Die neue Seinsbestimmung in der reinen theoretischen Philosophie Kants: Das Sein als Position [1 ed.] 9783428515981, 9783428115983

Das destruktive Moment des Philosophierens wird erstmals mit Kant zu einem eigenen Grundthema des philosophischen Denken

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Die neue Seinsbestimmung in der reinen theoretischen Philosophie Kants: Das Sein als Position [1 ed.]
 9783428515981, 9783428115983

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HARDY NEUMANN

Die neue Seinsbestimmung in der reinen theoretischen Philosophie Kants: Das Sein als Position

Philosophische Schriften Band 63

Die neue Seinsbestimmung in der reinen theoretischen Philosophie Kants: Das Sein als Position

Von

Hardy Neumann

Duncker & Humblot . Berlin

Die Philosophische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11598-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Jacqueline, Aline, Martin, Lilian und Bettina

Vorwort Dieser Band enthält den für den Druck geringfügig überarbeiteten Text der gleichnamigen Untersuchung, die im Sommersemester 2003 von der Philosophischen Fakultät I der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen wurde. Meinem wissenschaftlichen Betreuer, Herm Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm von Herrrnann, gilt mein herzlichster Dank für seine meisterhaft begleitende Leitung beim Zustandekommen der Arbeit sowie für die zahlreich gewichtigen Anregungen, die ich, die transzendentale Metaphysik Kants und die hermeneutische Phänomenologie Martin. Heideggers betreffend, in seinen Vorlesungen und Seminaren bekommen habe. Darüber hinaus bin ich ihm verpflichtet wegen seiner wahrhaft väterlichen und stets erfolgreichen Vermittlung vor den verschiedenen Einrichtungen und Stiftungen, die meinen Aufenthalt in Freiburg finanziell möglich machten. Frau PD Dr. Paola-Ludovika Coriando hat die Erstellung des Zweitgutachtens übernommen, wofür ich mich bei ihr sehr bedanke. Meiner Ursprungsuniversität, der Pontificia Universidad Cat6lica de Valparaiso in Chile, verdanke ich sowohl die Befreiung von meinen akademischen Pflichten als auch die Bewilligung eines Stipendiums für die Dauer meines Aufenthalts in Freiburg. Gleichfalls danke ich meinen Kollegen des Philosophischen Instituts, die während meiner Abwesenheit meine Dozentenverpflichtung großzügig übernommen haben. Dem chilenischen Ministerio de Planificaci6n drücke ich meinen Dank aus für die Vergabe eines Stipendiums für die ersten drei Jahre meiner Promotion. Der Dr.-Leo-Rickert-Stiftung, der Franz-MarieChristinnen-Stiftung und dem Stipendienwerk Lateinamerika-Deutschland verdanke ich jeweils eine finanzielle Beihilfe, die es mir möglich machte, diese Arbeit abzuschließen. Dem Stipendienwerk Lateinamerika-Deutschland schulde ich auch großen Dank für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Für anregende Gespräche und sprachliche Verbesserungen meiner Seminararbeiten während des Studiums erstatte ich meinem Freund Peter Höft einen großen Dank. Wolfgang Wolpert bin ich ebenfalls für die Textkorrektur der ersten Paragraphen der Dissertation verpflichtet. Für die Korrektur des Textes hinsichtlich des Deutschen danke ich auch Frau Jutta Klein. Zuletzt will ich an dieser Stelle ganz besonders meiner Frau danken, die den Mut hatte, mit der ganzen Familie nach Deutschland zu gehen. Sie hat mich in diesem Unterfangen ständig und liebevoll begleitet. Ohne ihre Verzichtbereit-

8

Vorwort

schaft und ihren großzügigen Charakter wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Denzlingen, im Juli 2004

Hardy Neumann

Inhaltsverzeichnis Einleitung

Zugangsweise zur "Kritik der reinen Vernunft" und die Leiträden der Untersuchung § I

13

Klärung der hermeneutischen Situation für den Zugang zur "Kritik der reinen Vernunft". Anzeige des ontologischen bzw. metaphysischen Leitfadens der Untersuchung ................................................... 1. Text-Gefüge der in der Untersuchung zugrundegelegten Hauptwerke .. ll. Klärung der hermeneutischen Situation für den Zugang zur "Kritik der reinen Vernunft" als Anzeige der ontologischen bzw. metaphysischen Orientierung der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . .

16

§2

Die transzendentale Methode als juristischer Leitfaden innerhalb der "Kritik der reinen Vernunft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

26

§3

Motivation und Aufriß der Untersuchung ..............................

35

13 13

Erster Teil

Vorbereitende Analyse idr den Zugang zu Kants These über das Sein

43

Erstes Kapitel Die neue Blickbahn der reinen theoretischen Philosophie Kants und die transzendentalen Probleme der reinen Vernunft

43

§4

Die Kopernikanisch hypothetische Revolution Kants .................... I. Vernunft und Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . .. II. Die Kopernikanische Revolution .................................. II1. Die Kopernikanische Hypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

43 43 48 55

§5

Der transzendentale Ansatz Kants als quaestio iuris ..................... I. Das Gefüge Revolution - quaestio iuris und die Grundzüge der transzendentalen Deduktion .......................................... II. Der formale Sinn der quaestio iuris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Der ursprüngliche Sinn der quaestio iuris .......................... IV. Die zwei von der quaestio iuris umfaßten Momente .................

65 65 76 78 81

10

Inhaltsverzeichnis

§6

Die durch den kritisch-transzendentalen Ansatz freigelegten Vernunftwiderstreite: die transzendentalen Ideen ............................... 1.

§7

83

Die Verwandlung der transzendentalen Analytik in die transzendentale Dialektik .......................................................

84

II. Der Weg zu einer subjektiven Deduktion der transzendentalen Ideen ..

88

Die subjektive Deduktion der transzendentalen Ideen und der Entstehungsprozeß des transzendentalen Scheins ..................................

94

Die subjektive Deduktion der transzendentalen Ideen

95

II. Der Entstehungsprozeß des transzendentalen Scheins

101

1.

Zweites Kapitel

Das transzendentale Ideal der reinen Vernunft als kritisch-transzendentaler Sitz für die Exposition der These über das Sein §8

107

Der von der vierten kosmologischen Idee geforderte Schritt .............. 108 1.

Das Notwendige als Erläuterungsgrund des Zufälligen ............... 109

11. Die bejahende Behauptung der Thesis ............................. 113 III. Die verneinende Behauptung der Antithesis ........................ 115 IV. Die Wahrheitsmöglichkeit der Thesis und der Antithesis ............. 118 §9

Der Weg zum transzendentalen Ideal der reinen Vernunft anhand des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung ........................... 126 1.

Die Gewinnung des Idealbegriffs überhaupt ........................ 128

11. Der Grundsatz der Bestimmbarkeit ................................ 132 III. Der Weg zum transzendentalen Ideal der reinen Vernunft anhand des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung ....................... 134 § 10 Das transzendentale Ideal der reinen Vernunft .......................... 141

1.

Der Inbegriff aller Möglichkeit ................................... 142

11. Das transzendentale Ideal der reinen Vernunft ...................... 143 § 11

Die transzendentale Subreption als Erklärungsgrund des von dem transzendentalen Ideal ausgelösten transzendentalen Scheins .................... 154 1.

Vorerinnerung an die zwei Grundkomponenten der Erscheinung: Materie und Form im transzendental-ontologischen Sinne ................ 155

II. Das Wesen der transzendentalen Subreption und ihre Voraussetzungen 158 III. Die transzendentale Hypostasierung des Inbegriffs aller Realität ...... 160 IV. Der logisch ermöglichende Charakter der Disjunktion im Aufbau der Subreption ...................................................... 162

Inhaltsverzeichnis

11

Zweiter Teil

Die These Kants über das Sein in der Durchmhrung

170

Erstes Kapitel

Die verneinende Aussage der Kantischen These über das Sein

170

§ 12 Mathematik und Metaphysik im Ausgang von der Existenzaussage "Gott ist" ................................................................ 171

I.

Der Exemplarcharakter der Aussage "Gott existiert" . . . . . . . . . . . . . . . .. 172

II. Die Gründe zur Nachahmung der Mathematik seitens der Metaphysik 173 III. Mathematik und Metaphysik in ihrer formalen Differenz . . . . . . . . . . . .. 178 § 13 Die "Irrealität" des Seins ............................................ 184 § 14 Die transzendental antizipierte Realität ................................ 195

I.

Überblick über die Antizipationen der Wahrnehmung ................ 198

II. Der transzendentale Vorgriff der Antizipationen der Wahrnehmung ... 205 § 15 Der Gegenbegriff zum Sein: Das Nichts-Phänomen ..................... 212 I.

Kants Zugangsweise zum Nichts-Phänomen und sein Gliederungsprinzip 213

II. Der systematische Ort zur Behandlung des Nichts .. . . . . . . . . . . . . . . . .. 217 III. Die Kantische Entfaltung des Nichts-Themas arn Beispiel der NichtsTafel ........................................................... 221 1. Noumenon und Ding an sich arn Beispiel des ens rationis . . . . . . . .. 223 2. Das nihil privativum ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 231 3. Das ens imaginarium ................... . ..................... 234 4. Das nihil negativum .......................................... 234

Zweites Kapitel

Die bejahende Aussage der Kantischen These über das Sein

236

§ 16 Prädikative und existentiale Notwendigkeit ............................ 237

I.

Logische und ontische Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 238

II. Die Aufhebung des Widerspruchs in identischen Aussagen ........... 250 § 17 Das Sein als relative und absolute Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 252 I.

Der alltägliche Sprachvollzug als Ansatzpunkt der Seinsfrage im ,,Beweisgrund" ..................................................... 252

II. Die relative Position ............................................. 257 III. Die absolute Position ............................................ 261 § 18 Der zweistufige Grundzug des Begriffes vom Seins-Prädikat ............. 267

Inhaltsverzeichnis

12

1. Das Sein als Prädikat zweiter Stufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 268 II. Das Dasein als Gedanken-Prädikat bei Kant ........................ 276 § 19 Das Sein als transzendentales Gedankenprädikat ........................ 280

1.

Tautologie und Selbstreferenzialität ............................... 280

II. Prädikatenprädikat bei Kant ...................................... 284

Drittes Kapitel Auswirkungen der Seins-These auf die neue, kritisch-ontologische Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes

294

§ 20 Position und Vorstellung ............................................. 294

1.

Die Abhängigkeit der absoluten Seinsposition von der zwischen Gegenstand und Vorstellung waltenden transzendental subjektiven Beziehung ........................................................... 294

II. Der vorwegnehmende Charakter der apriorischen Vorstellung ........ 301 III. Vorstellung und Transzendentales ................................. 312 § 21

Die transzendental-ontologischen zweistufigen Prädikate der Postulate des empirischen Denkens überhaupt in Absetzung gegen die real-ontologischen Prädikate der drei ersten Grundsätze des reinen Verstandes .............. 315 1. Die in den drei ersten Grundsätzen des reinen Verstandes enthaltenen realen Prädikate als sachhaltige Bestimmung des Gegenstandes ....... 315 II. Die Postulate des empirischen Denkens überhaupt als transzendentalzweistufig ontologische Prädikate des Seins als Position ............. 319 1. Die Möglichkeit der Dinge .................................... 321 2. Die Wirklichkeit der Dinge .................................... 331 3. Die Notwendigkeit der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 335

§ 22 Die positionale Auszeichnung der ontologisch modalen Aussagen - Die

transzendental-synthetische Position als Grundbestimmung der Gegenständigkeit des Gegenstandes - Synthesis und Zusammensetzung ............ 341 1. Der Positionscharakter aller Postulate des empirischen Denkens überhaupt .......................................................... 341 II. Die Einheit als Grundmerkmal der transzendentalen Synthesis und der Ursprung alles kategorial einigenden Setzens in der ursprünglich-synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption .. . . . . . . . . . . . . .. 349

Literaturverzeichnis

360

Sachwortverzeichnis

368

Einleitung

Zugangsweise zur "Kritik der reinen Vernunft" und die Leitfaden der Untersuchung § 1 Klärung der hermeneutischen Situation für den Zugang zur "Kritik der reinen Vernunft". Anzeige des ontologischen bzw. metaphysischen Leitfadens der Untersuchung I. Text-Gefüge der in der Untersuchung zugrundegelegten Hauptwerke Die vorliegende Untersuchung versteht sich als eine interpretatorische Aneignungsbemühung eines wesenhaften Bestandteiles der reinen theoretischen Philosophie Kants, und zwar derjenigen Grundaussage, der Martin Heidegger in seinem Aufsatz 1961 den Namen "Kants These über das Sein,,1 gegeben hat. Die Formulierung dieser These lautet: "Sein ist offenbar kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges, oder gewisser Bestimmungen an sich selbst" (A 598, B 626)2. Die These kann in zwei Werken nachgelesen werden, der Kritik der reinen Vernunft (1781) und in Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763)3. Deswegen bilden diese beiden Werke die Haupttexte, die der folgenden Untersuchung zugrunde liegen. Dessenungeachtet orientiert sich die Erörterung der These sowie der mit ihr zusammenhängenden Themen vornehmlich an der Kritik der reinen Ver1 M. Heidegger, "Kants These über das Sein", in: Wegmarken, hrsg. von F.-W. v. Hernnann, V. Klostermann, Frankfurt a.M., 3. Aufl. 1996, SS. 445-480. Hinsichtlich der Geschichte dieser Schrift vgl. die Nachweise in dieser Ausgabe auf S. 484: "Kants These über das Sein. Vortrag, gehalten am 17. Mai 1961 in Kiel. Zuerst erschienen als Beitrag zur Festschrift für Erik Wolf zum 60. Geburtstag ,Existenz und Ordnung'. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1962, pp. 217-245. Als selbständige Schrift erschienen 1963 bei Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main". 2 Der Basistext der Kritik der reinen Vernunft, der in dieser Arbeit zitiert wird, entspricht der Ausgabe, veröffentlicht im Felix Meiner Verlag, nach der ersten (1781 = A) und zweiten (1787 = B) Originalausgabe, hrsg. v. Jens Timmerrnann, Hamburg, 1998. Die weiteren Werke Kants werden unter Angabe der Band- und Seitenzahl nach der Akademie-Ausgabe: Kants Gesammelte Werke, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 1902 ff. zitiert. 3 Wie üblich in der Sekundärliteratur, beziehen wir uns auf diesen Text als Beweisgrund.

Einleitung

14

nunft, denn, gegenüber dem zu der vorkritischen Periode gehörende Beweisgrund, läßt sich erst in der durch den transzendentalen Ansatz geprägten Kritik das ganze Potential und die Auswirkung der Seinsthese in ihrer vollen Weite aufspüren. In der Kritik der reinen Vernunft finden wir die These über das Sein in der transzendentalen Dialektik, und zwar im Rahmen der kritischen Stellungnahme zu dem von Kant erstmals so genannten ontologischen Beweis vom Dasein Gottes. In dieser großen Abteilung des Hauptwerks Kants geht es um die Auseinandersetzung der kritischen Philosophie mit den drei transzendentalen Vernunftideen: Seele, Welt und Gott. Die These über das Sein ist also eingerahmt von der Behandlung der transzendentalen Idee Gottes. Im ersten Abschnitt des dritten Hauptstückes des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik behandelt Kant das Ideal überhaupt. Im folgenden zweiten Abschnitt thematisiert er das transzendentale Ideal. Im dritten Abschnitt, der die Überschrift: "von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen" (A 583, B 611 bis A 591, B 619) trägt, kommt Kant zu dem Ergebnis, daß "nur drei Beweisarten vom Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft möglich" (A 590, B 618) sind. Diese Beweisformen sind der physikotheologische, der kosmologische und der ontologische Beweis4 . Doch entgegen dem, was der Leser erwarten könnte, setzt Kant die Thematisierung der Beweise nicht mit dem physikotheologischen, sondern mit dem ontologischen Beweis ein. Kant ist sich dessen bewußt, daß in ihrer Absicht, ein höchstes Wesen zu erreichen, die "sich nach und nach erweiternde Vernunft" (A 591, B 619) entweder mit einer bestimmten oder einer unbestimmten Erfahrung anfängt. Sie kann aber in diesem Versuch auch von aller Erfahrung absehen (abstrahieren) und bloß aus apriorischen Begriffen auf das Dasein einer höchsten Ursache schließen5 . Kant beginnt daher die Diskussion der Argumente mit dem ontologischen Beweis, weil er der Grundeinsicht ist, daß, obschon "Erfahrung den ersten Anlaß" (ebda.) zur Erweiterung der Vernunft bis zu einem höchsten Wesen hin gibt, sich dennoch die Vernunft "in dieser ihrer Bestrebung" (ebda.) eigentlich nur von dem "transzendentalen Begriff' (Gottes) leiten läßt. Damit soll gesagt sein: Auf dem Grunde der Beweise, die in der Erfahrung ihren Anstoß nehmen, ist jeweils und notwendigerweise das transzendentale Ideal der reinen Vernunft am Werke, und demgemäß muß der auf diesem reinen Vernunftbegriff Fuß fassende Beweis an erster Stelle der Kritik unterzogen werden. Das ist eben die Aufgabe des vierten Abschnittes, der mit der Überschrift versehen ist: "Von der Unmöglichkeit eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes". Die Behandlung dieses Arguments erstreckt sich von A 592, B 620 bis A 602, B 632. 4

5

Vgl. A 591, B 619. Vgl. A 590, B 618 und f.

Einleitung

15

Die Seinsthese erscheint nun gerade als Grundlage der kritischen Stellungnahme Kants zum ontologischen Beweis, d. h. des Aufweises seiner Unmöglichkeit und somit seiner nichtigen Beweiskraft. Primär soll diese These dazu dienen, die Beweiskraft der ontologischen Beweisführung auszuschalten. Jedoch taucht dabei sekundär, wenngleich nur als die Spitze des Eisbergs, eine imposante Seinsauffassung auf. Kant ist in der transzendentalen Dialektik nur deshalb imstande, das ontologische Argument ausführlich zu kritisieren, weil er schon im Besitz einer positiven Seinsauffassung ist. Der Kantische Seins begriff bliebe in seiner tiefen Dimension unbeachtet, wenn er nicht auf die konstruktiven Teile der Kritik der reinen Vernunft zurückgeführt werden könnte. Zu zeigen, daß die Kantische Seinsthese wesensnotwendig zu den positiven Teilen der Kritik gehört, ist zugleich ein weiteres Ziel der vorliegenden interpretatorischen Aufgabe. Die vorkritische Schrift Beweisgrund von 1763 nimmt die These über das Sein vorweg, auch wenn in der dortigen Formulierung der These nicht von "Sein", sondern von "Dasein" die Rede ist. Dieser Unterschied soll anband der entsprechenden Textbelege ebenfalls erörtert werden. Der Beweisgrund gliedert sich in drei Abteilungen. Die erste Abteilung ergibt vier Betrachtungen. Die erste Betrachtung enthält drei thesenartige Überschriften, von denen die zwei ersten die vorkritische Version der These über das Sein bilden. So heißt es in der ersten Überschrift: "Das Dasein ist gar kein Prädicat oder Determination von irgend einem Dinge,,6. Die zweite Überschrift lautet: "Das Dasein ist die absolute Position eines Dinges und unterscheidet sich dadurch auch von jeglichem Prädicate, welches als ein solches jederzeit blos beziehungsweise auf ein ander Ding gesetzt wird,,7. In der vorkritischen Schrift ist Kant noch der festen Auffassung, daß es prinzipiell möglich ist, einen Beweisgrund zur Demonstration des Daseins Gottes aufzustellen, indem das, was als "innere Möglichkeit aller Dinge" bezeichnet wird, irgend ein Dasein voraussetzt. Aber ein ontologischer Beweis wird von Kant schon in dieser Schrift zurückgewiesen. Die Basis-Argumentation für die Zurückweisung der beweisenden Kraft des ontologischen Arguments ist in der Kritik und im Beweisgrund dieselbe, nämlich, daß das Dasein bzw. das Sein nicht den Charakter eines realen Prädikats hat. Aber erst aus den Ergebnissen des transzendentalen Ansatzes von 1781 kann die im Beweisgrund vorweggenommene Seinsthese ihre volle Entfaltungsmöglichkeit und ihr angemessenes Verständnis erreichen. Für die auslegenden Bemühungen der vorliegenden Arbeit ist der Beweisgrund nicht nur deshalb wichtig, weil dieses Werk die These über das Sein antizipiert, sondern auch, weil in ihm ausschlaggebende ontologische Themen angesprochen werden, die in der Kritik nicht ausreichend behandelt werden, indem 6 7

Ak. II, S. 72. Ak. II, S. 73.

16

Einleitung

sie feststehende Gewinne der früheren vorkritischen Gedankenführung sind, die noch in der kritischen Periode geltend gemacht werden können. Am markantesten tritt die Bedeutsamkeit des Beweisgrund auf, wenn die Betrachtungen dieser Schrift mit der modemen Auffassung der Sprachphilosophie über das "Seinsprädikat" ins Verhältnis gesetzt werden. Weitere Werke Kants, die in dieser Arbeit ebenfalls mitberücksichtigt werden, sind: Prolegomena, Fortschritte der Metaphysik, sowie die Vorlesungen über die Metaphysik und die Vorlesungen über die philosophische Religionslehre. Hinzu kommen die von Jäsche herausgegebenen Logik-Vorlesungen. Alle diese Werke, u. a., leisten eine große Hilfe nicht nur für die Auslegung der Kantischen Seinsthese, sondern auch für die Ausarbeitung der Themen, die im Zusammenhang mit ihr stehen. Der Titel unserer Untersuchung lautet: "Die neue Seinsbestimmung in der reinen theoretischen Philosophie Kants: Das Sein als Position". Der Positionscharakter des Seins läßt sich vor allem als "neu" betrachten, wenn er mit den Ausführungen der rationalistischen Tradition konfrontiert wird. Aber das sagt nichts gegen den Umstand, daß die Weise, wie Kant das Sein auffaßt, ebenfalls als neu angesehen werden darf, wenn sie mit weiteren Traditionen der Philosophie verglichen wird. Kants Seinskonzeption ist bestens vorbereitet, sowohl mit dem Sein als E1öo~ bei Plato und mit der Aristotelischen EVEQ')'ELU als auch mit dem Sein als actus essendi bei Thomas von Aquin zu "konkurrieren". Die auf den ersten Blick nur als destruktiv geltende Philosophie Kants hat eine eigene positive Seinskonzeption entfaltet, derart, daß sie an die Seite der würdigsten Strömungen der philosophischen Tradition gestellt werden kann.

11. Klärung der hermeneutischen Situation für den Zugang zur "Kritik der reinen Vernunft" als Anzeige der ontologischen bzw. metaphysischen Orientierung der Untersuchung Die nachfolgende Bemühung, die Kantische Seinsauffassung auszulegen, möchte nicht in dem Sinne verstanden werden, als ob sie bloß eine reine "Bemächtigung" oder ein reines "Aufgreifen"s dessen sei, was Kant in seiner Seinsaussage überliefert hat. In der anstehenden Untersuchung geht es vielmehr darum, das "Grundproblem der Metaphysik" und damit der Philosophie überhaupt - das Seinsproblem - "als das echte und einzige Thema der Philosophie,,9 in der Weise zu wiederholen, wie Kant es in seiner reinen theoretischen 8 Vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, hrsg. von F.-W. v. Herrmann, V. Klostermann, Frankfurt a.M., 6. Auf!. 1998, S. 204. 9 M. Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA 24, hrsg. von F.-W. v. Herrmann, V. Klostermann, Frankfurt a.M., 3. Auf!. 1997, S. 15. Der Text Heideggers sagt weiter: "Das ist keine Erfindung von uns, sondern diese Themenstellung

Einleitung

17

Philosophie entfaltet hat. Die Wiederholung eines Grundproblems sei "die Erschließung seiner ursprünglichen, bislang verborgenen Möglichkeiten, durch deren Ausarbeitung es verwandelt und so erst in seinem Problemgehalt bewahrt wird" 10. Unsere Absicht ist es, Kants Seinsthese in den in ihr verwurzelten Möglichkeiten zu erschließen und sie auf dem Grunde dieser so aufgeschlossenen Möglichkeiten zu interpretieren. In diesem Sinne möchte die Untersuchung der Auslegungstendenz Heideggers nachfolgen als eine nach- und durchdenkende Wiederholung dessen, was die Tradition, diesmal in der Kantischen Seinsauffassung, überliefert hat. Die Wiederholung besteht nicht bloß darin, die Gegenstände der philosophischen Überlieferung wieder zu vergegenwärtigen, sondern sie achtet auf die Freilegung der artikulierenden Momente dessen, was die Tradition, von Parmenides bis heute, in Atem gehalten hat. Im Rahmen einer ontologischen Interpretation möchte die folgende Untersuchung die Kritik der reinen Vernunft als ein Werk verstehen, in dessen Zentrum, in der Gestaltung einer Transzendental-Metaphysik, das Sein selbst steht. Seit der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts pflegt man Kants Kritik der reinen Vernunft als eine Erkenntnistheorie oder sogar als eine Methodologie der Wissenschaften zu interpretieren. Seit der ersten Mitte des XX. Jahrhunderts sind drei neue Interpretationslinien zu erkennen: Die erste Interpretationsrichtung des Hauptwerkes Kants findet im Horizont der Metaphysik statt, die zweite Auslegungsweise orientiert sich an der entwicklungsgeschichtlichen Methode. Eine dritte Interpretationsrichtung entwickelt sich im Rahmen der analytischen Philosophie!!. Wie verstehen wir unsere eigene hermeneutische Situation hinsichtlich des Zugangs zur Kritik der reinen Vernunft? Im folgenden versuchen wir diese Frage zu beantworten. Bevor wir uns der Interpretation der Seinsaussage Kants zuwenden können, müssen wir die Situation der Interpretation in angemessener Weise durchsichtig machen, aus der her und in der wir in die Auslegung der Kritik der reinen Vernunft einsteigen. Die Situation des Auslegens oder Interpretierens läßt sich mit Heidegger als ,,hermeneutische Situation" fassen 12. Wir klären unsere eigene wird mit dem Anfang der Philosophie in der Antike lebendig und wirkt sich in der grandiosesten Form in der Hegeischen Logik aus. Jetzt behaupten wir lediglich, das Sein sei das echte und einzige Thema der Philosophie. Das besagt negativ: Philosophie ist nicht Wissenschaft vom Seienden, sondern vom Sein oder, wie der griechische Ausdruck lautet, Ontologie. Wir fassen diesen Ausdruck in der größtmöglichen Weite und nicht in der Bedeutung, die er im engeren Sinne, etwa in der Scholastik oder auch in der neuzeitlichen Philosophie bei Descartes und Leibniz hat". 10 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 204. 11 Zu diesen drei Interpretationsrichtungen vgl. Volker GerhardtlFriedrich Kaulbach, Kant, WBG, Darmstadt, 2. Aufl. 1989, SS. 3-46. 12 Vgl. Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 16. Aufl., 1986, § 32, S. 150. Eine jede hermeneutische Situation ist nach Heidegger durch drei Strukturmomente gekennzeichnet: Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff. Die vorhergehende Klärung 2 Neumann

18

Einleitung

hermeneutische Situation für den Zugang zu Kants Hauptwerk durch eine klärende Anzeige dessen, wie Kant selbst sein eigenes philosophisch kritisches Unternehmen verstanden hat, nämlich als eine Metaphysik von der Metaphysik. Diese Erläuterung soll zugleich die ontologische bzw. die metaphysische Orientierung als Hauptleitfaden der nachfolgenden Interpretation deutlich machen. Wer die Überschrift des wichtigsten Werks von Kant - Kritik der reinen Vernunft - hört, der ist allzu leicht dazu geneigt, auf den Gedanken zu kommen, daß es sich dabei um ein Werk handelt, das fast ausschließlich aufgrund seines

destruktiven oder negativen Charakters zu beurteilen ist. Unter den Zeitgenos-

sen Kants ist sogar von dem "Alleszermalmer" gesprochen worden 13. Kant "gerät fast in den fatalen Anschein, der Herostrat im Tempel der abendländischen Metaphysik zu sein, der die Brandfackel anlegt und nur Ruinen hinterläßt,,14. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß Kant die Leistung des Verstandes nur auf die Gegenstände der möglichen Erfahrung eingeschränkt hat l5 . Positiv apriori kann der Verstand nur die Form der möglichen Erfahrung vorwegnehmen 16. Die Grenzen der Sinnlichkeit, welche den einzig zur Verfügung der henneneutischen Situation heißt die Auslegungssituation, in den wir uns befinden, auf diese drei die henneneutische Situation zusammensetzende Struktunnomente durchsichtig zu machen. Diese drei Struktunnomente der henneneutischen Situation werden mit aller gewünschten Deutlichkeit von F.-W. v. Herrmann wie folgt zusarnmengefaßt: "Im § 32 von ,Sein und Zeit' bringt Heidegger unter dem Titel, Verstehen und Auslegung' die drei wesenhaften Vollzugsbedingungen einer jeden Auslegung zum Aufweis. Danach gründet die Auslegung in einer Vorhabe, in einer Vorsicht und in einern Vorgriff. Der jeweils auszulegende Text ist das, was die Auslegung ausdrücklich in die Vorhabe nimmt. Das in die Vorhabe Genommene ist dem Auslegenden in einern ersten, mehr oder weniger vagen oder mehr oder weniger angemessenen Vorverständnis vorgegeben. Das Auslegen des zunächst nur Vorverstandenen steht unter der Führung einer Hinsicht auf das, woraufhin das Vorverstandene ausgelegt werden soll. Diese führende Hinsicht ist die Vorsicht, die das in die Vorhabe Genommene schrittweise zur Auslegung bringt. Zugleich aber hält sich die in einer Vorhabe und einer Vorsicht gründende Auslegung in einer vorgreifenden Sprache und sprachlichen Begrifflichkeit, in der sie das jeweils Ausgelegte versprachlicht und begrifflich faßt. Vorhabe, Vorsicht und Vorgriff bilden in jeder Auslegung [... ] die henneneutische Situation, deren sich das Auslegen immer wieder neu versichern muß. Die Auslegung als Textinterpretation ist jedoch ihrerseits die besondere Konkretion dessen, was als Auslegung zuvor schon eine existenziale Seinsweise der Existenz des Daseins ist" (Wege ins Ereignis, Zu Heideggers ,Beiträgen zur Philosophie'. V. Klostennann, Frankfurt a.M., 1994, S. 308 f.). 13 Für Mendelssohn, sagt Jean Greiseh, ist Kant "Ie ,Broyeur universei' (Alleszermalmer), c'est-a-dire, en tennes plus contemporains, le Hercule de la ,deconstruction'! La fonnule fera mouche, au point que Wizenmann pourra s'en emparer pour rappeier a ses lecteurs que cet Alleszermalmer a justement reduit a neant le fantllme de l'argument ontologique, qui a fascine tant de penseurs, Mendelssohn y compris!" (Le Cogito Henneneutique, Paris, Vrin, 2000, S. 221). 14 Eugen Fink, Alles und Nichts. Ein Umweg zur Philosophie, Martinus Nijhoff Den Haag, 1959, S. 94. 15 Vgl. A 246, B 303. 16 Vgl. ebda.

Einleitung

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stehenden Rahmen bilden, innerhalb dessen die Gegenstände gegeben werden können, lassen sich nicht überschreiten. Die Grundsätze (im weiten Sinne) des Verstandes werden bloß zu "Prinzipien der Exposition der Erscheinungen" (A 247, B 303). Aus dem begrenzten Erweiterungspotential des Verstandes in bezug auf die Gegenstandserkenntnis kommt Kant zu dem endgültigen Ergebnis: Der "stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse apriori in einer systematischen Doktrin zu geben (z. E. den Grundsatz der Kausalität), muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen" (ebda.). Sofern wir auf die soeben von Kant zusammengefaßten Resultate der transzendentalen Analytik angewiesen bleiben, scheint es so, als ob uns nichts anderes übrig bleibt, als an der Verabschiedung der monumentalen klassischen Systeme teilnehmen zu müssen. Die großartigen Ideen der philosophischen Überlieferung in der Gestaltung von Seele, Welt und Gott seien tiefgreifend in Zweifel gezogen: Der metaphysische Substanz-Charakter der Seele sei nicht bewiesen worden. Die Bemühungen, sich eine gänzliche EIfahrung von der Welt zu Eigen zu machen, seien in krasse Antinomien geraten. Wegen des fraglichen Charakters der überkommenen Argumente zum Beweis des Daseins Gottes zieht die durchschnittliche Verständigkeit den Schluß, daß Er nicht existiert. In der rationalistischen Tradition, mit der Kant sich hinsichtlich des Gottesthemas am meistens auseinandersetzt, kommt Gott als ens realissimum 17 oder, wie er auch sagt, als das allerrealste Wesen 18 zur Sprache. Es geht dabei um ein Wesen, das in seiner Individuiertheit alle möglichen positiven Prädikate 19 in sich vereinigt. Seine auszeichnende Bestimmung gewinnt es dadurch, daß die ganze Realität in ihm enthalten ist und als solches wird es als "Idee von einem All der Realität (omnitudo realitatis)" (A 576, B 604 und f.) aufgefaßt. Dieses für die höchste Vorstellung der Allheit des Seienden gehaltene Idee-Ideal verwandelt sich in die einigende Allheit der zwei vorhergehenden seelischen und weltlichen Totalitäten und demgemäß in die verwirklichte Einheit, d. i. in den Inbegriff aller Wirklichkeit. Mit den kritischen Ausführungen, die in der transzendentalen Dialektik auf das transzendentale Ideal verweisen, vollzieht Kant die Enthüllung des DoppelGesichts der Wirklichkeit: Alles und Nichts. Diese antithetische Einheit von Allem und Nichts spielt sich im Herzen des Alles-Seins ab. Kant übt seine Kritik eben dort aus, wo Parmenides seine eigene kritische Scheidung vollzogen hat, im Sein oder Nichts-sein: ti OE XQLaL döet (ClTO!lOV yaQ Ta döo~): "Das (konkrete) Ganze nun, die solcherart beschaffene Form in diesem Fleisch und diesem Knochen, ist Kallias und Sokrates. Und verschieden ist es durch den Stoff, denn dieser ist ein verschiedener, identisch durch die Art-Form, denn die Art ist unteilbar" (Met., VII, 1034 a 5-8). Daß im von Kant Vorgetragenen das klassische Individuationsproblem abgespielt wird, das bestätigt auch E. Fink: "Das Problem, welches Kant hier in den Blick rückt, ist das Problem der Vereinzelung, das Problem des Hervorgangs der endlichen Dinge aus einem All-Inbegriff. Wenn wir die Bestimmtheit von endlichen Dingen denken, denken 274 275

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1. Teil: Vorbereitende Analyse für den Zugang zu Kants These über das Sein

zigen Zusammenhang handelt es sich vielmehr um ein Einzelding, um ein Individuum (Aristotelisch 'tObE TL), das rein in der Idee, nicht in der Materialität der Wirklichkeit seine eigene Bestimmung erreicht. Ein stichhaltiges Beispiel Kants illustriert nicht nur den Unterschied zwischen Idee und Ideal, sondern zugleich die spezifische Deterrninierungsform, worum es hier geht: Während die "Tugend" und die "menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit" (A 569, B 597) Ideen sind, bildet dagegen "der Weise (des Stoikers)" (ebda.) "ein Ideal, d. i. ein Mensch, der bloß in Gedanken existiert, der aber mit der Idee der Weisheit völlig kongruieret" (ebda.)279. Es ist hier zu bemerken, daß im Unterschied zum Gegenstand der Idee 280 der "intentionale Gegenstand" des Ideals mit dem Intentum, das dem Ideal entspricht, völlig kongruent ist. So erweist sich das Ideal als die nur in der Idee gedachte, begriffliche Vollkommenheit, die gleichzeitig die Form eines Einzelnseienden annimmt. Bei dieser lediglich rationalen Bestimmungsart wird nur der Inhalt des zu bestimmenden Gegenstandes ins Auge gefaßt. Dabei darf man auch nicht übersehen, daß, obgleich diese Bestimmung sich auf einer rein denkerischen Ebene entwickelt, sie sich nicht auf das bloß logische Widerspruchsprinzip zurückführen läßt. Die Frage, wie der höchste Ausdruck dieser Bestimmung imstande ist, zum Ideal der reinen Vernunft zu führen, wird von Kant erst bei der Behandlung des "Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung" angesprochen. Darüber hinaus bildet dieses Prinzip ein wesenhaftes Stadium des vorliegenden philosophischen Gedankenschritts. 11. Der Grundsatz der Bestinunbarkeit

Bevor Kant zum Grundsatz der durchgängigen Bestimmung überleitet, befaßt er sich kurz mit einem anderen Prinzip, das er "Grundsatz der Bestimmbarkeit,,281 bezeichnet. Warum Kant zunächst auf dieses Prinzip seinen Blick richten muß, kann mit Hilfe der folgenden transzendentalen These erläutert werden: Damit ein Seiendes in der Existenz gegeben werden kann, bedarf es zweier unerläßlicher Grundbedingungen: Aus logischer Hinsicht, einerseits, darf das Seiende nur diejenigen Prädikate enthalten, die, miteinander verglichen, nicht im widersprüchlichen Gegensatz stehen. Andererseits aber muß das Seiende im Verhältnis zu der Allheit (Universitas)282 der möglichen Prädikate seine Bestimwir zugleich einen All-Inbegriff des Seins mit, - und dieser mitgehende Gedanke ist das "transcendentale Ideal der Vernunft" (Alles und Nichts, S. 106). 279 Ähnlich ließe sich auch von der für die abendländisch ethische Überlieferung einflußreichen Figur des Q6VLI-l0~ sagen, wenn Aristoteles nicht dieses Urbild mit konkret-existierenden Menschen wie Perikles identifiziert hätte (vgl. Nikomachische Ethik, VI, 1140 b 7). 280 Vgl. A 327, B 383. 281 Vgl. A 571, B 599. 282 Vgl. A 573, B 601, Anmerkung.

2. Kap.: Das transzendentale Ideal der reinen Vernunft

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mung erhalten. Der erste Grundzug ist also durch ein lediglich in der prädikativen Aussagestruktur wiedergegebenes, logisches Moment gebildet. Dies geschieht in der kopulativ bejahenden oder verneinenden, nicht kontradiktorischen Zuschreibung eines Prädikatsbegriffs zu einem Subjektsbegriff. Die Bestimmungsform wirkt hier auf einem rein begrifflichen Niveau. Das Prinzip, welches für das Verfahren der logischen Regelung der Aussage zuständig ist, ist gerade der Grundsatz der Bestimmbarkeit 283 , dessen kurze Thematisierung von dem Abschnitt des transzendentalen Ideals eröffnet wird. Dieses Prinzip sagt aus, daß jedem Begriff "nur eines, von jeden zween einander kontradiktorischentgegengesetzten Prädikaten" (A 571, B 599) zukommen kann. Dies besagt: Wenn man versuchen würde, beide Prädikate dem Begriff gleichzeitig beizulegen, dann würde sich eine krasse Kontradiktion ergeben. Da aber dieses Verfahren nur die logischen Grenzen festsetzt, innerhalb deren die Prädizierung möglich ist, so ergibt sich daraus, daß das Bestimmbarkeitsprinzip seinerseits dem allgemeingültig formalen Widerspruchsprinzip unterzogen ist. Gleich am Anfang der Thematisierung der Grundsätze des reinen Verstandes in der transzendentalen Urteilskraftlehre284 hat Kant die Bedeutsarnkeit des Widerspruchsprinzips hervorgehoben, indem er es "als das allgemeine und völlig hinreichende Principium aller analytischen Erkenntnis" (A 151, B 191) zur Geltung bringt. Diese Charakterisierung des Widerspruchsprinzips soll keineswegs auf die Vermutung führen, daß es nur für die analytischen und nicht ebenso für die synthetischen Urteile gültig ist. Kant will vielmehr den Leser zu der festen Überzeugung bringen, daß "zum Bestimmungsgrunde der Wahrheit unserer Erkenntnis" (A 152, B 191) das Widerspruchsprinzip unzureichend ist. Deswegen weist er im Text ebenfalls darauf hin, daß der Aussagesatz: "Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht [... ] ein allgemeines, obzwar bloß negatives, Kriterium aller Wahrheit" (A 151, B 190) ist. Die daraus sich ergebende Bestimmung bewegt sich demnach immer noch im Zwischenraum der logischen Form, die in dieser Hinsicht mehr ein Erfordernis des Denkens als des Dinges selbst ausmacht. Dementsprechend können die jeweiligen Bestimmungen nur den Status von Bestimmungen erreichen, die nur durch den Gedanken bedingt sind, denn strenggenommen geht das Prinzip den Inhalt der Erkenntnis nichts an. Die Sachhaltigkeit des Dinges wird dagegen von dem Grundsatz der durchgängigen Bestimmung geführt.

283 284

Vgl. A 571, B 599. AlSO, B 189 ff.

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1. Teil: Vorbereitende Analyse für den Zugang zu Kants These über das Sein

IH. Der Weg zum transzendentalen Ideal der reinen Vernunft anband des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung Die Möglichkeit, an das Ideal der reinen Vernunft heranzukommen, setzt zunächst voraus, daß die Differenzierung von Begriff, Idee und Ideal schon ein Verdienst des Gedankengangs ist. Um den Höhepunkt des Ideals der reinen Vernunft erreichen zu können, ist es zunächst erforderlich, zwei Prinzipien herauszustellen. Das erste Prinzip ist der schon analysierte Grundsatz der Bestimmbarkeit. Aber um in die sachliche Bestimmung eines Dinges hineinzurücken, bedarf es eines weiteren noch tiefgreifenderen Prinzips, das das Wesen des Dinges noch enger betrifft. So ein erforderliches Prinzip kommt bei Kant als Grundsatz der durchgängigen Bestimmuni 85 zur Sprache. Kant thematisiert diesen Grundsatz im zweiten Abschnitt des dritten Hauptstücks des zweiten Buches der Transzendentalen Dialektik, dessen Überschrift lautet: "Von dem Transzendentalen Ideal,,286. In Klammem fügt er die erläuternde, zunächst doch in ihrer eigentlichen Bedeutung verborgene Vorschrift hinzu: "Prototypon transscendentale". Bei C. Wolff wurde dieser Grundsatz als Prinzip der ornnimoda determinatio bekannt und in Verbindung mit der Existenz angesetzt: "Existentia est omnimoda deterrninatio sagt Christian Wolf, und so auch umgekehrt ornnimoda determinatio est existentia als ein Verhältnis gleichgeltender Begriffe. Aber diese gedachte durchgängige Bestimmung kann nicht gegeben werden; denn sie geht ins unendliche empirischer Bestimmungen,,287. Aus diesem Gedankengang wird der englische Kommentator der Kritik der reinen Vernunft, Norman Kemp Smith, zur Äußerung geführt, daß der Abschnitt über das transzendentale Ideal (A 571, B 599/A 583, B 611), "the most archaic piece of rationalistic argument in the entire Critique,,288 ist. Mit gewissem Recht kann Kemp Smith diesen für ihn "archaischen" Aspekt des Textes Kants betonen, sofern in der allgemeinen Thematisierung des Ideals Kant ohne ausdrückliche Unterscheidung seiner eigenen Position von der des scholastischen Rationalismus verfährt. Es mag also nicht verwundern, daß diese Weise mit den Texten Wolffs und Baumgartens umzugehen zu der fälschlichen Vermutung führen kann, daß Kant sich hier immer noch im philosophischen Blickfeld dieser Denker bewegt. Kemp Srnith verfällt der Versuchung dieser Interpretation. Trotz seiner Bemühung, die Position Kants von der rationalistischen Lehre Wolffs zu unterscheiden, erweckt seine eigene Darstellung der Textstelle den Eindruck, daß die kritische Exposition Kants hier einer rationalistischen Entgleisung ausgesetzt sei. Die Interpretation von Kemp Srnith ist nicht weit entVgl. A 571, B 599. Vgl. A 571, B 599 ff. 287 Opus Postumum, Ak. XXI, S. 603. 288 Norman Kemp Smith, A Commentary to Kant's ,Critique of pure Reason', New York, Humanities Press, 1962, S. 522. 285

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2. Kap.: Das transzendentale Ideal der reinen Vernunft

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fernt, einen Rückfall der Lehre Kants in den scholastischen Rationalismus der Schule Wolffs und Baumgartens geradezu nahezulegen. Das ist besonders bemerkbar, wenn Kemp Smith die interpretatorische These vertritt, daß in der Erläuterung des theologischen Scheins die Lehre der Amphibolie der Reflexionsbegriffe völlig übersehen werde. Derart sei der Leser der Kritik "bewildered by the assumption, which Kant apparently makes, that something analogous to the Leibnizian Ideal is aprerequisite of possible experience,,289. Die Versuchung, den Text Kants in diesem Sinne auszulegen, ist zwar groß. Thr sollte man lieber nicht nachgeben. Denn die Exposition Kants zielt schon ab ihren ersten Schritten dahin, die Anstöße und Impulse freizulegen und herauszuarbeiten, welche die Vernunft auf die Suche nach einem Urwesen schicken. Es ist zwar schwierig, dem Kantischen Text zu folgen. Allerdings ist er ausreichend differenziert, so, daß der Leser - natürlich nicht ohne Mühe - einsehen kann, daß das darin Vorgetragene von den philosophischen Ausführungen eines Wolff oder eines Baumgarten grundverschieden ist. Ohne es direkt zu erwähnen, referiert Kant die Lehre Wolffs, weil dieses philosophische System in bezug auf die Frage nach Gott, seiner Existenz und seiner Natur den Grundeinsichten und Argumenten des philosophischen Rationalismus Ausdruck verleiht. In der vorkritisehen Zeit setzt Kant den Grundsatz der durchgängigen Bestimmung nicht ausdrücklich an, d. i. nicht als transzendentales Vernunftprinzip. Aber die sachliche Nähe in der Kritik der reinen Vernunft der jetzt angesprochenen Probleme zur ähnlichen Themenstellung in einer abgegrenzten Phase der vorkritischen Periode 29o vermag zu versichern, daß man in bei den Fällen vor ein und demselben philosophischen Thema steht. Wie zu erwarten ist, wird dessen ontologischer Belang von Kant unterschiedlich geschätzt, je nach der metaphysischen Einstellung, innerhalb deren er sich jeweilig bewegt. In der vorkritisehen Periode ist zwar das Thema der durchgängigen Bestimmung291 schon zu finden, obzwar nicht als transzendentaler Grundsatl 92 . In der Phase vor 1781 wird das Thema der durchgängigen Bestimmung überhaupt als ein transzendentes Moment angesetzt, das Kant noch nicht als Grundsatz, sondern lediglich als Begriff fixiert. In der kritischen Periode spricht Kant hingegen der durchgängigen Bestimmung einen transzendenten Charakter ab. Zugleich wird aber die 289

A. a. 0., S. 524.

Wahrscheinlich ab 1755 bis 1763. In diesem Zeitraum werden die Werke veröffentlicht, die die Thematik über den Grundsatz der durchgängigen Bestimmung als ein transzendentes Prinzip umkreisen, nämlich, die Nova Dilucidatio (1755), der Beweisgrund (1763) und der Versuch über den Begriff der negativen Größen (1763). 291 Das Wort "Bestimmen" (lat. "determinare") gehört schon in den Bereich der Nova Dilucidatio: ,,Determinare est ponere praedicatum cum exclusione oppositi" (Ak. I, S. 391). 292 In den Vorlesungen über die philosophische Religionslehre kommt auch nicht das Prinzip als Prinzip vor, sondern als ein Begriff, den Kant gern mit dem Begriff des ens realissimum in Zusammenhang setzt (vgl. Ak., XXVIII, S. 1013). 290

136 1. Teil: Vorbereitende Analyse für den Zugang zu Kants These über das Sein durchgängige Bestimmung als ein hochgradiges Prinzip zur Abhebung gebracht. Anders ausgedrückt: Kant schafft zum Teil die durchgängige Bestimmung ab, und zwar in ihrem Transzendenzcharakter. Andererseits aber wird sie erhalten, sofern sie in einen Grundsatz der reinen Vernunft verwandelt wird, was freilich nur im regulativen Vernunftgebrauch eingeführt werden darf. Der Grundsatz bekommt dann die Gestaltung eines ermöglichenden Prinzips der möglichen Erfahrung. Im Text Kants wird allerdings nicht so sehr dieser ermöglichende Charakter unterstrichen, als vielmehr die Zurückführung des Prinzips selbst auf eine transzendentale Idee, "welche lediglich in der Vernunft ihren Sitz hat, die dem Verstande die Regel seines vollständigen Gebrauchs vorschreibt" (A 573, B 601).

Daß in der vorkritischen Periode die Thematik der durchgängigen Bestimmung unter der Form eines Begriffs auftaucht, sollte nicht auff