September 2003 hatte die Familienzusammenführungsrichtlinie eine recht wechselvolle Entstehungsgeschichte988. Auch wenn man schon Anfang der 1990er über eine gemeinsame europäische Politik zum Recht auf Familienzusammenführung diskutierte, so wurde diese erst im September 2003 Wirklichkeit989. Bereits mit dem Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 hatten sich die Mitgliedstaaten darauf geeinigt, grundsätzlich ihre verschiedenen na987 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23.4.2007, BGBl. 2007 I 42, 27.8.2007, S. 1970 ff. 988 S. ausführlich zur Geschichte der Familienzusammenführungsrichtlinie und zu den langwierigen Verhandlungen bis zu ihrem Erlass: C. Hauschild, Neues europäisches Einwanderungsrecht: Das Recht auf Familienzusammenführung, ZAR 2003, S. 266; K. Hailbronner/C. Arévalo, in: K. Hailbronner/D. Thym (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law, Art. 3 Familienzusammenführungsrichtlinie, Art. 1 Rn. 2 ff. 989 Groenendijk, Familienzusammenführung (Fn. 17) S. 191.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

219

tionalen Regelungen im Bereich der Einwanderungs- und Asylpolitik zu vereinheitlichen990. Dies konkretisierten die Mitgliedstaaten im Oktober 1999 beim Europäischen Rat in Tampere. Eine der zentralen Vereinbarungen dieses Treffens war der Auftrag an die Kommission, Richtlinienvorschläge hinsichtlich des Aufenthaltsrechts von Drittstaatsangehörigen auszuarbeiten991. Als ersten Bereich der Regelung der legalen Einwanderung entschied man sich noch 1999 für die Familienzusammenführung, da diese den Hauptzuwanderungstatbestand in die Europäische Union darstellt992. Die ersten beiden Vorschläge der Kommission konnten nicht überzeugen und mussten geändert werden993. Der dritte Entwurf, der am Ende deutlich restriktiver gefasst war, wurde die Grundlage der Familienzusammenführungsrichtlinie in ihrer heutigen Form, die schließlich 2003 angenommen wurde994. Im Laufe der Verhandlungen und der Veränderungen durch die verschiedenen Entwürfe änderte sich auch Art. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie. Im ersten Vorschlag der Kommission enthielt er noch das Ziel der „Begründung eines Rechts auf Familienzusammenführung“995, während sich in der endgültigen Fassung als Ziel die „Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung“ wiederfindet. Dies führte zu der Frage, ob sich aus dieser Richtlinie überhaupt ein Recht auf Familienzusammenführung ergebe996. Dies ist jedoch der Fall. Die Familienzusammenführungsrichtlinie begründet ein subjektives Recht auf familiäre Einheit, sofern die Anforderungen der Richtlinie erfüllt werden997. Dies ergibt sich nicht nur aus Art. 1, sondern auch aus den Erwägungsgründen 6, 9 und 16 sowie Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, nach dem die Mitgliedstaaten die Familienzusammenführung „gestatten“ und nicht „gestatten können“. Dies hat der EuGH inzwischen bestätigt998. Bei der Ausgestaltung dieses Rechts sind dabei noch mehr als bei vielen

990 Hauschild, Einwanderungsrecht (Fn. 988), S. 267; Hailbronner/Arévalo (Fn. 988), Art. 1 Familienzusammenführungsrichtlinie Rn. 4. 991 Schlussfolgerung Nr. 20 des Europäischen Rats (Tampere) vom 15. und 16.10. 1999, aufrufbar unter: https://www.consilium.europa.eu/media/21051/tampere-europäi scher-rat-schlussfolgerungen-des-vorsitzes.pdf (zuletzt aufgerufen am 17.5.2020); s. auch Hauschild, Einwanderungsrecht (Fn. 988), S. 267. 992 Groenendijk, Familienzusammenführung (Fn. 17), S. 191; Hauschild, Einwanderungsrecht (Fn. 988), S. 269. 993 Hauschild, Einwanderungsrecht (Fn. 988), S. 266. 994 Groenendijk, Familienzusammenführung (Fn. 17), S. 192; Langenfeld/Mohsen, EG-Richtlinie (Fn. 924), S. 398. 995 Europäische Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 1.12.1999, COM (1999) 638 final, 1999/ 0258 (CNS), S. 26. 996 Groenendijk, Familienzusammenführung (Fn. 17), S. 192; Hailbronner/Arévalo (Fn. 988), Art. 1 Familienzusammenführungsrichtlinie Rn. 26. 997 Hailbronner/Arévalo (Fn. 988), Art. 1 Familienzusammenführungsrichtlinie Rn. 26. 998 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/08, NVwZ 2010, 697 (699, Rn. 41).

220

F. Europarechtliche Betrachtung

anderen Richtlinien die Grundsätze, die sich aus der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie aus den Grundfreiheiten und der Grundrechtecharta der Europäischen Union ergeben, zu beachten999. Für die Einordnung der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten sind vor allem die Art. 3, 4, 7 f. sowie 9 ff. der Familienzusammenführungsrichtlinie entscheidend. Art. 3 regelt die Anwendbarkeit der Richtlinie und schließt diese unter anderem für „subsidiäre Schutzformen“ aus. Gemäß Art. 4 ist vereinfacht ausgedrückt die Kernfamilie nachzugsberechtigt. Art. 7 und 8 ermöglichen es den Mitgliedstaaten, an den Familiennachzug Anforderungen wie das Erfordernis von ausreichend Wohnraum und die Sicherung des eigenen Lebensunterhalts zu stellen. Von diesen Anforderungen sind allerdings Konventionsflüchtlinge gemäß Art. 12 der Familienzusammenführungsrichtlinie befreit. Diese sind daher privilegiert. Inwiefern diese Vorschriften auch für subsidiär Schutzberechtigte maßgeblich sind, wird zu untersuchen sein. b) Qualifikationsrichtlinie Die zweite sekundäre Rechtsquelle, die für die europarechtliche Einordnung der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten maßgeblich ist, ist die Qualifikationsrichtlinie. Ihre erste Fassung entstammt dem Jahr 2004 und setzte bereits wichtige Maßstäbe für die Regelung des subsidiären Schutzes in seiner heutigen Form. Die Qualifikationsrichtlinie 2004 war die erste europäische Richtlinie, die den subsidiären Schutz als Bestandteil des Asylverfahrens regelte (Art. 2 lit. e, Art. 15 Qualifikationsrichtlinie 2004) und durch die dieser seinen Fachterminus erhielt. Auch der Begriff des internationalen Schutzes und seine Zweiteilung in subsidiären Schutz sowie Flüchtlingsschutz finden hier ihren Ursprung. Ebenfalls wurden die tatbestandlichen Voraussetzungen bereits in Kapitel II dieser Richtlinie geregelt1000. Im Zuge der neuen Kompetenzen im Bereich des Asylrechts durch den Vertrag von Lissabon wurde die Qualifikationsrichtlinie neu gefasst und trat 2011 in Kraft. Das Ziel der Qualifikationsrichtlinie ist die „stärkere Angleichung der Vorschriften zur Zuerkennung und zum Inhalt des internationalen Schutzes auf der Grundlage höherer Standards“1001. Die Qualifikationsrichtlinie befasst sich nun entgegen ihrer Vorgängerrichtlinie nicht mehr nur mit dem Erlass von Mindestnormen, sondern von verbindlichen Normen durch den europäischen Gesetz-

999 Groenendijk, Familienzusammenführung (Fn. 17), S. 193; Hailbronner/Arévalo (Fn. 988), Art. 1 Familienzusammenführungsrichtlinie Rn. 18; Hauschild, Einwanderungsrecht (Fn. 988), S. 270. 1000 Marx, Handbuch (Fn. 165), § 2 Rn. 2. 1001 Erwägungsgrund Nr. 10 der Qualifikationsrichtlinie.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

221

geber. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben also weniger Spielraum als zuvor. Dies zeigt sich auch bei der Familienzusammenführung. Hieß es noch in Art. 23 Abs. 2 UAbs. 2 der Qualifikationsrichtlinie 2004, dass Mitgliedstaaten Bedingungen festlegen können, nach denen Familienangehörige nachziehen dürfen, so ist dieser Unterabsatz in der Qualifikationsrichtlinie nun weggefallen. Auch wurden in dem veränderten Artikel 1 der Qualifikationsrichtlinie Flüchtlinge und Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, erstmals zusammengefasst als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz. Dieses strengere und verbindlichere Regime des europäischen Gesetzgebers machte sich auch in Deutschland bemerkbar. Im Zuge der Umsetzung des Gesetzes führte Deutschland einen eigenständigen subsidiären Schutzstatus ein und bestimmte die Voraussetzungen für die Gewährung des internationalen Schutzes insgesamt genauer1002. Zuvor war die Qualifikationsrichtlinie 2004 lediglich durch Abschiebeverbote gemäß § 60 AufenthG umgesetzt worden. Die Qualifikationsrichtlinie hatte einen hohen Einfluss auf den europäischen Schutz von Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigen1003. Vor allem aus zwei Gründen ist sie maßgeblich: Zum einen führte sie zu einer Mindestharmonisierung der unterschiedlichen nationalen Regelungen und Schutzniveaus bei subsidiärem Schutz. Dies ermöglichte subsidiär Schutzberechtigten ein höheres Maß an (Rechts-)Sicherheit. Gleichzeitig glich sie ganz im Sinne ihres Zwecks, Normen für einen einheitlichen Status für Konventionsflüchtlinge und subsidiär Schutzberechtige festzulegen (Art. 1 der Qualifikationsrichtlinie), das Schutzniveau von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen weiter an. Beide Gruppen sind in Art. 2 lit. b der Qualifikationsrichtlinie unter dem Begriff „Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde“, zusammengefasst1004. Dies entspricht dem Ziel, das sich der Europäische Rat im Stockholmer Programm am 11. Dezember 2009 selbst gesetzt hat und auf das auch Erwägungsgrund 39 der Qualifikationsrichtlinie verweist. Art. 20 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie fasst diese Ziele prägnant zusammen: Für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte gilt das Gleiche, sofern nichts anderes bestimmt ist. Die Qualifikationsrichtlinie regelt die Anforderungen und die Ausgestaltung des internationalen Schutzes in fast allen Bereichen. Lediglich der Familiennachzug zu Konventionsflüchtlingen und zu subsidiär Schutzberechtigten wird in ihr nicht geregelt. Insofern verbleibt hier eine Lücke im Schutz für subsidiär Schutzberechtigte. Inwiefern diese für subsidiär Schutzberechtigte geschlossen werden kann, wird im Folgenden behandelt.

1002

Reinhardt/Kluth (Fn. 23), § 2 Rn. 28. Marx, Handbuch (Fn. 165), § 2 Rn. 9. 1004 S. Keßler, Sind subsidiär Geschützte beim Familiennachzug Flüchtlinge zweiter Klasse?, Asylmagazin 2016, S. 18 (20). 1003

222

F. Europarechtliche Betrachtung

2. Möglicher Anspruch auf Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aus der Familienzusammenführungsrichtlinie Subsidiär Schutzberechtigten steht gemäß § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG kein Anspruch auf Familiennachzug zu. Dieser Anspruchsausschluss könnte jedoch unvereinbar mit den entscheidenden unionsrechtlichen Richtlinien sein. Im Mittelpunkt hierbei steht die umstrittene Frage, ob die Familienzusammenführungsrichtlinie für subsidiär Schutzberechtigte im Sinne der Qualifikationsrichtlinie maßgeblich ist1005. Die Familienzusammenführungsrichtlinie gewährt zunächst allgemein den Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen, wenn diese einen Aufenthaltstitel haben, der eine Gültigkeitsdauer von mindestens einem Jahr besitzt, und die Aussicht auf einen dauerhaften Aufenthalt besteht (Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie)1006. Aus der Richtlinie erwächst somit ein subjektives Recht auf Familienzusammenführung1007. Gleichzeitig schließt die Richtlinie allerdings den Nachzug zu solchen Personen vom Anwendungsbereich aus, die aufgrund „subsidiärer Schutzformen gemäß internationaler Verpflichtungen, einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten“ genehmigt wurden (Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie)1008. Es ist also zu klären, ob es sich beim subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie um eine solche subsidiäre Schutzform handelt oder nicht und ob deshalb der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten unter den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie fällt. Hierbei ist insbesondere die Chronologie des Erlasses der Familienzusammenführungsrichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie zu beachten. Gleichzeitig erlaubt die Familienzusammenführungsrichtlinie einen privilegierten Nachzug zu Konventionsflüchtlingen (Art. 9 ff.). In einem nächsten Schritt ist also zu überprüfen, ob nicht nur die Familienzusammenführungsrichtlinie an sich, sondern auch die Privilegien dieser Vorschriften auf den Familien-

1005 Mit Verweis auf die Systematik oder den Wortlaut wird dies abgelehnt von: Dienelt (Fn. 143), § 36a Rn. 25; Kluth, Asylpaket II (Fn. 686), S. 127; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343); ohne jegliche Begründung abgelehnt von: Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Unterabteilung Europa, Unionsvorgaben zum Familiennachzug vom 7.11.2016, Ausarbeitung PE 6 – 3000 – 148/16, S. 6, abrufbar unter: https:// www.bundestag.de/resource/blob/490514/6be84c6bf4dfc809ddd4c77f7731dd42/PE-6148-16-pdf-data.pdf (zuletzt abgerufen am 15.5.2020); auf der anderen Seite dagegen (auch unter Verweis auf den Wortlaut): Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135; Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 412 ff.; Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404; Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413. 1006 Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413. 1007 Vgl. EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/08, NVwZ 2010, 697 (699, Rn. 41), s. hierzu bereits: F. II. 1. a). 1008 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

223

nachzug Anwendung finden können1009. Zuletzt ist zu untersuchen, ob trotz des klaren Wortlauts des Art. 2 lit. d der Familienzusammenführungsrichtlinie, nach dem auf den Zeitpunkt des Entstehens der familiären Bindung nicht abgestellt werden soll, ein Ausschluss beim Nachzug von Ehen, die erst nach der Flucht geschlossen wurden, wie ihn § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vorsieht, rechtmäßig ist. Im Folgenden soll auf diese drei Punkte unter Berücksichtigung der beiden maßgeblichen Richtlinien eingegangen werden. a) Subsidiärer Schutz als subsidiäre Schutzform? Sofern man nur auf den Wortlaut der Familienzusammenführungsrichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie abstellt, so muss man sich wundern, weshalb überhaupt eine umfassende Diskussion über die Anwendung der Richtlinie auf den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten geführt wird. Denn der Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie scheint eindeutig, indem er die Anwendung der Richtlinie ausschließt, wenn „dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde oder er um die Genehmigung des Aufenthalts aus diesem Grunde nachsucht und über seinen Status noch nicht entschieden wurde.“

Insbesondere die Bundesregierung stützt sich deshalb bei der Beurteilung der Vereinbarkeit des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes mit dem europäischen Recht auf diese Vorschrift und erklärt deshalb das Gesetz aus ihrer Sicht für unionsrechtskonform1010. Aber auch in der Literatur wird teilweise argumentiert, dass sich wegen des eindeutigen Wortlauts keine europarechtliche Beanstandung dieses Gesetzes ergebe1011. Auf den Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie stellt auch das Verwaltungsgericht Berlin ab, dessen Ansicht nach der subsidiäre Schutz im Sinne von § 4 AsylG eine subsidiäre Schutzform im Sinne jener Norm sei1012. Auf europäischer Ebene schloss 1009 Für die entsprechende Anwendung der Privilegierung: Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135; Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20; dies unter Verweis auf den Wortlaut ablehnend: Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343. 1010 Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 16. 1011 So beispielsweise Dienelt (Fn. 143) § 36a Rn. 25; Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 14; H. Dörig, Quo vadis Migrationsrecht?, jm 2018, S. 251 (253); Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343. 1012 VG Berlin, Urteil vom 2.11.2016, Az. 4 L 326.16 A, BeckRS 2016, 54041 (Rn. 15); VG Berlin, Urteil vom 7.11.2017, Az. 36 K 92.17 V, BeckRS 2017, 139856 (Rn. 22); in jüngster Zeit stellt das VG Berlin bei seinen Urteilen nicht mehr auf den Wortlaut ab, sondern auf die Rechtsprechung des EuGH (C-380/17, s. u.), vgl.: VG Berlin, Urteil vom 29.3.2019, Az. 38 K 27.18 V, BeckRS 2019, 9429 (Rn. 23); Urteil vom 3.4.2019, Az. VG 38 K 26.18 V, BeckRS 2019, 10283 (Rn. 22); Urteil vom 28.6.2019, Az. 38 K 25.19 V, BeckRS 2019, 16970 (Rn. 22).

224

F. Europarechtliche Betrachtung

sich der Generalanwalt beim EuGH Mengozzi in seinem Schlussantrag dieser Interpretation des Wortlauts an, der für ihn eindeutig belegte, dass der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten „nicht vom sachlichen Anwendungsbereich der [Familienzusammenführungsrichtlinie] erfasst [sei]“1013. Der Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie scheint also zunächst eindeutig. Doch bedeutet dies wirklich, dass damit der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten vom Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie ausgeschlossen ist? Die europäische Norm ist lediglich auf Grundlage des scheinbar offensichtlichen Wortlauts zu interpretieren, wie dies vom deutschen Gesetzgeber und teilweise von der Rechtsprechung sowie der Rechtsliteratur getan wird. Der Wortlaut deutet nicht schlechterdings darauf hin, dass Ausländer, die Anspruch auf subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie haben, nicht in den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie fallen1014. Um diese Norm und die Möglichkeit, dass subsidiär Schutzberechtigte entgegen der verbreiteten Ansicht sehr wohl in Anwendungsbereich fallen, zu verstehen, hilft es, sich die Chronologie der beiden Richtlinien ins Gedächtnis zu rufen. Die Familienzusammenführungsrichtlinie wurde im Jahr 2003 erlassen. Gemäß Erwägungsgrund 1 der Richtlinie erfolgte dieser Erlass vor dem Hintergrund eines gemeinsamen europäischen „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, der schrittweise aufgebaut werden sollte1015. Dieser schrittweise Aufbau erfolgte durch den AEUV, der 2009 mit dem Vertrag von Lissabon im Dezember 2009 in Kraft trat. In diesem konkretisierte sich der Wille des europäischen Gesetzgebers, eine umfassende und einheitliche Politik in allen Fragen des Asylund Flüchtlingsrechts zu schaffen1016. Art. 78 Abs. 2 lit. b AEUV ebnet den Weg für einen einheitlichen Status für subsidiär Schutzberechtigte, und Art. 79 Abs. 2 lit. a AEUV fordert eine einheitliche Politik im Bereich der Familienzusammenführung1017. Mit der Qualifikationsrichtlinie 2004 wurde ein weiterer Schritt in Richtung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems geschaffen. In ihr wurde der europäische Begriff des „subsidiären Schutzes“ eingeführt (Art. 2 lit. e, Art. 15 Qualifikationsrichtlinie 2004), dessen Angleichung mit dem Flüchtlingsstatus auch in Erwägungsgrund 7 dieser Richtlinie als Ziel genannt wird. Auf das Ziel der einheitlichen Regelung für Flüchtlinge und für subsidiär Schutzberechtigte stellt auch der Erwägungsgrund 39 der Neufassung dieser Richtlinie, der Qualifikationsrichtlinie von 2011, ab, die auch diese Vereinheitlichung dadurch 1013 Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi vom 27.6.2018, Az. C-380/17, BeckRS 2018, 13282 (Rn. 29). 1014 Vgl. Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414. 1015 Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20. 1016 Rosenau/Petrus (Fn. 95) Art. 78 AEUV Rn. 1. 1017 Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

225

forcierte, indem sie beide Gruppen in Art. 1 der Qualifikationsrichtlinie ausdrücklich als „Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz“ zusammenfasste1018. Abschließend bedeutet dies, dass der unionsrechtliche subsidiäre Schutz der Qualifikationsrichtlinie frühestens 2004 und in seiner heutigen Form erst ab 2011 in Gesetzesform gegossen wurde. Deutschland setzte den subsidiären Schutz als eigenständigen Schutzstatus, aus dem sich ein Aufenthaltstitel ergeben kann, gar erst zum 1. Dezember 2013 um. Die Familienzusammenführungsrichtlinie und somit auch die Ausschlussregel des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie sind aber bereits am 3. Oktober 2003 in Kraft getreten. Zumindest ausdrücklich konnte sich also dieser Anwendungsausschluss nicht auf den subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie beziehen, denn dieser wurde erst später eingeführt1019. Dies unterscheidet den Ausschluss des Nachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten von dem des Nachzugs zu Asylsuchenden und Personen, die vorübergehenden Schutz nach der Massenzustrom-Richtlinie erhalten1020, da die Richtlinie 2003 schon bekannt waren1021. Fraglich ist wie diese chronologisch bedingte Regelungslücke auszulegen ist. Denn auch wenn ausdrücklich zum damaligen Zeitpunkt nicht der unionsrechtliche subsidiäre Schutz gemeint sein konnte, so kann die Norm dennoch so auszulegen sein, dass sie auch den subsidiären Schutz der Qualifikationsrichtlinie umfasst. Einerseits könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass solche Ausnahmen von der Anwendung einer Richtlinie im europäischen Recht eng auszulegen sind1022. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH1023: singularia non sunt extendenda. Damit wäre der unionsrechtliche Schutz nicht von dem Anwendungsausschluss umfasst. Im Rahmen des Verfahrens zum Erlass der Qualifikationsrichtlinie hätte der europäische Gesetzgeber verschiedene Möglichkeiten 1018

Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20. Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413; ähnlich Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414. 1020 Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20.7.2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, Amtsblatt Nr. L 212 vom 7.8.2001, S. 12 ff. (Massenzustrom-Richtlinie). 1021 Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448. 1022 So Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448. 1023 EuGH, Urteil vom 10.5.2001, Az. C-203/99, NJW 2001, 2781 (2782, Rn. 15); Urteil vom 13.12.2001, Az. C-481/99, EuZW 2002, 84 (86, Rn. 31); Urteil vom 9.9.2003, Az. C-151/02, NZA 2003, 1019 (1023, Rn. 89); Urteil vom 5.10.2004, Az. C-397-403/01, NZA 2004, 1145 (1148, Rn. 67); Urteil vom 23.3.2006, Az. C-465/ 04, EuZW 2005, 341 (342, Rn. 24); Urteil vom 28.10.2010, Az. C-203/09, NJW-RR 2011, 255 (257, Rn. 42); mit Zweifeln an diesem Grundsatz: K. Riesenhuber, in: ders. (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 4. Aufl. 2021, § 10 Rn. 62 ff. m.w. N. 1019

226

F. Europarechtliche Betrachtung

gehabt, den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten eindeutig vom Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie auszuschließen. So hätte er entweder auch die Familienzusammenführungsrichtlinie entsprechend ändern und den Ausschluss ausdrücklich erklären können, oder aber er hätte den subsidiären Schutz in der Qualifikationsrichtlinie 2004 derart gestalten können, dass subsidiär Schutzberechtigte nicht unter Art. 3 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie fallen, indem er entweder die Gültigkeit des Aufenthaltstitels für einen kürzeren Zeitraum als ein Jahr bestimmt oder die Möglichkeit des dauerhaften Aufenthalts versagt hätte1024. Dies hat er jedoch unterlassen. Andererseits könnte man genauso gut den Standpunkt einnehmen, dass der europäische Gesetzgeber, sofern er gewollt hätte, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie auch den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie umfasst, dies entweder in der Erstfassung oder aber in der Überarbeitung dieser Richtlinie hätte statuieren können1025. Weil er dies unterlassen hat, stehen den Mitgliedstaaten insoweit Regelungsspielräume zu, sodass sie den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ausschließen können1026. Beide Ansichten bemühen folglich dasselbe Argument: Wenn der Gesetzgeber das anders sehe, hätte er ja die Richtlinie dementsprechend ändern können. Eine eindeutige Lösung bietet der reine Blick auf die Historie mithin nicht. Neben der Interpretation des Wortlauts und der historischen Betrachtung ist eine teleologische Auslegung des § 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie geboten. Denn um zu verstehen, ob der Anwendungsausschluss auch den subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie umfasst, muss man zunächst verstehen, welche Schutzformen der europäische Gesetzgeber 2003, also bei Erlass der Familienzusammenführungsrichtlinie, unter dieser Norm fasste. Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie normiert, dass die Richtlinie keine Anwendung finden soll, „wenn, dem Zusammenführenden der Aufenthalt in einem Mitgliedstaat aufgrund subsidiärer Schutzformen gemäß internationalen Verpflichtungen, einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten genehmigt wurde“. Man muss sich also fragen, was der europäische Gesetzgeber meint, wenn er von „subsidiären Schutzformen“ spricht. Diese sind in zwei Kategorien aufgeteilt: internationale Verpflichtungen und einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Praktiken. Der subsidiäre Schutz gemäß internationalen Verpflichtungen bezieht sich auf die völkerrechtlichen Verpflichtungen, die die Europäische Union oder die Mitgliedstaaten eingegangen sind, insbesondere auf das Non-Refoulement-Gebot (Grundsatz der Nichtzurückweisung), das sich beispielsweise aus Art. 33 GFK, 1024

Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448. Vgl. Hailbronner/Arévalo (Fn. 988), Art. 3 Familienzusammenführungsrichtlinie Rn. 13; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343. 1026 Kluth, Asylpaket II (Fn. 686), ZAR 2016, 121 (127). 1025

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

227

Art. 3 EMRK oder aber aus Art. 3 UN-Anti-Folterkonvention ergibt1027. Als subsidiäre Schutzform auf Grundlage einzelstaatlicher Rechtsvorschriften oder Praktiken der Mitgliedstaaten ist auch noch nicht der subsidiäre Schutz gemeint, den heute nach deutschem Recht § 4 AsylG beinhaltet. Vielmehr bezieht sich dies auf die verschiedenen nationalen Arten von subsidiären oder komplementären Schutzstatus der einzelnen Mitgliedstaaten mit jeweils unterschiedlichen Standards1028. In Deutschland sind dies beispielsweise die Abschiebeverbote gemäß § 53 AuslG beziehungsweise nach Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG1029. Der subsidiäre Schutz der Qualifikationsrichtlinie hingegen findet sich direkt in keiner der beiden Kategorien wieder. Hierbei erkennt man, dass ein europarechtliches Konzept eines subsidiären Schutzes 2003 zum Zeitpunkt des Erlasses der Familienzusammenführungsrichtlinie noch nicht entwickelt war, da dieses erst 2004 durch die Qualifikationsrichtlinie folgte1030. Vielmehr handelt es sich bei dem heutigen subsidiären Schutz im Sinne dieser Richtlinie um eine dritte Kategorie: eine eigenständige europarechtliche subsidiäre Schutzform, die auf den beiden anderen Kategorien aufbaut, aber dennoch etwas Neues darstellt1031. Schließlich sollten durch diesen europäischen subsidiären Schutz die verschiedenen europarechtlichen und nationalen Regelungen vereinheitlicht werden. Eine solche Interpretation wird auch durch die Begründung des ersten Richtlinienentwurfs gestützt, die den Anwendungsausschluss für den Nachzug zu Personen, die aufgrund subsidiärer Schutzformen eine Aufenthaltserlaubnis haben, mit der fehlenden Harmonisierung des subsidiären bzw. damals von der Kommission „temporären“ Schutzes auf europäischer Ebene rechtfertigt1032. Im Ergebnis handelt es sich bei dem subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie damit nicht um eine subsidiäre Schutzform im Sinne der Familienzusammenführungsrichtlinie1033. Sie ist somit auch für subsidiär Schutzberechtigte maßgeblich. 1027 Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413; Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135; Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414; Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448. 1028 S. hierzu und zu der Geschichte des subsidiären Schutzes: C. I. 1. 1029 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414, Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135; Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20. 1030 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135. 1031 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414. 1032 So Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135, mit Verweis auf: Europäische Kommission, Vorschlag Familienzusammenführungsrichtlinie (Fn. 995), COM (1999) 638 final, 1999/0258 (CNS), S. 13; vgl. hierzu auch DAV, Stellungnahme 4/2016 zur Einführung des beschleunigten Asylverfahren (Asylpaket II), 1.2.2016, S. 18, abrufbar unter: https://anwaltverein.de/de/newsroom/sn-4-16-zum-gesetzentwurf-der-bundes regierung-zur-einfuehrung-beschleunigter-asylverfahren-33981 (zuletzt abgerufen am 22.4.20). 1033 Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20.

228

F. Europarechtliche Betrachtung

Diese Ansicht teilte der Europäische Gerichtshof in zwei aktuellen Entscheidungen ausdrücklich nicht und entschied, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie nicht den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie umfasse1034. Dies macht der Europäische Gerichtshof an drei Argumenten fest. Zum einen bemüht er ebenfalls die zeitliche Reihenfolge des Erlasses der Richtlinien und erklärt den ausdrücklich fehlenden Bezug auf den unionsrechtlichen subsidiären Schutz für nicht entscheidend, da dieser erst später durch die Qualifikationsrichtlinie 2004 eingeführt wurde1035. Der Gerichtshof stützt sich darüber hinaus auf die Intention des europäischen Gesetzgebers1036. Denn gemäß dem von der Europäischen Kommission veränderten Vorschlag für die Familienzusammenführungsrichtlinie vom 10. Oktober 20001037 sei die Ausnahme des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie nur vor dem Hintergrund beschlossen worden, dass später eine weitere Richtlinie den subsidiären Schutz vereinheitlichen und auch die Frage des Familiennachzugs regeln sollte1038. Aus diesem Grund seien auch subsidiär Schutzberechtigte im Sinne der Qualifikationsrichtlinie von dem Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie auszuschließen.1039 Schließlich argumentiert der Europäische Gerichtshof unter Bezugnahme auf den 25. Erwägungsgrund der Qualifikationsrichtlinie 2004 und den beinahe wortgleichen 34. Erwägungsgrundes der Qualifikationsrichtlinie, dass die Voraussetzungen für die Gewährung des subsidiären Schutzes den völkerrechtlichen Verpflichtungen und bestehenden Praktiken der einzelnen Staaten entsprechen sollen1040. Daraus schlussfolgert der Gerichtshof: „Da sich die gemeinsamen Kriterien für die Gewährung subsidiären Schutzes auf diese Weise an den in den Mitgliedstaaten bestehenden Regelungen, die durch sie harmonisiert und gegebenenfalls ersetzt werden sollen, orientieren, würde Art. 3 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 [der Familienzusammenführungsrichtlinie, Anm. d. Verf.] seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn er dahin auszulegen wäre, dass er Personen, denen der vom Unionsrecht vorgesehene subsidiäre Schutzstatus zukommt, nicht erfasst.“1041 1034 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 f. (Rn. 27 ff.); Urteil vom 13.3.2019, Az. C-625/17, BeckRS 2019, 3166 (Rn. 33 f.). 1035 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 (Rn. 29). 1036 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 (Rn. 30). 1037 Europäische Kommission, Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 10.10.2000, COM (2000) 624 final, 1999/0258 (CNS), Amtsblatt Nr. C 62 vom 27.2.2000, S. 99 ff. 1038 Vgl. Erwägungsgrund 11, Europäische Kommission, Geänderter Vorschlag für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung vom 10.10.2000, COM (2000) 624 final, 1999/0258 (CNS), Amtsblatt Nr. C 62 vom 27.2. 2000, S. 101. 1039 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 (Rn. 30). 1040 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 (Rn. 31). 1041 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 (Rn. 32).

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

229

Da also der unionsrechtliche subsidiäre Schutz auf subsidiären Schutzformen auf internationalen Verpflichtungen und einzelstaatlichen Praktiken beruht und diese beiden Formen von der Anwendung ausgeschlossen sind, soll auch der unionsrechtliche subsidiäre Schutz von dem Anwendungsausschluss der Familienzusammenführungsrichtlinie umfasst sein. Die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof ist in der Literatur auf Kritik gestoßen. Insbesondere die Tatsache, dass er sich zum Großteil auf die Entstehungsgeschichte des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie stützt, wird bemängelt1042. Die fehlende Bezugnahme des europäischen subsidiären Schutzes spreche entgegen den Ausführungen des Gerichtshofs eben doch dafür, dass dieser nicht ausgeschlossen sei, da er bei Inkrafttreten der Familienzusammenführungsrichtlinie noch nicht existierte1043. Auch das Argument, dass der Ausschluss eines unionsrechtlichen Schutzes vom europäischen Gesetzgeber geplant sei, da man später diesen mitsamt der Ausgestaltung des Familiennachzugs gesondert regeln wolle, könne nicht überzeugen1044. Solche Regelungen wurden später nie eingeführt. So wie die Familienzusammenführungsrichtlinie zum unionsrechtlichen subsidiären Schutz schweigt, schweigt die Qualifikationsrichtlinie zum Familiennachzug. Die Qualifikationsrichtlinie sehe aber im Zweifelsfall eine Gleichbehandlung zwischen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten vor, falls nichts anderes ausdrücklich geregelt sei (Art. 20 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie) 1045. Sofern man auf die Begründung abstelle, die auch der Europäische Gerichtshof bemühe, bedeute dies, dass man davon ausgehe, dass der europäische Gesetzgeber die Regelung des Familiennachzugs versäumt habe. Dies greife allerdings angesichts der menschenrechtlichen Vorgaben zur Familienzusammenführung zu kurz und könne nicht überzeugen1046. Darüber hinaus übersehe eine solch starre Fokussierung auf die Entstehungsgeschichte, dass sich das europäische Recht und auch die europäische Politik stetig wandeln und insbesondere, dass das Gemeinsame Europäische Asylrecht vertieft und damit verändert werden soll1047. Aus diesen Gründen sei dem Urteil des Europäi-

1042

Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404. Ausgeschlossen seien nur Schutzformen aufgrund internationaler Verpflichtungen und nationale Schutzformen, so: Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414; Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135; Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448; Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404. 1044 Vgl. Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404. 1045 Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448; Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413; vgl. auch generell zum Ziel der Gleichbehandlung: Erwägungsgrund 39 der Qualifikationsrichtlinie. 1046 Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413. 1047 Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404; vgl. parallel hierzu auch die dynamische Auslegung bei der GFK: N. Markard, Ein neues Schutzkonzept?, ZAR 2015, S. 56 1043

230

F. Europarechtliche Betrachtung

schen Gerichtshofs nicht zu folgen. Zu dem dritten und wohl schwerwiegendsten Argument schweigt die Literatur jedoch bislang. Die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs können nicht überzeugen. Gerade die fehlende Berücksichtigung eines unionsrechtlichen subsidiären Schutzes spricht dafür, dass dieser nicht ausgeschlossen werden sollte. Denn Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie hätte ansonsten im Zuge der Erstellung der Qualifikationsrichtlinie 2004 entsprechend geändert werden müssen. Vielmehr scheint es in der Tat so, dass die Norm insbesondere einen Ausschluss der uneinheitlichen und noch nicht harmonisierten diversen Schutzformen der einzelnen Mitgliedstaaten bezweckt, die sich in ihren Voraussetzungen und in ihrer Ausgestaltung oft sehr unterscheiden. Sofern man wie der Gerichtshof auf die veränderte Begründung abstellt und sich fragt, warum der Gesetzgeber nicht später den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie ausdrücklich geregelt hat, bedeutet dies, dass man entweder davon ausgehen muss, dass der Gesetzgeber es schlicht vergessen hat oder aber, dass er den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigen nicht regeln wollte. Letzteres wäre jedoch angesichts der Tatsache, dass der subsidiäre Schutz dem Flüchtlingsschutz angepasst werden sollte, höchst merkwürdig und widerspräche dem Sinn der Qualifikationsrichtlinie. Vielmehr muss man dem europäischen Gesetzgeber einen gewissen Entwicklungsspielraum zugestehen. Zum Zeitpunkt des Erlasses der Qualifikationsrichtlinie könnte er auch eine neue Regelung des Familiennachzugs für nicht notwendig befunden haben, da er es für offensichtlich hielt, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie auf den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie anzuwenden ist. Überzeugender hingegen könnte zwar das dritte Argument des Europäischen Gerichtshofs sein: Da der unionsrechtliche subsidiäre Schutz auf den subsidiären Schutzformen aufgrund internationaler Verpflichtungen und einzelstaatlicher Regelungen aufbaut und diese vereinheitlichen respektive ersetzen soll, müsste Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie auch den subsidiären Schutz einbeziehen1048. Diesem Argument kann man allerdings nur folgen, wenn man der Ansicht ist, dass der europäische Gesetzgeber aus inhaltlichen Gründen den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten beziehungsweise Schutzberechtigten aufgrund subsidiärer Schutzformen ausschließen wollte. Dies wäre der Fall, wenn der Gesetzgeber der Ansicht gewesen wäre, dass diese Schutzberechtigten keine Möglichkeit der Familienzusammenführung benötigen, im Gegensatz zu Konventionsflüchtlingen oder Asylberechtigten, oder dieser Schutz zumindest nicht auf europäischer Ebene geregelt werden sollte. Dass der (60); „die Konvention [ist] ein lebendiges Instrument“, EGMR, Urteil vom 25.4.1978, Az. 5856/72, NJW 1979, 1089 (1090, Rn. 31). 1048 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 (Rn. 31 f.).

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

231

europäische Gesetzgeber den Schutzstatus selbst angleichen wollte, die Regelung des Familiennachzugs zu den subsidiär Schutzberechtigten aber den nationalen Regelungen überlassen wollte, ist nicht vorstellbar. Denn der AEUV enthält das eindeutige Ziel, eine einheitliche europäische Politik für die Familienzusammenführung zu schaffen1049. Den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten einzelstaatlichen Regelungen zu überlassen, steht im Widerspruch zu Art. 79 AEUV. Darüber hinaus fördert dies auch eine Sekundärmigration, die gerade nicht vom europäischen Gesetzgeber gewollt ist. Angesichts der vergleichbaren Schutzbedürftigkeit von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen, der der europäische Gesetzgeber durch die Zusammenfassung der beiden Gruppen unter dem Oberbegriff „Internationaler Schutz“ Rechnung trägt, und angesichts der Tatsache, dass in der Qualifikationsrichtlinie die Gleichstellung beider Gruppen gefördert wird1050, ist es auch nicht nachvollziehbar, dass er nur einer der beiden Gruppen die Familienzusammenführung ermöglichen wollte. Aus vorstehenden Gründen kann der Ausschluss nicht mit inhaltlichen Gründen gerechtfertigt werden, sodass er auch auf den subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie übertragen werden muss, wie dies der Europäische Gerichtshof fordert. Viel überzeugender ist die Auffassung, dass der europäische Gesetzgeber aufgrund des unterschiedlichen Schutzniveaus und des „Sammelsuriums“ an verschiedenen nationalen Regelungen, diese ganz unterschiedlichen und kaum zu vergleichenden Schutzstatus der einzelnen Länder, wie sie 2003 noch vorherrschten, ausschließen wollte, bis er eine einheitliche Regelung gefunden hatte, die diese ersetzen konnte. Entgegen der vorstehenden Argumente, den Ausschluss der Anwendbarkeit auch auf den unionsrechtlichen subsidiären Schutz auszudehnen, widerspricht diese Auslegung zudem dem europarechtlichen Grundsatz, dass Ausnahmevorschriften in Richtlinien eng auszulegen sind1051. Im Ergebnis sprechen somit die besseren Gründe dafür, dass der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie nicht nach Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgeschlossen ist1052. Daraus folgt, dass die allgemeinen europäischen Regeln für den Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen auf subsidiär Schutzberechtigte an1049

Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 21. Vgl. Erwägungsgrund 39 sowie Art. 1 und Art. 20 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie. 1051 EuGH, Urteil vom 10.5.2001, Az. C-203/99, NJW 2001, 2781 (2782, Rn. 15); Urteil vom 13.12.2001, Az. C-481/99, EuZW 2002, 84 (86, Rn. 31); Urteil vom 9.9.2003, Az. C-151/02, NZA 2003, 1019 (1023, Rn. 89); Urteil vom 5.10.2004, Az. C-397–403/01, NZA 2004, 1145 (1148, Rn. 67); Urteil vom 23.3.2006, Az. C-465/ 04, EuZW 2005, 341 (342, Rn. 24); Urteil vom 28.10.2010, Az. C-203/09, NJW-RR 2011, 255 (257, Rn. 42); mit Zweifeln an diesem Grundsatz: Riesenhuber, Methodenlehre (Fn. 1023), § 10 Rn. 62 ff. m.w. N. 1052 So auch Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20. 1050

232

F. Europarechtliche Betrachtung

wendbar sind, da ihr Aufenthaltstitel für mindestens ein Jahr gültig ist, dieser verlängert werden kann und sich bei Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 26 Abs. 4 i.V. m. § 9 Abs. 2 S. 1 AufenthG in einen unbefristeten Aufenthaltstitel wandeln kann1053. Aus den allgemeinen Regeln der Familienzusammenführungsrichtlinie erwächst ein subjektives Recht auf die Wiederherstellung der ehelichen und familiären Einheit1054. Ein allgemeiner Ausschluss des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug, wie ihn § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG postuliert, verstößt demzufolge gegen das Sekundärrecht und ist somit europarechtswidrig1055. b) Die Privilegierung von Flüchtlingen Grundsätzlich ist also die Familienzusammenführungsrichtlinie auch auf den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten anwendbar. Somit erhalten auch sie ein Recht auf Familienzusammenführung. Diese Rechtsausübung ist aber an gewisse Bedingungen geknüpft, deren Festlegung gemäß Art. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie das Ziel dieser Richtlinie ist. Der Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen darf dabei auch beschränkt werden. Hierbei sind insbesondere Art. 7 und 8 der Familienzusammenführungsrichtlinie zu beachten. Gemäß Art. 7 kann der Familiennachzug davon abhängig gemacht werden, dass der in Deutschland lebende Ausländer über ausreichend Wohnraum oder eine Krankenversicherung verfügt, dass er den Lebensunterhalt für sich und seine Familie sichern kann und dass er und seine Familie an Integrationsmaßnahmen teilnehmen. Art. 8 erlaubt den Mitgliedstaaten, den Nachzug unter die Bedingung zu stellen, dass der Nachholende bereits zwei Jahre, in Ausnahmefällen drei Jahre, in dem Aufnahmestaat gelebt hat, bevor seine Familie nachziehen darf 1056. Konventionsflüchtlinge sind hierbei allerdings privilegiert und größtenteils von diesen Erfordernissen befreit. Denn jene Einschränkungsmöglichkeiten gelten nach Art. 12 i.V. m. Art. 9 der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht für Konventionsflüchtlinge. Art. 12 Abs. 1 setzt Art. 7 außer Kraft, solange der Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb von drei Monaten nach Gewährung des Flüchtlingsstatus erfolgt (in Deutschland umgesetzt in § 29 Abs. 2 S. 2 AufenthG). Das Erfordernis einer zwei- oder dreijährigen Voraufenthaltszeit des Art. 8 der Richtlinie darf von Konventionsflüchtlingen gar nicht gefordert werden (Art. 12 Abs. 2). Daneben werden durch Art. 10 und Art. 11 den Konventionsflüchtlingen noch weitere Privilegierungen zuteil. 1053 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135; Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414. 1054 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/08, NVwZ 2010, 697 (699, Rn. 41). 1055 Zu demselben Ergebnis kommt u. a. auch Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414. 1056 K. Hailbronner, Die Richtlinie zur Familienzusammenführung, FamRZ 2005, S. 1 (5).

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

233

Diese Privilegierung gilt nur für Konventionsflüchtlinge, allerdings nicht für subsidiär Schutzberechtigte im Sinne der Qualifikationsrichtlinie, da dieser Schutzstatus zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Familienzusammenführungsrichtlinie noch nicht existierte1057. Wenn man sich auf den Standpunkt stellt, dass der Anwendungsausschluss des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie sich nicht auf subsidiär Schutzberechtigte im Sinne der Qualifikationsrichtlinie beziehe und aus diesem Grund jene in den Anwendungsbereich der Richtlinie fielen, so kann man sich in einem weiteren Schritt fragen, ob dann auch die soeben beschriebenen Privilegierungen von Konventionsflüchtlingen der Art. 9–12 der Familienzusammenführungsrichtlinie zusätzlich auch für subsidiär Schutzberechtigte gelten1058. Der Wortlaut ist hier allerdings eindeutig und auch insbesondere deutlicher als der des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie. Nach Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie finden die Vorschriften des Kapitel V, also der Art. 9–12, nur auf anerkannte Flüchtlinge Anwendung. „Flüchtlinge“ werden in Art. 2 lit. b der Familienzusammenführungsrichtlinie legal definiert. Demnach ist ein „Flüchtling“ im Sinne dieser Richtlinie ausschließlich jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, dem die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zuerkannt wurde. Dies entspricht auch der Definition von „Flüchtlingen“ des Art. 2 lit. d der Qualifikationsrichtlinie, obgleich dieser nicht auf die Genfer Flüchtlingskonvention verweist, sondern deren Definition annähernd wortgleich wiedergibt. Gleichzeitig unterscheidet die Qualifikationsrichtlinie streng und durchgehend sprachlich zwischen „Flüchtlingen“ und „Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz“ haben1059. Der ausdrückliche Wortlaut spricht also dafür, dass subsidiär Schutzberechtigten nicht die Privilegierungen, die Konventionsflüchtlingen zuteil werden, zu gewähren sind1060. Der Gesetzgeber dürfte demzufolge also die Familienzusammenführung von den beschriebenen Voraussetzungen abhängig machen. Allerdings könnte man sich überlegen, ob es möglich ist, dass dieser Abschnitt und damit die Privilegierungen eventuell analog auf subsidiär Schutzberechtigte anwendbar sind. Die analoge Anwendung dieser Vorschriften ist dann zulässig, wenn die Interessenlage derjenigen, die von der Regelung betroffen sind, und denen, die davon nicht umfasst sind, vergleichbar sind und die Regelung eine Lücke aufweist, die planwidrig ist. Die Analogie kann dann die planwidrige Regelungslücke schließen. Allerdings ist bei der analogen Anwendung zu bedenken, dass es sich bei den Art. 9 ff. der Familienzusammenführungsrichtlinie um Aus1057

Vgl. Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135. Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448. 1059 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414. 1060 So auch Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414; Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343. 1058

234

F. Europarechtliche Betrachtung

nahmen von den allgemeinen Voraussetzungen des Familiennachzugs handelt und solche Ausnahmen grundsätzlich restriktiv ausgelegt werden1061. Zunächst müsste eine vergleichbare Interessenlage vorliegen, die sich insbesondere auf die Privilegierungen der Art. 9 ff. der Familienzusammenführungsrichtlinie zu beziehen hat. Der zu beurteilende Sachverhalt muss in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem gesetzlich geregelten Sachverhalt vergleichbar sein, dass davon ausgegangen werden kann, dass der Gesetzgeber bei einer Abwägung der Interessen im konkreten Sachverhalt unter Berücksichtigung der Grundsätze, die ihn zu der gesetzlichen Regelung bewogen haben, zu einem gleichen Ergebnis gekommen wäre wie im gesetzlich geregelten Fall1062. Bei der Interessenabwägung ist vorliegend somit einerseits auf die Interessen von Konventionsflüchtlingen, denen die Privilegierungen zuteilwerden, und andererseits auf die Interessen von subsidiär Schutzberechtigten abzustellen. Es müssten also vergleichbare Interessen daran bestehen, dass auch subsidiär Schutzberechtigte die zusätzlichen Voraussetzungen, die ihnen für die Familienzusammenführung auferlegt werden können, nicht erfüllen sollten. Subsidiär Schutzberechtigte und Konventionsflüchtlinge unterliegen oftmals vergleichbaren Regelungen, sind vergleichbaren Situationen ausgesetzt und haben vergleichbare Interessen1063. Der Hauptgrund für den privilegierten Familiennachzug zu Konventionsflüchtlingen liegt in der besonderen Situation der Flüchtlinge und ihren Familien aufgrund der Fluchtumstände1064. Die Situation von subsidiär Schutzberechtigten und ihren Familien ist aber oftmals sehr ähnlich. Zunächst unterscheidet sich, wie schon vielfach angemerkt, die grundsätzliche Schutzbedürftigkeit beider Gruppen kaum. In allen Fällen, in denen subsidiärer Schutz beziehungsweise der Flüchtlingsstatus gewährt wird, drohen den Betroffenen mit großer Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Beeinträchtigungen von Menschenrechten und fundamentalen Rechtsgütern, die sich nicht unterscheiden lassen können in dem Sinne, dass die Bedrohung für Flüchtlinge „mehr“ verletzend sei als die für subsidiär Schutzberechtigte1065. Der Europäische Gerichtshof hat in demselben Urteil, in dem er die 1061 EuGH, Urteil vom 10.5.2001, Az. C-203/99, NJW 2001, 2781 (2782, Rn. 15); Urteil vom 13.12.2001, Az. C-481/99, EuZW 2002, 84 (86, Rn. 31); Urteil vom 9.9.2003, Az. C-151/02, NZA 2003, 1019 (1023, Rn. 89); Urteil vom 5.10.2004, Az. C-397–403/01, NZA 2004, 1145 (1148, Rn. 67); Urteil vom 23.3.2006, Az. C-465/ 04, EuZW 2005, 341 (342, Rn. 24); Urteil vom 28.10.2010, Az. C-203/09, NJW-RR 2011, 255 (257, Rn. 42); mit Zweifeln an diesem Grundsatz: Riesenhuber, Methodenlehre (Fn. 1023), § 10 Rn. 62 ff. m.w. N. 1062 BGH, Urteil vom 14.12.2006, Az. IX ZR 92/06, BGHZ 170, 187 (191, Rn. 15 m.w. N.). 1063 Vgl. hierzu die ausführliche Gegenüberstellung beider Schutzstatus: C. III.; aber auch die wesentliche Gleichheit im Rahmen der Überprüfung einer Ungleichbehandlung nach Art. 3 GG: E. II. 2. 1064 Langenfeld/Mohsen, EG-Richtlinie (Fn. 924), S. 399; Hailbronner/Arévalo (Fn. 988), Art. 1 Familienzusammenführungsrichtlinie Rn. 16. 1065 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 412 f.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

235

Anwendbarkeit der Familienzusammenführungsrichtlinie auf subsidiär Schutzberechtigte ausschloss, betont, dass „der Lage von Flüchtlingen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden [muss], da sie nicht damit rechnen können, in ihrem Herkunftsstaat ein normales Familienleben zu führen, sie womöglich während eines langen Zeitraums von ihrer Familie getrennt gewesen waren, bevor ihnen der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde, und die Erfüllung der in Art. 7 Abs. 1 der [Familienzusammenführungs-]Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für sie im Vergleich zu anderen Drittstaatsangehörigen eine größere Schwierigkeit darstellen kann.“1066

Doch auch subsidiär Schutzberechtigte können die Familieneinheit nicht in ihrem Herkunftsstaat wiederherstellen. Sie erhalten genau wie Konventionsflüchtlinge den Schutz, da ihnen ernsthafte Schäden drohen, sollten sie in ihr Heimatland zurückkehren, sodass ihre Situation mit der von Konventionsflüchtlingen durchaus vergleichbar ist1067. Da die Familienangehörigen von subsidiär Schutzberechtigten sich regelmäßig entweder in diesem Land, in denen ihnen Schäden drohen, oder in einem Drittstaat, in dem die subsidiär Schutzberechtigten nicht einreisen dürfen, leben, haben subsidiär Schutzberechtigte also nicht die Möglichkeit, ihr Familienleben an einem anderen Ort als in dem jeweiligen Aufnahmestaat zu führen1068. Subsidiär Schutzberechtigte sind darüber hinaus genau wie Konventionsflüchtlinge für einen langen Zeitraum von ihren Familien getrennt, bevor ihnen der Status zuerkannt wird. Die gleichen Umstände, die der Europäische Gerichtshof für Konventionsflüchtlinge betont, treffen demzufolge in gleicher Weise auf subsidiär Schutzberechtigte zu1069. Doch auch die konkrete Privilegierung respektive das Fehlen dieser Privilegierung hat für beide Gruppen vergleichbare Folgen. Auch für subsidiär Schutzberechtigte stellen die materiellen Voraussetzungen der Art. 7 und 8 der Familienzusammenführungsrichtlinie große Schwierigkeiten dar. Die Verfügung von ausreichend Wohnraum, einer Krankenversicherung, fester und regelmäßiger Einkommen, um die Lebensgrundlage für sich und ihre Familie abzusichern, können für subsidiär Schutzberechtigte ebenso wie für Konventionsflüchtlinge nur schwer zu überwindende Hürden sein. Im Gegensatz zu Drittstaatsangehörigen, die im Rahmen der Arbeitsmigration nach Deutschland einwandern, sind subsidiär Schutzberechtigte und Konventionsflüchtlinge regelmäßig der Landessprache nicht mächtig und müssen sich zunächst in Deutschland einleben und integrieren. Sofern man von ihnen verlangt, dass sie über ausreichenden Wohnraum und ein festes und regelmäßiges Einkom1066 EuGH, Urteil vom 7.11.2008, Az. C-380/17, NVwZ-RR 2019, 285 (287, Rn. 53). 1067 Heuser, Aussetzung (Fn. 742), S. 128 f.; Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme (Fn. 515), S. 9; vgl. auch Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 18 ff. 1068 Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 450. 1069 Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 450; Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404.

236

F. Europarechtliche Betrachtung

men verfügen, das sie selbst und ihre Familien versorgen kann, führt dies zu einer noch deutlich längeren Trennungsdauer. Auch das Erfordernis der Voraufenthaltszeit des Art. 8 der Familienzusammenführungsrichtlinie bewirkt für beide Gruppen der international Schutzberechtigten gleichermaßen eine Verlängerung der oftmals ohnehin schon sehr langen Trennungsdauer. Sowohl Konventionsflüchtlinge als auch subsidiär Schutzberechtigte haben dementsprechend das gleiche Interesse daran, dass sie von den Voraussetzungen des Art. 7 und 8 der Familienzusammenführungsrichtlinie befreit sind. Ihre Interessenlage ist somit vergleichbar. Es muss des Weiteren eine planwidrige Regelungslücke vorliegen. Dabei ist in einem ersten Schritt das Ziel der gesetzlichen Regelung durch historische und teleologische Auslegung dieser Regelung zu erschließen und in einem zweiten Schritt zu überprüfen, ob das Gesetz, gemessen an diesem so herausdestillierten Ziel beziehungsweise Plan, planwidrig unvollständig ist1070. Weder in der Familienzusammenführungsrichtlinie noch in der Qualifikationsrichtlinie ist die Familienzusammenführung zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des Unionsrechts geregelt. Insbesondere fehlt es trotz der vergleichbaren Interessenlage beider Gruppen an Regelungen, die festlegen, ob subsidiär Schutzberechtigte die gleichen Voraussetzungen wie die übrigen Drittstaatsangehörigen erfüllen müssen, oder ob es für diese Gruppe Schutzberechtigter gewisse Erleichterungen, vergleichbar mit denen für Konventionsflüchtlinge, gibt. Es fehlen also sowohl generell beim Familiennachzug als auch im Speziellen beim privilegierten Familiennachzug europäische Regelungen für subsidiär Schutzberechtigte im Sinne der Qualifikationsrichtlinie. Eine Regelungslücke ist damit gegeben. Ob die fehlenden Bestimmungen zur Familienzusammenführung und zur Möglichkeit des privilegierten Familiennachzugs planwidrig sind, hängt stark von der Intention des Gesetzgebers ab. Zunächst ist wieder auf den Wortlaut abzustellen. Dieser scheint eindeutig zu sein. Die Privilegierungen des Kapitel V der Familienzusammenführungsrichtlinie richtet sich ausschließlich an Flüchtlinge, und diese sind in der Familienzusammenführungsrichtlinie eindeutig definiert als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention und entsprechen damit auch der Definition der Qualifikationsrichtlinie. Letztere trennt streng zwischen „Flüchtlingen“ und „Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz“ haben1071. Die Interpretation des Wortlauts lässt also keinen anderen Schluss zu, als dass der Gesetzgeber nur Flüchtlinge einbeziehen wollte. Allerdings muss man sich hierbei auch wieder einmal die zeitliche Reihenfolge vor Augen führen. Als die Familienzusammenführungsrichtlinie in Kraft trat, gab es auf europäischer Ebene den subsidiären Schutz1070 BGH, Urteil vom 14.12.2006, Az. IX ZR 92/06, BGHZ 170, 187 (191, Rn. 15 m.w. N.). 1071 Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

237

status noch nicht. Der Wortlaut konnte sich somit nicht an subsidiär Schutzberechtigte richten. Insbesondere die Qualifikationsrichtlinie verstärkte dann aber die Gleichstellung von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen1072. Der Zweck der Richtlinie ist gemäß Art. 1 der Qualifikationsrichtlinie, Normen für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte festzulegen, weshalb beide Gruppen auch in Art. 2 lit. b der Qualifikationsrichtlinie unter dem Begriff „Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde“ zusammengefasst sind1073. Dies entspricht dem Ziel des Stockholmer Programmes vom 11. Dezember 2009 und Erwägungsgrund 39 der Qualifikationsrichtlinie. Hierbei handelt es sich um eine Richtschnur für die gemeinsame Innen- und Sicherheitspolitik der Mitgliedstaaten für die Jahre 2010 bis 2014. In diesem Programm verpflichtete sich der Europäische Rat unter anderem dem Ziel, einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität zu schaffen, der auch auf einem einheitlichen Status für subsidiär Schutzberechtigte und Konventionsflüchtlinge beruhen sollte1074. Im Geiste der Vereinheitlichung beider Gruppen ist auch das Kapitel VII und insbesondere Art. 20 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie zu verstehen: Demnach gilt für Flüchtlinge als auch für subsidiär Schutzberechtigte das Gleiche, sofern dies nicht anders bestimmt ist. Die Systematik dieser Vorschriften kann auch ein Indiz dafür sein, dass die Gleichstellung gewollt und die Regelungslücke in der Familienzusammenführungsrichtlinie insoweit planwidrig ist1075. Allerdings bestehen berechtigte Zweifel an der Planwidrigkeit der Lücke. Denn bereits 2011 befassten sich die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten mit der Frage, ob die Privilegierung der Konventionsflüchtlinge auch für subsidiär Schutzberechtigte gilt respektive gelten sollte. In ihrem Grünbuch („Green Paper“) zum Recht auf Familienzusammenführung von November 2011 ging die Kommission selbst davon aus, dass die privilegierten Regelungen nicht für subsidiär Schutzberechtigte gelten1076 – trotz des Stockholmer Programmes und des Ziels der Angleichung beider Schutzinstitute. Die Regierungen der Mitgliedstaaten sahen das in ihrer Antwort hierauf ähnlich, wobei einige Länder eine Öffnung der Privilegierung für subsidiär Schutzberechtigte forderten, während andere sie ablehnten1077. Ein Beschluss über die Öffnung der Privilegierungen 1072

Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20. Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20. 1074 Europäischer Rat, Das Stockholmer Programm – Ein offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger, Amtsblatt Nr. C 115 vom 4.5.2010, S. 32. 1075 Ähnlich Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 20. 1076 Europäische Kommission, Grünbuch zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/ EG) vom 15.11.2011, COM (2011) 735 final, S. 6 f. 1077 Europäische Kommission, Summary of the Stakeholder Responses to the Green Paper on the Right of Family Reunification of Third-Country Nationals vom 11.5.2012, S. 13; abrufbar unter: https://ec.europa.eu/home-affairs/sites/homeaffairs/files/what1073

238

F. Europarechtliche Betrachtung

erging nicht. Indes wurde sich sowohl im Grünbuch als auch in den Antworten nicht vertieft mit den Unterschieden zwischen beiden Gruppen und der Rechtsprechung hierzu auseinandergesetzt1078. Dennoch ergibt sich aus diesen beiden Dokumenten, dass die Kommission sich sowohl vor als auch nach dem Erlass der Neufassung der Qualifikationsrichtlinie mit dieser Frage beschäftigt und sich bewusst entschieden hat, dass die Privilegierung vorerst nicht für subsidiär Schutzberechtigte gelten soll. Insofern ist die Argumentation, dass der Wortlaut der Familienzusammenführung zwar eindeutig dagegenspricht, aber die Qualifikationsrichtlinie die Angleichung auch bei der Frage des privilegierten Familiennachzugs impliziert, obgleich sie dies nicht explizit ausdrückt, nur schwer zu halten. Obwohl eine vergleichbare Interessenlage sowie eine Regelungslücke bestehen, ist die Regelungslücke nicht planwidrig. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Europarecht Ausnahmen von Vorschriften restriktiv auszulegen sind1079, gebietet sich keine analoge Anwendung der Art. 9 ff. der Familienzusammenführungsrichtlinie auf subsidiär Schutzberechtigte, die nach dem Wortlaut explizit nur für Konventionsflüchtlinge gelten1080. Trotz der Ziele des Stockholmer Programms, die teilweise in der Qualifikationsrichtlinie Eingang fanden, hat der europäische Gesetzgeber auf die Gleichstellung beider Gruppen des internationalen Schutzes in diesem konkreten Punkt bewusst verzichtet1081. Dieser schriftlich festgehaltene bewusste Verzicht darf trotz der vergleichbaren Interessenlage nicht umgangen werden. Im Ergebnis bedeutet dies, dass im Gegensatz zum Familiennachzug zu Konventionsflüchtlingen beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten die Familienzusammenführungsrichtlinie es nicht verbietet, dass an die Familienzusammenführung zusätzliche Anforderungen gestellt werden. Dies muss allerdings nicht im Umkehrschluss heißen, dass subsidiär Schutzberechtigte im Falle des Familiennachzugs generell diese Voraussetzungen erfüllen is-new/public-consultation/2012/pdf/0023/summary_of_stakeholder_responses_en.pdf (zuletzt abgerufen am 21.4.2020). 1078 Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 448. 1079 EuGH, Urteil vom 10.5.2001, Az. C-203/99, NJW 2001, 2781 (2782, Rn. 15); Urteil vom 13.12.2001, Az. C-481/99, EuZW 2002, 84 (86, Rn. 31); Urteil vom 9.9.2003, Az. C-151/02, NZA 2003, 1019 (1023, Rn. 89); Urteil vom 5.10.2004, Az. C-397–403/01, NZA 2004, 1145 (1148, Rn. 67); Urteil vom 23.3.2006, Az. C-465/ 04, EuZW 2005, 341 (342, Rn. 24); Urteil vom 28.10.2010, Az. C-203/09, NJW-RR 2011, 255 (257, Rn. 42); mit Zweifeln an diesem Grundsatz: Riesenhuber, Methodenlehre (Fn. 1023), § 10 Rn. 62 ff. m.w. N. 1080 So auch Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 414; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343, für den die Gleichstellung durch den Bundestag im Sommer 2015 (vgl. D. I. 3.) überobligatorisch war und deshalb jederzeit rückgängig gemacht werden konnte; a. A.: Keßler, Subsidiär Geschützte (Fn. 1004), S. 21. 1081 Vgl. Hailbronner/Arévalo (Fn. 988), Art. 3 Familienzusammenführungsrichtlinie Rn. 13; Thym, Obergrenze (Fn. 512), S. 1343.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

239

müssen respektive dass der jeweilige Aufnahmestaat in jedem Fall den Familiennachzug an Voraussetzungen wie ausreichenden Wohnraum und der Sicherung des Lebensunterhalts knüpfen kann. Vielmehr ist hier der konkrete einzelne Lebenssachverhalt zu prüfen. Es kann von subsidiär Schutzberechtigten nicht in ihrer Situation zwingend jedes Mal gefordert werden, dass sie die obigen Anforderungen erfüllen. In vielen Fällen kommen sie mittellos und nach mehrwöchiger Flucht in dem Aufnahmestaat an. Unter diesen Voraussetzungen kann der Aufnahmestaat nicht zwingend die Familienzusammenführung von Menschen, die ohne Kenntnis des Landes, seiner Sprache und seiner Kultur in diesem Land Schutz suchen, an all diese Bedingungen knüpfen. Dies kann die Familienzusammenführung um etliche Jahre verzögern. Da es gleichzeitig subsidiär Schutzberechtigten aber nicht zuzumuten ist, zu ihren Familien zurückzureisen, und eine Familienzusammenführung in einem Drittland oftmals unmöglich ist, würde dies zu einer Trennungsdauer führen, die teilweise viele Jahre betragen könnte. Geradezu zynisch wäre es zudem, wenn man von Kindern verlangen würde, dass sie diese Voraussetzungen erfüllen müssten, damit Elternteile zu ihnen nachziehen dürften. Hier können die Anforderungen von Art. 7 der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht zur Anwendung kommen. Auch die Voraufenthaltszeit von zwei Jahren darf von Kindern nicht verlangt werden, für die ein solcher Zeitraum getrennt von den Eltern und der Familie unzumutbar ist, insbesondere mit Blick auf das kindliche Zeitempfinden1082. Diese Einzelfälle sind jedes Mal genau abzuwägen. Auch wenn also die generelle Ausnahme des Art. 12 der Familienzusammenführungsrichtlinie, durch die Konventionsflüchtlinge beim Familiennachzug privilegiert sind, nicht analog auf subsidiär Schutzberechtigte anwendbar ist, so können sie doch im Einzelfall genauso bevorzugt werden müssen. Dies gebietet auch eine Auslegung der Vorschriften im Lichte der Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention, insbesondere von Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht eine Ungleichbehandlung von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten ohnehin kritisch und verlangt eine ausreichende und tragfähige Begründung hierfür1083. Sofern man die analoge Anwendung der Vorschriften mangels Planwidrigkeit der Regelungslücke ablehnt, so muss man dennoch einen vergleichbaren Schutz im Einzelfall aufgrund der Grund- und Menschenrechte ermöglichen1084. Insofern ist beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten das Erforder1082 Auch die Bundesregierung selbst betont die gravierenderen Auswirkungen längerer Trennungen auf Kinder und berücksichtigt hierbei das veränderte kindliche Zeitempfinden, vgl. Bundesregierung, Gesetzesbegründung (Fn. 48), BT-Drucks. 19/2438, S. 24. 1083 Vgl. EMGR, Urteil vom 6.11.2012, Az. 22341/09 (Rn. 45, 47, 48); Urteil vom 27.9.2011, Az. 56328/07 (Rn. 35–37 m.w. N.); vgl. Czech, Recht auf Familienzusammenführung (Fn. 960), S. 236; Maier-Borst, Verschärfungen (Fn. 319), S. 450. 1084 Vgl. Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 415; Mungan/Muy/Weber, Familientrennung (Fn. 333), S. 413; Mantel, Schutzberechtigt (Fn. 317), S. 404.

240

F. Europarechtliche Betrachtung

nis der Erfüllung der Anforderungen an eine Ermessensausübung zu knüpfen. Dies ermöglicht die Berücksichtigung des Einzelfalls und kann dazu führen, dass beispielsweise beim Nachzug zu Minderjährigen das Ermessen auf Null zu reduzieren ist. Eine solche Regelung entspricht dem § 29 Abs. 2 S. 1 AufenthG, nach dem von dem Erfordernis des Vorhandenseins von Wohnraum und der Lebensunterhaltssicherung beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten abgesehen werden kann, wobei Umstände wie die Zumutbarkeit der Familienzusammenführung im Verfolgerstaat sowie das ernsthafte Bemühen um Erwerbstätigkeit mit einbezogen werden sollen (in letzterem Fall sogar in Form von intendiertem Ermessen)1085. Zusammengefasst sind die Vorschriften über den privilegierten Familiennachzug der Art. 9 ff. der Familienzusammenführungsrichtlinie nicht analog auf subsidiär Schutzberechtigte anzuwenden, sodass die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten den Nachzug an solche Voraussetzungen knüpfen darf, auch wenn im Einzelfall im Rahmen der Ermessensentscheidung hiervon unter Berücksichtigung der Grund- und Menschenrechte abgesehen werden muss. c) Sonderfall: Ausschluss von nach der Flucht geschlossenen Ehen (§ 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) Gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG erteilen die zuständigen Behörden die Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke des Ehegattennachzugs regelmäßig nicht, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde1086. Der deutsche Gesetzgeber differenziert nach dem Zeitpunkt der Eheschließung, da er Ehen, die nach der Flucht und in Kenntnis der Flucht- und Trennungssituation geschlossen wurden, für weniger schutzwürdig hält1087. Dieser regelmäßige Ausschluss solcher Ehen vom Ehegattennachzug könnte jedoch gegen das europäische Sekundärrecht, namentlich gegen die Familienzusammenführungsrichtlinie, verstoßen, sofern diese Richtlinie auf den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie anwendbar ist. Die Familienzusammenführungsrichtlinie definiert in Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a–d den Kreis der zum Nachzug berechtigten Familienangehörigen. Bei Ehegatten (lit. a) ergibt sich hieraus keine Einschränkung aufgrund des Zeitpunkts der Eheschließung. Auch die Familienzusammenführung selbst ist in Art. 2 lit. d

1085 Bundesministerium des Inneren, Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz (AVV AufenthG) vom 26.10.2009, Nr. 29.2.1, 29.2.2.1; Tewocht (Fn. 22), § 29 Rn. 5b. 1086 S. D. II. 4. a). 1087 Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 97 f.; Kluth (Fn. 22), § 36a Rn. 40.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

241

der Richtlinie definiert. Hiernach versteht man unter der Familienzusammenführung „die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen eines sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen in diesem Mitgliedstaat, mit dem Ziel, die Familiengemeinschaft aufrechtzuerhalten, unabhängig davon, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden entstanden sind;“1088 [Hervorhebung d. Verf.]

Der Europäische Gerichtshof hat aus diesem Grund bereits 2010 in einem Urteil entschieden, dass es beim Familiennachzug grundsätzlich nicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar ist, nach dem Zeitpunkt der Eheschließung zu differenzieren1089. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellt Art. 9 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie dar. Bei Konventionsflüchtlingen dürfen die Mitgliedstaaten die Anwendung der Vorschriften des Kapitel V der Richtlinie auf diejenigen beschränken, deren familiäre Bindungen (also beispielsweise das Bestehen einer Ehe) bereits vor Einreise bestanden haben. Dies ist jedoch damit zu erklären, dass dieses Kapitel Konventionsflüchtlingen bestimmte Privilegien zugesteht, die den Familiennachzug vereinfachen1090. Nur den privilegierten Nachzug können also die Mitgliedstaaten einschränken. Für den „einfachen“ Familiennachzug zu Drittstaatsangehörigen soll dies allerdings nicht gelten, da hier Mindeststandards geschaffen wurden, die nicht noch weiter unterboten werden sollten. Sofern man also den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten unter den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie, nicht aber unter den des privilegierten Nachzugs des Kapitel V dieser Richtlinie fasst, ist eine Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung mit der Richtlinie nicht vorgesehen. Dies entspricht auch Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh, die beide weder nach den Umständen noch nach dem Zeitpunkt der Entstehung der familiären oder ehelichen Gemeinschaft unterscheiden1091. Aufgrund dieser Tatsachen dürfen auch die einzelnen Mitgliedstaaten keine Regelungen erlassen, die nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Familie differenzieren. So beruft sich der Europäische Gerichtshof auf den Grundsatz des effet utile und hält fest: „In Anbetracht dieses vom Unionsgesetzgeber gewollten Fehlens einer Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Familie und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit, die Bestimmungen der [Familienzusammenführungsrichtlinie] nicht eng auszulegen und nicht ihrer praktischen Wirksamkeit zu berauben, verfügten die 1088 BVerfG, Beschluss vom 19.12.2012, Az. 1 BvL 18/11, BVerfGE 133, 1 (13 f., Rn. 44); vgl. auch Beschluss vom 7.7.2009, Az. 1 BvR 1164/07, BVerfGE 124, 199 (220, Rn. 86); Beschluss vom 21.6.2011, Az. 1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49 (68 f., Rn. 64). 1089 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/08, NVwZ 2010, 697 (700, Rn. 59). 1090 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/08, NVwZ 2010, 697 (700, Rn. 60); vgl. zum privilegierten Nachzug: F. II. 2. b). 1091 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/09, NVwZ 2010, 697 (701, Rn. 63).

242

F. Europarechtliche Betrachtung

Mitgliedstaaten nicht über einen Wertungsspielraum, der es ihnen erlaubt hätte, diese Unterscheidung in ihre nationalen Rechtsvorschriften zur Umsetzung der Richtlinie einzuführen.“1092

Hierbei ist es auch unerheblich, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie und auch das Urteil des Gerichtshofs jeweils auf den Zeitpunkt „vor“ oder „nach“ der Einreise abstellen, während § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG die Flucht als maßgeblichen Zeitpunkt festlegt. Es geht um die unzulässige Unterscheidung nach einem Zeitpunkt, nicht darum, ob der maßgebliche Zeitpunkt die Einreise oder die Flucht ist. Außerdem sind vor der Flucht geschlossene Ehen freilich bereits vor der Einreise geschlossen. Der regelmäßige Ausschluss des Nachzugs von Ehegatten zu subsidiär Schutzberechtigten, die erst nach der Flucht geheiratet haben, ist somit nicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar und damit europarechtswidrig1093. Obgleich es sich nicht um Sekundärrecht der Europäischen Union handelt und es deshalb dogmatisch nicht exakt ist, einen möglichen Verstoß gegen die EMRK an dieser Stelle anzusprechen, so ist es doch inhaltlich sehr passend, da es auch um die Rechtmäßigkeit der Differenzierung nach Entstehung der familiären Bindungen geht. Denn nicht nur der Europäische Gerichtshof, sondern auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht in seinem Urteil vom 6. November 2012 eine Differenzierung beim Familiennachzug, je nachdem, ob die Familienbindung bereits vor oder erst nach der Flucht bestand, sehr kritisch1094. Dies stelle in seinen Augen eine ungerechtfertigte Diskriminierung und damit eine Verletzung von Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK dar1095. So führte der Gerichtshof für Menschenrechte aus: „[. . .] the Court sees no justification for treating refugees who married post-flight differently from those who married pre-flight. [. . .] However, where a measure results in the different treatment of persons in analogous positions, the fact that it fulfilled the State’s international obligation will not itself justify the difference in treatment. The Court therefore finds that there has been a violation of Article 14 of the Convention read together with Article 8.“1096

Ein Teil der Literatur bestreitet die Übertragbarkeit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. So seien die Situation und die Interessenlage eine wesentlich andere, da es bei der deutschen Regelung um eine „kontingentmäßige Beschränkung des Familiennachzugs im Interesse der Aufrechterhaltung der Integrations- und Aufnahme1092 EuGH, Urteil vom 4.3.2010, Az. C-578/09, NVwZ 2010, 697 (701, Rn. 64); mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 25.7.2008, Az. C-127/08, NVwZ 2008, 1097 (1100, Rn. 93). 1093 So auch Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135. 1094 S. hierzu bereits: D. II. 4. a). 1095 EGMR, Urteil vom 6.11.2012, Az. 22341/09, Rn. 55 f. 1096 EGMR, Urteil vom 6.11.2012, Az. 22341/09, Rn. 55 f.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

243

fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland“ ginge1097. Im Ausgangsfall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging es um die Frage, ob bestimmte Differenzierungskriterien im Falle eines an sich unbegrenzten Rechts auf Familiennachzug zulässig seien1098. Aber eben diese Kontingentierung rechtfertige bei der Frage der Schutzbedürftigkeit eine besondere Differenzierung und Hierarchie und sei deshalb sachlich gerechtfertigt1099. Es handelt sich in der Tat um eine unterschiedliche Ausgangssituation, ob grundsätzlich jedem das Recht auf Familiennachzug zustehe oder nur einem bestimmten monatlichen Kontingent. Bei letzterem ist eine Differenzierung nicht nur sachgerecht, sondern schlicht notwendig. Und vielleicht ist eine Familienbindung, die viele Jahre vor der Flucht bestand und jäh durch eine zur Flucht führende Situation, wie einen Bürgerkrieg, aufgelöst wurde, wirklich schutzwürdiger als eine Ehe, die während der Flucht und in Kenntnis der möglicherweise langjährigen Trennung geschlossen wurde. Insofern dürfte im Fall des kontingentierten Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ein sachlicher Grund für die Differenzierung vorliegen, der diese rechtfertigt, sodass keine Verletzung von Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK vorliegt. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist somit aufgrund der unterschiedlichen Ausgangslage nicht in Gänze auf § 36a AufenthG übertragbar. Im Gegensatz zu dem eindeutigen Wortlaut der Familienzusammenführungsrichtlinie, die keinen Spielraum und auch keine Rechtfertigung für die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindung gestattet, ist bei Art. 8 und Art. 14 EMRK beides möglich, da Raum für eine Abwägung mit anderen sachlichen Gründen besteht. Aus diesem Grund kommt man bei der Frage, ob der regelmäßige Ausschluss von nach der Flucht geschlossenen Ehen rechtmäßig ist, zu einem differenzierten Ergebnis: § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist zwar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar, aber nicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie. Insofern verstößt dieser Ausschlusstatbestand gegen europäisches Sekundärrecht und ist damit europarechtswidrig. d) § 36a AufenthG ist teilweise europarechtswidrig Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist somit teilweise europarechtswidrig. Sie steht nicht im Einklang mit der Familienzusammenführungsrichtlinie. Da der Ausschluss des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie sich nicht auf den Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie bezieht, ist die Richtlinie anwendbar. Auch wenn „subsidiäre Schutzformen“ ausgeschlossen sind, meint dies vielmehr die einzelstaatlichen Vorschriften aufgrund von nationalen und in1097 1098 1099

Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 100. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 100. Hailbronner, Ausländerrecht (Fn. 67), § 36a Rn. 100.

244

F. Europarechtliche Betrachtung

ternationalen Verpflichtungen, die der subsidiäre Schutz in seiner heutigen Form abgelöst hat. Der Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht entwickelt worden. Der Europäische Gerichtshof urteilt hier falsch, wenn er dennoch die Anwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie auf den subsidiären Schutz ausschließt. Dies widerspricht dem Willen der Mitgliedstaaten der Union, einerseits den Familiennachzug einheitlich auf europäischer Ebene zu regeln und andererseits das Schutzniveau von subsidiärem Schutz und Flüchtlingsschutz anzugleichen. Daraus folgt, dass sich für subsidiär Schutzberechtigte aus der Familienzusammenführungsrichtlinie ein Recht auf Herstellung der familiären und ehelichen Einheit ergibt. Diesem Recht steht der Ausschluss des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug nach § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG entgegen. Gleichzeitig kann dieses sich aus der Richtlinie ergebende Recht auf Nachzug von den Mitgliedstaaten eingeschränkt respektive an bestimmte Voraussetzungen geknüpft werden. So dürfen Mitgliedstaaten verlangen, dass die sich bereits im Land aufhaltenden Ausländer ausreichend Wohnraum vorweisen und den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien sichern können. Konventionsflüchtlinge sind allerdings aufgrund ihrer besonderen Situation hiervon befreit. Sie genießen also die Möglichkeit eines privilegierten Familiennachzugs. Auch wenn die Situation von subsidiär Schutzberechtigten ähnlich ist und ihre besondere Situation eine solche Privilegierung sicher rechtfertigen würde, können diese Ausnahmevorschriften nicht analog angewendet werden. Und auch wenn gegen die Eindeutigkeit des Wortlauts der Familienzusammenführungsrichtlinie spricht, dass es zu dem Zeitpunkt die Qualifikationsrichtlinie noch nicht gab, so zeigt sich doch anhand späterer Dokumente der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten, dass der europäische Gesetzgeber sich der Ungleichbehandlung von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten in diesem Punkt bewusst ist und sich auch bewusst dagegen entschieden hat, subsidiär Schutzberechtigten die Möglichkeit des privilegierten Nachzugs einzuräumen. Mangels Planwidrigkeit dieser Regelungslücke und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der restriktiven Auslegung von Ausnahmevorschriften können diese Vorschriften nicht analog angewendet werden. Bei der Entscheidung im Einzelfall ist im Rahmen einer Ermessensentscheidung aber unter Berücksichtigung der besonderen Lage von subsidiär Schutzberechtigten und zur Wahrung ihrer Grund- und Menschenrechte von dem Erfordernis der Erfüllung der Voraussetzungen im Ausnahmefall abzusehen. § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG erlaubt den zuständigen Behörden in Deutschland zudem, Ehen, die erst nach der Flucht geschlossen wurden, regelmäßig von der Möglichkeit des Familiennachzugs auszuschließen. Dieser regelmäßige Ausschluss widerspricht dem eindeutigen Wortlaut von Art. 2 lit. d und Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a der Familienzusammenführungsrichtlinie, nach dem der Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindung keine Rolle spielen darf. Lediglich der

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

245

privilegierte Familiennachzug zu Konventionsflüchtlingen darf gemäß Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie für familiäre Bindungen, die erst nach der Einreise entstehen, ausgeschlossen werden. Da diese Privilegien für subsidiär Schutzberechtigte aber gerade nicht gelten, kann der deutsche Staat von dieser Differenzierung keinen Gebrauch machen. Somit ist jede Unterscheidung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung mit der Familienzusammenführungsrichtlinie unvereinbar. Im Rahmen einer Abwägungsentscheidung wäre diese Differenzierung aber aufgrund der Sondersituation der Kontingentierung mit Art. 8 EMRK zu vereinbaren. Zwei Aspekte des § 36a AufenthG sind folglich nicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar. Erstens darf der deutsche Gesetzgeber den Rechtsanspruch auf Familiennachzug nicht ausschließen, obgleich er ihn an gewisse Bedingungen knüpfen darf, sofern diese im Einzelfall aus humanitären Gründen aufgeweicht werden können. Zweitens widerspricht der regelmäßige Ausschluss des Nachzugs für nach der Flucht geschlossene Ehen der Familienzusammenführungsrichtlinie. Insoweit ist das Familiennachzugsneuregelungsgesetz europarechtswidrig. 3. Europarechtswidrig und nun? – Die Folgen Doch was bedeutet es konkret, dass § 36a AufenthG teilweise gegen die Familienzusammenführungsrichtlinie verstößt und insoweit europarechtswidrig ist? Welche Folgen hat dies für das Familiennachzugsneuregelungsgesetz und für die subsidiär Schutzberechtigten selbst? Das Unionsrecht, unabhängig davon, ob es sich um Primärrecht oder Sekundärrecht handelt, hat gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten keinen Geltungs-, sondern einen Anwendungsvorrang1100. Dies bedeutet, dass das kollidierende nationale Recht nicht vollständig seine Gültigkeit verliert, sondern lediglich unanwendbar wird1101, und dies auch nur soweit, „wie es die Verträge erfordern und [. . .] erlauben“1102. Es handelt sich also nur um eine „Teilnichtigkeit“, die in nicht grenzüberschreitenden Bereichen die Geltung des nationalen Rechts weiterhin bestehen lässt1103. Der Grund für diese eingeschränkte Nichtigkeit liegt in der 1100 Ruffert (Fn. 980), Art. 288 AEUV Rn. 18 ff.; statt vieler bereits M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 136 ff., R. Streinz, Europarecht, 11. Aufl. 2019, Rn. 225; S. Beljin, Die Zusammenhänge zwischen dem Vorrang, den Instituten der innerstaatlichen Beachtlichkeit und der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 37 (2002), S. 351 (353); für den Geltungsvorrang: E. Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966, S. 113. 1101 Ruffert (Fn. 980), Art. 288 AEUV Rn. 18; J. Köndgen, in: Riesenhuber, Methodenlehre (Fn. 1023), § 6 Rn. 11; EuGH, Urteil vom 19.1.2010, Az. C-555/07, NZA 2010, 85 (88, Rn. 54). 1102 BVerfG, Urteil vom 30.6.2009, Az. 2 BvE 2, 5/08, 2 BvR 1010, 1022, 1259/08, 182/09, BVerfGE 123, 267 (398, Rn. 335). 1103 Köndgen, Methodenlehre (Fn. 1023), § 6 Rn. 11.

246

F. Europarechtliche Betrachtung

Tatsache, dass der Europäische Gerichtshof nicht die Befugnis hat, die Geltung von nationalem Recht aufzuheben1104. Neben der Nichtanwendung der entsprechenden nationalen Rechtsakte besteht eine weitere Möglichkeit im Falle der Kollision zwischen nationalem und europäischem Recht in der unionsrechtskonformen und insbesondere in der richtlinienkonformen Auslegung. Dieses Prinzip ist sowohl in der europäischen1105 als auch in der deutschen Rechtsprechung1106 anerkannt1107. Danach müssen nationale Gerichte das mitgliedstaatliche Recht „im Lichte des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie“1108 auslegen, und zwar „unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraums, den ihnen das nationale Recht einräumt, in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts“1109. Dies bedeutet für den konkreten Fall des § 36a AufenthG, dass sowohl der Ausschluss des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug als auch der regelmäßige Ausschluss von nach der Flucht geschlossenen Ehen vom Ehegattennachzug nicht anwendbar sind. Subsidiär Schutzberechtigten kann also nicht nur aus humanitären Gründen der Familiennachzug gestattet werden, sondern dieser ist zu gestatten, sofern sie die mit der Familienzusammenführungsrichtlinie im Einklang stehenden Voraussetzungen erfüllen. Gleichzeitig darf die zuständige Behörde nicht Ehegatten hiervon ausschließen, deren Ehe erst nach der Flucht geschlossen wurde. Doch nicht nur die deutschen Regelungen sind unanwendbar, auch die europäischen Regelungen, also die Bestimmungen der Familienzusammenführungsrichtlinie könnten direkt anwendbar sein. Im Wege richterlicher Rechtsfortbildung ist als Folge eines Verstoßes gegen die Umsetzungspflicht die Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien entstanden1110. Richtlinien können bei einer fehlenden oder fehlerhaften Umsetzung durch die Mitgliedstaaten auch unmittelbare Wirkung entfalten, falls die Umsetzungsfrist abgelaufen ist und soweit die Vorschriften der Richtlinie hinreichend bestimmt und

1104 Ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. hierzu nur: EuGH, Urteil vom 7.2. 1984, Az. 237/82, LMRR 1984, 8 (Rn. 6). 1105 Ständige Rechtsprechung des EuGH seit: EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Az. C14/83, NZA 1984, 157 (158, Rn. 26); Urteil vom 10.4.1984, Az. C-79/83, Rn. 26. 1106 So u. a. BVerfG, Urteil vom 8.4.1987, BVerfGE 75, 223 (237, Rn. 45); Beschluss vom 26.9.2011, Az. 2 BvR 2216/06, NJW 2012, 669. 1107 Ruffert (Fn. 980), Art. 288 AEUV Rn. 77; ausführlich zur richtlinienkonformen Auslegung von Richtlinien im Ausländer- und Asylrecht: K. Hailbronner, Die Wirkung ausländer- und asylrechtlicher EG-Richtlinien vor der Umsetzung ins deutsche Ausländerrecht, ZAR 2007, S. 6 ff. 1108 EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Az. C-14/83, NZA 1984, 157 (158, Rn. 26); Urteil vom 10.4.1984, Az. C-79/83, Rn. 26; Urteil vom 20.9.1988, Az. 31/87, NVwZ 1990, 353 (355, Rn. 39); Urteil vom 13.7.2000, Az. C-456/98, NJW 2000, 3267 (3268, Rn. 16). 1109 EuGH, Urteil vom 10.4.1984, Az. C-14/83, NZA 1984, 157 (158, Rn. 2); Urteil vom 10.4.1984, Az. C-79/83, Rn. 28. 1110 Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 46.

II. Vereinbarkeit mit europäischem Sekundärrecht

247

inhaltlich unbedingt sind1111. Die Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie im Falle ihrer Nichtumsetzung dient der praktischen Wirksamkeit (effet utile) ihrer Bestimmungen1112. Außerdem sollen die einzelnen Mitgliedstaaten nicht ihre eigenen Umsetzungsfehler als Ausrede nutzen dürfen, um gegen sie wirksame Bestimmungen aus Richtlinien nicht gelten zu lassen (venire contra factum proprium als Teil des Grundsatzes von Treu und Glauben oder auch estoppel-Prinzip)1113. Diese Rechtsfortbildung der unmittelbaren Wirksamkeit dient damit auch als Sanktion1114. Damit eine Richtlinie unmittelbar wirksam werden kann, muss zunächst der Mitgliedstaat die entsprechenden Regelungen der Richtlinie nicht oder fehlerhaft umgesetzt haben und die Umsetzungsfrist muss abgelaufen sein1115. Die direkt anzuwendende Regelung der Richtlinie muss gleichzeitig inhaltlich hinreichend bestimmt sein1116, also so genau gefasst sein, dass ein Gericht sie auf einen konkreten Sachverhalt unmittelbar anwenden kann1117. Außerdem muss sie inhaltlich unbedingt sein, was bedeutet, dass die Mitgliedstaaten bei der konkreten Regelung keinen Umsetzungsspielraum haben dürfen1118. Sofern diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann sich der Einzelne, dem durch die Richtlinie Rechte eingeräumt werden, unmittelbar auf die Richtlinie berufen und gegenüber dem Mitgliedstaat seine Rechte einfordern1119. Auch schon vor der Berufung auf die unmittelbare Geltung sind die Behörden

1111 T. von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 511; EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Az. C-148/78, BeckRS 2004, 71700 (1. Amtl. Ls.); Urteil vom 22.9. 1983, Az. C-271/82, BeckRS 2004, 72833 (2. Amtl. Ls.). 1112 Ständige Rechtsprechung des EuGH, s. u. a. EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Az. C148/78, BeckRS 2004, 71700 (Rn. 21); Urteil vom 1.2.1977, Az. 51/76, NJW 1977, 2022 (Rn. 20 ff.); Urteil vom 22.2.1990, Az. C-221/88, NJW 1991, 1409 (1410, Rn. 22); Urteil vom 24.10.1996, Az. C-72/95, NVwZ 1997, 473 (475, Rn. 56); Urteil vom 15.6.2000, Az. C-365/98, IStR 2000, 589 (590, Rn. 32). 1113 Ruffert (Fn. 980), Art. 288 AEUV Rn. 48; vgl. ständige Rechtsprechung: EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Az. C-148/78, BeckRS 2004, 71700 (Rn. 22, 46); Urteil vom 19.1.1982, Az. C-8/81, NJW 1982, 499 (500, Rn. 24); Urteil vom 26.2.1986, Az. C152/84, NJW 1986, 2178 (2180, Rn. 47); Urteil vom 22.2.1990, Az. C-221/88, NJW 1991, 1409 (1410, Rn. 22); Urteil vom 12.7.1990, Az. C-188/89, NJW 1991, 3086 (Rn. 16); Urteil vom 14.7.1994, Az. C-91/92, NJW 1994, 2473 (2474, Rn. 23 f.). 1114 BVerfG, Urteil vom 8.4.1987, BVerfGE 75, 223 (237, Rn. 45); Vedder (Fn. 95), Art. 288 AEUV Rn. 37; Ruffert (Fn. 980), Art. 288 AEUV Rn. 49. 1115 Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 48; EuGH, Urteil vom 5.4.1979, Az. C-148/78, BeckRS 2004, 71700 (1. Amtl. Ls.); Urteil vom 22.9.1983, Az. C-271/ 82, BeckRS 2004, 72833 (2. Amtl. Ls.). 1116 Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 48; vgl. EuGH, Urteil vom 17.12. 1970, Az. C-33/70, NJW 1971, 1006. 1117 EuGH, Urteil vom 22.9.1983, Az. C-271/82, BeckRS 2004, 72833 (Rn. 16); Urteil vom 26.2.1986, Az. C-152/84, NJW 1986, 2178 (2180 f., Rn. 52); Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 48. 1118 Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 48. 1119 Geismann (Fn. 919), Art. 288 AEUV Rn. 49.

248

F. Europarechtliche Betrachtung

und Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet, die unmittelbar anwendbaren Regelungen der Richtlinie von Amts wegen anzuwenden1120. Für die Neuregelung des Familiennachzugs bedeutet dies, dass der deutsche Gesetzgeber, indem er in § 36a Abs. 1 S. 3 den Rechtsanspruch ausschließt und den Familiennachzug nur aus humanitären Gründen, im Ermessen der zuständigen Behörden und für maximal 1.000 Menschen monatlich erlaubt, die Familienzusammenführungsrichtlinie, aus der sich ein Recht auf Familiennachzug ergibt, nicht beziehungsweise fehlerhaft umsetzt1121. Auch der Ausschluss der nach der Flucht geschlossenen Ehen vom Ehegattennachzug ist eine solche fehlerhafte Umsetzung. Das sich aus der Richtlinie ergebende Recht auf Familiennachzug ist hinreichend genau bestimmt, sodass es von den nationalen Gerichten und Behörden unmittelbar angewendet werden kann. Ein Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten hinsichtlich des an sich bestehenden Rechts auf Familienzusammenführung ist nicht vorgesehen. Die Richtlinie ist also auch inhaltlich unbedingt. Dies bedeutet, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie direkt anwendbar ist. Gleichzeitig hat der deutsche Gesetzgeber bis jetzt die Einschränkungsmöglichkeiten der Art. 6 ff. der Familienzusammenführungsrichtlinie noch nicht genutzt, sodass diese nicht nur nicht für Konventionsflüchtlinge, sondern bis zu einer entsprechenden nationalen Regelung auch nicht für subsidiär Schutzberechtigte gelten1122. Dies führt dazu, dass sich subsidiär Schutzberechtigte direkt auf die Familienzusammenführungsrichtlinie berufen dürfen, wenn sie ihr Recht auf Wiederherstellung der familiären oder ehelichen Einheit durchsetzen möchten. § 36a Abs. 1 S. 3 und § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG sind insoweit unanwendbar.

III. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist teilweise europarechtswidrig Im vorstehenden Kapitel wurden die Europarechtmäßigkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten insbesondere im Hinblick auf mögliche Verstöße gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh sowie eine mögliche Unvereinbarkeit der deutschen Regelung mit der Familienzusammenführungsrichtlinie überprüft. Dabei hat sich gezeigt, dass so scheinbar einfach, wie die Bundesregierung die europarechtliche Konformität der Neuregelung des Familiennachzugs proklamiert hat, der Fall nicht ist. So hatten sich insbesondere mit Hinblick auf einen Ausschluss des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug sowie die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung europarechtliche Zweifel ergeben, die einer tiefgreifenden Analyse und Diskussion bedurften. 1120 EuGH, Urteil vom 11.7.1991, Az. C-87–89/90, BeckRS 2004, 77858 (Rn. 15); Urteil vom 24.10.1996, Az. C-72/95, NVwZ 1997, 473 (475, Rn. 55). 1121 So auch Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135. 1122 Bartolucci/Pelzer, Begrenzung (Fn. 435), S. 135.

III. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist teilweise europarechtswidrig

249

Zunächst ist auf europarechtlicher Ebene das deutsche Familiennachzugsneuregelungsgesetz am Maßstab des supra- und internationalen Menschenrechtsschutzes und damit an der Europäischen Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention überprüft worden. Hierbei hat sich gezeigt, dass die deutsche Regelung nicht gegen Art. 8 EMRK oder Art. 7 GRCh verstößt, genauso wenig wie sie mit Art. 6 GG unvereinbar ist. Denn Art. 7 GRCh soll Art. 8 EMRK entsprechen und dieser vom Schutzniveau dem deutschen Art. 6 GG ähneln, sodass europaweit ein einheitlicher Grundrechtsschutz entsteht, der sich aus dem Dreiklang des nationalen verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes, des unionsrechtlichen Schutzes der Charta sowie des völkerrechtlichen Schutzes der Konvention ergibt. Für den konkreten Fall heißt dies, dass auch Art. 8 EMRK beziehungsweise Art. 7 GRCh dem Familienleben und insbesondere dem Kindeswohl eine hohe Bedeutung beimessen, aber gleichzeitig hieraus kein absoluter und sich direkt aus den Rechtsquellen ergebender Anspruch auf Familiennachzug folgt. Vielmehr entsteht hieraus die Pflicht der Gesetzgeber zu einer umfassenden Güter- und Interessenabwägung. Die Abwägungskriterien hierfür gleichen sich im europa-, völkerrechtlichen und national verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz, genauso wie das Schutzniveau und die Interpretation durch die Rechtsprechung, sodass die gleichen Maßstäbe bei Art. 8 EMRK, Art. 7 GRCh und Art. 6 GG zur Anwendung kommen. Im Rahmen der Prüfung des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG ist deutlich geworden, dass die Neuregelung einer umfassenden Abwägung standhält. Daraus folgt, dass eine weitere Abwägung im Rahmen der Überprüfung der Vereinbarkeit mit Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh zu keinem anderen Ergebnis kommen kann. Somit sind bei dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz die unterschiedlichen Rechtsgüter und Interessen hinreichend berücksichtigt, sodass dieses Gesetz mit Art. 8 EMRK und Art. 7 GRCh grundsätzlich vereinbar ist. Auf der anderen Seite muss das Familiennachzugsneuregelungsgesetz auch mit dem europarechtlichen Sekundärrecht vereinbar sein. Hier zeigt sich, dass die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten teilweise nicht im Einklang mit der Familienzusammenführungsrichtlinie steht und insoweit europarechtswidrig ist. Der Anwendungsausschluss des Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie bezieht sich nicht auf subsidiär Schutzberechtigte im Sinne der Qualifikationsrichtlinie, sondern auf „subsidiäre Schutzformen“, die sich aus einzelstaatlichen Vorschriften aufgrund von nationalen und internationalen Verpflichtungen ergeben, die vom unionsrechtlichen subsidiären Schutz in seiner heutigen Form abgelöst wurden. Diesen Schutz gab es zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Familienzusammenführungsrichtlinie noch nicht. Sie ist somit anwendbar. Sofern der Europäische Gerichtshof hier anders urteilt, liegt er falsch. Die Nichtanwendbarkeit der Familienzusammenführungsrichtlinie auf den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie widerspricht dem Willen der Mitgliedstaaten der Europäischen

250

F. Europarechtliche Betrachtung

Union, den Familiennachzug auf europäischer Ebene zu harmonisieren und das Schutzniveau von subsidiärem Schutz und Flüchtlingsschutz anzugleichen. Daraus folgt, dass sich für subsidiär Schutzberechtigte aus der Familienzusammenführungsrichtlinie ein Recht auf Herstellung der familiären und ehelichen Einheit ergibt. Diesem Recht steht der Ausschluss des Rechtsanspruchs auf Familiennachzug nach § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG entgegen. Die Vorschriften über den privilegierten Familiennachzug (Art. 9 ff. der Familienzusammenführungsrichtlinie), die für Konventionsflüchtlinge gelten, betreffen hingegen nicht subsidiär Schutzberechtigte. Grundsätzlich ist es möglich, dass der Familiennachzug zu ihnen an bestimmte Voraussetzungen wie die Sicherung des Lebensunterhalts oder das Bereitstellen von ausreichend Wohnraum geknüpft wird. Mangels Planwidrigkeit der Regelungslücke und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der restriktiven Auslegung von Ausnahmevorschriften verbietet sich auch eine analoge Anwendung. Denn trotz der vergleichbaren Interessenlage von subsidiär Schutzberechtigten und Konventionsflüchtlingen zeigt sich aus späteren Dokumenten, dass der Europäischen Kommission und den Mitgliedstaaten die Ungleichbehandlung von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten in diesem Punkt bewusst ist und diese sich auch bewusst dagegen entschieden haben, subsidiär Schutzberechtigten die Möglichkeit des privilegierten Nachzugs einzuräumen. Im Einzelfall muss allerdings im Rahmen einer Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der besonderen Lage von subsidiär Schutzberechtigten und zur Wahrung ihrer Grund- und Menschenrechte von den Voraussetzungen im Ausnahmefall abgesehen werden. Schließlich ist die Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Eheschließung, wie sie § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vornimmt, nicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar. Diese Vorschrift erlaubt es den zuständigen Behörden in Deutschland, Ehen, die erst nach der Flucht geschlossen wurden, regelmäßig von der Möglichkeit des Familiennachzugs auszuschließen. Dies widerspricht dem eindeutigen Wortlaut von Art. 2 lit. d und Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a der Familienzusammenführungsrichtlinie, nach dem der Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindung keine Rolle spielen darf. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist folglich in zwei Aspekten nicht mit der Familienzusammenführungsrichtlinie vereinbar und somit europarechtswidrig. Erstens darf der deutsche Gesetzgeber den Rechtsanspruch auf Familiennachzug nicht ausschließen. Zweitens widerspricht der regelmäßige Ausschluss des Nachzugs für nach der Flucht geschlossene Ehen der Familienzusammenführungsrichtlinie. Für die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten bedeutet dies, dass der Gesetzgeber damit die Richtlinie fehlerhaft umsetzt. Gleichzeitig ist das sich aus der Richtlinie ergebende Recht auf Familiennachzug hinreichend genau bestimmt und auch inhaltlich unbedingt, sodass die Familienzusammenführungsrichtlinie direkt

III. Die Neuregelung des Familiennachzugs ist teilweise europarechtswidrig

251

anwendbar ist. Dies führt also in der Folge dazu, dass sich subsidiär Schutzberechtigte direkt auf die Familienzusammenführungsrichtlinie berufen dürfen, wenn sie ihr Recht auf Wiederherstellung der familiären oder ehelichen Einheit durchsetzen möchten. § 36a Abs. 1 S. 3 sowie § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG sind insoweit unanwendbar.

G. Ergebnis Die Debatte um den Familiennachzug wird oftmals sehr emotional geführt. Es handelt sich schließlich auch um eine sehr emotionale Materie. Auf der einen Seite will, sollte und muss man Kindern, die ohne Eltern aufwachsen, helfen und getrenntlebende Ehegatten bei ihrer Zusammenführung unterstützen. Auf der anderen Seite muss der Staat gewährleisten, dass die Menschen integriert werden können, dass die sozialen Sicherungssysteme nicht übermäßig belastet werden und dass auch die Zivilgesellschaft die Aufnahmebereitschaft mitträgt und mittragen will. In einem derartigen emotionalen Spannungsfeld setzt der Gesetzgeber mit dem Familiennachzugsneuregelungsgesetz an. Diese Arbeit soll der Versachlichung der Thematik des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten dienen. Dabei wurden die verschiedenen Rechtsinstitute des Familiennachzugs und des subsidiären Schutzes mit all ihren Entfaltungen und rechtlichen Fragestellungen dargestellt, um eine rechtlich fundierte Grundlage für die Behandlung der neuen Gesetzgebung, der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten bereitzustellen. Im Anschluss wurde der Kern des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes, der § 36a AufenthG, erläutert und auf seine verfassungsrechtliche und europarechtliche Konformität hin untersucht. Der Familiennachzug, der unionsweit in der Familienzusammenführungsrichtlinie und in Deutschland in den §§ 27 ff. AufenthG geregelt ist, stellt einen der wichtigsten Gründe dar, weshalb Menschen nach Deutschland einwandern. Allein im Jahr 2017 kamen 21,1 % aller Drittstaatsangehörigen, die nach Deutschland gezogen sind, aufgrund von familiären Gründen nach Deutschland1123. Seine Bedeutung darf deshalb nicht unterschätzt werden. Des Weiteren ist der Familiennachzug eines der Spannungsfelder, bei denen der grundsätzlich weite Entscheidungsspielraums eines Staates hinsichtlich der Gewährung und Kontrolle der Zuwanderung in das Staatsgebiet durch grund- und menschenrechtliche Vorgaben wie Art. 6 GG, Art. 7 GRCh oder Art. 8 EMRK eingegrenzt ist. Entgegen manchen Äußerungen in der öffentlichen Debatte ist der Familiennachzug kein Freilos, bei dem jeder, der einmal nach Deutschland eingereist ist, unmittelbar seine ganze Großfamilie nachholen darf. Das Recht auf Familienzusammenführung ist nur für die Kernfamilie, also für Ehegatten, minderjährige Kinder und Eltern von minderjährigen Kindern möglich und unterliegt strikten Anforderungen. Neben dem gültigen Aufenthaltstitel des Nachholenden müssen beispielsweise Ehegatten volljährig sein und Sprachkenntnisse vorweisen oder Kinder, die 1123

BAMF, Migrationsbericht der Bundesregierung 2016/2017, 23.1.2019, S. 66.

G. Ergebnis

253

das 16. Lebensjahr abgeschlossen haben, ebenfalls Sprachkenntnisse oder eine positive Integrationsprognose vorweisen. Manche der Anforderungen, die an den Familiennachzug gestellt werden, werden sogar als zu streng oder verfassungswidrig angesehen, auch wenn dies oftmals nicht der Fall ist. Indes gelten einige Voraussetzungen nicht für den Nachzug zu Menschen, denen der Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen gewährt wird. Dies betrifft nicht den nachzugsfähigen Personenkreis, sondern manche der Voraussetzungen. Das liegt an der besonderen Schutzwürdigkeit dieses Personenkreises und der Tatsache, dass ihm eine Rückkehr oder eine Familienzusammenführung in Drittstaaten oftmals nicht möglich ist. Innerhalb des Familiennachzugs zu Drittstaatsangehörigen gibt es weiterhin zwei Einzelthemen, die nicht abschließend geklärt sind und bei denen durch Auslegung oder durch Einschreiten des Gesetzgebers Lücken geschlossen werden müssen. Einerseits betrifft dies die Frage des relevanten Zeitpunkts für die Bestimmung der Minderjährigkeit beim Elternnachzug nach § 32 AufenthG, andererseits die rechtliche Möglichkeit des Nachzugs von minderjährigen Geschwistern. Beim „umgekehrten“ Familiennachzug reisen Eltern zu ihren Kindern. Da sich aber sowohl die Asylantragstellung des Kindes als auch die Antragstellung auf Familienzusammenführung sowie die jeweilige Gewährung über viele Monate oder teilweise sogar Jahre ziehen kann, werden manche Kinder in der Zwischenzeit volljährig. Hierbei ist entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts als maßgebliches Alter das Alter zum Zeitpunkt der Asylantragstellung zu Grunde zu legen. Eine andere Auffassung würde zu rechtsunsicheren und für den jeweiligen Minderjährigen oder nicht mehr Minderjährigen nicht beeinflussbaren Ergebnissen führen, da sein Schicksal und das seiner Familie ganz von der Belastung und Schnelligkeit der zuständigen Behörden abhängig wäre. Für den Fall des Geschwisternachzugs gibt es keine eindeutigen Regelungen im Gesetz, sodass sich hier eine Lücke auftut. Dennoch sollten nicht nur die Eltern, sondern auch andere minderjährige Kinder das Recht erhalten, zu ihren minderjährigen Geschwistern nachzuziehen. Hierbei scheint die Lösung, dass minderjährige Geschwister gemäß § 32 AufenthG i.V. m. § 36 Abs. 1 AufenthG nach Deutschland nachziehen, als die dogmatisch beste. Die Geschwister reisen hierbei im Zuge des Kindernachzugs nach § 32 AufenthG zu ihren Eltern nach, die ihrerseits gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG zu ihren Kindern nachziehen1124. Alle können hierbei gemeinsam nach Deutschland einreisen1125. Für beide Bereiche gilt, dass beim Schutz von Minderjährigen eine eher großzügigere Auslegung anzuwenden und im Zweifel zugunsten des Schutzes der Familie und insbesondere der Minderjährigen zu entscheiden ist.

1124 UNHCR Deutschland, Familienzusammenführung zu Personen mit internationalem Schutz, Asylmagazin 2017, S. 132 (135); Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 16. 1125 Tewocht (Fn. 22), § 36 Rn. 16.

254

G. Ergebnis

Im Gegensatz zum Familiennachzug, der seit vielen Jahrzehnten schon gestattet und geregelt ist, ist der subsidiäre Schutz, der in Deutschland in § 4 AsylG geregelt ist, noch relativ jung. Beiden Rechtsinstituten ist gemeinsam, dass sie europarechtlich geregelt sind. Der subsidiäre Schutz, wie er heute besteht, entstammt der Qualifikationsrichtlinie. Bei diesem Schutzstatus und dieser Richtlinie handelt es sich um einen legislativen Kompromiss, der zwei Zwecke vereinen soll. Auf der einen Seite stand das Anliegen, die unterschiedlichen nationalen Schutzstatus zu vereinheitlichen und in einem neben der Genfer Flüchtlingskonvention bestehenden neuen Schutzbegriff aufgehen zu lassen, auf der anderen Seite der Wunsch, eine Harmonisierung der völkerrechtlichen Verpflichtungen auf supranationaler Ebene und somit einen gleichstarken Schutz zu erreichen1126. Aufgrund dieser Zielsetzungen des Kompromisses ist ein Schutzstatus entstanden, der auf Tatbestandsebene einen gewissen Gleichlauf zum Flüchtlingsschutz wahrt, allerdings auf Rechtsfolgenseite deutlich weniger Rechte zugesteht. Der subsidiäre Schutz ist vom Wortlaut her als unterstützender oder behelfsmäßiger Schutz im Vergleich zum Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention entstanden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es ein minderwertigerer Schutzstatus ist, sondern vielmehr, dass seine Voraussetzungen erst geprüft werden, sofern die Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes nicht vorliegen. Denn genau wie beim Flüchtlingsschutz drohen den Betroffenen beim subsidiären Schutz mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Beeinträchtigungen grundlegender Menschenrechte und Rechtsgüter, die nicht auf einer Skala von „weniger“ bis „mehr“ verletzend gemessen werden können1127. Gleichzeitig ist der subsidiäre Schutz auch nicht nur ein „vorübergehender“ oder vorläufiger“ Schutzstatus. Er besteht fort, solange die Bedrohung durch einen ernsthaften Schaden für den subsidiär Schutzberechtigten fortbesteht. Dies gilt genauso für den Schutzstatus für Konventionsflüchtlinge, der auch nur gewährt wird, solange Verfolgung droht. Insofern sind beide Schutzstatus gleich „vorübergehend“ wie sie es auch zugleich nicht sind. Innerhalb des subsidiären Schutzes ist die wichtigste Fallgruppe die des § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG, nach der ein ernsthafter Schaden auch die ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gilt. Dabei ist insbesondere die Feststellung des individuellen Bezuges schwierig und scheint im Widerspruch zur Willkürlichkeit der Gewalt zu stehen, da ja Willkür gerade bedeutet, dass es jederzeit jeden ohne jedwedes System dahinter treffen kann. Zur Lösung dieses Widerspruchs stellt die deutsche und europäische Rechtsprechung auf die Verdichtung der Gefahr ab. Die individuelle Gefährdung ergibt sich entweder dann, wenn das allgemeine Gefahrenniveau oder der Grad der Willkür so hoch sind,

1126 1127

Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 410. Bast, Subsidiärer Schutz (Fn. 165), S. 412 f.

G. Ergebnis

255

dass eine Person in diesem Gebiet jederzeit ernsthaften Schaden nehmen kann, oder aber, wenn sich die individuelle Bedrohung durch willkürliche Gewalt aus in der Person des Schutzsuchenden liegenden gefahrenerhöhenden Umständen ergibt1128. Bei der Untersuchung des subsidiären Schutzes und seiner Abgrenzung zum Flüchtlingsschutz lässt sich auch ein für Deutschland relevantes Sonderproblem betrachten. Insbesondere 2015, aber auch in den Jahren danach und teilweise auch davor, sind ein Großteil der Menschen, die Schutz in Deutschland suchen, syrische Staatsangehörige. Auch wenn es genauso wenig, wie es „den syrischen Staatsangehörigen“ gibt, „den Schutzstatus des syrischen Staatsangehörigen“ gibt und der Einzelfall betrachtet werden muss, so sind doch viele syrische Staatsangehörige in den letzten Jahren aus sehr ähnlichen Gründen geflohen und ihre Hintergründe vergleichbar. Eine Annäherung an die Frage, welcher Schutzstatus ihnen in einem Großteil der Fälle gewährt werden sollte, ist deshalb möglich. Die deutschen Verwaltungsgerichte sind sich in dieser Frage nicht einig, und auch das BAMF selbst hat seine Entscheidungspraxis ab 2016 vollkommen verändert. Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe dafür, dass Menschen, die aus Syrien illegal ausreisen und Zuflucht in einem westeuropäischen Land wie Deutschland suchen, der Flüchtlingsstatus gewährt werden sollte. Denn aufgrund dieses Nachfluchttatbestandes im Sinne von § 28 AsylG droht jedem Verfolgung, sobald er nach Syrien zurückreist, da das syrische Regime diesem eine oppositionelle Gesinnung zuschreibt. Hiergegen wird eingewandt, dass sich diese Position aufgrund der massenhaften Ausreise der letzten Jahre nicht mehr länger halten lässt. Dabei wird neben den rein logistischen Herausforderungen einer solchen Verfolgung allerdings immer wieder dem syrischen Regime eine gewisse Rationalität und Realitätsnähe in seinen Entscheidungen zuerkannt und dies sogar noch mit einem propagandistischen Fernsehinterview des Diktators Baschar al-Assad belegt, die einen nur verwundern können. Denn an ein unberechenbares, sich im Überlebenskampf befindendes Regime, das ohne Rücksicht die eigene Zivilbevölkerung angreift, kann man nicht die gleichen Maßstäbe für rationales Regieren ansetzen wie an ordentliche Regierungen. Ein solches Zugeständnis von rationalem und logischem Verhalten als Begründung dafür, dass Rückkehrern keine Verfolgung drohe, lässt selbst eine gewisse Rationalität und Logik vermissen. Dabei muss hier allerdings dennoch differenziert werden, da es ansonsten an der Zielgerichtetheit und damit an der Verknüpfung zwischen der Verfolgung und dem Verfolgungsgrund fehlt. Insbesondere Flüchtlinge, die nach Westeuropa fliehen, hier Asyl beantragen und sich in Westeuropa aufhalten, sind im Falle ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr von Verfolgungsmaßnahmen aufgrund ihrer (vermeintlichen) oppositionellen Gesinnung ausgesetzt. 1128 BVerwG, Urteil vom 14.7.2009, Az. 10 C 9/08, NVwZ 2010, 196; Kluth (Fn. 22), § 4 Rn. 23.

256

G. Ergebnis

Nachdem diese grundsätzlichen Fragen zum besseren Verständnis der Neuregelung des Familiennachzugs erläutert wurden, geht es im Kern um die Verknüpfung der beiden Rechtsinstitute Familiennachzug und subsidiärer Schutz durch die Untersuchung der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten und § 36a AufenthG. Das Grundgerüst gleicht dabei zunächst den allgemeinen Regeln für den Familiennachzug. Nur die Kernfamilie ist nachzugsberechtigt, und dies auch nur, wenn der Nachholende einen gültigen Aufenthaltstitel besitzt. Die Einschränkungen des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten betreffen insbesondere zwei Punkte. Zum einen ist gemäß § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG der Rechtsanspruch auf Familiennachzug ausgeschlossen. An seine Stelle rückt ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, denn der Familiennachzug steht fortan im Ermessen der Behörden, sofern humanitäre Gründe hierfür vorliegen. Gerade dieser Rechtsanspruchsausschluss entfachte verfassungs- und europarechtliche Bedenken. Eine weitere Einschränkung, die vor allem in den Koalitionsgesprächen und in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, ist die Kontingentierung des Familiennachzugs auf eine „Obergrenze“ von maximal 1.000 Visa monatlich. Dies ist der entscheidende Punkt der Neuregelung, die den Familiennachzug und damit die Zuwanderung nach Deutschland insgesamt entschleunigen soll. Diese Kontingentierung lässt dabei einen entscheidenden Aspekt unbeachtet. Denn eine genaue Ausgestaltung, nach welchen Kriterien der Familiennachzug priorisiert und geordnet werden soll, ist, bis auf den Auftrag zur besonderen Berücksichtigung des Kindeswohls, bislang durch den Gesetzgeber nicht erfolgt. Zwar konnte das Bundesverwaltungsamt bislang aufgrund des geringen Andrangs nach Eingang bescheiden, jedoch scheint es sinnvoll, für den Fall des Anstiegs der Anträge auf Familiennachzug ein transparentes und genaues Verfahren für eine Priorisierung der Anträge zu entwickeln. Dies kann durch entsprechende Verordnungen oder allgemeine Verwaltungsvorschriften geschehen. Durch die singuläre Zuständigkeit des Bundesverwaltungsamtes und der Berliner Verwaltungsgerichtsbarkeit1129 ist hierbei aber auch eine weitere Ausgestaltung durch die Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis abzuwarten. Daneben regelt der § 36a Abs. 3 AufenthG neue Regelausschlusstatbestände, die in Form eines umgekehrten intendierten Ermessens ausgestaltet sind, sodass man sie vereinfacht auch als „Soll-Nicht“ Vorschriften bezeichnen kann. Dabei sind insbesondere zwei Ausschlusstatbestände kritisch zu bedenken. Einerseits bestehen erhebliche europarechtliche Zweifel an dem Ausschluss von erst nach der Flucht geschlossenen Ehen (§ 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG), da dies im Widerspruch zu der Familienzusammenführungsrichtlinie und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stehen könnte, die eine Differen-

1129 Für die gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen im Rahmen des § 36a AufenthG ist erstinstanzlich ausschließlich die 38. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin zuständig, vgl. Krause, Familiennachzug (Fn. 10), S. 198.

G. Ergebnis

257

zierung nach dem Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindung untersagen. Andererseits wird kritisiert, dass der Nachzug zu subsidiär Schutzberechtigten ausgeschlossen wird, die schwere Straftaten begehen (§ 36a Abs. 3 Nr. 2 lit. a–d AufenthG), da so die Familie für das Verhalten eines Angehörigen in „Sippenhaft“ genommen werde. Hierbei wird jedoch übersehen, dass es sich dabei um einen Aspekt einer abwägenden Integrationsprognose handelt und die Nichtgewährung des Familiennachzugs einher mit einer Abschiebung aufgrund solcher Straftaten gehen kann. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ist neben diesen eher kleineren problematischen Aspekten auch im Ganzen verfassungsrechtlich umstritten. Hierbei ist an einen möglichen Verstoß gegen Art. 6 und Art. 3 GG sowie gegen das Bestimmtheitsgebot zu denken, wobei die entscheidende Norm zur verfassungsrechtlichen Überprüfung des Familiennachzugs freilich Art. 6 Abs. 1 GG ist. Dabei hat sich gezeigt, dass das Familiennachzugsneuregelungsgesetz mit dem Recht auf Ehe und Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist. Das Bundesverfassungsgericht fällte im Jahr 1987 eine bekannte Grundsatzentscheidung zum Familiennachzug 1130, die bis heute für die Verfassungsmäßigkeit des Familiennachzugs wegwegweisend ist. Befürworter und Gegner des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes begründen ihre Position mit bestimmten Aspekten dieses Urteils. So ergebe sich laut den Karlsruher Richtern mangels Anspruchs auf Familiennachzug nach Deutschland durch eine Begrenzung des Familiennachzugs kein Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG1131. Gleichzeitig zeige dieses Urteil, dass eine gesetzlich ausgelöste familiäre Trennung von über drei Jahren sowie ein Familiennachzug nach „Warteschlangenprinzip“ durch eine Kontingentierung verfassungswidrig seien1132. Zwar ergibt sich aus Art. 6 Abs. 1 GG direkt und unmittelbar kein Anspruch auf Aufenthalt im Sinne eines absoluten Rechts wie beispielsweise aus Art. 11 oder Art. 16a Abs. 1 GG. Aber das Grundgesetz verpflichtet die Bundesrepublik dennoch zum Schutz von Ehe und Familie. Aus diesem Grund haben subsidiär Schutzberechtigte einen Anspruch darauf, dass ihre verfassungsrechtlich gesicherten Rechte vom Staat berücksichtigt werden. Darauf aufbauend folgt auch ein Eingriff in das Recht auf Ehe und Familie, da die Neuregelung des Familiennachzugs das eheliche und familiäre Zusammenleben in Deutschland behindert und ein solches in einem Drittstaat oder dem Herkunftsland für den subsidiär Schutzberechtigten wegen der Gefährdung durch einen ernsthaften Schaden

1130 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 ff. 1131 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (47, Rn. 96). 1132 BVerfG, Beschluss vom 12.5.1987, Az. 2 BvR 1226/83, 101, 313/84, BVerfGE 76, 1 (65 f., 70, Rn. 134, 145).

258

G. Ergebnis

regelmäßig unmöglich oder unzumutbar ist. Insbesondere der letztere Punkt ist hierbei entscheidend, denn ansonsten ergibt sich aus dem Grundgesetz kein Recht auf den bevorzugten Ort des familiären Zusammenlebens. Trotz dieses Umstandes ist der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da eine angemessene und ausreichende Abwägung der widerstreitenden Interessen durch das Gesetz gewahrt bleibt und der Staat ein Recht auf Ordnung der Zuwanderung und auch ein berechtigtes Interesse daran hat, dass die Integrations- und Aufnahmekapazitäten der staatlichen Einrichtungen und der Zivilgesellschaft nicht überfordert werden. Hierbei muss zum einen bedacht werden, dass es sich um eine Rechtskreiserweiterung des subsidiär Schutzberechtigten und seiner Angehörigen handelt und der Staat ihnen nicht bestehende Rechtspositionen entreißt. Vor allem aber ist bei dieser Abwägung zu bedenken, dass es sich nicht um einen kompletten Ausschluss des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten handelt, sondern dieser nur an strengere Voraussetzungen geknüpft wird. Bislang war der Andrang auf den Familiennachzug auch noch nicht so groß, dass Anträge abgelehnt oder auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden mussten, sodass eine unverhältnismäßig lange Verzögerung aufgrund des Familiennachzugsneuregelungsgesetzes bislang nicht ersichtlich ist. Für Härtefälle steht außerhalb des Kontingents darüber hinaus weiterhin der Weg über §§ 22, 23 AufenthG offen. Die beiden sich angeblich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ergebenden Grundsätze, dass Trennungsdauern über drei Jahre und Kontingente verfassungswidrig sind, lassen sich auch nicht einfach auf die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten übertragen. Denn ohne den Zusammenhang zu beachten, lassen sich einzelne Aussagen wie eine starre maximale Trennungsdauer von drei Jahren oder die Aussage zu Kontingenten und Warteschlangen nicht anwenden. Ganz abgesehen von dem unterschiedlichen Hintergrund waren die Aussagen zur dreijährigen Trennungsdauer das Ergebnis einer umfassenden Abwägung und betrafen eine Ehebestandszeit von drei Jahren, bei der es sich um einen festen vom Gesetzgeber vorgesehenen Zeitraum handelte. Eine deutliche Verlängerung der Trennung und eine Trennung über mehrere Jahre sind aber durch das Familiennachzugsneuregelungsgesetz weder indiziert noch intendiert. Und auch die Aussage zu der Kontingentierung des Familiennachzugs bezieht sich nicht auf ein generelles Verbot solcher Kontingente, sondern nur darauf, dass ein Wegfall der Einzelfallprüfung aufgrund eines Familiennachzugs nach dem „Warteschlangenprinzip“ unverhältnismäßig sei. Die Einzelfallprüfung des Familiennachzugsantrags wird jedoch durch § 36a AufenthG nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar angelegt, indem sowohl die Gewährung als auch der Ausschluss im Ermessen der Behörden stehen. Die Neuregelung des Gesetzes verstößt auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, obgleich subsidiär Schutzberechtigte und Konventionsflüchtlinge ungleich behandelt werden. Denn dies steht dem Gesetzgeber in seiner Gestaltungsfreiheit, an verschiedene Tatbestände unterschiedliche Rechtsfolgen zu knüpfen, zu. Auch ist

G. Ergebnis

259

eine Ungleichbehandlung der beiden Schutzstatus schon bei der Entstehung des subsidiären Schutzes vom europäischen Gesetzgeber angelegt wurden. Der Grad der Ungleichbehandlung ist darüber hinaus im Vergleich zu den sachlichen Gründen des Gesetzgebers, dem Schutz vor Überforderung der Aufnahme- und Integrationssysteme, auch angemessen, da der Familiennachzug nicht generell ausgeschlossen, sondern nur verzögert beziehungsweise eingeschränkt wird. Die Neuregelung genügt ebenfalls dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 20 Abs. 3 GG, auch wenn § 36a AufenthG nicht genau bestimmt, wie die Auswahl der subsidiär Schutzberechtigten bei der Kontingentierung zu treffen ist. Die fehlende Bestimmtheit bezieht sich nicht auf für den subsidiär Schutzberechtigten nachteilige Regelungen, da der Anspruch auf Nachzug eindeutig ausgeschlossen ist. Mit Unklarheit ist vielmehr die mögliche Gewährung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten, also eine vorteilhafte Ermessensentscheidung, behaftet. Wegen der singulären Zuständigkeit des Bundesverwaltungsamtes droht auch keine Rechtsanwendungszersplitterung. Dabei ist zudem zu bedenken, dass aufgrund der teilweise komplizierten Lage in den Herkunftsländern und der Auslandsbezogenheit eine Einzelfallbetrachtung und deshalb ein gewisser Spielraum der Verwaltung sinnvoll ist, was ein einzelnes Gesetz nicht leisten kann. Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten muss auch den Anforderungen des europäischen Rechts genügen. Dabei ist weniger die Vereinbarkeit mit den Grund- und Menschenrechten problematisch. Das Familiennachzugsneuregelungsgesetz verstößt genauso wenig gegen Art. 8 EMRK oder Art. 7 GRCh wie gegen Art. 6 GG. Denn der Umfang des Schutzes dieser Grund- und Menschenrechte, genauso wie seine Auslegung, ähneln einander stark. Dies ist auch bezweckt. Denn so soll ein europaweit einheitlicher Grundrechtsschutz, bestehend aus dem Dreiklang des nationalen verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes, des unionsrechtlichen Schutzes der Charta sowie des völkerrechtlichen Schutzes der Konvention, gewährleistet werden. Für den Familiennachzug bedeutet dies, dass die einzelnen Abwägungskriterien und der Abwägungsrahmen, in dem das Recht auf Familienleben steht, sich in allen drei Grundrechtequellen gleichen und der Schutz nach Art. EMRK oder Art. 7 GRCh in dem konkreten Fall nicht weitgehender ist als der des Art. 6 GG. Da das Familiennachzugsneuregelungsgesetz einer umfassenden Abwägung am Maßstab des Art. 6 Abs. 1 GG standhält, folgt hieraus, dass aufgrund der gleichen bereits genannten Argumente das Gesetz auch nicht gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte oder die Europäische Grundrechtecharta verstößt. Indes verhält es sich ganz anders mit der Vereinbarkeit der Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten mit dem europäischen Sekundärrecht. Der Familiennachzug und der subsidiäre Schutz sind beides Rechtsinstitute, die im Wesentlichen europarechtlich determiniert sind durch die Familienzusammenführungsrichtlinie und die Qualifikationsrichtlinie, sodass bei einer Vereinbarkeit mit dem Europarecht beide zurate gezogen werden müssen. Grund-

260

G. Ergebnis

sätzlich erwächst aus Art. 3 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie ein subjektives Recht auf Familienzusammenführung zu Drittstaatsangehörigen, die einen Aufenthaltstitel mit einer Mindestgültigkeitsdauer von einem Jahr besitzen und Aussicht auf einen dauerhaften Aufenthalt haben. Hiervon ausgeschlossen ist aber gemäß Art. 3 Abs. 2 lit. c der Familienzusammenführungsrichtlinie der Nachzug zu Menschen, denen aufgrund „subsidiärer Schutzformen“, die sich aus einzelstaatlichen Vorschriften aufgrund von nationalen und internationalen Verpflichtungen ergeben, Schutz gewährt wird. Der Bundesgesetzgeber und auch der Europäische Gerichtshof gehen deshalb davon aus, dass der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie fällt. Diese Rechtsansicht ist nicht haltbar. Bei dem subsidiären Schutz im Sinne der Qualifikationsrichtlinie handelt es sich um einen eigenständigen Schutzstatus, der weder aufgrund nationaler noch aufgrund internationaler Verpflichtungen, sondern allein aufgrund des Europarechts gewährt wird und von der Familienzusammenführungsrichtlinie noch nicht umfasst war, weil er zu diesem Zeitpunkt nicht existierte. Die Nichtanwendung der Familienzusammenführungsrichtlinie auch auf den Nachzug zu Menschen, die diesen neuen unionsrechtlichen Schutz genießen, widerspricht dem Willen der Europäischen Union, den Familiennachzug auf europäischer Ebene zu harmonisieren und das Schutzniveau von subsidiärem Schutz und Flüchtlingsschutz anzugleichen. Aus diesem Grund gewährt die Familienzusammenführungsrichtlinie ein Recht auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten im Sinne der Qualifikationsrichtlinie. Daraus folgt, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem § 36a AufenthG die Familienzusammenführungsrichtlinie fehlerhaft umgesetzt hat. Da gleichzeitig die Bestimmung, die ein Recht auf Nachzug gewährt, hinreichend genau bestimmt und auch inhaltlich unbedingt ist, ist die Richtlinie direkt anwendbar. Dementsprechend können sich subsidiär Schutzberechtigte direkt auf die Familienzusammenführungsrichtlinie berufen, wenn sie ihr Recht auf Wiederherstellung der familiären oder ehelichen Einheit durchsetzen möchten. § 36a Abs. 1 S. 3 AufenthG ist insoweit unanwendbar. Hierauf aufbauend kann man zwar überlegen, ob nicht nur die Familienzusammenführungsrichtlinie allgemein, sondern auch die Vorschriften zum privilegierten Familiennachzug zu Konventionsflüchtlingen für subsidiär Schutzberechtigte gelten, sodass der Nachzug zu ihnen nicht an Voraussetzungen wie die Sicherung des Lebensunterhaltes geknüpft werden kann. Mangels Planwidrigkeit der Regelungslücke und aufgrund des Grundsatzes der restriktiven Auslegung von Ausnahmevorschriften ist eine analoge Anwendung jener Vorschriften ausgeschlossen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass im Einzelfall im Rahmen einer Ermessensentscheidung im Einklang mit den Grund- und Menschenrechten von solchen Voraussetzungen abzusehen ist. Schließlich widerspricht der regelmäßige Ausschluss vom Familiennachzug von Ehen, die erst nach der Flucht geschlossen wurden, gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG dem eindeutigen Wortlaut von Art. 2 lit. d und Art. 4 Abs. 1 UAbs. 1 lit. a der Familienzusammenführungsricht-

G. Ergebnis

261

linie, nach denen der Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindung keine Rolle spielen darf. Diese Arbeit soll der Versachlichung der teilweise emotional geführten Debatte rund um den Familiennachzug dienen und diesem eine rechtlich fundierte Grundlage bieten. Hierbei hat sich gezeigt, dass sowohl der Familiennachzug als auch der subsidiäre Schutz an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind, und nicht einfach jeder, der in Deutschland die Grenze übertritt, im nächsten Moment seine ganze Großfamilie nachholen darf. Es ist auch deutlich geworden, dass subsidiär Schutzberechtigte keine Schutzsuchenden zweiter Klasse sind, sondern dass die Gründe, warum ihnen in Deutschland Schutz gewährt wird, denen von Konventionsflüchtlingen bezüglich der Schwere der Bedrohungslage in nichts nachstehen. Die Trennung zwischen diesen beiden Schutzstatus und die richtige Bescheidung stellt die Praxis oftmals vor große Herausforderungen. Zugleich ist festzustellen, dass die Neuregelung des Familiennachzugs nicht so strikt ist, wie es teilweise im öffentlichen Diskurs suggeriert wurde. Der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten bleibt nach wie vor möglich. Er ist nur durch die Voraussetzung der „humanitären Gründe“ und ein Kontingent eingeschränkt. Doch zeigen die ersten Zahlen zu den Anträgen und der Gewährung des Familiennachzugs, dass dies weder zu einer unüberwindbaren Hürde noch zu einem „Nadelöhr“ geführt hat. Vielmehr konnte bisher der Familiennachzug rein nach Antragseingang beschieden werden. Dennoch erscheint es sinnvoll und richtig, dass für den Fall, dass sich dies ändern sollte, eine transparente und gut durchdachte Verwaltungspraxis gefunden wird, wie bei den Anträgen priorisiert werden kann. Die Regelung ist auch nicht schlechterdings verfassungswidrig. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten den Anforderungen des Grundgesetzes sowie der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Europäischen Grundrechtecharta standhält und somit verfassungskonform ist. Allerdings erfüllt die Neuregelung nicht die Voraussetzungen der Familienzusammenführungsrichtlinie und ist insofern europarechtswidrig. Subsidiär Schutzberechtigte haben ein Recht auf Familienzusammenführung, das der deutsche Gesetzgeber nicht ausschließen kann. Die Neuregelung des Familiennachzugs muss geändert werden, um das Umsetzungsdefizit und die Europarechtswidrigkeit zu beseitigen. Hierbei ist zwei Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes zu bedenken, wie sinnvoll eine solche Beschränkung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten noch ist. Diente das Gesetz in seiner Idee dem richtigen und wichtigen Ziel, die staatlichen Strukturen vor Überforderung zu schützen, kann man sich heute fragen, ob man dafür dieses Gesetz noch braucht. Denn die Migration nach Deutschland hat in den letzten Jahren, wenn auch auf einem hohen Niveau, aber nichtsdestoweniger abgenommen. Der Familiennachzug ist doch nicht so stark wie erwartet, wie man an der Tatsache erkennt, dass der Andrang so gering ist, dass bisher alle Anträge nach Eingang gewährt werden konnten. Gleichzeitig zeigt sich, dass die

262

G. Ergebnis

Überforderung der staatlichen Aufnahme- und Integrationssystem unter Umständen doch nicht so droht, wie zunächst angenommen wurde, was sich an der Bereitschaft vieler Kommunen zeigt, mehr Schutzberechtigte aufzunehmen, als ihnen zugewiesen werden1133. Und schließlich sollte der Hauptgruppe der Einwanderer, die zurzeit subsidiären Schutz genießen, syrischen Staatsbürgern, regelmäßig der Flüchtlingsschutz gewährt werden, sodass auch für sie die Regelung nicht mehr relevant ist. Neben diesen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten spricht gegen die aktuelle Regelung zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten in § 36a AufenthG, dass subsidiär Schutzberechtigte und Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern einer gleichen Bedrohungslage ausgesetzt wären, sodass eine Unterscheidung beim Familiennachzug auch nicht durch die Art oder die Schwere der drohenden Gefahren gerechtfertigt werden kann. Sofern man sich all diese Aspekte vor Augen führt, ist es durchaus zu bedenken, ob der deutsche Gesetzgeber wieder zu dem 2015 eingeführten Gleichlauf von Konventionsflüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten beim Familiennachzug zurückkehrt. Es bedürfte also einer weiteren Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten.

1133 Diese Kommunen haben sich unter dem „Bündnis sichere Häfen“ zusammengeschlossen, zurzeit sind dies 247 Kommunen, vgl. https://seebruecke.org/sichere-haefen/ sichere-haefen/ (zuletzt abgerufen am 12.5.2021).

Literaturverzeichnis Allenberg, Nele: Stellungnahme des Beauftragten des Senats von Berlin für Integration und Migration zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages vom 11. Juni 2018 zum Familiennachzugsneuregelungsgesetz (BT-Drs. 19/2438), sowie weiteren Entwürfen zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes, BT-Drs. 19/2515 und BT-Drs. 19/2523, A-Drucks. 19(4)57 E. Antomo, Jennifer: Kinderehen, ordre public und Gesetzesreform, in: NJW 2016, S. 3558–3563. Baade, Björnstjern: „Sehenden Auges dem Tode oder schwerster Verletzung ausgeliefert“? – Die Verwertung von Lageberichten als Beweismittel zur Feststellung der subsidiären Schutzbedürftigkeit von Asylbewerbern, in: DÖV 2018, S. 806–816. Badura, Peter: Staatsrecht. Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 7. Aufl. 2018. Bank, Roland: Das Elgafaji-Urteil des EuGH und seine Bedeutung für den Schutz von Personen, die vor bewaffneten Konflikten fliehen, in: NVwZ 2009, S. 695–699. Bartolucci, Bellinda/Pelzer, Marei: Fortgesetzte Begrenzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten im Lichte höherrangigen Rechts, in: ZAR 2018, S. 133–140. Barwig, Klaus: Ein halbes Jahrhundert Arbeitsmigration nach Deutschland – Ein halbes Jahrhundert Familiennachzug, in: ZAR 2014, S. 42–52. Bast, Jürgen: Internationalisierung und De-Internationalisierung der Migrationsverwaltung, in: Christoph Möllers/Andreas Voßkuhle/Christian Walter (Hrsg.), Internationales Verwaltungsrecht, 2007, S. 279–312. Bast, Jürgen: Vom subsidiären Schutz zum europäischen Flüchtlingsbegriff, in: Stephan Beichel-Benedetti/Constanze Janda (Hrsg.), Hohenheimer Horizonte. Festschrift für Klaus Barwig, 2018, S. 403–416. Becker, Ulrich: Die Zukunft des europäischen und deutschen Asylrechts, in: Christian Walter/Martin Burgi (Hrsg.), Die Flüchtlingspolitik, der Staat und das Recht, 2017, S. 55–116. Beljin, Sasˇa: Die Zusammenhänge zwischen dem Vorrang, den Instituten der innerstaatlichen Beachtlichkeit und der Durchführung des Gemeinschaftsrechts, in: EuR 37 (2002), S. 351–376. Bergmann, Jan/Dienelt, Klaus (Hrsg.): Ausländerrecht. Kommentar, 13. Aufl. 2020. Berlit, Uwe: Die Bestimmung der „Gefahrendichte“ im Rahmen der Prüfung der Anerkennung als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter, in: ZAR 2017, S. 110– 120.

264

Literaturverzeichnis

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Asylgeschäftsbericht für den Monat Dezember 2016, 11.1.2017 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Asylgeschäftsbericht für den Monat Dezember 2017, 16.1.2018. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Asylgeschäftsbericht für den Monat Dezember 2018, 23.1.2019. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Migrationsbericht der Bundesregierung 2016/2017, 23.1.2019. Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.): EUV/AEUV, Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 5. Aufl. 2016. Cremer, Hendrik: Das Recht auf Familie für unbegleitete Minderjährige: Eltern dürfen nachziehen – Geschwister nicht?, in: ZAR 2017, S. 312–318. Cremer, Hendrik: Kein Recht auf Familie für subsidiär Schutzberechtigte?. Zur Anwendung von § 22 Satz 1 AufenthG nach den Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention, in: Asylmagazin 2018, S. 65–70. Cremer, Hendrik: Menschenrechtliche Grundlagen des Familiennachzugs, in: InfAuslR 2018, S. 81–85. Czech, Peter: Das Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 8 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR, in: EuGRZ 2017, S. 229–240. Danwitz, Thomas von: Europäisches Verwaltungsrecht, 2008. Davy, Ulrike: Aufenthaltssicherheit: Ein verlässliches Versprechen? – Teil 2, Menschenrechtlicher und grundrechtlicher Rahmen, in: ZAR 2007, S. 233–238. Decker, Andreas/Bader, Johann/Kothe, Peter (Hrsg.): Beck’scher Online-Kommentar Migrations- und Integrationsrecht (Stand: Mai 2021). Deutsches Institut für Menschenrechte: Das Recht auf Familie, Familieneinheit von Kindern und Eltern ermöglichen – auch für subsidiär Geschützte, Stand: 16. Dezember 2016. Deutsches Kinderhilfswerk: Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat über das Familiennachzugsneuregelungsgesetz am 11.6.2018, A-Drucks. 19(4)66. Dietz, Andreas: Ausländer- und Asylrecht, 4. Aufl. 2021. Dörig, Harald: Quo vadis Migrationsrecht?, in: jM 2018, S. 251–257. Dörr, Oliver/Grote, Rainer/Marauhn, Thilo (Hrsg.): EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, Band I: Kapitel 1–19, 2. Aufl. 2013. Dreier, Horst (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, 3 Bände; Band I: Präambel, Artikel 1–19, 3. Aufl. 2013; Band II: Artikel 20–82, 3. Aufl. 2015; Band III: Artikel 83–146, 3. Aufl. 2018. Eckert, Sophia: Der Geschwisternachzug. Aktuelle Rechtslage und mögliche Kollisionen mit höherrangigem Recht, in: Asylmagazin 2020, S. 189–197.

Literaturverzeichnis

265

Ellerbrok, Torben/Hartmann, Lucas: Flüchtlingsstatus statt subsidiärer Schutz für syrische Staatsangehörige?. Analyse aktueller Rechtsprechung und ihrer Auswirkungen auf die Effektivität gesetzgeberischen Handels zum Familiennachzug, in: NVwZ 2017, S. 522–527. Epping, Volker: Grundrechte, 9. Aufl. 2021. Epping, Volker/Hillgruber, Christian (Hrsg.): Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz (Stand: August 2021). Fontana, Sina: Verfassungsrechtliche Fragen der aktuellen Asyl- und Flüchtlingspolitik im unions- und völkerrechtlichen Kontext, in: NVwZ 2016, S. 735–742. Franz, Fritz: Der Nachzug ausländischer Familienangehöriger im Lichte der Verfassung, in: NJW 1984, S. 530–533. Friauf, Karl Heinrich/Höfling, Wolfgang (Hrsg.): Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Band 1, 2000 ff. (Stand: Mai 2021). Gausing, Bettina/Wittebol, Christian: Die Wirksamkeit von im Ausland geschlossenen Minderjährigenehen – Grundrechtsdogmatische Bewertung des neuen Art. 13 EGBGB, in: DÖV 2018, S. 41–49. Geißler, Markus: Der Schutz von Ehe und Familie in der ausländerrechtlichen Ausweisungsverfügung, in: ZAR 1996, S. 27–33. Gentz, Manfred: Zur Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, in: NJW 1968, S. 1600–1607. Goebel-Zimmermann, Ralph/Eichhorn, Alexander/Beichel-Benedetti, Stephan: Asylund Flüchtlingsrecht, 2017. Grabenwarter, Christoph (Hrsg.): Europäischer Grundrechteschutz, 2014. Grabenwarter, Christoph/Pabel, Katharina: Europäische Menschenrechtskonvention, 7. Aufl. 2021. Grabitz, Eberhard: Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966. Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard/Nettesheim, Martin (Hrsg.): Das Recht der Europäischen Union, 3 Bände, 2010 ff. (Stand: Mai 2021). Groeben, Hans von der/Schwarze, Jürgen/Hatje, Armin (Hrsg.): Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015. Groenendijk, Kees: Familienzusammenführung als Recht nach Gemeinschaftsrecht, in: ZAR 2006, S. 191–199. Gusy, Christoph: Familiennachzug und Grundgesetz, in: DÖV 1986, S. 321–329. Gutmann, Rolf: Ausländerrechtliche Zerstörung der Familie?, in: NVwZ 2019, S. 277– 282. Habbe, Heiko: Familiennachzug zu volljährig gewordenen unbegleiteten Minderjährigen. Anmerkung zum EuGH-Urteil vom 12. April 2018 in der Rechtssache A. und S., in: Asylmagazin 2018, S. 149–153. Hailbronner, Kay: Ausländerrecht, Kommentar, Ordner 1 und 3, 1992 ff. (Stand: März 2021).

266

Literaturverzeichnis

Hailbronner, Kay: Asyl- und Ausländerrecht, 5. Aufl. 2021. Hailbronner, Kay: Ausländerrecht und Verfassung, in: NJW 1983, S. 2105–2113. Hailbronner, Kay: Die Richtlinie zur Familienzusammenführung, in: FamRZ 2005, S. 1–8. Hailbronner, Kay: Die Wirkung ausländer- und asylrechtlicher EG-Richtlinien vor der Umsetzung ins deutsche Ausländerrecht, in: ZAR 2007, S. 6–13. Hailbronner, Kay: Die Qualifikationsrichtlinie und ihre Umsetzung im deutschen Ausländerrecht, in: ZAR 2008, S. 209–216. Hailbronner, Kay: Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am 11.6.2018, A-Drucks. 19(4)57 C, 7.6.2018. Hailbronner, Kay/Thym, Daniel (Hrsg.): EU Immigration and Asylum Law, A Commentary, 2. Aufl. 2016. Hau, Wolfgang/Poseck, Roman (Hrsg.): Beck’scher Online-Kommentar BGB (Stand: August 2021). Haubner, Petra/Kalin, Maria: Einführung in das Asylrecht. Asylverfahren, Asylgerichtsverfahren, Materielles Recht, 2017. Hauschild, Christoph: Neues europäisches Einwanderungsrecht: Das Recht auf Familienzusammenführung, in: ZAR 2003, S. 266–273. Herdegen, Matthias: Völkerrecht, 20. Aufl. 2021. Herzog, Thomas/Westphal, Dietrich: Bundesvertriebenengesetz, 2. Aufl. 2014. Hesse, Konrad: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl. 1999. Heusch, Andreas/Haderlein, Nicola/Schönenbroicher, Klaus: Das neue Asylrecht, 1. Aufl. 2016. Heusch, Andreas u. a.: Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021. Heusch, Andreas/Kluth, Winfried (Hrsg.): Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht (Stand: Juli 2021). Heuser, Helene: Aussetzung des Familiennachzugs – ein Verstoß gegen das Grundgesetz?, in: Asylmagazin 2017, S. 125–131. Hillgruber, Christian: Mindestalter und sprachliche Integrationsvorleistung – verfassungsgemäße Voraussetzungen des Ehegattennachzugs?, in: ZAR 2006, S. 304–317. Hofmann, Rainer (Hrsg.): Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016. Hruschka, Constantin: Kein „aging out“ – Das Recht auf umgekehrten Familiennachzug nach der neuen Entscheidung des EuGH, in: NVwZ 2018, S. 1451–1453. Hruschka, Constantin: Perspektiven der Europäischen Asylpolitik, in: Stephan BeichelBenedetti/Constanze Janda (Hrsg.), Hohenheimer Horizonte. Festschrift für Klaus Barwig, 2018, S. 382–400. Hrschuska, Constantin/Lindner, Christoph: Der internationale Schutz nach Art. 15b und c Qualifikationsrichtlinie im Lichte der Maßstäbe von Art. 3 EMRK und § 60 VII AufenthG, in: NVwZ 2007, S. 645–650.

Literaturverzeichnis

267

Hruschka, Constantin/Löhr, Tillmann: Der Prognosemaßstab für die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nach der Qualifikationsrichtlinie, in: ZAR 2007, S. 180–185. Huber, Bertold: Zur Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des Ehegatten- und Familiennachzugs im Ausländerrecht, in: NJW 1988, S. 609–611. Huber, Bertold/Eichenhofer, Johannes/Endres de Oliveira, Pauline: Aufenthaltsrecht, 2017. Huber, Bertold/Göbel-Zimmermann, Ralph (Hrsg.): Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008. Huber, Bertold/Mantel, Johanna (Hrsg.): Aufenthaltsgesetz, 3. Aufl. 2021. Huber, Peter/Voßkuhle, Andreas (Hrsg.): von Mangoldt/Klein/Starck. Kommentar zum Grundgesetz, 3 Bände; Band 1: Präambel, Artikel 1–19, 7. Aufl. 2018; Band II: Artikel 20–82, 7. Aufl. 2018; Band III: Artikel 83–146, 7. Aufl. 2018. Ipsen, Jörn: Ehe und Familie, in: HStR3, 3. Aufl. 2009, S. 431–476. Isensee, Josef: Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, in: VVDStRL 32 (1974), S. 49–101. Jarass, Hans D.: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kommentar, 4. Aufl. 2021. Jarass, Hans D./Pieroth, Bodo: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 2020. Kahl, Wolfgang/Waldhoff, Christian/Walter, Christian (Hrsg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Ordner 4, 1950 ff. (Stand: Juli 2021). Karras, Benjamin: Missbrauch des Flüchtlingsrechts? Subjektive Nachfluchttatbestände am Beispiel der religiösen Konversion, 2017. Kau, Marcel: Integration zwischen Migrationsfolgenrecht und Integrationsverwaltungsrecht, in: NVwZ 2018, S. 1337–1340. Kelek, Necla: Heirat ist keine Frage oder Kann durch die Einführung eines Mindestalters für den Nachzug von Ehegatten auf 21 Jahre die „Zwangsehe“ verhindert werden?, in: ZAR 2006, S. 232–237. Kessler, Adriana: Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Zur Umsetzung der gesetzlichen Beschränkung – ein Jahr nach Neuregelung, in: Asylmagazin 2019, S. 295–299. Keßler, Stefan: Sind subsidiär Geschützte beim Familiennachzug Flüchtlinge zweiter Klasse?. Anmerkungen zur Diskussion um das „Asylpaket II“, in: Asylmagazin 2016, S. 18–21. Kingreen, Thorsten: Verfassungsfragen des Ehegatten- und Familiennachzugs im Aufenthaltsrecht, in: ZAR 2007, S. 13–20. Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf: Grundrechte, Staatsrecht II, 36. Aufl. 2020. Kluth, Winfried: Begrenzung der Schutzgewährung versus alternative Formen der Migrationssteuerung, in: ZAR 2016, S. 1–8.

268

Literaturverzeichnis

Kluth, Winfried: Das Asylpaket II – eine Gesetzgebung im Spannungsfeld zwischen politischen Versprechen und rechtlich-administrativer Wirklichkeit, in: ZAR 2016, S. 121–131. Kluth, Winfried: Die Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten: eine verfahrensrechtliche Herausforderung, in: ZAR 2018, S. 375–380. Kluth, Winfried/Hornung, Ulrike/Koch, Andreas (Hrsg.): Handbuch Zuwanderungsrecht, Allgemeines Zuwanderungs- und Aufenthaltsrecht nach deutschem und europäischem Recht, 3. Aufl. 2020. Krause, Sigrun: Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Eine Rechtsprechungsübersicht zu § 36a AufenthG, in: Asylmagazin 2020, S. 198–204. Langenfeld, Christine: Asyl und Migration unter dem Grundgesetz, in: NVwZ 2019, S. 677–684. Langenfeld, Christine/Mohsen, Sarah: Die neue EG-Richtlinie zum Familiennachzug und ihre Einordnung in das Völkerrecht, in: ZAR 2003, S. 398–405. Lingl, Wolfgang: Der Familiennachzug in die Bundesrepublik Deutschland. Eine sozialethische Untersuchung aus migrationssoziologischer Perspektive, 2017. Maaßen, Hans-Georg: Zum Stand der Umsetzung von elf aufenthalts- und asylrechtlichen Richtlinien der Europäischen Union, in: ZAR 2006, S. 161–168. Maier-Borst, Michael: Zu Verschärfungen in der deutschen Ausländer- und Flüchtlingspolitik. Warum Klaus Barwigs „Hohenheim“ seit Jahrzehnten trotzdem wirkt, in: Stephan Beichel-Benedetti/Constanze Janda (Hrsg.), Hohenheimer Horizonte. Festschrift für Klaus Barwig, 2018, S. 442–459. Mantel, Johanna: Schutzberechtigt, aber ungleich behandelt. Zur Rechtsstellung von Personen nach Schutzzuerkennung, in: Asylmagazin 2018, S. 397–405. Markard, Nora: Ein neues Schutzkonzept? Der Einfluss der Menschenrechte auf den internationalen Schutz, in: ZAR 2015, S. 56–60. Marx, Reinhard: Kommentar zum Asylgesetz, 10. Aufl. 2019. Marx, Reinhard: Handbuch zum Flüchtlingsschutz. Erläuterungen zur Qualifikationsrichtlinie, 2. Aufl. 2012. Maunz, Theodor/Dürig, Günter (Hrsg.): Grundgesetz, Kommentar, 7 Bände, 1962 ff. (Stand: Januar 2021). McAdam, Jane: Complementary Protection in International Refugee Law, 2007. McAdam, Jane: The European Union Qualification Directive. The Creation of a Subsidiary Protection Regime, in: International Journal of Refugee Law 17 (2005), S. 461–516. Meissner, Claus: Familienschutz im Ausländerrecht, in: Jura 1993, S. 1–11, 113–118. Merten, Detlef: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: HGR, 2009, S. 517–568. Münch, Ingo von/Kunig, Philip (Hrsg.): Grundgesetz, Kommentar, Band 1: Präambel bis Art. 69, 7. Aufl. 2021.

Literaturverzeichnis

269

Mungan, Cana/Muy, Sebastian/Weber, Daniel: Familientrennung auf Dauer? Die Neuregelung zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, in: Asylmagazin 2018, S. 406–415. Nußberger, Angelika: Menschenrechtsschutz im Ausländerrecht, in: NVwZ 2013, S. 1305–1311. Oberhäuser, Thomas: Die rechtswidrige Verweigerung des Nachzugs von Stiefkindern, in: Stephan Beichel-Benedetti/Constanze Janda (Hrsg.), Hohenheimer Horizonte. Festschrift für Klaus Barwig, 2018, S. 301–305. Pabel, Katharina/Schmahl, Stefanie (Hrsg.): Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 4 Bände, 2009 ff. (Stand: Oktober 2020). Papier, Hans-Jürgen: Ehe und Familie in der neueren Rechtsprechung des BVerfG, in: NJW 2002, S. 2129–2133. Pechstein, Matthias/Nowak, Carsten/Häde, Ulrich (Hrsg.): Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Band I: EUV und GRC, 2017. Peine, Franz-Joseph: Der Grundrechtseingriff, in: HGR, 2009, S. 87–112. Pro Asyl: Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten (Familiennachzugsneuregelungsgesetz), A-Drucks. 19(4)57 F, 7.6.2018. Putzer, Max: Nur subsidiärer Schutz für syrische Asylbewerber?, in: NVwZ 2017, S. 1176–1180. Quaritsch, Helmut: Kindernachzug und Art. 6 GG. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit von Nachzugsbeschränkungen, in: NJW 1984, S. 2731–2736. Renner, Günter: Ehe und Familie im Zeichen neuer Zuwanderungsregeln, in: NVwZ 2004, S. 792–801. Rennert, Klaus: Ehe und Familie im Ausländerrecht, in: Eberhard Schmidt-Aßmann u. a. (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 433–453. Riesenhuber, Karl (Hrsg.): Europäische Methodenlehre. Handbuch für Ausbildung und Praxis, 4. Aufl. 2021. Robbers, Gerhard: Ausländer im Verfassungsrecht, in: HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 391–426. Sachs, Michael (Hrsg.): Grundgesetz, Kommentar, 9. Aufl. 2021. Schmidt-Bleibtreu, Bruno u. a. (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz, 14. Aufl. 2018. Schmitz, Thomas: Die Grundrechtecharta als Teil der Verfassung der Europäischen Union, in: EuR 39 (2004), S. 691–713. Schwarz, Kyrill-A./Bravidor, Christoph: Kunst der Gesetzgebung und Begründungspflichten des Gesetzgebers, in: JZ 2011, S. 653–659. Schwarze, Jürgen/Becker, Ulrich/Hatje, Armin/Schoo, Johann (Hrsg.): EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019. Steiger, Heinhard: Verfassungsgarantie und sozialer Wandel – Das Beispiel von Ehe und Familie, in: VVDStRL 45 (1987), S. 55–93.

270

Literaturverzeichnis

Steiner, Udo: Schutz von Ehe und Familie, in: HGR, 2011, S. 1249–278. Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1: Die einzelnen Grundrechte. Der Schutz und die freiheitliche Entfaltung des Individuums, 2. Aufl. 2016. Stern, Klaus/Becker, Florian (Hrsg.): Grundrechte-Kommentar. Die Grundrechte des Grundgesetzes mit ihren europäischen Bezügen, 3. Aufl. 2018. Stern, Klaus/Sachs, Michael: Europäische Grundrechte Charta GRCh, 2016. Stetter-Karp, Irme: Dauerthema Familiennachzug, in: ZAR 2018, S. 200–204. Streinz, Rudolf: Europarecht, 11. Aufl. 2019. Szczekalla, Peter: Das Verhältnis zwischen dem Grundrechtsschutz in der EU in den Mitgliedstaaten in: HdbEuGR, 2. Aufl. 2020, S. 27–44. Thym, Daniel: Schnellere und strengere Asylverfahren. Die Zukunft des Asylrechts nach dem Beschleunigungsgesetz, in: NVwZ 2015, S. 1625–1633. Thym, Daniel: Die Auswirkungen des Asylpakets II, in: NVwZ 2016, S. 409–415. Thym, Daniel: Migrationssteuerung im Einklang mit den Menschenrechten – Anmerkungen zu den migrationspolitischen Diskursen der Gegenwart, in: ZAR 2018, S. 193–200. Thym, Daniel: Rolle des EuGH in der Migrationspolitik: zwischen „Verwaltungsethos“ und „Verfassungsimagination“, in: EuR 53 (2018), S. 672–695. Thym, Daniel: Obergrenze für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, in: NVwZ 2018, S. 1340–1347. Thym, Daniel: Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags, A-Drucks. 19(4)57 H, 8.6.2018. Tiedemann, Paul: Die Geschichte des subsidiären Flüchtlingsschutzes, in: Paul Tiedemann/Janina Gieseking (Hrsg.), Flüchtlingsrecht in Theorie und Praxis, 2014, S. 95–142. Tiedemann, Paul: Gefahrendichte und Judiz – Versuch einer Rationalisierung, in: ZAR 2016, S. 53–59. Tödter, Luise Elisabeth: Die Anerkennung als Flüchtling in Fällen von Bürgerkriegen. Eine Untersuchung auf der Grundlage des Völkerrechts und des Unionsrechts, 2015. UNHCR: Handbuch und Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Neuauflage, 2011 (deutsche Version 2013). UNHCR Deutschland: Familienzusammenführung zu Personen mit internationalem Schutz. Rechtliche Probleme und deren praktische Auswirkungen, in: Asylmagazin 2017, S. 132–137. UNHCR Deutschland: Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Inneres und Heimat des Deutschen Bundestages zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär

Literaturverzeichnis

271

Schutzberechtigten (Familiennachzugsneuregelungsgesetz), A-Drucks. 19(4)57 A, 4.6.2018. UNHCR Deutschland: Wer gehört zur Familie? Der Begriff der Familie bei Familienzusammenführungen zu Personen mit internationalem Schutz, in: Asylmagazin 2017, S. 138–144. Vedder, Christoph/Heintschell von Heinegg, Wolff (Hrsg.): Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018. Wagner, Matthias: Kulturelle Integration und Grundgesetz, 2020. Walter, Anne: Familienzusammenführung in Europa. Völkerrecht, Gemeinschaftsrecht, Nationales Recht, 2009. Walter, Anne: Die ungeliebte Einwanderungsroute – Neue Fronten im Kampf um den Familiennachzug?, in: ZAR 2014, S. 52–56. Walter, Christian: Zwischen individuellem Menschenrechtsschutz und legitimer Migrationssteuerung: Der völkerrechtliche Rahmen der Flüchtlingspolitik, in: Christian Walter/Martin Burgi (Hrsg.), Die Flüchtlingspolitik, der Staat und das Recht, 2017, S. 7–53. Wassermann, Rudolf (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Band I: Art. 1–37, 2. Aufl. 1989. Weber, Albrecht: Verfassungsrechtliche Probleme des Familiennachzugs von Ausländern, in: NJW 1983, S. 1225–1230. Welte, Hans-Peter: Ausländerrecht, 1999. Welte, Hans-Peter: Der Familienschutz im Spektrum des Ausländerrechts, 2012. Welte, Hans-Peter: Drittstaatsangehörige: Familiennachzug – Bleiberechte, 2. Aufl. 2017. Wittreck, Fabian: Menschenwürde und Folterverbot. Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG, in: DÖV 2003, S. 873–882. Zuleeg, Manfred: Öffentliche Interessen gegen Familiennachzug, in: DÖV 1988, S. 587–595. Zuleeg, Manfred: Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969.

Sachwortverzeichnis Abwehrrecht 136 ff., 148 Asylantrag 43 ff., 85, 92, 253 Asylpaket II 106 f. Aufenthaltstitel 26 f., 29, 79, 125 ff., 225 Behandlung – erniedrigende 55 f., 64 ff. – unmenschliche 55 f., 644 ff. Bestimmtheitsgebot 196 ff. Bürgerkrieg 55, 69 f., 94 f., 97 f. Ehegattennachzug siehe Familiennachzug zu Ehegatten Elternnachzug siehe Familiennachzug zu Eltern Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) 180 ff. Familien und Ehe (Art. 6 Abs. 1 GG) – Eingriff 137 f., 141 ff., 178 ff. – Schutzbereich 138 ff., 178 ff. Familiennachzug – zu Ehegatten 31 ff., 125, 198 ff., 240 f. – zu Eltern 40 ff., 198 ff. – zu Geschwistern 47 ff. – zu Kindern 36 ff., 45 f., 457 f. Familienzusammenführungsrichtlinie 24 f., 36 f., 104 f., 123 f., 216 ff. Flucht 54 ff., 85 ff., 91 ff., 98 ff., 123 ff., 240 ff. Flüchtlingsschutz siehe Konventionsflüchtlinge Folter 53, 63 f. Gefährdung 72 f., 120 Gefahrendichte 67 f., 81

Geschwisternachzug siehe Familiennachzug zu Geschwistern Gleichheitsgebot (Art. 3 Abs. 1 GG) 182 ff. Herkunftsland 60, 65, 76, 85 f., 150 Höchstgrenze siehe Kontingentierung Institutsgarantie 137, 152 f. Kernfamilie 30, 48, 112 ff. Kinderehe 32 ff. Kindernachzug siehe Familiennachzug zu Kindern Konflikt, Bewaffneter 54 f., 66, 69 f. Kontingentierung 114 ff., 172 ff. Konventionsflüchtlinge 78 ff., 184 ff., 232 ff. Lebensunterhalt 28, 48 f., 239 f. Minderjährigenehe siehe Kinderehe Nachfluchttatbestand 84 ff. Non-Refoulement 73 f., 226 f. Obergrenze siehe Kontingentierung Pflegebedürftigkeit 121 f. Qualifikationsrichtlinie 58 ff., 73, 78 ff., 105 ff., 184 ff., 223 ff., 243 f. Schwerwiegende Erkrankung 121 f. Sprachkenntnisse 39 f. Syrische Staatsangehörige 83 ff., 95 ff., 254 ff.

Sachwortverzeichnis Todesstrafe 61 f., 74 f. Trennungsdauer 175 ff., 235 ff., 258 Verfolgung 74 ff., 84 ff., 99 f., 185 f. Warteschlangenprinzip 172 ff., 257

273

Wertentscheidende Grundsatznorm 137, 152 f. Willkür 66, 68 f., 99 f., 254 f. Wohnraumerfordernis 26 f., 49, 112 f., 235